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LIBRARY
OF THE
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
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LIBRARY
OF THE
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
Clüss
Die Philosophie
im
Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.
Festschrift für Kuno Fischer
unter Mitwirkung
von
B. Bauch, K. Groos, E. Lask, O. Liebmann, H. Rickert,
E. Troeltsch, W. Wundt
herausgegeben
von
W. Windelband.
IL Band.
HEIDELBERG.
Carl Winter's Universitätsbuchhandlung.
1905.
VerUgB-Archiv Nr. 9.
Alle Beohte yorbehalten.
T-y.;
Inhalt Yon Band IL
Seite
^ ! Rechtsphilosophie yon Emil Lask 1
i) GeschichtsphiloBophie yon Heinrich Bickert 61
( -i c Ästhetik yon Karl Oioos 136
2 Geschichte der Philosophie yon Wilhelm Windelhand 175
' OF TIfl
VNIVER8ITY
Rechtsphilosophie.
Von
Emil Lask.
Trotz der so lebhaften Beschäftigung unserer Zeit mit den
Problemen des Gesellschaftslebens zeigt die eigentliche Spekulation
der Gegenwart gerade auf rechts- und sozialphilosophischem
Gebiet nur eine geringe Selbständigkeit und immer noch eine
starke Abhängigkeit von den großen Systembildungen des deut-
schen Idealismus. Das mag zur Eechtfertigung dafür dienen,
daß bei der Darstellung derjenigen modernen rechtsphilosophischen
Theorien, die überhaupt noch die Fühlung mit den letzten Fragen
der Weltanschauung bewahrt haben (Abschnitt I), zuweilen auf
Kant und Hegel zurückverwiesen wurde. Ungeachtet eines
solchen Mangels an Originalität in den grundlegenden Problemen
ist jedoch der Stand der Bechtsphilosophie im Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts kein trostloser. Denn die gerade in
der jüngsten Zeit lebhaft beginnende, äußerst zukunftsreiche
methodologische Bewegung (Abschnitt 11) wird die Rechts-
philosophie von neuem zu der Erkenntnis zwingen, daß aller
Streit um die Methode empirischer Kulturwissenschaften über
die bloße Methodologie hinausweist und erst in einem System
überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung findet
Windelband, Die Philosophie im Beginn dos 20. Jahrh. II. Bd.
2 Bechtsphilosophie.
Abschnitt I.
Die Philosophie des Rechts.
a) Die Methode.
Auch der Bechtswissenschaft hat erst das neunzehnte Jahr-
hundert die volle Selbständigkeit und, wie es scheint, endgültige
Befreiung aus der metaphysischen Spekulation gebracht Seit-
dem besteht eine klare Scheidung, aber immer noch ein starkes
gegenseitiges Mißtrauen zwischen „philosophischer^ und „histo-
rischer" Richtung. Wer sich nicht mit „allgemeiner Rechtslehre"
oder sonstigen verallgemeinernden Sublimierungen empirischer
Wissenschaftsergebnisse begnügen will, sondern es heute noch
wagt, von der Rechtsphilosophie die Ergründung einer absoluten
Bedeutung des Rechts und seiner Beziehungen zu anderen un-
bedingten Werten zu verlangen, der verfällt von vornherein dem
schweren Verdacht der „naturrechtlichen Ketzerei". Muß wirk-
lich — so hat darum die Lebensfrage der modernen Rechts-
philosophie stets gelautet — jede nicht empiristische Philo-
sophie des Rechts mit der alten, durch eine glänzende Ent-
faltung der positiven Wissenschaft bei Seite geschobenen Meta-
physik des Rechts zusammenfallen?
Das Naturrecht war eine Frage nach dem absoluten Sinn
von Recht und Gerechtigkeit, und dadurch wurde es zu einem
weit- und problemgeschichtlichen Prinzip, dessen unvergängliche
Bedeutung durch keinerlei — wenn auch methodisch noch so
unentbehrliche — Berichtigungen wesentlich getrübt werden
kann. Diese absolute, transzendentalphilosophische Tendenz hat
mit ihm jede denkbare Wert Spekulation, auch jede „kritische"^
gemeinsam.
Grundverschieden wird dagegen von der Naturrechtsmeta-
physik und von der kritischen Rechtsphilosophie das Verhältnis
zwischen Wert und Wirklichkeit bestimmt, und diese Diflferenz^
die unmittelbar ins Leben eingreift und doch auf tiefe Gegen-
sätze der theoretischen Philosophie zurückgeht^ eröffnet die
Möglichkeit, eine scharfe Abgrenzung zwischen dem Naturrecht
und einer metaphysikfreien Rechtsphilosophie vorzunehmen.
Der kritischen Wertlehre gilt im Unterschiede zu jeder
platonisierenden Zweiweltentheorie die empirische Wirklichkeit
Beehtsphilosophie. 3
als einzige Art der Realität^ zugleich aber als Schauplatz oder
Substrat überempirischer Werte, allgemeingültiger Bedeutungen.
Sie läßt deshalb auch nur eine juristische Einweltentheorie zu,
nach ihr gibt es nur einerlei Art von Recht: die empirische
Rechtswirklichkeit Aber aus der notwendigen Auseinander-
haltung von Wert und empirischem Wertsubstrat folgt die
grundlegende Zweidimensionalität der Betrachtungsweise,
der Dualismus philosophischer und empirischer Methode. Die
Philosophie betrachtet die Wirklichkeit lediglich unter dem
Gesichtspunkte ihres absoluten Wertgehaltes, die Empirie ledige
lieh unter dem ihrer tatsächlichen Inhaltlichkeit. Die Rechts-
philosophie muß nach dieser Anschauung Rechtswert-, die em-
pirische Rechtswissenschaft Rechtswirklichkeitsbetrachtung sein.
Allein die prinzipielle Stellung der Rechtsphilosophie als
Wertspekulation bedarf noch einer Präzisierung durch einige
allgemeine Bemerkungen über die verschiedenen Erscheinungs-
formen des Wertes. Auf dem Standpunkt des kritischen Dua-
lismus von Wert und Wirklichkeit lassen sich nämlich zwei
Ausprägungen, gleichsam zwei Aggregatzustände des Wertes
schon formallogisch leicht voneinander scheiden. Der Wert kann
entweder als Werteinmaligkeit ebenso einzigartig sein wie
das unendlich mannigfaltige empirische Wirklichkeitssubstrat,
an dem er „haftet'', oder als Wertgemeinsamkeit einer Mehrheit
einzelner Wirklichkeitsinhalte zukommen. Fast die gesamte
Philosophie hat es mit der letzteren Wertart, mit Wertgemein-
samkeiten also oder Werttypen zu tun, und es gilt mit Recht
als ihre Aufgabe, den idealen Kosmos, das nach Über- und
Unterordnung abgestufte Reich solcher formaler Bedeutungen,
z. B. der theoretischen, ethischen, ästhetischen, in seiner syste-
matischen Gliederung zu enthüllen. Daß aber der Werttypus
die einzige logische Form des Wertes sein müsse, ist ein bloßes,
wenn auch durch sein Alter ehrwürdiges Vorurteil. Es ist
schlechterdings nicht einzusehen und niemals eine Begründung
dafür auch nur versucht worden, warum die Absolutheit des
Geltens, die Allgemeingültigkeit des Wertes an die logische
Struktur der All gemein begrifflichkeit gebunden sein soll,
warum sie nicht ebensogut auch die der unvergleichbaren Ein-
maligkeit und UnWiederholbarkeit an sich tragen könne. Die
Erhabenheit des Wertes wird durch diese zweite Möglichkeit in
keiner Weise berührt; der Wert kann als Wertindividualität
1*
4 BechtsphiloBophie.
um nichts weniger eine über alle empirische Wirklichkeit heraus-
gehobene, er kann eiue in ebenderselben Höhe über ihr schwe-
bende Sphäre bedeuten wie der Werttypus, wofür sich schon
als formallogisches Symptom anfuhren ließe, daß die Wert-
individualität wohl die Einmaligkeit, nicht aber auch die un-
endliche Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit teilt
Also lediglich eine ganz unvollkommene Analogie, höchstens eine
Art Parallelstruktur würde auch in diesem Fall zwischen Wert
und Wirklichkeit bestehen. Der Wert in der Gestalt der Wert-
einmaligkeit, der aus lauter Gliedindividualitäten zusammen-
gesetzten einmaligen Wertreihe, muß, wie man ihn auch schließ-
lich im Verhältnis zu den formalen Werten teleologisch rangieren
mag, jenseits aller spezifischen Bestimmtheit der einzelnen
typischen Wertbedeutuugen (der theoretischen, der ethischen usw.)
stehen. Alle Isoliertheit, Vereinzelung und gleichsam Bedürftig-
keit des Inhaltes muß in konkrete Allseitigkeit, in gänzliche
Durchdrungenheit und Homogeneität übergeführt sein.
Schon daraus wird klar, daß die Rechtsphilosophie als Lehre
vom spezifischen Bechtswert ebenso wie die Logik, die
Ästhetik, die Beligionsphilosophie und die übrigen philosophischen
Disziplinen nur Werttypuslehre sein kann. Ob es freilich einen
eigentümlichen Wert des Hechtes gibt, der sich den übrigen
koordinieren läßt, oder in welchen sonstigen Beziehungen der
Bechtswert zu anderen Werten steht — danach soll jetzt noch
nicht gefragt werden. Hier kommt es vorläufig nur auf das
methodische Verhältnis des Werttypus zur Empirie an. Es
wurde schon angedeutet, daß der Wert bereits in der Gestalt
der Werteinmaligkeit hinter der unendlich mannigfaltigen In-
haltsfülle des Empirischen zurücksteht Der Werttypus vollends
entfernt sich von der konkreten Gegebenheit noch weiter, da er
ja für eine unbegrenzte Zahl einzelner Verwii'klichungsfäUe die
absolute Vorbildlichkeit in sich zusammenfaßt Das verleiht ihm
im Gegensatz zur unwiederholbaren Werteinmaligkeit den Cha-
rakter der Wertformel. Wie z. B. die ürteilslehre die all-
gemeingültige Bedeutungsformel ergründet» die in jedem Urteil
gemäß seinem absoluten Wahrheitszwecke stecken muß, so sucht
die Rechtsphilosophie die allgemeingültige Rechtswertformel,
den formalen absoluten Zweck jedes einzelnen geschichtlichen
Rechts, den systematisch gegliederten Inbegriff von Postulaten,
die an jede empirische Rechtswirklichkeit ergehen, oder wie
Bechtsphilosophie. 5
Stammler sagft, das Recht des Rechtes, das richtige Recht.
Rechtsphilosophie ist die Aufsuchung des transzendentalen Ortes
oder der typischen Wertbeziehungen des Rechts, die Frage nach
seinem Eingespanntsein in einen Weltanschauungszusammenhang.
Zu weit und vieldeutig ist es deshalb, wenn man die Rechts-
philosophie als Lehre vom „Begriff des Rechts" definiert. Be-
griffsbildung ist stets das Produkt einer bestimmten Methode.
Ein „Begriff" des Rechts wird darum nicht nur in der Philo-
sophie, sondern auch in den verschiedenen das Recht behandeln-
den Einzelwissenschaften gebildet. Es gibt einen philosophischen^
einen juristischen und einen sozialen Rechtsbegriff.
Die allgemeinsten Kriterien der Wertspekulation sollten
bisher nur soweit herausgearbeitet werden, als unbedingt nötig
ist, um den Kontrast mit dem metaphysisch gerichteten
Naturrecht klar hervortreten zu lassen. Im Gegensatz zur kri-
tischen Auseinanderhaltung von Wert und Wirklichkeit und zur
Lehre von der Unableitbarkeit des geschichtlich Gegebenen aus
der abstrakten Wertformel erstrebt die rationale Metaphysik
eine Hypostasierung überempirischer Werte zu realen selb-
ständigen Lebensmächten und dadurch eine Überbrückung und
Vermengung von Wert und Wirklichkeit.
In diesem Sinne ist jedes Natun-echt metaphysischer Ratio-
nalismus; es hypostasiert Rechtswerte zu Rechtswirklichkeiten.
Um aber diesen Kern aller Naturrechtlerei in Schärfe zu er-
fassen, muß man sich erst darüber verständigen, was denn auf
dem Gebiete des Rechtes „empirische Realität" im Gegensatz
zum bloßen Werte bedeuten kann. Ohne auf eine methodologische
Untersuchung des kulturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriffs
eingehen zu müssen, kann man zur Entscheidung dieser Frage
sich vorläufig darauf beschränken, den komplizierten Begriff der
Rechtswirklichkeit — in Übereinstimmung mit Erörterungen von
Bergbohm, dem hierin z. B. Hegel, Stahl und Bruns voran-
gegangen waren, — in die Unterarten der formellen und der
materiellen Positivität zu zerlegen. Entsprechend dieser Ein-
teilung dürfte auch das Naturrecht in eine formelle und eine
materielle Vermischung von Wert und Wirklichkeit zerfallen.
Die formelle Rechtspositivität ist nichts anderes als eine Art
des Gelten s. Eine Art des Geltens erscheint darum hier als
„empirische Realität" und folglich als naturrechtliches Verding-
lichungsprodukt. Das Hypostasieren wirkt in diesem Falle als
6 Bechtsphilosophie.
Umdeutung der einen Geltungsart in eine andere, einer absolnten
Normativität in eine empirische oder kurz als Verwandlung der
Vemünftigkeit in die äußere Verbindlichkeit des Rechts. Denn
in der äußeren unbedingten Verbindlichkeit für Oemeinschafts-
organe und Gemeinschaftsglieder besteht das Wesen der positiven
Eechtsnorm. Nun lautet die daran anknüpfende These des for-
mellen ßechtspositivismus, daß diese positive Normativität den
Grund ihres bindenden Charakters lediglich in der Autorität
«iner menschlichen Gemeinschaft findet. Gerade dieser Zu-
43ammenhang zwischen Gemeinschaftsautorität und Verbind-
lichkeit repräsentiert das formelle Kechtskriterium, das vom
Naturrecht zersetzt wird. Das Naturrecht läßt nämlich die
Äußere Gebundenheit der Gemeinschaftsglieder unvermittelt
aus der absoluten Bedeutung eines Sechtspostulates, also aus
seiner rein ideellen Dignität — emanatistisch — hervorgehen.
Dadurch scheidet das Kriterium der Gemeinschaftsautorität gänz-
lich aus, und an seine Stelle tritt die Vernunft als eine höhere
formelle Rechtsquelle, aus der „Recht" emaniert ohne und gegen
menschliche Satzung, so daß also mit der Vernunft nicht über-
einstimmendes Recht auch formell nichtig wird.
Es ist Bergbohms Verdienst gewesen, gerade den formell
naturrechtlichen Spuren, ja den bloß verdächtigen Ansätzen zur
Naturrechtsgläubigkeit innerhalb der neueren Rechtswissenschaft
nachgegangen zu sein. Ein ausdrückliches Bekenntnis zum
formellen Naturrecht findet sich jedoch heute fast nur in der
katholischen Rechtsphilosophie, wie sie z. B. von Cathrein,
V. Hertling, Gutberiet und anderen vertreten wird.
Allein es gibt in der Vergangenheit und in der Gegenwart
rechtsphilosophische Theorien, die man ohne weiteres als natur-
rechtlich bezeichnet, auch wenn sie die metaphysische Rechts-
quellenlehre ausdrücklich ablehnen. Will man nicht jeden Glauben
an absolute Maßstäbe des Rechts, also überhaupt alle Arten von
Wertbetrachtung, mit dem Naturrecht zusammenwerfen, so muß
es neben dem formellen Naturrecht noch ein materielles geben,
das ebenso wie jenes im Gegensatz zur kritischen Wertspekulation
steht. Wie das formelle Naturrecht in einer Verdunklung der
Wirklichkeitsform des Rechts, seines spezifischen Norm-
charakters bestand, so muß das Naturrecht im materiellen Sinne
dem materiellen Positivitätsmoment oder der empirischen Inhalt-
lichkeit des Rechts verderblich sein. In diesem Fall kann
Bechtspbilosophie. 7
die „Realität", die der metaphysischen Hypostasierung verfallt,
nur in der individuellen Inhaltsfälle und geschichtlich bedingten
Eonkretheit der positiven Bechtsbestimmungen liegen, also
gerade in demjenigen Moment, das nach der kritischen An-
schauung die transzendentale Prärogative der empirischen Wirk-
lichkeit ausmacht Aus einem System abstrakter Wertformeln
glaubt der Naturrechtler einen Bestand von Rechtsnormen de-
duzieren zu können, der seiner Inhaltlichkeit nach einer
weiteren Individualisierung nicht bedarf und ohne jede Berück-
sichtigung konkreter historischer Zusammenhänge überall als
Recht eingeführt zu werden geeignet ist. Es ist dabei sehr
wohl möglich, daß ein solcher Inbegriff von aufgestellten Sätzen
ausschließlich seiner Inhaltlichkeit nach für fertig und er-
schöpfend gehalten wird, daß ihm hingegen die formelle
Rechts Qualität nach der Meinung seines Urhebers erst durch
Einführung seitens der positiven Gesetzgebung zuwachsen solL
Hier läge also ein ausschließlich materielles Naturrecht vor,
während umgekehrt das Naturrecht im formellen Sinne das
materielle Moment wohl stets involvieren wird. An dieses
materielle Moment wird meist gedacht, wenn dem Naturrecht
die Aufstellung eines für alle Zeiten und Völker gültigen Ideal-
kodex zum Vorwurf gemacht wird.
Das Naturrecht ist unhistorischer Rationalismus und Meta-
physik; keineswegs aber braucht es mit einer naturalisti-
schen Metaphysik zusammenzufallen. Vielmehr ist die in der
Oeschichte der Naturrechtstheorien so häufig auftretende natu-
ralistische Unterströmung lediglich als eine Abart des materiellen
Naturrechtsgedankens zu begreifen. Ebenso nämlich wie der
unveränderliche Vemunftwert kann die überall gleiche „Natur'^
das spekulative Prinzip p^bgeben für die Herausreißung und
Isolierung abstrakter Partialinhalte aus der konkreten Fülle des
Gegebenen. Nicht Wertformeln, sondern naturgesetzliche Ab-
straktionen werden dann zu selbständigen Realitäten verdichtet
In dem Worte „Naturrecht'' stecken eben mehrere selten genügend
geschiedene Bedeutungen von „Natur''. „Natur" bedeutet erstens
— zumal im formellen Naturrecbtsbegriff — die Allgemeingültig-
keit oder Absolntheit im Gegensatz zur bloß relativen
Geltung der menschlichen Satzung und zweitens die inhaltliche
Allgemeinheit entweder der Vernunft oder der Natur im
Gegensatz zur individuellen Besonderheit
8 Eechtsphilosophie.
Es ist notwendig, dem Naturrecht die engere Bedeutung
einer hypostasierenden Metaphysik im Unterschiede zur abso-
luten Wertbetrachtung überhaupt zu geben. Nur bei dieser
Fassung läßt sich die einmütige Auflehnung der positiven Wissen-
schaft gegen das Naturrecht schon aus allgemeinsten erkenntnis-
theoretischen Gründen rechtfertigen. Freilich krankt, wie neuer-
dings wiederum Bergbohm gezeigt hat, die gesamte Polemik gegen
die Ungeschichtlichkeit des Naturrechts an einer ungenügenden
Scheidung des formellen und des materiellen Moments. Gerade
die formell-positivistische Rechtsquellenlehre jedoch, auf die Berg-
bohm das Kriterium der historischen Methode ausschließlich ab-
stellen will, hat mit dem Prinzip der Geschichtlichkeit nur in-
sofern einen gewissen Zusammenhang, als der Begriff der posi-
tiven Rechtsquelle auf die Erforderlichkeit eines „äußerlich
erkennbaren" , „geschichtlich nachweisbaren" Rechtsbildungs-
prozesses hinausläuft. Im übrigen ist das bei dieser ganzen
Opposition gegen das Naturrecht vorwaltende Interesse so forma-
listisch und so sehr auf die Reinhaltung des — wenn auch
empiristischen — Rechtsbegriffes gerichtet, daß man es
in seiner Totalität lieber als ein empiristisches oder positivisti-
sches denn als ein rein „historisches" terminologisch zusammen-
fassen möchte.
Fast sämtliche Anhänger absoluter rechtsphilosophischer
Wertprinzipien im neunzehnten Jahrhundert — so z. B. Stahl,
Trendelenburg, Lassen — haben den Empirismus auf sich wirken
lassen und eine Versöhnung der Spekulation mit der positiven
Rechtswissenschaft zum mindesten angestrebt In neuester Zeit
hat vor allem Stammler die Einordnung des Rechts in absolute
Zweckzusammenhänge mit der Ansicht zu vereinigen gewußt,
daß die „formale Gesetzmäßigkeit" oder „gegenständliche Richtig-
keit" lediglich einen Maßstab für oder eine unbedingte Anforde-
rung an das Recht, ein Ziel für den Gesetzgeber, nicht aber eine
äußerlich verbindliche Norm für das Zusammenleben der Menschen
bedeuten kann. So erfüllt die kritische Wertspekulation die
Forderung Bergbohms, Philosophie des positiven Rechts
zu sein.
Eine klarere Erfassung der Ziele rechtsphilosophischer For-
schung bahnt sich jetzt hauptsächlich dadurch an, daß das in
der Gegenwart vor allem von Windelband geltend gemachte
Fundamentalprinzip aller philosopischen Besinnung, die Scheidung
Bechtsphilosophie. . 9
von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtnng, auch bei den Vertretern
der Rechts- und Sozialphilosophie immer mehr Anerkennung ge-
winnt. Fast das gesamte vorkantische Naturrecht hatte sich von
der für den Naturalismus typischen Verschwommenheit noch nicht
frei zu machen gewußt, wonach der allgemeinen Naturgesetzlich-
keit heimlich zugleich eine Wertbedeutung untergeschoben wird.
Hegel und nach ihm viele Spätere, wie Stahl und Lassen, haben
die hieraus notwendig folgende Orientierungslosigkeit und Will-
kürlichkeit der naturalistischen Ausleseprinzipien gegeißelt. In
der neuesten Zeit hat der marxistische Naturalismus eine metho-
dische „Bückkehr zu Kanf* auf sozialphilosopischem Gebiet
hervorgerufen. Diese „Neukantische Bewegung", wie Vorländer
sie nennt, an deren Spitze Cohen, Natorp, Stammler und Stau-
dinger stehen, beginnt sich jetzt auch innerhalb des Sozialismus
auszubreiten und zählt Marxisten wie Struve und Woltmann zu
ihren Anhängern. Sie kämpft gegen die Alleinherrschaft der
„genetischen" Erklärung, die sie durch die „systematische" Er-
wägung über die absolute Berechtigung des kausal Entstandenen
nicht verdrängt, sondern ergänzt sehen will. In der Gruppe der
Neukantianer macht sich dabei ein starker Intellektualismus in
der philosophischen Fragestellung bemerkbar, die Neigung, alle
Wertprobleme für rein erkenntniskritische oder methodologische
zu halten. In den Erörterungen über die „Gesetzmäßigkeit" und
oberste „Einheit" des Sozialen gehen die Bedeutungen von sozial-
philosophischer Methode, absolutem Sinn des Sozialen selbst und
methodischer Form der empirischen Sozialwissenschaft oft un-
unterscheidbar ineinander über. Allein die Grenzlinie zwischen
Philosophie und Empirie wird überall streng beobachtet.
Im engsten methodischen Zusammenhang mit dem Begriff
der kritischen Rechtsphilosophie steht die gleichfalls durch
Stammler von neuem aufgeworfene Frage nach der Berechtigung
einer mit absoluten Maßstäben richtenden und dadurch von der
empiristischen Disziplin gleichen Namens unterschiedenen Politik.
Die Rechtsphilosophie gehört als Werttypuslehre der syste-
matischen Wertwissenschaft an. Die Bedeutungszusammen-
hänge, die sie zu erforschen hat, weisen deshalb nicht nur die-
jenige Disparatheit gegenüber den Wirklichkeitszusammenhängen
auf, die überhaupt zwischen Wert und Wirklichkeit besteht,
sondern entbehren überdies jenes partiellen Parallelismus der
Struktur^ der zwischen der Wert ein mal igkeit und der empi-
10 Bechtsphilosophie.
rischen Wirklichkeit immerhin noch statt hat Nichtsdestoweniger
zeigt auch der Werttypus darin eine der Wirklichkeit gleichsam
zugekehrte Seite, daß diese doch wenigstens als sein Substrat an-
gesehen werden darf. Die Folge davon ist, daß jede Werttypus-
lehre zwei Möglichkeiten des Operierens mit dem formalen Werte
zuläßt: ein reines Systematisieren der absoluten Bedeutungen
untereinander, also ein bloßes Verweilen im Eeiche der Werte
selbst und außerdem ein Berücksichtigen der einzelnen Wertver-
wirklichungen. Dadurch wird die Stellung der Eechtspolitik,
auf die es Stammler in letzter Linie allein ankommt, zur rein
systematischen Rechtsphilosophie verständlich. In der Politik
gerät der Wert unter den Gesichtspunkt der Verwirklichung
im einzelnen; der Wert wird zur Norm oder zum Postulat. Der
WertbegrifF ist das sachliche Prius des Normbegriffs. Da jedoch
gerade aller rechtsphilosophischen Betrachtung der Gedanke an
eine durch menschlichen Willen realisierbare Einfuhrung der
Werte ins Leben immanent ist, so ist es nicht zu verwundem,
daß auf diesem Gebiete der normative Hintergrund des Wert-
begriffes von vornherein heimisch ist. Im Unterschied zur reinen
Systematik bedeutet somit das Verfahren der Politik ein Eon-
frontieren des einzelnen Falles mit dem formalen
Wert, eine Prüfung des individuell Gegebenen auf seine Über-
einstimmung mit dem formalen Endzweck. —
Die Vergleichung von Rechtsphilosophie und Eechtsmeta-
physik hat ergeben, daß die kritische Wertspekulation, weit ent-
fernt, den Empirismus abzulehnen, ihn vielmehr bestätigt und
begründet. Allein die Kehrseite hiervon muß ebenso energisch
betont werden : daß die Spekulation sich dann sofort gegen den-
selben Empirismus und zwar insbesondere gegen den historischen,
zu wehren hatte, sobald er sich anmaßte, selbst als ^Philosophie
aufzutreten. Es ist ja ein in der Gegenwart weit verbreiteter
Wahn, daß gerade auf sozial- und rechtsphilosophischem Gebiet
aus den Grundgedanken der „historischen Schule^' sich eine
Weltanschauung gewinnen lasse.
Beim ersten Anblick scheint in der Tat der Dualismus
wertender und nichtwertender Betrachtung durch die Existenz
der historischen Kulturwissenschaften durchbrochen zu werden,
wenn man bedenkt, daß in diesen Disziplinen die Wirklichkeit
mit Rücksicht auf objektive Kulturbedeutungen bearbeitet wird.
Um trotzdem auch deren komplizierteren empiristischen Charakter
Bechtsphiloaophie. 11
aufs schärfste herauszustellen, hat Eickert hervorgehoben, daß
hier die Berücksichtigung der Eulturbedeutungen nicht als direkte
Wertbeurteilung, sondern lediglich als rein theoretische Wert-
beziehung, also als Mittel der bloßen Wirklichkeitsumformung
aufzufassen sei. Die Aufgabe der Kulturwissenschaften besteht
nicht darin, die absolute Geltung der Kulturbedeutungen zu
ergründen, sondern darin, die bloß empirische und zeitliche
Tatsächlichkeit ihres Auftretens herauszuarbeiten, die sich
allerdings dem ursprünglichen Wirklichkeitsmaterial gegenüber
schon als ein methodologisches Ausleseprodukt darstellt. Wer
der Geschichte Wertmaßstäbe entnehmen will, der müßte konse-
quenterweise alles das für wertvoll halten, was dem Historiker
als Wissenschaftler zur Darstellung des historischen Zu-
sammenhangs als bedeutsam erscheint; er müßte, wenn man es
methodologischer ausdrückt, einfach das Produkt einer empiri-
stischen Tendenz verabsolutieren. Der Historismus ist in der
Tat nichts anderes als eine empirische Wissenschaftsmethode, die
sich als Weltanschauung gebärdet, eine inkonsequente, unkon-
trollierte, dogmatische Art des Wertens. Darin gleicht er genau
dem Naturalismus.
Doch es scheint, als ob diese Kennzeichnung dem Histo-
rismus Unrecht tut. Besagt nicht der Gedanke der Wertein-
maligkeit, daß historische Konkretheit und Individualität in das
Beich der Werte selbst eingedrungen ist, es also ein historisches
Werten gibt? Diese Annahme würde auf eine schwere Täuschung
gegründet sein. Gewiß besteht ein Parallelismus der
Struktur, eine gewisse formallogische Analogie wie zwischen
Werteinmaligkeit und empirischer Wirklichkeit so auch zwischen
Werteinmaligkeit und historischer Tatsächlichkeit Bei beiden
erscheint nämlich Individuelles um seiner Bedeutung willen zu-
sammengeschlossen und herausgehoben. Aber diese Ähnlichkeit
ist doch keine Identität! Mit demselben Recht, wie man die
Werteinmaligkeit historisch nennt, müßte man die gesamte syste-
matische Philosophie, Logik, Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie,
als naturwissenschaftlich bezeichnen — denn eine gewisse for-
mallogische Analogie besteht zweifellos auch zwischen dem Wert-
typus und der naturgesetzlichen Allgemeinheit. Wer Wertindi-
vidualität und historische Faktizität miteinander vermengt, über-
sieht, daß beide durch die unendliche Kluft voneinander unter-
schieden sind, die zwischen Sinn und Sein liegt. Als bloßes Pro-
12 Eechtephilosophie.
dukt der historischen Begriffsbildung stellt die einmalige Kultur-
entwicklung einen zeitlichen, kausalverknüpften, realen Zusammen-
hang dar. In ihm ist folglich das Moment der Zeitlichkeit und die
brutale Zufälligkeit des empirischen Grade-So-Seins noch gar nicht
überwunden. In der Region der Wert zusammenhänge dagegen
darf von zeitlichen Beziehungen nicht mehr die Eede sein, und hierin
kann kein Unterschied bestehen zwischen der Werteinmaligkeit
und dem System der Werttypen. Alle seit je vom Piatonismus
des Wertens ausgegangenen Angriffe gegen die Möglichkeit der
Wertindividualität stammen ja daher, daß man immer glaubte,
die Beibehaltung des Momentes der Werteinmaligkeit müsse un-
bedingt auch zur Verabsolutierung der bloß zeitlichen Gegeben-
heit führen.
Die geschichtliche Tatsächlichkeit, als immer noch in der
bloßen Zeitlichkeit befangen und in dieser ihrer formellen Fakti-
zitätsstruktur sich überall gleich bleibend, gewährt so-
mit von sich aus kein Prinzip einer Heraushebung des absoluten
Wertes, sondern bietet dem Werte lediglich einen Schauplatz
dar: die historische Tatsächlichkeit kann, was ja gar nicht be-
stritten werden soll, gar wohl als ein Orientierungsmittel beim
Suchen nach dem absoluten Werte dienen, aber in keinem an-
deren Sinne, als in dem überhaupt die empirische Wirklichkeit
das Substrat für alle Wertbetrachtung, auch für die syste-
matische, abgibt. Auch die Erzeugung der Wertindividualität
und die Konstruktion der einmaligen Wertreihe ist ein schöpfe-
risches Verfahren, ein Herausschauen des Wertes aus der Zeit-
lichkeit. Und daraus folgt, daß der geschichtlichen Wirklichkeit
als solcher auch der konkrete oder individuelle Wert nicht
einfach entnommen werden kann. Nur auf dieses prinzipielle
und formalmethodische Verhältnis kommt es hier an. In
populärer und ungenauer Redeweise mag von absoluten histori-
schen Werten gesprochen werden. Pflicht des Philosophen aber
ist es, die in solchen Ausdrücken enthaltene quatemio termi-
norum zu durchschauen. Materiell wird durch diese formellen
Auseinanderhaltungen die Bedeutung des geschichtswissenschaft-
lichen Strebens um keines Haares Breite herabgesetzt Ja, man
kann bei aller Ablehnung des Historismus sogar zugeben, daß
in letzter Linie das Regulativ auch der empirischen Geschichts-
schreibung in dem Glauben an absolute Werteinmaligkeiten liegt.
Aber gerade dadurch wird ja bestätigt, daß nicht die Welt-
Bechtsphilosophie. 13
anschauung der Geschichte, sondern höchstens umgekehrt die
Geschichte der Weltanschauung zu entnehmen ist.
Der Historismus ist das genaue Gegenstück des Naturrechts,
und das macht seine prinzipielle Bedeutung aus. Das Natur-
recht will aus der Absolutheit des Wertes das empirische Sub-
strat, der Historismus aus dem empirischen Substrat die Ab-
solutheit des Wertes hervorzaubern. Das Naturrecht zerstört
zwar durch die Hypostasierung der Werte die Selbständigkeit
des Empirischen. Daß es aber überhaupt an übergeschichtliche,
zeitlose Normen geglaubt hat, ist nicht, wie viele meinen, ein
durch die historische Aufklärung der Gegenwart widerlegbarer
Irrtum, sondern sein unsterbliches Verdienst gewesen. Der Histo-
rismus andrerseits — nicht etwa die Historie und die geschicht-
liche Rechtsauffassung selbst — zerstört alle Philosophie und
Weltanschauung. Er ist die modernste, verbreitetste und ge-
fährlichste Form des Relativismus, die Nivellierung aller Werte.
Naturrecht und Historismus sind die beiden Klippen, vor denen
die Rechtsphilosophie sich hüten muß.
b) Die einzelnen Richtungen.
Den Ausgangspunkt aller neueren rechtsphilosophischen Spe-
kulation bildet die auch von Kant angenommene Begriffsbe-
stimmung, daß das Recht die äußere Regulierung menschlichen
Verhaltens zur Erreichung eines inhaltlich wertvollen Zustandes
sei. Auf dieser gemeinsamen Grundlage hat sich eine doppelte
Möglichkeit der Einordnung des Rechts in Wertzusammenhänge
ergeben. Entweder wurde sein Endzweck ausschließlich in der
Vollendung der ethischen Persönlichkeit gesucht, und der Sinn
des Gemeinschaftslebens allein an der Erfüllung dieses einen
Ideales gemessen. Oder es herrschte die Ansicht vor, daß der
Ordnung und den Einrichtungen der menschlichen Gemeinexistenz
eine eigene Herrlichkeit, ein eigentümlicher nicht erst irgendwie
vom individualethischen abgeleiteter Wert innewohne. Es ist
klar, welche Bedeutung der Gegensatz dieser Weltanschauungen
gerade für die Rechtsphilosophie haben mußte. Das Recht ge-
hört seiner empirischen Stellung nach zweifellos in den Be-
reich der „sozialen'' Institutionen. Nur wenn es einen eigen-
artigen „sozialen'' Werttypns neben dem individualethischen gibt,
14 BechtBphilosophie.
kann darnm die unbestrittene empirisch-soziale Bedeutung des
Rechts auch ein Korrelat in der Sphäre des absoluten Wertes
erhalten. Nur in diesem Fall steht es nicht lediglich in einer
mechanischen Beziehung zu einem seiner eigenen sozialen Struktur
fremden indiyidualethischen Werttypus; sondern ebenso wie dem
sozialen Zweckgebiet des Rechts ein eigentümlicher Wert korre-
spondiert, so gilt auch schließlich das Recht selbst nicht mehr
bloß als Mittel, sondern gleichzeitig als ein Bestandteil im ge-
gliederten Bau des „objektiven Geistes^, wenngleich es auch
nach dieser Anschauung noch keineswegs zum Endzweck ver-
absolutiert zu werden braucht
Der rechtsphilosophische Hegelianismus, wie man die über
den Individualismus Kants und des achtzehnten Jahrhunderts
hinausgehende Spekulation nennen darf, hat darum den ethischen
Individualismus als gesellschaftsphilosophischen Atom Is-
mus charakterisieren zu können geglaubt Wenn nämlich wie
bei Kant der Wert ungeachtet seiner überindividuellen Geltung
ausschließlich an der einzelnen Persönlichkeit haftet, so
werden damit alle den isolierten Wertpunkten etwa überbauten
Zusammenhänge aus der Region des absoluten Wertes prin-
zipiell ausgeschlossen. Gegenüber einem solchen rein persona-
listischen Wertsystem kennzeichnet sich die neue Weltanschauung
zunächst als eine Verkündigung transpersonaler Werte, sie stellt
dem personalen Werttypus einen gleichsam sachlichen gegen-
über. Nicht an Willen und Tat der Persönlichkeit ergeht die
absolute Anforderung, sondern, wie schon bei Plato, an die
gegenständliche Ordnung der „sittlichen Welt" selbst Ihre,
nicht des einzelnen Menschen Vollendung ist der Endzweck des
gesellschaftlichen Daseins. Mit dieser antiken Idee einer „sub-
stanziellen Sittlichkeit" hat Hegel den Individualismus des
Christentums und der Neuzeit in einer höchsten Synthese zu
vereinigen gesucht Das Recht der individuellen Freiheit soll
bei ihm anerkannt sein, aber nur als ein aufgehobenes „Moment",
als ein in den Bau des Ganzen sich notwendig einfügendes Glied.
Die gesamte Rechtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts
hat sich damit abgemüht, einen eigenen absoluten Sinn der
sozialen Zusammenhänge zu behaupten, ohne dabei die vom acht-
zehnten Jahrhundert erkämpfte Anerkennung des Individuums
als eines absoluten Selbstzweckes preisgeben zu müssen. In der
Gegenwart ist der Kampf dieser Weltanschauungen noch um
BechtsphiloBophie. 15
keinen Schritt seiner Entscheidung näher gebracht. Ungelöst
sind insbesondere all die Fragen geblieben, ob der transpersonale
Wert des gesellschaftlichen Lebens dem ethischen Werte als
Unterart anzugliedern, ob er den übrigen Werten zu koordi-
nieren oder endlich in eine besondere Gruppe von „Kulturwerten**
einzureihen ist. Alle Diskussionen über Individual- und Sozial-
ethik, über die soziale Frage, über Staat und Kecht, über Natio-
nalismus und Eosmopolitismus, alle Ansätze einer Eulturphilo-
sophie haben sich im Grunde darum gedreht, ob dem Werttypus
des Sozialen eine selbständige Stelle in einem umfassenden Wert-
system gebührt. —
Als Musterbeispiel eines rechtsphilosophischen Eantianismus
darf in der Gegenwart Stammler angesehen werden. Ein so
großes Gewicht er auch darauf legt, das gesellschaftliche Zu-
sammenleben der Menschen als einen eigentümlichen, durch be-
sondere methodologische Kategorien konstituierten Gegenstand
einer spezifisch sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zu begreifen,
das soziale Ideal und die absolute Aufgabe der Rechtsordnung
will er trotzdem ausschließlich in den Dienst der individual-
ethischen Norm stellen. Bei ihm findet sich das entscheidende
Argument des Kantianismus: da das unbedingte Gesetz für den
Menschen der freie, nur durch das Pflichtbewußtsein motivierte
Wille ist, kann auch das Endziel des sozialen Lebens nur in
der Vereinigung des pflichtmäßigen Wollens aller, in der „Ge-
meinschaft frei wollender Menschen** bestehen. Als das Absolute
an allen sozialen Institutionen gilt so die „Gemeinschaft** im
Sinne einer bloßen Koexistenz von individualer Sittlichkeit, einer
Verschmelzung dessen, was an den Bestrebungen der Gemein-
schafter als allgemeingültig angesehen werden darf. Hier herrscht
dieselbe Anschauung, auf Grund deren die individualistische
Bechtsphilosophie aller Zeiten den Vertrag als die Willensüber-
einstimmung ethisch autonomer Wesen zum einzigen Recht-
fertigungsprinzip der sozialen Gebilde erhoben hat. Der em-
pirischen Struktur des Sozialen, deren Eigentümlichkeit Stammler
im methodologischen Interesse so sehr unterstreicht, korrespon-
diert keine eigentümliche Wertstruktur.
Durch diese Unterscheidung zwischen empirischer und Wert-
struktur des Sozialen fällt auch Licht auf die neueren Versuche,
den Sozialismus an den „Gemeinschaftsgedanken** der Kantischen
Ethik anzuknüpfen. Sie konnten nur deshalb gelingen, weil das,
16 Rechtsphilosophie.
was mau Merbei für eine sozialistische Weltanschauang ausgab,
noch in keiner Hinsicht den individualistischen Gedankenkreis
überschreitet „Menschheit" bedeutet bei Kant nicht die kon-
krete Menschengemeinschaft, sondern den abstrakten Menschen-
wert. Nicht daß wir alle Nebenmenschen als Glieder, sondern
daß wir sie als Bepräsentanten der Menschheit hochhalten,
verlangt die Eantische Ethik. Aus ihr folgt kein anderer „Ge-
meinschaftsgedanke" als der Stammlers. Und ebenso kann sich
die ganze Kontroverse über individualistische und sozialistische
Wirtschaftsordnung als eine interne Angelegenheit einer rein
individualistischen Weltanschauung abspielen. Daneben gibt es
allerdings auch sozialistische Systeme, in denen die Forderung
einer zentralistischen Wirtschaftsorganisation gerade als Kon-
sequenz einer auch im Sinne des Wertes „sozialen" Weltan-
schauung auftritt Lassalle und Rodbertus begründen als An-
hänger von Fichte und Hegel das Eingreifen des Staates in das
Wirtschaftsleben damit, daß das Menschengeschlecht als Ganzes
seine nur durch die Gattung, nicht durch die einzelnen reali-
sierbaren Aufgaben zu erfüllen habe. Hier wird an ein selb-
ständiges Urbild des Gemeinlebens geglaubt, eine eigene Pracht
und Vollendung des menschlichen G^samtdaseins ersehnt —
Von besonderer Bedeutung für eine Erneuerung der Rechts-
philosophie ist es geworden, daß durch den Hegelianismus das
System der gesellschaftlichen Endzwecke eine viel konkretere
Gestalt annahm. Bereits bei Schelling, Hegel, Schleiermacher,
Stahl, Trendelenburg und in der Krauseschen Schule wird be-
ständig hervorgehoben, daß nunmehr eine Fülle eigenartiger Ziele
und Vorbilder, eine neue Welt von Lebensaufgaben und Bestim-
mungen entdeckt sei, die nicht dem einzelnen in seiner Ver-
einzelung zukommen, sondern den Lebensverhältnissen der mensch-
lichen Gemeinschaft als solcher eigentümlich sind. Der reichen
Gliederung dieser Zwecke und „Güter**, den in ihnen sich aus-
drückenden „weltökonomischen Ideen", soll sich die Rechtsordnung
genau anpassen und deshalb sich selbst zu einem „organischen
Ganzen" oder einem „Organismus" zusammenschließen. Die den
einzelnen Lebensverhältnissen wie Eigentum, Familie, Stand,
S.taat innewohnende Bestimmung {TÜog) soll das „objektive und
reale Prinzip der Rechtsphilosophie" werden.
Mit dieser Anschauung verband sich eine Polemik gegen die
itusschließliche Ableitung der gesellschaftlichen Welt aus dem
VNIYER8ITY
Eechtspliüosophie. ^<&UlOSS^^^ 17
Willens- und Persönlichkeitsbegriff, durch die aber die Eantische
Ethik selbst keineswegs getroffen werden sollte. Es besteht
nicht nur eine Eomprädikabilität, eine gegenseitige Ergänzuugs-
hedürftigkeit Zwischen Kantischer und Hegelscher Wertungsart,
sondern es muß auch nach der Ansicht des recbtsphilosophischen
Hegelianismus die Idee der Persönlichkeit als das oberste %ikog
der Eechtsordnung in den Bestand des Gemeinethos mit aufge-
nommen werden.
Die Eeaktiou gegen die philosophische Zurilckfilhrung aller
Eechtsgebilde auf Willens- und FreiheitskoUektiva ist eine inter-
essante Parallele zu dem in der Mitte des neunzehnten Jahr-
hunderts namentlich von Ihering geführten Kampf der positiven
Wissenschaft gegen den juristischen Willensformalismus. Ihering
selbst hat die Krausesche Schule als eine — freilich recht ein-
flußlose — Vorläuferin in der Bekämpfung der sog. Willens-
theorie erwähnt. Von größerem Einfluß auf die positive Wissen-
schaft sind jedoch die Spekulationen Schellings, Hegels und, wenn
man Ahrens glauben darf, auch Stahls gewesen. Neben der hier
in erster Linie wirksam gewordenen historischen Schule haben
sie zur lebendigeren Erfassung und konkreteren Behandlung des
Eechts beigetragen. Andrerseits ist die starke Wirkung, die
Eousseaus, Kants und Hegels abstrakte Auffassung auf die posi-
tive Jurisprudenz ausgeübt haben, gleichfalls allgemein anerkannt.
Einen weiteren Beleg dafür, wie die Spekulationen über die
Struktur der sozialen Welt von der reinen Wertbetrachtung bis
in die methodologischen Begriffsbildungsprobleme hinüberreichen,
enthält vor allem die Entwicklung des Korporationsbegriffe.
Oierke hat eingehend gezeigt, daß auch im Bereiche der Eechts-
lehre sich der atomisierend-individualistische Geist der Aufklärung
in der begrifflichen Zertrümmerung aller genossenschaftlichen
Eechtsgebilde bewährt hat Umgekehrt hat die Bechtswissen-
schaft, insbesondere die Staatsrechtslehre, ihre Ablehnung der
Alleinherrschaft individualrecbtlicher Prinzipien oft durch die
Weltanschauung des Hegelianismus zu begründen gesucht. So-
fern überhaupt Verbindungslinien von den methodologischen
Problemen zu letzten Weltanschauungsfragen hinaufreichen, kann
in der Tat der juristische Genossenschaftsbegriff, wie ihn z. B.
Gierke vertritt, nicht durch eine individualistische Ethik, sondern
nur durch die Idee eines eigenen sozialen Werttypus spekulativ
fundiert werden. Denn nur die Annahme eines besonderen ge-
Windelband, Die Philosophie im Beginn des 80. Jahrh. II. Bd. 2
18 Eechtsphilosophie.
sellschaftlichen Zwecksystems ermöglicht in letzter Linie die
Konstruktion selbständiger, von der Summierung von Einzelge-
bilden unterschiedener Wertganzheiten.
Über dem tiefen Zusammenhang zwischen methodologischen
und reinen Wertproblemen darf allerdings auf der anderen Seite
niemals die formelle Diskrepanz übersehen werden, die infolge
grundsätzlicher Verschiedenheit ihrer Ziele stets zwischen empi-
rischer und philosophischer Begriffsbildung besteht. So muß denn
auch die von Stahl und anderen angebahnte konkretere Zweck-
theorie reinlich abgegrenzt werden gegen die gegenwärtig zum
Gemeingut gewordene empirisch-teleologische Lehre von der
sozialen Funktion des Rechts und seiner Abhängigkeit von den
Interessen der Gesellschaft. Diese empirischen Zusammenhänge
leugnet ja auch kein ethischer Individualist. Er leugnet nur^
daß ihnen absolute Wert zusammenhänge korrespondieren. Eine
in die Wertregion hineinragende Beziehung wird er hier ent-
weder überhaupt bestreiten oder nur eine solche zwischen dem
Recht und dem individualen Persönlichkeitswert zulassen, in
beiden Fällen aber die entgegengesetzte Anschauung als Verab-
solutierung bloß empirischer Erscheinungen von nur relativer
Geltung verwerfen. Doch dieser Vorwurf braucht den rechts-
philosophischen Hegelianismus an sich nicht zu schrecken. Denn
in formalmethodischer Hinsicht droht er dem einen Wertgebiet
nicht weniger als dem anderen. Dem Dualismus philosophischer
und empirischer Betrachtungsweise ist ja prinzipiell die Gesamt-
heit der erfahrbaren Gegenstände unterworfen: auch die das
Material der individualistischen Ethik bildenden Willensprozesse
bieten eine empirische Seite dar. Die Grenzlinie aber zwischen
den nur empirischen und denjenigen Bestandteilen der empiri-
schen Wirklichkeit, denen sich noch ein Wertmoment abgewinnen
läßt, eindeutig zu bestimmen — das gehört bereits zu den axio-
matischen und unwiderlegbaren Entscheidungen einer jeden in
sich geschlossenen Weltanschauung.
Gleichzeitig mit dem philosophischen Willensdogma beseitigt
der Hegelianismus noch eine andere Konsequenz der Kantischen
Rechtsphilosophie. Nach individualistischer Auffassung muß das
Recht seiner sozialen Struktur nach gänzlich aus der Weit-
sphäre herausfallen. Es kann streng genommen nur als selbst
empirische Maschinerie zur Erhaltung überempirischer Freiheits-
zwecke begriffen werden. Es läßt sich deshalb, soll es überhaupt
Rechtsphilosophie. 19
transzendental charakterisiert werden, nnr durch lanter nega-
tive Prädikate ausdrücken, die sämtlich von einer bloßen Kon-
trastierung mit der Moral hergenommen sind. Freilich hat die
Kantische Richtung sich nie darauf beschränkt, in strenger Folge-
richtigkeit das substantielle Wesen des Rechts lediglich als
konträren Gegensatz zur ethischen Innerlichkeit, als bloße Äußer-
lichkeit und Erzwingbarkeit zu fassen. Stets hen*schte auch
hier die Überzeugung, daß das Recht selbst an der Heiligkeit
der Zwecke Anteil hat, denen es dient. Das läßt sich besonders
deutlich schon bei Eant verfolgen, dessen Auflösung aller empi-
rischen Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute in lauter intelli-
gible Freiheitsbeziehungen sich schwer mit der gleichzeitigen
Behauptung der Äußerlichkeit des Rechts in Einklang bringen
läßt Den Vorzug der Konsequenz hat gegenüber dem Schwanken
Kants zweifellos Fichtes viel strengere Deduktion des Rechts-
begriffs aus einer logischen Analyse des „sinnlichen Vernunfts-
wesens", des „bestimmten materialen Ichs". Auch bei Hegel und
Stahl trifft man die zuerst von Fichte transzendental deduzierte
empirische Färbung mancher Rechtsbegriffe, besonders des Per-
sönlichkeitsbegriffs, an. In der Gegenwart hat in Übereinstim-
mung mit Fichtes immanentem Idealismus vor allem Schuppe
das metajuristische Apriori des Rechts zu finden gesucht Nach
ihm bleibt der rechtliche Standpunkt bei der Bejahung der ein-
zelnen „räumlich-zeitlichen Bewußtseins-Konkretion" stehen, ohne
zur ethischen Wertschätzung des An-sich-Guten, des Bewußtseins
überhaupt, überzugehen. Dabei verläßt Schuppe in den grund-
legenden rechtsphilosophischen Konstruktionen niemals das charak-
teristische Schema des Kantianismus, die Entgegensetzung von
abstrakter Weiiallgemeinheit und einzelnen empirisch-konkreten
Exemplaren, sowie die ausschließliche Erläuterung des Recht-
lichen durch Vergleichung mit dem Ethischen. —
Erst durch die Einführung eines besonderen sozialen Wert-
typus wird das Recht selbst als eine soziale Erscheinung in den
Bereich des Wertes hineinverlegt. Auch die transzendentale
Charakterisierung vermag ihm nunmehr eine — wenn auch even-
tuell noch so geringe — positive Bedeutung zuzuschreiben
und in ihm die wertvollen Gestaltungen des menschlichen Ge-
meinlebens in wenn auch noch so primitiver und veräußerlicht^r
Form wiederzuerkennen. In diesem Sinne ist das Recht von
Jellinek — freilich in einem mehr empirisch-soziologischen Zu-
2*
20 Bechtsphilosophie.
sammenhaBge — als „ethisches Minimam^' bezeichnet worden,
mit der ausdrflcklichen Bemerkung, daß eine solche Würdigung
der individualethischen Anschauung verschlossen bleiben mttsse.
Ähnlich haben Hegelianer wie Lasson das Recht als den noch in
die Natürlichkeit versenkten Geist, als eine erste Stufe der Ver-
nunft und Sittlichkeit geschildert Glänzend ist diese Auffassung
bereits von dem noch jetzt einflußreichen Stahl vertreten worden.
Um die Notwendigkeit einer rechtlichen Eeguliemng des
Gemeinschaftslebens zu zeigen, kann man zunächst die Idee einer
restlosen Wechseldurchdringung von individueller sittlicher Be-
tätigung und objektivem Ethos flngieren. In dem Idealzustande
einer vollendeten Ausgeglichenheit der menschlichen Gemein-
existenz müßten die einzelnen die Endzwecke der Gesamtheit in
jedem Augenblicke intuitiv erkennen und in unwandelbarer
pflichtmäßiger Gesinnung freiwillig erfüllen. In der theoretischen
Philosophie dient die hiermit vergleichbare kritisch ersonnene
Fiktion des intuitiven Verstandes dazu, die uns allein be-
schiedene Art der Bewältigung des theoretischen Zieles, nämlich
die Spaltung des Erkennens in allgemeine Begriffe und konkrete
Wahrnehmungen, desto schärfer hervortreten zu lassen. Analog
mag das praktische Idealbild uns daran erinnern, daß alle er-
fahrbare Gemeinscbaftsordnung sich nur durch die Aufstellung
formaler, die sittliche Komplikation des Einzelfalles nicht be-
rücksichtigender Vorschriften aufrecht erhalten läßt Die Siche-
rung des Bestandes der sittlichen Welt erfordert aber außerdem
die Erzwingbarkeit und Äußerlichkeit der rechtlichen Imperative,
und diese Merkmale ergeben zusammen mit der Abstraktheit
zugleich den starren traditionellen Charakter des Rechts, der es
zu einer die Generationen und geschichtlichen Wandlungen eines
Volkes überdauernden Lebensgestaltung macht. Aus der Ab-
straktheit geht femer hervor, daß die Rechtsordnung den Ideen-
gehalt des Gemeinethos nicht in seinem vollen konkreten Be-
stände, sondern nur in seinen äußeren dürftigsten umrissen aus-
zudrücken vermag.
Dadurch also, daß das Recht zwar die abstrakteste und
formalste Gestalt innerhalb des sozialen Werttypus, aber doch
immerhin schon ein Minimum des Gemeinethos repräsentieren
soll, ist bereits der entscheidende Schritt über die bloß nega-
tive Charakterisierung der Kantischen Rechtsphilosophie hinaus
getan.
Bechtsphilosophie. 21
Der erste und noch das neunzehnte Jahrhundert, soweit es
solchen Spekulationen überhaupt zugänglich war, beherrschende
Versuch, dem Eecht seinen transzendentalen Ort in einem System
der sozialen Werttypen anzuweisen, ist von der Philosophie
Hegels ausgegangen. Hier erhält die Rechtsordnung ihre genaue
Stelle in der immer konkreter werdenden Beihe der objektiven
Kulturzwecke und wird als eine eigenttlmliche Entwicklungsstufe
des „Geistes" begriffen. Hegel, nach dessen Ansicht das kon-
kreteste „Eecht", das Becht des Weltgeistes, über alle ab-
strakteren Begeln und Berechtigungen mit absoluter Souveränität
hinweggeht, war trotz seiner Vergötterung sachlicher trans-
personaler Institutionen weit davon entfernt, die bloß rechtlichen
Formen des Kulturlebens zu verabsolutieren. Viel eher könnte
man ihm einen ungerechten Haß gegen alle abstrakte und
„formelle" Gesetzgebung vorwerfen, die ihn dazu verleitet, prin-
zipiell das Systematische und Werttypische als eine unvoll-
kommene und ergänzungsbedürftige Vorstufe der absolut ge-
sättigten Totalität und Homogeneität des Wertes anzusehen. Das
zeigt sich denn auch darin, daß er die „Person" im rechtlichen
Sinne, die aus der lebendigen menschlichen Individualität das
bei allen absolut identische Abstraktum der Persönlichkeit oder
Bechtsfähigkeit heraussondert, stets als ein aus den substantiellen
geistigen Zusammenhängen herausgerissenes Atom charakterisiert
Durchweg vermag er ja das Abstrakte nur als ein der wahren
konkreten Unendlichkeit Entfremdetes und wegen seiner Leer-
heit mit dem Moment der Negativität Behaftetes zu würdigen.
Er vergleicht den Standpunkt des Bechts mit der Weltanschauung
des späteren Griechentums, in der das eitle spröde Selbst die
in sich befriedigte Einzelnheit, in trotzigem Selbstbewußtsein
aus dem Leben der sittlichen Substanz herausgetreten ist. Was
dem Stoizismus nur in der Beflexion das Ansich war, ist durch
das Becht zur Wirklichkeit geworden. Es war der weltgeschicht-
liche Beruf des Bömertums, die konkrete Individualität unter die
Gewalt der abstrakten Freiheit und des abstrakten Staates zu
beugen, ebenso aber auch die konkreten Gestalten der Völker-
individuen dem abstrakten Staatsbegriffe einzuverleiben und sie
unter dieser Allgemeinheit zu „zerdrücken", alle Götter und alle
Geister in dem Pantheon der Weltherrschaft zu versammeln.
An dieser Stelle sei gleich bemerkt, daß in Hegels Lehre
auch die in der Jurisprudenz des neunzehnten Jahrhunderts
22 Bechtsphilosophie.
häufig begegnende methodologische Fassung des Hechts-
formalismus wurzelt, wovon jedoch erst im nächsten Abschnitt
die Rede sein soll.
Gerade bei den Denkeni also, die ein konkretes Urbild des
Oemeinlebens postulieren, muüte von jeher die Tendenz bestehen,
die Rechtsordnung wegen ihres lediglich regulativen und orga-
nisatorischen Charakters für ein bloßes Surrogat des sozialen
Ideales zu halten. Wie oft ist der Ausspruch Piatos zitiert
worden, daß das abstrakte Gesetz, das durchaus Sichselbstgleiche,
ungenügend sei, die Ungleichheit und das Niemals-Ruhe-Halten
der menschlichen Dinge gerecht zu ordnen. Alle Revolutionen
und Staatsstreiche hat man mit Fichtes Argument zu verteidigen
gesucht, daß die rationalen und systematisierbaren Formen der
Gesellschaftsordnung, die Güter, in deren Besitz die Zeitalter
„gläubig fortgehen auf der angetretenen Bahn", nur Mittel,
Bedingung und Gerüst dessen sind, „was die Vaterlandsliebe
eigentlich will, des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in
der Welt." Mit Fichte oft übereinstimmend hat Lagarde in
dem unpersönlichen, die Tatkraft der Männer und der Nationen
lähmenden Zwang der Gesetze, in der Herrschaft von staatlichen
Institutionen und Konstitutionen, diesem „caput mortuum der
Menschheit", das Unheil der Gegenwart erblicken wollen.
In unserer Zeit hat Tönnies die Abstraktheit des Rechts nicht
bloß als ein methodologisches Problem behandelt, sondern in ein
Gesamtbild der sozialen Welt einzuzeichnen gesucht Ähnlich
wie Hegel schildert es das spätere Rom: Die Herrschaft über
den Erdkreis nähert alle Städte der einen Stadt, schleift alle
Unterschiede und Unebenheiten gegeneinander ab, gibt allen
gleiche Mienen, Geld, Bildung, Habsucht. Das Recht erzeugt
den Begrilf der juristischen „Person", eine Fiktion und Kon-
struktion des wissenschaftlichen Denkens, eine „mechanische
Einheit", die der konkreten Vielheit nicht wie die Einheit des
organischen Wesens zugrunde liegt, sondern über ihr wie eine
begriffliche Gattungseinheit, eine universitas post rem und extra
res steht. Immer mehr streift in den letzten Jahrhunderten das
Recht seinen organischen Charakter ab, und immer ausschließ-
licher dient es dem Prinzip der „Gesellschaft" d. h. einem Zu-
stande, in dem die von allen ursprünglichen und natürlichen
Verbindungen losgelösten Individuen nur durch die abstrakt ver-
nünftigen Erwägungen gegenseitigen Nutzens und Entgeltes in
.BechtsphiloBophie. 23
Beziehnngen zueinander treten. Durch diese Konstruktion des
sozialen Eationalismus erhält der in der spekulativen Würdigung
Hegels auch für die Philosophie so einflußreich gewordene Ge-
sellschaftsbegriff der klassischen Nationalökonomie seine extremste
philosophische Formulieruug. Dem System der gesellschaftlichen
Abstraktionen stellt Tönuies die „Gemeinschaft'' als organischen
Typus des Sozialen gegenüber. Sie ist ihrer Struktur nach das
Analogon zu Hegels Begriffen des substantiellen Geistes und der
sittlichen Totalität, unterscheidet sich jedoch von Hegels ganz
kulturphilosophischer Tendenz durch eine viel naturalistischere
Färbung, durch die Betonung des Naturhaften und Ursprüng-
lichen. Während alles Gemeinschaftsleben auf der Universalität,
der ungebrochenen Einheit der Lebensinteressen beruht, schafft
das Kecht die technischen Formen für die Isolierung und ge-
sonderte Verfolgung einseitiger, z. B. rein wirtschaftlicher Zwecke,
die erst den Grund für den Zusammenschluß wesentlich ge-
trennter, nur in diesem einen Punkt übereinstimmender Willkür-
sphären abgeben. Die Emanzipation der Individuen aus allen
ursprünglichen Gemeinschaftsbanden, die allgemeine Auflösung
und Nivellierung, deren bereites Werkzeug auch innerhalb der
christlichen Kultur das Recht — insbesondere das römische —
war, hat nach Tönnies ihre höchste Verkörperung im modernen
Staat gefunden, der sich aus einem echten Gemeinwesen in eine
gesellschaftlich-kapitalistische Vereinigung verwandelt habe.
Auch Simmel, der jedoch das Recht nur in gelegentlichen
Ausführungen berücksichtigt, hält es ähnlich wie Tönnies f&r
ein Symptom der gerade in der Gegenwart immer mehr um sich
greifenden Rationalisierung des Lebens. Vergleichbar mit der
Intellektualität einer- und mit dem Geld andrerseits zeige es die
Gleichgültigkeit gegen individuelle Eigenart und ziehe aus der
konkreten Ganzheit der Erlebnisse einen abstrakten, allgemeinen
Faktor heraus. Allein Simmel glaubt, daß der moderne Ent-
personalisierungsprozeß nur die Außenseiten des Lebens ergreift,
daß also die Persönlichkeit sich zwar mit gewissen Partikelchen
ihres Wesens immer mehr unpersönlichen Organisationen unter-
ordne, dagegen desto schärfer ein nicht zu verdinglichender Per-
sönlichkeitskem sich von allen seinen absplitterbaren Bruchteilen
unterscheide und unangreifbar erhalte.
Neben solcher Neigung, im Rechte die Verkörperung eines
Formalismus zu sehen, der aller Ursprünglichkeit der einzelnen
24 BechtsphüoBophie.
und der Kultur feiudlich ist^ hat sich stets die spekulative An*
erkennung einer eigentümlichen positiven Wertbedeutung des
Bechts aufrechterhalten und in der Gerechtigkeitsidee von jeher
ihren allgemeinsten Ausdruck gefunden. Es wäre aber vergeh«
lieh, eine einheitliche Definition der Gerechtigkeit versuchen zu
wollen. Denn da dieser Terminus einfach die Absolutheit und
Apriorität des Hechts als solche aussagen will, so sind in ihm
all die Anforderungen zusammengedrängt, die nach den ver-
schiedenen Weltanschauungen an das Becht gestellt werden.
Eine engere Bedeutung hat der Gerechtigkeitsbegriff in den
Lehren des Strafrechts angenommen. Die einst so einflußreiche
Auffassung, daß in der Bestrafung des Verbrechers die Majestät
des Gesetzes wiederhergestellt werde, geht auf Kant und Hegel
zurück. Ersetzt können solche „absoluten Strafrechtstheorien^
niemals durch die „relativen" werden. Auch im Strafrecht
brauchen die Fragen nach dem letzten Sinn und nach dem em-
pirischen „Zweck'^ einer sozialen Institution einander nicht ins
Gehege zu kommen.
Wofern Gerechtigkeit wirklich eine eigentümliche und in
sich wertvolle Idee ausdrücken soll, wird durch die Einführung
dieses Begriffs die ausschließliche Persönlichkeitswertung zu-
gunsten einer Idealisierung des Gemeinlebens im Prinzip bereits
durchbrochen. Selbst jede Bechtsphilosophie des Kantianismus
— auch die von Kant selbst — enthält darum die Ansätze zu
einem Hinausstreben über den sozialphilosophischen Personalismus.
Deutlich zeigt sich das bei dem Kantianer Cohen. Wie das
Becht sachlich in der Ethik begründet ist, so soll nach ihm
methodisch die Ethik an der Bechtswissenschaft orientiert werden.
Bechts- und Staatswissenschaft liefern das „methodische Vorbild"
für die ethischen Begriffe der reinen Werteinheit, der Ein-
heit der Handlung und der Person, der „echten Einheit des
Willens". Da nämlich bei der Juristischen Person" die Ver-
mengang mit dem sinnlichen Substrat, das hier aus einer Mehr-
heit von Individuen besteht, schwerer fällt, als bei der Einzel-
persönlichkeit, so kann sie als Muster dienen für den Gedanken
einer rein ideellen „Allheit", die sich als selbständig^ Einheit
von ihrer diskreten, in sinnliche Einzelheiten zerfallenden Wirk-
lichkeitsunterlage abhebt. Ganz im Sinne Hegels sollen die
Partikularitäten der Bässen und Stände als Vertretungen der
lediglich gesellschaftlichen „Mehrheit" oder Kollektivität und als
Beehtsphiloflophie. 25
in letzter Linie blofi naturhafte Elemente der „bezwingenden
Einheit des Staats'^ unterworfen werden. Cohen geht sogar so
weit, die ethischen Grundbegriffe „mit ausschließlicher Rttcksicht
auf Becht und Staaf konstruieren zu wollen. Die ethischen
Handlungen des Staates selbst vollziehen sich in den Gesetzen,
die in ihrer Heiligkeit und ausnahmslosen Allgemeinheit als un-
ersetzliche Leitbegriffe für das Selbstbewußtsein des reinen
Willens zu gelten haben. Der Formalismus des Rechts wird bei
Cohen gerade zum Symptom seiner absoluten Werthaftigkeit,
seiner Reinheit, seines Apriorismus. Recht und Gerechtigkeit
sind das eigentliche Reich der überempirischen Zwecke, sie ge-
währen die Erlösung des Wollens von seiner Zwiespältigkeit und
Unberechenbarkeit, von den Schranken des Eigensinns und der
Selbstsucht. Recht und Staat sind Gebilde des Geistes, ethische
Eultnrbegriffe, das Volk dagegen ist ein Produkt der Natur,
und deshalb bewahrt selbst der Patriotismus trotz der Erhaben-
heit des Eulturbegriffs Vaterland noch den naturalistischen Bei-
geschmack der bloßen „Affekterweiterung". Hegels reinen Kultur-
begriff des Volkes lehnt Cohen ab. Der formale Gerechtigkeits-
gedanke triumphiert bei ihm über das konkretere Werten. —
So gehen in der Gegenwart die Ansichten über die absolute
Bedeutung des Rechts noch weit auseinander, und seine Ein-
gliederung in ein System der Kulturwerte bleibt der Philosophie
der Zukunft überlassen. Nur die Begriffsbestimmung der Rechts-
philosophie als Werttypuslehre hat sich an den verschiedenen
Richtungen dieser Disziplin gleichmäßig bewährt Es muß aber
eigens darauf hingewiesen werden, daß der wenn auch noch so
„konkret" gefaßte Hegeische Begriff der sozialen Welt in
doppelter Hinsicht einen lediglich formalen Sinn hat. Zunächst
muß beim „objektiven Geist" als bei einem Wertbegriff von
aller „Konkretheit" des Empirischen abgesehen werden: das
Wort „konkret", vom Werte gebraucht, enthält nur ein Gleichnis,
deutet nur eine gewisse Wertfärbung symbolisch an, woraus
gleichzeitig hervorgeht, daß auch aus dem konkreten Wert die
empirische Besonderheit nicht rationalistisch konstruiert werden
kann. Zweitens aber unterscheidet sich das Soziale auch von
der Werteinmaligkeit, und zwar dadurch, daß es wegen
seines werttypischen Charakters als ein Inbegriff idealer An-
forderungen von allem denkbaren Gemeinschaftsleben, von jeder
beliebigen sozialen Wirklichkeit zu gelten beansprucht. Das
26 Rechtsphilosophie.
Soziale ist somit formal gegenüber dem empirischen Wertsab-
strat und formal gegenüber der Werteinmaligkeit. Es nimmt
im Reiche der Werte eine eigentümliche Zwischenstellung ein.
Konkret erscheint es als eine Welt neuer transpersonaler Werte
im Verhältnis zur exklusiven Einförmigkeit des individualen
Fersönlichkeitstypus und abstrakt oder formal als wiederholbare
Wertallgemeinheit im Unterschiede zur einmaligen Werttotalität.
Aus dieser mittleren Stellung folgt, was Windelband hervor-
gehoben hat, daß die gesellschaftlichen Werte inhaltlich aus-
sehen vom Standpunkt der Pflicht des einzelnen, dagegen formal
gegenüber der jedesmaligen individuellen Gesamtbestimmung der
Gesellschaft selbst. Das vorzüglichste historische Beispiel für
ebendasselbe Verhältnis bietet die Platonische Sozialethik dar.
Als ein Muster konkreter Staatsauffassung verharrt 'sie dennoch
in den Schranken des Griechentums, ohne zum Prinzip der ein-
maligen Wertreihe vorzudringen, das — zuerst von Schelling — als
ein Spezifikum der christlichen Spekulation bezeichnet worden ist
Mit der „Konkretheit" des sozialen Werttypus kehrt dieselbe
Komplikation wieder, die bei der Verquickung der Werteinmalig-
keit mit dem Historismus vorlag, und es wird nunmehr erklärlich,
warum der Historismus, der ja nur von der Vermengung der
empirischen mit der Wertkonkretheit lebt, gerade auf rechts-
und sozialphilosophischem Gebiet so verführerisch geworden ist.
Was der Historismus als unreflektierte Wertungsart im Sinne
hat, das tritt explizite und in Dogmen gefaßt als Philosophie
der Bestauration auf. Nach dieser bilden die empirisch er-
wachsenen legitimen staatlichen Organisationsformen die un-
verrückbare Schranke, an der alle Kritik und Messung mit ab-
soluten Wertmaßstäben verstummen muß. Den schroffsten Gegen-
tatz zu solcher Verabsolutierung der politischen Gegebenheit
stellt die Lehre Hegels dar mit ihrem unerbittlichen Kampf
gegen die Leerheit der bloßen Endlichkeit, gegen die Unver-
nunft der einzelnen empirischen Diesheit, und darum sollten nie-
mals die Worte in Vergessenheit geraten, in denen Kuno Fischer
am Schluß seines Werkes über Hegel gezeigt hat, daß man
während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts den politischen
Tendenzen der Bestauration nichts Tieferes entgegenzusetzen
wußte, als die Hegeische Philosophie, die Entwicklung des Welt-
geistes in seiner bew^ußten, logisch entfalteten Form.
Rechtsphilosophie. 27
Abschnitt IL
Die Methodologie der BechtswissenschafL
Im ersten Abschnitt ist von der rechtsphilosophischen Be-
griffsbildung und vom Wertbegriff des Bechts selbst die Rede
gewesen. Um die philosophische „Methode" durch Kontrastierung
mit der empirischen zu beleuchten, mußten wir Philosophie nnd
Empirie miteinander vergleichen nnd zu diesem Behufe beide
auf einen gemeinsamen Nenner bringen, beide unter den Gesichts-
punkt der Betrachtung, Lehre, Erkenntnis oder Wissenschaft
subsumieren. Die Methodenlehre der Philosophie ist die Frage
nach dem Wissenschafts wert der Philosophie. Die Lehre von
der Form der philosophischen Wissenschaft wird dadurch ver-
gleichbar mit der Lehre von den speziellen Formen der empiri-
schen Wissenschaft, also mit der Methodologie im engeren Sinne.
Die Methodologie der empirischen Kechtswissenschaft gehört,
streng methodisch angesehen, nicht in die Philosophie des Bechts,
sondern in die Philosophie der Wissenschaft. Handelt sie doch
unmittelbar nicht von dem Werttypus Eecht, sondern von dem
Werttypus Wissenschaft. Es braucht nicht ausgeführt zu werden,
wie sehr dieser Ausschnitt aus der speziellen Wissenschaftslehre
in sachlicher Hinsicht trotzdem in den Bahmen der „Bechts-
Philosophie" hineinpaßt. Die Logik der Bechtswissenschaft ist
gerade das gegenwärtig bei weitem am meisten kultivierte Gebiet
der BechtsphUosophie, und die positive Jurisprudenz hat sehr
wertvolle Beiträge hierzu geliefert
So ordnet sich der gesamte Stoff der BechtsphUosophie dem
einheitlichen Begriff der Philosophie als der kritischen Wertlehre
unter. Er zerfällt in die Lehre vom Wissenschaftswert der
Bechtsphilosophie (Abschnitt la), vom Wert des Bechtes selbst
(Abschnitt Ib) und endlich vom Wissenschaftswert der Bechts-
empirie (Abschnitt II).
Die Bechtswissenschaft ist ein Zweig der empirischen
„Kulturwissenschaften". Die über diese Wissenschaftsgruppe in
neuerer Zeit angestellten Untersuchungen werden darum das
allgemeinste Fundament fiir eine methodologische Kritik der
Bechtswissenschaft bilden können. Bereits im ersten Abschnitt
wurde an die Auffassung Bickerts angeknüpft, daß die kultur-
28 Bechtsphilotophie.
wissenschaftlich angesehene Welt durch eine rein theoretische
Beziehung der unmittelbaren Wirklichkeit auf Kulturbedeutungen
entsteht Um die orientierenden Verbindungslinien zwischen der
Logik der Rechtswissenschaft und den kulturwissenschaftlichen
Grundbegriffen allmählich herauszupräparieren, müssen wir zu-
nächst zwischen einer historischen und einer systematischen
Tendenz innerhalb der Kulturwissenschaften unterscheiden. Die
systematisierenden Disziplinen lösen aus der Komplexität des
Gegebenen tjrpische Kulturmomente heraus, um sie nicht, wie
die Geschichte es tut, in den unvergleichbaren und unzerlegbaren
Bedeutsamkeiten des Individuellen wieder verschwinden zu
lassen, sondern um sie gerade in ihrer ausdrücklich isolierten
formellen Stiiiktur zu Leitbegriffen der einzelnen Kulturdiszi-
plinen zu erheben. Zur Verhütung von Mißverständnissen mag
hinzugefügt werden, daß sich von diesen allgemeinbegrifflichen
Wissenschaften das naturwissenschaftliche Abstraktions-
und Systematisierungsprinzip durch gänzliches Absehen von
Kulturbedeutungen hinlänglich unterscheidet.
Die Einsicht in den schon öfter erwähnten Parallelismus
methodologischer und reiner Wertprobleme, der analog wie
zwischen Werteinmaligkeits- und historischer Methode so zwischen
philosophischer und empirisch-kulturwissenschaftlicher Syste-
matik stattfindet, kann uns wiederum vor einer Vermengung
des empirischen Kulturbegriffs als eines einzelwissenschaftlichen
Ausleseprinzips mit dem absoluten Wert- und Weltanschauungs-
begriff der Kultur bewahren. Wie wir die Behauptung einer
eigenartigen sozialen Wissenschaftsstruktur mit der Leugnung
einer selbständigen sozialen Wertstruktur — z. B. bei Stammler
— miteinander verträglich fanden, so läßt sich überhaupt eine
rein methodologisch interessierte Sondenmg der kulturwissen-
schaftlichen Gruppe ohne gleichzeitige Anerkennung absoluter
Kulturwerte immerhin denken. Man wird somit die methodologisch-
empiristische „Kulturbedeutung*^ und den absoluten „Kul-
tur wert^ zum mindesten in formalmethodischer Hinsicht aus-
einanderhalten müssen, mag auch letzterer sich zu sämtlichen
empirischen Kulturwissenschaften in demselben Sinne als regu-
latives Prinzip verhalten wie es früher bereits von der Wert-
einmaligkeit im Verhältnis zur empirischen Geschichtsschreibung
zugestanden wurde.
Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten gilt die
Bechtsphilosophie. 29
Wirklichkeit als ein Erzeugnis kategorialer Synthesen. Die
Methodologie fibei-trägt diesen Eopemikanischen Standpunkt auf
die Schöpfungen der einzelwissenschaftlichen Auslesetätigkeit
und sieht z. B. in den Atomen und Naturgesetzen Produkte der
naturwissenschaftlichen, in den Ereignissen der Weltgeschichte,
in den rechtlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Phänomen
Produkte der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Dem un-
geübten Blick wird es nicht leicht, den Eopemikanischen Grund-
gedanken überall streng festzuhalten. Der Einwand liegt so
nahe, daß den großen historischen Ereignissen ihre weltgeschicht-
liche RoUe doch nicht erst durch den Geschichtsschreiber zu-
diktiert wird, daß die verschiedenen typischen Kulturbedeutungen
wie Wirtschaft, Becht, Sprache usw. nicht erst von der Wissen-
schaft gegeneinander abgegrenzt werden. Auch der Methodolog
wird in der Tat nicht umhin können, in der von ihm bereits
vorgefundenen primitiven Disziplinierung des Stoffes gleichsam
Vorarbeiten der wissenschaftlichen Tätigkeit anzuerkennen.
Allein wieweit auch diese „vorwissenschaftliche Begriffsbildung^,
wie Bickert sie nennt, im einzelnen Fall bereits gediehen sein
mag, stets muß ihr die eigentliche begriffliche Schärfe und
wissenschaftliche Strenge fehlen. Auf jeden Fall wird darum
der Wissenschaft immer noch die Aufgabe zufallen, unbestimmte
Versuche zu präzisen, begrifflich fixierten Ergebnissen weiter-
zubilden, z. B. die verschiedenen Eulturtypen exakt voneinander
zu sondern und sie sodann in den einzelnen Disziplinen zu
feineren systematischen Verästelungen fortzugestalten. Der
Eopemikanische Beruf der Wissenschaft kann also zwar einge-
schränkt und verhüllt, aber niemals dadurch ganz in Frage ge-
stellt werden, daß die Heraushebung einer spezifisch kultur-
wissenschaftlichen Welt zum Teil bereits in das vorwissenschaft-
liche Denken fällt.
Die Tatsache der vorwissenschaftlichen Bearbeitung ver-
bietet es, als das Material der Eulturwissenschaften ohne
weiteres die unmittelbar gegebene Wirklichkeit zu betrachten.
Zwischen diese und das von der Wissenschaft erstrebte Endziel
schiebt sich vielmehr in den meisten Fällen, einem Halbfabrikate
vergleichbar, eine schon auf Eulturbedeutungen bezogene Welt,
und diese komplexe Eulturrealität, nicht die ursprüngliche, von
jeder Art der Wertbeziehung freie Wirklichkeit wird zum Material
der eigentlichen Eultur Wissenschaften. Nun verschwimmen
30 Eechtsphilosopliie.
aber die Grenzen zwischen yorwissenschaftlicher und wissenschaft-
licher Bearbeitung, und außerdem wird sehr häufig die vom vor-
wissenschaftlichen Bewußtsein abgebrochene Tätigkeit von der-
Wissenschaft zwar rektifiziert und vervollkommnet, aber trotz-
dem in der gleichen Bichtung wieder aufgenommen. Aus diesem
Grunde lassen sich die Gesichtspunkte methodologischer Kritik
von der wissenschaftlichen auf die vorwissenschaftliche Funktion
übertragen, und darum können vom einseitig methodologischen
Standpunkt aus nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern
auch die einzelnen Kulturgebiete selbst als geronnene theoretische
Vernunft, eben als Verkörperungen von — allerdings vorwissen-
schaftlichen — „BegriflFsbildungen" angesehen werden. Das fahrt
zu dem merkwürdigen und scheinbar widerspruchsvollen Resul-
tate, daß die Methodologie unter Umständen etwas anderes zu
ihrem Untersuchungsobjekt hat als Wissen Schaftsformen,
daß sie sich nicht nur auf die Kulturwissenschaften, sondern
zuweilen direkt auf die „Kulturwirklichkeit", nicht nur auf die
Sozialwissenschaften, sondern auf das Soziale selbst und ent-
sprechend auf das Recht usw. zu richten vermag. Nichtsdesto-
weniger steht natürlich auch die auf die Kulturmächte selbst
gerichtete methodologische Untersuchung unverwechselbar den
das gleiche Objekt behandelnden Einzelwissenschaften gegenüber,
da sie sich von diesen durch ihre andersartige Absicht deutlich
unterscheidet und alle von ihr aufgeworfenen Fragen auf Be-
griffsbildungsprobleme zuspitzt. Es wird sich später her-
ausstellen, daß insbesondere zwischen der Methodologie der vor-
wissenschaftlichen und der der wissenschaftlichen Rechtsbegriffe
keine grundsätzliche Trennung vorgenommen werden darf.
Über die Gliederung der systematischen Kulturwissenschaften
soll an dieser Stelle nur die allgemeine Andeutung Platz finden,
daß die verschiedenen Kulturtypen, die als Leitbegriffe die ein-
zelnen Disziplinen konstituieren, nicht nur in dem Verhältnis
der Nebenordnung, sondern auch in dem der Über- und Unter-
ordnung stehen können. So dürfte z. B. in sämtlichen Kultur-
typen das Moment des Sozialen stecken, das in seiner völligen
Isoliertheit und unvermischten Reinheit erst einer letzten ab-
straktesten Analyse erfaßbar wäre, einer „Soziologie", wie Simmel
sie postuliert, die die Endergebnisse der übrigen Disziplinen zu
ihrem Ausgangspunkt hätte und sich zu ihnen wie ihr „allge-
meiner Teil" verhielte.
BechtsphiloBophie. 31
Durch den Gedanken der formalistischen Kulturdisziplin
wird die methodologische Struktur aller Arten von Rechtswissen-
schaft schon in unbestimmten Umrissen erkennbar. Die Heraus-
lösung von homogenen Teilausschnitten aus dem komplexen
Eulturmaterial, in dem sie in konkrete Zusammenhänge einge-
bettet sind, zeigt uns das allgemeinste Schema der Wissenscliafts-
klasse, der unter anderem die Bechtswissenschaft angehört. Auch
die Isolierung des Eechtsgebietes und überdies seine Hyposta-
sierung zu einer realiter abgesonderten Lebensmacht wird bereits
vom vorwissenschaftlichen Bewußtsein geleistet. Und auch hier
ist es die Aufgabe der Wissenschaft, dem vorwissenschaftlichen
Ausleseprozeß ei*st die begriffliche Schärfe zu verleihen, ist es
die Aufgabe der Methodologie, der Hypostasierung gegenüber
den Kopemikanischen Gesichtspunkt hervorzukehren, die Abgren-
zung eines spezifischen Bechtsgebietes als — z. T. vorwissen-
schaftliche, z. T. wissenschaftliche — Verwandlung der erkenntnis-
theoretischen „Wirklichkeit^^ in eine abstrakte, auf bestimmt-
geartete Eulturbedeutungen bezogene Welt zu begreifen.
Man kann nun in der Methodologie der Bechtswissenschaft
keinen Schritt vorwärts tun, ohne zunächst den methodischen
Dualismus zu berücksichtigen, dem alle Bechtserforschung unter-
worfen ist und den man mit Fug das ABC der juristischen
Methodologie nennen könnte. In der Gegenwart hat vor allem
Jellinek, dem sich bereits Eistiakowski, Hold v. Femeck u. a.
angeschlossen haben, auf eine Scheidung zwischen Jurisprudenz
und Sozialtheorie des Bechts gedrungen, während sich von dieser
fruchtbai-en Gegenüberstellung bei früheren Schriftstellern, z. B.
bei Enapp, Ihering und dem russischen Juristen Fachmann, nur
geringe Ansätze finden. Eistiakowski hat die Bekämpfung des
methodologischen Synkretismus durch logische Begriffs- und Ur»-
teilstheorien zu stützen und die sozialwissenschaftlichen Begriffe
als den Niederschlag verschiedener Erkenntniszwecke zu wür-
digen gewußt
Der rechtswissenschaftliche Methodendualismus beruht darauf,
daß das Becht entweder als realer Eulturfaktor, als sozialer Lebens-
vorgang angesehen oder alsEomplex von Bedeutungen, genauer
von Normbedeutungen auf seinen „dogmatischen Gehalt" hin ge-
prüft werden kann. Schon die Sozialtheorie des Bechts isoliert
freilich wie alle formalistischen Eulturwissenschaften ein Ab-
straktum aus der konkreten sozialen Totalität, das in solcher
32 Bechtsphiloflophie.
Lo6gel5stheit von der außerrechtlichen UmgebuDg realiter nicht
existiert. Allein ungeachtet dieser klar erkannten Abstraktheit
projizieren wir das sozial wissenschaftlich gedachte Hecht wie
alle „realen'^ Eultnrerscheinungen dennoch gleichsam in die
Fläche der Wirklichkeit, und es braucht sich, so argumentieren
wir, bloß mit bestimmten anderen Partialrealitäten zu verbinden,
um sofort als volle lebendige Wirklichkeit zu erscheinen. Ganz
in derselben Weise durchschauen wir ja, sobald wir einmal
methodologisch darüber nachdenken, auch den Abstand, der so-
gar noch die komplexe und angeblich konkrete Eulturwirklichkeit
von dem Eonkretissimum der erkenntnistheoi*etischen Wirklich-
keit trennt Dessenungeachtet hören wir nicht auf, diese me-
thodisch herauspräparierte Eulturwelt, trotz ihrer Einbuße an
Inhaltlichkeit und trotz ihrer gleichsam entstellenden Bezogen-
heit auf Eulturbedeutungen, als Wirklichkeit anzusehen, was
hinsichtlich der konkreten historischen Eealitäten wohl jeder
unbedenklich zugeben dürfte.
Aber auch die Objekte der einzelnen formalistischen Enltur-
disziplinen, bei denen die kfinstliche Entfremdung von dem im
erkenntnistheoretischen Sinne ursprünglichen Wirklichkeitssub-
strat noch unendlich viel weiter fortgeschritten ist, scheuen wir
uns nicht als Realitäten anzusprechen. Wir bilden den
eigentümlichen Begriff der Eulturrealität und zwar in diesem
Falle der abstrakten Partialrealität, die wir den konkreten
Eulturrealitäten der Geschichte gegenüberstellen. An diesem
Punkte steht nun die Logik der formalistischen Eulturdisziplinen
vor einer ihrer schwierigsten Aufgaben. Sie wird sich nämlich
durchgehends die Frage vorzulegen haben, inwieweit die kultur-
wisseDschaftliche Bearbeitung bloß bis zu den auf Eulturbedeu-
tungen bezogenen „Bealitäten^ vordringt und inwieweit sie
das Reich reiner losgelöster Bedeutungen selbst zu ihrem End-
ziel macht Die, wie Lotze glaubt, schon von- Plato erkannte
Gegensätzlichkeit von Realität und Bedeutung muß hier
in einem ganz eingeschränkten empiristischen Sinne fttr die
Methodologie fruchtbar gemacht werden.
Auf einem Gebiete ist dies bereits mit dem größten Erfolg
durchgesetzt worden, nämlich für die Rechtswissenschaft durch
die Trennung von Sozialtheorie und Jurisprudenz. Das Recht
im sozialen Sinne gilt als „realer^ Eulturfaktor, das Recht im
juristischen Sinne als Inbegriff von nur gedachten Bedeutungen.
BechtsphiloBophie. 33
Die Abstraktheit der juristischen Welt muß deshalb in einem
komplizierteren Sinne behauptet werden als die der sozialtheo-
retisch erforschbaren Objekte. Der Sozialtheoretiker oder auch
der Eechtshistoriker nimmt eine „reale'' Abgrenzung des Bechts
gegen Sitte, Gewohnheit und andere LebensäuSerungen eines
Volkes vor. Gar keinen Sinn hat es dagegen, von einer Norm,
die bloß gilt, zu meinen, sie kOnne sich mit anderen isolier-
baren Seiten des Kulturlebens zu einer selbständigen Bealität
ergänzen. Für den Juristen ist darum begrifflich die
soziologische oder rechtsgeschichtliche Gi'enzregulierung eine
bloße Voraussetzung und Vorarbeit — mag sie auch aus wissen-
schaftstechnischen Gründen von ihm selbst mit besorgt werden.
Denn ihm kommt es lediglich darauf an, den gedankenmäßigen
Inhalt der Normen, die auf Grund sozialtheoretischen Urteils
als „Recht'* erkannt sind, in einen systematischen Zusammen-
hang zu bringen. Die These vom juristischen „Rechts-
formalismus'' kann sich somit nur auf eine ideelle Vergleichung
juristischer Bedeutungen mit dem vom Recht ergriffenen vor-
juristischen „Substrat" beziehen, das stets in den konkreten und
abstrakten Eulturre alitäten sowie in den Realitäten des ge-
wöhnlichen „Lebens" liegen muß. Die juristische Isolierungs-
nnd Systematisierungstendenz ist darum von der typisierenden
Methode der meisten übrigen Sozialwissenschaften noch unter-
schieden und kann erst im folgenden genauer charakterisiert
werden.
Zu den bekanntesten sozialwissenschaftlichen Rechtstheorien
gehört die Marxistische Lehre. Neuerdings hat der Marxist
Kamer die Einordnung des Rechts in den Eausalnexus aller
nichtrechtlichen Phänomene, die Erforschung seiner „sozialen
Wirksamkeit" für das einzige der Wissenschaft würdige Thema
«rklärt gegenüber jeder bloß dogmatisch- technischen Bewältigung
des juristischen Stoffes. In der zweiten Hälfte des neunzehnten
Jahrhunderts entstand eine allgemeine, auch von Nationalöko-
nomen unterstützte Auflehnung gegen die Alleinherrschaft einer,
wie man glaubte, um die realen Lebensverhältnisse unbekümmerten
^Dogmatik", eine lebhafte Bewegung in der Eechtswissenschaft,
die sich in der allmählichen Entwicklung der Schriften Ihering's
deutlich widerspiegelt. Die Methodologie der soziologischen
Bechtstheorien geht jedoch so sehr in der allgemeinen Logik
der sozialwissenschaftlichen Eulturdisziplinen auf, daß sie in
Windelband, Die Philosophie im Beginn des W. Jahrh. II. Bd. 3
34 Bechtsphilosophie.
unserer auf die Methodologie der Jurisprudenz sich beschränken-
den Darstellung nicht weiter berücksichtigt werden kann.
In der Entgegensetzung von Realitäts- und Bedeutungs-
forschung zeigt sich der Parallelismus philosophischer und em-
piristischer Wissenschaftstendenzen in seiner verwirrendsten Ge-
stalt. Nur allzunahe liegt der Gedanke an den letzten spekula-
tiven Gegensatz von Sollen und Sein, Normen und Naturgesetzen,
normativer und genetischer Betrachtungsweise, und häufig —
z. B. von Jellinek, Kistiakowski, Kohlrausch, Eltzbacher — ist
dieser allgemeinste Methodendualismus zur Charakterisierung
der Jurisprudenz verwertet worden. Allein es gäbe keine ver-
derblichere Verwischung methodologischer Grenzlinien, als wenn
über all den unbezweifelbaren Analogien und Parallelitäten
andrerseits die Vieldeutigkeit des Normbegriffes, die Kluft
zwischen seinem philosophischen und seinem empirischen Sinn,
übersehen würde und dadurch die Jurisprudenz als „Normwissen-
schaft" etwa unvermerkt in einen Gegensatz zu den rein em-
pirischen Disziplinen geriete. Gewiß hat die Jurisprudenz ebenso
wie die Philosophie nicht ein Existierendes, sondern ein bloß
Bedeutendes, nicht ein Seiendes, sondern ein Seinsollendes, ein
Befolgung Heischendes zum Objekt. Aber während dieser Sollens-
charakter in der Philosophie einer absoluten Werthaftigkeit ent-
stammt, für die es keine empirische Autorität gibt, hat er in
der Jurisprudenz seinen formellen Grund in positiver Anordnung
durch Gemeinschaftswillen. Das von Stammler und Eltzbacher
gerade in diesem Zusammenhange mit Recht hervorgehobene
Moment der empirischen Gegebenheit, des tatsächlichen Bestehens^
ist nicht etwa, wie es bei Jellinek und Kistiakowski zuweilen
den Anschein hat, bloß für die soziale Seinslehre, sondern grade
auch für die juristische SoUenslehre vom Recht relevant. Höch-
stens die formelle Naturrechtstheorie, die das juristische Sollen
unmittelbar aus dem absoluten Werte folgert, hätte Grund, die
Jurisprudenz mit den „Normwissenschaften" der Logik und der
Ethik in eine Linie zu stellen. Für uns dagegen kann die
juristische Wissenschaft nur die ganz unvergleichbare Methode
eines rein empiristischen Operierens mit einer gedachten Welt
von Bedeutungen darstellen.
Der genaueren Betrachtung der juristischen Methode muß
die Bemerkung vorausgeschickt werden, daß die Existenz einer
vorwissenschaftlichen Begriffsbildung nirgends eine so große
Rechtsphilosophie. 35
Eolle spielt wie auf juristischem Gebiet. Es gibt — wenn man
von der Wissenschaft selbst absieht — keine Kulturerscheinung,
die sich als begriflfsbildender Faktor auch nur annähernd mit
dem Eecht vergleichen ließe. Das Recht selbst nimmt bereits
eine weitgehende Auseinandersetzung zwischen sich und der
außerrechtlichen Wirklichkeit vor und bildet Begriffe von so
hoher technischer Vollendung, daß sie sich oft nur dem Grade
nach von denen der Wissenschaft unterscheiden und der wissen-
schaftlichen Bearbeitung zuweilpn nichts anderes als die bloße
Fortsetzung des vom Gesetz begonnenen Formungsprozesses übrig
lassen. Sind doch auch umgekehrt zu allen Zeiten Ergeb-
nisse der Wissenschaft zu kodifiziertem Recht geworden. Alle
bisherigen Versuche einer juristischen Methodenlehre von Ihering
bis zur Gegenwart haben diesen im Recht selbst steckenden
begriffsbildenden Geist anerkannt und deshalb häufig zwischen
einer Logik des Rechts und einer Logik der Rechtswissenschaft
nicht einmal terminologisch einen Unterschied* gemacht. —
Die juristische Methodologie im weiteren Sinne, als Kritik
sowohl der rechtlichen als der rechtswissenschaftlichen Begriffs-
bildung, hat zwei Hauptthemata: sie untersucht in erster Linie
die eigentümliche und einheitliche Stellungnahme des Rechts und
der Jurisprudenz zum vorjuristischen Lebens- und Kultursubstrat,
also die Umprägung des vorrechtlichen Materials in Rechts-
begriffe, in zweiter Linie den systematischen Zusammenhang der
juristischen Begriffe untereinander oder die Systemform der
Jurisprudenz.
Die neueren Ansätze zu einer Logik der Rechtswissenschaft
haben hauptsächlich den Erfolg gehabt, das von der Jurisprudenz
stets angewandte teleologische Prinzip auch in der metho-
dologischen Besinnung ausdrücklich zum Bewußtsein zu bringen.
Insbesondere hat Jellinek Sigwarts Ausführungen über teleo-
logische Einheitsprinzipien für eine „Kritik der juristischen
Urteilskraft" zu verwenden gesucht. Schon das Substrat des
Rechts filUt ja fast niemals mit der ursprünglichen psychophy-
sischen Gegebenheit zusammen. Dem Bereiche des praktischen
Lebens, der sozialen und wirtschaftlichen, sowie der höheren
genossenschaftlichen Gebilde angehörend, ist es vielmehr durch-
weg schon von teleologischen Momenten durchsetzt. Mit Be-
nützung Iheringscher Gedanken hat Rickert den Zweck des
Rechts als Prinzip der im juristischen Sinne „wesentlichen"
3*
36 • BechtsphOoiopliie.
Begriffsmerkmale bezeichnet, und 0. Sümelin sowie Zitelmann
haben daraaf hingewiesen, daß hier wie stets der Wissenschaft
die Aufgabe erwächst, die unbestimmte Allgemeinheit des vor-
wissenschaftlichen Denkens zu überwinden. Die Methodologie
wird in Zukunft noch genauer zu ergründen haben, wie der
Jurisprudenz, der doch begriffliche Exaktheit nachgerühmt wird,
dieser Präzisierungsprozeß gerade in den Schranken der wert-
und zweckbeziehenden Methode gelingt So viel aber ist von
den meisten Juristen und Rechtsphilosophen seit Savigny, Puchta
und Stahl erkannt worden, daß man einen Unterschied machen
müsse zwischen den vom Recht unverändert beibehaltenen, den
modifizierten und endlich den neu geschaffenen Begriffen und
daß alles, was in den Bereich des Rechts gerät, seinen natura-
listischen, von Wertbeziehungen freien Charakter einbüßt Sogar
die physischen Objekte fallen nicht in der Totalität ihrer Quali-
täten, sondern — was Oierke gelegentlich der Vergleichung
römischer und germanischer Rechtsbegriffe besonders stark betont
hat — nur mit dem Inbegriff ihrer zur Willensherrschaft ge-
eigneten Seiten unter das Recht Die „Sache" ist mit dem
Körper ebensowenig identisch wie die „Person" mit dem Menschen.
In derselben Weise wird — was hier nicht genauer dargestellt
werden kann — die Gesamtheit der dem Recht zugänglichen
Gegenstände gleichsam mit einem teleologischen Gespinnst über-
zogen. Das methodologisch Bedeutsame hieran ist, daß die
juristisch geformte Welt ganz andersartige, für die erkennt-
nistheoretische und naturalistische Betrachtung, oft auch
für die Auffassung des Lebens unerhörte Gliederungsmöglich-
keiten, neue Synthesen, neue Einheits- und Individualisierungs-
prinzipien kennt Was naturalistisch ein Kontinunm ist, kann
juristisch ein Diskretum, was naturalistisch eine nur kollektive
Vielheit ist, juristisch eine von bloßer Summierung verschiedene
Einheit sein. Die unentbehrlichste Vorbedingung für das Ver-
ständnis der juristischen Einheitspiinzipien ist die bis vor kurzem
noch ganz vernachlässigte Durchforschung der sozialwissenschaft-
lichen Ding- und EoUektivbegriffe, die erst in letzter Zeit durch
aufschlußreiche Untersuchungen Kistiakowskis in ein neues
Stadium gekommen ist.
Zwei einander durchdringende Momente konstituieren das
spezifisch juristische Verhalten gegenüber der Wirklichkeit: Die
von Zweckbeziehungen geleitete Umsetzung des realen Substrats
Rechtsphflosophie. 37
in eine Gedankenwelt reiner Bedeutungen und die damit ver-
bundene Herausfaserung bloßer Teilinhalte aus der Totalität des
Erlebbaren. Glänzend hat bereits Ihering diese zersetzende
Funktion von Becht und Rechtswissenschaft geschildert Sein
„Geist des römischen Bechts'', ein Werk, dem der Ruhm einer
ersten umfassenden Untersuchung aber den Rechtsformalismus
gebührt, darf als eine Vermittlung zwischen manchen Bestand-
teilen der rechtsphilosophischen Spekulation Hegels und der po*
sitiven Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet
werden. Schon die von Kant und Hegel besonders ffir das
Privatrecht vertretene Reduzierung aller Rechtsbeziehungen auf
Willensverhältuisse war ein erster, wenn auch fiber das Ziel
hinausgehender Versuch, die Eigenart des juristischen Ab-
strahierens und Isolierens begrifflich zu bestimmen. Des all-
gemein angenommenen, von Lassalle weiter ausgebauten Dogmas
von der Entdeckung der abstrakten Persönlichkeit durch das
Römertum wurde bereits im ei'sten Abschnitt gedacht. Aber
auch im übrigen findet sich bei Hegel allenthalben die Erkenntnis
des Formalismus und der „Praktikabilität" (Ihering), der tech-
nischen Geeignetheit des Rechts, leicht und gleichmäßig realisiert
zu werden. Genau wie Hegel hat Ihering die universalhistorische
Stellung Roms gezeichnet, den Konflikt zwischen dem Nationa-
litäts- und dem abstrakten Staats- und Rechtsprinzip, durch das
die Völker der damaligen Zeit „zermalmt und zerrieben" wurden.
Von Ihering stammt die eingehendste, die vorzüglichen gedrängten
Bemerkungen Puchtas ergänzende Darstellung der Generali-
sierungs- und Gleichmachungstendenz des Rechts und seiner
Zerstückelung des unmittelbaren Totaleindrucks, mit der seine
Bestimmtheit und Gleichmäßigkeit sowie seine Erhebung über
den bloßen Gefdhlsstandpunkt zusammenhängt.
Unsere bisherige Darstellung könnte vielleicht den Anschein
erwecken, als wenn das Recht nur in seiner fertigen, zusammen-
gedrängten, in Kodifikationen formulierbaren Gestalt, als Komplex
von Normen oder als „Recht im objektiven Sinne" für die Me-
thodologie in Betracht käme. Recht und vorrechtliche Wirklich-
keit schienen sich als einander niemals berührende und nur nach
den logischen Beziehungen ihrer Inhaltlichkeit in abstracto mit-
einander vergleichbare Reiche gegenüber zu stehen. Darauf ist
nämUch bisher noch gar nicht Bezug genommen worden, daß
das Recht als „Recht im subjektiven Sinne" und zwar in der
38 Bechtsphilosophie.
Form der „einzelnen, konkreten" Rechtsverhältnisse und sonstigen
subjektiven Rechtsbeziehungen gleichsam in die Mannigfaltigkeit
und Vereinzelung des realen Lebens hineingerissen wird. Auch
in diese Seite des Verhältnisses zwischen Recht und Wirklich-
keit muß die methodologische Kritik hineinleuchten, und so
entsteht das neue Problem der Verschlingung von recht-
licher Bedeutung und realem Substrat im Einzelfall. Auch
das Recht in seinem individualisierten und konkretisierten, in
die Zeitlichkeit hineingezogenen Zustande gilt es als ein Reich
reiner Bedeutungen zu begreifen, es von den realen Trägern,
in denen es sich festzusetzen pflegt, abzulösen. Bei diesem Ver-
such macht sich eine allgemeine, in ihrer exakten Struktur noch
wenig erforschte und nur dem zersetzenden Geiste des Methodo-
logen erfaßbare Erscheinung geltend: das Verwacbsensein ab-
strakter Inhalte mit konkreten Trägern, das den Schein realen
Fürsichbestehens jener uns vortäuscht und ihre Hypostasierung
im naiven Bewußtsein denn auch stets veranlaßt. Eine solche
Vorspiegelung selbständiger Existenz wiederholt sich in allen
Sphären der Erkenntnis: bei der „konkreten" Kulturrealität
gegenüber der Wirklichkeit im erkenntnistheoretischen
Sinne, bei den abstrakten Parti alreali täten gegenüber der
komplexen Kulturrealität und endlich bei den — z. B. recht-
lichen — Bedeutungen gegenüber den ihnen als Substrat
dienenden psychophysischen oder Kultur- und Lebens realitäten.
Marx hat damit Zusammenhängendes in seinen Ausführungen
über den Fetischcharakter der Ware berührt, und Simmel hat
ausfuhrlich von den „realen Abstraktionen", von der gleichsam
symbolischen Vergegenständlichung abstrakter Sozialfunktionen
in objektiven Einrichtungen gehandelt. Auf naturwissenschaft-
lichem Gebiet stellen z. B. die astronomischen Objekte analoge
Kristallisationen bloß quantitativer Beziehungen an konkreten
Gebilden dar, und ähnlich verhalten sich die zeichnerischen
Darstellungen geometrischer Figuren zu den in ihnen ausge-
drückten rein mathematischen Verhältnissen. Gerade das letzte
Beispiel mag zur Veranschaulichung unseres juristischen Problems
dienen. Wie man bei der realen sinnenfälligen Individualität
z. B. eines Kreises erst von den empirischen Hilfsmitteln der
Zeichnung wie Papier, Tinte, Wandtafel, Kreide usw. absehen
muß, um zur mathematischen Individualität dieser Figur
zu gelangen, so muß man von dem realen Gesamtbestande
Bechtsphilosophie. 39
z. B. eines einzelnen Kaufes erst die Einzelheiten des physischen
Ereignisses, die psychischen Begleiterscheinungen, die Besonder-
heit der historischen Situation usw. abziehen, um zur juristi-
schen Individualität dieses Bechtsgeschäftes vorzudringen.
Vortrefflich hat Brodmann den komplexen Charakter der „ju-
ristischen Tatsachen" und „Tatbestände", das beständige In-
einandergreifen von lebendiger Wirklichkeit und rechtlicher Be-
deutung gekennzeichnet, das bei den nur scheinbar konkreten
Bechtsakten, Rechtsausübungen, Rechtsfolgen, Rechtsverletzungen
usw. stets vorliegt. Auch Schloßmann, Thon, Zitelmann u. a.
sind auf diese merkwürdige Verqnickung und geradezu an die
Metaphysik des Okkasionalismus erinnernde Wechselwirkung
zwischen der Welt des Seienden und des Geltenden aufinerksam
geworden und haben versucht, die Denkformen des Entstehens,
Vergehens, Einander-Bedingens, kurz des Zusammenhanges in
der „Rechtswelt" zu begreifen. Zitelmann erklärt sich für eine
kausale Verknüpftheit der rechtlichen Erscheinungen, aber, wie
er selbst hinzufügt, für eine nur nach der Analogie der „natür-
lichen" geschaffene „eigene juristische" Kausalität, die sich mit
„keiner der sonstigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde"
deckt. Schuppe dagegen will die Kategorien der Dingheit und
der Kausalität unterschiedslos auf die psychophysische und die
Rechtswelt angewandt wissen, da es nach seiner Logik nur auf
die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten einheitlichen
Zusammenfassung von Bewußtseinsinhalten ankommt. Auch
auf dem Gebiete des Strafrechts beginnt jetzt eine metho-
dologische Revision des Tatbestandbegriffs, Kohlrausch und
Hold V. Femeck polemisieren gegen die Vermengung des tat-
sächlichen Vorgangs als „realen Substrats" mit seiner Juristi-
schen Seite", die, wie Hold v. Femeck treffend hervorhebt,
„trotz ihrer Konkretisierung", niemals ihren abstrakten Charakter
verliert.
Der Hinweis auf diese unmittelbar die Rechtsprechung und
mittelbar die Rechtswissenschaft angehende Verflechtung der
konkretisierten Rechtswelt mit der lebendigen Wirklichkeit
sollte vor allem dem Mißverständnisse vorbeugen, als ob die
schroffe Gegenüberstellung der Welten des Seins und des Geltens
einseitig auf das Recht im objektiven Sinne und auf eine Iden-
tifikation von Recht und I^ormbedeutung zugeschnitten sei
oder überhaupt von irgend einer der „allgemeinen Rechtslehre"
40 BeehtsphiloBophie.
angehörenden Theorie über das Verhältnis zwischen objektivem
nnd subjektivem Recht abhänge.
Die teleologische Färbung sämtlicher Rechtsbegriffe läßt
sich am besten an den Veränderungen und — vom bloß natura-
listisch-psychologischen Standpunkt aus — unberechtigten Intro-
jektionen studieren, die die Rechtsordnung an den psychischen
Realitäten vorzunehmen genötigt ist. Das psychische Sein ist
für die juristische Betrachtung in genau demselben Sinn ein
bloßes in die praktische Welt des Handelns erst hineinzuver-
arbeitendes Material wie die Eörperwelt. Gerade die Juris-
prudenz ist deshalb vorzüglich zu dem Nachweis geeignet^ daß
die irreführenderweise „Geisteswissenschaften^ genannten Dis-
ziplinen keineswegs in einer Analyse psychischer Phänomen be-
stehen. Jellinek hat darauf hingewiesen, daß eine Untersuchung
über die Verwendung, welche die Rechtsordnung von den
Willensakten der Individuen machen kann, zur Feststellung
der juristischen Grundbegrifie unentbehrlich sei. Es gibt in der
Tat kaum ein juristisches Einzelproblem, dessen methodologische
Beurteilung bisher nicht daran laboriert hat, daß man den Unter-
schied zwischen dem rein psychologischen und dem sehr ver-
änderlichen juristischen Willensbegriff zu wenig beachtete.
Hier wird die Methodologie der Zukunft ein weites Feld für
ihre Tätigkeit vorfinden. Noch fehlt jeder Versuch, die juristi-
sche Verarbeitung psychologischer Begriffe in ihre wahrhaft
psychologisch-naturalistischen und in ihre teleologischen Elemente
zu zerlegen. Freilich war ein solches Unternehmen von der
Jurisprudenz um so weniger zu erwarten, als bisher die Logik
der Psychologie ebensowenig wie diese selbst zu allgemein an-
erkannten Ergebnissen gekommen ist. Vielleicht können durch
eine Auseinandersetzung zwischen psychologischen und teleologi-
schen Bestandteilen beide Wissenschafben an methodologischer
Selbsterkenntnis gewinnen, da in der Jurisprudenz das mit den
psychischen Begriffen verschmolzene praktische Moment, von dem
die naturalistische Psychologie gerade abzusehen hat, die höchste
ihm überhaupt beschiedene Stufe begriiflicher Präzision erreicht.
Nur angedeutet mag noch werden, daß auch der Streit
zwischen „Willens-" und „Zweckdogma" erst durch eine ein-
gehende Berücksichtigung der hier gleichfalls hineinspielenden
teleologischen Begriffsbildung entschieden werden kann. Diese
durch Ihering berühmt gewordene Kontroverse ist dadurch noch
Bechtspliiloflophie. 41
Übermäßig verwirrt worden^ daß bisher trotz aller Anläufe dazu
niemals eine klare Antwort darauf gegeben wurde, ob der Zweck,
wie Laband mit größter Schärfe betont^ Jenseits^ der dogmati-
schen Sechtsbegriffo liegt und deshalb nur in den Bereich der
Sozialtheorie fällt oder ob es sich hier um ein Hineinragen
metajuristisch-sozialer Faktoren in die juristische BegrifFs-
bildung handelt
Erfreuliche Anzeichen dafür, daß die Einsicht in die Unzu-
länglichkeit des methodologischen Psychologismus sich allmählich
auszubreiten beginnt, sind in jüngster Zeit auf dem Gebiet des
Strafrechts hervorgetreten. Liepmann hat die Ansicht ausge-
sprochen, daß die Lösung des strafrechtlichen Eausalitätsproblems
von der Erkenntnis spezifisch juristischer Ausleseprinzipien ab-
hängig ist, und Eohlrausch hat das von Jellinek postulierte
Prinzip der teleologischen Begriffsbildung besonders für den Be-
griff des Erfolges (als eines „Ausschnitts aus der Beihe der
sinnenfälligen Folgen unter einem juristisch relevanten Gesichts-
punkt^) fruchtbar zu machen gesucht. Hier ist überall bereits
die richtige Auffassung angebahnt, daß die rechtlich bedeutsame
„ Adäquatheit^ einer Verursachung nur auf praktische, in Zweck-
mäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen begründete Kriterien
abgestellt werden kann, z. B. — wie es in der zivil- und straf-
rechtlichen Literatur häufig geschieht — auf die durch „objek-
tive nachträgliche Prognose" ermittelte „Vorhersehbarkeit** oder
„Berechenbarkeit" eines Erfolges. Auch der so viel verhandelte
Streit aber die Anwendbarkeit des „philosophischen" Eausal-
begriffs in der Jurisprudenz dürfte sich durch die Einsicht
schlichten lassen, daß ein präziser erkenntnistheoretischer Kausal-
begriff zwar der Ausgangspunkt, nicht aber der ausschließliche
Zielpunkt strafrechtlicher Untersuchungen sein kann. Am schärf-
sten hat sich M. E. Mayer gegen die Alleinherrschaft des
kriminalistischen Naturalismus gewandt; unter Anlehnung an
Windelbands und Rickerts Wissenschaftsklassifikationen begreift
er die Jurisprudenz als eine Art der kulturwissenschaftlichen
Wertbeziehung, sucht aber dabei manche Bestandteile auch der
systematischen Strafrechtswissenschaft stark der „idiographischen"
Methode anzunähern.
Endlich untersteht auch das Verhältnis zwischen Ethik
und Jurisprudenz der methodologischen Kritik. Es sei nur an
Begriffe wie pfi\chtwidrige Willensbetätigung, Vorsatz, Verant-
42 Rechtsphilosophie.
wortlichkeit, Willensfreiheit erinnert. In diesem Fall würde das
„Vorjuristische'' in der Region der Werte liegen, die methodo-
logische Abgrenzung auf eine Vergleichung philosophischer und
empiristischer Begriffsbildung hinauslaufen.
Mit den Problemen der teleologischen Psychologie hängt die
alte Streitfrage der Juristischen Person" und des Verhältnisses
zwischen Einzel- und Gesamtpersönlichkeit zusammen. Hier
dürfte die von Jellinek gefundene Lösung eine Klärung ver-
sprechen. Das Substrat sowohl der Einzel- als der Gesamt-
persönlichkeit erscheint nach ihm in naturalistischer Be-
leuchtung gleicherweise als Aggregat oder Gewühl un verbundener
Realitäten, dagegen in vorjuristisch-teleologi seh er Beleuch-
tung gleicherweise als selbständige, durch Zweckbeziehungen zu-
sammengedachte Einheit, nämlich als einheitliches Individuum
und als einheitlicher Verband. An diese teleologischen Gestal-
tungen der vorrechtlichen Realitäten lehnt sich mit Fug das
Recht an und prägt in demselben Sinne im Reiche der juristi-
schen Bedeutungen die Begriffe der Einzel- und der Gesamt-
persönlichkeit. In keinem Fall bedeutet „Person" eine Fiktion,
in beiden Fällen eine wissenschaftliche Abstraktion. Für das
Recht gibt es nur Juristische" Personen. An die Stelle der
eine fierdßaaig elg &kh) yävog involvierenden Gegenüberstellung
von „physischer" und Juristischer Person" hat die von juristi-
scher Einzel- und Gesamtperson zu treten. Verwertet man für
das Persönlichkeitsproblem gleichzeitig den Begriff der teleo-
logischen Willenseinheit, so wird man keine mythologische
Personifikation mehr darin finden wollen, daß die von der Summe
ihrer Mitglieder unterschiedene Personeneinheit einen im teleo-
logischen Sinne einheitlichen Willen haben kann.
Da die Kontroversen der positiven Wissenschaft in unserem
Zusammenhang lediglich alsIUustrierungen allgemeinster methodo-
logischer Anschauungen in Betracht kommen, so möge an dieser
SteUe zum Thema der juristischen Person nur noch die Polemik
zwischen Gierke und Laband herangezogen werden. Die For-
schungen Gierkes haben nämlich, unter einseitig methodologischen
Gesichtspunkten betrachtet, hauptsächlich die Bedeutung, daß
sie bei ausdrücklicher Anerkennung des abstrakten Charakters
der Rechtswelt den Grad des Rechtsformalismus, also die so
schwierige Frage der Anschmiegung der Rechtsbegriffe
an das vorrechtliche Substrat sich bewußt zum Problem
Bechtsphilosophie. 43
machen. Trotz aller Veränderungen und Nivellierungen, die die
Rechtsordnung mit der Gliederung der vorrechtlichen Welt vor-
nimmt, ist sie ja dennoch imstande, deren Eigentümlichkeiten
und Unterschiede bis zu einem gewissen Grade in die juristische
Bedeutungssphäre zu transponieren. Nach zwei Richtungen läßt
sich eine solche Anschmiegung des Rechts an sein Substrat ver-
folgen: als Beibehaltung eines gewissen Kernes der psychophy-
sischen Gegebenheit — so wenn natürliche Unterschiede der
Sachen oder der psychischen Erscheinungen irgendwie in die
juristische Gedankenwelt wirksam hineinreichen — oder zweitens
als Anlehnung an die schon teleologisch geformten Lebens- und
Kulturrealitäten. Hierbei ist von Wichtigkeit — Ihering, Jellinek
und Lassen haben dies bemerkt — , daß die Lebensverhältnisse
bereits einen typisch gestalteten, für die rechtliche Regelung
also präparierten Stoff darbieten. Als Beispiele dafür, daß das
Recht die Anpassung an den Formenreichtum des Lebens in
verschiedenen Intensitätsgraden ausbilden kann, mögen die Gegen-
sätze romanistischer und germanistischer, zivilistischer und
publizistischer Generalisierungsprinzipien erwähnt werden. Rosin
und Stoerk halten die größere oder geringere Gleichartigkeit und
Einförmigkeit der Zwecke für den Gradmesser des Formalismus.
Auch in der Polemik zvrischen Laband und Gierke stehen
sich in letzter Linie romanistische und germanistische Tendenzen
gegenüber. Gierke macht der romanistischen Jurisprudenz den
allerdings zuweilen metaphysisch eingekleideten Vorwurf, daß
sie ganz so verfahre, als gäbe es kein anderes Substrat des Per-
sönlichkeitsbegriffs als die unverbundenen , einander lediglich
koordinierten Einzelwesen, wobei sie es durchaus verschmähe,
die vor dem Recht liegende soziale Eingeordnetheit des
einzelnen in Genossenschaften innerhalb der juristischen Sphäre
irgendwie auszuzeichnen. Laband hat dagegen eingewandt, daß
das eigentümliche Verhältnis der Eingliederung von Individuen
in Verbände gerade zu denjenigen Momenten zu zählen sei, die
ausschließlich dem Leben angehören, im juristischen Per-
sönlichkeitsbegriff aber keinen korrespondierenden Ausdruck er-
halten dürfen. Allein es ist von vornherein gar nicht einzu-
sehen, warum soziale Substrat- und juristische Persönlichkeits-
struktur gerade im Punkte der Eingliederung gänzlich
auseinanderfallen müssen, warum nicht zwischen der Gesamt-
person und den Einzelpersonen personenrechtliche Beziehungen
44 Rechtsphilosophie.
konstruiert werden dürfen, die von den zwischen nnyerbnndenen
Individuen möglichen Bechtsverhältnissen abweichen. Wenn
Gierke von der juristischen Konstruktion eine feinere An-
schmiegungsfähigkeit fordert und so die Möglichkeit für das
Einströmen neuer Gedanken in die Rechtsbildung offen läßt^ so
sucht er damit noch nicht die Kluft zwischen Recht und Wirk-*
lichkeit zu überbrücken, wie er denn auch zwischen den „die
tatsächliche Unterlage der Rechtspersönlichkeit^ bildenden so-
zialen Lebenszentren und ihrem Auftreten als „Verbandsper-
sonen" im „Rechtsgebiet", ausdrücklich unterscheidet.
Auch die Frage, wieweit der juristische Formalismus ohne
Schaden getrieben werden kann, dürfte einer einheitlicheren Er-
fassung erst zugänglich werden, wenn die Methodologie stets
Fühlung mit der Erkenntnistheorie behält und in einem erkennt-
nistheoretischen Wirklichkeitsbegriff den festen Punkt gewinnt^
von dem aus die einzelnen gleichsam übereinander gelagerten
Begriffsbildungsschichten sich in ihrem verschiedenen Abstand
von der gemeinsamen Wirklichkeitsbasis eindeutig beurteilen
lassen. Erst dann wird auch über den Aufbau, insbesondere
über die „Objektivität" und „Subjektivität" der ineinander-
greifenden wissenschaftlichen Synthesen Klarheit gewonnen
werden. —
Während über das Verhältnis der rechtlichen Begriffswelt
zum vorrechtlichen Substrat eine gewisse Übereinstimmung
herrscht, gehen die Ansichten über die Wissenschafts- und
Systemform der Jurisprudenz noch weit auseinander. Da
bereits die „Technik" des Rechts selbst Systematisierungen des
juristischen Stoffes in hoher Vollendung hervorbringt, kann auch
hierin nicht eine ausschließliche Eigentümlichkeit der Rechts-
wissenschaft gesehen werden, und es darf nicht wundernehmen,
wenn sich von jeher Zweifel gegen die Wissenschaftlichkeit der
Jurisprudenz erhoben haben.
Welche Lösung diese Frage auch immer durch eine ein-
heitliche Fixierung des knlturwissenschaftlichen Erkenntnis-
begrifi's finden mag, soviel darf als ausgemacht gelten, daß die
Jurisprudenz auf jeden Fall hinsichtlich ihrer Selbständigkeit
einen wesentlichen Vorzug vor der sonstigen Technik aufweisen
müßte. Während diese nämlich die in den Dienst ihrer prakti-
schen Zwecke gestellten rein theoretischen Kenntnisse anders-
woher und zwar den Naturwissenschaften entnimmt, erzeugt die
Rechtsphilosophie. 45
Jarispmdenz alles zur Bewältigung ihrer praktischen Aufgabe
Erforderliche durch eine nur ihr eigentümliche Begriffswelt, die
es sich wohl verlohnt, methodologisch zu beleuchten. Freilich
wird die Methodologie überall den praktischen Beruf des Eechts
im Leben als systembildenden Faktor anzuerkennen haben und
sich nicht dazu versteigen dürfen, das Logische im Recht anders
als in seiner Durchdringung mit dem Praktischen zu verstehen.
Mit der Forderung exakter Erforschung der logischen Struktur
der Rechtswissenschaft wird der mit Recht verspotteten „Be-
griffsjurisprudenz*^ keineswegs das Wort geredet.
Man kann der Jurisprudenz eine selbständige Bedeutung
zunächst ii einem formalen Sinne zuschreiben, nämlich eine
Selbständigkeit gegenüber dem Recht, namentlich gegenüber dem
Gesetz. Trotz seines auch für die Wissenschaft richtunggebenden
Charakters beansprucht das Gesetz dennoch in gewisser Hinsicht
lediglich die Stellung eines bloBen Materials, an dem noch ge-
deutet, dessen Zuverlässigkeit noch geprüft werden kann. Es
gibt ein Auseinanderfallen von Recht und Gesetz. Nicht das
Gesetz, sondern das Recht bildet das Objekt der Rechtswissen-
schaft. Das Gesetz ist neben dem G^ewohnheitsrecht, der richter-
lichen Gesetzesanwendung und anderen Anhaltspunkten nur
eins der Indizien, aus denen die Jurisprudenz das dahinter
steckende System der zu einer bestimmten Zeit und in einer be-
stimmten Gemeinschaft in Wahrheit „geltenden^, „vom Gesetz-
geber gewollten", also durchaus „positiven" Rechtsnormen erst
durch zum Teil schöpferische Arbeit gewinnen muß. Es liegt
außerhalb des Rahmens dieser Skizze, von all den gegenwärtigen
Untersuchungen über Gesetzesauslegung, Analogiebildung, Lücken
im Recht, Gesetz und Gewohnheitsrecht, Gesetz und Richter-
amt usw. auch nur ein andeutendes Bild zu geben.
Am wenigsten ergiebig zeigt sich die gegenwärtige Me-
thodologie, wenn man von ihr über die materiale Selbständigkeit
der Jurisprudenz, über die inhaltliche Eigenart, die den spezifisch
juristischen Systematisierungsformen im Unterschiede zu den
Systembildungen sonstiger Wissenschaften zukommt, Aufschlüsse
erwartet Iherings Ausführungen über die „Präzipitation der
Rechtssätze zu Rechtsbegriffen" gehören trotz aller berechtigten
Einwendungen, die man gegen ihre bilderreiche naturwissen-
schaftliche Terminologie erhoben hat, wohl immer noch zu den
gelungensten Charakterisierungen des juristischen Denkens. Über
46 Rechtsphilosophie.
die Umsetzung der ursprünglichen imperativen Form in die
wissenschaftliche Urteils- und Begriffsform, über die Zerlegung
des Zusammengesetzten in seine einfachsten Bestandteile, über
die juristische „Konstruktion" u. a. gibt es eine Menge gedanken-
reicher Untersuchungen. Aber es scheint trotzdem, als ob dabei
das eigentliche Geheimnis der juristischen Systemform zwar von
dem durch die wissenschaftliche Praxis damit vertrauten Fach-
mann unmittelbar mitgefühlt^ aber noch nicht zu einem logischen
Ausdruck objektiviert worden sei. Desgleichen sind, z. B. von
G. Rümelin, von Wundt und neuerdings besonders von Radbiiich,
die allgemeisten, von allen Wissenschaften geltenden logischen
Schemata wie Deduktion, Reduktion, Induktion, Klassifikation in
ihrer Anwendung auf die Jurisprudenz dargestellt worden.
Allein so lehrreich solche Versuche einer ersten logischen Be-
herrschung des Rechtsstoffes auch zweifellos sind, gerade die in-
dividuelle juristische Nuance dieser formallogischen Prinzipien
wird dabei nicht immer scharf genug gekennzeichnet. Auch
hier ist die einseitige Orientierung der bisherigen Logik an den
Naturwissenschaften der böse Schaden der Methodologie gewesen.
Häufig wird übersehen, daß die den juristisch geformten Stoff
zu höheren systematischen Bildungen fortgestaltenden Opera-
tionen in ähnlicher, nur noch verwickelterer Weise von dem
teleologischen Grundcharakter des Rechts durchherrscht werden
wie die ursprünglichen, dem von-echtlichen Substrat gegenüber
betätigten juristischen Bearbeitungsfunktionen.
Kompliziert ist die methodische Stellung der Rechtsgeschichte.
Um sie genau zu bestimmen, wird man den Begriff der histori-
schen Kulturdisziplin mit relativ systematischen Bestandteilen
zu konstruieren haben, ein Analogen zu dem von Rickert unter-
suchten Begriff der Geschichtswissenschaft mit relativ natur-
wissenschaftlichen Bestandteilen. Sodann aber erwachsen noch
besondere Schwierigkeiten daraus, daß diese Disziplin entweder
als Geschichte der sozialen oder als Geschichte der juristischen
Rechtswirklichkeit gedacht sein und endlich als Dogmen-
geschichte einen Zweig der Wissenschaftsgeschichte bilden kann.
Es ist oft, z. B. von Ihering und Arnold, bemerkt worden, daß
die Rechtsgeschichte, sobald sie nicht im ausschließlichen Dienst
der Dogmatik steht, die Tendenz haben muß, die juristischen
Abstraktionen im Zusammenhang mit der Totalität des Lebens
zu begreifen.
Rechtsphilosopliie. 47
Endlich hat die Logik der Jurisprudenz auch das Verlangen
der Gegenwart nach einer „allgemeinen Rechtslehre", die For-
derung, daß das Ganze der Rechtswissenschaft zu seinem „all-
gemeinen Teil" komme, methodologisch zu analysieren. Hierbei
muß dem bereits von Stammler bekämpften sehr verbreiteten
Irrtum entgegengetreten werden, es könne die empirische For-
schung durch bloße Steigerung und Generalisierung des Systema-
tisierens plötzlich in „Philosophie" umschlagen.
Der Dualismus sozialwissenschaftlicher und juristischer Be-
trachtungsweise dringt auch in die obersten Begritfe der rechts-
wissenschaftlichen Prinzipienlehre ein und erzeugt die Spaltung
in eine allgemeine Soziallehre des Rechts und in eine allgemeine
Jurisprudenz, die jetzt beide noch ungeschieden mit einer Menge
anderer Wissenschaftsbruchstücke in der „allgemeinen Rechts-
lehre" zusammengeworfen werden. Der allgemeinen Jurisprudenz
stehen zwei einander gegenseitig ergänzende Mittel zu Gebote:
die alle historischen Rechtsordnungen umspannende vergleichend
dogmatische Behandlung und die aus einer Analyse der speziel-
leren Begriffe sich herausarbeitende Gewinnung der juristischen
Grundbegriffe. Die Rechtsvergleichung kann aber nicht nur
juristisch-dogmatisch, sondern auch ethnologisch und soziologisch
betrieben werden, und mit diesen Gegensätzen kreuzen sich die
Unterschiede systematischer und historischer Methode. Über-
haupt nicht zur vergleichenden, das „rationell Verwandte" zu-
sammenstellenden Rechtswissenschaft gehört, wie Leist treffend
bemerkt hat, die auf einmalige Zusammenhänge zwischen ver-
schiedenen Rechtsordnungen, also auf ein ausschließlich historisch
Verwandtes, gerichtete Forschung, z. B. die „arische Stammes-
rechtsgeschichte".
Rechnet man, wie hier geschehen ist, die allgemeine Rechts-
lehre lediglich zum Untersuchungsobjekt der Methodologie, so
ist damit nicht nur die sozialwissenschaftliche und kulturgeschicht-
liche Behandlung der lebendigen Zusammenhänge des Rechts mit
den übrigen Lebensmächten aus der Philosophie verwiesen,
sondern es bleiben auch die allgemeinsten juristischen, das Ver-
hältnis von Recht und Staat, Recht und Zwang, objektivem und
subjektivem Recht usw. betreffenden Probleme der empirischen
Wissenschaft überlassen.
Nicht hierüber, sondern allein über die rein methodologischen
Versuche der Jurisprudenz, ihr eigenes Wesen zu verstehen.
48 Bechtophilosophie.
sollte in den vorangegangenen Sieilen berichtet werden. Noch
besteht die Methodologie der Rechtswissenschah nnr in einer
Seihe zerstreuter Bemerkungen. Aber der gerade gegenwärtig
in der Jurisprudenz stark hervortretende Trieb nach logischer
Selbstbesinnung berechtigt zu der Erwartung, daß sie sich in
Zukunft zu einem Ganzen fügen werden.
Literatur.
Abschnitt I.
Die PhiloBopliie des Beohte.
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Rechtsphilosophie. 49
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Gesehiehtsphilosophie.
Von
Heinricil Sickert.
Einleitung.
Die philosophischen Wissenschaften stehen am Anfang des
zwanzigsten Jahrhunderts znm großen Teil noch im Zeichen der
Bestauration. Ihrletzter Aufschwung war von dem Wiedererwachen
des Interesses für Kant abhängig, und auch die Gedanken, mit
denen die an Samt orientierte Philosophie heute zu kämpfen hat
sind nicht erst in unserer Zeit entstanden, sondern stammen aus
einer noch fr&heren Periode der philosophischen Entwicklung.
Gilt es doch meist, den Naturalismus der Aufklärung, den Eantg
Idealismus nicht definitiv zu besiegen vermocht hat^ von neuem
zurückzudrängen. Ebenso darf, wenn jemand behaupten wollte^
daß auch Kant zum Teil wenigstens überwunden sei, nicht ge-
sagt werden, daß erst kürzlich geschaffene Ideen dies vollbracht
haben, sondern fast jeder wirkliche Fortschritt über Kant hinaus
liegt im wesentlichen in der Richtung, die bereits von Kants
unmittelbaren Nachfolgern eingeschlagen war, und an die man
heute wieder anzuknüpfen beginnt Aus diesem Grunde hat das
Studium der Geschichte der Philosophie in unseren Tagen eine
große Bedeutung, und deshalb feiern wir einen Mann wie Euno
Fischer, der nicht nur zur Wiederbelebung des Verständnisses
für Eant soviel beigetragen, sondern auch die Gedanken seiner
großen Jünger unserer Zeit wieder näher gebracht hat. Man
braucht nicht zu fürchten, daß wir den Entwicklungsgang von
4*
52 GeschielitBphilosophie.
Kant zu Fichte, von diesem zu Schelling oder Schopenhauer nnd^
von dort weiter zu Hegel noch einmal durchzumachen hätten.
Unsere neue Zeit bringt neue Fragen, die neue Antworten ver-
langen, und noch niemals hat sich etwas im geschichtlichen
Leben wiederholt. Aber der Einsicht sollte man sich nicht ver-
schließen, daß der kantische und nachkantische Idealismus einen
Schatz von Gedanken enthält, der noch lange nicht vollständig
ausgemünzt ist, und aus dem wir eine Fülle wertvoller Ideen
holen können, wenn wir mit den philosophischen Problemen
unserer Zeit zu ringen haben.
Für keine philosophische Disziplin gilt dies mehr, als für
die Oeschichtsphilosophie. Obwohl in letzter Zeit das Interesse
für sie außerordentlich gewachsen ist, darf sie, wenigstens mit
Sucksicht auf ihre Grundbegriffe, nicht den Anspruch erheben,
daß sie Unerhörtes, Neues lehre. Gerade^ die Spekulationen, die
für besonders „modern^ gelten, zehren fast nur von Gedanken,
die in der Aufklärung ihre Formulierung gefunden haben, und
ebenso muß auch die Bichtung, welche diese Aufklärungsten-
denzen bekämpft, dankbar anerkennen, daß einige ihrer besten
Waffen ihr zum Teil von Kant, zum noch größeren Teil von
nachkantischen Idealisten, besonders von Fichte und Hegel, ge-
schmiedet worden sind. Wer daher ein Bild von der gegen-
wärtigen Lage der Geschichtsphilosophie und ihren Bewegungen,
von ihren Hauptproblemen und den verschiedenen Sichtungen
ihrer Lösung erhalten will, könnte zur Gewinnung der Grund-
begriffe versuchen, die Fäden rückwärts zu verfolgen, die zum
deutschen Idealismus und dann noch weiter in die Vergangen-
heit hinein bis zur Aufklärung führen. Aber auch auf geschichts-
philosophischem Gebiet wird es sich nicht um eine bloße Wieder-
herstellung des Früheren handeln. Man braucht nur an die Ent-
wicklung der Geschichtswissenschaft im neunzehnten Jahrhundert
zu denken, um das einzusehen, und jedenfalls müssen wir in den
Systemen der Vergangenheit das dauernd Wertvolle von dem
„historisch'* Gewordenen scheiden. Das aber ist gerade für die
Geschichtsphilosophie erst zum Teil getan. Es wird noch mehrerer
Untersuchungen von der Art bedürfen, wie sie z. B. für Ficbtes
Idealismus und die Geschichte von Lask angestellt worden sind,
bis die dauernde Bedeutung dieser Gedanken hervortritt. Schon
aus diesem Grunde ist für einen kurzen Überblick über die Gegen-
wart die geschichtliche Orientierung nicht geeignet Und auch
Geschichtspliilosopliie. 53
abgesehen davon empfiehlt es sich hier nicht, nur historisch zu
verfahren. Trotz aller Dankbarkeit, die wir für unsere philo-
sophische Vergangenheit empfinden, trotz aller Anerkennung
ihrer Überlegenheit an schöpferischer Originalität, ist es dringend
zu wünschen, daß wir aus dem Zustande des Epigonentums wieder
hinauskommen, daß wir nicht nur vom Zeitalter der Aufklärung
zum Zeitalter Kants fortschreiten, sondern versuchen, unsere
eigenen Wege zu gehen, und gerade die Geschichtsphilosophie
hat vielleicht am meisten Veranlassung hervorzuheben, daß der
Philosoph niemals nur Historiker sein, daß die Philosophie nie-
mals in der Geschichte stecken bleiben darf. So sei denn hier
die Vergangenheit beiseite gelassen und eine systematische
Orientierung versucht. ^
Doch auch auf diesem Wege begegnen uns Schwierigkeiten.
Die intensive Beschäftigung mit der Geschichte hat nicht nur
einen großen Reichtum an philosophischen Ideen, sondern auch
eine erhebliche Verwirrung gebracht und damit eine Unsicher-
heit, die sich auf die elementarsten Begriffe unserer Arbeit er-
streckt. Auf die Frage, was Philosophie überhaupt sei, gibt es
keine Antwort, die sich allgemeiner Anerkennung erfreut, und
was für das Ganze gilt, wird für die Teile gelten. Wollen wir
daher ohne Willkür verfahren, so werden wir uns zunächst die
verschiedenen Bedeutungen, die man mit dem Worte G^schichts-
philosophie verbinden kann, zu vergegenwärtigen und unseren
Begriff dieser Wissenschaft zu rechtfertigen haben.
Drei Begriffe heben sich vor allem deutlich heraus. Von
der Philosophie überhaupt sagt man, daß sie die Wissenschaft
vom Allgemeinen sei im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften.
Philosophieren kann dann heißen, eine Gesamterkenntnis der
Wirklichkeit suchen, den Inbegriff aller wissenschaftlichen Er-
kenntnis geben. Bestimmt man hiernach die Aufgaben einer Philo-
sophie der Geschichte, so hat sie, während die historischen Einzel-
wissenschaften es mit den besonderen Gebieten des geschichtlichen
Lebens zu tun haben, das von ihnen Gefundene zu einem einheit-
lichen Gesamtbilde, zu einem Überblick über das Ganze, kurz zu
einer allgemeinen Geschichte zusammen zu fassen. Geschichtsphilo-
sophie in dieser ersten Bedeutung des Wortes würde also soviel
wie Universalgeschichte oder „Weltgeschichte" heißen. Die
Allgemeinheit einer Darstellung kann aber verschieden ver-
standen werden. SteUt man, um wieder an den Begriff der
54 GeBciuchUphilosophie.
Philosophie überhaupt anzuknüpfen, ihr die Aufgabe, Gesamt-
Erkenntnis der Wirklichkeit zu geben, so kann man nicht meinen,
•daß sie die ganze inhaltliche Fülle des von den Einzelwissen-
schaften erkannten Materials in sich aufzunehmen habe. Ihre
Allgemeinheit muß vielmehr stets mit einer Verallgemeinerung
in dem Sinne verbunden sein, daß der Inhalt des Spezialwissens
in mehr oder minder hohem Grade dabei verloren geht, und
schließlich läßt sich diese Verallgemeinerung so weit treiben,
daß nur noch die allgemeinen „Prinzipien'^ zum Gegenstande der
Untersuchung werden. Daraus ergibt sich auch ein neuer Be-
griS der Geschichtsphilosophie. Diese Disziplin hat dann den
besonderen Inhalt des geschichtlichen Lebens bei seite zu lassen,
nm nach seinem allgemeinen „Sinn^ oder nach seinen allgemeinen
^Gesetzen^ zu fragen. Auch ohne daß die Begriffe des Sinnes
und des Gesetzes näher bestimmt sind, entsteht so der Begriff
•einer Wissenschaft von den historischen Prinzipien, der
«ich scharf gegen den Begriff der Universalgeschichte abhebt.
Und einen dritten Begriff gewinnt man endlich, wenn Geschichte
nicht das Geschehene selbst, sondern die Darstellung des Ge-
schehens oder die Geschichtswissenschaft bedeutet. Dieser Be-
griff steht ebenfalls in Übereinstimmung mit einer vielfach ver-
tretenen Ansicht von den Aufgaben der Philosophie überhaupt,
wonach sie, besonders in ihrem theoretischen Teile, nicht so sehr
die Dinge selbst, als vielmehr das Wissen von den Dingen zu
ihrem Objekte zu machen hat. Die Geschichtsphilosophie kann
also auch als Wissenschaft vom geschichtlichen Erkennen oder
als ein Teil der Logik im weitesten Sinne des Wortes ange-
sehen werden. Vielleicht wird man noch eine Disziplin ver-
missen, die von der Bedeutung des geschichtlichen Denkens für
die Behandlung der allgemeinen Problieme der Weltanschauung
und Lebensauffassung handelt. Aber diese Fragen werden
leicht zu beantworten sein, wenn die bisher angegebene Arbeit
getan ist, und zur Aufstellung einer vierten Art von Geschichts-
philosophie besteht deshalb kein Grund. Wohl aber scheinen in
der Tat die Universalgeschichte, die Lehre von den Prinzipien
des geschichtlichen Lebens und die Logik der Geschichtswissen-
schaft drei gleich berechtigte Wissenschaften zu sein, von denen
jede ihre besonderen Probleme hat, und die doch alle das Secht
auf den Namen der Geschichtsphilosopie besitzen.
Sieht man jedoch genauer zu, so ergibt sich bald ein anderes
Oeschichtsphilosophie. 55
Bild. Wie soll die Universalgeschichte neben den einzelnen
historischen Disziplinen bestehen? Ist sie zu denken als bloße
Snmmiemng des von ihnen Gefiindenen? Gewiß nicht. Zorn Min-
desten wird man von ihr verlangen, daß sie das geschichtliche
Ganze einheitlich darstelle. Was aber ist dieses Ganze, worin
besteht das P r i n z i p seiner Einheit nnd seiner Gliederung ? Durch
solche Fragen wird die erste Art der Geschichtsphilosophie bei
der Behandlung ihrer Grundbegriffe auf die zweite Art hinge-
wiesen. Aber auch die Begriffe, welche die Prinzipienwissen-
«chaft zur Bestimmung ihrer Aufgabe braucht, dürfen nicht als
selbstverständlich vorausgesetzt werden, und zwar weder wenn
man dabei an allgemeine „Gesetze" denkt, denen alles geschicht-
liche Leben unterworfen sein soU, noch wenn man einen einheit-
lichen „Sinn'^ dem Ganzen der geschichtlichen Entwicklung zu-
j^nnde legen will. In diesen Begriffen stecken Probleme. Während
•es jeder für selbstverständlich hält, daß man nach Gresetzen der
Natur forscht, wird die Möglichkeit, historische Gesetze aufzu-
stellen, entschieden bestritten, und, abgesehen davon, wie kommt
«s, daß auf naturwissenschaftlichem Gebiete die Gesetze von den
Einzelwissenschaften selbst gesucht werden, während fär die
Geschichte diese Aufgabe einer philosophischen Disziplin zufällt?
Mit welchem Bechte nehmen wir femer einen Sinn des geschicht-
lichen Verlaufes an, und welche Mittel haben wir, um ihn zu
erkennen? Die Greschichtsphilosophie als Prinzipienwissenschaft
kann mit ihrer Arbeit nicht beginnen, ohne auf diese Fragen
«inzugehen, und sie wird sie nicht beantworten können, ohne Klar-
heit über das Wesen des historischen Erkennens überhaupt, d. h.
logische Kenntnisse zu besitzen. So sehen wir die zweite der
drei Disziplinen ebenso auf die dritte angewiesen, wie die erste
auf die zweite angewiesen war, und es ergibt sich demnach
zwischen den verschiedenen Arten von Geschichtsphilosophie,
die zunächst drei selbständige Wissenschaften mit verschiedenen
Problemen zu sein schienen, ein Zusammenhang von der Art,
daß die Logik der Geschichte den Ausgangspunkt und die
Grundlage aller geschichtsphilosophischen Untersuchungen bilden
muß. Wieweit dann die Probleme der Prinzipienwissenschaft
und der Universalgeschichte in logische Probleme verwandelt
werden müssen, wenn sie überhaupt lösbar sein sollen, das kann
«rst die Untersuchung selbst zeigen. Schon jetzt aber steht
fest, daß es nicht Willkür, sondern Notwendigkeit ist, wenn wir
S6 GeschichtBphiloiophie.
hier mit einer Übersicht über die wichtigsten Probleme nnd
Streitfragen der Geschichtslogik den Anfang machen.
Die Logik der OescMchtswissenschaft
Mit dem Voranstellen dieses Teiles betreten wir zugleich
das Gebiet der Geschichtsphilosophie, auf dem unsere Zeit noch
am meisten den Anspruch auf eine gewisse Originalität machen
darf. Für die logische Formulierung und Behandlung der Pro-
bleme finden sich nämlich in der Philosophie des deutschen Idea-
lismus zwar sehr wertvolle, aber doch nur vereinzelte und un-
systematische Bemerkungen, und in der vorkantischen Philosophie
der Vei'gangenheit und Gegenwart ist zur Beantwortung dieser
Fragen soviel wie nichts geleistet Es gehen vielmehr trotz,
des einleuchtenden Zusammenhanges zwischen Geschichtslogik und
Geschichtsphilosophie im weiteren Sinne die Ansätze zu dem
Versuche, das logische Wesen der Geschichtswissenschaft in
seiner Eigenart gründlich zu verstehen, nicht viel weiter als bis
auf Paul, Naville, Simmel und besonders Windelband zurück.
Es herrscht denn auch über die elementarsten Fragen auf diesem
Gebiet bisher der heftigste Meinungsstreit, ja eine Logik der
Geschichte, die diesen Namen verdient, hat sogar noch um ihre
Existenzberechtigung zu kämpfen. Man glaubt nicht nur, wie z. B.
Lindner, geschichtsphilosophische Probleme ohne logische Grund-
legung wissenschaftlich behandeln zu können, sondern man hat
geradezu das Recht zur Aufstellung eines rein logischen Be-
griffes der Geschichte und der geschichtlichen Methode bestritten.
Die Gründe daför liegen nicht allein darin, daß zu diesen Fragen
viele das Wort ergriffen haben, denen es zur Behandlung logi-
scher Probleme wohl an der nötigen Schulung fehlt. Sie stammen
auch nicht allein aus den Schwierigkeiten, die sich hier ergeben^
denn das logische Wesen der Geschichte ist nicht schwerer zu
verstehen als das anderer Wissenschaften, sobald man nur den
richtigen Weg dazu einschlägt Aber gerade über diesen Weg
besteht merkwürdigerweise keine Einigkeit Man sollte denken^
es sei selbstverständlich, daß, wer hier nach Klarheit sucht, sieb
GeBchichtsphiloflopliie. 57
dabei, wenigstens zunächst» an den Werken der allgemein aner-
kannten großen Historiker orientiert, und vor allem das fest-
stellt, wodurch das historische Denken sich von dem der anderen
Wissenschaften unterscheidet Man sollte femer glauben, daß
die logische Struktur der vorhandenen Geschichtswissenschaft
verstanden sein muß, ehe man ein Urteil über ihren wissenschaft-
lichen Wert zu fällen unternimmt. Aber das Selbstverständliche
ist in diesem Falle nicht das Übliche. Die Orientierung an den
Werken der großen Historiker wird vielmehr bisweilen, z. B. von
Lamprecht und Tönnies, als unwissenschaftlich verworfen: diese
Darstellungen sollen keine wahre Wissenschaft enthalten. Ins-
besondere diejenigen, die sonst nicht müde werden, die Erfahrung
als einzige Grundlage alles Wissens zu preisen, gehen bei der
logischen Untersuchung der Erfahrungswissenschaften mit einem
vorher festgestellten und noch niemals verwirklichten Begriff von
Geschichtswissenschaft an die Arbeit, und glauben, weil sie die
Historiker nirgends auf dem Wege zu ihrem Ideale finden, es
sei notwendig, die Greschichte erst zur Wissenschaft zu erheben.
In manchen Köpfen hat sich so der Gedanke eines Gegensatzes
von Wissenschaft und Geschichte festgesetzt, und gerade diese
Denker fühlen sich dann sonderbarerweise berufen, die Geschichts-
wissenschaft über ihre wahren Ziele aufzuklären.
Daß die meisten Historiker von solchen geschichtsfremden
Spekulationen nichts wissen wollen, ist nicht wunderbar. So
kommt es, daß Geschichte und Philosophie einander vielfach über-
haupt nicht mehr verstehen, und unter diesem Zustande leiden
beide Teile. Zwar wurde die ungeschichtliche Geschichtsphilo-
sophie, die früher besonders in der Gestalt der Theorien (nicht
der Praxis) von Taine und Buckle Verbreitung gefunden hatte,
und die heute wieder mit mehr Eifer als Klarheit, z. B, von Lam-
precht, erneuert wird, für die Zwecke der empirischen Geschichts-
wissenschaft durch Droysen, Bemheim, v. Below, Ed. Meyer u. a.
genügend zurückgewiesen. Aber unter philosophischen Gesichts-
punkten ist in diesem methodologischen Streit der Historiker
untereinander, in den man auch Fragen wie die nach Frei-
heit und Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit und Zufälligkeit, Teleo-
logie und Mechanismus hineingezogen hat, trotz manches wert-
vollen Ergebnisses, doch noch vieles ungeklärt geblieben, und
daher zeigen sich denn auch Historiker bisweilen ziemlich rat-
los, wenn sie von ihren spezialwissenschaftlichen Untersuchungen^
58 Geschiehtsphiloflophie.
dem wieder mehr philosophisch werdenden „Zug der Zeit^ fol-
gend, zu allgemeineren Betrachtungen übergehen. Noch viel mehr
aber leidet unter diesem Zustand die Philosophie. Infolge ihres
Mangels an Verständnis für das gerade in nenerer Zeit eminent
wichtige historische Denken ist sie zu weitgehender Einflußlosig-
keit verurteilt, und wie sehr diese Einflußlosigkeit damit zu-
sammenhängt, daß sie keine Fühlung mit der Geschichte hat,
zeigt sich besonders deutlich darin, daß, wenn irgendwo bei den
Vertretern der sogenannten Geisteswissenschaften sich heute
philosophisches Interesse kund gibt, dies meist durch Anknüpfen
an geschichtsmethodologische Untersuchungen vermittelt ist.
Die Verständnislosigkeit für das Wesen der geschichtlichen
Arbeit tritt in unsem Tagen natürlich am deutlichsten bei den Ver-
tretern der heute wieder einmal zur Mode gewordenen naturalisti-
schen Dogmen hervor, und es macht keinen wesentlichen Unter-
schied, ob dieser Naturalismus als Materialismus oder als Psycho-
logismus auftritt. In beiden Fällen würde die Anerkennung
der Geschichte als Wissenschaft eine Erschütterung der grund-
legenden naturalistischen Begriffe bedeuten. Denn wo man die
Wirklichkeit mit der Natur gleichsetzt, ist für Geschichte um
so weniger Platz, je konsequenter man denkt Aber die Ge-
schichtsfremdheit unserer Philosophie hat noch tiefere Gründe.
So völlig durch Kant der Naturalismus als Weltanschauung im
Prinzip überwunden ist, so liegt in der Hauptsache diese Über-
windung doch nicht in einer Richtung auf das histori^fche
Denken. Zu dessen Erfassung finden sich bei dem Jünger
Newtons höchstens Ansätze, und Kants Methodologie wird
gerade in seinem theoretischen Hauptwerke noch fast ganz durch
sein Interesse an der Mathematik und der Naturwissenschaft
beherrscht. Man kann sich also in der Tat, wie z. B. M. Adler,
mit einem gewissen Schein des Rechts auch auf Kant stützen,
wenn man der geschichtlichen Arbeit den eigentlich wissen-
schaftlichen Charakter abspricht Schließlich kommt noch hin-
zu, daß zwischen den Naturwissenschaften, insofern sie systema-
tische Wissenschaften sind, und der Philosophie, die ebenfalls
nach einem System strebt, eine größere formale Verwandtschaft
besteht, als zwischen dieser und der Geschichte, die niemals
eine systematische Wissenschaft werden kann. Ja, man muß
sogar von einem Antagonismus zwischen historischem und philo-
sophischem Denken reden, den niemand zu beseitigen auch nur
Geschichtsphilosopbie. 59
Wünschen darf: den Historismus als Weltanschauung wird die
Philosophie immer zu bekämpfen haben. Aber alles dies läßt
die Aufgaben einer Logik der Geschichte nur um so dringender
-erscheinen. Der Naturalismus ist ja nicht weniger ein Objekt
der Bekämpfung als der Historismus, und femer darf die Philo-
sophie nur dann hoffen, mit dem Historismus fertig zu werden,
wenn sie das Wesen und die Bedeutung des historischen Denkens
gründlich verstanden hat. Für die Logik ergibt sich aus alle-
dem die Aufgabe, auch den von Kant noch vertretenen metho-
dologischen Naturalismus in seiner Einseitigkeit gründ-
lich zu überwinden und so zu einem Verständnis aller wissen-
schaftlichen Arbeit vorzudringen.
Die Behauptung, daß zur Lösung dieser Aufgabe bisher noch
wenig getan sei, wird vielleicht angesichts der vielen Unter-
suchungen über das Wesen der „Geisteswissenschaften^, die seit
Mill unternommen sind, auf Widerspruch stoßen, und es soll
auch gewiß nicht gesagt werden, daß alle diese Arbeiten wertlos
sind. Nur der entscheidende Punkt, der ein wirklich logisches
Verständnis der Geschichte ermöglicht, ist in den in anderer
Hinsicht äußerst wertvollen Untersuchungen, wie z. B. Dilthey,
Wundt, Münsterberg u. a. sie angestellt haben, entweder, wie bei
Wundt und Münsterberg, überhaupt nicht getroffen, oder doch,
wie bei Dilthey, wenigstens nicht so scharf herausgearbeitet und
in den Mittelpunkt gestellt worden, daß er in einer Logik der
Geschichte wirklich fruchtbar gemacht werden kann. Es kommt
dies schon in der üblichen Terminologie, welche die Geistes-
wissenschaften den Naturwissenschaften gegenüber-
stellt, zum Ausdruck. Der Gegensatz von Natur und Geist ist
heute nichts weniger als eindeutig. Die Denker, welche über
das Wesen der Geisteswissenschaften geschrieben haben, bestimmen
denn auch den grundlegenden Begriff des Geistes in sehr ver-
schiedener Weise, und sie sind eigentlich nur darin einig, daß
es überhaupt zwei verschiedene Gruppen von Erfahrungswissen-
schaften gibt. Es ist auch nicht zu hoffen, daß man vom Begriff
des Geistes aus zu einer Einigung über das Wesen des ge-
schichtlichen Denkens kommen wird. Diese Versuche enthalten
in den Grundlagen viel zu viele, meist metaphysische Voraus-
setzungen, die dem geschichtsfremden Naturalismus nur Angriffs-
punkte darbieten. Der einzige Begriff des Geistes, mit dem, man
heute ohne nähere Begründung arbeiten darf, ist der des Psychi-
60 Geschichtsphilosophie.
sehen in seinem Gegensatz zn dem des Physischen, denn daß
das, was wir Lnst oder Erinnerung oder Wille nennen, kein
Körper ist, wird wohl von allen Denkern, die wissenschaftlich
in Betracht kommen, zugestanden werden. Aber dieser einzige,
ohne weiteres brauchbare Begriff des Geistes, ist zu einer Ab-
grenzung der verschiedenen Wissenschaften und zum Verständnis
des Wesens der Geschichte ganz ungeeignet. Der Naturalismus
wird mit Becht behaupten, daß, wenn das Geistige in dem an-
gegebenen Sinne auch gewiß nicht Körper sei, es doch durchaus
zur Natur gehöre und daher in derselben Weise wissenschaftlich
untersucht werden müsse, wie alle anderen Naturobjekte. Das
sei nicht nur eine Theorie, sondern die Praxis der modernen
Psychologie erhebe diese Gewißheit über den Kampf der metho-
dologischen Ansichten. Solchen Behauptungen gegenüber sind
dann die Vertreter eines Gegensatzes von Natur- und Geistes-
wissenschaften so lange wehrlos, als sie ihren grundlegenden
Begriff nicht in vollkommen einwandfreier Weise bestimmt haben,
und das wird bei dem Begriff des Geistes mit logischen Mitteln
entweder gar nicht, oder jedenfalls erst dann möglich sein, wenn
vorher schon der logische Begriff der Geschichte gewonnen ist.
Auf alle diese Streitfragen braucht die Methodenlehre sich
zunächst gar nicht einzulassen, wenn sie ihr Augenmerk auf das
allein richtet, was sie klarstellen will, nämlich auf die Methode.
Diese besteht in den Formen, welche von der Wissenschaft
bei der Bearbeitung ihres Stoffes benutzt werden. Daß die Me-
thode vielfach dui*ch die Eigenart des Stoffes bedingt ist, soll
damit nicht geleugnet werden. Es kann deshalb auch eine
Untersuchung, welche auf die Verschiedenheit des Inhaltes der
Einzelwissenschaften reflektiert, zu diesem oder jenem logisch
wertvollen Resultate führen. Aber solche Erfolge werden sich
dann mehr oder weniger zufallig einstellen, und eine Logik, die
mit Sicherheit und auf dem kürzesten Wege ihr Ziel eneichen
will, sieht daher von allen Unterschieden im Inhalte der Einzel-
wissenschaften ab, um die formalen methodologischen Unter-
schiede um so besser zu verstehen. Sie hat zunächst nur darauf
zu reflektieren, daß in den Erfahrungswissenschaften überall ein
erkennendes Subjekt Objekten gegenübersteht^ die es, mögen sie
geistige oder körperliche, Naturvorgänge oder Kulturprodukte
sein, als „gegeben" hinnimmt, und daß das Subjekt sich das
Ziel setzt, diesen oder jenen Teil, oder auch das Ganze, der ge-
GeschiehUpliiloiopliie. 61
gebenen Welt zu erkennen. Man wird dann leicht konstatieren,
daß die Erkenntnis nicht in einer Beproduktion oder in einem
Abbilde, sondern in einer umbildenden Auffassung der Objekte
besteht. Zum Beweise daf&r genügt, abgesehen von aUen an-
deren Gründen, schon die einfache Überlegung, daß die gegebene
Wirklichkeit, von der jede empirische Wissenschaft ausgeht, sich
sowohl im ganzen als auch in allen ihren Teilen als eine schlecht-
hin unübersehbare Mannigfaltigkeit darstellt, die niemand ab-
zubilden vermag. Der Inhalt jedes Urteils, das etwas über die
Wirklichkeit aussagt, ist im Vergleich zu ihr selbst notwendig
eine große Vereinfachung. Die Wissenschaft; kann daher auch
als eine Umsetzung des anschaulich gegebenen Materials in
Denkgebilde betrachtet werden, für die man, zum Unterschiede
Ton der Anschauung, am besten den Namen des Begriffes ge-
braucht In diesem begrifflichen Umformungsprozeß steckt die
Methode der Wissenschaft. Femer aber — und das ist die
Hauptsache — müssen die Formen der wissenschaftlichen Arbeit,
insofern sie Mittel zur Erreichung des wissenschaftlichen Zieles
sind, in ihrer Eigenart abhängig sein von der formalen Eigen-
art der Ziele, die das Subjekt beim Erkennen verfolgt. Die "^
Logik wird also nach den formal voneinander verschiedenen
Aufgaben zu fragen haben, welche die verschiedenen Wissen-
schaften sich setzen, und die wissenschaftlichen Methoden in
ihrer Verschiedenheit als die notwendig verschiedenen Mittel
zur Erreichung dieser verschiedenen Ziele oder als die notwendig
verschiedenen Arten der Umformung und begrifflichen Bearbei-
tung des anschaulich gegebenen Materials zu verstehen suchen.
Selbstverständlich sind die hierbei sich ergebenden Unterschiede
der Methoden, ebenso wie die der Ziele, rein formal, aber gerade
wegen ihres rein formalen Charakters müssen sie als die grund-
legenden, ausschlaggebenden Momente für das Erfassen des logi-
schen Wesens einer wissenschaftlichen Methode gelten. Die
Logik hat es immer nur mit den Formen des Denkens zu tun.
Wenden wir uns von diesen allgemeinen Bestimmungen der
Aufgabe einer Logik der Einzelwissenschaften zu den Grundbe-
griffen, welche die Logik der Qeschichtswissenschaft im besonderen
zu entwickeln hat, so wird es zunächst nötig sein, den größten
formalen Gegensatz in unserer Auffassung der empirischen Wirk-
lichkeit zum Bewußtsein zu bringen, zu fragen, was dieser Gegen-
satz logisch bedeutet und dann anzugeben, welches Glied dieses
62 Geflohichtsphiloaophie.
Gegensatzes ffir die geschichtliche Darstellung der Wirklichkeit
maßgebend ist Daß es zwei prinzipiell verschiedene Arten der
Wirklichkeitsauffassung gibt, kann man sich vieUeicht am besten
an den vorwissenschaftlichen Kenntnissen klar machen, die wir
von einem größeren oder kleineren Teile der Welt besitzen. Es
wäre eine Täuschung, wenn man glauben wollte, wir hätten
darin ein Abbild der Wirklichkeit, wie sie ist Ehe die Wissen-
schaft an ihre Arbeit geht, ist vielmehr überall bereits eine Be-
griffsbüdung entstanden, und die Produkte dieser vor wissen-
schaftlichen Begriffsbildung, nicht die auffassungsfreie
Wirklichkeit, findet die Wissenschaft als Material vor. Der größte
formale Unterschied in dieser vorwissenschaftlichen Begriffs-,
bildung aber ist folgender. Weitaus die meisten Dinge und
Vorgänge interessieren uns nur durch das, was sie mit anderen
gemeinsam haben, und daher achten wir auch nur auf dies Ge-
meinsame, obwohl tatsächlich jeder Teil der Wirklichkeit von
jedem anderen individuell verschieden ist und nichts in der
Welt sich genau wiederholt Weil die Individualität der meisten
Objekte uns also ganz gleichgültig ist, so kennen wir ihre In-
dividualität auch nicht, sondern diese Objekte sind für uns nichts
anderes als Exemplare eines allgemeinen Gattungsbegriffes, die
durch andere Exemplare desselben Begriffes ersetzt werden
können, d. h. wir sehen sie, obwohl sie niemals gleich sind, als
gleich an, und bezeichnen sie daher auch nur mit allgemeinen
Gattungsnamen. Diese jedem bekannte Beschränkung des In-
teresses auf das Allgemeine im Sinne des einer Gruppe von
Gegenständen Gemeinsamen oder die generalisierende Auf-
fassung, auf Grund deren wir mit Unrecht glauben, es gäbe
so etwas wie Gleichheit und Wiederholung in der Welt, ist für
uns zugleich von großem praktischem Werte. Sie gliedert die
unübersehbare Mannigfaltigkeit und Buntheit der Wirklichkeit
für uns in bestimmter Weise und macht es uns möglich, daß
wir uns in ihr zurechtfinden.
Andrerseits aber erschöpft die generalisierende Auffassung
das, was uns an unserer Umgebung interessiert, und was wir
daher auch von ihr kennen, keineswegs. Dieser oder jener
Gegenstand kommt vielmehr gerade durch das für uns in Be-
tracht, was ihm allein eigentümlich ist, und was ihn von allen
anderen Objekten unterscheidet Unser Interesse und unsere
Kenntnis bezieht sich dann also gerade auf seine Individualität,
Ge8chicht8philos(^hie> 63
auf das, was ihn unersetzlich macht, und wenn wir auch wissen,
dafi er sich ebenso wie andere Objekte als Exemplar eines
Gattungsbegriffes auffassen lä£t, so wollen wir ihn doch nicht
als gleich mit anderen Dingen ansehen, sondern ihn ausdrücklich
aus seiner Gruppe herausheben, was sprachlich darin seinen
Ausdruck findet, daß wir ihn nicht mit einem Gattungsnamen,
sondern mit einem Eigennamen bezeichnen. Auch diese Art der
Gliederung oder die individualisierende Auffassung
der Wirklichkeit ist jedem so geläufig, daß sie keiner weiteren
Erörterung bedarf. Nur eins ist wichtig und muß hervorgehoben
werden: auch die Kenntnis der Individualität eines Objektes ist
nicht etwa ein Abbild in dem Sinne, daß wir die ganze Mannig-
faltigkeit seines Inhaltes kennen, sondern auch dabei wird eine
bestimmte Auswahl und Umbildung vollzogen, d. h. ein Komplex
von Elementen herausgehoben, der in dieser besonderen Zu-
sammenstellung dem einen bestimmten Objekt allein angehört
Wir müssen deshalb die jedem beliebigen Ding oder Vorgang
zukommende Individualität, deren Inhalt mit seiner Wirklichkeit
zusammenfällt, und deren Kenntnis weder erreichbar noch er-
strebenswert ist, von der aus ganz bestimmten Elementen be-
stehenden, für uns bedeutungsvollen Individualität unterscheiden
und uns klar machen, daß diese gewöhnlich allein gemeinte In-
dividualität im engeren Sinne, ebenso wie der allgemeine Gattungs-
begriff, nicht eine Wirklichkeit, sondern nur ein Produkt unserer
Auffassung der Wirklichkeit, unserer vorwissenschaftlichen Be-
griffsbildung ist.
Der dargestellte Unterschied muß das Interesse der Logik
in hohem Maße erregen. Zunächst knüpft ja nicht nur alle
wissenschaftliche Arbeit an vorwissenschaftliche Prozesse und
ihre Ergebnisse an, sondern sie läßt sich auch bis zu einem hohen
Grade als planmäßige Ausgestaltung des unwillkürlich bereits
Begonnenen verstehen. Femer aber ist der Unterschied be-
sonders deswegen bedeutsam, weil er einmal rein formal ist,
denn jedes beliebige Objekt kann generalisierend und individuali-
sierend aufgefaßt werden, und weil er außerdem, als Gegensatz
des Allgemeinen und Besonderen, den größten Unterschied dar-
stellt, der in logischer Hinsicht gedacht werden kann. Sollte er
also von Bedeutung für die Methoden der Einzelwissenschaften
sein, so würde die Logik ihn zum Ausgangspunkte ihrer Unter-
suchungen machen müssen.
64 GeschielitspbiloMpliie.
Was znnächst die generalisierende Betrachtang der Objekte
betrifft, so ist nicht nur über ihre praktische, sondern anch über
ihre theoretische Bedeutung für die Wissenschaft kein Zweifel.
In einer Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine,
die mit der Bildung allgeineiner Gattungsbegriffe und der Be-
trachtung der Objekte als deren Exemplare zusammenfällt, be-
steht die Methode vieler Wissenschaften. Erkennen heißt dann
das Unbekannte in der Weise als Fall des Bekannten verstehen,
daß das Individuelle, Einzigartige ausgeschieden und nur das
Gemeinsame in die Wissenschaft aufgenommen wird. Das höchste
Ziel dieser Erkenntnis ist, die zu erkennende Wirklichkeit so
unter allgemeine Begriffe zu bringen, daß diese sich durch die
Verhältnisse der Unter- und Überordnung zu einem einheitlichen
System zusammenschließen, und man wird dabei, wo es angeht,
nach solchen Begriffen streben, deren Inhalt unbedingt all-
gemein für die zu untersuchenden Objekte gilt. Wo diese Er-
kenntnis gelungen ist, da hat man das erfaßt, was man die
Gesetze der Wirklichkeit nennt. Es ist femer auch ein durch-
aus berechtigter Versuch, diese Methode des Begreifens auf allen
Gebieten der Wirklichkeit anzuwenden und daher überall, sei es
im Geistigen oder Eöi*perlichen, in den Naturvorgängen oder im
Kulturleben, nach Gesetzen zu suchen. Das mag freilich auf dem
einen Gebiete schwieriger sein, als auf dem anderen, ja vielleicht
sind hier und da die unbedingt allgemeinen BegrUfe für den
Menschen unerkennbar, aber die generalisierende Betrachtung
ist nirgends im Prinzip ausgeschlossen, und daraus scheint sich
«ine grundlegende methodologische Folgerung zu ergeben. Man
kann nämlich schließen, es falle das wissenschaftliche Denken
überhaupt mit dem Bilden allgemeiner Begriffe zusammen, und
«s gebe .daher unter rein formalen Gesichtspunkten nur eine
wissenschaftliche Methode. Der Gegensatz eines generalisieren-
den und eines individualisierenden Auffassens würde danach nur
insofern Bedeutung für die Logik besitzen, als die Wissenschaft
überall das Individuelle durch allgemeine Begriffe beseitigt, und
gerade weil in unserer Erörterung auf die Eigentümlichkeiten
des Materials der verschiedenen Wissenschaften keine Rücksicht
genommen ist, scheint durch sie die übliche Einteilung in Natur-
und Geisteswissenschaften, jedenfalls in ihrer formal methodo-
logischen Bedeutung, hinfällig zu werden. Das geistige Leben
ist vielmehr ebenso generalisierend zu behandeln wie die Körper-
Geschichtsphilosoplue. 66
weit, und deshalb mnß natürlich auch die Geschichtswissen-
schaft die generalisierende Methode anwenden.
In der Tat sind dies die besten Gründe, auf welche man
die Proklamier ung einer üniversalmethode stützen kann,
denn es sind rein formale Gründe, und, insofern die generali-
sierende Auffassung in den Naturwissenschaften ihre höchsten
Triumphe feiert, haben wir hier zugleich die beste Grundlage
für den methodologischen Naturalismus. Eine Logik aber, welche
die wirklich vorhandenen Wissenschaften verstehen will, wird
sich hiermit doch nicht begnügen. Sie wird aus dem richtigen
Satz, daß alle Wirklichkeit einer generalisierenden Betrachtung
unterzogen werden kann, nicht schließen, daß die Bildung von
allgemeinen Begriffei^ mit dem wissenschaftlichen Verfahren
überhaupt identisch sei Sie wird vielmehr fragen, ob faktisch
alle Wissenschaften dieses Verfahren anwenden, und sie muß
diese Frage bei einem Blick auf die wissenschaftliche Arbeit,
die in den Werken aller Historiker als Tatsache vorliegt, ver-
neinen. Diese Tatsache ist so evident, daß denn auch die An-
hänger der generalisierenden Universalmethode oder des methodo-
logischen Naturalismus sie nicht leugnen können. Sie suchen
sich dadurch zu helfen, daß sie sagen, die Geschichtswissenschaft
sei heute noch unvollkommen und passe deswegen nicht in das
angedeutete System, aber je weiter sie fortschreite, um so
mehr werde auch sie sich der einzig wissenschaftlichen, der
generalisierenden Methode bedienen. Diese Ansicht jedoch ist
unhaltbar, und zwar nicht etwa, wie immer aufs schärfste her-
vorgehoben werden muß, deswegen, weil die Wirklichkeit, welche
die Geschichte behandelt, nicht unter aUgemeine Begriffe ge-
bracht werden kann, denn dies ist eine für die formal ver-
fahrende Logik unbeweisbare Behauptung, sondern einfach des-
wegen, weil es zum Wesen der Geschichtswissenschaft gehört,
daß sie, sobald sie sich selbst versteht, eine Bearbeitung der
Wirklichkeit mit Bücksicht auf das den Objekten Gemeinsame
nicht vollziehen will, und deswegen nicht vollziehen will, weil
auf diesem Wege die Ziele, die sie als Geschichte sich setzt,
niemals zu erreichen sind.
Denn welches sind diese Ziele ihrem rein formalen Charakter
nach? Unter allen Umständen gilt es, den geschichtlichen
Gegenstand, sei er eine Persönlichkeit, ein Volk, ein Zeitalter, eine
wirtschaftliche oder eine politische, eine religiöse oder eine künst-
Windelband.Die Philosophie im Beginn des SO. Jshrh. II. Bd. 5
^f rui ^
66 Geschichtsphilosophie.
lerische Bewegung, wenn er als Ganzes dargestellt werden soll,
in seiner Einmaligkeit und nie wiederkehrenden Individualität
zu erfassen und ihn so, wie er durch keine andere Wirklichkeit
ersetzt werden kann, in die Darstellung aufzunehmen. Deshalb
kann die Geschichte, soweit ihr letztes Ziel, die Darstellung
ihres Objektes in seiner Totalität^ in Betracht kommt, sich des
generalisierenden Verfahrens nicht bedienen, denn dieses fällt ja
mit einer Ausscheidung des Individuellen zusammen und fährt
also zum logischen Gegenteil von dem, was die Geschichte an-
strebt. Es ist dabei wiederum zunächst noch ganz gleichgültig,
ob das historische Objekt körperlich oder geistig, Eulturprodukt
oder Naturvorgang ist, sondern nur darauf kommt es an, daß, wo
überhaupt ein geschichtliches Interesse^ an irgend einer Wirk-
lichkeit vorhanden ist, eine Darstellung mit individuellem
Inhalt angestrebt wird, da diese allein sich zur Lösung einer
y geschichtswissenschaftlichen Aufgabe eignet. Das soll nicht
heißen, daß die Geschichte ein Abbild der Individualität ihres
Objektes zu geben versucht, denn dies könnte sie ebensowenig
erreichen, wie wir in den vorwissenschaftlichen Kenntnissen Ab-
bilder der mit Eigennamen bezeichneten Objekte besitzen. Es
soU auch nicht heißen, daß sie ihren Gegenstand in allen seinen
Teilen individualisierend darstellt, sondern nur die Indivi-
dualität des Ganzen kommt zunächst in Betracht, und diese fällt,
wenn wir von dem Gedanken eines Abbildes absehen, durchaus
nicht mit der Summe der Individualitäten seiner Teile zusammen.
Es soll endlich auch nicht geleugnet werden, daß die Geschichte
auf dem Wege zu ihrem Ziel allgemeine Begriffe braucht und
generalisierend verfährt, ebenso wie umgekehrt in den generali-
sierenden Wissenschaften die Darstellung des Individuellen als
Ausgangspunkt für die Bildung allgemeiner Begriffe nicht ent-
behrt werden kann. Vorläufig soll vielmehr nur der logische
Charakter des letzten Zieles jeder historischen Darstellung und
die diesem Ziel notwendig entsprechende logische Struktur des
Ergebnisses zum Bewußtsein gebracht werden.
Sucht man dafür nach Beispielen, so ist es natürlich auch
ganz gleichgültig, welcher „Richtung" das geschichtliche Werk
angehört, das man ins Auge faßt Nehmen wir Bankes Welt-
geschichte oder Taines Origines de la France contemporaine,
Treischkes Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert
oder Buckles Geschichte der Zivilisation in England, Sybels
Geschichtsphilosophie. 67
Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I. oder Bnrck-
hardts Kultur der Benaissance in Italien, Max Lehmanns
Schamhorst oder Karl Lamprechts Deutsche Geschichte, so finden
wir ttberall, wie dies den Titeln der Werke, die das historische
Ganze bezeichnen, entspricht, eine Reihe von Ereignissen so be-
handelt, wie sie nur einmal in der Welt vorgekommen sind, und,
welche Formung ihnen der Historiker auch gegeben haben mag,
stets sind sie in ihrer Besonderheit und Individualität in die
Darstellung aufgenommen. Oder enthält etwa Lamprechts
Deutsche Geschichte, deren Verfasser glaubt, nach einer neuen
Methode zu arbeiten, als wesentlichen Bestandteil nur das, was
an anderen Exemplaren des allgemeinen Gattungsbegriffes einer
Nation, also an der Entwicklung des französischen, des eng-
lischen, des russischen Volkes ebenfalls zu finden ist, und was
beliebig oft zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten
sich wiederholt hat und sich wiederholen wird? Man braucht
nur diese Frage zu stellen, um einzusehen, daß auch ein Histo-
riker, der in der Theorie die „individualistische" Auffassung
verwirft, in der Praxis sein Objekt stets individualisierend be-
handelt. Dies Verfahren aber, das zum Wesen jeder geschicht-
lichen Darstellung gehört, ist bei keinem Werke der nicht ge-
schichtlichen Wissenschaften, mögen sie sich mit Körpern oder mit
geistigem Leben beschäftigen, angewendet. Helmholtz' Lehre
von den Tonempfindungen oder Weismanns Keimplasma, Lotzes
medizinische Psychologie, oder von Baers Entwicklungsgeschichte
der Tiere, Maxwells Traktat fiber Elektrizität und Magnetismus
oder Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft, alle diese Werke
berücksichtigen an ihren Objekten in der endgültigen Dar-
stellung, wie das ebenfalls schon die Titel zeigen, nur das, was
es gestattet, sie mit anderen Exemplaren desselben Gattungs-
begriffes als gleich anzusehen, und wovon man daher sagen
kann, da£ es sich beliebig oft wiederholt. Daß es nicht nur
generalisierende Geisteswissenschaften, sondern auch individua-
lisierende Körperwissenschaften gibt, hat in diesem Zusammen-
hange keine Bedeutung. Uns beschäftigt hier nicht der Unter-
schied von Geist und Körper, sondern nur der formale Unter-
schied der wissenschaftlichen Ziele und Methoden, und den
Unterschied, den wir aufgezeigt haben, zu leugnen, wird auch
den Fanatikern einer Universalmethode schwer werden. Es ist
fast unbegreiflich, daß man hier überhaupt noch streitet.
6*
68 Geschichtsphiloaopliie.
Wir stellen also als den Ausgangspunkt einer Logik der
Geschichte fest: es gibt nicht nur in unseren vorwissenschaftlichen
Kenntnissen zwei prinzipiell verschiedene Wirklichkeitsaufifas-
sungen, die generalisierende und individualisierende, sondern es
entsprechen ihnen auch zwei in ihren letzten Zielen und ebenso
in ihren letzten Ergebnissen verschiedene Arten der wissenschaft-
lichen Bearbeitung der Wirklichkeit Selbstverständlich sollen
damit nicht zwei Gruppen von Wissenschaften so voneinander
getrennt werden, da£ dadurch zugleich das Prinzip fttr die Tei-
lung der wissenschaftlichen Arbeit angegeben wird. Logische
Einteilung ist nicht wirkliche Teilung, und zur wirklichen
Teilung soll und kann der formale Gegensatz nicht dienen, weil
diese nicht an logische, sondern an sachliche Verschiedenheiten des
Materials anknüpft. Es ist deswegen völlig verfehlt, den logischen
Wert des Gegensatzes damit zu bekämpfen, das man sagt, er
zerreiße die wissenschaftliche Arbeit in einer den Tatsachen
widersprechenden Weise und wolle trennen, was doch faktisch
überall zusammenwirke. Nur um das begriffliche Auseinander-
halten zweier verschiedener Auffassungstendenzen in den Wissen-
schaften handelt es sich, die faktisch sehr oft, ja vielleicht
überall zusammenwirken mögen, und diese begriffliche Aus-
einanderhaltung wäre sogar dann notwendig, wenn nicht einmal
mit Rücksicht auf ihre letzten Ziele zwei Arten von Wissen-
schaften dadurch voneinander geschieden werden könnten.
Sucht man das Wesen des individualisierenden Verfahrens
nun genauer zu bestimmen, so ist zunächst hervorzuheben, daß
die Methode der Wissenschaft nicht etwa mit jener individuali-
sierenden Wirklichkeitsaufifassung zusammenfällt, die wir in
unseren voi-wissenschaftlichen Kenntnissen besitzen. Auch bei der
generalisierenden Auffassung sprechen wir erst dort von Methode,
wo die Begriffsbildung systematisch vollzogen wird. Was entspricht
in der Geschichte jenem systematischen Zusammenhang von mehr
oder minder allgemeinen Begriffen? In der Aufzeigung dieser
die Wissenschaftlichkeit der individualisierenden Methode aus-
machenden Bestandteile wird, nachdem der Ausgangspunkt ge-
funden ist, die Logik der Geschichte ihre weitere Aufgabe sehen
müssen. Hier kann es sich natürlich nur um das Hervorheben
einiger Punkte handeln, die in neuerer Zeit zu Streitfragen
Veranlassung gegeben haben, und die besonders geeignet sind,
den Unterschied des individualisierenden Verfahrens vom genera-
GeschichtsphiloBophie. 69
lisierenden deatlich zu machen. Wir beginnen mit einer weiteren
Erörterung des Begriffs ^ den wir gleich am Anfang in den
Vordergrund gestellt hatten, des Begriffes vom historischen
Ganzen.
Das vorwissenschaftliche Individualisieren hebt oft die Ob-
jekte so aus ihrer Umgebung heraus, da£ es sie dadurch gegen-
einander abschließt und insofern vereinzelt Das Vereinzelte
ist als solches jedoch nicht Gegenstand des wissenschaftlichen
Interesses, und nichts ist verkehrter, als die individualisierende ,
Methode mit dem bloßen Zusammenstellen vereinzelter Tatsachen
zu identifizieren, wie dies von. ihren Gegnern getan wird. Alles
soll vielmehr von der Geschichte, wie von den generalisierenden
Wissenschaften, in einem Zusammenhang begriffen werden.
Worin aber besteht der historische Zusammenhang? Er er-
streckt sich von jedem geschichtlichen Objekte aus gewisser-
maßen nach zwei Dimensionen, die man als Breiten- und Längen-
dimension bezeichnen könnte, d. h. es gilt erstens, die Be-
ziehungen festzustellen, welche das Objekt mit seiner Umwelt
verbinden, und zweitens, die verschiedenen Stadien, die es von
seinem Anfang bis zu seinem Ende durchläuft, in ihrer Verbin-
dung miteinander zu verfolgen, oder, wie man zu sagen pflegt:
seine Entwicklung kennen zu lernen. Nun ist freilich ein
so dargestelltes Objekt selbst wiederum ein Teil einer größeren
Umwelt und einer weiter reichenden Entwicklung, und von
diesem umfassenderen Zusammenhange gilt wiederum dasselbe,
so daß eine Beihe in beiden Dimensionen entsteht, die bis an
die Grenzen des letzten historischen Ganzen fuhrt. Wo diese
Grenze liegt, läßt sich mit den bisher gewonnenen Begriffen
noch nicht klar machen. In einer historischen Spezialunter-
suchung hängt es von der Wahl des Themas ab, wo die Ver-
folgung des historischen Zusammenhanges aufhört. Hier kommt es
vorläufig nur darauf an, den Begriff eines historischen Zusammen-
hanges überhaupt als den einer in Verbindung mit ihrer Um-
gebung aufgefaßten Entwicklungsreihe von verschiedenen unter-
einander verbundenen Stadien zu fixieren.
Es ist dies um so notwendiger, als sich hieran weit ver-
breitete Irrtümer über das Wesen der historischen Methode ge-
knüpft haben. Den Zusammenhang kann man im Gegensatz zu
den einzelnen Objekten das Allgemeine der Geschichte nennen,
und daraus ist dann die Ansicht entstanden, daß auch die Ge-
70 Oeschichtsphilosophie.
schichtswissenschaft generalisierend verfahre. Die Einordnung
eines Objektes in seine Umwelt ist jedoch, so wie der Historiker
sie vornimmt, ein dem Verfahren der generalisierenden Wissen-
schaften fremder Vorgang. Das „milieu'' ist stets individuell
und kommt für den Historiker in seiner Individualität in Be-
tracht. Allgemein ist es nur in dem Sinne, daß die ihm ein-
geordneten einzelnen Individuen seine Teile sind. Daß aber das
Verhältnis des Teiles zum Ganzen nicht dasselbe ist, wie das
des Exemplars zu seinem fibergeordneten Gattungsbegriff, sollte
keiner Erörterung bedürfen. Gerade weil die Geschichte das
Einzelne stets im Allgemeinen, d. h. als Glied eines Ganzen zu
betrachten hat, muß sie mit Rücksicht auf ihre letzten Ziele zu
den individualisierenden Wissenschaften gerechnet werden, und
genau dasselbe Resultat ergibt sich bei einer Betrachtung der
historischen Entwicklung. Auch sie ist allgemein nur in dem
Sinne, daß sie das ihre Teile umfassende Ganze bildet. Sie be-
deutet in der Geschichte stets das Entstehen von etwas Neuem,
bisher noch nicht Dagewesenem, und weil in Geselzesbegriffe
nur das eingeht, was so angesehen werden kann, als ob es sich
beliebig oft wiederholt, so schließen die Begriffe der historischen
Entwicklung und des Gesetzes einander geradezu aus. Nur die
Vieldeutigkeit des Wortes Entwicklung ermöglicht es, entwick-
lungsgeschichtliches mit gesetzeswissenschaftlichem Verfahren
zu vereinigen und von „Entwicklungsgesetzen" zu reden, nämlich
dort, wo man, wie z. B. in der „entwicklungsgeschichtlichen"
Embryologie, Entwicklungsreihen auf das hin ansieht, was sie
miteinander gemeinsam haben, und wo also das geschichtliche
Werden des Neuen in seiner Eigenart grade nicht in Betracht
kommen soll. Kurz, historische Entwicklungen sind nichts
anderes als historische Individualitäten in ihrem Werden und
Wachsen aufgefaßt, und ihre Darstellung ist daher, wie die des
Zusammenhanges mit der historischen Umwelt, nur mit einer in-
dividualisierenden Methode möglich. Ja, der „allgemeine" histo-
rische Zusammenhang ist gar nichts anderes als das historische
Ganze selbst, nicht etwa ein System von allgemeinen Begriffen,
und gerade dieses Ganze kommt für die Geschichte immer in
seiner Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität in Betracht.
Fragen wir sodann auch nach der Rolle, welche die allge-
meinen Begriffe in der Geschichtswissenschaft spielen, so stoßen
wir zunächst darauf, daß alle Elemente der historischen Ur-
Geschichtsphilosophie. 71
teile and Begriffe allgemein sind. Sie müssen es schon deswegen
sein, weil man sie ja stets mit allgemein verständlichen Worten
bezeichnet, nnd weil die Worte ihre Verständlichkeit nor dem
Umstände verdanken, daß sie eine allgemeine,, d. h. fSr mehrere
Objekte gemeinsame Bedeutung haben. Stets also wird die Gfe-
schichte mit allgemeinen Begriffen von Wirklichkeiten als den
letzten Elementen ihrer individuellen Begriffe arbeiten und nur
durch eine bestimmte Kombination dieser allgemeinen Elemente
ihre individualisierende Darstellung zustande bringen. Aber da-
mit ist die Bedeutung der Allgemeinbegriffe in der Geschichte
noch nicht erschöpft. Sie sind vielmehr gerade auch für die
Herstellung des historischen Zusammenhanges unentbehrlich.
Die Verknüpfung der verschiedenen Stadien einer historischen
Entwicklungsreihe miteinander oder eines geschichtlichen Ob-
jektes mit seiner Umwelt ist stets eine kausale, und die Ge-
schichtswissenschaft hat diese Verhältnisse von Ursache und
Wirkung darzustellen, um die Verbindung der Teile mit dem
Ganzen zum Ausdruck zu bringen. Nicht selten freilich wird
behauptet, die Objekte der historischen Untersuchung, oder ein
Teil von ihnen, seien „freie'' Wesen, und deshalb habe der His-
toriker nicht nach den kausalen Zusammenhängen zu fragen.
Doch auch wenn wir davon absehen, ob der Begriff der Freiheit
überhaupt mit dem der Ursachlosigkeit gleichzusetzen ist, und
ob das Freiheitsproblem nicht aus der theoretischen Philosophie
in die Ethik verwiesen werden sollte, so hat der Begriff der
Ursachlosigkeit jedenfalls für eine empirische Wissenschaft
keinen Sinn. Auch die Geschichte muß voraussetzen, daß jedes
ihrer Objekte die notwendige Wirkung vorangegangener Ereig-
nisse ist, und sie hat daher auch nach dem kausalen Zusammen-
hange zu forschen.
Wir stoßen damit wiederum auf einen Punkt, der zu vielen
Streitfragen führen kann. Man hat nämlich eine „kausale Me-
thode" der Geschichte proklamiert^ die der Methode der gene-
ralisierenden Gesetzeswissenschaften gleichen soll. Dies kann
man jedoch nur dort für richtig halten, wo man den Begriff der
Kausalität mit dem der Gesetzmäßigkeit identifiziert. Freilich,
wenn man dies tut, dann ist jede Wissenschaft, die nach kau-
salen Zusammenhängen feilscht, also auch die Gesctiichte, eine
Gesetzeswissenschaft, aber zu dieser Identifizierung besteht kein
Becht. Kausalverbindungen müssen vielmehr, wenn sie über-
72 Geschichtsphflosophie.
haupt empirische Realität besitzen sollen, individuelle Wirklich-
keiten sein, denn andere als individuelle empirische Wirklich-
keiten gibt es nicht Gesetze dagegen sind immer allgemein
und können daher, wenn sie mehr als Begriffe sein sollen, nur
als metaphysische Eealitäten gelten. Von metaphysischen Vor-
aussetzungen aber hat sich die Methodenlehre frei zu halten,
und deshalb darf sie nur von individuellen Eausalverbindungen
als empirischen Wirklichkeiten und von Gesetzen als allgemeinen
Begriffen sprechen. Der Ausdruck „kausale Methode", der heute
besonders als Gegensatz zum „teleologischen" Verfahren gebraucht
wird, ist daher ein nichtssagendes Schlagwort, gerade weil jede
empirische Wissenschaft es mit Kausalzusammenhängen zu tun
hat, und weil Kausalzusammenhänge als solche noch indifferent
gegenüber den Unterschieden der Methoden sind, d. h. wie jede
andere* empirische und individuelle Wirklichkeit sowohl eine
generalisierende, als auch eine individualisierende Auffassung
gestatten.
Aber, und damit kommen wir auf die Bedeutung der allge-
meinen Begriffe zurück, wenn auch jeder historische Kausal-
zusammenhang zwischen zwei Stadien einer geschichtlichen Ent-
wicklungsreihe ein Vorgang ist, bei dem durch die Ursache
etwas bewirkt wird, was noch niemals da war, so ist doch die
Darstellung solcher historischer Kausalverknüpfungen nicht allein,
wie jede Darstellung des Individuellen, nur mit Begriffselementen
möglich, die jedes Ar sich einen allgemeinen Inhalt haben, und
die erst in ihrer besonderen Zusammenstellung die Individualität
der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, sondern es kommt bei
der Darstellung individueller Kausalverbindungen etwas hinzu,
was in der Tat den Gebrauch allgemeiner Begriffe noch in einem
besonderen Sinne fordert. Der Historiker will nämlich nicht
nur die zeitliche Folge von Ursache und Wirkung angeben,
sondern auch einen Einblick in die Notwendigkeit gewinnen,
mit der aus dieser individuellen, nie wiederkehrenden Ursache
diese individuelle, nie wiederkehrende Wirkung hervorgeht,
und dabei ist ein Umweg über allgemeine Begiiffe von Kausal-
verhältnissen und eventuell Kausalgesetzen nicht zu vermeiden.
Wir haben, so wenig die Kausalverbindung als empirische
Wirklichkeit allgemein genannt werden darf, zum wissenschaft-
lichen Ausdruck ihrer Notwendigkeit nur das räumliche und
zeitliche „Schema" des überall und immer, und dadurch ver-
Geschichtsphilosophie. 73
knüpft sich mit der wissenschaftlichen Darstellung auch der
individuellen kausalen Notwendigkeit stets die Bildung eines
allgemeinen Begriffs oder, wo dies erreichbar ist, eines allge-
meinen Kausalgesetzes, ein Umstand der zugleich die übliche
Verwechslung von Gesetz und Kausalität erklären kann. Dies
zwingt auch die Geschichte, wenn sie zwischen einer individuellen
Ursache und ihrer individuellen Wirkung eine Brücke so schlagen
will, daß sich der Kausalzusammenhang als notwendig begreifen
läßt, allgemeine Begriffe von Kausalverbindungen zu gebrauchen.
Sie erreicht ihr Ziel dadurch, daß sie den Begriff des individuellen
Objektes, das als notwendiger Effekt begriffen werden soll, in seine
stets allgemeinen Elemente zerlegt, diese Elemente dann mit
ebenfalls allgemeinen Elementen des Begriffes der individuellen Ur-
sache verbindet, so daß jede dieser Verbindungen von allgemeinen
Begriffselementen den notwendigen kausalen Zusammenhang der
unter sie fallenden Wirklichkeiten zum Ausdruck bringt. Ist
dies geschehen, so schließt die Geschichte die für sich betrachtet
allgemeinen Elemente des Begriffs der Ursache zu einem die
Individualität dieser Ursache darstellenden Begriff wieder zu-
sammen und hat dann auf dem Umwege über die allgemeinen
Kausalbegriffe eine wissenschaftliche Einsicht in die notwendige
Verbindung der individuellen historischen Ursache mit der indi-
viduellen historischen Wirkung gewonnen. Selbstverständlich
ist hiermit nur ein logisches Ideal aufgestellt, dessen Verwirk-
lichung überall dort nur teilweise sich erreichen läßt, wo es
nicht gelingt, alle Elemente des Effektbegriffes Elementen von
Ursachbegriffen kausal zuzuordnen, und deswegen wird ein kausal
unableitbarer Rest aus den historischen Darstellungen wohl nur
selten verschwinden. In solchen Fällen spricht man dann auch
von Freiheit, weil die Einsicht in die kausale Notwendigkeit
fehlt Welche Mittel die Geschichte besitzt, um die Notwendig-
keit einer historischen Kausalverknüpfung möglichst vollständig
zu begreifen, und in welches Verhältnis sie dabei zu den
generalisierenden Wissenschaften tritt, soll hier nicht näher er-
örtert werden. Es ist schon jetzt klar, daß auch für den Histo-
riker die Kenntnis von Kausalgesetzen Bedeutung gewinnen
muß, ein Umstand, der es erklärt, daß man die Geschichte
selbst zu einer Gesetzeswissenschaft machen möchte. Es ist
aber ebenso klar, daß durch diese Bedeutung der Gesetzes-
begriffe an den Zielen der Geschichte nichts geändert wird
74 Geschichtsphilosophie.
Die Produkte des generalisierenden Denkens sind für sie eben
immer nur Umwege oder Mittel und dienen, ebenso wie die
allgemeinen Elemente der historischen Begriffe überhaupt, einer
Darstellung, die das historische Ganze individualisierend auf-
fassen will.
Doch auch mit einer Darlegung aller der Fälle, in denen
das generalisierende Verfahren nur Mittel einer individualisieren-
den Darstellung ist, würde die Bedeutung, welche die allge-
meinen Begriffe in der Geschichte haben, noch nicht erschöpft
sein. Nur das historische Ganze kommt stets mit Rücksicht auf
seine Einmaligkeit und Individualität in Betracht, nicht aber
auch alle seine Teile. Viele von ihnen werden durch die Ge-
schichte überhaupt nicht dargestellt, wenn sie nämlich für die
Individualität des Ganzen keine Bedeutung haben, und auch die
Mehrzahl der dargestellten Teile wird unter allgemeine Gruppen-
begriffe zusammengefaßt. Ja, man kann behaupten, daß Begriffe
von Teilobjekten, die nur Einmaliges und Individuelles enthalten,
in einer historischen Darstellung gar nicht vorzukommen
brauchen, und daß also lediglich Gruppenbegriffe in ihr gebildet
werden, die das einer Mehrheit von Objekten Gemeinsame ent-
halten. Solche Gruppenbegriffe müssen dort entstehen, wo der
Historiker von den Ereignissen, die er darstellt, nicht genug
weiß, um bis zu ihrer Individualität vorzudringen, und er sich
daher mit einem allgemeinen Begriff zu begnügen genötigt ist.
In sehr vielen und eventuell auch in allen Fällen aber will der
Historiker in der Tat nur einen Gruppenbegriff bilden, und dann
scheint er auch mit Rücksicht auf sein Ziel generalisierend zu
verfahren. Im Anschluß hieran läßt sich wieder eine ^del-
behandelte Streitfrage verstehen. Man hat nämlich gemeint, es
sei zwar richtig, daß die „alte Richtung" in der Geschichts-
schreibung „individualistisch" sei, aber nur deswegen, weil sie
zu viel Wert auf die politischen oder anderen Ereignisse und
damit auf einzelne Personen lege. Die „neue" Richtung müsse,
um nicht an der Oberfläche zu bleiben, sich weniger mit den
politischen Aktionen einzelner Persönlichkeiten als vielmehr mit
den Massenbewegungen beschäftigen und dadurch zum eigent-
lichen Wesen der Kulturentwicklung vordringen. Deshalb stellt
man der alten ;,individualistischen" Methode eine neue „kollek-
tivistische" Methode entgegen und preist diese, eben weil sie
nur allgemeine Begriffe bildet, als die einzig wissenschaftliche,
Geschichtsphilosophie. 75
in den Naturwissenschaften auch längst angewendete, neue
Methode der Geschichte.
Nehmen wir, um die logische Bedeutung dieser Ansicht zu
verstehen, einmal an, es sei richtig, daß der Historiker mit
Gruppenbegriffen allein auskomme, denn logisch widersinnig
wie die Behauptung, daß die Geschichte ein System allgemeiner
Begriffe zu bilden habe, ist dieser Satz ja nicht, und denken
wir uns z. B. eine Darstellung der französischen Bevolution, die
nur Massenbewegungen berflcksichtigt, weil das, was die einzelnen
Personen dabei getan haben, als unwesentlich erscheint. Würde
man dann auch sagen können, daß die Geschichte nun wirklich
nach der neuen Methode nicht nur kollektivistisch, sondern auch
generalisierend verfahre, wie eine Naturwissenschaft? So selbst-
verständlich diese Meinung den Vertretern der neuen Methode
erscheint, so falsch ist sie, denn — dieser Grund ist immer
wieder maßgebend — es sind ja eben nur die Teile des
Ganzen, die sich unter allgemeine Begriffe bringen lassen. Das
Ganze selbst kommt auch für eine kollektivistisch verfahrende
Geschichte stets in seiner Individualität in Betracht, und auch
die allgemeinen Gruppenbegriffe müssen daher so gebildet sein,
daß sie sich zur Darstellung der Individualität des Ganzen eignen.
Von generalisierender Methode dürfte man nur dann sprechen,
wenn mit den Gruppenbegriffen irgend eine beliebige Revolution,
und nicht, wie wir voraussetzten und, solange die Darstellung
Geschichte ist, voraussetzen müssen, vielmehr diese eine be-
stimmte französische Revolution dargestellt werden soll, die im
Jahre 1789 begann usw. Die Gegenüberstellung einer „indivi-
dualistischen" und einer „kollektivistischen" Methode ist daher
irreführend. Mehr oder weniger kollektivistisch verfahren alle
Historiker und haben es immer getan. Der Umstand, daß heute
Mancher möglichst viel mit allgemeinen Schlagwörtern von Zeit-
altern und Massenbewegungen arbeitet, nur noch von sozial-
psychischen Faktoren redet und alle „Individualpsychologie",
(die übrigens mit der „individualistischen" Geschichtsauffassung
nur von Dilettanten in Verbindung gebracht werden kann) für
unbrauchbar erklärt, um sich und anderen vorzumachen, als ver-
fahre er naturwissenschaftlich, gestaltet daher vielleicht die
Gteschichte verschwommen und unbestimmt oder führt wegen
Vernachlässigung der wesentlichen Persönlichkeiten zu direkter
Verfälschung der Tatsachen, kann aber an dem individualisieren-
y
76 Geschichtsphilosophie.
den Charakter der historischen Methode nicht das Geringste
ändern. Ja, wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Anch
die allgemeinen Grnppenbegriflfe der Geschichte sind, obwohl sie
nnr das einer Mehrheit von Objekten Gemeinsame enthalten,
doch nicht Allgemeinbegriffe in dem Sinne, wie eine systematisch
verfahrende, generalisierende Wissenschaft sie bildet. Nnr dann
nämlich kann sich der Historiker mit einem Gmppenbegriff be-
gnügen, wenn darin zugleich schon die im historischen Zu-
sammenhange für ihn bedeutsame Individualität aller Glieder
dieser Gruppe enthalten ist. Das Ziel also, mit Bücksicht auf
welches die historischen Gruppenbegriffe gebildet sind, ist nicht
eine Verallgemeinerung von der Art, wie die generalisierenden
Wissenschaften sie vollziehen, sondern Darstellung der Gruppen-
individualität. Auch diese allgemeinen Begriffe sind stets Pro-
dukte eines individualisierenden Verfahrens insofern, als das
Prinzip, welches ihre Bestandteile bestimmt, sich nur aus den
Zielen der individualisierenden Geschichte verstehen läßt. Man
wird sie daher auch als individualisierende Kollektivbegriffe be-
zeichnen können, um sie sowohl von den in den generalisierenden
Wissenschaften angestrebten Kollektivbegriffen als auch von
den in der Geschichte als Mittel verwendeten Allgemeinbegriffen
zu unterscheiden.
Doch diese Unterscheidung klingt vielleicht so lange etwas
spitzfindig, als nicht noch eine andere Seite der historischen
Methode erörtert worden ist. Es gilt nämlich, die Aufmerksam-
keit jetzt auf den bereits erwähnten Umstand zu lenken, daß
die individualisierende Auffassung nicht die ganze individuelle
Mannigfaltigkeit einer Wirklichkeit berücksichtigt, sondern
eine umbildende Auswahl trifft. In der Geschichtswissenschaft
muß dieser Auswahl und Umbildung ein Prinzip zugrunde liegen,
und erst dessen ausdrückliche Klarstellung wird die Einsicht in
das logische Wesen der geschichtlichen Methode vollenden.
Reflektieren wir zur Gewinnung dieses Prinzips wieder auf
unsere vorwissenschaftlichen Kenntnisse. Sie sind von dem In-
teresse abhängig, das unsere Umgebung in uns erregt. Was aber
heißt es, daß wir Interesse an den Objekten haben? Es bedeutet,
daß wir sie nicht nur vorstellen, sondern zugleich auf unseren
Willen beziehen und in Verbindung mit unseren Wertungen
setzen. Fassen wir etwas individualisierend auf, so muß also
seine Besonderheit sich irgendwie mit Werten verknüpft haben,
Geschichtophilosophie. 77
die mit keinem anderen Objekt so verknüpft sind, und begnügen
wir nns mit der generalisierenden Auffassung, so hängt die Ver-
knüpfung mit dem Werte nur an dem, was an anderen Objekten
ebenfalls vorkommt und daher durch andere Exemplare desselben
Gattungsbegriffes ersetzt werden kann. Das ist die noch nicht
dargestellte Seite in dem Unterschiede der generalisierenden und
individualisierenden Auffassung, und mit Rücksicht hieraufzeigen
auch die beiden wissenschaftlichen Methoden einen prinzipiellen
Gegensatz.
Geht man vom vorwissenschaftlichen Generalisieren dazu über,
die Objekte wissenschaftlich unter ein System allgemeiner Be-'
griffe zu bringen, so wird dabei nicht nur vom Interesse am Ein-
maligen und Individuellen abstrahiert, sondern auch die Ver-
bindung des mehreren Objekten Gemeinsamen mit Werten immer
melir gelöst, je weiter det Prozeß der Systembildung fortschreitet.
Ist nämlich jeder allgemeine Begriff einem noch allgemeineren
untergeordnet, und sind schließlich alle Begriffe unter den all-
gemeinsten gebracht, den die Untersuchung anstrebt, so müssen
auch alle Objekte, für welche das System gelten soll, so ange-
sehen werden können, als ob sie gleich wertvoll oder gleich
wertlos sind, denn das Prinzip, welches bestimmt, was an einem
Objekte wesentlich ist, darf jetzt nirgends mehr das ursprüng-
liche Interesse, sondern nur noch die Stellung sein, die das Ob-
jekt in dem System allgemeiner Begriffe einnimmt. Es wird
also die ursprünglich überall nach Wertgesichtspunkten voll-
zogene Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen durch
eine generalisierende Wissenschaft sowohl verdrängt als auch
zugleich dadurch ersetzt, daß nun das Allgemeine oder das Ge-
meinsame als solches mit dem Wesentlichen zusammenfällt. Die
Loslösung der Objekte von allen Wertverbindungen ist also die
andere noch nicht betrachtete Seite der generalisierenden Me-
thode, und sie weist uns zugleich auf die andere noch nicht be-
trachtete Seite des wissenschaftlichen Individualisierens hin.
Kann dieses sich vom vorwissenschaftlichen Individualisieren
etwa ebenfalls dadurch unterscheiden, daß es zur Loslösung der
Objekte von allen Werten führt? Es ist nicht einzusehen, durch
welches andere Prinzip als das der Wertverbindung eine indi-
vidualisierende Auffassung überhaupt entstehen sollte. Lösen
wir ein Objekt aus allen Verknüpfungen mit unseren Interessen
los, so wird es lediglich als Exemplar eines allgemeinen Be-
78 Geschichtsphilosophie.
gnSa filr uns in Betracht kommen. Das Individuelle kann nur
mit Rücksicht auf einen Wert wesentlich werden, und dah^
würde mit der Beseitigung jeder Wertverbindung das historische
Interesse und die Geschichte selbst beseitigt sein. Es enthüllt
sich uns also nicht nur ein notwendiger Zusammenhang der
generalisierenden mit der wertfreien Betrachtung, son-
dern auch ein ebenso notwendiger Zusammenhang der indi-
vidualisier enden mit der wert verbinden den Auffassung,
und es kommt daher, um die logische Struktur der Geschichts-
wissenschaft auch nach dieser Seite hin zu erfassen, jetzt darauf
to, die Art der Werte und die Art ihrer Verbindung mit den
geschichtlichen Objekten näher kennen zu lernen. Auch hier ist
es natürlich notwendig, nachdem das Gemeinsame in der vor-
wissenschaftlichen und der wissenschaftlichen Wertverbindung
festgestellt ist, beide scharf voneinander zu sondern.
Daß Werte in der Wissenschaft überhaupt eine maßgebende
Rolle spielen, ja Prinzipien der Begriffsbildung sein sollen, scheint
dem Wesen der Wissenschaft zu widersprechen. Mit Recht ver-
langt man gerade von dem Historiker, daß er die Dinge mög-
lichst „objektiv" darstelle, und mag dieses Ziel auch von keinem
völlig erreicht sein, so läßt es sich doch jedenfalls als logisches
Ideal bezeichnen. Wie stimmt hierzu die Behauptung, daß Wert-
verbindungen zum Wesen der historischen Methode gehören?
Um dies zu verstehen, muß man sich klar machen, daß es eine
Art der Wertverbindung gibt, die nicht mit einem praktischen
Stellungnehmen und Werten zusammenfällt, sondern daß man
Objekte auch in einer rein theoretischen Weise aufwerte
beziehen kann. Freilich, wenn wir aus der Mannigfaltigkeit
der Wirklichkeit diesen Bestandteil als wesentlich herausheben
und jenen als unwesentlich beiseite lassen, so kann man dies
immer auch als Stellungnahme zur Wirklichkeit bezeichnen, in-
sofern das Wesentliche das für die wissenschaftliche Erkenntnis
Wertvolle ist. Aber diese Art der Wertung fehlt bei keiner
wissenschaftlichen Begriffsbildung, bei der generalisierenden eben-
sowenig wie bei der historischen, weil überall das Ziel der
Wissenschaft als Wert gelten muß, um der wissenschaftlichen
Arbeit einen Sinn zu verleihen. Von dieser Wertung muß man
daher, so wichtig ihr Vorhandensein für die Behandlung anderer
philosophischer Probleme ist, ganz absehen, wenn man das Wesen
der geschichtswissenschaftlichen Wertverbindung in seiner Be-
OeschichtsphiloBophie. 79
Sonderheit verstehen will. Hier kommt es nnr darauf an, ob
dadurch, daß mit Rficksicht anf einen Wert die Individualität
eines Objektes wesentlich wird, notwendig auch eine positive
oder negative Bewertung dieses Objektes entsteht, und diese
Frage ist entschieden zu verneinen. Die geschichtliche Dar-
stellung schließt nur insofern eine Wertverbindung ein, als das
individualisierend aufgefaßte Objekt überhaupt irgendeine Be-
deutung für einen Wert hat, sie braucht aber nichts darüber
auszusagen, ob es einen positiven oder negativen Wert besitzt,
und sie kann insofern von jeder Wertung, die immer positiv oder
negativ sein muß, gänzlich absehen. Wir müssen praktische
Wertung und bloß theoretische Wertbeziehung genau
scheiden. Ja, wenn wir daran denken, daß wir nie die Wirk-
lichkeit so kennen, wie sie ist, sondern daß jede Kenntnis schon
eine Umbildung der Wirklichkeit ist, so wird klar, daß über den
positiven oder negativen Wert einer Individualität gar nicht
gestritten werden kann, wenn unter den Streitenden nicht schon
eine durch die bloß theoretische Wertbeziehung entstandene, von
der Verschiedenheit ihrer praktischen Wertungen unabhängige,
gemeinsame individualisierende Wirklichkeitsauffassung vorhanden
ist, denn sonst würde man gar nicht um dieselbe Individualität
streiten. Also, so gewiß das theoretische Erkennen und das posi-
tive oder negative Werten zwei prinzipiell verschiedene Prozesse
sind, so wenig steht die rein theoretische Wertbeziehung im
Widerspruch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Der Histo-
riker wertet als Historiker seine Objekte nicht,
wohl aber findet er Werte, wie die des Staates, der wirtschaftlichen
Organisationen, der Kunst, der Keligion usw. vor, und durch die
theoretische Beziehung der Objekte auf diese Werte, d. h. mit .
Bäcksicht darauf, ob und wodurch ihre Individualität etwas für
diese Werte bedeutet, gliedert sich ihm die Wirklichkeit in
wesentliche und unwesentliche Bestandteile, ohne daß dabei von
ihm irgend ein direktes positives oder negatives Werturteil über
die Objekte selbst gefällt zu werden braucht.
Völlig klar wird das Wesen der historischen Wertbeziehung,
wenn wir noch einen zweiten Punkt fixieren, durch den sich das
wissenschaftliche von dem vorwissenschaftlichen Individualisieren
unterscheidet, und schon die soeben als Beispiele benutzten Wert-
begriffe weisen darauf hin. Die theoretische Wertbeziehung in
der Geschichte ist nicht nur von positiver oder negativer Wer-
80 Geschichtsphilosophie.
tnng unabhängig, sondern muß auch noch in anderer Hinsicht
frei von Willkür sein, nämlich in bezug darauf, welche Werte
es sind, auf die die Objekte bezogen werden. Das aber wird
dadurch erreicht, da£ der Historiker die Wirklichkeit nur durch
Beziehung auf allgemeine Werte in wesentliche und unwesent-
liche Bestandteile gliedert, also auf solche Werte, wie sie in
den bereits genannten Beispielen des Staates, der Kunst, der
Religion usw. verkörpert sind. Jedoch, so einfach dies im Grunde
ist, so haben sich auch hieran viele Streitfragen und Mißver-
ständnisse geknüpft. Insbesondere hat man wieder gemeint,
daß wegen der Allgemeinheit der Werte die Methode der Ge-
schichte nun doch generalisierend sei. Offenbar, so kann man
diese Ansicht begründen, ist z. B. der Staat ein allgemeiner
Begriff, und wenn geschichtliche Vorgänge als politische dar-
gestellt werden, so ist das Politische in ihnen, um dessentwillen
sie historisch wesentlich sind, doch eben das ihnen Gemein-
same. Also werden sie in derselben Weise unter den allge-
meinen Begriff des Politischen gebracht, wie man in den gene-
ralisierenden Wissenschaften die Objekte als Exemplare eines
Gattungsbegriffes auffaßt Ist dies wirklich zutreffend? Daß
die allgemeinen Werte zugleich allgemeine Begriffe sind^ ist
richtig. Aber erstens geht die Geschichte nie darauf aus, solche
allgemeinen Wertbegi*iffe erst zu bilden oder gar systematisch
zu ordnen, wie sie es tun müßte, wenn sie eine generalisierende
Wissenschaft wäre, sondern sie findet diese allgemeinen Wert-
begriffe vor, und nur die Geschichtsphilosophie, nicht aber die
empirische Geschichtswissenschaft, kann, wie wir später sehen
werden, sich die Aufgabe stellen, ein System allgemeiner Wert-
begriffe zu gewinnen. Ferner aber, und das ist die Hauptsache,
hat die Allgemeinheit des Wertes für den Historiker nicht die
Bedeutung, daß sie das mehreren besonderen Werten Gemein-
same enthält, sondern nur darauf kommt es an, daß die Ge-
schichte ihre Objekte auf solche Werte bezieht, die alleu, an
die sie sich wendet, als Werte gelten oder wenigstens von allen
als Werte verstanden werden. Im übrigen führt das Beziehen
der Objekte auf Werte zu einer individualisierenden Auffassung,
gleichviel, ob die Werte rein individuell oder in dem angegebenen
Sinne allgemein sind, denn dieser Unterschied betrifft nur die
Geltung der Werte, nicht aber die logische Struktur der Wert-
beziehung. Kurz, es wird durch den Umstand, daß die Ge-
Oeschichtsphilosophie. 81
schicfatswissenschaft, um zu aJlgemeingfiltigen Resultaten zu
kommen, allgemeine Werte braucht, ' der Gegensatz der wert-
beziehenden individualisierenden geschichtlichen Methode zur
wertfreien generalisierenden gesetzeswissenschaftlichen Methode
gar nicht bertthrt. Wenn man durchaus will, kann man ja
sagen, daß alle Wissenschaft, um allgemeingültig zu sein, stets
das Besondere dem Allgemeinen „unterordnen'' müsse. Aber
diese Wendung ist wegen ihrer Unbestimmtheit sehr mifiver-
ständlich und jedenfalls nichtssagend. Man mufi, wenn man sie
in der Methodenlehre gebrauchen will, eine generalisierende
Unterordnung unter wertfreie Oattungs- oder Oesetzesbegriffe
von einer individualisierenden „Unterordnung'' unter allgemeine
Wertbegriffe streng scheiden, und am besten wird es wohl sein,
das Wort Unterordnung nur zur Bezeichnung des Verhältnisses
der allgemeinen Begriffe untereinander und des Exemplars zu
seinem fibergeordneten Gattungsbegriffe zu verwenden, da sonst
nur Irrtümer entstehen können.
Kehren wir mit dieser genaueren Einsicht in das Wesen
des individualisierenden Verfahrens noch einmal zu den histo-
rischen Begriffen zurück, die wegen der Allgemeinheit ihres
Inhaltes eine negative Instanz gegen die Charakterisierung der
Geschichte als individualisierende Wissenschaft zu bilden
schienen, so lassen sich jetzt auch die historischen Gruppen-
begriffe noch besser in ihrem Unterschiede von den generali-
sierenden Gruppenbegriffen verstehen. Sie haben nicht nur, wie
alle Begriffe historischer Teile, den Zweck, die Individualität
des historischen Ganzen zum Ausdruck zu bringen, zu dem sie
gehören, sondern auch die Auswahl des Wesentlichen bei ihrer
Bildung ist durch den allgemeinen leitenden Wert bestimmt,
d. h. nicht das Gemeinsame als solches ist schon das Wesent-
liche, sondern der Umstand, daß ihr Inhalt nur aus dem einer
Mehrheit von Objekten Gemeinsamen besteht, hat darin allein
seinen Grund, daß nur die Individualität der Gruppe, nicht« aber
auch die Individualität ihrer einzelnen Teile für den allgemeinen
Wert Bedeutung besitzt, und daß daher schon der Gmppen-
begriff genug Individualität enthält, um das für die wert-
beziehende individualisierende Darstellung Wesentliche zum Aus-
druck zu bringen. Das Prinzip der Begiiffisbildung ist also bei
den historischen EoUektivbegriffen genau dasselbe wie bei allen
anderen historischen Begriffen, und es ergibt sich daraus zu-
Windelband, Die Philosophie im Beginn des SO. Jahrh. IL Bd. 6
82 Geschiclitgphilosopliie.
gleich von neuem, wie wenig Sinn es hat, das Verfahren der Ge-
schichte mit Bücksicht auf seinen logischen Charakter kollek-
tivistisch zn nennen. Der Kampf um die sogenannte kollekti-
vistische und individualistische Methode ist ein Kampf um den
Inhalt der Geschichtswissenschaft und hat mit den logischen
Problemen der Methode nichts zu tun. Auch eine rein kollekti-
vistisch verfahrende Darstellung würde nicht nur, wie wir bereits
sahen, individualisierend, sondern auch, wie jede geschichtliche
Darstellung, von Wertgesichtspunkten geleitet sein.
Die große Bolle, welche die Wertgesichtspunkte in der Ge-
schichte spielen, wird übrigens in neuester Zeit immer mehr
anerkannt und zu verstehen gesucht, wenn auch die Aufmerk-
samkeit nicht stets auf die zwei wichtigsten Punkte, auf die
Scheidung der theoretischen Wertbeziehung von der praktischen
Wertung und auf die Allgemeinheit der Werte gerichtet ist
Natürlich lassen sich hier nicht alle Fragen, die mit den Werten
in Zusammenhang stehen, erschöpfend behandeln, aber wenigstens
zwei Punkte seien noch hervorgehoben.
Eine logische Untersuchung kann niemals dem Historiker
verbieten wollen, über die theoretische Wertbeziehung hinaus-
zugehen und wertend zu seinen Objekten Stellung zu nehmen,
ja es ist vielleicht keine geschichtliche Darstellung von positiver
oder negativer Wertung ganz frei. Doch muß auch festgestellt
werden, daß nicht überall, wo ein Werturteil vorzuliegen scheint,
ein solches auch wirklich gemeint zu sein braucht. Man wird
nämlich in jeder geschichtlichen Darstellung Sätze finden, welche
insbesondere menschlichen Handlungen ein lobendes oder tadeln-
des Prädikat beilegen, hier eine Tat der Güte oder des Mutes,
dort ein Verbrechen konstatieren, und dies scheint die Ge-
schichte ebenfalls von den Gesetzeswissenschaften zu unter-
scheiden, für die Lastei' und Tugend Produkte wie Vitriol und
Zucker sein müssen. Es ist auch klar, daß mit solchen Sätzen
der Historiker Stellung nehmen kann. In sehr vielen Fällen
aber dienen die Wertprädikate nur zur Feststellung von Tat-
sachen und zur rein theoretischen Charakterisierung der Ereig-
nisse. Wenn z. 6. eine Handlung als verbrecherisch bezeichnet
wird, so kann das auch heißen, daß die Quellen zu der An-
nahme zwingen, es liege hier eine Tat vor, die man allgemein
ein Verbrechen nennt und wenn etwa ein anderer Historiker
dieser Handlung ein anderes Prädikat beilegt, so braucht das
GeschichtsphiloBopMe. 83
nicht zu bedeuten, dafi er denselben Tatbestand anders wertet,
sondern er kann anch einen anderen Tatbestand annehmen, den
er dann natfirlich anch anders bezeichnen mnß. Man sollte also
jedenfalls bei der Behandlung der Wertfaktoren in der Ge-
schichte sich stets die Frage vorlegen, ob das Wertprädikat
auch wirklich den Sinn hat, zu werten, oder ob es nicht viel-
mehr nur dem Zwecke dient, die mit ihm allgemein verbundene
Wortbedeutung in derselben Weise zur Feststellung eines Fak-
tums zu benutzen, wie dies mit Wortbedeutungen geschieht, die
überhaupt nicht zur Wertung verwendet werden können.
Wird also in manchen Fällen das Vorkommen von Wer-
tungen häufiger zu sein scheinen, als es wirklich ist, so mufi
andererseits hervorgehoben werden, dafi in gewissem Sinne doch
auch Wertungen zu den unentbehrlichen Bestandteilen der Ge-
schichtswissenschaft gehören. So gewiß die theoretische Wert-
beziehung keine praktische Stellungnahme ist, und so gewiß
daher der Historiker sich jeder Wertbeurteilung seiner Gegen-
stände enthalten kann, ebenso gewiß ist es, daß er innerhalb
des Gebietes der Werte, auf die er seine Objekte bezieht, zu-
gleich selbst, auch als Historiker, irgendwie ein wertender
Mensch sein muß. Es ^wird niemand politische Geschichte
schreiben oder lesen, der nicht die politischen Werte zu seinen
eigenen positiven oder negativen Wertungen in Beziehung setzt,
d. h. zu politischen Fragen überhaupt irgend ein wertendes
Verhältnis hat, denn er würde, ohne auf diesem Gebiete selbst
ein wertender Mensch zu sein, die Werte, welche die Auswahl
des historischen Stoffes leiten, nicht verstehen, und daher an
dem Stoffe selbst auch nicht das geringste historische Interesse
haben. Was aber für die politische Geschichte gilt^ muß für die
Kunstgeschichte, die Geschichte der Religion, der Wirtschaft usw.
ebenso gelten. Dies wird, wie manches Selbstverständliche,
häufig gar nicht bemerkt, ja es gibt wohl viele Historiker, die
sich nicht nur ihren Objekten gegenüber lediglich betrachtend
zu verhalten, sondern als Historiker überhaupt rein zuschauende
Menschen zu sein glauben. Tatsächlich jedoch unterscheidet
sich der Historiker auch dadurch von dem generalisierenden
Forscher, daß er bei seiner Arbeit nicht nur das wissenschaft-
liche Ziel, das er verfolgt, als Wert anerkennen muß, sondern,
wenn auch nicht zu seinen historischen Objekten selbst, so doch
zu den allgemeinen Werten Stellung nimmt, auf die er seine
6*
g4 Geschichtsphilosophie.
Objekte individualisierend bezieht. Welche Bedeatnng dieser
Umstand, dafi es nur für wertende Wesen Geschichte gibt^ Ar
die „Objektivität^ der historischen Wissenschaften besitzt, in
welchem Verhältnis diese Objektivität zu der der generalisieren-
den oder Gesetzeswissenschaften steht, die keinen anderen Wert
als den der generalisierenden Wissenschaft selbst anznerkennm
brauchen, das steht hier nicht in Frage. Hier sollte nur die
logische Struktur der faktisch vorhandenen Geschichtswissen-
schaft verstanden, insbesondere das Wesen ihres wertbeziehenden
und individualisierenden Methode, so wie sie wirklich ausgeübt wird,
beschrieben und diese Methode in ihrer aus den Zielen der Ge-
schichte sichergebenden logischen Notwendigkeit begriffen werden.
Von der Eigenart des historischen Materials war aus den
angegebenen Gründen bisher nicht die Rede, und es konnte
daher auch keine Antwort auf die Frage gegeben werden, wie
wir dazu kommen, gerade den Stoff, von dem die Geschichts-
wissenschaften handeln, nicht nur generalisierend, sondern auch
individualisierend darzustellen. Der Grund dafür muß schließlich
auch noch angegeben werden, um das Wesen der Geschichts-
wissenschaft verständlich zu machen, und zwar soweit, als die
materiale Eigenart der historischen Objekte sich aus dem
logischen Wesen der historischen Methode verstehen läßt. Ent-
scheidend ist dabei wiederum der Zusammenhang der individua-
lisierenden mit der wertbeziehenden Auffassung. Die individua-
lisierende Darstellung muß nämlich dort vor allem ein Bedürfnis
sein, wo die Verknüpfung der Objekte mit Werten am engsten
ist. Erinnern wir wieder an die vorwissenschaftliche Begriffs-
bildung, so ist sie wohl überall dadurch charakterisiert, daß es
vorwiegend Menschen sind, die als Individuen betrachtet werden,
und an diesen Menschen ist femer besonders das durch seine Indi-
vidualität bedeutsam, was Ausdruck ihres Seelenlebens ist Ja,
unsere individualisierende Auffassung wird in so hohem Grade
durch das Interesse an menschlichem Seelenleben be-
herrscht, daß man den Begriff des Individuums geradezu mit dem
der Persönlichkeit gleichsetzt und sich erst ausdrücklich darauf
besinnen muß, daß jedes beliebige Objekt ebenfalls ein absolut
individuelles Gepräge zeigt. Ob und wieweit die Geschichte als
Wissenschaft, die ihre Objekte nicht auf rein persönlich indivi-
duelle, sondern nur auf allgemeine Werte bezieht, Persönlich-
keiten darzustellen hat, hängt davon allein ab, was Persönlich-
GescliichtsphiloBopliie. 86
keiten in ihrer Einzigartigkeit für die allgemeinen Werte be-
deuten, und insofern kann daher das wissenschaftliche Individua*
lisieren sich sehr weit von dem vorwissenschaftlichen entfernen.
Da aber alle Geschichte von Menschen betrieben wird, so mufi
auch die wissenschaftliche Darstellung des Einmaligen und Be-
sonderen vorwiegend auf menschliches Seelenleben gerichtet sein,
und dies ist der Grand, weshalb die historischen Wissenschaften
stets zu den „Geisteswissenschaften" get^chnet worden sind.
Wir sehen jetzt ganz deutlich, warum diese Bezeichnung
ein unter logischen Gesichtspunkten sekundäres Merkmal zum
Ausdruck bringt und sich auch, abgesehen hiervon, nicht einmal
zur vollständigen Charakterisierung des Materials der Geschichts-
wissenschaft eignet, denn einmal ist es durchaus nicht allein,
sondern nur vorwiegend geistiges Leben, das den Historiker im
Zusammenhange mit körperlichen Vorgängen interessiert, und
femer kommt nicht alles geistige Leben, auch nicht alles mensch-
liche Seelenleben, sondern nur ein bestimmter, verhältnismäßig
kleiner Teil des menschlichen Seelenlebens vorwiegend als
Material für die Geschichtswissenschaft in Betracht.
Will man auch diesen Teil abgrenzen, um so eine noch
genauere Charakterisierung des historischen Stoffes zu erhalten,
so kann dies wiederum nur von der gewonnenen Einsicht in das
Wesen der historischen Methode aus, und zwar mit Rücksicht
auf die Besonderheit der Wertgesichtspunkte geschehen, die
für die Auswahl des Wesentlichen bei der individualisierenden
Begriffsbildung maßgebend sind. Daß dies stets allgemeine
menschliche Werte sind, kann man auch so ausdrücken, daß
nur die Objekte historisch wesentlich werden, die mit Sücksicht
auf gesellschaftliche oder soziale Interessen Bedeutung besitzen.
Daher ist, wegen des historischen Zusammenhanges der Teile
mit dem historischen Ganzen oder der Gesellschaft, nicht der
von ihr losgelöst gedachte Mensch überhaupt, sondern der Mensch
als soziales Wesen das Hauptobjekt des geschichtlichen Forschens,
und dies wiederum besonders insofern, als er an der Bealisierung
der sozialen Werte beteiligt ist. Dabei muß freilich der Begriff
der societas so weit genommen werden, daß auch Gemein-
schaften wie die der wissenschaftlichen oder der künstlerischen
Menschen unter ihn fallen. Nennt man dann den Prozeß, durch
den im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die allgemeinen
sozialen Werte realisiert werden, die Kultur, so muß daa
86 GeschichtsphiloBophie.
Hauptobjekt der Geschichte die Darstellung von Teilen oder
vom Ganzen des menschlichen Kulturlebens sein, und aller ge«
schichtlich wichtige Stoff muß in irgend eina* Verbindung mit
dem menschlichen Kulturleben stehen, weil nur dann eine Ver-
anlassung dafür vorhanden ist, ihn auf die allgemeinen Werte
zu beziehen und in seiner Besonderheit und Individualität zu
untersuchen. Die Werte, welche die Auswahl des Wesentlichen
in der Geschichte leiten, sind deshalb auch als die allgemeinen
Kulturwerte zu bezeichnen, wie wir sie in den Wertbegriffen
des Staates, des Eechts, der Kunst, der Religion, der wirtschaftr
liehen Organisation als Beispiele bereits kennen gelernt haben.
Es versteht sich von selbst, daß der Historiker deshalb nicht zu
sagen hat, was Kulturfortschritt oder Kulturrflckschritt ist, denn
damit würde er von der theoretischen Wertbeziehung zur prakti-
schen Wertung übergehen. Seine eigenen Kulturideale brauchen
überhaupt nicht von maßgebender Bedeutung für. die Gestaltung
seines Stoffes zu werden, sondern er muß nur im stände sein, die
aUgemeinen Kulturwerte der Menschen und Völker, die er dar-
stellt, zu verstehen, um dann durch rein theoretische Wert-
beziehung das Wesentliche vom Unwesentlichen abzusondern.
Auch ist die geschichtliche Untersuchung nicht auf Kulturvor-
gänge selbst beschränkt. Besonders wenn es gilt, die Ursachen
der geschichtlichen Ereignisse kennen zu lernen, können auch
solche Objekte von Bedeutung sein, die lediglich zur „Natur^
gehören, und die dann ebenfalls mit Rücksicht auf ihre Indivi-
dualität wichtig werden, wie z. B. die Besonderheit des Klimas
einer bestimmten Gegend, die geographische Situation eines
Landes und dergl. Immer aber müssen diese Objekte sowohl
kausal mit Kulturvorgängen zusammenhängen, als auch in ihrer
Bedeutung für Kulturwerte betrachtet werden, wenn sie in einer
geschichtlichen Darstellung ihren Platz finden sollen, und irgend
ein Teil der einmaligen Entwicklung des Kulturlebens selbst wird
stets im Zentrum einer individualisierenden Wissenschaft stehen.
Daß hiermit nicht eine besondere „kulturgeschichtliche Methode"
gepriesen werden soll, wie das heute im Gegensatz zur Methode
der politischen Geschichte vielfach geschieht, bedarf wohl kaum
der ausdrücklichen Versicherung. Die Frage nach dem „eigent-
lichen Arbeitsgebiet^ der Geschichte kann von der Logik nicht
entschieden werden, und sie erstreckt sich auch gar nicht auf
die Frage nach dem Wesen der historischen Methode. Will man
Geschichtsphilosophie. 87
Überhaupt von einem Gegensatz der politischen und der Kultur-
geschichte sprechen, so haben doch beide dasselbe individuali-
sierende Verfahren anzuwenden, und nur das wäre möglich, daß
die Kulturgeschichte in jenem heute bisweilen gemeinten engeren
Sinne mehr Gruppenbegriffe verwendet als die Geschichte poli-
tischer Vorgänge. Wir aber wissen, dafi ein mehr oder weniger
von Gruppenbegriffen an dem Wesen der geschichtlichen Methode
gar nichts ändert. Abgesehen davon steht es auch durchaus
nicht fest, daß die Kulturgeschichte in höherem Ma£e „kollek-
tivistisch'' gestaltet sein muß als die politische Geschichte.
Doch haben diese Fragen mit der Methodenlehre nur inso-
fern etwas zu tun, als sie sorgfältig aus den logischen Unter-
suchungen fem zu halten sind. Der logische Dilettantismus
unserer Tage hat auch hier viel Verwirrung angerichtet, aber
er besitzt nicht so viel sachliche Bedeutung, daß ein näheres
Eingehen auf ihn an dieser SteUe gerechtfertigt wäre. Das
Wort Kultur ist hier so gebraucht^ daß das politische Leben ein
Teil des Kulturlebens überhaupt ist Es soll nichts anderes als
den Inbegriff derjenigen Objekte bezeichnen, die von direkter
Bedeutung für die Verwirklichung der allgemeinen Werte sind,
und die wegen dieser Wertbeziehung durch eine generalisierende
Wissenschaft niemals erschöpfend dargestellt werden können,
sondern die Auffassung durch eine individualisierende Wissen-
schaft verlangen. Es wird dadurch zugleich klar, in welchem '
Sinne die Geschichte für den Kulturmenschen eine Notwendigkeit
ist. Der Kulturmensch wird immer die Wirklichkeit auf die
allgemeinen Kulturwerte beziehen, so daß die Frage entstehen
muß, wie sich die Bealisierung der Kultur in ihrer einmaligen
Entwicklung vollzogen hat, und auf diese Frage kann nur die
individualisierende Geschichte, niemals aber eine generalisierende
Wissenschaft die Antwort geben.
n.
Die Prinzipien des historischen Lehens.
Blicken wir noch einmal zurück, so läßt sich mit den an-
gegebenen Begriffen ein System der empirischen Wissenschaften
andeuten, in dem der Geschichte sowohl mit Bücksicht auf ihre
Methode als auch mit Bücksicht auf ihr Material ein fester Platz
88 GeBchichtsphiloBophie.
angewiesen ist, so daß anf Grund dieser Einsicht dann die an-
deren Gruppen von geschichtsphilosophischen Problemen ver-
standen und in Angriff genommen werden können. In bezug auf
die Methode verfahren die Einzelwissenschaften entweder gene-
ralisierend und systematisch oder individualisierend und dann
nicht systematisch. Ihr Material besteht entweder aus Natur-
objekten, die von Werten losgelöst oder aus Eulturvorg&ngen,
die auf Werte bezogen sind. Das ist jedoch nur ein ganz all-
gemeines Schema, und es soll damit, wie immer wieder hervor-
gehoben werden mu£, nicht gesagt sein, daß die verschiedenen
Disziplinen entweder nur generalisierend oder nur individuali-
sierend arbeiten, daß sie nur Naturobjekte oder nur Eulturvor-
gänge behandeln, und daß Naturobjekte nur generalisierend,
Eulturvorgänge dagegen nur individualisierend darzustellen sind.
Im Gegenteil, die verschiedenen Methoden gehen bei der Be-
handlung der verschiedenen Stoffe eng zusammen, und die an-
gegebenen Einteilungsprinzipien können sich in verschiedener
Weise miteinander verbinden lassen. Das generalisierende Ver-
fahren fängt mit individuellen Tatsachen an, das individuali-
sierende bedarf der allgemeinen Begriffe als Mittel der Dar-
stellung und Verknüpfung. Neben den generalisierenden Natur-
wissenschafken gibt es Disziplinen, welche Naturvorgänge indi-
vidualisierend und dann, wenn auch vermittelt und indirekt,
'weitbeziehend behandeln, wie z. B. die Stammesgeschichte der
Organismen, und umgekehrt kann das Kulturleben trotz der
Wertbeziehung einer generalisierenden Darstellung unterworfen
werden. Ja, ganz abgesehen von der Psychologie, sind viele der
sogenannten Geisteswissenschaften, wie z. B. die Sprachwissen-
schaft, die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, wenigstens zum
Teil, gewiß nicht historische, sondern systematische Kulturwissen-
schaften, deren Methode nicht mit der der generalisierenden
Naturwissenschaften zusammenzufallen braucht, und deren logische
Struktur deswegen eines der schwierigsten und interessantesten
Probleme der Methodenlehre ist. Aber wie groß auch die
Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Bestrebungen sein mag,
die die Logik nicht zu kritisieren, sondern einfach als Tatsache
anzuerkennen hat, und so sehr deshalb die logischen Einteilungs-
prinzipien sich darauf beschränken müssen, begrifflich ausein-
ander zu halten, was in Wirklichkeit eng miteinander verknüpft
ist, so darf doch die Geschichte, die von den Menschen, ihren
Geschichtspliilosophie. 89
Einrichtnngen und ihren Taten handelt mit Sücksicht auf ihre
letzten Ziele nur als individualisierende Kulturwissen-
schaft bezeichnet werden. Ihr Zweck ist immer die Dar-
stellung einer einmaligen, mehr oder weniger umfassenden Ent-
wicklungsreihe, und ihre Objekte sind entweder selbst Eultur-
vorgänge oder stehen zu Eulturwerten in Beziehung. Dadurch
ist diese Wissenschaft von allen Naturwissenschaften, mögen sie
generalisierend oder individualisierend verfahren, sachlich und
ebenso von allen Kulturwissenschaften, die ihre Objekte S}'ste-
matisch behandeln, methodisch prinzipiell geschieden. Innerhalb
dieses Rahmens hat sich die Ge^chichtslogik zu bewegen. Nur
dann kann sie begreifen, was Geschichte wirklich ist, und nur
so kann sie einer Philosophie Dienste leisten, die die Bedeutung
der wirklichen Geschichte fiir die Lösung ihrer Probleme ver-
stehen will. Die Konstruktion von Zukunftswissenschaften da-
gegen, die heute besonders in der Geschichtslogik beliebt ist,
hat weder für die Einzelforschung noch für die Philosophie einen
Wert, es sei denn den Wert eines abschi-eckenden Beispiels.
Auch die Frage nach den Prinzipien des historischen
Geschehens, der wir uns jetzt zuwenden, kann nur beantwortet
werden, wenn man sich dabei auf den Begriff dessen stutzt, was
als Geschichte von den historischen Wissenschaften tatsächlich
dargestellt wird. Wir wissen nun bereits, daß diese Prinzipien
entweder in den allgemeinen Gesetzen oder in dem allgemeinen
Sinn des geschichtlichen Lebens gesucht werden. Will man
über die Aufgaben der Geschichtsphilosophie als Prinzipienlehre
zur Klarheit kommen, so muß man daher bestimmen, was unter
Gesetz und was unter Sinn der Geschichte gemeint sein kann,
und dann fragen, was den Namen eines Pi*inzips der Geschichte
verdient. Es wird sich ergeben, daß es sich bei der Alternative
Gesetz oder Sinn der Geschichte, ebenso wie bei dem Kampf um
die generalisierende und die individualisierende Methode, um die
beiden einander entgegengesetzten Hauptrichtungen der gegen-
wärtigen Geschichtsphilosophie handelt, und daß die Entschei-
dung in diesem Kampf im wesentlichen wieder von der Einsicht
in das logische Wesen der empirischen Geschichtswissenschaft
abhängt.
Das Wort Gesetz gehört zu jenen Ausdrucken, deren Viel-
deutigkeit zu mannigfachen ünklarkeiten und Mißverständnissen
Veranlassung gegeben hat. Während bei der Identifikation von
90 Geschichtsphilosophie.
Gesetz and Kausalität die Kausalität einseitig als Form der
generalisierenden Auffassung betrachtet wird, gibt es andererseits
einen Sprachgebrauch, nach dem gesetzlich so viel wie notwendig
überhaupt bedeutet Das Wort kann dann die Notwendigkeit
des Einmaligen und Besonderen und auch die Notwendigkeit eines
Imperatives oder eines Wertes bezeichnen. Diesen Gebrauch
fiberall verbieten zu wollen, wäre pedantisch und wurde keinen
Erfolg haben. In der Philosophie aber sollte man ihn wenigstens
an entscheidender Stelle vermeiden, und jedenfalls hat, wenn der
Geschichtsphilosophie die Aufgabe gestellt wird, die Gesetze der
Geschichte zu suchen, dies nur einen klaren Sinn, falls man
unter Gesetz soviel wie Naturgesetz versteht. Die Notwendigkeit
des Gesetzes bedeutet dann also nicht die Notwendigkeit einer
individuellen Wirklichkeit, sondern die unbedingte Allgemeinheit
eines Begriffes, genauer die notwendige Verknüpfung von min-
destens zwei allgemeinen Begriffen und die notwendige Ver-
knüpfung von Wirklichkeiten nur insofern, als das Gesetz sagt,
es sei, wenn ein individuelles Objekt unter anderen Merkmalen
auch die zeigt, welche die Elemente des einen allgemeinen Be-
griffes sind, mit ihm überall und immer ein anderes Objekt real
verbunden, das unter anderen Merkmalen auch die hat, welche
die Elemente des anderen allgemeinen Begriffes bilden. Kurz,
Gesetzeserkenntnis ist die Form der Wirklichkeitsauffassung, die
von jeder generalisierenden Naturwissenschaft als höchstes Ideal
erstrebt wird.
DaB die empirische Geschichtswissenschaft, Gesetze in diesem
Sinne zu finden, sich niemals als letztes Ziel setzt, wissen wir.
Der Historiker, der dies tut, hört damit auf, ' Historiker zu sein
und eine geschichtliche Darstellung seines Objektes zu wollen.
Da also empirische Geschichtswissenschaft und Gesetzeswissen-
schaft einander begrifflich ausschließen, so kann man sagen, daß
der Begriff eines „historischen Gesetzes" eine contradictio in
adjecto enthält, wobei selbstverständlich das Wort „historisch"
nur den angegebenen formalen oder logischen Sinn hat, und logisch
ist dieser Satz auch insofern, als er nicht nur unabhängig ist
von jeder Meinung über das Material der Geschichte, sondern
auch von jeder Ansicht über das Wesen der Wirklichkeit über-
haupt. Unter der Voraussetzung des Materialismus oder des
psychophysischen Parallelismus gilt er ebenso wie unter der
Voraussetzung einer spiritualistischen Metaphysik oder einer meta-
Geschichtsphiiosophie. 91
physischen Freiheitslehre. Auch die Geschichte eines Objektes,
dessen Gesetze uns restlos bekannt wären, würde niemals aus
diesen Gesetzen bestehen, sondern sie nur als Mittel benutzen.
Was jedoch für die empirische Geschichtswissenschaft gut,
braucht darum nicht für die Geschichtsphilosophie zu gelten.
Weil es logisch gerechtfertigt ist, jede Wirklichkeit mit einem
System allgemeiner Begriffe zu überziehen, und weil man daher
nicht Anhänger des Materialismus oder des psychophysischen
Parallelismus zu sein braucht, um es für möglich zu halten, daß
alles den empirischen Wissenschaften überhaupt zugängliche Sein
unter allgemeine Gesetze gebracht werden kann, so erscheint es
durchaus denkbar, daß der Geschichtsphilosoph, der als Philo-
soph nicht Historiker ist, sondern es stets mit dem Allgemeinen
zu tun hat, Gesetze für dasselbe Material findet, dessen indi-
vidualisierende Auffassung die historischen Einzelwissenschaften
erstreben. Da dieses Material der Hauptsache nach das soziale
Leben der Menschen ist, so entsteht hieraus dann der Gedanke
einer Gesetze suchenden Soziologie als Geschichtsphilosophie,
ein Gedanke, der älter ist als Comtes Terminologie, der aber,
auch in unseren Tagen viele Anhänger findet. Diese Soziologen
suchen auf ihrem Wege eine Erkenntnis, die über die einzelnen
historischen Darstellungen mit ihrem Haften am Besonderen
hinausführt und zum allgemeinen Wesen aller geschichtlichen
Entwicklung vordringt. Selbstverständlich, so meinen wenigstens
die besonnenen Vertreter dieses Standpunktes, ist die historische
Erkenntnis des Einmaligen und Individuellen nicht wertlos, im
Gegenteil, sie bildet die unentbehrliche Grundlage für eine weiter-
greifende Betrachtung, aber vom geschichtsphilosophischen Stand-
punkt aus ist sie auch nur die Grundlage, die Vorarbeit. Auf
ihr als Basis ist dann das Gebäude einer umfassenden Geschichts-
philosophie zu errichten, die in Gesetzen den ewigen Shytmus
und damit die Prinzipien alles geschichtlichen Lebens erfaßt.
Gehen wir zur Beurteilung dieser Ansicht über, so scheint
in der Tat, wenn das Wort historisch nicht die Methode, sondern
das Material der Geschichte bezeichnet, der Begriff des histori-
schen Gesetzes wenigstens keinen logischen Widerspruch zu ent-
halten, und jedenfalls ist es ein durchaus berechtigtes Unter-
nehmen, nach Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens der Men-
schen zu forschen. Etwas ganz anderes aber ist es doch, ob es
einen Sinn hat, die bei der generalisierenden Behandlung des von
92 Gtadncto^oeophie.
der Geschichte indiridiulisiereiid dargestellten Stoffes eventuell
gefiindenen Gesetze als Prinadpien des historisdien Geschehens
zu, bezeidinen, nnd ob es also richtig ist, die Soziologie Ge-
sehichtsphilosophie zn nennen. Das ist mehr als eine termino-
logische Frage, nnd wo man sie anf Gmnd des Satzes bejaht»
daß man Gesetze fBr jede Wirklichkeit, also anch für die Objdd;e
der Oeschichtswissenschafteny mfisse finden können, werden zwei
Punkte von entscheidender Wichtigkeit übersehen. Historische
Prinzipien mässen nämlich erstens Prinzipien der Kultur und
zweitens Prinzipien des historischen Universums sein. Sind
Gesetze im Sinne von Naturgesetzen dazu geeignet?
Das, worauf es dabei zunächst ankommt, kann man sich am
besten klar machen, wenn man wieder daran denkt, daß weder
die vorwissenschaftliche noch irgendeine wissenschaftliche Kennt-
nis, die wir von der empirischen Wirklichkeit haben, diese so
wiedergibt, wie sie unabhängig von unserer Begriffsbildung
existiert, daß vielmehr jede Kenntnis nur durch eine umbildende
Auffassung der Wirklichkeit zustande kommt Bei ihrem Um-
bilduDgsprozeß darf die Wissenschaft nur von dem Ziele geleitet
sein, das sie sich als generalisierende oder individualisierende
Wissenschaft gesetzt hat, und eine generalisierende Wissenschaft
wird daher nur dann hoffen dürfen, zu Gesetzen zu kommen, wenn
sie sich von allen anderen Interessen an der Wirklichkeit frei
macht, alB von denen, die auf die Aufstellung von unbedingt all-
gemeinen Begriffen für ihr Gebiet gerichtet sind. Sie muß trennen
können, was anderen Auffassungen als zusammengehörig er-
scheint, und sie muß unter einen Begriff zusammenfassen, was
f&r andere Interessen gar nichts gemeinsam zu haben scheint
Wieweit sie sich dadurch von der vorwissenschaftlichen Auf-
fassung entfernt, wird besonders dort deutlich, wo die um-
fassendsten Gesetze aufgestellt sind. Man braucht nur daran
zn erinfiem, daß die Gesetzeswissenschaften zu einer prinzipiellen
Scheidung des raumerfäUenden Physischen von dem unausge-
gedehnten Psychischen führen, also zur Darstellung von zwei
Welten, zwischen denen gar keine reale Verknüpfung mehr her-
zustellen ist, während f&r unsere vorwissenschaftliche und auch
für unsere geschichtliche Auffassung diese beiden Gebiete un-
trennbar miteinander verbunden sind. Oder man denke daran,
wie unter der Hand der G^etzeswissenschaften der dinghafte
Charakter unseres Weltbildes immer mehr verschwindet und
Geschichtsphilosophie. 98
immer mehr Begriffe von Relationen dafür eintreten. Eine Ge-
setzeswissenschaft vom sozialen Leben der Menschen wird selbst-
verständlich im Prinzip dieselbe Freiheit fftr eine solche weit-
gehende Umbildnng der Wirklichkeit durch die generalisierende
Begriffsbildung verlangen müssen, nnd wendet man dies auf ihr
Verhältnis znm geschichtlichen Leben an, so ergibt sich, daß die
Soziologie, falls sie zugleich Geschichtsphilosophie sein will, diese
Freiheit zur Zerstörung jeder anderen als der durch ihr Ziel einer
Gesetzeserkenntnis bestimmten Wirklichkeitsauffassnng nicht
besitzt.
Soll man nämlich wirklich von ihr sagen können, daß sie
dasselbe Material wie die Geschichte behandelt, so wird sie
znm mindesten doch nach Gesetzen fdr das Kulturleben suchen
müssen, da alle Geschichtswissenschaft es entweder mit Eultnr-
vorgängen selbst oder mit Wii*klichkeiten zn tun hat, die zu
ihnen in Beziehung stehen. Kultur aber ist keineswegs eine
auffassnngsfreie Wirklichkeit, die- jeder beliebigen Bearbeitung
nnd Umformung durch Begriffe unterworfen werden kann, sondern
Kultur ist einmal ein bestimmter Ausschnitt aus der Wirklich-
keit, von dem man nicht weiß, ob gerade für ihn und nur für
ihn Gesetzesbegriffe gelten, und femer ist dieser Ausschnitt eine
schon in ganz bestimmter Weise durch Kulturwerte gegliederte
und umgebildete Wirklichkeit. Wer kann sagen, ob diese Gliede-
rung, von deren Bestand es abhängt, daß wir eine Wirklichkeit
als Kultur bezeichnen, erhalten bleibt, wenn die generalisierende
Auffassung versucht, sich geltend zu machen? Ist das aber
nicht der Fall, dann stellt die Soziologie als Gesetzeswissen-
schaft zwar unter anderem, nicht geschichtlichem Gesellschafts-
leben auch dieselbe Wirklichkeit dar, die die Geschichte be-
handelt, aber sie faßt sie nicht als dieselbe Wirklichkeit auf,
d. h. sie stellt sie nicht als Kultur dar, und wie wenig eine Ge-
meinsamkeit des Stoffes in diesem Sinne noch bedeutet, wird
sofort klar, wenn man daran denkt, daß das gemeinschaftliche
Objekt dann nichts als ein Stück jener unübersehbaren Mannig-
faltigkeit ist, die nicht nur als solche in keine Wissenschaft ein-
geht, sondern von der wir überhaupt nur ganz im allgemeinen,
niemals aber im besonderen reden können, weil wir sie auf-
fassungsfrei überhaupt nicht kennen. Es besteht also nicht nur
eine Unvereinbarkeit zwischen generalisierender und individuali-
sierender Methode in den SpezialWissenschaften, sondern es fehlt
94 Geschichtsphilosophie.
auch zum mindesten jede Garantie Ar die Vereinbarkeit gesetzes-
wissenschaftlicher nnd kaltorwissenschaftlicher Betrachtungsweise,
ja, bei der engen Beziehung zwischem dem individualisierenden
und dem wertbeziehenden Denken ist es, wenn auch nicht
logisch unmöglich, so doch sehr unwahrscheinlich, daß die Ge-
setzesbegriffe inhaltlich immer mit allgemeinen Kulturbegriffen
zusammenfallen werden. Damit aber ist dem Programm einer
Soziologie als Geschichtsphilosophie, das sich auf den Satz stützt^
es müssen sich fär jede beliebige Wirklichkeit Gesetze finden
lassen, im Prinzip schon der Boden entzogen. Der Versuch,
Gesetze des gesellschaftlichen Lebens aufzustellen, behält selbst-
verständlich seinen guten Sinn, aber nichts kann uns veran-
lassen, diese Gesetze blofi deshalb, weil sie Gesetze derselben
auffassungsfreien Wirklichkeit sind, die die Geschichte behandelt,
zugleich für Prinzipien des Kulturlebens zu halten. Nur dort
wird man dies glauben, wo man, einem naiven Begriffsrealis-
mus huldigend, unsere vorwissenschaftliche und wissenschaftliche
Auffassung der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst ver-
wechselt
Doch weil wir hiermit in einem gewissen Sinne nicht über
logische Möglichkeiten hinauskommen, und wenigstens nach dem
bisher Ausgeffihrten ein wunderlicher Zufall es fügen könnte,
daß Gesetzesbegriffe und Kulturbegriffe sich stets decken, so muß
zur Klarstellung noch ausdrücklich gezeigt werden, in welchem
Fall jedes Suchen nach Gesetzen des Kulturlebens sinnlos ist
Der entscheidende Punkt steckt wieder in dem Begriff des Ver-
hältnisses, das das historische Ganze zu seinen Teilen hat. Zu-
nächst: in welchen Fällen kann die Auffassung der Wirklich-
keit als Kultur mit der generalisierenden Auffassung zusammen-
gehen? Da die Kultui*werte als allgemeine Werte immer auch
Begriffe mit allgemeinem Inhalt sind, so lassen sich die histori-
schen Ereignisse, die durch ihre Individualität mit Bäcksicht auf
einen allgemeinen Kulturwert wesentlich werden, zugleich auch
als Exemplare dieses allgemeinen Begriffes betrachten. Denn
wenn auch das individualisierende Verfahren immer wertbe-
ziehend ist, so dari man doch diesen Satz nicht umkehren und
behaupten, daß jeder allgemeine Wert die Darstellung indi-
vidualisierend macht Es können vielmehr z. B. diejenigen Vor-
gänge, die in einer Geschichte der Kunst oder des Rechtes vor-
kommen, auch als Exemplare des allgemeinen Begriffes Kunst
Geschichtsphilosophie. 95
oder Recht angesehen werden, nnd wenn dabei auch die Wert-
beziehung, welche die Dinge durch ihre Individualität zu dem
Kulturwert Kunst oder Recht haben, gelöst werden muß, so
bleibt eine solche generalisierende Darstellung doch eine Dar-
stellung von Kulturvorgängen auch in dem Sinne, daß sie die
Objekte als Kultur behandelt, denn der Kulturbegriff der Kunst
oder des Rechts ist es, der das Gebiet abgrenzt und bestimmt,
welche Objekte zu Exemplaren des betreffenden Systems von all-
gemeinen Begriffen werden. Was für diese Kulturwerte gilt,
kann natürlich auch für alle gelten, und es läßt sich daher
denken, daß jene großen Einheiten des geschichtlichen Lebens,
die wir Kulturvölker nennen, alle als Exemplare eines Systems
von allgemeinen Begriffen aufgefaßt werden, in dem dann die
Gesetze zum Ausdruck kommen, die für den sich stets wieder-
holenden Werdegang jedes beliebigen Kulturvolkes gelten. Frei-
lich, man darf dies aus den angegebenen Gründen nie Geschichte
nennen, und femer soll, wenn dies als möglich bezeichnet wird,
nur die logische Möglichkeit gemeint, von den faktischen Schwie-
rigkeiten dagegen, die einem solchen Unternehmen entgegen-
stehen, mit keinem Wort die Rede sein. Denn es kommt hier
nur darauf an, dem Programm einer Gesetzeswissenschaft des
Kulturlebens alles nur irgend Denkbare zuzugestehen, um dann,
nachdem dies geschehen ist, um so sicherer entscheiden zu können,
ob die erstrebte Gesetzeswissenschaft, in ihrer höchsten Vollen-
dung gedacht, den Ansprüchen genügen würde, die man an eine
Geschichtsphilosophie als Lehre von den Prinzipien des histori-
schen Lebens stellen muß.
Will man diese Frage beantworten, so ist zu beachten, daß
die GeschichtsphUosophie, wie man ihre Aufgabe auch sonst
bestimmen mag, nicht Philosophie des Objektes einer historischen
Spezialuntersuchung, sondern Philosophie des Objektes der
Universalgeschichte zu sein und zugleich die Prinzipien des
historischen Universums festzustellen hat. Unter dem historischen
Universum aber ist, so unbestimmt dieser Begriff auch noch sein
mag, jedenfalls das denkbar umfassendste historische Ganze, also
ein seinem Begriff nach Einmaliges und Individuelles zu ver-
stehen, zu dem jedes von einer historischen Spezialuntersuchung
behandelte Objekt als individuelles Glied gehört, und wir werden
femer von den Prinzipien der G^chichte verlangen, daß sie
Prinzipien der Einheit dieses Universums sind. Schon daraus
96 GesehiehtipfaikMopliiA.
folgt, daß eine Oesetzeswissenschaft als historische Prinzipiett-
lehre nicht etwa nur vor mehr oder weniger großen Schwierig-
keiten steht, sondern logisch unmöglich ist Man wende nicht
ein, daß auch das Weltganze seinem Begriffe nach etwas Ein-
maliges sei, und daß es daher, wenn diese Argumentation richtig
wäre, keine Gesetze geben könne, die, wie wir das z. B. vom
Gravitationsgesetz annehmen, für das Weltganze gelten. Die
generalisierenden Wissenschaften haben es niemals in der Weise
mit dem Weltganzen zu tun, wie die Geschichtsphilosophie es
mit dem historischen Universum zu tun haben muß. Sie suchen
nach Gesetzen daf&r nur in dem Sinne, daß sie das feststellen
wollen, was fBr alle seine Teile gilt Niemals aber denken sie
daran, diese Teile zugleich als Glieder des Ganzen zu be-
trachten, und vollends können die allgemeinen Gesetze nicht
Prinzipien der Einheit dieses Ganzen sein. Je allgemeiner sie
gelten, um so mehr ist jeder Teil nur Gattungsexemplar und
damit von all den Bestimmungen, die ihn zum Glied des Ganzen
machen, losgelöst Nehmen wir also an, die Soziologie hätte ihr
höchstes Ziel erreicht und Gesetze fBr alle Teile des historischen
Universums, z. B. f&r die Entwicklung aller Kulturvölker ge-
funden, so wären diese Kulturvölker dadurch f&r sie zu Gattungs^
exemplaren geworden, und ständen als Gattungsexemplare not-
wendig begrifflich isoliert nebeneinander. Sie könnten nicht
zur Einheit des einmaligen individuellen historischen Univer-
sums zusammengeschlossen werden, denn als Glieder eines histo-
rischen Zusammenhanges müssen sie immer Individuen sein, und
vollends wären die von der Soziologie gefundenen Gesetze nicht
als Prinzipien f&r die Einheit der individuellen Glieder des indi-
viduellen Universums zu brauchen. Der Begriff des Gesetzes als
eines Prinzipes des historischen Universums ist demnach f&i- die
Geschichtsphilosophie ebenso logisch widersinnig, wie der Begriff des
historischen Gesetzes als Ziel einer empirischen Geschichtswissen-
schaft. Gewiß geht die Geschichtsphilosophie auf das „Allgemeine",
ab^ nur insofern, als sie es mit dem historischen Universum zu tun
hat^ und gerade deswegen bleibt auch ihr Objekt stets ein ein-
maliger und individueller Entwicklungsgang, daraus Individuen als
seinen Gliedern besteht Die Soziologie als Gesetzeswissenschaft
kann daher, so wertvoll sie sonst sein mag, der Geschichte wohl
Hilfsbegriffe bei der Erforschung kausaler Zusammenhänge liefern,
darf aber niemals an die Stelle der Geschichtsphilosophie treten.
Geschichtsphilosophie. 97
Von diesem G^esichtspankt ans sind auch alle die Versuche zu
beurteilen, allgemeine „Faktoren^' oder „Kräfte^ des geschichtlichen
Lebens zu erkennen. Da alle Geschichte von Menschen handelt,
und bei allen Menschen eine körperliche von einer geistigen
Seite geschieden werden kann, läßt sich selbstverständlich eine
Einteilung dieser Kräfte in physische und psychische vornehmen,
und man wird auch vielleicht mit Erfolg eine noch mehr spe-
zialisierte Übersicht Aber diejenigen Faktoren geben können,
die in dem historischen Geschehen wirksam sind. Aber, wie
man auch im einzelnen über den Wert solcher Bemühungen
denken mag, es ist nicht nur wegen des Auseinanderfallens der
Natui*- und Eulturauffassung der Wirklichkeit die äußerste Vor-
sicht bei der Verwendung von solchen generalisierenden Theorien
notwendig, sondern, man sollte vor allem sich nie darüber
täuschen, daß diese allgemeinen Kräfte und Faktoren nicht das
sind und auch nicht das bestimmen, was geschichtlich wesentlich
ist. Sie sind vielmehr nur Bedingungen, ohne die allerdings die
historischen Ereignisse nicht sein können, aber gerade wenn sie
absolut allgemeine Bedingungen sind, werden sie weder fSr den
empirischen Historiker, noch für den Geschichtsphilosophen
Interesse haben. So ist z. B. die Wärme der Sonne ein Faktor,
den wir aus keinem geschichtlichen Ereignis weg denken können,
und ebenso würde die ganze Geschichte anders verlaufen sein,
als sie verlaufen ist, ja es würde wohl überhaupt keine Kultur
geben, wenn die Menschen sich nicht durch die Sprache
untereinander verständigen könnten. Aber darum sind doch
Sonnenwärme oder Sprache ganz gewiß keine „historischen
Prinzipien^. Gerade die unbedingte Allgemeinheit ist es, die
ihnen das geschichtliche Interesse raubt. Ja, ganz abgesehen
davon, ob man eine Wissenschaft von den allgemeinen Kräften
und Faktoren des gesellschaftlichen Lebens Geschichtsphilosophie
nennen soll, darf man wohl bezweifeln, daß die hier in Betracht
kommenden mannigfaltigen naturwissenschaftlichen, psycho-
logischen und kulturwissenschaftlichen Kenntnisse sich überhaupt
zu einer einheitlichen Wissenschaft zusammenschließen lassen.
Bisher existiert jedenfalls diese Wissenschaft nicht, und es wird
auch wohl so bleiben, daß, wenn der Historiker das Bedürfnis
nach Einsicht in die allgemeinen „Kräfte^ hat, die in dem von
ihm behandelten Gebiet eine Rolle spielen, er sich an die
generalisierenden SpezialWissenschaften wendet, an die Anthropo-
Windel1>and, Die Philosophie im Beginn des 80. Jahrh. II. Bd. 7
98 Geschichtspliflosophie.
logie, die Psychologie, die Soziologie nsw^ die ihn dann am gründ-
lichsten informieren werden.
Es würde znr Elarlegnng des allgemeinen Prinzips, auf das
wir nns hier beschränken müssen, nicht wesentlich beitragen,
wenn wir die verschiedenen Gmppen von Problemen, die hier
in Betracht kommen, im einzelnen durchgehen wollten, und nur
das sei noch hervorgehoben, da£ nur für die mehr oder weniger
konstanten Faktoren des geschichtlichen Lebens der Historiker
Belehrung bei generalisierenden SpezialWissenschaften suchen
kann, für manche Fragen dagegen, die sich auf das allgemeine
Wesen des geschichtlichen Lebens beziehen, von den generali-
sierenden Wissenschaften überhaupt eine Antwort nicht zu er-
warten hat, und zwar werden das besonders solche Fragen seiu,
die man zu den geschichtsphilosophischen Problemen rechnet.
Wir beschränken uns hier auf ein Beispiel, bei dem die ver-
schiedensten Richtungen der empirischen Geschichtswissenschaft
und der Geschichtsphilosophie fehlgreifen. Es ist die Frage
nach der Rolle, welche die Individuen in der Geschichte spielen,
die man vor allen als Individuum zu bezeichnen gewöhnt ist, näm-
lich die einzelnen Persönlichkeiten. Hier hat gerade die
Ansicht, welche sowohl die empirische als auch die philosophische
Behandlung der Geschichte durch eine Gesetzeswissenschaft ab-
lehnt, ein Interesse daran, hervorzuheben, daß dieses Problem
eine allgemeine Lösung in einem sogenannten „individualistischen^
Sinne nicht gestattet, und zwar ergibt sich dies wieder aus
einer logischen Einsicht. Gewiß ist es ganz verkehrt, zu sagen,
daß es in der Geschichte auf die einzelnen Persönlichkeiten gar
nicht ankomme, sondern überall nur das „allgemeine" Leben
der Massen ausschlaggebend sei, aber es ist ebenso falsch, die
entscheidenden Faktoren stets in den Taten einzelner Persön-
lichkeiten zu suchen und die Geschichte mit Carlyle für eine
Summe von Biographien zu erklären. Leider wird die hier
entstehende Alternative sehr häufig mit der Frage nach dem
logischen Wesen der Geschichte so in Zusammenhang gebracht,
daß man die Vertreter der Ansicht, nach der die Geschichte
individualisierend in unserem Sinne verfährt^ zugleich für die
Anhänger einer Geschichte von Persönlichkeiten hält, und doch
hat die individualisierende Methode auch nicht das Geringste
mit Heroenkult zu tun. Im Gegenteil, gerade weil die Ge-
schichte die Wissenschaft vom Individuellen ist^ kann die Frage,
GeschichtsphiloBophie. 99
welche Bedentniig die einzelnen Persönlichkeiten besitzen, von
der Geschichtsphilosophie nicht zugunsten der großen Männer
entschieden werden. Der Grund ist derselbe, der es verbietet, in
das entgegengesetzte Extrem zu verfallen und aus der Bildung
von EoUektivbegriffen ein Prinzip der Methode zu machen.
Die Behauptung, es komme überall auf Persönlichkeiten
an, wäre ja ein Produkt der generalisierenden Begriffsbildung,
ein historisches Gesetz. Es muß für jeden besonderen Teil des
historischen Geschehens untersucht werden, welche Massen-
bewegungen und welche rein persönlichen Taten für die leiten-
den Eulturwerte von ausschlaggebender Bedeutung waren, und
erst dann ist eine Beantwortung der Frage nach der Bedeutung
der einzelnen Menschen für alle besonderen Teile der Ge-
schichte möglich. Tatsächlich verdanken auch weder die all-
gemeinen Behauptungen über die ausschlaggebende Bedeutung
der Massen, noch die über die Bolle der einzelnen Personen
einer generalisierenden Begriffsbildung ihre Beliebtheit, sondern
sie sind auf willkürliche Einseitigkeit in der Bevorzugung dieser
oder jener Eulturwerte und damit auf willkürliche Auswahl des
historisch wesentlichen Materials zurückzuführen, wie sich bei
der Antwort auf die Frage, was denn wirklich die Prinzipien
des historischen Lebens sind, noch deutlicher zeigen wird.
Bei der Frage nach der Bedeutung der historischen Gesetze
sei schließlich noch auf einen Punkt hingewiesen, der ebenfalls
zu Streitfragen Veranlassung gegeben hat. Es kommt nämlich
noch darauf an, zu zeigen, daß nicht nur gewisse viel behandelte
geschichtsphilosophische Probleme keine allgemeine Entscheidung
zulassen, sondern daß auch dort, wo ein Historiker einen für
alles geschichtliche Leben gültigen Satz behauptet^ es sich dabei
durchaus nicht immer um ein Produkt der generalisierenden
Auffassung zu handeln braucht. Nehmen wir als Beispiel eine
These Bankes, die im Eampf um die historischen Gesetze eine
Rolle gespielt hat. Sie enthält, wie v. Below sagt> die „allgemeine
Wahrheit: die Erkenntnis, daß das innere Leben der Staaten
zum großen Teil abhängig ist von dem Verhältnis der Staaten
untereinander, von den Weltverhältnissen", und sie wird zu-
gleich als eine wissenschaftliche Entdeckung allerersten Banges
bezeichnet. Ist, so kann man fragen, diese allgemeine Wahrheit
nicht ein historisches Gesetz, wenn auch nur in jenem logisch
widerspruchslosen Sinn eines Gesetzes für den von der Geschichte
7*
IjOO Geschichtspliilosophie.
individualisierend dargestellten Stoff? Wer Bankes Geschichts-
auffassung kennt, wird diese BYage verneinen. Die „Welt-
verhältnisse^ sind f&r diesen großen Historiker ein bestimmter
Komplex von untereinander zusammenhängenden Eulturstaaten,
und Ranke rechnet überhaupt nur Staaten, die in einem Zu-
sammenhange mit diesen Eulturstaaten stehen, also auch Einflüsse
von ihnen empfangen, zu seiner geschichtlichen „Welt". Wir
haben in dem angefahrten Satze, gerade wenn er absolut all-
gemein gelten soll und daher von jedem eigentlich geschicht-
lichen Inhalt frei ist, nichts weniger als ein Produkt generali-
sierender Wissenschaft und überhaupt keine wissenschaftliche
„Entdeckung^' vor uns, sondern nur die Formulierung einer metho-
dologischen Voraussetzung, mit der Bänke an die individuali-
sierende Darstellung der einzelnen Staaten herangeht und heran-
gehen muß, wenn er alles universalgeschichtlich in seinem Sinn
behandeln wilL Ebenso steht es mit anderen allgemeinen Be-
hauptungen, wie z. B., daß jedes noch so große Individuum in
Grenzen eingeschlossen ist, die durch den Enlturzustand seines
Volkes gegeben sind. Das ist absolut selbstverständlich, denn
auch hier wird gar nichts anderes als der reale Zusammenhang
jedes historischen Teiles mit seinem historischen Ganzen be-
hauptet. Ein System solcher allgemeinen Sätze würde also
nicht einmal als generalisierende Hilfswissenschaft der Ge-
schichte bei Erforschung von Kausalzusammenhängen Dienste
leisten, sondern nur die Voraussetzungen enthalten, die gemacht
werden müssen, wenn Greschichte als wissenschaftliche Dar-
stellung historischer Zusammenhänge überhaupt möglich sein soll
So zeigt sich von neuem, daß es keinen Sinn hat, die Prinzipien
des historischen Geschehens in Gesetzen zu suchen.
Aber gerade weil die Ablehnung einer GeschichtsphUosophie
als Gesetzeswissenschaft sich als notwendige Folge der Einsicht
in das logische Wesen der Geschichte ergeben hat, so scheint
damit zu viel bewiesen zu sein, denn, mögen auch alle sozio-
logischen Theorien, die Geschichtsphilosophie sein wollen, inhalt-
lich falsch sein, so gibt es doch tatsächlich Versuche, Gesetze fftr
das einmalige Ganze der historischen Entwicklung aufzustellen,
und diese wären überhaupt unmöglich, wenn der Begriff der
Gesetzeswissenschaft als Geschichtsphilosophie einen logischen
Widerspruch enthielte. Das ist gewiß richtig, und deshalb
muß noch gezeigt werden, daß, wo Prinzipien des historischen
Geschiehtsphiloflophie. 101
Geschehens in Form von Gesetzen aufgestellt scheinen, tatsäch-
lich nicht einmal in formaler Hinsicht Gesetze im Sinne von
Naturgesetzen gebildet sind. Zugleich wird sich dadurch, daß
wir einsehen, was hier wirklich vorliegt, eine Antwort auf die
Frage ergeben, was allein als Prinzip des historischen Lebens
bezeichnet werden darf
Es ist für fast alle Versuche, das Naturgesetz des histo-
rischen Universums zu finden, charakteristisch, daß ihr Gesetz
zugleich die Formel für den Fortschritt der Geschichte ent-
halten soll, und damit ist eigentlich bereits das Wesentliche
klargestellt Man versteht, wie verlockend es sein muß, mit
einem Schlage Naturgesetz, Entwicklungsgesetz und Fortschritts-
gesetz zu erfassen, wie z. B. Gomte dies mit seinem Gesetz von
den drei Stadien: dem theologischen, dem metaphysischen und
dem positiven getan zu haben glaubte, und wie großer Beliebt-
heit sich daher diese Art von Soziologie, die so viel zu leisten
verspricht, noch heute erfreut. Man versteht aber auch, sobald
man über das logische Wesen der Geschichte sich Klarheit ver-
schafit hat, daß solche Versprechungen nie erfüllt werden können.
Erstens sind nämlich Fortschritt oder Rückschritt Wert-
begriffe, genauer Begriflfe von Wertsteigerungen oder Wert-
verminderungen, und von Fortschritt kann man daher nur dann
reden, wenn man einen Wertmaßstab besitzt. Zweitens ist
Fortschritt das Entstehen von etwas Neuem, in seiner Indivi-
dualitat noch nicht Dagewesenem. Der Begriff eines Wertmaß-
stabes aber als Begriff dessen, was sein soll, kann niemals mit
einem Gesetzesbegriff zusammenfallen, der das enthält, was
überall und immer ist oder sein muß, und was daher zu fordern
keinen Sinn hat Sollen und Müssen schließen einander begriff-
lich aus, und nur wegen der erwähnten Vieldeutigkeit des
Wortes Gesetz kann man von einem Fortschrittsgesetz reden.
Femer geht das Enstehen des Neuen, noch nicht Dagewesenen
in kein Gesetz ein, denn ein Gesetz enthält nur das, was sich
beliebig oft wiederholt. Versteht man daher unter Fortschritt
erstens das Entstehen von etwas Neuem und zweitens eine
Wertsteigerung, und versteht man unter Gesetz ein Naturgesetz,
so ist der Begriff des Fortschrittsgesetzes zweifach logisch
widersinnig. Wo also durch ein „Gesetz" das historische Uni-
versum zur Einheit zusammengefaßt, mit Rücksicht auf das
Entstehen des Neuen gegliedert und als Fortschritt bezeichnet
102 Geschichtsphilosophie.
wird, kann das Gesetz niemals ein Naturgesetz sein. Comtes
„Gesetz'^ ist denn auch tatsächlich eine WertformeL Das „Po-
sitive^' gilt ihm als das, was sein soll, als das absolute Ideal
Von hier aus betrachtet er die Entwicklung der Menschheit und
stellt fest, was ihre verschiedenen Stadien Neues und Wertvolles
für die Bealisierung seines Ideals bedeuten. Das vermag eine
Gesetzeswissenschaft, welche ihre Objekte von allen Wertver-
knüpfungen loslösen und als gleichgültige Gattungsexemplare
betrachten muß, niemals zu leisten.
Es ist hier nicht möglich und zur Klarlegung des Prinzips
auch nicht erforderlich, die verschiedenen Versuche kritisch zu
beleuchten, die gemacht worden sind, um angebliche Gesetze als
Prinzipien des historischen Geschehens zustande zu bringen, und
überall nachzuweisen, daß diese G^etze mehr oder weniger ver-
steckt Wertbegriffe enthalten, also keine Gesetze sind. Nur an
eine Art sei ausdrücklich erinnert, die an den Namen Da rwins
anknüpft und als Versuch bezeichnet werden kann, dem Begriff
der geschichtlichen Entwicklung einen rein naturalistischen Cha-
rakter zu geben durch den Nachweis, daß gerade das Natur-
gesetz der Entwicklung deren notwendige Wertsteigerung ver-
bürge. Jeder Fortschritt vom Niederen zum Höheren, so argu-
mentiert man, ist bedingt durch das überall gültige Gesetz
der Auslese, die immer mehr das Schlechte beseitigt und dem
Guten zum Siege verhilft. Dieses Gesetz muß daher zugleich
auch das Prinzip der historischen Entwicklung und des Fort-
schrittes sein. Das klingt manchem wohl sehr plausibel, aber
man braucht auf die nähere Ausführung derartiger Gedanken,
auf Grund deren man die verschiedensten Fortschrittsbegriffe
gewonnen hat, nicht einzugehen, um zu zeigen, daß hier ein
totales Mißverständnis der Biologie Darwins vorliegt. Wenn
diese Theorie wirklich eine rein naturalistische Erklärung geben
soll, so muß sie auf jede Wertteleologie verzichten und daher auch
die Verwendung von Wertbegrift'en wie „höher" und „nieder"
gänzlich vermeiden. Die natürliche Auslese beseitigt nicht das
Schlechte und erhält das Gute, sondern verhilft lediglich dem
unter bestimmten Verhältnissen Lebensfähigeren zum Siege, und
dieser Prozeß kann ein Fortschritt nur dann genannt werden,
wenn man das Leben als solches, in welcher Gestalt es auch
auftreten mag, zum absoluten Werte machen will Das aber
wäre ganz sinnlos, denn Lebensfähigkeit hat alles Leben schon
Geschichtsphilosophie. 103
durch sein bloßes Dasein bewiesen, und daher fällt jeder Wert-
unterschied von diesem Standpunkte aus weg. Man darf nicht
einmal auf Grund der Begriffe Darwins menschliches Leben höher
als tierisches schätzen und daher die Entwicklung zum Menschen
als einen Fortschritt bezeichnen. Vollends ist es unmöglich,
unter rein naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten innerhalb des
Menschenlebens irgendwelche Wertunterschiede zu machen. Nur
wenn man vorher schon auf Grund eines Wertmaßstabes eine
bestimmte Gestaltung als wertvoll gesetzt hat, kann man die
Entwicklung, die zu ihr hinfuhrt, als Fortschritt bezeichnen.
Niemals aber wird man aus den Naturgesetzen des Entwick-
lungspi*ozesses, die ffir jedes beliebige Stadium dieselben sein
müssen, wenn sie allgemeine Gesetze sein sollen, das Fortschritts-
prinzip ableiten können. Der Umstand, daß gewisse Natur-
gebilde, wie z. B. die Menschen, „selbstverständlich^ höher ge-
schätzt werden als andere Formen, erklärt uns zwar die Mög-
lichkeit einer individualisierenden Stammesgeschichte der Orga-
nismen und trägt dazu bei, die Vertreter einer naturwissen-
schaftlichen Geschichtsphilosophie ttber den Gebrauch, den sie
fortwährend von Wertprinzipien machen, zu täuschen, ändert
aber an der Tatsache, daß aus wirklich naturwissenschaftlichen
Begriflfen keine Werte abgeleitet werden können, nichts. Von
solcher Täuschung sind endlich auch diejenigen beherrscht, die,
wohl meist ebenfalls angeregt durch Darwins Begriff der „be-
günstigten Eassen im Kampf ums Dasein^, eine Geschichtsphilo-
sophie auf den Begriff der Basse bauen wollen. Sie fibersehen,
daß sie diesen Begriff, um überhaupt irgend eine Philosophie der
Geschichte zustande zu bringen, ganz unkritisch und grundlos
als Wertbegriflf benutzen müssen, und dies Verfahren ist um so
bedenklicher, als sie dadurch den für die Geschichtsphilosophie
äußerst wichtigen Begriff der Nation, der ein Kulturbegriflf
ist und eine Volksindividualität bedeutet, in Mißkredit bringen.
Der Begriff der Eultumation hat mit dem, übrigens auch unter
naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten wohl nicht ganz ein-
wandsfreien Naturbegriff der Rasse, mit dem heute so viel dilet-
tantisches Unwesen getrieben wird, nichts zu tun. Das Deutsch-
tum steckt nicht im Geblüte sondern im Gemüte, hat Lagarde
gesagt, ein Mann, der über den Verdacht, das Nationale
zu gering zu schätzen, erhaben ist, und diesem Ausspruch
liegt derselbe Gedanke zugrunde, der es verbietet, Naturbegriffe,
104 Geachichtsphilosophie.
wie den der Basse, zn geschichtsphilosophischen Prinzipien zu
machen.
Der Nachweis, dafi die angeblichen historischen Gesetze
Wertformeln sind, hat nns zugleich den Weg gezeigt^ auf dem
tatsächlich die Prinzipien des historischen Geschehens gesucht
werden mfissen, und wieder ist es die Einsicht in das logische
Wesen der Geschichtswissenschaft, die hier entscheidet. Das
historische Universnm ist nichts anderes als das denkbar um-
fassendste individualisierend aufgefaßte historische Ganze, und
weil die Wertbeziehung die conditio sine qua non einer indi-
vidualisierenden Auffassung überhaupt ist, so können es auch
nur Wertbegriffe sein, die den Begriff des historischen Univer-
sums konstituieren. Das allein aber, was diese Arbeit leistet
und es möglich macht, die verschiedenen Teile des historischen
Universums als individuelle Glieder zu einer Einheit zusammen-
zuf&gen, verdient den Namen eines historischen Prinzipes, und
deswegen ist die Geschichtsphilosophie als Prinzipienwissen-
schaft, wenn sie überhaupt eine Aufgabe haben soll, die Lehre
von den Werten, an denen die Einheit und Gliederung des
historischen Universums hängt. Mit Rücksicht auf diese Werte
kann dann auch der einheitliche Sinn der Gesamtentwicklung
gedeutet werden. Die Deutung dieses Sinnes ist auch tatsächlich
immer das gewesen, was man in der Geschichtsphilosophie er-
strebte, auch dort, wo man nach Gesetzen suchen zu müssen
glaubte, weil man Gesetz und Wert, Müssen und Sollen, Sein
und Sinn nicht unterschied und sich nicht klar darüber war,
daß das, was man nicht auf Werte beziehen kann, absolut sinnlos
ist. Auf eine Deutung des Sinnes der Geschichte wollte auch
der Naturalismus nicht verzichten, und man wird es auch nicht
gut können. Alles Kulturleben ist geschichtliches Leben, und die
Kulturmenschen, zu denen doch auch die Naturalisten gehören,
können es als Kulturmenschen gar nicht unterlassen, sich
über den Sinn der Kultur und damit über den Sinn der Ge-
schichte Rechenschaft zu geben. Es entsteht demnach hier
eine Aufgabe, welche weder der Naturalismus, der die Wirk-
lichkeit von allen Wertverbindungen loslöst, noch die empi-
rische Geschichtswissenschaft, die den geschichtlichen Verlauf
nur theoretisch wertbeziehend darstellt, in Angriff nehmen
kann, und daher wird man die Lösung dieser notwendigen
und unvermeidlichen Aufgabe von der Geschichtsphilosophie
Geschichtsphilosophie. 105
als der Lehre von den Prinzipien des historischen Greschehens
erwarten.
Nicht 80 einfach wie die Frage nach dem Gegenstände
dieser Geschichtsphilosophie ist jedoch die Frage nach der Art
seiner Behandlang zu beantworten. Nor eine Aufgabe läßt sich
hier stellen, gegen deren Lösbarkeit man nicht erhebliche Be-
denken geltend machen wird. Sie knüpft an die wirklich vor-
handenen Leistungen der Historiker und Geschichtsphilosophen
an nnd sucht darin die leitenden Eoltnrwerte als Prinzipien der
Darstellung aufzuzeigen. Für manche Arbeiten wird diese Auf-
gabe zum Teil wenigstens so leicht zu lösen sein, da£ es einer
besonderen Untersuchung kaum bedarf. In einer Kunstgeschichte
oder in einer Beligionsgeschichte müssen es jedenfalls künstle-
rische und religiöse Werte sein, auf welche die darzustellenden
Objekte bezogen werden. Aber durchaus nicht immer liegt die
Sache so, daß ein bestimmter Wertgesichtspunkt sogleich als
leitend hervortritt. Besondere bei umfassenderen Werken, die
ganze Völkerentwicklungen oder Zeitalter zum Gegenstande
haben, wird man auf die mannigfachsten Wertgesichtspunkte
stoßen, und es ist eine sehr anziehende Beschäftigung, sich dar-
über klar zu werden, warum der Historiker die^e Ereignisse
ausführlich, jene nur kurz, andere ebenso wirkliche Vorgänge
gar nicht behandelt hat. Die Historiker selbst sind sich der
Gründe hierfür nicht immer bewußt. Sie können es nicht sein,
da sie ja oft nichts von der logischen Struktur ihrer Tätigkeit
wissen und Wertbeziehungen überhaupt nicht vorzunehmen
glauben, um so wichtiger ist es, ihre Voraussetzungen aus-
drücklich klarzulegen und aufzuzeigen, wovon sie bei der Ge-
staltung ihres Materials abhängig sind. Es muA sich dabei
zeigen, daß jeder Historiker, besonders wenn er sich nicht auf
Spezialuntersuchungen beschränkt, eine Art Geschichtsphilosophie
besitzt^ die entscheidend dafür ist, was er fUr wichtig und was
er für unwichtig hält, und es ist gewiß eine lohnende Aufgabe,
diese Geschichtsphilosophie besonders der großen Historiker zu
entwickeln. Auch bei einem so „objektiven^ Historiker, wie
z. B. Ranke es ist, sind ganz bestimmte philosophische Voraus-
setzungen über den Sinn der Geschichte wirksam und müssen es
sein, da er ja alles vom universalhistorischen Standpunkt be-
handeln wollte. Mit Recht hat Dove bemerkt, daß Ranke der
einseitigen Teilnahme nicht durch Neutralität, sondern durch
106 Geschichtsphüosophie.
Universalität des Mitgefühls entgangen sei, und damit ist die
Beziehung auf Werte implicite anerkannt. Aber, wenn dies so
ist, dann kann man dabei nicht stehen bleiben. Worin besteht
das Universum der Mitgefühle bei diesem großen Historiker?
Eine hierauf gerichtete Untersuchung würde auch vielleicht
etwas mehr Klarheit in die Frage bringen, was eigentlich die
so viel besprochenen ßankeschen „Ideen'' sind. Es dürfte sich
zeigen lassen, daß Bankes Geschichtsphüosophie Wandlungen
unterworfen gewesen ist, aber unter den Faktoren, aus denen die
nichts weniger als einfachen Ideen bestehen, haben immer die
leitenden Wertgesichtspunkte von Eankes Geschichtsauffassung
eine wesentliche Bolle gespielt. In solchen und ähnlichen Unter-
suchungen müssen Geschichte und Philosophie sich aufs engste
berühren.
Noch wichtiger unter philosophischen Gesichtspunkten aber
ist die Analyse der Versuche, die insofern über die empirische
Geschichtswissenschaft hinausgehen, als sie ausdrücklich Prin-
zipien des geschichtlichen Lebens aufstellen, und zwar solche,
die zum Verständnis der gesamten menschlichen Entwicklung
und zur Deutung ihres Sinnes dienen sollen. Hier bedarf es
daher nicht nur der Analyse, sondern auch der Kritik, d. h. es
ist nach der Feststellung, inwiefern die Prinzipien des historischen
Lebens Werte sind, und worin sie bestehen, zu untersuchen, mit
welchem Becht gerade diese Wertgesichtspunkte als entscheidend
für den allgemeinen Sinn der universalen Entwicklung be-
trachtet werden. Natürlich kann es sich hier wieder nur um
den Hinweis auf dieses oder jenes Beispiel handeln. Als be-
sonders charakteristisch sei die sogenannte materialistische
Geschichtsauffassung herausgegriffen, und zwar in ihrer
ursprünglichen Gestalt, wie sie ün kommunistischen Manifest
vorliegt^ und soweit sie, ganz unabhängig von dem theoretischen
oder metaphysischen Materialismus, sich auf eine Deutung des
empirischen geschichtlichen Lebens beschränkt. Schon der Um-
stand, daß sie als Bestandteil eines politischen Programms ent-
standen ist, weist darauf hin, wo die für sie leitenden Wert-
gesichtspunkte zu suchen sind. Sie ist nur zu verstehen, wenn
man berücksichtigt, daß um den Kampf des Proletariats gegen
die Bourgeoisie die Interessen ihrer Urheber sich drehten, und
daß der Sieg des Proletariats der zentrale, absolute Wert war.
Weil das mit Bücksicht auf diesen Wert Wesentliche in der
Gescbichtsphüosophie. 107
Gegenwart der Kampf zweier Klassen miteinander ist, so sucht
man die ganze Geschichte als eine Geschichte von Klassen-
kämpfen zu verstehen nnd sie dadurch zu einer Einheit zu-
sammenzuschließen. Die Namen der kämpfenden Parteien
wechseln: Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und
Leibeigener, Zunftbarger und Gesell stehen einander gegenüber.
Aber jedesmal ist es, wieder mit Bücksicht auf den leitenden
Wertgesichtspunkt, das eigentlich Wesentliche, daß es Unter-
drücker und Unterdrückte, Ausbeutende und Ausgebeutete sind,
die auf den verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwick-
lung miteinander kämpfen. So sind die allgemeinen Prinzipien
des historischen Geschehens gewonnen, und auch die nähere Aus-
gestaltung wird ebenfalls durchweg von dem absoluten Wert,
von dem erhofften Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie
bestimmt. In dem gegenwärtigen Kampf ist die Hauptsache,
weil das entscheidende Moment, der Kampf um die wirtschaft-
lichen Güter. Deswegen muß überall in der Geschichte das
wirtschaftliche Leben die Hauptsache sein, und nach den ver-
schiedenen Gestaltungen der Wirtschaft sind daher die Epochen
der Geschichte zu gliedern, wodurch dann die „materialistische"
d. h. ökonomische Auffassung entsteht. Es bedarf keines weiteren
Beweises, wie sehr diese ganze Auffassung von Wertgesichts-
punkten abhängig ist Daß sie sich nicht damit begnügt^ das
auf ihren absoluten Wert Bezogene für das Wesentliche anzu-
sehen, sondern daß sie nach Art des naiven Begriffsrealismus,
zu dem hier noch der gar nicht naive Begriffsrealismus der
Hegelianer hinzukommt, das Wesentliche zugleich als das
„eigentlich Wirkliche" betrachtet und dem ganzen übrigen Kul-
turleben nur eine Existenz geringeren Grades zugestehen will,
ändert nichts an der Sache. Dieser Fehler ist typisch für ge-
schichtsphilosophische Konstruktionen, die sich nicht klar ge-
worden sind, daß sie Werte als leitende Gesichtspunkte be-
nutzen, und er dient zugleich dazu, die Unklarheit über das
leitende Prinzip aufrecht zu erhalten, denn ist einmal die
Scheidung zwischen zwei verschiedenen Arten des Realen ge-
macht, und im wirtschaftlichen Leben, infolge eines Piatonismus
mit umgekehrtem Vorzeichen, die „eigentliche Ursache" von allen
anderen historischen Ereignissen gefunden, dann muß der Schein
entstehen, als konstatiere die materialistische Greschichtsauffassung
lediglich Tatsachen, wenn sie überall von dem wirtschaftlichen
108 GeBchichtsphilosophie.
Leben als der Grundlage ausgeht. Doch sind diese metaphysi-
schen Hypostasierungen des Wirtschaftlichen schließlich nur
Übertreibungen und würden sich beseitigen lassen, ohne den
geschichtsphilosophischen Kernpunkt des historischen Materialis-
mus zu berühren. Jedenfalls ist mit der Einsicht in die Wert-
prinzipien dieser Geschichtsauffassung zugleich der Gesichtspunkt
gegeben, von dem die Kritik auszugehen hat Die entscheidende
Frage besteht darin, ob es berechtigt ist, in dem Sieg des Pro-
letariats auf wirtschaftlichem Gebiete und somit in einem wirt-
schaftlichem Gut den absoluten Wert zu erblicken. Natürlich
soll diese Frage hier nicht entschieden werden. Man wird es
höchstens von vornherein als nicht sehr wahrscheinlich be-
zeichnen dürfen, daß diese unter parteipolitischen Gesichts-
punkten gewonnenen Wertprinzipien auch zur Deutung des
Sinnes der Universalgeschichte geeignet sind. Denn eine un-
übersehbare Fülle von menschlichen Bestrebungen und Taten
aller Jahrhunderte muß von diesem Standpunkt aus als gänzlich
sinnlos erscheinen.
Doch mit solchen Vermutungen kann es natürlich nicht sein
Bewenden haben. Gerade der Gedanke, daß die Geschichts-
philosophie nicht nur durch Analyse die Prinzipien der empiri-
schen geschichtswissenschaftlichen Werke und der geschichts-
philosophischen Konstruktionen klarzulegen hat, sondern auch
kritisch zu ihnen Stellung nehmen muß, sobald diese Prinzipien
auf universale Geltung Anspruch erheben, we|st darauf hin,
daß die Hauptaufgabe einer historischen Prinzipienwissenschaft
noch in einer ganz anderen Eichtung liegt Kritik ist immer
nur auf Grund eines Wertmaßstabes möglich, und femer
muß, um eine Geschichtsauffassung als einseitig bezeichnen
zu können, der Begriff einer allseitigen Auffassung in irgend
einem Sinne vorhanden sein. Zu einer selbständigen Wissenschaft
wird daher die Lehre von den Prinzipien des historischen Ge-
schehens sich nur dann entwickeln, wenn sie sowohl systematische
Vollständigkeit als auch kritische Begründung bei der Auf-
stellung der historischen Prinzipien anstrebt, d. h. sie muß sich die
Au&tellung eines Wertsystems zum Ziele setzen, und femer
kommt für sie nicht nur die tatsächliche Wertung, sondern auch
die Frage nach der Geltung der Kulturwerte in Betracht, und
dazu braucht sie einen absoluten Wert, an dem die tatsächlichen
Wertungen gemessen werden können. Dieser Wert wird dann
Greschichtsphilosophie. 109
zugleich auch den Gesichtspunkt abgeben, der bei der Auf-
stellung eines Weilsystems maßgebend ist, so daß die Probleme
einer Systematisierung und einer Geltung der Kulturwerte auf
das Engste zusammenhängen. Wie aber soll die Geschichts-
philosophie ein solches Wertsystem gewinnen, das es ihr er-
möglicht, den Sinn des gesamten geschichtlichen Verlaufes zu
deuten? Damit kommen wir zur letzten und zugleich wichtigsten
Frage der histoiischen Prinzipienlehre.
Es liegt der Gedanke nahe, diese Aufgabe einer besonderen
Art der psychologischen Untersuchung zuzuweisen. Freilich
nicht der „erklärenden" Psychologie, möge sie als „Individual-
psychologie" vom Seelenleben im allgemeinen, oder als Sozial-
psychologie vom sozialen Leben im besonderen nach naturwissen-
schaftlicher Methode handeln, sondern nur einer Psychologie der
Kulturwerte. Alle Geschichte handelt ja nicht nur im wesent-
lichen von Kulturmenschen, sondern wird ausschließlich von
Kulturmenschen geschrieben. Die Werte, welche der Kultur-
mensch allgemein anerkennt, müssen, so scheint es, zugleich die
Prinzipien einer universalen Geschichte der Kulturmenschheit
sein. Es ließe sich also eine Kulturpsychologie denken, welche
die Gesamtheit der allgemeinen Kulturwerte erforscht und syste-
matisch darstellt, und damit zugleich ein System der Prinzipien
des historischen Geschehens liefert, in dem alle die durch
Analjrse der historischen und geschichtsphilosophischen Werke
gewonnenen Wertsysteme ihren Platz finden, und an dem sie zu
messen sind. Das ist jedenfalls der tiefste, ja der einzige Sinn,
den man der Behauptung, daß die Psychologie die Basis för die
Geschichtsphilosophie sein müsse, geben kann, und dieser Sinn
liegt wohl auch dem von den Psychologen so gänzlich unver-
standenen Bemühen Diltheys zugrunde, das Programm für eine
„beschreibende und zergliedernde Psychologie" zu entwerfen,
die neben die „erklärende" Psychologie zu treten hat So be-
stechend jedoch der Gedanke erscheinen mag, der Geschichts-
philosophie auf diese Weise eine rein empirische und daher
sichere Grundlage zu verschaffen, so steht seiner Ausführung eine
unüberwindliche Schwierigkeit im Wege. Diese Kulturpsycho-
logie kann sich nicht auf die Untersuchung „des Kulturmenschen"
in dem Sinne beschränken, daß sie die allen Kulturmenschen
gemeinsamen Wertungen feststellt und systematisiert,
denn bei diesem generalisierenden Verfahren würde ein äußerst
110 Geschichtsphilosophie.
dürftiges Wertsystem herauskommen, in dem nnr wenig von den
Prinzipien einer Geschichte des historischen Universums ent-
halten sein könnte. Die Eulturpsychologie müßte sich vielmehr
an das historische Leben selbst in seiner ganzen Fülle und
Mannigfaltigkeit wenden, um alle Eulturwerte kennen zu lernen,
und wie sollte sie so zu leitenden Gresichtspunkten kommen, die
ihr eine Gliederung und Beherrschung dieses Materials ermög-
lichen ? Sie müßte, um in der Fülle der Wertungen das Wesent-
liche vom Unwesentlichen scheiden zu können, das bereits be-
sitzen, was sie erst suchen soll: nämlich die Kenntnis der Werte,
die Prinzipien einer universalen Geschichte und Prinzipien des
historischen Universums selbst sind. So gerät die Eultur-
psychologie als Geschichtsphüosophie in einen unentfliehbaren
Zirkel.
Dem Ziel einer systematischen Darstellung und Begründung
der historischen Prinzipien wird man sich auf rein empirischem
Wege durch bloße Analyse tatsächlich vorhandener Wertungen
überhaupt nicht nähern können. Es gilt vielmehr, sich zuerst^
ganz unabhängig von der Mannigfaltigkeit des historischen
Materials, auf das zu besinnen, was absolut gilt, und was Vor-
aussetzung jedes Werturteils ist, das auf mehr als individuelle
Geltung Anspruch erhebt. Erst wenn zeitlos gültige Werte
gefunden sind, kann man auf sie die ganze Fülle der empirisch
zu konstatierenden, in der Geschichte zur Entwicklung ge-
kommenen Eulturwerte beziehen und so eine systematische An-
ordnung und zugleich kritische Stellungnahme versuchen. Nur
dann also, wenn die Gewinnung üb er geschichtlicher Werte
möglich ist, läßt sich Geschichtsphilosophie als eine besondere
Wissenschaft von den Prinzipien des historischen Universums
treiben und der Sinn der Geschichte des Universums deuten.
Die Besinnung auf übergeschichtliche Werte aber gehört nicht
mehr in das Gebiet der Geschichtsphilosophie als einer philo-
sophischen Spezialdisziplin, sondern kann nur im Zusammenhange
mit der Aufstellung eines Systems der Philosophie überhaupt
unternommen werden. Es sieht sich also die Geschichtsphilo-
sophie als Prinzipienwissenschaft angewiesen auf das Ganze der
philosophischen Untersuchungen, insbesondere auf die Lehre vom
Sinn der Welt, oder, falls die Frage danach keine wissenschaft-
liche Frage sein sollte, auf die Lehre vom Sinn des Menschen-
lebens. Die Grundlagen der Geschichtsphilosophie fallen daher
Oeschichtsphflosophie. 111
mit den Gmndlag^en einer Philosophie als Wertwissen-
schaft überhaupt zusammen.
Nor bis zu diesem Punkte kann die Untersuchung geführt
werden, um den Begriff der Oeschichtsphilosophie als der Lehre
von den historischen Prinzip\en im allgemeinen festzustellen.
Die Frage, ob die Aufstellung absoluter Werte noch zu den
Aufgaben der Wissenschaft gerechnet werden kann, ist an dieser
Stelle nicht zu beantworten, denn sie ist identisch mit der Frage
nach dem Begriff der wissenschaftlichen Philosophie überhaupt.
Hier kam es nur darauf an, zu zeigen, daß Gesetze nicht Prin-
zipien der Geschichte sein können, daß daher, wenn es außer der
Logik der Geschichte noch geschichtsphilosophische Probleme
geben soll, diese Probleme sich zu der Frage nach dem Sinn
der Geschichte zusammenschließen müssen, und daß die Deutung
dieses Sinnes eines Wertmaßstabes von übergeschichtlicher Gel-
tung bedarf. Nur das sei noch hinzugefügt, daß die Philosophie
als kritische und systematische Wertwissenschaft keinen inhalt-
lich bestimmten absoluten Wert als Maßstab vorauszusetzen
braucht Gelingt es auch nur, einen rein formalen unbedingten
Wert zu gewinnen, so kann dann der ganze Inhalt des Wert-
systems dem geschichtlichen Leben entnommen werden, obwohl
dieses seinem Begriffe nach unsystematisch ist. Ja, die Ge-
schichtsphilosophie, welche nach dem Sinne der Geschichte fragt,
wird sich rein formaler Wertprinzipien bedienen müssen, gerade
weil diese Prinzipien geeignet sein sollen, für alles geschicht-
liche Leben zu gelten. Freilich läßt sich unter dieser Voraus-
setzung dann auch nur ein Wertsystem denken, das systematische
Vollständigkeit ebenfalls allein nach der formalen Seite hin be-
sitzt, in bezug auf seinen Inhalt dagegen niemals abgeschlossen
werden kann, weil sich immer neues geschichtliches Leben ent-
wickelt, und damit immer neue inhaltlich bestimmte Eulturwerte
entstehen, die in dem System ihre Stellung finden müssen. Das
Wertsystem kann also mit Rücksicht auf seinen Inhalt nur in-
sofern systematisch genannt werden, als der systematische Ab-
schluß sich uns als eine ebenso notwendige wie unlösbare Auf-
gabe darstellt, und der Gegenstand der Geschichtsphilosophie als
Prinzipienwissenschaft ist deshalb eine „Idee'' im Eantischen
Sinne, wie überall, wo der Gegenstand das Unbedingte in der
Fülle seines Inhalts ist. An der Realisierung der Idee eines
solchen Wertsystems hätten also alle Zeiten zu arbeiten mit dem
y
112 GeBchichtsphilosophie.
Bewußtsein, daß sie diese Arbeit nie vollenden werden. Das
aber bebt die Bedeutung dieser Arbeit nicht auf. Im Gegenteil,
wer sich zu ihr entschließt, wird Mut sowohl aus einem Blick
in die Vergangenheit als auch aus einem Blick in die Zukunft
schöpfen. Sehen wir von all den Problemen ab, die im Laufe
der Jahrhunderte sich von der Philosophie losgelöst haben und
den SpezialWissenschaften zugewiesen worden sind, so zeigt sich,
daß alle bedeutenden Philosophen für ein System von Werten
in dem angegebenen Sinne zu arbeiten gesucht haben, denn sie
alle haben nach dem Sinn des Lebens gefragt, und schon diese
Frage setzt einen absoluten Wertmaßstab voraus. So sind sie
alle als Vorläufer anzusehen. Der Umstand aber, daß diese
Grundfrage aller Philosophie nicht nur nicht beantwortet ist,
sondern in inhaltlicher Vollständigkeit auch niemals ganz be-
antwortet werden kann, solange neues geschichtliches Leben ent-
steht, ist ebenfalls nur ein Grund, die Bedeutung der Arbeit an
ihrer Beantwortung zu erhöhen, denn das Bewußtsein von der
eben so großen Notwendigkeit wie von der ünlösbarkeit einer
Aufgabe gibt uns die Sicherheit ihrer „Ewigkeit^ und damit
den Fichteschen Trost, daß diejenigen, die an der Lösung dieser
Frage mit arbeiten, durch diese ihre Arbeit „ewig** werden, wie
die Aufgabe selbst es ist.
IIL
Die Geschichtsplillosopliie als Universal-
geschlchte.
Jetzt können wir uns schließlich den Problemen der dritten
Disziplin zuwenden, die auf den Namen der Geschichtsphilo-
sophie Anspruch erhebt Sie will im Gegensatz zu den histori-
schen SpezialWissenschaften eine allgemeine Geschichte
geben, d. h. die historische „Welt'', oder das historische Uni-
versum darstellen. Wie soll sie dieses Ziel erreichen? Besteht
ihre Aufgabe etwa darin, die spezialwissenschaftlichen Darstel-
lungen zu einem Ganzen zusammenzufassen, und, wenn auf diesem
Wege ein wirklich geschlossenes Ganzes nicht zu gewinnen ist,
die Lücken, welche die spezialwissenschaftliche Forschnng in
der Universalgeschichte noch läßt, mit mehr oder weniger hypo-
Qeschichtsphiloflophie. 113
thetischen Gebilden anszofUlen? Bloße Zusammenfassung kann
als selbständige wissenschaftliche Arbeit nicht gelten^ und der
Versuch, dort Vermutungen aufzustellen, wo die Einsicht der
Spezialforscher zu wirklich begründeten Annahmen nicht mehr
ausreicht^ mUBte den Spott aller Historiker herausfordern. Eine
solche Geschichtsphilosophie ist schon deswegen zum mindeste
überflüssig, weil ja von den Historikern selbst Universalge-
schichte geschrieben wird. So gewiß also die Philosophie über-
haupt, nachdem jedes besondere Gebiet der Welt von einer Spe-
zialwissenschaft für sich in Anspruch genommen worden ist, als
Seinswissenschaft keine selbständigen Aufgaben mehr hat^ die
sich auf die empirische Wirklichkeit beziehen, so gewiß kann
eine Gesamterkenntnis des geschichtlichen Ganzen, die sich nur
dadurch von den spezialwissenschaftlichen Untersuchungen unter-
scheidet, daß sie sich nicht auf einen Teil beschränkt^ keine
Aufgabe der Geschichtsphilosophie mehr sein. Nicht nur die
Darstellung geschichtlicher Sondergebiete, sondern auch die Uni-
versalgeschichte muß als historische Wissenschaft ausschließ-
lich den hier allein kompetenten Historikern überlassen werden,
ebenso wie über das Sein der Natur, im allgemeinen wie im be-
sonderen, nur die Männer der empirischen Forschung etwas
wissenschaftlich feststellen dürfen. Die Philosophie würde sich
lächerlich machen, wenn sie glaubte, hier mehr als jene leisten
zu können.
Aber damit ist die Frage nach einer philosophischen Behand-
lung des von der Gesamtheit der empirischen Geschichtswissen-
schaften dargestellten Stoffes noch nicht entschieden. Auch wenn
nicht nur die Formen, sondern zugleich der Inhalt des historischen
Ganzen in Betracht kommt, hat die Philosophie ihm gegenüber
eine Aufgabe, die von keiner empirischen Geschichtswissenschaft
in Angriff genommen werden kann, und gerade der Umstand,
daß Universalgeschichte von Historikern rein historisch ge-
schrieben wird, vermag zur Bestimmung dieser philosophischen
Aufgabe zu dienen. Versuchen wir daher, auf Grund der Ein-
sicht in das logische Wesen der Geschichtswissenschaft zunächst
den Begriff einer empirischen Darstellung der Universalgeschichte
klar zu machen und dann zu sehen, welche Fragen, die die
Historiker als Historiker nicht beantworten können, für die
Philosophie noch übrig bleiben.
Die „Weltgeschichte**, wie sie z. B. Ranke geschrieben hat,
Windelbftnd.Die Philosophie im Beginn des M. Jahrh. II. Bd. 8
114 Oeschiditspliilosophie.
unterscheidet sich der Art nach durch nichts von seinen Dar-
stellungen besonderer Objekte, und so hat ihr Verfasser es auch
gewollt Er war ja, wie Dove berichtet, der Überzeugung, daß
„zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden könne als Uni-
versalgeschichte'^, und jedenfalls ist ihm die „Weltgeschichte"
aus seiner spezialwissenschaftlichen Arbeit ohne Hinzufugung
eines neuen Prinzipes herausgewachsen. Wichtig ist dabei fAr
uns vor allem, zu sehen, was Ranke als Historiker unter der
historischen „Welt", unter dem Ganzen versteht, das er be-
handelt. Er sagt einmal, der Drang nach Erkenntnis werde
von der Überzeugung, da£ nichts Menschliches ihm fem und
fremd sei, zur Umfassung des ganzen Kreises aller Jahrhunderte
und Reiche fortgerissen. Aber tatsächlich ist er weit davon
entfernt, alle Jahrhunderte und alle Reiche in seiner Welt-
geschichte zu behandeln, und er würde dies auch dann nicht
getan haben, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sein Werk
zum Abschluß zu bringen. Bemerkt er doch einmal, als er da-
von spricht, daß es nicht der Beruf Alexanders gewesen, Indien
zu durchziehen und die Osthälfte Asiens zu entdecken, diese sei
„noch lange Jahrhunderte hindurch nicht in den Kreis der
Weltgeschichte gezogen worden". Rankes „Universum" ist nur
als ein Teil der uns bekannten Geschichte der Menschheit zu
bestimmen, und nicht etwa als das letzte umfassendste historische
Ganze im logischen Sinne, ja, seine Forderung einer universal-
geschichtlichen Behandlung des historischen Stoffes besteht im
wesentlichen nur darin, daß er sich nicht auf ein einzelnes Volk
beschränken, sondern den Zusammenhängen nachgehen will,
welche die verschiedenen Völker eines bestimmten Kulturkreises
miteinander verknüpfen. Eine begriffliche Feststellung des
historischen Universums hat Ranke aber nicht nur tatsächlich
nicht versucht, sondern er konnte es auch nicht, wenn er
Historiker bleiben wollte. Erstens nämlich ist diese Aufgabe
nur mit Hilfe eines Systems von Kulturwerten in dem ange-
gebenen Sinne zu lösen, dessen Aufstellung dem Historiker ganz
fern liegt, und zweitens muß sich der „historische Sinn" nicht
nur gegen historische Gesetze, sondern auch gegen jede andere
Art von Systematik sträuben, denn sie würde ihn der Freiheit
und Weite der Betrachtungsweise berauben, deren er zur un-
befangenen Auffassung jedes geschichtlichen Ereignisses in
seiner Eigenart bedarf. Alle Historiker werden daher, auch
QeschichtspliiloBophie. 115
wenn sie Universalgeschichte schreiben und dabei Historiker
bleiben, im Prinzip nicht anders als Sänke verfahren. Dieser an-
gebliche Mangel ist neuerdings in einer auf ^ethnogeographischer^
Grundlage ruhenden „Weltgeschichte" scharf hervorgehoben.
Aber hat dieser Versuch, alle Teile der Erde geschichtlich zu
behandeln, im Prinzip wirklich etwas geändert? Als systema-
tische Abgrenzung des historischen Universums kann er jeden-
falls nicht gelten. Ja, was die Geschichte dabei an äußerlicher,
quantitativer Allgemeinheit gewinnt, geht ihr, weil das leitende
Prinzip kein Eulturbegriff ist, an innerer Einheit notwendig ver-
loren.
Der unvermeidliche „Mangel" jeder rein historischen Dar-
stellung der Universalgeschichte weist uns zugleich auf die
Aufgaben einer philosophischen Behandlung des historischen
Universums hin. Im Gegensatz zur Geschichte wird die Philo-
sophie das Streben nach Systematisierung niemals aufgeben.
Selbstverständlich hat sie sich, so weit die historischen Tat-
sachen in Frage kommen, stets auf die empirische Geschichts-
wissenschaft zu stützen und sich ihrer Autorität bedingungslos
zu unterwerfen. Im übrigen aber kann sie in allen rein histo*-
rischen Darstellungen, mit Einschluß der umfassendsten, nur
Material sehen, das sie in ihrer Weise systematisch gestaltet
Sie vermag dies freilich nur, wenn sie als Prinzipienwissenschafb
ihre Aufgabe mehr oder weniger gelöst hat. Ist aber auch nur
der Ansatz zu einem kritisch begründeten System der Kultur-
werte in dem angegebenen Sinne gewonnen, dann kann sie auch
den Inhalt der Geschichte so auffassen, daß dadurch zwar kein
System allgemeiner Begriffe wie in einer generalisierenden
Wissenschaft, wohl aber eine systematische Abgrenzung und
Gliederung des historischen Universums entsteht. Was die Ab-
grenzung betrifft, so fällt unter den Begriff des letzten histori-
schen Ganzen alles, was mit Rücksicht auf die kritisch begründ-
baren, also mehr als empirisch allgemeinen Eulturwerte durch
seine Individualität wesentlich ist. Freilich kann das so ent-
stehende historische Universum nur eine „Idee" im Eantischen
Sinne sein, d. h., ebenso wie das System der Eulturwerte selbst,
inhaltlich niemals definitiv abgeschlossen werden, und es gehört
daher, um mit Medicus zu reden, in die „transzendentale Dia-
lektik" einer Eritik der historischen Vernunft. Aber dieser
Umstand hebt die Selbständigkeit seiner systematischen, ge-
116 aeBchichtsphiloeophie.
schichtsphilosophischen Behandlung nicht auf. Ja, die Beziehung
auf das Wertsystem ermöglicht zugleich auch eine Gliederung
des historischen Ganzen, d. h. es lassen sich bestimmte Teile als
seine wichtigsten Glieder, als seine „Epochen^ oder ^yPerioden"^
gegeneinander abgrenzen und so ordnen, daß der Sinn der Ge-
schichte nicht nur in einer abstrakten Wertformel, sondern auch
in der Darstellung der Entwicklung selbst zum Ausdruck kommt
Es mu£ sich in einer solchen Gteschichtsphilosophie auch die
Auswahl des Wesentlichen von der unterscheiden, die die empi-
rischen Wissenschaften vollziehen, denn sobald nicht alle empi-
risch allgemeinen Eulturwerte, sondern nur noch diejenigen in
Betracht kommen, die in dem Wertsystem ihre Begründung ge-
funden haben, wird die Fülle des historischen Details zurück-
treten und nur noch von den „großen^ Epochen oder Perioden
die Bede sein.
Worin man die Träger dieser Epochen sehen wiU, ob in
einzelnen Persönlichkeiten oder in Massenbewegungen, kann
natürlich wiederum nur von Fall zu Fall entschieden werden,
und ebenso läßt sich die Frage, ob die umfassendsten Glieder
des einmaligen Entwicklungsprozesses verschiedene Zeitalter
sind, die aufeinander folgen, oder verschiedene Volksindividuen,
die zum Teil gleichzeitig zusammenwirken, vor der historischen
Untersuchung nicht beantworten. Hier kommt es nur darauf
an, den systematischen Charakter einer philosophischen Behand-
lung desselben Gegenstandes klarzulegen, den die Geschichts-
wissenschaften historisch behandeln, und dadurch die Geschichts-
philosophie scharf von den empirischen Geschichtswissenschaften
abzugrenzen. Auch mit der Geschichte selbst mu£ die Philosophie
in dem angegebenen Sinne ungeschichtlich verfahren. Ranke hatte
daher Recht, wenn er sich im G^ensatz zu den von Philosophen
unternommenen universalgeschichtlichen Konstruktionen fühlte
und einen Einbruch der Philosophie in das Gebiet des Historikers
fürchtete. Er ist jedoch in seinem Urteil der Geschichtsphilo-
sophie nicht gerecht geworden, weil er den angegebenen Unter-
schied mehr fühlte, als begrifflich scharf zu formulieren ver-
mochte. Er hat selbst, wenn auch nicht in seiner „Welt-
geschichte", so doch in seinen Vorträgen „über die Epochen der
neueren Geschichte" etwas versucht, was einer Philosophie der
Geschichte in gewisser Hinsicht nahe kommt Doch ist diese
Darstellung für eine Philosophie viel zu historisch ausgefallen
Geschichtsphilosophie. 117
und stellt sich so als eine Übergangs- oder Mischform dar, die
selbstTerständlich als Kundgebung einer genialen Persönlichkeit
damit nicht das geringste an Wert verliert, aber doch mit
Bücksicht auf ihre logische Struktur als Übergangsform be-
zeichnet werden muß. Sie will nämlich in gewisser Hinsicht
systematisch sein und erkennt zugleich die Voraussetzungen, die
keine geschichtsphilosophische Systematik entbehren kann, zum
Teil nicht an. Sie zeigt uns gerade dadurch, wie nötig es ist,
begrifflich scharf zwischen empirischer, unsystematischer Qe-
schichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie zu unterscheiden.
Ist dies geschehen, und vermeidet der Geschichtsphilosoph jeden
Einbruch in die historischen Wissenschaften, so hat seine syste-
matische Betrachtungsweise der geschichtlichen G^samtentwick-
lung neben der historischen und unsystematischen Darstellung
des geschichtlichen Lebens ihr unbezweifelbares Becht
Damit jedoch diese Scheidung und zugleich auch die Not-
wendigkeit dieser Art von Geschichtsphilosophie vollkommen
deutlich wird, ist noch ein zweiter Punkt zu berficksichtigen,
der mit dem Streben nach Systematisierung aufs engste zu-
sammenhängt Zum Wesen des historischen Sinnes gehört nicht
nur die Systemlosigkeit, sondern es setzt die unbefangene Auf-
fassung des geschichtlichen Verlaufs auch einen Glauben an das
„Becht^ jeder geschichtlichen Wirklichkeit voraus. Deshalb mufi
der Historiker sich als Historiker des direkten Werturteils über
seine Objekte zu enthalten suchen, und deswegen muß die Logik
der Geschichte die theoretische Wertbeziehung scharf von der
praktischen Wertung trennen. Die Philosophie dagegen, welche
kritisch zu den Eulturwerten Stellung zu nehmen hat, weiß von
einem „Bechte'', das dem Geschichtlichen als solchem zukommt,
nichts, und ebenso entschieden, wie sie das rein historische Ver-
fahren der Einzelforschung anerkennt, ist für sie der Historis-
mus als Weltanschauung ein Unding. Dieser Historismus,
der sich so positiv dünkt, erweist sich als eine Form des Bela-
tivismus und Skeptizismus und kann, kopsequent zu Ende ge-
dachty nur zum vollständigen Nihilismus fähren. Den Schein
meidet er dadurch allein, daß er an irgend einer Gestaltung der
geschichtlichen Mannigfaltigkeit haften bleibt, das „Becht des
Geschichtlichen'' an sie knttpft und sich dann aus ihr eine Fälle
des positiven Lebens herholt. Das unteracheidet ihn zwar von
dem abstrakt formulierten Belativismus und Nihilismus, hebt ihn
118 Geschichtsphilosophie.
aber im Prinzip in keiner Weise fiber diesen hinaus. Er mfiBte,
wenn er konsequent wäre, das Recht des Geschichtlichen jedem
beliebigen historischen Sein zugestehen, und deshalb darf er
nirgends haften, gerade weil er überall haften sollte. Er macht
als Weltanschauung die vollkommene Prinzipienlosigkeit zum
Prinzip und ist daher von der Geschichtsphilosophie auf das
entschiedenste zu bekämpfen.
In der Auffassung des historischen Universums zeigt sich
der Gegensatz zum Historismus darin, da£ die Geschichtsphilo-
sophie die historische, rein theoretisch wertbeziehende Betrach-
tungsweise zugunsten der kritischen Wertung verläßt Was das
bedeutet, kann man sich am besten daran klar machen, daß durch
sie der Begriff des Fortschritts wieder zu seinem Rechte
kommt. Diese Kategorie gehört gewiß nicht unter die Prin-
zipien der empirischen Geschichtswissenschaft. Sie würde ebenso
wie die Beziehung auf ein Wertsystem die unbefangene Würdi-
gung der geschichtlichen Vorgänge in ihrer Eigenart aufheben
und die Vergangenheit, wie Ranke mit Recht gesagt hat, mediati-
sieren. Die Geschichtsphilosophie dagegen kann diese Kategorie,
um sich über den Nihilismus des Historismus zu erheben, gar
nicht entbehren. Sie hat im Zusai^amenhang mit der Gliederung
des historischen Universums die verschiedenen Stadien des ein-
maligen Entwicklungsprozesses mit Rücksicht darauf zu beur-
teilen, was sie für die Realisierung der kritisch begründeten
Werte geleistet haben. Zu diesem Zwecke muß sie, im bewußten
Gegensatz zur rein historischen Betrachtung, die Vergangenheit
um der Gegenwart und der Zukunft willen nicht nur mediati-
sieren, sondern richten, d. h. ihren Wert messen an dem, was sein
soll Selbstverständlich ist die Frage, ob der Verlauf der Ge-
schichte überall oder auch nur in einigen seiner Teile eine konti-
nuierliche Fortschrittsreihe oder Wei-tsteigerung darstellt, erst
durch die Untersuchung selbst zu beantworten. Es besteht von
vornherein ebenso die Möglichkeit eines kontinuierlichen Rück-
schrittes, oder eines Auf- und Abwogens, eines Wechsels von
Fortschritt und Entartung. Ja, es ist denkbar, daß sich weder
ein Aufsteigen noch ein Niedergang im geschichtlichen Leben
mit Rücksicht auf die Werte nachweisen läßt. Aber wie auch
die Entscheidung hierüber ausfallen möge, jedenfalls sind alle
Philosophen, die sich wirklich mit der Geschichte, d. h. mit der
einmaligen menschlichen Kulturentwicklung individualisierend
GeaehichtsphiloBophie. 119
beschäftigt und nicht nur als Soziologen Gesetze des gesell-
schaftlichen Lebens gesucht haben, mit einem Wertmaßstab an
die Betrachtang des historischen Verlaufes herangegangen,
und konnten dadurch allein die Epochen des geschichtlichen
Universums gliedern und beurteilen. Auch ein Philosoph wie
Schopenhauer, der von der Geschichtsphilosophie nichts wissen
wollte, weil die geschichtliche Entwicklung ihm keinen Fort-
schritt zeigte und deshalb g&nzlich sinnlos erschien, hat Ge-
schichtsphilosophie in dem angegebenen Sinne getrieben und ist
nur durch sein rein negatives Resultat^ nicht aber mit Kttcksicht
auf die Stellung des geschichtsphilosophischen Problems, von
den anderen Geschichtsphilosophen im Prinzip verschieden. Das
systematische und zugleich wertende Wesen der philosophischen
Behandlung des historischen Universums kann nur dort unklar
bleiben, wo man, wie so oft, Sein und Sollen, Wirklichkeit und
Wert nicht zu unterscheiden vermag, oder wegen des herrschen-
den Mißtrauens gegen wissenschaftliche Wertbegrnndung die
Werturteile nur versteckt auszusprechen wagt, um den Anschein
einer rein betrachtenden Behandlung hervorzurufen. Das Auf-
spüren der Werturteile und der Nachweis ihrer prinzipiellen Un-
entbehrlichkeit wird wegen der heute weit verbreiteten Unklar-
heit und Verschwommenheit auf diesem Gebiete eine um so
dringendere Aufgabe der Philosophie.
Doch diese Ausführungen haben nur den Zweck, zu zeigen,
welche Aufgabe für die Philosophie neben der empirischen Ge-
schichtswissenschaft entsteht, sobald sie ein System der Kultur-
werte als Idee voraussetzen darf. Eine Andeutung über die
Ausf&hrung könnte nur im Zusammenhange mit einem System
der Philosophie eiuerseits und mit den Resultaten historischer
Wissenschaften andererseits gegeben werden, und das ist hier
nicht möglich. Damit jedoch die Darlegung nicht ganz schema-
tisch bleibt, blicken wir an dieser Stelle einmal auf die Ver-
gangenheit der Geschichtsphilosophie zurück. Eine Vergleichung
der früher aufgestellten Begriffe des historischen Universums
und der daraus sich ergebenden philosophischen Universalge-
schichte mit der jetzt noch haltbaren Gestaltung dieser Diszi-
plin kann vielleicht am besten zur Beleuchtung der gegen-
wärtigen Lage dienen. Das Anknüpfen an die Vergangenheit
ist hier femer auch deswegen von Vorteil, weil wir es jetzt mit
der Gestalt der Probleme zu tun haben, in der die Philosophie
120 Gesehiehtsphiloiophie.
der Geschichte am frühesten und am meisten die Menschen be-
schäftigt hat, and weil deshalb durch den Rückblick sich zu-
gleich zeigen muß, wie wenig willkürlich unsere an der Logik
orientierte Art der geschichtsphilosophischen Betrachtungsweise
ist. Denn es wird sich ergeben, daß wir schließlich auch durch
sie auf die Probleme hinauskommen, die sonst als die Haupt-
probleme der Greschichtsphilosophie gegolten haben.
Schon oft ist hervorgehoben und besonders von Dilthey ge-
zeigt worden, daß, wenn auch nicht der Begriff der Geschichte
überhaupt, so doch der des historischen Universums den Griechen
fremd war, und daß erst durch das Christentum der Ge-
danke an eine „Weltgeschichte^ im strengen Sinne des Wortes
möglich wurde. Entscheidend ist dabei die Vorstellung von der
Einheit des Menschengeschlechts. Sie erscheint der Hauptsache
nach hergestellt durch die Beziehung der verschiedenen Teile
auf Gott. Denn alle Völker sollen Gott suchen, und dadurch
wird das Menschengeschlecht in seiner einmaligen Entwicklung
zur Idee eines geschlossenen Ganzen. Gott hat die Welt und
den Menschen geschaffen, und zwar stammen alle Menschen von
einem Paare ab. So beginnt die Weltgeschichte an einem be-
stimmten Zeitpunkte, und mit dem Weltgericht wird sie enden.
Dies entscheidet dann, wie weit die Entwicklung ihre Aufgabe
erfüllt, ihren Sinn zum Ausdruck gebracht hat Sündenfall und
Erlösung sind es, welche die Epochen dieses Verlaufes so glie-
dern, daß ein Reihe von Entwicklungsstufen entsteht Es ist
klar, wie sich auf dieser Grundlage eine Universalgeschichte
darstellen läßt, in der jedes Ereignis, das mit Rücksicht auf den
Sinn der Geschichte bedeutsam ist^ zum Gliede des Ganzen, zur
Entwicklungsstufe eines einheitlichen Zusammenhanges wird.
Doch fehlt für die Ausgestaltung des Bildes im ein-
zelnen noch ein wesentliches Moment. Anfangs mochte man sich
in der christlichen Philosophie um die Probleme der äußeren
Welt wenig kümmern, aber allmählich verbinden sich die reli-
giösen Vorstellungen auf das innigste mit einem bestimmten, im
wesentlichen der Antike entnommenen Bilde vom Kosmos. Der
Verlauf des Ganzen ist nun nicht nur zeitlich durch Schöpfung
und Weltgericht begrenzt, sondern auch auf einen räumlich über-
sehbaren Schauplatz verlegt. Man denke z. B. an die Welt Dantes,
eine Welt, die man in ihrer Totalität zeichnen kann. Sie bildet
eine in sich geschlossene Engel, in deren Mitte der Schauplatz
GeschichtsphiloBophie. 121
der Weltgeschichte, die Erde ruht Über dieser Engel, räumlich
Yon ihr getrennt, ist der Sitz Gtottes. Ihm zugewandt auf der
Erde Jerusalem usw. usw. Unter solchen Voraussetzungen darf
man wirklich yon einer „Weltgeschichte'' im strengen Sinne des
Wortes sprechen, und in dem genau begrenzten Bahmen der an-
gedeuteten Vorstellungsweise läßt sich auch ein anschauliches
Bild dieser Weltgeschichte entwerfen. Während der Blick der
griechischen Denker entweder auf dem ewigen Rhythmus des
Geschehens ruhte, oder sich dem Bilde eines Reiches übernatür-
licher, aber ebenfalls ganz ungeschichtlicher, zeitloser Formen
zugewendet hatte, sah man nun in dem einmaligen, auf Gott be-
zogenen Werdegang der Welt ihr eigentliches Wesen. Die
Mannigfaltigkeit der auf diesem Boden unternommenen geschichts-
philosophischen Versuche kümmert uns hier nicht Daß ihr Be-
griff und ihre Gliederung des historischen Universums logisch
dieselbe Struktur zeigen wie der früher erörterte Begriff und die
Gliederung des letzten historischen Ganzen, leuchtet ein, und daß
insbesondere ihre Grundprinzipien Wertbegriffe sind, das ist
schon durch einen Hinweis auf ihren religionsphilosophischen
Charakter klar : Gott ist der absolute Wert. Die Weltgeschichte
will eine Art von „Weltgerichf* sein, und zwar in einem Sinne,
den dieses Wort bei Schiller nicht hat Sie will gewissermaßen
vorläufig eine Abrechnung über den Wert des geschichtlichen
Verlaufes geben, die dann durch Qott beim letzten Weltgericht
endgültig erfolgen soll.
Uns interessiert sodann weiter, was allen diesen geschichts-
philosophischen Versuchen schließlich den Boden entzogen hat.
Es ist zum großen Teil die beim Beginn der modernen Welt
erfolgte Umwandlung in den Vorstellungen vom Kosmos, jene
Umwandlung, die deswegen auch heute noch von Bedeutung ist,
weil sie im Prinzip das Weltbild schuf, in dem wir das defi-
nitive, jeden£Edls das bis jetzt allein wissenschaftlich haltbare
sehen müssen. Entscheidend ist dabei, wie besonders Riehl dar-
gestellt hat, nicht so sehr die Vertanschung des geozentrischen
Standpunktes mit dem heliozentrischen, denn mit der veränderten
Lage der Erde innerhalb der Weltkugel hätte sich wohl ein
Kompromiß schließen lassen. Entscheidend ist vielmehr die
Zerstörung des Gedankens an einen geschlossenen, übersehbaren
Kosmos überhaupt Giordano Brunos Lehre von der Unend-
lichkeit der Welt war es, an der jede Geschichtsphilosophie,
122 Geschichtsphilosophie.
die „Weltgeschichte" im strengen Sinne des Wortes sein wollte,
scheitern maßte. Von dem zeitlich und ränmlich Grenzenlosen
gibt es nur noch Gesetzeswissenschaft, und der Ausdruck Welt-
geschichte verliert so für alle Zeiten seine eigentliche Bedeutung.
Damit wird zugleich der Begriff eines historischen Ganzen über-
haupt zum Problem, und es scheint sich zunächst kein Weg zur
Lösung zu bieten. Auch die Geschichte der menschlichen „Welt^'
ist nicht mehr jene in ihrer Individualität notwendig auf den
absoluten Wert bezogene Einheit Ihr Schauplatz, die Erde, hat
im unendlichen AU ihre Bedeutung verloren. Sie ist zum gleich-
gültigen Gattungsexemplar geworden, und ebenso gleichgültig
wird unter gesetzeswissenschaftlichen Perspektiven alles Ein-
malige und Besondere, das sich auf ihr abspielt. Es ist wichtig,
hervorzuheben, da£ alle diese Wandlungen im Prinzip bereits
durch die Lehren von Eopernikus und Giordano Bruno gegeben
sind und nicht etwa erst, wie viele meinen, durch die moderne
Biologie. Die Deszendenztheorie ist für die SpezialWissenschaft
gewiß von außerordentlichem Wert Daß sie keine positiven
philosophischen Prinzipien für eine geschichtliche Betrachtung
zu liefern vermag, wurde bereits gezeigt, und wir müssen jetzt
hinzufügen, daß sie nicht einmal mehr wesentliche Bestandteile
der alten Geschichtsphilosophie zu zerstören vorfindet, wenigstens
für den nicht, der auch nui* den Gedanken der zeitlichen Un-
begrenztheit der Welt zu Ende gedacht hat Unter den Natur-
wissenschaften ist also wirklich bedeutsam für Weltanschauungs-
fragen nicht die Biologie, sondern die Astronomie gewesen, und
auch diese hat, wenigstens für die geschichtsphilosophischen
Probleme, lediglich eine negative Bedeutung gehabt
Ja, wir können sagen, daß der entscheidende Schritt für
die neue und positive Wendung in der Behandlung der geschichts-
philosophischen Probleme bereits getan war, ehe die entwick-
lungsgeschichtliche Biologie es auch nur zu ihren ersten An-
sätzen gebracht hatte, denn diese Wendung ging, wie überall,
wo es sich um die letzten Grundlagen unseres philosophischen
Denkens handelt, von Kant aus, den man heute wunderlicher-
weise durch den Darwinismus glaubt widerlegen zu können, und
zwar von der ganz eigenartigen Leistung, die in der Verknüpfung
der erkenntnistheoretischen mit den ethischen Problemen steckt
Seine Erkenntnistheorie hat Kant selbst mit der Tat des Eoper-
nikus verglichen, und wir können diesen Vergleich noch in einer
GheschichtsphiloBopliie. 123
anderen Richtung verfolgen. Der transzendentale Idealismus
bedeutete nämlich gerade wegen des „kopemikanischen Stand-
punktes" eine Umkehr auf dem Wege, den die Philosophie auf
Grund des neuen Weltbildes der Astronomie glaubte einschlagen
zu müssen. Aber, und das ist das Entscheidende, eine Umkehr,
welche das neue Weltbild selbst gänzlich unangetastet lä£t und
es trotzdem ermöglicht, die alten Probleme wieder aufzunehmen.
Durch Eant wird der Mensch, unter voller Anerkennung der
modernen Naturwissenschaft, wieder in den „Mittelpunkt** der
Welt gestellt. Freilich, nicht räumlich, aber in einer far die
Probleme der Geschichtsphilosophie noch viel bedeutsameren
Weise. Es „dreht sich** jetzt wieder alles um das Subjekt
Die „Natur" ist nicht die absolute Wirklichkeit, sondern ihrem
allgemeinen Wesen nach durch subjektive Auffassungsformen be-
stimmt, und gerade das „unendliche" Weltall ist nichts anderes
als eine „Idee" des Subjekts, der Gedanke einer ihm notwendig
gestellten und zugleich unlösbaren Aufgabe. Dui*ch diesen
„Subjektivismus" sind die Fundamente der empirischen Natur-
wissenschaft nicht etwa angetastet, sondern nur noch mehr be-
festigt, die Fundamente des Naturalismus als Weltanschauung,
der jeden Sinn des Historischen leugnet, dagegen völlig unter-
graben. Und diese Zerstörungsarbeit, welche zunächst die
Hindemisse für die Auffassung eines Seins als Geschichte hin-
wegräumt, wird dadurch um so bedeutsamer, daß sich, infolge
der engen Verbindang der Erkenntnistheorie mit der Ethik,
daran sofort die Grundlegung fär einen positiven geschichts-
philosophischen Aufbau anschließt. Der Mensch steht nicht
nur mit seiner theoretischen Vernunft im Zentrum der „Natur",
sondern er erfaßt sich mit seiner praktischen Vernunft zugleich
unmittelbar als das, was dem Kulturleben einen objektiven Sinn
gibt, nämlich als pflichtbewußte, autonome, „freie" Persönlichkeit^
und diese praktische Vernunft hat den Primat. Was will dem
gegenüber die Tatsache noch bedeuten, daß der Schauplatz der
Geschichte räumlich und zeitlich ein vers6hwindend kleines
Teilchen an irgend einem gleichgültigen Punkte des Weltganzen
ist? Für das theoretisch und praktisch „Gesetze" gebende,
autonome Subjekt sind diese räumlichen und zeitlichen Verhält-
nisse bei der Behandlung von Wertfragen jetzt vollständig
gleichgültig geworden. Der autonome Mensch läßt der Wissen-
schaft, die das alte Weltbild zerstört hat, bei der Erforschung
124 QeschiohtsphiloBophie.
der „Natnr^, mit EinschlaB des psychischen Lebens, jede beliebige
Freiheit. Doch nie wird er zugeben, daß diese Wissenschaft
vom Sein der Dinge irgend etwas über Wert oder Unwert, über
Sinn oder Sinnlosigkeit des Weltlanfes mitzureden habe, denn
er ist sich als praktische Vemonft seiner „Freiheit^' als des wahren
Sinnes der Welt und ihrer Geschichte absolut gewiß.
Kant selbst hat ein System der Geschichtsphilosophie nicht
geschaffen, aber auf dem Boden seines Denkens ist eines nach
dem anderen emporgewachsen, und hierin haben wir gewiß nicht
eine unwesentliche Wirkung zu sehen. Der einmalige Verlauf
der Menschheitsentwicklung konnte nun mit Hilfe der absoluten
Wertbegriffe von Vernunft und Freiheit wieder als Einheit auf-
gefaßt und in seinen verschiedenen Stadien so gegliedert werden,
daß man jede Stufe an dem maß, was sie in üirer Eigenart zur
Realisierung des Weltsinnes beigetragen hat. Diese Möglichkeit^
zum geschichtlichen Leben wieder ein positives Verhältnis zu
gewinnen, das ist es, was der Philosophie des deutschen Idea-
lismus ihre überragende und für absehbare Zeit unvergängliche
Bedeutung verleiht. Eine Philosophie, die hierzu im Prinzip
unfähig ist, mag für spezielle Probleme Bedeutendes leisten^
eine den Kulturmenschen befriedigende, wirklich umfassende
Weltanschauung wird sie niemals zu stände bringen, und am
wenigsten darf sie Anspruch darauf erheben, über die Philo-
sophie des deutschen Idealismus fortgeschritten zu sein. Von
dem Gedanken beherrscht, der Zweck des Erdenlebens der
Menschheit sei der, daß sie alle ihre Verhältnisse mit Freiheit
nach der Vernunft einrichte, hat nicht nur Fichte zum ersten-
mal nach Eant die „Weltgeschichte^^ philosophisch als einheitliches
Ganzes konstruiert, sondern auch Hegel hat vom Begriff der
Freiheit aus sein geschichtsphilosophisches System entworfen,
das viel mehr umfaßt als die aus seinem Nachlaß heraus-
gegebenen „Vorlesungen^, und er hat damit zugleich den heute
vielfach noch nicht verstandenen Höhepunkt dieser Art der ge-
schichtsphilosophischen Betrachtung erreicht. Auf den Inhalt
seines Systems können wir hier nicht eingehen. Es kommt
auch nicht darauf an, die Unterschiede hervorzuheben, welche
die Freiheitsbegriffe Eants, Fichtes und Hegels voneinander
trennen. Nur das ist hier wichtig, daß die Philosophie des
deutschen Idealismus überhaupt einen unbedingten Wertbegriff
fand, der es ihr ermöglichte, das Ganze des geschichtlichen Ver-
GeaehichtsphiloBophie. 125
laufes in der angegebenen Weise philosophisch zu behandeln,
dafi dieser Wertbegriff zugleich formal genug war, um zum
Beziehungspunkte für die Universalgeschichte zu dienen, wie
das besonders bei Hegel in großartiger Weise zum Ausdruck
kommt, und da£ dabei endlich Voraussetzungen von der Art,
wie die durch die moderne Naturwissenschaft zerstörte Ge-
schichtsphilosophie sie gemacht hatte, im Prinzip gar nicht mehr
gebraucht wurden. Fflr die Geschichtsphilosophie unserer Zeit
ergibt sich daraus die Frage, ob es möglich ist, auf dem Boden
des durch Kant begründeten Idealismus und unter voller An-
erkennung aller Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft,
zunächst einen Wertgesichtspunkt zu finden, von dem aus sich
die Universalgeschichte philosophisch behandeln läßt, und dann
zu einer Geschichtsphilosophie zu kommen, die mit Berücksich-
tigung des historischen Wissens unserer Zeit, bei aller inhalt-
lichen Verschiedenheit, im Prinzip doch dieselbe formale Struktur
zeigen wfirde, wie die geschichtsphilosophischen Systeme Fichtes
und Hegels.
Aber hiermit scheint, gerade wegen der Erinnerung an
diese Denker, das Problem einer philosophischen Behandlung des
historischen Universums doch noch nicht genügend klargestellt
zu sein. Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus ist
nämlich zwar unabhängig von den Lehren der Naturwissenschaft,
daf&r jedoch um so abhängiger von Voraussetzungen über das
der geschichtlichen „Erscheinungswelt" zugrunde liegende
metaphysische Wesen. Schon Kants Freiheitslehre hängt
zusammen mit seinem metaphysischen Begriff eines intelligiblen
Charakters, und vollends deutlich ist es bei Hegel, wie sehr
seine Geschichtsphilosophie metaphysisch begründet ist Läßt sich
die Geschichtsphilosophie von der Metaphysik loslösen, oder setzt
sie immer zwei Arten des Seins voraus, eine Welt der
Erscheinungen, in der sich die historischen Ereignisse abspielen,
und eine Welt der wahren, jenseits der Erscheinungen liegen-
den Bealität, auf welche die historischen Ereignisse bezogen
werden müssen, wenn sie sich zu einer einheitlichen und ge-
gliederten Entwicklung zusammenschließen sollen? Damit
scheinen wir erst an den entscheidenden Punkt gekommen zu
sein, und wegen des Zusammenhanges, den die verschiedenen
geschichtsphilosophischen Probleme untereinander haben, reicht
die Bedeutung dieser Frage noch weiter zurück. Wir fanden
126 Geachichtsphilosophie.
daß die Deutung des allgemeinen Sinnes der G^chichte die Idee
eines Systems unbedingter Werte voraussetzt, an dem die em-
pirisch allgemeinen Kulturwerte gemessen werden können. Wird
nicht dieses System nur dann wirklich begründet sein, wenn
man es, sozusagen, metaphysisch verankert hat und dadurch
gewiß sein kann, daß das geschichtliche Sein in seinem meta-
physischen Grunde auch angelegt ist zur Sealisierung dessen,
was sein soll? Ja, auch für die empirische Geschichtswissen-
schaft scheinen metaphysische Voraussetzungen unentbehrlich zu
sein. Es gibt Denker, denen die Geschichte als etwas „Ge-
spenstisches" erscheint, solange ihre Objekte, insbesondere die
geschichtlichen Persönlichkeiten, lediglich als immanente Wirk-
lichkeiten betrachtet werden. Wesenhafte, metaphysische Seelen
sollen es sein, die auf dem geschichtlichen Schauplatz tätig sind,
und wir mttssen sie uns gewissermaßen eingebettet denken können
in einen aber die Einzelseelen hinausragenden, großen „geistigen''
Zusammenhang, von dem die bloße Erfahrung nichts weiß, der
aber der Träger der unbedingten Werte ist, und ohne den daher
alle Geschichte ein sinnloses Durcheinander bilden wfirde, dessen
Erforschung keine Bedeutung hat
Es ist notwendig, die Stellungnahme auch zu diesen Pro-
blemen wenigstens anzudeuten, und wir beginnen mit der Frage
nach den metaphysischen Voraussetzungen, welche auch die
empirische Geschichtswissenschaft nicht soll entbehren können,
weil so allein sich die Frage nach der Notwendigkeit meta-
physischer Annahmen fdr die Erforschung des Sinnes der Ge-
schichte und fär die philosophische Behandlung der Universal-
geschichte beantworten läßt.
Zunächst ist unbedingt zuzugeben, daß viele Historiker einen
Glauben haben, der,. wenn man ihn begrifflich formulieren
wollte, einen metaphysischen Charakter annehmen würde, und
ebenso steht fest, daß dieser Glaube mit dazu beiträgt, ihnen
die Erforschung des geschichtlichen Lebens als wahrhaft bedeut-
sam erscheinen zu lassen. Auch hier kann wieder auf Sänke
verwiesen werden, der die großen Tendenzen der Geschichte als
Gedanken Gottes bezeichnet, durch die sich der göttliche Welt-
plan verwirklicht, und bei anderen Historikern wQrde sich eben-
falls zeigen lassen, daß sie überempirische Voraussetzungen
machen. Davon sind insbesondere diejenigen gewiß nicht frei,
die „Entwicklungsgesetze'' für alles geschichtliche Leben ge-
Geschichtsphilosophie. 127
fnnden zu haben meinen, denn bei ihnen nimmt der Glanbe
unter dem Einfluß der Mode zwar ein naturalistisches Gewand an
und wird zum Glauben an Gesetzesbegriffe als wirkende Kräfte,
hört aber darum nicht auf, metaphysisch zu sein. Man kann
auch das Problem, welches in einem solchen Glauben, wie in
dem von Ranke geäußerten, steckt, nicht damit abweisen, daß
man erklärt, das alles stehe außerhalb der Wissenschaft und
übe auf sie nicht den geringsten Einfluß, denn diese Meinung
ist nur in dem Sinne richtig, daß der Glaube, wie Ranke von
seiner Ideenlehre sagt, Einzelheiten des geschichtlichen Lebens
nirgends einen Zwang antut Im übrigen aber gehört auch er
zu den Voraussetzungen des geschichtlichen Forschens insofern,
als in ihm die Überzeugung steckt, es sei mehr als eine will-
kürliche Annahme, wenn wir dem geschichtlichen Leben über-
haupt eine „objektive** Bedeutung beilegen.
Damit ist jedoch andererseits noch nicht gesagt, daß gerade
das in dem Glauben steckende metaphysische Moment dabei
wichtig ist. Der Historiker wird als Historiker jedenfalls gut
tun, es bei seinem Glauben als einem bloßen Glauben bewenden
zu lassen und sich vor dem Hineinziehen jeder wissenschaftlich
formulierten Metaphysik in seine Untersuchungen zu hüten. Er
käme sonst auf den Boden der angedeuteten Theorie von zwei
Seinsarten und geriete sofort in die größten Schwierigkeiten,
wenn er irgend etwas über das Verhältnis der allein in der
Erfahrungswelt sich abspielenden geschichtlichen Ereignisse zur
transzendenten Wirklichkeit aussagen sollte. Ja, schon der Ge-
danke, daß die geschichtlichen Ereignisse bloße „Erscheinungen**
eines dahinter liegenden metaphysischen Seins sind, ist nicht
etwa geeignet, dem Historiker ihre Erforschung bedeutsamer
erscheinen zu lassen, sondern muß ihm im Gegenteil jede Freude
an seiner Arbeit verderben. Dem Mann der Naturwissenschaften
mag es vielleicht gleichgültig sein, ob seine Gegenstände Er-
scheinungen oder absolute Realitäten sind. Sie kommen ja nur
als Gattungsexemplare für ihn in Betracht, und die allgemeinen
Begriffe, die gesucht werden, behalten auf jeden Fall ihre
Geltung. Die Ereignisse dagegen, die mit Rücksicht auf ihre
Individualität wesentlich sind, verlieren ihre Bedeutung, wenn
sie nicht als Realitäten angesehen werden dürfen, und wenn
nicht in dem der Wissenschaft unmittelbar zugänglichen Sein
sich auch die Werte verwirklichen, auf welche der Historiker
128 Oeschichtsphilosopliie.
seine Objekte bezieht Das Bedürfnis nach einer hinter ihnen
steckenden wahren Bealität verdankt daher niemals einem ge-
schichtswissenschaftlichen Interesse seine Entstehung. Es ist viel-
mehr znrfickznführen auf die Wirkungen jener sonderbaren „Er-
kenntnistheorie^; welche die Erfahrungswelt zum bloßen Scheine,
zum Majaschleier macht und behauptet, daß ihre Anerkennung
als Bealität zum Somnambulismus oder, wie man neuerdings
sagt, zum Illusionismus f&hre. Dem Denken, das nicht in dieser
oder ähnlicher Weise verbildet ist, kann das unmittelbar ge-
gebene Leben niemals als ein Traum oder ein Gespenst gelten,
und jedenfalls hat sich der empiiische Historiker an die Welt
zu halten, die seiner Erfahrung zugänglich ist. Er darf in ihr
die einzige Realität sehen, die ihn als Historiker kümmert, und
die Frage nach ihrem metaphysischen „Hintergrund'^ auf sich
beruhen lassen.
Dürfen wir aber bei einem System von Werten als dem
letzten auch dann stehen bleiben, wenn wir nach den Prinzipien
der Geschichte suchen und ihren Sinn deuten? Oder schließt
die Annahme einer unbedingten Geltung dieser Werte nicht die
Annahme einer transzendenten Realität ein, und entsteht daraus
für die Philosophie, die solche Fragen doch nicht in suspenso
lassen darf, nicht die Aufgabe, das Verhältnis der Werte zu
dieser metaphysischen Welt zu bestimmen?
Es ist auch hier zuzugeben, daß die Voraussetzung einer
unbedingten Geltung von Werten uns aus der immanenten Welt
hinaus und demnach ins Transzendente führt, und es muß des-
halb, damit nichts verschleiert bleibt, einer rein immanenten
Philosophie gegenüber in der Tat die Geltung transzen-
denter Werte behauptet werden. Aber es ist doch sehr wenig
geleistet, wenn man nun glaubt, noch weiter gehen zu müssen,
und erklärt, daß diese Werte auch auf irgend ein transzendentes
Sein hindeuten. Erstens kann man mehr als ein solches ganz
unbestimmtes Hindeuten mit gutem wissenschaftlichen Gewissen
nicht aussagen, und femer muß jeder Versuch, die transzendente
Realität näher zu bestimmen, sein Material entweder der imma-
nenten Realität entnehmen oder bei reinen Negationen stehen
bleiben. Daß aber über das Verhältnis einer ganz unbestimmten
oder rein negativ bestimmten Realität zur immanenten Welt
nichts wissenschaftlich Greifbares ausgesagt werden kann, be-
darf keines Nachweises. Die transzendente Realität bleibt also
Geschichtsphilosopliie. 129
auch für die Geschichtsphilosophie als Prinzipienlehre ein voll-
kommen leerer und unfruchtbarer Begriff. Diese Disziplin hat
daher genug getan, wenn sie sich dies klar macht, und sich mit
dem Streben nach der Aufstellung eines Systems unbedingter
Werte begnügt Man wende nicht ein, daß der Begriff des trans-
zendenten Sollens, der dabei vorausgesetzt wird, mit denselben
Argumenten als leer und unfruchtbar erwiesen werden könne,
wie der Begriff des transzendenten Seins. Zwar kann man nicht
anders bestimmen, was ein transzendentes Sollen bedeutet, als daß
man sagt, es handele sich dabei um Werte von ubergeschicht-
licher, zeitloser, unbedingter Geltung, und gewiß ist also auch
hier der Begriff insofern lediglich vermittels der Negation ge-
wonnen, als wir vom bedingten Wert ausgehen und ihm die Be-
dingtheit absprechen. Der dadurch entstehende Begriff aber hat
eine ganz andere Bedeutung als diejenige, die entsteht, wenn
wir, um den Begriff des transzendenten Seins zu gewinnen, vom
Begriff des immanenten Seins ausgehen und dann seine Imma-
nenz negieren. Dem Sein nehmen wir mit dieser Negation jeden
Inhalt, dem Sollen dagegen lassen wir seinen Inhalt und nehmen
ihm nur eine Beschränkung, die es an der vollen Entfaltung
einer in ihm steckenden Tendenz, zu gelten, hindert Man kann
sich diesen Unterschied von transzendentem Sein und transzen-
dentem Sollen vielleicht an nichts anderem besser klar machen,
als wieder an dem Kantischen Begriff der Idee. Kant wandelt
hier ebenfalls den Begriff der transzendenten Realität in den des
transzendenten Sollens um und stellt dadurch sowohl das Recht
als auch das Unrecht einer nach dem Unbedingten strebenden
Wissenschaft fest. Genau dasselbe geschieht, wenn wir bei dem
transzendenten Sollen stehen bleiben und ein transzendentes
Sein ablehnen, und gerade die Geschichtsphilosophie als Prin-
zipienwissenschaft hat keinen Grund, die Hindeutung der trans-
zendenten Werte auf ein transzendentes Sein weiter zu ver-
folgen. Es sind eben nur Werte, die sie als Prinzipien des histo-
rischen Lebens findet, und allein auf die Geltung der Werte als
Werte kommt es ihr an. Femer muß diese unbedingte Gel-
tung schon feststehen, ehe auch nur von einer Hindeutung auf
eine transzendente Realität gesprochen werden kann, d. h. es
muß das für die historische Prinzipienlehre allein bedeutsame
Problem bereits gelöst sein, bevor das Problem einer transzen-
denten Realität überhaupt auftaucht Deshalb kann auch die
Wlndelband, Die Philosophie im Beginn des SO. Jahrh. II. Bd. 9
130 GescMchtsphilosophie.
Geschichtsphilosophie, soweit sie es mit den Prinzipien des histo-
rischen Lebens zu tun hat, die metaphysischen Probleme ebenso
in suspenso lassen, wie die empirische Geschichtswissenschaft,
denn diese Probleme gehören jedenfalls nicht in diesen Teil der
Philosophie.
Wie aber steht es endlich mit der philosophischen Universal-
geschichte, falls wir gezwungen sein sollten, gegenüber der Frage
nach einer transzendenten Realität und nach ihrem Verhältnis
zum immanenten Sein bei einem non liquet stehen zu bleiben,
oder gar den (bedanken an eine metaphysische Wirklichkeit
überhaupt abzulehnen? Verliert die systematische philosophische
Darstellung des historischen Universums, welche sich nicht auf
die Werte beschränkt, sondern sie ausdrücklich mit dem Inhalt
des geschichtlichen Seins selbst in Verbindung bringt, nicht jeden
Sinn, wenn sie ihre Werte gewissermaßen nur von außen an das
historische Leben heranträgt und gar keine Voraussetzung dar-
über machen darf, ob und wie das immanente geschichtliche
Sein nicht nur durch die Wertbeziehung, sondern auch real mit
seinem Ziele der Wertverwirklichung zusammenhängt? Es unter-
liegt keinem Zweifel, daß wir hier vor einem ungemein schwie-
rigen Problem stehen, und daß die metaphysischen Bestrebungen
unserer Zeit, wie sie besonders in den Werken Euckens zum
Ausdruck kommen, unter diesem Gesichtspunkt auch für die Ge-
schichtsphilosophie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung ge-
winnen. Zwar kann auch in diesem Zusammenhange nicht zu-
gegeben werden, daß die Erfahrungswelt deshalb eines meta-
physischen Unterbaues bedürfe, weil sonst die Welt sozusagen
nicht real genug sei und etwas Gespenstisches bekomme. Denn
wenn wir im unmittelbaren Erleben nicht genug Realität zu er-
fassen vermögen, so wird kein in abstrakten Begriffen sich be-
wegendes Denken diese Lücke ausfüllen. Aber, so kann man in
der Tat fragen, setzt die notwendige Beziehung der geschicht-
lichen Realität auf unbedingte Werte nicht ein übergreifendes
Band zwischen Sein und Sollen voraus, und damit zugleich eine Art
von Realität, die wir als immanent nicht mehr auffassen können?
Hier scheint der Gedanke einer metaphysischen Wirklichkeit unver-
meidlich, und daher die Geschichtsphilosophie in der Weise mit der
Metaphysik verknüpft, wie dies z. B. bei Hegel zum Ausdruck kommt
Aber, werden wir vielleicht nicht auch hier sagen müssen,
daß durch den bloßen Gedanken einer Hindeutung auf eine meta-
Gescliichtspliilosophie. 131
physische Verbindung der Werte mit der empirischen Wirklich-
keit zugleich alles erschöpft ist, was die Wissenschaft dabei zu
denken vermag, und daß es auch vollkommen genügt, wenn wir
nur überhaupt irgend eine, nicht weiter bestimmbare, notwendige
Beziehung der Wirklichkeit auf die Werte annehmen? Sehen
wir uns daraufhin z. B. wieder Hegels Geschichtsphilosophie an,
so werden wir finden, daß darin die Metaphysik bei der Aus*
führung aller Einzelheiten nur eine ganz geringe KoUe spielt
Für die Abgrenzung und Gliederung des historischen Universums
kommt es doch eigentlich nur auf den Begriff der Freiheit als
Wert begriff an und auf die ganz allgemeine Überzeugung, daß
die Entwicklung zur Freiheit im Wesen der Welt selbst ii'gend-
wie angelegt ist. Darin aber stecken nur die beiden genannten
Voraussetzungen eines absoluten Wertes und dessen notwendiger
Beziehung auf die geschichtliche Wirklichkeit überhaupt. Im
übrigen bewegt sich Hegels Geschichtsphilosophie in lauter Be«
griffen, die aus dem immanenten geschichtlichen Leben stammen
und auf dieses immanente Leben allein bezogen werden. Wird
es sich nicht ebenso in allen geschichtsphilosophischen Versuchen
verhalten, welche die Form einer Universalgeschichte haben, ja^
müssen wir nicht sagen, daß auch für den Geschichtsphilosophea
ein Mehr an Metaphysik nicht nur nicht erforderlich ist, son-
dern geradezu verderblich werden wird? Für ihn ist, ebenso
wie für den empirischen Historiker, die Entwicklung der Kultur
in der immanenten, räumlich-zeitlichen Welt das, was ihn inter-
essiert. Wird also diese immanente Welt durch eine Metaphysik
zu einer Realität zweiten Grades herabgesetzt, und dann die
wahre Realität, in der die höchsten Werte mit dem höchsten
Sein zusammenfallen, als zeitlos und raumlos gedacht, so ver-
liert sofort auch unter geschichtsphilosophischen, ebenso wie
unter empirisch-geschichtlichen Gesichtspunkten, die räumlich-
zeitliche, einmalige und individuelle Entwicklung ihren Sinn.
Wozu jener ganze Prozeß des Ringens und Kämpfens der Mensch-
heit, der im Laufe der Jahrtausende doch nur annäherungsweise
und unvollkommen das zu verwirklichen vermag, was im tiefsten
Wesen der Welt ewig real ist? Dürfen wir in der Zeit nur
einen Faden im Gewebe des Majaschleiers sehen, dann gibt es
keine positive Geschichtsphilosophie mehr. Dann besteht ihre
Aufgabe allein darin, alles Historische, weil es notwendig in der
Zeit verläuft, in seiner Nichtigkeit zu durchschauen und der
9*
132 G^schichtsphilosophie.
Geschichte mit Schopenhauer jeden Sinn abzusprechen. Es muß
also jedenfalls gerade das Zeitliche an der Welt absolut real
sein, wenn es nicht nur empirische Geschichtswissenschaft, son-
dern auch Philosophie der Geschichte geben soll.
Aber — so könnte man schließlich noch fragen — darf man
denn nicht vielleicht dem Zeitlichen auch eine metaphysische
Realität beilegen, und ist das transzendente Sein notwendig zeit-
los zu denken, wenn es überhaupt gedacht werden soB? Hier
scheint sich noch ein letzter Weg zu eröffnen, auf dem Ge-
schichtsphilosophie und Metaphysik miteinander zu vereinigen
sind. Doch es scheint nur so, denn es wird durch die Annahme
einer metaphysischen Realität des Zeitlichen der eigentliche
Nerv des metaphysischen Denkens in der Geschichtsphilosophie
durchschnitten. Das, was allein uns die Hindeutung auf ein
transzendentes Wesen der Welt gab, war ja die Überzeugung
von der transzendenten Geltung der Werte und die Forderung
ihrer realen Verknüpfung mit der geschichtlichen Wirklichkeit.
Die Transzendenz des Wertes bedeutet aber gerade seine zeit-
lose Geltung, und nur eine zeitlose Realität also könnte der meta-
physische Träger zeitloser Werte sein, niemals aber kann man,
um eine notwendige Verbindung der geschichtlichen Entwick-
lung mit den zeitlosen Werten herzustellen, die Geltung der
Werte auf ein in der Zeit ablaufendes metaphysisches Sein
gründen. Eine Metaphysik, die Basis der G^schichtsphilosophie
sein will, gerät also, sobald sie nach irgend einer anderen be-
grifflichen Formulierung ihrer transzendenten Voraussetzungen
strebt, als siQ in dem Begriff des transzendenten SoUens ent-
halten ist, in die größten Schwierigkeiten. Wir bedürfen des
Zeitlosen, um dem zeitlichen geschichtlichen Verlauf einen ob-
jektiven Sinn abzugewinnen. Sobald wir aber dies Zeitlose als
metaphysische Realität setzen und damit dem geschichtlichen
Verlauf die wahre Realität nehmen, vernichten wir jeden Sinn
der Geschichte und jede Möglichkeit ihrer philosophischen Be-
handlung. Gibt es einen Weg, um diesem Zirkel zu entfliehen,
oder muß an ihm nicht jede Geschichtsmetaphysik scheitern?
Sind wir daher nicht genötigt, auch bei der philosophischen Be-
handlung der Universalgeschichte in den zeitlosen Werten und
ihrer notwendigen, aber wissenschaftlich unbestimmbaren Be-
ziehung auf die zeitliche Realität die letzten Voraussetzungen
zu sehen, bei denen wir stehen zu bleiben haben?
Geschichtsphilosophie. 133
Falls diese Frage bejaht werden müßte — und wir sehen
bisher wenigstens keinen Weg, sie zu verneinen — würden sich
die Aufgaben der Geschichtsphilosophie, die zuerst in drei ver-
schiedene Disziplinen zu zerfallen schien, durchaus einheitlich
gestalten. Der Philosophie bleibt, nachdem sie das ganze Gebiet
des empirischen Seins den SpezialWissenschaften zur Erforschung
überlassen und auf eine Erfassung des metaphysischen Wesens
der Welt verzichten muß, das Reich der Werte als ihr eigent-
liches Gebiet Sie hat diese Werte als Werte zu behandeln,
nach ihrer Geltung zu fragen und in die teleologischen Wert-
zusammenhänge einzudringen. Eines der Wertgebiete ist das
der Wissenschaft, insofern diese nach der Verwirklichung der
Warheitswerte strebt, und die Geschichtsphilosophie hat es daher
zunächst mit dem Wesen der Geschichtswissenschaft zu tun.
Sie begreift sie als die individualisierende Darstellung der ein-
maligen Entwicklung der Kultur, d. h. des mit Rücksicht auf
die Kulturwerte in seiner Individualität bedeutungsvollen Seins
und Geschehens. Daraus ergibt sich dann, daß die Prinzipien
des geschichtlichen Lebens selbst Werte sind, und die Behand-
lung dieser Werte mit Rücksicht auf ihre Geltung wird deshalb
die zweite Aufgabe der Geschichtsphilosophie, die jedoch schließ-
lich mit der Aufgabe der Philosophie als Wertwissenschaft über-
haupt zusammenfällt. So stehen die beiden sich als notwendig
ergebenden Untersuchungen in einem systematischen Zusammen-
hang, und diesem Zusammenhang ordnet sich endlich auch die
dritte Gruppe von geschichtsphilosophischen Fragen ein. Sie
wird den Abschluß des ganzen philosophischen Systems bilden,
indem man versucht, zu zeigen, wie viel von den kritisch be-
gründeten Werten im bisherigen Verlauf der Geschichte ver-
wirklicht worden ist, und welches die großen Epochen dieser
Wertverwirklichung waren, um so zu begreifen, wo wir heute
in dem Entwicklungsgange stehen, und wo wir unsere Aufgabe
für die Zukunft zu suchen haben. Immer also sind es Werte,
mit denen die Geschichtsphilosophie, die von der Logik der Ge-
schichte ausgeht, es zu tun hat. Zunächst die Werte, aus denen
die Denkformen und Normen des empirisch -geschichtlichen
Forschens sich herleiten lassen, sodann die Werte, welche als
Prinzipien des geschichtlich-wesentlichen Materials die Geschichte
selbst erst konstituieren, und endlich die Werte, deren allmähliche
Verwirklichung sich im Lauf der Geschichte vollzieht.
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Hanptsl&chlich geschichtsphilosophische Fragen behandelt die seit 1900 in
Paris erscheinende Zeitschrift: Bevne de synthäse historiqne. Directeor:
Henri Berr.
Ästhetik.
Von
Karl Oroos.
Wer sich einen Überblick Aber die gegenwärtige Lage der
Ästhetik zu verschaffen sucht, der mn£ nicht nur die Gegen-
stände ihrer Forschungsarbeit selbst, nämlich den ästhetischen
GenuB und die künstlerische Produktion ins Auge fassen, sondern
er wird auch die methodischen Gesichtspunkte zu erwägen haben,
von denen aus die genannten Gegenstände wissenschaftlich unter-
sucht werden. Ich beginne mit einer kurzen Erörterung der
wichtigsten unter diesen Gesichtspunkten, um daran die Be-
sprechung derjenigen methodologischen Streitfrage zu knüpfen,
die für den gegenwärtigen Betrieb unserer Wissenschaft von
vorherrschender Bedeutung ist
Es gibt eine metaphysische, eine kritische und
eine psychologische Behandlung der ästhetischen Probleme.
Die metaphysische bringt die ästhetischen Erscheinungen
in Zusammenhang mit einer bestimmten Auffassung von dem
Wesen der letzten Weltgründe und sucht sie aus diesem Zu-
sammenhang heraus zu verstehen. Es ist einleuchtend, daß eine
solche Behandlungsweise in einer Zeit, die selbst keine beherr-
schenden metaphysischen Systeme hervorgebracht hat, nicht so
sehr im Vordergründe stehen wird, wie es dem Bedürftiis, unsere
wichtigsten Kulturerscheinungen in den Konnex einer philo-
Ästhetik. 137
sophischen Weltanschaaung einzustellen, im gründe gemäß wäre.
Am stärksten ist für die Gegenwart, wie mir scheint, die Wir-
kung der metaphysischen Ästhetik Schopenhauers geblieben,
der bei der Erklärung des Schönen auf die Ideen als die Ob-
jektivationsstufen des Weltwillens, ja im Bereiche des musikalisch
Schönen sogar auf diesen Willen selbst zurückgreift. Die Äs-
thetik y. Hartmanns verdankt dagegen ihren Einfluß wohl
mehr dem empirischen Teil ihrer Untersuchungen als dem meta-
physischen. Diese Vorliebe der Zeit für die empirische For-
schung tritt charakteristisch in der „Ästhetik des Tragischen"
von Volkelt hervor, einem Manne, der der spekulativen Philo-
sophie im allgemeinen durchaus sympathisch gegenübersteht.
Volkelt hat seinem Buche einen Schlußabschnitt hinzugefQgt,
der von der Metaphysik des Tragischen handelt; aber er betont
ausdrücklich, daß er dabei das Tragische nicht mehr als eine
ästhetische, sondern nur noch als eine metaphysische Kategorie
in Betracht ziehe, während die ästhetische Untersuchung des
Begriffes grundsätzlich auf dem Boden der empirischen Psycho-
logie zu bleiben habe.
Die kritische Ästhetik, die durch Kant begründet wurde,
wirkt in der Gegenwart seit der Erneuerung des Kantstudiums
weiter und wird vermutlich in der nächsten Zeit noch mehr als
bisher zur Geltung gelangen. Denn für die, wie ich glaube, im
Wachsen begriffene Anzahl von Forschern, die ihren Beruf in
der Anwendung der kritischen Methode auf die philosophischen
Probleme unserer Zeit finden, ist der weitere Ausbau der Ästhetik
im Sinne Kants die zentrale Aufgabe dieser Wissenschaft Wenn
man nun den „kritischen" Standpunkt mit wenigen Sätzen kenn-
zeichnen soll, so verfährt man für unsere Zwecke wohl am
besten in folgender Weise. Der kritische Philosoph findet in
den verschiedenen Gebieten der ihn umgebenden geistigen Kultur
Urteile vor, die den Anspruch erheben, allgemein und not-
wendig zu gelten. Sein richterliches Amt besteht nun darin,
daß er solche Ansprüche auf ihre Berechtigung hin prüft
Die Gesetze aber, nach denen er über ihren Rechtsanspruch
entscheidet, sind die ursprünglichen Gesetze des Bewußt-
seins. — Zuerst treten ihm die Urteile der Mathematik und
der mathematischen Naturwissenschaft entgegen; er konstatiert,
daß sie in ihrem Anspruch auf allgemeine und notwendige
Geltung berechtigt sind, soweit sie aus den obersten Voraus-
138 Ästhetik.
Setzungen des theoretischen Bewußtseins abgeleitet werden
können. Dann erscheinen die sittlichen urteile auf dem Plane;
auch sie haben Geltung, sofern sie zurückzufuhren sind
auf ein Sittengesetz, das autonom der Selbstgesetzgebung der
praktischen Vernunft entspringt. Aber nicht nur aus dem Ge-
biete der Wissenschaft und des sittlichen Lebens, auch aus dem
dritten unter den großen Eulturgebieten, dem Seiche des Schönen,
erheben sich Urteile, die vor den Richterstuhl des kritischen
Philosophen geladen werden. Ist der Anspruch des ästhetischen
Urteils auf Allgemeinheit und Notwendigkeit berechtigt? Kant
entscheidet, daß er insofern berechtigt ist, als das Wohlgefallen,
das in dem ästhetischen Urteil festgestellt wird, auf einer Ein-
helligkeit in dem freien Spiele derselben Erkenntnisvermögen
beruht, die auch zum gewöhnlichen Yerstandesgebrauch nötig
sind, den man bei jedermann voraussetzen darf.
Hiemach würde die Eigenart der kritischen Ästhetik in erster
Linie darin bestehen, daß sie das ästhetische Wertuii;eil und
von da aus die ästhetischen Werte überhaupt auf ihre Berechti-
gung hin prüft, indem sie die Gründe dafür in den obersten Be-
dingungen des Bewußtseins sucht. Eine selbständige und tief-
dringende Emeaerung der Theorie Kants hat H. Cohen in
seinem Werke „Kants Begründung der Ästhetik" (1889) vollzogen.
Arbeiten von Kühnemann und Erörterungen von Natorp
gehören derselben Richtung an. Und 1901 erschien die „All-
gemeine Ästhetik^ von Jonas Cohn, der die Ästhetik zu den
Wertwissenschaften zählt und die Aufgabe solcher Wissen-
schaften darin erblickt, die Werte „in bezug auf die Berech-
tigung ihres Anspruches'^ zu untersuchen (vgl. J. Cohn,
„Psychologische oder kritische Begründung der Ästhetik", Arch.
f. syst. Phüos. 1904, S. 136).
Die psychologische Behandlung der Ästhetik ist gegen-
wärtig unbestreitbar im Besitze der Vorherrschaft. Wenn
Külpe in seiner „Einleitung in die Philosophie" (3. Aufl. 1903,
S. 96) zu dem Ergebnis gelangt, daß die Ästhetik als eine
„Psychologie des ästhetischen Genusses und des künst-
lerischen Schaffens" anzusehen sei, so spricht er damit die
Meinung der überwiegenden Mehrheit unter den modernen Ver-
tretern der Philosophie aus. Die psychologische Ästhetik ist
bestrebt, die ästhetischen Seelenzustände zu analysieren, zu
klassifizieren und aus den Gesetzen des psychischen Lebens zu
Ästhetik. 139
erklären. Ihr nrsprünglichstes und wichtigstes Untersuchungs-
gebiet ist in dem Genießen und Schaffen des erwachsenen Kultur-
menschen gegeben. Daneben wendet sich das Interesse der ver-
gleichenden und genetisch erklärenden Psychologie besonders den
Anfangen der künstlerischen Produktion bei dem Individuum und in
der Gattung zu. Ein Teil der hierher gehörenden wichtigeren Ar-
beiten wird im weiteren Verlaufe der Darstellung angeführt werden.
— Wo sich verschiedene Methoden um ein Wissensgebiet be-
mühen, da pflegt es nicht an Streitfragen und Mißverständnissen
zu fehlen. So ist es auch hier. Ich beschränke mich auf ein
einziges Problem, das mir als das wichtigste erscheint. Die rein
psychologische Behandlung der Ästhetik, die gegenwärtig, wie
schon bemerkt wurde, beherrschend im Vordergrunde steht,
wird — besonders von den Anhängern der kritischen Ästhetik —
mit beachtenswerten Gründen angegriffen. Man findet, daß die
Psychologie den Aufbau der Ästhetik nur vor-
bereiten, nicht ausführen könne und wirft ihr vor,
diese Tatsache dadurch zu verschleiern, daß sie
Gesichtspunkte in ihre Betrachtung einmenge, die
für sie gar nicht erreichbar seien.
Will man sich über diese methodologische Streitfrage, die
dringend der weiteren Bearbeitung bedarf, klar werden, so wird
man vor allem den Untei'schied ins Auge zu fassen haben, der
zwischen einem ästhetischen Werturteil (z. B. „die Peters-
kirche besitzt die schönste aller Kuppeln") und dem psychi-
schen Zustande des ästhetischen Wohlgefallens
selbst besteht. Der Psychologe wird sich der Natur seiner
Wissenschaft nach vor allem für den Zustand des Wohlgefallens,
seine Eigenart und seine Ursachen interessieren; dagegen ist
die kritische Ästhetik von dem ästhetischen Werturteil und der
Frage nach seiner Berechtigung oder Geltung ausgegangen. —
Wenn nun ihre Vertreter die Ansicht gewinnen, daß die Psy-
chologie in Wertfragen keine Entscheidungen zu
treffen vermöge, während die eigentliche Aufgabe der'
Ästhetik gerade in der Herbeiführung solcher Entscheidungen
zu suchen sei, so gelangen sie leicht zu der schon angedeuteten
Auffassung, wonach die ästhetische Arbeit des Psychologen nur
den Charakter einer Vorbereitungstätigkeit besitzen würde, sodaß
der Schein, als ob sie mehr als dieses zu leisten vermöge, auf
die unberechtigte Einmengung von Gesichtspunkten zurückzu-
140 ABtheük.
f&hren wäre, die ganz außerhalb des psychologischen Interessen-
gebietes und Machtbereiches liegen.
Die Frage der Wertentscheidungen f&hrt uns aber auf den Be-
griff derNormation, einen Terminus, an dem wir schon darum
nicht vorbeigehen dürfen, weil er nicht eindeutig ist und infolge-
dessen eine Quelle von Mißverständnissen bildet. Das Wort
„norma^ bedeutet bereits im alten Lateinischen mindestens
zweierlei, nämlich einmal das „Winkehnaß^ und dann übertragen
die Richtschnur und „Vorschrift". Wir gewinnen daraus eine
rein theoretische und eine praktische Bedeutung der „norma-
tiven" Wissenschaft: sie hat es erstens mit der Gewinnung von
Maßstäben für richtige Beurteilung und zweitens mit
der Aufstellung von Forderungen (Vorschriften) auf Grund
der so gewonnenen Beurteilungen zu tun. Man kann in der
ästhetischen und erkenntnistheoretischen Literatur häufig Miß-
verständnissen begegnen, die dieser zu wenig geschiedenen
Doppelbedeutung entspringen. Wir aber werden nun die These,
daß die Psychologie in \yertfragen nichts zu entscheiden ver-
möge, genauer so formulieren können. Die Psychologie soll nach
der Ansicht ihrer kritischen Gegner 1. nicht die Fähigkeit besitzen,
Maßstäbe für gültige ästhetische Werturteile herzustellen; in-
folgedessen soll sie speziell außerstande sein, a) die Abgren-
zung des Ästhetischen von dem, was nicht ästhetisch ist,
zu vollziehen, b) innerhalb des Ästhetischen selbst Wertunter-
schiede zwischen dem höher und weniger hoch Stehenden zu
begründen und c) den Wert des ganzen ästhetischen Gebietes
für das Bewußtsein der Kulturmenschheit überhaupt festzulegen,
und sofern sie das nicht vermag, soll sie 2. auch nicht berechtigt
sein, die Forderungen zu erheben, die aus den angedeuteten
Wertentscheidungen abgeleitet werden können. — Ich möchte
nun im folgenden einige Bemerkungen zu der hiermit ent-
wickelten Streitfrage machen, die natürlich weit davon entfernt
sind, den Anspruch auf eine erschöpfende Behandlung zu erheben.
Ich wiU dabei hauptsächlich vom Standpunkt des Psychologen
aus sprechen und zwar so, daß ich nicht etwa die selbständige Be-
deutung der Erkenntnistheorie in Zweifel ziehe (was mir durch-
aus fem liegt), sondern nur nachprüfe, wieweit etwa doch auch
die Psychologie berechtigt sei, Wertentscheidungen zu treffen.
Der bereits angeführte Aufsatz von J. Cohn, die Abhandlung
von Witasek über „Wert und Schönheit" (Archiv f. System.
Ästhetik. 141
Philos., Vin, 1902) und der letzte Abschnitt in Volke Its
„Ästhetischen Zeitfragen" (1895) kann zur Orientierung über
das Problem dienen.
Geht man von der allgemeinen Frage aus, ob die Psycho-
logie sich darauf zu beschränken habe, die Erscheinungen, die
als ästhetisch bezeichnet werden, ohne jede Rücksicht auf ihre
Wertunterschiede, z. B. ohne jede Bück sieht darauf zu unter-
suchen, ob eine Kunstleistung als „besser" oder „schlechter",
ein ästhetischer Genuß als „höher" oder „niedriger" bezeichnet
werden müsse, so findet man, daß sich hier nicht nur Bejahung
nnd Verneinung gegenüberstehen, sondern daß auch im Falle der
Bejahung ganz entgegengesetzte Auffassungen hervortreten. Die
einen bekennen sich zu der Ansicht, daß die Psychologie wegen
dieser Beschränkung gar nicht selbst Ästhetik treiben, sondern
nur Material fttr die eigentliche Ästhetik, die eben Wertwissen-
schaft sei, beschaffen könne. Die anderen sehen gerade in der
„wertfreien" Behandlung die einzige Möglichkeit, zu einer
wissenschaftlichen Ästhetik zu gelangen. Zur letzteren Auf-
fassung bekennen sich Taine, Scherer und von neueren
Forschem besonders E. Eisler,' der in seinen „Studien zur
Werttheorie" (1902) den Begriff des Schönen „absolut wertfrei"
so bestimmt: „schön ist, was irgend jemandem gefällt, bzw. zu
irgend einer Zeit gefallen hat" (S. 97). Dagegen würden die
kritischen Ästhetiker in einer solchen Definition die Unzuläng-
lichkeit der rein psychologischen Methode aufs Schlagendste er-
wiesen finden. Aber auch Volkelt ist dieser Meinung. Eine
solche Ästhetik, sagt er, müßte ja alles Stümperhafte und Lang-
weilige, alles Schrullenhafte und Verfaulte in den künstlerischen
Leistungen nicht nur ebenso ausführlich analysieren wie das
Eeife, Interessante und Große, sondern es auch auf gleiche Linie
mit diesem stellen, und er folgert daraus, daß sie dadurch zu
einem Unding würde.
Das ist nun nach meiner Ansicht dann richtig, wenn eine
derartige, alle Wertunterschiede ignorierende Untersuchung den
Anspruch erheben würde, den Bedürfhissen der Ästhetik in jeder
Hinsicht gerecht zu werden. Es wird aber betont werden
müssen, daß es eine noch zu wenig bearbeitete und dabei
äußerst wichtige Aufgabe der Psychologie ist, die große Ver-
schiedenartigkeit im ästhetischen Verhalten gerade auch mit
Sücksicht auf das, was vom Standpunkt der normgebenden
142 Ästhetik.
Ästhetik als minderwertig bezeichnet wird, zu untersuchen.
Das, was der künstlerisch Ungebildete unter ästhetischem Ge-
nuß versteht, ist in vielen Fällen ein von dem Genüsse des
Kenners stark verschiedener Zustand, und neben der Psycho-
logie des Genies ist auch die Psychologie der minder wert-
vollen künstlerischen Produktion von großem Interesse. Wenn
es die Ästhetik im weitesten Sinne mit den an Wahmeh-
mungsakte geknüpften Erlebnissen zu tun hat, die durch
ihren eigenen Inhalt gefallen, so wird sie die Aufgabe, sich
ohne Rücksicht auf Wertunterschiede einen Überblick über
die verschiedenen Zustände zu verschaffen, in denen ein solches
Wohlgefallen tatsächlich hervortritt, nicht von der Hand weisen
dürfen. Sie wird mit einem Worte das ästhetisch Wirk-
same unbekümmert darum, ob es auch ein ästhetisch Wert-
volles ist, untersuchen müssen. In meinem Buche über die
„Spiele der Menschen" (1899) habe ich vielfach auf diese Auf-
gabe hingewiesen und sie in einzelnen Fragen der Lösung näher
zu bringen gesucht (vgl. z. B. S. 215 f., 355). Solche Erörte-
rungen sind gerade auch für eine Behandlungsweise, die Wert-
unterschiede machen möchte, eine unerläßliche Voraussetzung.
Wer z. B. die Aufgaben der Kunst bestimmen will und dabei nur
die Gesichtspunkte des Kenners in Anschlag bringt, der wird
leicht Momente übersehen, die bei naiveren Formen des Kunst-
genusses stärker hervortreten und von großer Bedeutung sind.
Und wer das neuerdings so viel behandelte Themader ästhe-
tischen Erziehung, auf das ich hier nur im Vorübergehen
hinweisen kann, erfolgreich bearbeiten will, der muß sich gleich-
falls vor allem die Frage stellen, welche Arten des Genießens
und welche Motive zur Produktion überhaupt existieren, ehe er
klar und deutlich bestimmen kann, wo die ästhetische Pädagogik
einzusetzen und welchen Zielen sie nachzustreben habe. In der
Zeitschrift „La Plume" (April 1903) habe ich in dieser Eichtung
einen Versuch veröffentlicht, den ich bald auf breiterer Grund-
lage wieder aufzunehmen beabsichtige.
Wenn aber dem Psychologen in der wertfreien Behand-
lung der ästhetischen Phänomene eine wichtige Aufgabe gestellt
ist, die nur er in genügender Weise zu lösen vermag, so ist
damit natürlich noch nicht gesagt, daß seine Wissenschaft voll-
ständig unfähig sei, mit ihren Mitteln den vorhin angegebenen
Forderungen gerecht zu werden. Die erste dieser Forderungen
Ästhetik. 143
bezog sich auf die Abgrenzung dessen, was „ästhetisch" ist,
von dem Außerästhetischen. In dieser Hinsicht können wir auf
unsere Unterscheidung von „ästhetisch wirksam" und „ästhetisch
wertvoll" zurückgreifen. Was das ästhetisch \^ksame betrifft,
so befindet sich die Psychologie hier durchaus auf vertrautem
Boden. Sie ist als empirische Wissenschaft darauf angewiesen,
von den Fällen auszugehen, wo der gewöhnliche Sprachgebrauch
tatsächlich von einer ästhetischen Wirkung redet. Wenn sie nun
diese Fälle genauer untersucht, die gemeinsamen Eigentümlich-
keiten, die in ihnen enthalten sind, heraushebt, und unter ihnen
wieder diejenigen, die einen kausalen Zusammenhang mit dem
Eintreten der Wirkung aufweisen, besonders betont, so wird sie
zu Begriffsbestimmungen und damit zu Abgrenzungen ihres
Gebietes gelangen, die zwar vom gewöhnlichen Sprachgebrauche
aus gewonnen, aber keineswegs einfach durch ihn festgelegt
sind. So könnte z. B. ein Psychologe ohne jede Beziehung auf
das Wertproblem zu dem Eesultate gelangen, daß das sinnlich
Angenehme bei dem bekanntlich der Sprachgebrauch ein ge-
wisses Schwanken in der Anwendung des Prädikates „schön" auf-
weist, wissenschaftlich nicht als schön zu bezeichnen sei, weil
ihm wesentliche Merkmale fehlen, die sonst dem Schönen zu-
geschrieben werden. Oder er könnte in einer selbstgeschaffenen
Terminologie zwischen einem Schönen im „engeren" und
„weiteren" Sinne unterscheiden, das bloß Angenehme aber nur
im weiteren Sinne als schön gelten lassen. In beiden Fällen
würde er mittels der psychologischen Methoden zu selbständigen
Grenzbestimmungen gelangen.
Erst wenn wir nach dem ästhetisch Wertvollen fragen,
stoßen wir daher auf Schwierigkeiten. Hat die Psychologie
die Fähigkeit^ durch Angabe des „wahrhaft" ästhetischen Ge-
nießens oder Produzierens innerhalb der mannigfaltigen Er-
scheinungen, die als ästhetische tatsächlich bezeichnet werden,
eine Auslese zu treffen? Kann sie von sich aus bestimmen,
was „höheren" und was „niedrigeren" ästhetischen Wert besitzt?
Soviel ich sehe, muß die Lösung des Problems durch Besinnung
auf den allgemeinen methodologischen Begriff der Psychologie
gewonnen werden. Dieser wird nun neuerdings häufig in einer
Weise bestimmt, die ihre Schwierigkeiten besitzt, aber für unsere
Zwecke dienlich ist Alle Wissenschaften, so wird etwa aus-
geführt, haben bei ihrer Arbeit irgendwie von den „Erlebnissen"
144 Ästhetik.
oder „Bewußtseinsinhalten" auszugehen. Die Psychologie be-
trachtet nun diese Erlebnisse in ihrer Zugehörigkeit
zum erlebenden Individuum, während die anderen Wissen-
schaften, sofern sie nicht selbst psychologische Gesichtspunkte
verwenden, davon absehen und sich infolgedessen Objekte bilden,
die mit dem eigentlichen „Erlebnis" nicht mehr identisch sind.
Das letztere gilt keineswegs nur von der Naturwissenschaft^
sondern z. B. auch von der nicht psychologisch betriebenen Logik.
Wie der Baum für den Naturforscher einer ist, auch wenn
tausend Wahrnehmungen von ihm bestehen, so ist, wie Her hart
sehr richtig hervorgehoben hat, auch der logische Begriff „nur
einmal vorhanden", selbst wenn ihn tausend Individuen denken.
Betrachten wir nun den reinen Logiker, der es ja auch mit
Wertentscheidungen zu tun hat Er hat etwa zwei Schlüsse
vor sich, die er auf ihre Richtigkeit hin untersucht Er tut das
ohne jede Rücksicht auf das individuelle Ich, das die Schluß-
prozesse denkend erlebt; während seiner Untersuchung existieren
die Prämissen und Konklusionen rein für sich, sozusagen, als ob
sie im leeren Räume schwebten; und ohne Bezugnahme auf
seine individuelle Bewußtseinslage der Überzeugtheit sagt er
mit absoluter Setzung: dieser Schluß ist falsch, jener ist
richtig. Der Psychologe dagegen kann eine solche absolute
Entscheidung nicht fällen, weil er eben die Beurteilung nicht
„losgelöst" vom beurteilenden Individuum betrachtet. Er wird
vielmehr zunächst nur die Tatsache konstatieren: wenn ich die
beiden Schlußprozesse durchdenke, so entsteht in mir der Zu-
stand der Überzeugung, daß der eine richtig, der andere falsch
sei. Hierauf wird er den Ursachen nachforschen, die den Zu-
stand der Überzeugung herbeigeführt haben. Entspringen diese
Ursachen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Bewußtseins, so
wird er auch annehmen dürfen, daß alle Menschen, bei denen
dieselben Bedingungen vorliegen (also vor allem diejenigen,
welche überhaupt in der Lage sind, einem Schlußverlauf mit
Verständnis zu folgen) mit seiner Überzeugung übereinstimmen
werden. Aber zur absoluten Setzung gelangt er als reiner
Psychologe nicht; seine Methode verwehrt es ihm.
Ähnlich verhält es sich nun in der Ästhetik. Für den
Psychologen bleiben auch die ästhetischen Werturteile stets an
die urteilenden Individuen festgebunden. Wenn er als Fach-
mann sagt, die Peterskuppel sei schön, oder der Genuß der
Ästhetik. 145
„Züricher Novellen" stehe höher als der eines Detective-Eomans von
Conan Doyle, so darf das nicht ohne weiteres in dem Sinne der ,,ab-
solnten Setznng" gemeint sein : „alle Urteile, die die Peterskoppel
als häßlich bezeichnen oder die Züricher Novellen nicht höher
einschätzen als den spannenden Kriminalroman, sind falsch";
sondern er kann dabei znnächst nur ähnliches meinen wie vor-
hin bei der Beurteilung der Schlußfolgerungen: nicht die Richtig-
keit der Wertentscheidung selbst, sondern bloß das Überzeugt-
sein von ihrer Richtigkeit. Und er ist hier viel schlimmer
daran. In elementaren Fällen freilich, z. B. angesichts der Wohl-
gefälligkeit einer regelmäßigen Figur, wird er vielleicht gleich-
falls darauf hinweisen können, daß dieses Wohlgefallen allge-
meinen Gesetzmäßigkeiten des Bewußtseins entspringe und daher
unter denselben Bedingungen auch überall zu übereinstimmenden
Urteilen führen werde ; aber bei den komplizierteren ästhetischen
Erscheinungen sind die Bedingungen, wie die Erfahrung zeigt,
meistens zu mannigfaltig, um eine generelle Übereinstimmung
der Beurteilungen zu ermöglichen. Er wird z. B. keineswegs er-
warten dürfen, daß auch nur die größere Mehrheit von Genießen-
den jenes Urteil über Keller und Conan Doyle anerkennen würde.
Sind aber die Psychologen infolgedessen gänzlich auf die
wertfreie Ästhetik zurückverwiesen? Das wäre doch zuviel be-
hauptet. Außer der absoluten Normation, die ihnen
versagt ist, gibt es hypothetische Maßstäbe und
relative Forderungen, die ihnen offenstehen. Wie
die Spezial Wissenschaften gewisse oberste Erkenntnisse auf-
nehmen, die ihnen entweder als unmittelbar einleuchtend oder
als durch andere Methoden bewiesen gelten, so kann der psycho-
logische Ästhetiker auch Wertentscheidungen, von deren
Richtigkeit er „überzeugt" ist, als unbedingt geltend annehmen,
und nun unter der Voraussetzung, daß sie gelten, also hypo-
thetisch, andere Wertentscheidungen davon ableiten. In
dieser Hinsicht stehen ihm hauptsächlich zwei Wege oflfen: er
kann eine Wertentscheidung über die verschiedenen genießenden
Individuen oder eine Wertentscheidung über die verschiedenen
in der ästhetischen Wirkung hervortretenden Bewußtseins-
zustände als „geltend" annehmen. Der zweite Weg führt
weiter als der erste. Fassen wir beide ins Auge.
Daß ein Mann, der die Zwecke und Mittel des Künstlers ge-
nauer kennt, auch dem Kunstwerk (und dem Naturschrmeu) besser
Win 'lel band. Die VtiilosM^Me im B'.'.:ii:n <lo-< 2». J.ihrh. II. B»l. 1')
146 Ästhetik.
als der ästhetisch Ungebildete gerecht zu werden yermOge, nnd
daß sein ästhetisches Verhalten daher das „richtigere'' sei, ist
die Ansicht vieler Ästhetiker. In dieser Ansicht werden sie da-
durch bestärkt, daß ein solcher Kenner stets „naivere'' Formen
des Grenießens in seiner Jugend durchgemacht hat und dabei
doch in der Begel das später Erreichte höher schätzt. Wenn
man nun, der persönlichen Überzeugung entsprechend, hypothe-
tisch voraussetzt, der Standpunkt des Kenners^) sei tatsächlich
der höher zu bewertende, so kann man daraus viele Wertent-
scheidungen mit psychologischen Mitteln ableiten. Vergleicht
man z. B. das Verhalten der Kenner auf gemeinsame Zuge, so
wird man finden, daß bei ihnen das Genießen des Formalen (der
Gestaltung) ganz anders in den Vordergrund tritt als bei dem
ästhetisch Ungebildeten mit seinem mehr inhaltlichen, stofflichen
Interesse. Wenn nun vorausgesetzt wird, daß der Standpunkt
des ästhetisch Gebildeten wirklich höher zu bewerten sei, so
kann der Psychologe hieraus mit Gründen, die seiner Wissen-
schaft entspringen, die Wertentscheidung ableiten, daß der Kri-
minalroman von Conan Doyle mit seiner starken Spannung auf
den Verlauf des Inhalts einen weniger wertvollen Genuß ver-
schaffe als die Novellen Kellers. — Aber selbstverständlich ist
die so gewonnene Entscheidung von der Geltung der vorausge-
setzten abhängig. Und diese Geltung kann bezweifelt werden.
Ich denke dabei weniger an die von R Eisler scharf hervor-
gehobene Tatsache der Geschmacksverschiedenheiten unter den
Kennern der aufeinander folgenden Kunstperioden als daran, daß
der Schöpfer des Kunstwerkes, den wir doch in erster Linie für
sachverständig halten, den Genuß des Kenners nicht immer höher
bewertet als das naive Genießen. Vielleicht würde Baffael
das Verhalten eines ästhetisch weniger Gebildeten, der vor der
Sistina das Gefühl hat, eine Vision göttlicher Herrlichkeit zu
erleben, für ,.richtiger'' erklären als das des Kenners, dessen
Bewußtsein vorwiegend von dem Entzücken über die geniale
Komposition der Linien erfüllt ist.
Weniger äußerlich verfährt der Psychologe, wenn er die als
geltend vorausgesetzte Wertentscheidung direkt in den Bewußt-
^) Zu den „Kennern" im weiteren Sinne rechne ich hier natürUch auch
die Künstler seihst. — Der Rekurs auf das Urteil der Kenner ist schon von
Home gefordert worden. Von neueren Forschem seien hief Rutgers
Jfarshall, Roetteken und K. Lange genannt
VKfVERStTY )
ABthetik. '-^^J^Ü-SlN- 147
seinszuständen findet, die ihm in der ästhetischen Wirkung ent-
gegentreten. Um ein Beispiel zu geben, stelle ich eine Überlegung
an, die ein wenig auf die allgemeine Bedeutung des Ästhetischen
hinweist (vgl. o. S. 140, 1. c) und zugleich den Vorzug hat, mit der
Bekämpfung eines Irrtums zu beginnen. Die Intensität des
Vergnügens am Kunstwerk ist nach psychologischer Erfahrung
kein ausreichender Maßstab für die Bestimmung des ästhetischen
Wertes, weil sich die Wertschätzung überhaupt nicht nur nach
der augenblicklichen Lust oder Unlust richtet Ich kann bei
Conan Doyle lebhaftere Lustgefühle haben und dennoch den
Genuß der „Züricher Novellen^ höher schätzen. Das ist eine
psychologische Tatsache, die wohl verständlich ist.^) Besonders
wo schwer erfüllbare Wünsche ihr Ziel finden, da wird uns eine
„Befriedigung" zuteil, deren Wertschätzung weniger von der
Intensität des augenblicklichen Lustgefühls abhängt als von der
Stärke der Gefühle und Wünsche, die nun stille sind, aber das
nicht erreichte oder wieder verlorene Objekt umdrängen würden.
— Von hier aus führen verschiedene Wege weiter; wir wollen
in folgender Weise verfahren. Es gibt (auch das ist eine psycho-
logische Tatsache) in dem menschlichen Bewußtsein ein allge-
meines, im Leben draußen nur schwer zu verwirklichendes Ziel
der Sehnsucht, das darin besteht, einmal von dem immer weiter-
hastenden Drang des WoUens überhaupt befreit zu sein und die
Gegenwart wunschlos genießen zu können. Der Ge-
danke der himmlischen Seligkeit ist das Ideal, das sich aus
dieser Sehnsucht heraus gestaltet hat. Wenn wir einen solchen
Zustand wirklich kennen lernen, so haben wir gewöhnlich den
Eindruck, daß er anderen Lustgefühlen, die vielleicht intensiver,
aber in die Unrast des Willenslebens verstrickt sind, vorzuziehen
sei. So soll schon Demokrit gelehrt haben: tiXog d' elvai x^
eidv^ilav, ad vipf aöripf oiaav vfj ijdovff.
Aber die bloße Flucht aus dem Jagen der Wünsche ins
Leere würde keine Befreiung sein; von der Langeweile — so
würde hier Schopenhauer sagen — werden wir ja nur zu
neuer Qual getrieben. Daher sucht der Mensch nach wunschloser
Fülle des Bewußtseins. Eine solche kann er nur in der Be-
schäftigung mit Inhalten finden, die um ihrer selbst willen,
*) Ganz ähnlich yerhftlt es sich mit dem Bewußtsein der „Wichtig-
keit" du ebenfalls nicht nur von der an genblick liehen Stärke des
Interesses abhängt.
10»
148 Ästhetik.
ohne Beziehung auf Draußenstehendes, noch zu Erstrebendes (als
„rein intensive Werte") genußreich sind. Auf mannigfache Weise
sucht er diesen Zustand zu erreichen, und nur zu oft mißlingt
der Versuch. Am besten ist aber der Anblick des Schönen ge-
eignet, jene wunschlose Fülle des Daseins zu erzeugen. Denn in
dem Schönen verwirklicht sich für das Bewußtsein die notwendige
Bedingung für ihr Zustandekommen, nämlich eine Einstimmig-
keit und Harmonie seiner Inhalte, die nirgends über sich
hinausweisend selbstgenugsam als etwas in sich Vollendetes da-
steht. Daher ist es von diesem Gedankengang aus begreiflich,
wenn man den Hauptwert des Schönen immer wieder in dieser
wunschlosen „Befiiedigung" erblickt hat — Nimmt man nun an,
die so gewonnene Überzeugung sei wahr, so kann man davon
abermals relativ geltende Wertentscheidnngen ableiten. Der
Künstler z. B., der zu stark mit dem Beiz der „Spannung" ar-
beitet, wird dann eine weniger wertvolle Wirkung hervorbringen,
indem er durch das ungeduldige Vorwärtsdrängen nach der Lö-
sung den wunschlosen Genuß des Gegenwärtigen schädigt.
Ist das bisher Gesagte richtig, so erledigt sich damit ohne
weiteres auch die praktische Seite der „Normation". Wenn
der Psychologe keine absolut geltenden Wertentscheidungen voll-
ziehen kann, so muß er auch mit dem Aufstellen von Forde-
rungen im Relativen bleiben. Er mag in Fällen, wo er der all-
gemeinen Zustimmung zu seinen Voraussetzungen sicher zu sein
glaubt, seinen Forderungen sprachlich eine kategorische Form
geben — im Grunde bleibt seine Normation stets eine hypo-
thetische: wenn das wertvoll ist, so ist aus psychologischen
Gründen dieses und jenes zu verlangen. Die Aufstellung solcher
relativer Postulate wird man ihm aber ebensowenig verwehren
können wie die Hervorhebung hypothetischer Maßstäbe für Wert-
entscheidungen.
Nun wird sich freilich dem kritischen Leser doch noch eine
Frage aufdrängen. Man kann, auch wenn man dem Psychologen
das Recht hypothetischer Wertentscheidungen und Postulate zu-
gesteht, doch der Ansicht sein, daß er viel besser tue, sich auf
die wertfreie Behandlung der ästhetischen Phänomene zu be-
schränken. Wenn nämlich die nicht „psychologisch" betriebene
Wertwissenschaft die Fähigkeit besitzt, absolute Wertbestim-
mungen und Normationen zu geben, so scheint es doch ratsamer,
ja direkt geboten zu sein, eine reinliche Scheidung zu vollziehen,
Ästhetik. 149
indem der Psychologe sich auf das ästhetisch Wirksame, so wie
er es versteht^ beschränkt und es dem kritischen Ästhetiker
überläßt, die Wertprobleme in endgültiger und zweifelsfreier
Weise zu lösen. Das würde ja nicht ausschließen, daß er die
ihm von der kritischen Wertwissenschaft überlieferten Begriffe,
bei der Auswahl seiner Spezialuntersuchungen auf sich wirken
ließe, wie umgekehrt die Wertwissenschaft ohne psychologische
Unterscheidungen nicht auskommen kann. Dieser Gedanke hat
manches für sich, und es wird jedenfalls zu begrüßen sein, wenn
die psychologischen Ästhetiker in Zukunft die wertfreie Be-
handlung in wachsendem Maße als eine selbständige und wichtige
Aufgabe ihrer Wissenschaft betrachten lernen. Aber er hätte
noch mehr für sich, wenn es erwiesen wäre, daß die kritische
Ästhetik wirklich zu absoluten Wertentscheidungen gelangen
kann. Es ist mir aber, obwohl manche Sätze in erkenntnis-
kritischen Schriften das zu behaupten scheinen, sehr zweifelhaft,
ob der Beweis dafür zu erbringen ist.
Nehmen wir eines der obersten Erkenntnisgesetze, die allen
Urteilen, also auch den Wertentscheidungen logisch zugrunde
liegen, etwa den Satz vom Widerspruch. Wie wir wissen, kann
hier der Psychologe nur das Erfahrungsgesetz aufstellen, daß
die Bewußtseinslage der Zustimmung einem Urteil gegenüber
versagt, das Identität zwischen Inhalten behauptet, mit deren
Nicht-Identität man bekannt ist. Der Logiker dagegen betrachtet
ein solches Urteil ganz ohne Bücksicht auf die individuellen
Bewußtseinslagen und kommt so zu der absoluten Setzung: jenes
Urteil (A sei non = A) ist — wenn ich mich so ausdrücken
darf — eine „ewige Unwahrheit". — Hier tritt nun die erkenntnis-
theoretische Frage hervor: mit welchem Rechte faßt der Logiker
das, was er doch auch nur als zeitliche Überzeugung erlebt, als
absolute und ewige Geltung auf?
Soviel ich sehe, kommen hier folgende Ausgangspunkte in
Betracht. Man kann erstens die Wissenschaft, und zwar die
Wissenschaft in dem besonderen Sinne eines Systems von ab-
solut notwendigen und allgemeingültigen Erkennt-
nissen als gegebene Tatsache voraussetzen und dann fragen:
wie ist diese Tatsache mOglich? Selbstverständlich ist sie in dem
angegebenen Sinne nur möglich, wenn auch der Satz vom
Widerspruch absolute Geltung besitzt. Hier liegt aber das
Hypothetische in der Annahme jener Tatsache. — Oder man
150 Ästhetik.
verfährt zweitens so, daß man nicht von einem gegebenen
Faktum, sondern von einer idealen Forderung ausgeht.
T^ wollen Wissenschaft in dem angegebenen Sinne und daher
sagen wir: „wenn anders" notwendige und allgemeingültige
Wissenschaft bestehen soll, dann muß der Satz vom Widerspruch
eine ewige Wahrheit sein. Das „Wenn" tritt hier schon in
unserer sprachlichen Formulierung ohne weiteres zutage.
Damit hängt aber auch die besondere Form zusammen, in
der die ewige Wahrheit dann behauptet wird, wenn man die
absolute Geltung nicht einfach mit einer dem „naiven Bealis-
mus" verwandten Selbstverständlichkeit hinnimmt. Wie mir
scheint, kann man in dieser Hinsicht drei Wendungen des Ge-
dankens als die beachtenswertesten bezeichnen. Zwei von ihnen
stellen sich als „Annahmen" (im Sinne Meinongs) dar, die
dritte hat gewöhnlich den Charakter des „Glaubens". Man kann
erstens die Behauptung von der absoluten Geltung einfach als
eine methodische Voraussetzung betrachten, damit un-
bedingt notwendige und allgemeingültige Wissenschaft möglich
sei. Dann kommt zu dem eben Ausgeführten nichts Neues hinzu.
Oder man macht zweitens die weitere Annahme eines zeit-
losen überindividuellen Bewußtseins als der Voraus-
setzung für die absolute Geltung solcher Wahrheiten. Damit
begibt sich die Erkenntnistheorie auf ein dünnes und schwankes
Seil, das über dem „Abgrunde der Metaphysik" ausgespannt ist.
Freilich kann der Erkenntnistheoretiker sagen, jene psycho-
logische Betrachtungsweise, die die Erlebnisse in ihrer zeitlichen
Zugehörigkeit zu einem Individuum untersuche, entferne sich
selbst von dem wirklich Gegebenen, sobald sie mit dem Indi-
viduum nicht den Leib, sondern das Subjekt meine; sie habe
kein Becht, das dem Bewußtseinsinhalt gegenüberstehende Sub-
jekt als individuell und zeitlich zu bezeichnen. Das ist kaum
zu bezweifeln. Aber wir können hier auch ganz von jener
Definition der Psychologie absehen und einfach sagen : wir wissen
unmittelbar nur von zeitlichen Überzeugungen; wir be-
haupten nichts von einem Subjekt, für das sie da sind; aber
zeitliche Überzeugungen sind gegeben, und ihre Beziehung auf
ein zeitloses überindividuelles Subjekt ist ebensogut eine An-
nahme wie ihre Beziehung auf ein individuelles und zeitliches.^)
^) Das Argument, wonsich die znr Vorstellnug des Zeitverlaufs gehörende
Einheit in der Sukzession der Bewußtseinsinhalte selbst nicht zeitlich sein
Ästhetik. 151
Endlich ist die dritte Wendung anzuführen, die entschlossen den
Schritt ins Metaphysische tut, indem sie „glaubend^' das über-
individuelle Bewußtsein als Gott oder als das Absolute auffaßt.
Wieweit Kant selbst, der in der Schrift „de mundi sensibilis" etc.
seinen Konnex mit Malebranche hervorhebt, auch für diesen
Gedanken in Betracht kommt, lasse ich dahingestellt. Seine
Lehre, die ja auch noch „Metaphysik" sein will, konnte so auf-
gefaßt werden, daß ihm die überempirische Einheit des Bewußt-
seins eine metaphysische Wesenheit bedeutet, und daß sein
Unterschied von der alten Spekulation in der Beschränkung
auf die bloß erkenntnistheoretische Verwertung
dieser metaphysischen „Annahme'' besteht (Metaphysik als Trans-
zendentalphilosophie). Jedenfalls ist die Entwicklung von Kant
zu Hegel, die zweifellos bisher die historisch wichtigste Weiter-
bildung war, von dieser Auffassung aus am besten zu verstehen.
Von neueren Forschern aber ist es besonders Uphues, für den die
absolute Wahrheit nur als metaphysischer Begriff denkbar bleibt.
Das Ergebnis dieser Bemerkungen, wonach man auch im
erkenntniskritischen Gebiete ohne „Wenn'' nicht auskommt,
wird durch die kritischen Forscher selbst vielfach bestätigt.
Die erkenntnistheoretische Logik hat zweifellos ihren reinsten
Ausdruck da gefunden, wo die Einheit des Bewußtseins den
geistigen Blickpunkt aller Gesetzeseinheiten oder die ideale
Einheit des Gesetzes in dem Sinne bedeutet, „daß wir Gesetze
haben müssen, sofern wir Wissenschaft haben wollen"
(Cohen, „Kants Theorie der Erfahrung" 2. Aufl. S. 591). In
der Ethik hat der kategorische Imperativ seine Geltung, „wenn
eins anerkannt wird, daß nämlich praktische Vernunft und daß
als ihr Träger eine Gemeinschaft von Vernunftwesen sein soll"
(A. Messer, „Kants Ethik" 1904, S. 217 f.). Und in der kri-
tischen Ästhetik ist es ebenso. J. Cohn z. B. betont, daß dem
Schönen „Forderungscharakter" zukomme: im Unterschied von
dem bloß Angenehmen trete das große Kunstwerk mit dem
„Anspruch" an uns heran, von uns nachgefühlt zu werden. In-
dem er nun meint, für den, der diesen Forderungscharakter des
Schönen leugne, sei das Schöne im weitesten Sinne nur eine
kann, weil sie „die Zeit erst möglich macht'', kann ich schon darnm nicht
anerkennen, weil sie ja nicht „die Zeit", sondern das „Bewußtsein der Zeif
möglich machen soll. Vom Zeitlichen ins Ewige führt, wie mir scheint, eben-
sowenig ein logisch sicherer Weg wie yon der essentia zur existentia.
152 Ästhetik.
Art des Angenehmen und zwischen Poesie und Eochknnst be-
ständen dann nor Unterschiede des Materials nnd der Technik,
kommt er zn dem Ergebnis: „den Fordemngscharakter des
SchOnen muß anerkennen, wer im Schonen etwas anderes
als eine Art des Angenehmen sieht nnd wer den primären
Kulturwert der Kunst behauptet'' (a. Abh. S. 168). Den Ge-
dankengang habe ich hier nicht zu kritisieren; nur darauf
möchte ich hinweisen, daß auch in dieser Bestimmung das „Wenn''
vorhanden ist, obschon es sprachlich nicht zum Ausdruck kommt
Hiermit habe ich die Erörterung soweit gef&hrt, als es
meinen gegenwärtigen Zwecken entspricht, und ich kann daher
zu den Schlußfolgerungen aus dem Gesagten &bergehen.
Worin stimmen erkenntnistheoretische und
psychologische Normation äberein? Beide sind logisch
imgrunde auf hypothetische Maßstabe und relative Forderungen
beschränkt; denn auch der kritische Philosoph kommt, falls er
wirklich kritisch ist, nicht erkennend fiber ein letztes „Wenn"
hinaus. Beide können aber wollend eine Grundlage oder
„Hypothesis" schaffen, durch den Entschluß zu einer An-
nahme, die gelten soll — im Anfang ist die Tat. Und
beide finden in diesem Entschluß zu grundlegenden Annahmen
den Weg, der über den Skeptizismus hinausfuhrt;
denn Skepsis ist Entschlußlosigkeit des Denkens (l^ox^').
Worin besteht der Unterschied zwischen er-
kenntnistheoretischer und psychologischer Nor-
mation? Der Erkenntnistheoretiker geht von der Annahme
oder dem Wunsche aus, daß notwendige und allgemeingültige
Erkenntnisse vorhanden seien und sucht nach logischer, d. h.
vom individuellen Erlebnis absehender Me-
thode das Prius aller Einzelerkenntnisse im Begriff der Ge-
setzmäßigkeit des „Bewußtseins überhaupt". — Der Psychologe
sagt erstens allgemein: damit ich wissenschaftlich arbeiten kann,
gehe ich über die Enthaltung der Skepsis hinaus, indem ich den
Entschluß fasse, solche Urteile, die in mir von dem „Bewußt-
sein der Evidenz« ^) oder der „Bewußtseinslage der Überzeugung"
begleitet sind, solange für allgemeingültig anzusehen,
als ich keinen Grund habe, an ihrer Allgemein-
') Daß Evidenz eigentlich ein psychologischer Begriff sei, hat Natorp
Hnsserl gegenüber heryorgehohen. Rein logisch besteht nur das sie etnon.
Ästhetik. 153
gültigkeit zu zweifeln. (Auf diese Weise kann er z. B.
eine subjektive „Überzeugungslogik^ aufbauen, die der „reinen^
oder „Wahrheitslogik'' durchaus parallel geht.) Und um diese
hypothetische Allgemeingültigkeit genauer yom psychologischen
Standpunkt aus zu bestimmen, kann er zweitens hinzufügen: damit
ich wissenschaftlich tätig sein kann, will ich speziell annehmen,
meine aus vergangener Erfahrung gewonnene Überzeugung, wo-
nach dasjenige, was mir evident erscheint, unter genau denselben
Bedingungen auch allen anderen denkenden Wesen als gültig er-
scheinen muß, sei solange festzuhalten, als sie nicht durch künftige
Erfahrung erschüttert wird. So will ich z. B. bis ich vom
Gegenteil überzeugt werde, daran festhalten, daß mein Urteil
über die Wertschätzung des Schönen, das den Orund dieser
Wertschätzung nicht in der Lust als solcher, sondern in dem
(auf emotionalen, voluntarischen und logischen Wertungen be-
ruhenden) allgemeineren Zustand der „Befriedigung" über die
„wunschlose Fülle des Erlebens" erblickt, richtig sei; und so-
lange ich an diesem Maßstabe festhalten kann, will ich auch
die Eonsequenzen ziehen und die Postulate aufstellen, die sich
mir daraus ergeben.
Hiermit glaube ich trotz der Beschränkung auf wenige
Hauptpunkte gezeigt zu haben, in welcher Weise und innerhalb
welcher Grenzen der Psychologe normative Ästhetik betreiben kann.
II.
Die Gegenstände der ästhetischen Forschung verteilen sich,
wie schon im Eingang erwähnt wurde, auf zwei Hauptgebiete:
die künstlerische Produktion und das ästhetische
Genießen.
Bei der wissenschaftlichen Behandlung der künstleri-
schen Produktion, die ich hier nur mit einigen kurzen Be-
merkungen streifen will, wird wohl die Frage nach dem Wesen
des Genies stets die schwierigste bleiben. Ich kann auf die
einzelnen Untersuchungen über diesen Gegenstand (Lombro so,
Türck, S6ailles, die anonym erschienene Schrift „Zeus"
usw.) nicht eingehen. Am tiefsten dringt, da weder die all-
gemeine Betonung der abnormen oder gar krankhaften Ein-
seitigkeit noch die spezielle Hervorhebung einer verfeinerten
154 Ästhetik.
sinnlichen Eeizbarkeit, eines anschaulichen Gedächtnisses, einer
gesteigerten Phantasietätigkeit usw. recht genügen will, noch
immer die scheinbar rein formale Bestimmung der kritischen
Philosophie, wonach das Genie in der Naturgabe besteht, für
das Gefühl Gesetze zu geben. Auf den ersten Blick freilich
erscheint diese Bestimmung ebenso wie der kategorische Impe-
rativ bloß als ein negatives Kriterium, indem dadurch angegeben
wird, unter welcher Bedingung wir allein von einem genialen
und originalen Künstler sprechen können: nur der ist ein künst-
lerischer Genius, der unserem ästhetischen Fühlen eigene Gesetze
gibt. Sobald man aber unter „Gefühl" etwas anderes, weiteres
als Lust und Unlust, nämlich die gesamte, alle Dispositionen
umfassende Zuständlichkeit des Bewußtseins versteht, so wird
aus der Gesetzlichkeit des Gefühls die immanente Einstimmig-
keit des gegenwärtigen Seelenzustandes, und das Wesen der
künstlerischen Genialität besteht in der Naturanlage, dem ästhe-
tischen Bewußtsein neue Blickpunkte zu verschaffen, durch
die sich das Gegebene zu jener wunschlosen geordneten Fülle
des Erlebens gestaltet, die man von alters her die Einheit
(= Einstimmigkeit, Gesetzlichkeit) des Mannigfaltigen nennt.
Von der Aufgabe, den Begriff des Genies zu bestimmen,
unterscheidet sich die Frage nach den besonderen Motiven
künstlerischer Produktion. Wie ich glaube, ist hier die
allgemeine „Freude am Ursachesein" der umfassende Begriff,
von dem man auszugehen hat; sie zielt aber im künstlerischen
Schaffen auf solche Wirkungen ab, die dem Künstler selbst wie
dem Betrachter um ihres eigenen Inhaltes willen erfreulich sind.
Jenem allgemeinen Bedür&isse entspringen drei speziellere
Motive: das Prinzip der Selbstdarstellung, das Prinzip der
Schöngestaltung und das Prinzip der Nachahmung. Diese Prin-
zipien zeigen sich in allen Künsten, aber sie treten in sehr ver-
schiedenen Gewichtsverhältnissen auf, und man kann häufig be-
obachten, wie auch in derselben Kunst die Entwicklung dadurch
bestimmt ist, daß sich die genannten Motive in der Vorherr-
schaft ablösen.
Eine dritte Aufgabe, die seit dem Bekanntwerden der Dar-
winschen Theorie sehr viel behandelt worden ist, bezieht sich
auf die Anfänge der Kunst. Von neueren Werken sind hier
unter anderen die „Anßlnge der Kunst" von Große (1894), die
jetzt auch ins Deutsche übersetzten „Origins of art" von Yriö
Ästhetik. 155
Hirn (1900) und Gummeres „Beginnings of poetry" (1901)
hervorzuheben. Die Frage, inwiefern die Darwinsche Hypo-
these, die in der Kunst ein Bewerbungsprodukt erblickt, zu ver-
werfen ist und inwieweit trotzdem ein Zusammenhang des Pro-
blems mit dieser Hypothese gewahrt bleiben könne, habe ich in
einem vor kurzem veröffentlichten Vortrag ilber „die Anfange
der Kunst und die Theorie Dai-wins** (Hessische Blätter für
Volkskunde, Bd. III, 1904) so zu behandeln versucht, daß ich
dabei zuerst von den uns bekannten Tatsachen, dann von den
vorhin angeführten künstlerischen Motiven, besonders aber von
dem Prinzip der Selbstdarstellung ausging.
Eine vierte bei der Untersuchung der Kunst hervortretende
Hauptaufgabe wäre die Entwicklung eines Systems der
Künste. Doch wird man im ganzen sagen können, daß hier-
über in den älteren Werken mehr zu finden ist als in den ästhe-
tischen Untersuchungen der Gegenwart. So sei an dieser Stelle nur
das durch fachmännische Kenntnisse ausgezeichnete Buch von Alt
über „das System der Künste" (1888), die Einteilung der Künste
in Hartmanns Ästhetik und der im VII. Bande der „University
of Toronto Studies" (Psychol. Series) veröffentlichte Aufsatz von
Külpe „The conception and Classification of art" angeführt
Was die Untersuchung des ästhetischen Genießens
anlangt, so muß ich an den Ergebnissen der experimentellen
Psychologie ebenso flüchtig vorübereilen wie an den Problemen
der künstlerischen Produktion. Als Fe ebner durch seine in-
teressanten Versuche die experimentelle Ästhetik begründete,
haben viele eine gewaltige Ausbreitung der neuen Methode er-
wartet. In Wirklichkeit wird man bei aller Anerkennung der
zahlreichen und wertvollen Beiträge der experimentellen For-
schung (von denen hier nur Meumanns Untersuchungen über
den Ehythmus als Beispiel genannt seien), doch zugestehen müssen,
daß es dem Experimentator im ästhetischen Gebiete ganz be-
sonders schwer fällt^ über die Untersuchung der elementarsten,
noch sozusagen unterästhetischen Erscheinungen hinauszukommen.
Die Psychologen, die es dennoch gewagt haben, weiter empor-
zudringen, wie z. B. Dessoir und Külpe, haben dabei nicht
immer dieselben Erfolge, errungen wie in anderen Gebieten ihrer
Tätigkeit. — Infolgedessen muß die Ästhetik bis jetzt gerade
bei ihren wichtigsten Untersuchungen meistens auf das Experi-
ment (im gewöhnlichen Sinne des Wortes) verzichten. Freilich,
156 Ästhetik.
wenn man genauer zusieht^ so kann auch die sogenannte Selbst-
beobachtung, auf die der Ästhetiker sich so oft beschränken
muß, als eine Art von Experiment bezeichnet werden. Denn
der Schriftsteller, der sein Genießen analysiert, verfährt sicher-
lich nur selten so, daß er etwa ein Erinnerungsbild seines
Genießens einfach „beobachtet''. Seine -Arbeit gleicht viel
eher einem Zeichnen aus dem Gedächtnis, wobei man mit
dem Stifte versuchsweise beginnt und bei jeder Wendung der
Linien prüft, ob die Qualität der Bekanntheit hervorspringt
oder nicht.
Stellt man die Frage, ob unter den mannigfaltigen ästheti-
schen Problemen, die zurzeit erörtert werden, eines das Überge-
wicht über die anderen errungen habe, so wird man wohl fast
einstimmig auf das Problem der „Einfühlung'' verwiesen
werden. Wenn ich daher im folgenden den Begriff der Ein-
fühlung zu dem hauptsächlichen Thema meiner Bemerkungen
über den ästhetischen Genuß mache, so führe ich den Leser
mitten in die Gebiete angestrengtester ästhetischer Arbeit hin-
ein; damit hängt der Vorteil zusammen, daß wir im Anschluß an
unsere Betrachtung Gelegenheit haben werden, eine ganze Beihe
von anderen Streitfragen zu berühren, die mit dieser zentralen
in Verbindung stehen.
Vor allem muß es betont werden, daß sich das Denken der
Ästhetiker dem Begriff der Einfühlung von zwei verschiedenen
Ausgangspunkten aus zugewendet hat und daß die Kenntnis
dieser Verschiedenheit sehr wichtig ist, um sich in den ver-
schlungenen Pfaden der Einfühlungslehre zurecht zu finden. Bei
aller Einfühlung handelt es sich darum, daß die geistigen In-
halte, die das sinnlich Gegebene durch seine wahrnehmbaren
Eigenschaften „ausdrückt" oder „bedeutet", von dem Genießen-
den nicht in abstrakter Weise, z. B. durch Wortvorstellungen
wie „traurig", „zornig", „emporstrebend" hinzugedacht,
sondern in einer konkreteren Weise erlebt werden. Bei aller
Einfühlung steht es femer fest, daß diese geistigen Inhalte
(einerlei ob es sich um ein „wirklich" beseeltes Objekt oder um
ein nur „personifiziertes" handelt) aus dem auffassenden Be-
trachter stammen, also von ihm, wie die ältere Ästhetik zu
sagen pflegt, dem sinnlich Gegebenen „geliehen" werden: er
fühlt sein eigenes Ich oder Teilbetätigungen seines eigenen Be-
wußtseins in das sinnlich Gegebene ein. In der Art aber, wie
Ästhetik. 157
sich der Zustand des Beschauers während dieser lebenleihenden
Auffassung in der Selbstbeobachtung zeigt, tritt ein charak-
teristischer Unterschied hervoi*, der sich vielleicht am besten
durch ein Beispiel des Erhabenen veranschaulichen läßt: wenn
ein frisch empfilnglicher Betrachter vor der ungeheueren Fels-
wand der Zugspitze steht, wie man sie vom Eibsee aus erblickt,
so kann er infolge der Einfühlung etwas von dem einschüch-
ternden Eindruck einer übermächtigen himmelstürmenden Per-
sönlichkeit erleben und hierin aufgehend seinen Genuß haben;
es kann aber auch der Fall eintreten, daß er das Gefühl hat,
als nehme er selbst an dem mächtigen Aufschwung der Massen
teil, als werde sein eigenes physisches und psychisches Ich
irgendwie von diesem Aufschwung mit emporgerissen. Und
gerade beim Anblick des Erhabenen kann derselbe Betrachter
auch beide Zustände mit einer in der ästhetischen Literatur
längst bekannten Gegensätzlichkeit der Gesamtstimmung durch-
laufen — „in jenem sel'gen Augenblicke, ich fühlte mich so
klein, so groß!"
Oder nehmen wir noch ein einfacheres Beispiel. Ein ein-
zelner Akkord oder eine Farbe erscheint uns von einem geistigen
Leben erfüllt, das wir im Konnex mit dem sinnlich Gegebenen
inne werden, ohne dabei in der Regel den Eindruck zu haben,
daß wir in irgend einer Weise an diesem (von uns „geliehenen")
Leben Teil hätten. Vor einer aufstrebenden und wieder herab-
sinkenden Linie oder Tonfolge können wir uns ebenso ver-
halten: in der Linie spielt sich dann eine Anspannung und ein
Nachlassen des Strebens ab — weiter nichts. Unter Umständen
aber, und zwar besonders dann, wenn die Anschauung uns stärker
packt, müssen wir unseren Zustand so beschreiben, als hätten wir
selbst diese Strebungen aktiv mitgemacht. Obgleich aller
Ausdruck nur aus unserer eigenen Seele stammt, erscheint uns
die beseelte Form wie ein gegebenes Ganzes und zieht uns
mitfühlend, mitstrebend in „ihre" Gefühle und Strebungen hinein.
Im ersten Falle hat der geistige Zustand des Betrachters mehr
den Charakter eines ruhigen Schauens, im zweiten Falle mehr
den eines bewegten Mitgerissenwerdens. Man könnte in einer
kleinen Veränderung des von R Vischer eingeführten Sprach-
gebrauches beides als „Einfühlung", aber spezieller das erste als
„Zufühlung", das zweite als „Nachfühlung" bezeichnen.
Jener Zustand ist mehr mit dem Begriff der ästhetischen „Per-
158 Ästhetik.
sonifikation" verwandt, dieser fällt mit dem des ästhetischen
„Mit-" oder „Nacherlebens" zusammen.
Die ästhetische Personifikation ist von sehr vielen Forschem
bearbeitet worden. Zu den interessantesten älteren Unter-
suchungen gehört die psychologische Erklärung, die Siebeck
in seinem „Wesen der ästhetischen Anschauung" (1875) gegeben
hat. Dieses Wesen der ästhetischen Anschauung besteht für ihn
eben darin, daß das betrachtete Objekt auf Grund seiner äußeren
Beschaffenheit als ein „analogen personalitatis" erscheint —
Dagegen ist es unter den früheren Forschern neben Jouffroy in
erster Linie Lotze, der an verschiedenen Stellen seiner Werke
über das bloße Schauen des Personifizierten hinausgehend im
inneren Miterleben den Kern des ästhetischen Zustandes zu finden
glaubte. Ebenso wird in R Y i s c h e r s berühmtem Aufsatz „über
das optische Formgefühl" (1873) das innere Miterleben stark
betont: „wir klettern empor an dieser Tanne, wir recken uns
an ihr selbst empor; wir stürzen in diesen Abgrund usw.".
Dieser Gegensatz zwischen einer mehr passiven und einer
mehr aktiven Auffassung der Einfühlung macht sich auch in
der neueren Literatur geltend. In meiner „Einleitung in die
Ästhetik" (1892) habe ich den zweifellos einseitig ausgefallenen
Versuch gemacht, das ästhetische Miterleben, das ich als eine
Art von innerem Nachahmungsspiel betrachtete, als den Kern des
ästhetischen Verhaltens im Begriff des Schönen selbst und seiner
sogenannten Modifikationen nachzuweisen. Später habe ich in
dem fragmentarischen kleinen Buch über den „ästhetischen
Gtenuß" (1902) beide Zustände als wichtige Erscheinungen im
ästhetischen Verhalten anerkannt und an Beispielen zu zeigen
versucht, wie enge sie zusammenhängen (233 f.); dem Mit-
erleben wurde aber dabei doch der Vorrang eingeräumt: es
genüge nicht, so schloß ich im Hinweis auf einige Verse von
C. F. Meyer (263), daß der schwebende Adler sich dem Himmel
nahe zu fühlen scheine (Zufühlung), sondern uns selbst müsse er
zum Gefühl der Himmelsnähe emporreißen (Nachfühlung). —
Auch Lipps ist der Ansicht, daß der ästhetische Zustand in
dem Miterleben gipfelt. Der eigentliche Inhalt seiner ästhetischen
Einfühlung oder ästhetischen „Sympathie" besteht in der
„Persönlichkeit", die man in dem Wahrgenommenen „mit-
fühlend erlebt" („Grundlegung der Ästhetik" 1903, S. 132),
und das Gefühl der Schönheit wird von ihm definiert als „das
Ästhetik. 159
Geffihl der positiven Lebensbetätigung, die ich in einem
sinnlichen Objekt erlebe" (140).
Auf der anderen Seite verlangt aber auch der passivere
Znstand, in dem der Betrachter ohne ein Gefühl des Mitgerissen-
werdens das in der ausdrucksvollen Gestaltung wirkende Leben
„anschaut", sein gutes Recht. Nachdem besonders durch Schopen-
hauer dieses ruhige Schauen in eindrucksvoller Weise meta-
physisch gedeutet worden war, ist es von psychologischer Seite
wohl am sorgfältigsten durch Witasek analysiert worden. In
seinen „Grundzügen der allgemeinen Ästhetik" (1904),^) fuhrt er
aus, daß es verschiedene Haupttypen ästhetischer Gegenstände
gebe, unter denen das „Ausdrucks- und Stimmungsvolle" eine
besondei*s wichtige Klasse sei (98 f.). Durch das Mittel des
Ausdruckes biete das Schöne in Kunst und Natur neben und im
Physischen auch das Psychische unserer Anschauung dar
(104). Unserer Anschauung; damit soll nicht nur gesagt sein,
daß dieses Psychische in konkreter Unmittelbarkeit und Frische
(im Unterschied von einer abstrakteren Vorstellungsweise) erfaßt
wird. Witasek nimmt vielmehr an, daß wir die Fähigkeit be-
sitzen, Vorgänge des Innenlebens, z. B. Affekte, im Erinnerungs-
oder Phantasiebild ähnlich wie Außendinge zu betrachten.
Im gewöhnlichen praktischen Leben freilich kommt ein solches
„anschauliches Vorstellen" von psychischen Vorgängen außer hin
und wieder im ethischen Verhalten gegen den Nebenmenschen
wohl nur in Augenblicken ruhigen Meditierens vor, wenn man
sich einmal in die Betrachtung des eigenen oder eines fremden
Seelenlebens versetzt Während des ästhetischen Verhaltens sind
dagegen viel günstigere Bedingungen vorhanden; hier ist man
von vornherein in die Anschauung des sinnlichen G^enstandes
vertieft, so daß sich diese beschauende, betrachtende Geistes-
haltung leicht zugleich auf das Psychische überträgt, das uns
ja in dem wahrgenommenen Gegenstande dargeboten zu sein
scheint Der ästhetische Zustand gibt uns also die seltene Ge-
legenheit, Seelenregungen zu betrachten und das Schauspiel, das
sie bieten, mit dem inneren Auge zu verfolgen. Die Freude an
diesem Schauspiel ist für Witasek das Wesentliche in dem Be-
griff der „Einfühlung" (1221, 152).
^) Vgl auch Witasek, „Zur psychologischen Analyse der ftsthetischen
Ernftthlung*', Ztschr. f. Psych, n. Phydol. der Sinnetorg. Bd. 25.
160 Ästhetik.
Der weitere Verlauf der ästhetischen Arbeit wird über dwi
Wert dieser sich entgegenstehenden Auffassungen zu entscheiden
haben. Nach meiner schon früher geäußerten Ansicht handelt
es sich dabei nicht um ein Entweder-Oder. Ich glaube vielmehr,
daß hier tatsächlich bemerkenswerte Unterschiede im ästhetischen
Verhalten vorliegen, Unterschiede, die zum Teil differentiell-
psychologischer Natur sein m6gen, die aber, wie schon unser
Beispiel des Erhabenen zeigte, auch bei demselben Individuum
angetroffen werden können. Der künftige Bearbeiter des Pro-
blems wird dabei gut tun, wenn er gewisse methodologische
Gesichtspunkte beachtet, auf die ich hier aufmerksam machen
mochte. Man wird den schon vorliegenden psychologischen Er-
örterungen über die Einfühlung vielfach nicht gerecht werden
können, wenn man von ihnen außer einer Analyse und Klassi-
fikation von auffallenden Phänomenen, die während des ästhe-
tischen Verhaltens hervortreten, zweierlei erwartet: erstens all-
gemeine logische Merkmale für alles ästhetische Genießen und
zweitens eine ausreichende Angabe der Ursachen der ästhe-
tischen Lust Jene Erörterungen mögen den Anspruch erhoben
haben, beides vollständig zu leisten, und wenn es sich nun
herausstellt, daß manche von ihnen dazu nicht imstande sind,
so kann der Kritiker leicht zu einem durchaus verwerfenden
Urteil gelangen. Er würde dann übersehen, daß man außer den
allgemeinen, bei jedem „Repetitionsgenuß'' anzutreffenden Merk-
malen des ästhetischen Zustandes auch diejenigen Eigentümlich-
keiten untersuchen muB, die für das intensivste ästhetische
Genießen, die „ästhetische Ekstase" charakteristisch sind;
und er würde femer übersehen, daß für die Psychologie die
Analyse und Klassifizierung solcher Eigentümlichkeiten auch
ohne Rücksicht auf ihren Lustwert von größtem Interesse ist
Auf der anderen Seite wird man bei der positiven Bearbeitung
des Problems vor unberechtigten Verallgemeinerungen mehr auf
der Hut sein müssen, als es bisher geschehen ist.
Ich kehre zu der Bemerkung zurück, daß jene beiden Zu-
stände, das ruhige Betrachten und das aktive Miterleben des
Psychischen, auch abgesehen von dem Spezialfall des Erhabenen,
in demselben Individuum auftreten können. Derselbe Betrachter
kann einerseits von dem abstrakten und außerästhetischen „Ver-
ständnis" zum ästhetischen „Schauen" und von da aus zum
ästhetischen „Miterleben" des Psychischen übergehen, und er
Ästhetik. 161
kann andererseits vom Miterleben zam Schauen und zum bloßen
Verständnis weitergeführt werden. Nehmen wir den Anfang
von Schumanns „Träumerei" als Beispiel. Die Form dieser
Tonfolge bringt es mit sich, daß ihre Auffassung durch ver-
schiedene Analogien beeinflußt ist, die von der Bewegung im
Baume, von der Bewegung der menschlichen Sprechstimme und
von der „Gestalt" im Ablauf unserer Emotionen herkommen.
Wir haben etwa den Eindruck eines im Räume bewegten, sich
ähnlich einer Stimme äußernden Psychischen (einer „tanzenden
Stimme" sagte ich in den „Spielen der Menschen"), das nach
Überwindung einer kleinen Hemmung sehnsuchtsvoll anschwellend
emporsteigt, um von der schönen Höhe liebevoll zögernd wieder
herabzugleiten. Dieser Eindruck kann, — z. B. eben jetzt, wo
ich mich aus theoretischen Gründen beobachte — einen mehr
abstrakt-verstandesmäßigen Charakter besitzen, sodaß in mir
die niedergeschriebenen Wortvorstellungen an Stelle der durch
sie bezeichneten Gemütszustände die Vorherrschaft einnehmen;
dann verhalte ich mich nicht eigentlich ästhetisch. Ich kann
femer die konkret erlebten Gemütszustände, die in die Töne
eingefühlt sind, passiv „beschauen" und an diesem Schauspiel
meine Freude haben. Und endlich kann ich mich so verhalten,
daß ich das Auf und Ab der Töne durch eine reproduktive oder
sensorische Aktivität, die sich in meinem Gesamtbewußtsein
geltend macht, kopiere, mitmache, nachahme und daß das ein-
gefühlte Psychische an dieses aktive Mitmachen an-
geschlossen erscheint; dann bin ich im Zustande des Mit-
erlebens. Auch wer der Ansicht zuneigt, daß der „wahrhaft"
ästhetische Zustand oder das „richtige" ästhetische Verhalten
in dem bloßen Schauen des Psychischen bestehe, wird nicht
leugnen können, daß die schriftstellerischen Versuche, die
„ästhetische Ekstase" zu schildern, neben dem passiveren Zu-
stande immer und immer wieder auf etwas Aktiveres hinweisen,
wobei das Einfühlen als eine Betätigung des Beobachters er-
scheint, für die sich die Bezeichnungen Mit- oder Nacherleben
unwillkürlich einstellen. Mit dem bloßen Einwand, das sei eben
unwissenschaftlich geredet, ist es für den nicht getan, dem ein
solches Mitgerissenwerden als besonders köstlich, ja als der
Gipfel der ästhetischen Zustände erscheint. Er wird sich viel-
mehr als Psychologe ernstlich fragen müssen, inwiefern man bei
der Schilderung des Erlebten zu diesem „Mit" oder „Nach" ge-
Windelband, Die Philosophie im Beginn des so. Jahrh. U. Bd. 11
162 ÄBthetik.
langt, nnd ob dabei tatsächliche Beziehungen vorhanden sind,
die es erlauben, das „Mit'' oder „Nach'' auch in der wissen-
schaftlichen Terminologie beizubehalten.
Hier kann man nun ohne Zweifel mit leichter Mühe fest-
stellen, daß der Ausdruck „Miferleben in einer Hinsicht wissen-
schaftlich bedenklich ist. Wir haben die „Sehnsucht" in der
Schumannsclfen Melodie nicht zuerst wie ein Vorbild „vor uns"
und leben das Qefdhl dann außerdem noch einmal „in uns"
nach, sondern es ist von vornherein unsere Sehnsucht, die sich
den Tönen einfühlt, und dabei bleibt es: das Erlebnis ist, wenn
wir von dem Zustande des komponierenden Künstlers, der uns ja
nicht gegeben ist, absehen, nicht doppelt, sondern nur einfach
da. Sogar der besondere Fall, wo wir eine in einem Mitmenschen
wirklich vorhandene Sehnsucht „miterleben", bildet psychologisch
betrachtet, keine Ausnahme hiervon; denn auch dem lebenden
Menschen müssen wir „unsere" Sehnsucht einfühlen — die seinige
ist uns nicht als Vorbild gegeben. Sofern man daher das psy-
chische Innenleben des betrachteten Objekts für sich allein in
Erwägung zieht, hat unser Ausdruck keine wissenschaftliche Be-
rechtigung; er fällt mit dem Irrtum des naiven Bewußtseins,
daß uns fremdes Psychisches von außen her gegeben sein könne.^)
— Wenn trotzdem Ästhetiker, denen das ganz genau bekannt
ist, an dem „Mit" oder „Nach" festhalten möchten, so muß dafür
noch ein anderer Grund vorhanden sein.
Auf diesen anderen Grund weist der Ausdruck „innere
Nachahmung" hin, den ich zu dem Terminus „Miterleben" in
Beziehung gebracht habe. Wenn ich die Schumannsche Melodie
ruhig anhöre, so ist sie mir einfach gegeben. Wenn ich dagegen
zugleich leise mitsinge, und zwar so, daß ich mich ganz durch
das Gehörte leiten lasse, so ist sie doppelt gegeben, einmal als
Vorbild und einmal als Nachahmung. Wie es aber ein
„inneres Sprechen" gibt, das auf bloß reproduzierten oder auf
sinnlich wirklichen Bewegungen des Stimmapparates (oder auf
beidem) beruht, so gibt es auch ein inneres Singen. Begleite ich
nun die gehörte Melodie durch mein inneres Mitsingen, so habe
ich sie „innerlich nachgeahmt". Eine solche innere Nachahmung
^) BaJi man bei Knnstwerken von einem wirklichen oder yermeintlichen
Nacherleben des vom schaffenden Künstler Erlebten reden kann, ist selbstver-
ständlich. Dann hat aber das „Nach'' nicht die psychologische Bedeutung,
Ton der hier die Rede ist.
Ästhetik. 163
ist aber nicht nur in dem angef&hrten Falle, sondern überall
da möglich, wo nns Formen gegeben sind: wir können op-
tische nnd akustische Gestalten innerlich nachformen.^) — Und
nnn vertrete ich die Hypothese: wo wir so unabweisbar das
Bedürfnis haben, bei der genußreichen Wahrnehmung ästhetischer
Objekte von ieinem Mit oder Nach des Erlebens zu reden, da
pflegt der „Eopiecharakter", den wir dem Zustande zuschreiben,
in der inneren Nachahmung von Formen begründet zu sein, und
soweit das zutrifft, hat jene Ausdrucksweise wissenschaftliche
Berechtigung. Weil wir das Auf und Ab der Töne, durch eine
reproduktive und oft auch sensorische Aktivität, die sich in
unserem Gesamtbewußtsein geltend macht, nacherzeugen, erhält
die eingefühlte Sehnsucht den Charakter des Miterlebens: das
Nach oder Mit ist die Färbung, die dem ganzen ästhetischen
Zustand durch die innere Nachahmung der Form zuteil wird.
Ich will nun versuchen, diese Theorie der inneren Nach-
ahmung in kurzen Sätzen übersichtlich zu formulieren.
1. Das Verständnis für Psychisches und damit auch die
Einfahlung des Psychischen wird beim Kinde hauptsächlich durch
äußere Nachahmungshandlungen herbeigeführt
2. Die meisten äußeren Nachahmungen sind kein un-
mittelbares Mitmachen, sondern stellen sich beträchtlich
später ein, wenn das Vorbild nicht mehr vorhanden ist. Zu
ihrer vollständigen Erklärung bedarf es der Annahme, daß
schon beim Wahrnehmen des Objektes leise imitatorische
Einstellungen, die den Charakter eines inneren Nachahmens
oder Mitmachens besitzen, vorausgegangen sind.^)
3. Dieses innere Nachahmen kann eine selbständigere
Bedeutung für das Seelenleben gewinnen, sobald Analogien
der psychischen Zustände, die früher mit der äußeren Handlung
verbunden waren, den Gesetzen der Gewohnheit entsprechend
zu der andeutenden imitatorischen Einstellung hinzutreten.
*) Wenn Külpe daranf hinweist, daß dieses innere Nachahmen bei ver-
schlnngenen, komplizierten Ornamenten zn schwerfiOlig sei, nm den Qenoß zu
erklären, so antworte ich mit der Frage, ob wir uns von solchen Ornamenten
„hingerissen'' fühlen?
*) Vgl. hierzn mein Bach über den ästhetischen Genoß 202 f., 60 f., 193 f. —
Ein frappanter Fall, der diese Erklärung anch andern nahegelegt hat, findet
sich in dem Anisatz von C. Stumpf über die „eigenartige sprachliche Ent-
wicklung eines Kindes*". Ztsch. f. pädag. Psychol. in, 4401, 478.
n*
164 Ästhetik.
4. Dieses Hinzukommen kann nach denselben Gesetzen auch
dann erfolgen, wenn das ursprünglich sensorische innere
Nachahmen durch ein ausschließlich oder zum Teil reproduk-
tives ersetzt wird.
5. Es wird sich nach denselben (besetzen auch da ein-
stellen können, wo andere als die ursprünglich der Imitation
dienenden Bewegungsvorgänge von ähnlicher „Gestaltqualität^
vikarierend eintreten. So kann der besonders gut geübte und
äußerst bewegliche Sprachapparat „innerlich nachahmend" eine
Bewegung des ganzen Organismus (z. B. Aufsteigen, Hinab-
gleiten) ersetzen, und psychische Inhalte an sich ziehen, die
ursprünglich jener durch ihn ersetzten Bewegung zukommen.^)
6. Wenn beim Wahrnehmen der Form die altgewohnte
Tendenz zur inneren Nachahmung so verwirklicht wird, daß die
sensorischen oder reproduzierten Einstellungen zu schwach und
zu wenig lokalisiert sind, um uns von der Konzentration
auf das Objekt abzuziehen, und doch zu stark, um ohne Wirkung
auf den Gesamtzustand des Bewußtseins zu bleiben, so nimmt
die Einfühlung den Charakter des Miterlebens an: wir schauen
das Psychische nicht nur im Objekt, sondern es ist uns, in der
nachträglichen Reflektion, als habe während des Genießens unser
eigenes Ich mitlebend darin gesteckt. Die Selbstvergessen-
heit des Schauens wird zur aktiveren Selbstversetzung,
ein Unterschied, der auch bei anderen Ekstasen von Bedeutung
ist — Ein Schritt mehr, und der Zauber ist zerstört, die deut-
lichere Lokalisierung der Einstellungen läßt das Bewußt-
sein des eigenen leiblichen Zustandes hervortreten, an Stelle
der Selbstversetzung tritt die Selbstbesinnung. Hier kann man
in gänzlich verändertem Sinne sagen: die Träne quillt — die
Erde hat mich wieder.
7. Das selbstvergessene „Schauen" des Psychischen ist in
seiner Entstehung hauptsächlich vom äußeren und inneren Nach-
ahmen abhängig.^) Auch hier machen es aber die Gesetze der
') Man sehe doch einmal ganz davon ab, ob derartiges unentbehrlich ist
oder eine Hauptursache der Lust bildet; die einfache Erwägung, was man
alles durch den von der Sprechmuskulatur geleiteten Atem „ausdrücken" kann,
ist Ton höchstem Interesse für die Psychologie des ästhetischen Verhaltens.
^ Ich sage nur „hauptsächlich", weil Gefühle mit Farben und Tönen durch
angeborene Einrichtungen yerbunden sein können und weil neben der Nach-
ahmung auch die gemeinsame, ähnliche, aber nicht aus Imitation entspringende
Beaküon auf einen gegebenen Reiz in Betracht kommen kann.
Ästhetik. 165
Gewohnheit verständlich^ daß z. B. das energische Emporstreben
einer menschlichen Gestalt, das ursprünglich infolge der inneren
Nachahmung zu dem sinnlich Gebotenen hinzugekommen war,
auch ohne diesen aktiveren Zustand dem Objekte einzuwohnen
vermag. Infolgedessen kann es eine Einf&hlung geben, die nicht
als innere Nachahmung bezeichnet werden darf.
8. Die Grenzen der inneren Nachahmung sind durch den
Begriff der Form bestimmt. Wo das ästhetische Objekt durch
Formen zu uns redet — wenn aber die Form fehlt, so „reden"
die Objekte nicht viel — da ist die Möglichkeit gegeben, daß
die Einfühlung durch die sensorische oder reproduktive Nach-
erzeugung dieser Formen den Charakter des Mit- oder Nach-
erlebens annimmt^)
9. Das auf der inneren Nachahmung der Form beruhende
Miterleben ist weder ein für alle ästhetischen Zustände wesent-
liches Merkmal noch die einzige Quelle ästhetischen Vergnügens.
Aber es ist eine besondere Form der „ästhetischen Ekstase" und
daher eine der wichtigsten Erscheinungen der Psychologie des
Ästhetischen überhaupt
— Im Anschluß an diese Ausführungen berühre ich noch eine
Beihe von Fragen, die mit dem Problem der Einfühlung mehr
oder weniger eng zusammenhängen.
Was eben über die Grenzen der inneren Nachahmung ge-
sagt wurde, führt auf einen sehr interessanten Gegenstand, dessen
Erforschung sich erst in den Anfangen befindet: den Genuß der
„Lesepoesie". Die Fähigkeit, ein poetisches Kunstwerk durch
den Anblick geschriebener oder gedruckter Worte zu genießen,
steht meines Erachtens auf der Grenze zwischen ästhetischem
Genuß und künstlerischer Reproduktion. Wenn wir ein von dem
Poeten niedergeschriebenes Gedicht lesen, so ist das Wahmeh-
mungsobjekt, das der Künstler geschaffen hat und uns zur Be-
trachtung darbietet, im Gegensatz zu allen anderen Kunst-
schöpfungen (außer der analogen „Lesemusik") auf Buchstaben-
zeichen zusammengeschrumpft, die als solche jegliche ästhetische
Bedeutung für den poetischen Genuß entbehren, d. h. ein ästhe-
^) Es gibt Menschen, deren ästhetisches Verhalten so stark nach der
aktiven Seite ausgebildet ist, daO sie auch da, wo für den gewöhnlicher Be-
schauer von einer Form kaum gesprochen werden kann, in der gewohnten
Weise zu reagieren suchen. Dahin gehört das „Einatmen^* einer einzelnen
Farbe.
166 ÄBthetik.
tisch es Wahrnehmungsobjekt ist (da die Schönheit der Schrift
oder des Dmckes hier nicht mitspricht) überhaupt nicht vor-
handen. Es wird (soweit die ästhetische Bedeutung des Wahr-
nehmungsobjektes in der Poesie überhaupt in Betracht kommt) *),
ersetzt durch die Erzeugung der den Wortzeichen entsprechen-
den Klangbilder in unserer Reproduktion, die, wie ich in
dem ^^ästhetischen Genuß" zeigte, von solcher Lebhaftigkeit sein
können, daß sie gleich sinnlichen Gehörseindrücken im „primären
Gedächtnis'^ nachklingen. — Hier könnte nun von einer „inneren
Nachahmung" nur noch in dem Sinne geredet werden, in dem
man die Handlung eines Kindes, das aus irgend einem Anlaß
früher nachgeahmte Bewegungen der Erwachsenen wiederholt,
eine äußere Nachahmung nennt, oder in dem man von einer durch
die Lektüre veranlaßten „imitatio Christi" spricht: das Vorbild
ist durch Bedeutungszeichen vertreten. Jedenfalls beginnt aber
hier nicht nur der Begriff der inneren Nachahmung zu versagen;
denn der der Einfühlung in das Wahrnehmungsobjekt ist,
soviel ich sehe, in demselben Falle überhaupt nicht mehr ver-
wendbar, und von einem „Miterleben" kann man nur in dem
uneigentlichen Sinne sprechen, daß man das von dem Dichter beim
Schreiben Erlebte am Leitfaden der Buchstabenfolge in sich
selbst aufs neue erzeugt Der Leset steht dem reprodu-
zierenden Künstler nahe. Wenn der erfolgreiche Vorleser
poetischer Werke ein Künstler genannt werden kann, so ist
auch die „innere Deklamation" des genießenden Lesers eine
Art Virtuosenleistung. Diese Erwägung wirft Licht auf die
innere Verwandtschaft, die auch zwischen dem sonstigen ästheti-
schen Genießen und dem künstleiischen Schaffen zweifellos
besteht.
Mit der ästhetischen Einfühlung steht femer das vielum-
strittene Problem der ästhetischen Illusion in naher Be-
ziehung, obwohl die beiden Begriffe keineswegs äquipoUent sind.
Am bekanntesten ist in der neueren Literatur die lUusionslehre
Konrad Langes, dessen Auffassung des Vorganges jedoch
vielfach auf Widerspruch gestoßen ist. Auch hier ist die
Kritik meistens in den gewöhnlichen Fehler verfallen, rein negie-
rend zu bleiben, anstatt nach dem positiv Wertvollen in dem
Objekt ihrer Beurteilung zu fragen. Das Richtige an Langes
') Ygl Th. A. Meyer, „Das StUgesetz der Poesie", 1901.
Ästhetik. 167
Theorie liegt, wie mir scheint, darin, daß er in Übereinstimmung
mit älteren Ästhetikern den Unterschied zwischen der Illusion
im gewöhnlichen Sinne (wirkliches Getäuschtwerden, objektiv
unrichtige Apperzeption) und der „ästhetischen^ Illusion klar
erkannt und durch den Ausdruck „bewußte Selbsttäuschung*'
hervorgehoben hat: von jenem Getäuschtwerden unterscheidet
sich der Zustand der bewußten Selbsttäuschung dadurch, daß
sich außer der unrichtigen Apperzeption auch die
richtige Auffassung im Bewußtsein geltend macht.
Nur in der Frage, wie das Gegeneinanderwirken der beiden
Auffassungen psychologisch zu beschreiben ist, scheint mir Langes
Theorie des Pendeins oder Oszillierens nicht zu genügen. Meine
eigene Ansicht gibt, wie ich glaube, durch Anknüpfung an die
Lehre des Psychiaters 0. Groß von der „Sekundärfunktion" die
Wirklichkeit genauer wieder. Da ich sie erst in dem „Seelen-
leben des Kindes" (1904, S. 162 f.) mit genügender Klarheit formu-
liert habe, gestatte ich mir, wenigstens die Hauptsätze hier zu
wiederholen.
Die Erklärung der für das Spiel und den ästhetischen Genuß
so bedeutungsvollen Zwischenzustände, in denen wir, wie Dil-
they einmal sagt, glauben und doch nicht glauben, ist hiemach
in der Nachwirkung („Sekundärfunktion", „Perseveration")
der vorausgegangenen objektiv richtigen Auffassung zu
suchen. Diese Nachwirkung tritt den zur völligen Illusion
drängenden Momenten hemmend entgegen, wie sich das
z. B. bei einem körperlichen Kampfspiele zeigt, wo die ursprüng-
liche Apperzeption der Sachlage derart in den Ringern fortwirkt,
daß sie trotz alles Aufgehens in der Situation doch nicht die
Grenzen zwischen Spiel und Ernst überschreiten. Und wie diese
Nachwirkung bei den Kämpfenden eine doppelte sein kann:
einmal eine rein physiologisch zu fassende dauernde Hem-
mung von äußeren Reaktionen, die sich ohne sie zum ernstlichen
Zerstörungsversuch auswachsen würden, andererseits ein in der-
selben Richtung wirkendes momentanes Aufblitzen des Spiel-
bewußtseins (das sich ja manchmal in dem kurzen, stoßweise
hervortretenden Auflachen der Ringenden verrät) — so verhält
es sich auch bei der ästhetischen Illusion. Die objektiv
richtige Auffassung, mit der wir an den Gegenstand herantreten
und die (das sei der Kritik gegenüber ausdrücklich hervorge-
hoben) durchaus kein aktueller Urteilsvorgang zu sein braucht
168 Ästhetik.
liegt dabei auf dem Gnmde der Seele und „wirkt nach^. Wir
liaben im Theater nicht genrteilt: „hier sitzen wir in einem
Sessel, um einer bloß mimischen Darstellung zuzuschauen'', „dieses
Gretchen ist in Wirklichkeit die Schauspielerin N." usw.; wohl
aber ist die objektiv richtige Apperzeption in uns dagewesen,
die die Voraussetzung far solche Urteile bilden würde. Wäh-
rend wir nun unter dem Einfluß der illusionsfördemden Momente
scheinbar völlig in der dargestellten Situation aufgehen, als ob
gar nichts auf der Welt existierte als dieser Kerker und diese
Unglückliche in ihrem herzzerreißenden Zustande, bleibt doch
die Sekundärfunktion der richtigen Auffassung in Wirkung, und
zwar in doppelter Hinsicht. Sie kann gänzlich unbewußt den
vollen Ausbruch der Gefühle und der sich an sie anschließenden
Eeaktionen zurückhalten, und sie kann außerdem (wie die „Aus-
hilfesilben" bei Memorierversuchen) zeitweise flüchtig im Be-
wußtsein aufsteigen und dadurch die Hemmungen noch
verstärken. In beiden Fällen entsteht aber jener eigentümliche
Zwischenzustand der ästhetischen Hlusion, der in Wahrheit
als eine nur „aufkeimende", in der vollen Entfaltung „gehemmte"
Illusion bezeichnet werden darf.
Ein anderes Problem, das sich auf alle ästhetischen Emo-
tionen, damit aber auch auf den Begriff der Einfühlung er-
streckt, tritt in der gleichfalls viel verhandelten Frage hervor,
inwiefern die Organempfindungen für den ästhetischen
Zustand in Betracht kommen. Der Streit um die Bedeutung
der Organempflndungen spielt seit dem Auftreten der James-
Lang eschen Gefühlstheorie in der Ästhetik eine nicht unbe-
trächtliche Rolle. Ich erwähne hier nur den Aufsatz von Ver-
non Lee und Anstruther-Thomson über „Beauty and
ugliness" (Contemporary Review 1897), die „Poetik" von
H. Roetteken (1902) und die neuere Schrift des Begründers
jener Gefühlstheorie: Karl Langes Abhandlung über „Sinnes-
genüsse und Kunstgenuß" (herausg. von H. Kurella, 1903). Der
schon von Lotze in eindringlichster Weise entwickelte Ge-
danke, daß die psychischen Begleiterscheinungen der innerorgani-
schen Vorgänge (der Zirkulation, der Atmung, der nach außen
nicht merklich hervortretenden Innervationen in den Gliedmaßen,
in der dem Ausdruck dienenden Gesichtsmuskulatur u. dgl) einen
wichtigen Anteil an dem Gesamtcharakter unserer Gemütsbe-
wegungen habe, ist von seinen neueren Vertretern zum Teil mit
Ästhetik. 169
unkritischer Einseitigkeit als ausschließlicher Erklärungsgrund
yerteidigt, von manchen seiner Gegner als eine Absurdität ver-
spottet worden. Ich gestehe, da£ mir auf Grund der Selbst-
beobachtung jene Übertreibung fast eher begreiflich erscheinen
will, als die yöllige Verwerfung. Zum mindesten wird man, wie
ich glaube, das an der Theorie bestehen lassen müssen, was
von einem ihrer schärfsten und scharfsinnigsten Kritiker, von
Stumpf als berechtigt anerkannt wird. „Gilt es,^ so sagt er
am Schluß seines Aufsatzes „Über den Begriff der Gemütsbewe-
gung" (Zeitschr. t Psych, u. Physiol. der Sinnesorgane, Bd. XXT,
S. 93 f.), „nicht bloß das Minimum wesentlicher Merkmale an-
zugeben, die den Begriff des Affekts überhaupt und der ein-
zelnen Affekte ausmachen, sondern eine einigermaßen ausgiebige
Beschreibung des Gesamtzustandes zu liefern, welchem so
inhaltsschwere Wörtchen wie Zorn, Gram, Liebe entsprechen:
dann freilich werden die Organempfindungen mehr als bisher in
den Vordergrund treten müssen. Romanschriftsteller sind uns
hierin vorausgeeilt. Der Ton, die Farbe, die Temperatur des
Affekts ist durch solche Empfindungen sicherlich mitbedingt"
Wer möchte aber bestreiten, daß in der Ästhetik auf Ton, Farbe,
Temperatur der Gemütsbewegungen sehr viel ankommt?
Wie mir scheint, wird es sich empfehlen, bei der künftigen
Behandlung dieser Streitfrage zwei Unterscheidungen nicht außer
acht zu lassen. In erster Linie muß betont werden, daß die
inneren Organempfindungen in vielen Fällen auch durch ihre
Reproduktionen ersetzt sein können. Besonders die Unter-
suchungen Volkelts haben in dieser Hinsicht aufklärend ge-
wirkt. Wie stark (auch abgesehen von Traum und Halluzination)
die bloßen Reproduktionen in anderen Sinnesgebieten zu wirken
vermögen, das hat mir die schon erwähnte Beobachtung über-
zeugend vor Augen gefuhrt, daß die rein reproduzierten Klang-
bilder beim stillen Lesen noch längere Zeit im „primären Ge-
dächtnis" mit einer Frische und Lebhaftigkeit nachzutönen
pflegen, die man a priori sicherlich nur im Anschluß an sinn-
liche Gehörsdaten erwarten würde. Es ist kein Grund vor-
handen, eine ebenso kräftige Wirkung reproduzierter Organ-
empfindungen zu bezweifeln. Daher ist es ganz gut denkbar,
daß „der Ton, die Farbe, die Temperatur des Affekts" im ästhe-
tischen Zustand durch solche Reproduktionen bedingt sein kann,
ohne sich darum bis zur Unwirksamkeit zu verflüchtigen.
170 ÄBthetik.
Zweitens muß man bei der Würdigung der Organempfln-
dungen zwischen ihrem speziellen Anteil an dem Geffihlscharakter
und ihrer aUgemeinen Bedeutung für die ästhetischen Bewußt-
seinszustände überhaupt unterscheiden. Schon die „Einfühlung'^
ist keineswegs, wie der Name vermuten lassen könnte, ein bloßes
Leihen von Gefühlen; besonders das innere Miterleben enthält
vieles, was ganz abgesehen von den Emotionen der Betrachtung
wert ist Wir erleben beim Anhören jener Melodie nicht nur
„Sehnsucht", sondern auch eine auf- und abwärts gehende Be-
wegung, und wenn bei dem „Erleben" dieser Bewegung Organ-
empfindungen eine Rolle spielen sollten, so ist das an und für
sich von Bedeutung. Der Psychologe wird sich daher erstens
fragen können, ob der lebendige Eindruck einer uns „mitreißenden"
Tonfolge durch solche leibliche Resonanz in sensorischer oder
reproduktiver Form zustande komme. Er wird davon die zweite
Frage unterscheiden, ob die in jener Bewegung hervortretende
„Sehnsucht" als gefühlswarmes ästhetisches Erlebnis ebenfalls
mit solchen Faktoren zusammenhänge. Und wenn er dann auch
das genußreiche Resultat, die Lust am Erlebnisinhalt ins
Auge faßt, so wird er nicht, annehmen müssen, daß das Vergnügen
den Organempflndungen als solchen entspringe; wohl aber wird
er sich die dritte Frage stellen können, ob diese Lust, die ihn
mit süßen Schauem überrieselt, als konkrete Gemütsbewegung
nicht abermals eine „Färbung gebende" leibliche Resonanz
aufweise.
Auch der Begriff des Spieles ist für die Auffassung der
ästhetischen Erscheinungen von Wichtigkeit. Man kann sowohl
die künstlerische Produktion als auch das ästhetische Genießen
mit dem Spiele vergleichen, und wir sind seit Kant und
Schiller mit diesen Beziehungen vertraut. Ich habe in meinen
Schriften die Verwandtschaft des Spiels mit dem ästhetischen
Genuß besonders stark betont, ja diesen direkt als Spiel be-
zeichnet. Wenn man eine um ihrer eigenen Inhalte willen (also
nicht erst durch Beziehung auf andere Inhalte) genußreiche Tätig-
keit als Spiel bezeichnet, so wird auch das ästhetische Anschauen
diesem Begriff zu subsumieren sein. Eülpes „Eontemplations-
wert" und Cohns „rein intensiver Wert" liegen in derselben
Richtung. Der Einwand, daß man unter Spielen nur äußere
Tätigkeiten verstehe, scheint mir sachlich nicht berechtigt, da
man auch vom Spiele mit Phantasiebildern redet (man denke
Ästhetik. 171
an den Yersnch, ein Sätsel oder ein Schachproblem zu lösen).
Will man aber dennoch den Spielbegriflf enger fassen, so würden
eben Spiel und ästhetischer Gennß unter den umfassenderen
Begriflf der „Inhaltsgenüsse" fallen, für den uns freilich die
Sprache keinen schon gebräuchlichen Terminus zur Verfugung
stellt. Das Wesentliche hängt natürlich am Gedanken, nicht
am Worte. Wichtiger ist die Frage, wodurch sich das ästhetische
Genießen von den übrigen Spielen (oder Inhaltsvergnügungen)
unterscheidet. Einen beachtenswerten Versuch zur Lösung dieser
Frage, der aber zunächst die früher geschilderte Auffassung des
ästhetischen Verhaltens als eines Beschauens oder Betrachtens
von Gefühlen voraussetzt, findet man in der Ästhetik Witaseks.
Im Spiele, sagt er dort (S. 227 f.), seien die durch Illusion („An-
nahme") erregten Gefühle gleich auch schon der Genuß am Spiel;
in der Kunst dagegen seien diese Gefühle erst Gegenstand
des Genießens, indem sie, ihrerseits vorgestellt, die Voraussetzung
des ästhetischen Lustgefühls bilden.
Der letzte Begriff, den ich im Zusammenhang mit dem
Problem der Einfühlung noch erwähnen möchte, ist die „Ein-
heit des Mannigfaltigen". Daß das Schöne auf eine
Einheit des Mannigfaltigen (Einstimmigkeit, Harmonie des Ein-
zelnen im Ganzen) zurückzuführen sei, ist eine der ältesten und
beharrlichsten Überzeugungen der Ästhetik, und es ist inter-
essant zu sehen, wie dieser Satz je nach dem wissenschaftlichen
Standpunkt des Forschers in verschiedener Beleuchtung wieder-
kehrt. Man kann eine metaphysische, eine physische, eine er-
kenntnistheoretische und eine psychologische Formulierung des-
selben Gedankens unterscheiden. Die metaphysische geht auf
die — sei es nun mißverständlich oder berechtigterweise als
transzendentes Sein aufgefaßte — platonische Idee zurück, deren
formales Wesen in der Einheit des Mannigfaltigen besteht und
mit der Schönheit zusammenfallt. Unter der physischen For-
mulierung verstehe ich eine solche, die den in der Erfahrung
gegebenen Grund des Schönen in der objektiven Übereinstimmung
der Teile untereinander und mit dem Ganzen erkennt, ohne
dabei auf die subjektive Seite dieser Beziehung zu reflektieren.
Die erkenntnistheoretische Bestimmung setzt an Stelle der empi-
risch- oder metaphysisch-objektiven Einheit die Gesetzmäßigkeit
oder Einstimmigkeit des Bewußtseins, die im Wirklichen
sich nicht vollendet, im Sittlichen als Seinsollendes nur gefordert
172 Ästhetik.
wird, aber im schönen Scheine so zur Darstellung gelangt, als
ob das Seinsollende Wirklichkeit wäre. Die psychologische end-
lich gründet sich auf die tatsächlich vorhandene Tendenz des
Bewußtseins, das Mannigfaltige — besonders im Zustand der
Aufmerksamkeit — zu einer Einheit zusammenzufassen. Diese
„monarchische Einrichtung" oder „Verfassung", wie ich sie in
meiner Einleitung in die Ästhetik nannte, wird auch durch die
psychologischen Unterscheidungen von „Blickfeld und Blickpunkt",
„Fokal- und Bandobjekt" des Bewußtseins zum Ausdruck ge-
bracht. Nimmt man an, daß das Schöne in einer objektiven
Darbietung begründet sei, deren Eigenart eben darin besteht,
die monarchische Verfassung des Bewußtseins durch Über- und
Unterordnung zu vollkommener Verwirklichung gelangen zu lassen,
so hat man den alten Gedanken in der Sprache der Psychologie
ausgedrückt Die beste Durchführung der „monarchischen Unter-
ordnung" findet sich wohl in der Ästhetik von Lipps.
Diese psychologische Fassung hat aber den Vorteil, das
Prinzip der Einstimmigkeit in direkte Verbindung mit dem
Prinzip der Einfühlung zu bringen. Denn wenn eine monarchische
Verfassung den innersten Tendenzen des Bewußtseins entspricht
so wird die Einfühlung der eigenen Persönlichkeit in das Objekt
da am vollkommensten und reinsten sein, wo sich der Gegenstand
als Einheit des Mannigfaltigen darstellt Dieser Konnex, der
z. B. in den Ausführungen Siebecks („Harmonie ist die nach
außen gewendete Beseelung", a. a. 0. 140) besonders deutlich
hervortritt, ist eine der tiefsten Gedankenbeziehungen innerhalb
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Gesehiehte der Philosophie.
Von
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Es ist außer Frage, daß die Geschichte der Philosophie in
der wissenschaftlichen Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts eine
Ausdehnung und eine Bedeutung gewonnen hat wie zu keiner
Zeit vorher: und man begegnet vielfach der Ansicht, diese
Emsigkeit des historischen Interesses stehe in wesentlichem Zu-
sammenhange mit dem Mangel an schöpferischer Kraft und Lust,
der nach der überreichen Entladung des metaphysischen Triebes
als ein natfirlicher Rfickschlag eingetreten war, — es sei ein
Zeichen der Erschöpfung und der Sammlung, wie nach einer
verlorenen Schlacht Diese Auffassung trifft auch wirklich in
gewissem Sinne die Verhältnisse der Philosophie im Anfang der
zweiten Hälfte des Jahrhunderts, wo ein großer Gelehrter das
Wort geprägt haben soll: „es gibt gar keine Philosophie, es
gibt nur eine Geschichte der Philosophie".
Allein es würde ein großer Irrtum sein, wenn man meinen
wollte, darin liege der Ursprung und der entscheidende Grund
für die lebhafte Beschäftigung der Philosophie mit ihrer eignen
Geschichte. Diese reicht vielmehr bis in die große schöpferische
Zeit der deutschen Philosophie zurück und entspringt in ihr aus
den innersten Motiven der idealistischen Bewegung selbst. Sie
ist eine notwendige Erscheinung der historischen Weltanschauung,
zu der jene Entwicklung geführt hat. Es war das prinzipielle
Ideal der Romantik, die neue „Bildung^, die sie suchte, aus einem
176 Geschichte der Philosophie.
bewußten Verständnis aller gi'oßen Errungenschaften der Ver-
gangenheit herauszuarbeiten. Aus diesem gemeinsamen Motiv
sind die Anfänge einer Literaturgeschichte großen Stils und die
Gedanken der historischen Schule der Jurisprudenz ebenso her-
vorgegangen wie die Begründung einer wissenschaftlichen Ge-
schichte der Philosophie. Für einen Mann freilich von der un-
fruchtbaren Paradoxie Friedrich Schlegels mochte es bei dem
„Dichten über das Dichten^ und bei dem „Philosophieren über das
Philosophieren" bleiben: aber schon Schleiermacher griflf das
große Werk der Piatonübersetzung kräftig an und dehnte in
der Folge seine eindringenden Untersuchungen auf den ganzen
Umfang der antiken Philosophie aus. Mit ihm begann die gleich-
zeitig aus dem Geiste des Neuhumanismus neugeborene Philologie
sich einem kritischen Studium auch der griechischen Philosophen
zuzuwenden, und die feinsinnigen Arbeiten Böckhs leiteten die
Reihe der glänzenden Forschungen ein, die seitdem diesem
Teil der Geschichte der Philosophie so reichlich zu statten ge-
kommen sind.
Viel tiefer aber und energischer gestaltete sich das Ver-
hältnis zwischen dem System und der Geschichte der Philosophie
durch Hegels Lehre: hier nahm es die Form einer begrifflich
notwendigen Beziehung an. Schon in der Phänomenologie hatte
Hegel die Selbstverständigung der Vernunft nach zwei Richtungen
entrollt, indem er einerseits den dialektischen Fortschritt des
sich selbst von Stufe zu Stufe tiefer und konkreter verstehenden
Bewußtseins, andererseits die reiche Fülle der Gestalten verfolgte,
in deren Reihe es sich, wie an allen Formen des lebendigen
Eulturgeistes, so auch an den historischen Gebilden des wissen-
schaftlichen Begreifens entfalte : und beide Linien hatte er kunst-
voll ineinander spielen lassen, — mit jener geheimnistuerischen
Virtuosität des Polyhistoren, die diesem ebenso bizarren wie ge-
nialen Erstlingswerke seinen unvergleichlichen Charakter auf-
drückt. In dem ausgereiften und didaktisch gegliederten System
treten die beiden Linien scharf und deutlich auseinander, um
ihren Parallelismus desto eindrucksvoller erkenntlich zu machen:
die dialektische Entwicklung des Systems der Kategorien in der
Logik soll dieselbe sein, wie die historische Entwicklung der
Prinzipien in der Geschichte der Philosophie.
Damit war — was zu allen Zeiten und von allen Seiten
anerkannt werden muß und auch wohl anerkannt wird — zum
Geschichte der Philosophie. 177
erstenmal prinzipiell die Geschichte der Philosophie selbst za
einer Wissenschaft erhoben; an die Stelle der geistlosen Kuriosi-
tätensammlung, in der man bisher die verwunderlichen Meinungen
gelehrter Herrn nacherzählt hatte, war die Aufgabe getreten,
sie in ihrem inneren Zusammenhange als eine notwendige Reihen-
folge und als ein sinnvolles Ganzes zu verstehen. Das bleibt
Hegels Verdienst auf alle Fälle. Aber vielen schien es sogleich,
und den weitaus meisten scheint es noch heut, als habe er in
seiner Ausfuhrung dieses Gedankens weit über das Ziel hinaus-
geschossen, indem er die Sache dahin wendete, daß die Geschichte
der Philosophie nun auch gleich selber eine philosophische
Wissenschaft sein sollte. Das war in der Tat seine Meinung.
In dem großartig entworfenen Zusammenhange der philosophi-
schen Disziplinen bildete ihm die Geschichte der Philosophie
das letzte, abschließende Glied: und indem sie mit der Logik,
als dem Anfangsgliede, zu durchgängiger Korrespondenz über-
einstimmte, rundete sich gerade dadurch das ganze System zu
geschlossener Totalität ab.
Das Bedenkliche und Gefahrliche solcher Konstruktion liegt
auf der Hand. Von jeher hat man sich die billige Freude nicht
entgehen lassen, zu zeigen, daß Hegel, um den Parallelismus von
dialektischer und historischer Entwicklung der Kategorien auf-
recht zu erhalten, in der Geschichte der Philosophie gelegentlich
recht willkürlich mit den chronologischen Verhältnissen umge-
sprungen ist: und man hätte umgekehrt — was freilich nicht
ganz so bequem war — zeigen können, wie oft er in der Logik
dem historisch unverrückbar gegebenen Fortgang und Übergang
eine dialektische Notwendigkeit künstlich unterzuschieben be-
müht gewesen ist. Darüber kann also kein Zweifel sein, daß in
diesem schematischen Sinne eines Parallelismus von systemati-
scher und chronologischer Reihenfolge der Kategorien nicht die
Rede davon sein daif, die Geschichte der Philosophie selbst als
eine philosophische Wissenschaft zu behandeln.
Aber damit ist nun keineswegs gesagt, daß die Geschichte
der Philosophie nur als eine lediglich historische Disziplin zu
betrachten und aus dem systematischen Zusammenhange der
Philosophie selbst auszuschließen sei. Die Korrekturen freilich,
welche Hegels konstruktivei* Entwurf durch die bedeutenden
Schüler, die er gerade auf diesem Gebiet — mehr als auf
irgend einem anderen — gehabt hat, durch Männer wie Zeller,
Windelband. Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrh. U. Bd. 12
178 Geschichte der Philosophie.
Job. Ed. Erdmann nnd Enno Fischer erfahren hat, diese Kor-
rektoren bewegen sich alle in der Eichtang, daß sie der ge-
nauen, mit allen Mitteln der Kritik eindringenden Feststellnng
der historischen Tatsächlichkeit ihr volles Recht in erster Linie
nnverkfimmert zukommen lassen. Aber auch in solcher, dem
historischen Empirismus völlig Bechnung tragenden Gestalt
läßt die philosophiegeschichtliche Forschung deutlich erkennen,
daß ihr letzter Zweck niemals ein nur historisches Wissen,
sondern immer zugleich ein Verständnis ist, das sich in den
Dienst der Philosophie selbst stellt. Eine prinzipielle Unter-
suchung über dies Verhältnis ist deshalb unerläßlich, wenn man
sich über die gegenwärtige Lage und Aufgabe dieser Disziplin
verständigen wilL
Es ist von vornherein klar und nicht weiter zu diskutieren,
daß man Geschichte der Philosophie treiben und erfolgreich
treiben kann, ohne dabei einen anderen wissenschaftlichen Zweck
im Auge zu haben, als den rein historischen: festzustellen, „wie
es eigentlich gewesen ist'', d. L in diesem Falle, was die Philo-
sophen gelehrt haben, wie sie dazu gekommen sind, welche
Stellung ihre Gedanken in dem geistigen Gesamtzustande ihrer
zeitlichen Umgebung einnehmen. Für jede Spezialforschung
werden sogar die Aussichten des Erfolgs um so günstiger stehen,
je mehr sie sich auf diesen Boden der tatsächlichen Untersuchung
beschränkt. Die Möglichkeit also und unter Umständen die Er-
forderlichkeit, philosophiegeschichtliche Forschungen als rein
historische Arbeit anzusprechen, steht völlig außer Frage: sie
gilt ebenso wie für die Geschichte jeder besonderen Wissenschaft
Allein daneben finden wir nun doch ein weit verbreitetes,
wenn auch seines Rechtsgrundes nicht immer deutlich bewußtes
Gefühl davon, daß die Philosophie ein weit intimeres Verhältnis
zu ihrer eigenen Geschichte hat, als irgend eine andere Wissen-
schaft zu ihrer Geschichte. Schon ein Blick auf den Lehrbetrieb
der Universitäten zeigt, daß bei keiner Wissenschaft ihre Ge-
schichte eine so große Rolle spielt wie bei der Philosophie.
Wir können uns sehr gut denken, daß jemand Mathematik,
Physik oder Chemie mit höchster Leistung studiere, ohne sich
am die historische Vorgeschichte seiner Disziplin auch nur im
geringsten zu kümmern; der Mangel einer Bekanntschaft damit
wird nicht als etwas Bedenkliches empfunden. Auch in den
historischen Disziplinen selber, z. B. in den philologischen, wird
Geschichte der Philosophie. 179
die Beschäfügung mit ihrer Geschichte als ein wohl interessantes
und lehrreiches, aber schließlich doch entbehrliches Nebenwerk
angesehen. Für das Studium der Philosophie dagegen gilt all-
gemein die Vertrautheit mit ihrer Geschichte als etwas völlig
unerläßliches, als ein integrierender Bestandteil der Sache
selbst
Worauf beruht diese Verschiedenheit? Handelt es sich dabei
um Intensitätsunterschiede in der Bedeutung des historischen
Moments für das theoretische Studium — oder handelt es sich
um eine prinzipielle Differenz? Bedeutsam genug ist ja das
historische Wissen schUeßlich für jede Art wissenschaftlicher
Arbeit. Es ist überall anregend und lehrreicL Das Nacherleben
der Gedankengänge, die zu den großen Entdeckungen, den
grundlegenden Einsichten gefuhrt haben, wird stets eine wirk-
same Art der Schulung für jedes wissenschaftliche Denken sein.
Nicht umsonst pflanzt die Geschichte neben den Irrtümern, von
denen sie zu erzählen hat, ihre Warnungstafeln auf: „Dies ist
ein Holzweg." Und wenn so der Durchschnittsarbeiter durch
das historische Verständnis positiv und negativ in den gemein-
samen Gang seiner Wissenschaft sich einzuleben lernt, so springt
aus den großen, typischen Leistungen der Vergangenheit wohl
der zündende Funke in den Sinn des neuen Genius über, dessen
schlummernde Kraft er zur Entladung und mächtigen Wirk-
samkeit bringt.
Das alles gut nun für die Philosophie nicht anders als für
jede andere Disziplin. Auch von ihrer Geschichte haben wir
an Irrtümern ebensoviel — ja, vielleicht mehr — zu lernen als
an positiven Errungenschaften: und unzweifelhaft ist es die
Versenkung in die Gedankenwelt der großen philosophischen
Genien, aus der oft dem kongenialen Nachkommen die Be-
rufung zu seiner eigenen Arbeit und die Richtung seines Nach-
denkens erwächst. Das letztere Moment ist bei der Philosophie
um so bedeutsamer, je näher sie dem künstkrischen Schaffen
steht. Wenn man in ihr wesentlich den Versuch einer Harmoni-
sierung der Ideen sieht, die Tendenz, das zerstreute Wissen zu
einer letzten Einheit der Anschauung zusammenzufassen und
damit auch zu einer überzeugungsstarken Einheit des Lebens
vorzudringen, — gerade dann tritt die vorbildliche Bedeutung
der großen Persönlichkeiten hervor: denn dies ästhetische Mo-*
ment ist das persönliche. Rud. Euckens schönes Buch über die
12»
180 Geschichte der Philosophie
Lebensanschaaungen der großen Denker gibt diesem Verhältnis
den glücklichsten und nachhaltigsten Aasdmck.
Wie Fichte gesagt hat daß, was für eine Philosophie man
wähle, davon abhängt, was für ein Mensch man sei, so gilt es
psychogenetisch jedenfalls, daß die Vorliebe, womit der Einzelne
an dem einen oder dem andern Philosophen der Vergangenheit
hängt, vielfach durch die Sympathie für die Eigenart bedingt
ist, mit der das Bild von Welt und Leben von der Persönlich-
keit seines „Lieblingsphilosophen" zurückgeworfen wird. Daher
hat die Geschichte der Philosophie vor der anderer Wissen-
schaften in der Tat dies voraus, daß in ihr mehr als sonst der
Zauber großer vorbildlicher Individualitäten zur Geltung kommt.
Das lehrt in erster Linie die Erfahrung des akademischen Vor-
trages der Geschichte der Philosophie, und der Mann, dem diese
Blätter gewidmet sind, ist mit seinem Wort und seinem Werk
ein leuchtendes Zeugnis dafür. Keiner hat es mit so voll-
endeter Meisterschaft wie Enno Fischer verstanden, die Persön-
lichkeiten der großen Philosophen aus ihrer Entwicklung heraus
vor dem geistigen Auge seiner Zuhörer und Leser lebendig zu
machen und die Zusammenhänge aufzudecken, die zwischen ihrer
Individualität und ihrer Lehre obwalten.
Aber auch darin handelt es sich schließlich nur um einen
graduellen Unterschied, und den übrigen Wissenschaften fehlt
es nicht an einer analogen Bedeutsamkeit, die ihre Geschichte
und deren hervorragende Träger für ihre Jünger besitzen. Auch
der Naturforscher kann sich an einem Newton oder Helmholtz,
auch der Historiker an einem Ranke oder Mommsen als vorbild-
lichen Persönlichkeiten begeistern und aus bewundernder Sym-
pathie sich zu eigener Forschungsweise und Auffassungsart er-
ziehen. Die intuitive Energie der Genialität spielt eben in jeder
Wissenschaft ihre Rolle, und ihre Erregung durch das geschicht-
liche Vorbild hat überall ihren Wert, wenn auch der ästhetische
Einschlag, fttr den sie erforderlich ist, in der Philosophie un-
gleich bedeutsamer mitwirkt, als in anderen Disziplinen.
Alles dies nun, was in bezug auf ihre Geschichte der Philo-
sophie mit den übrigen Wissenschaften gemeinsam und z. T. nur
in höherem Maße eigen ist, betrifft wesentlich die Frage, wie
der Einzelne Philosophie treibt oder treiben soll, wie er dabei
aus der Vergangenheit zu lernen, die Probleme aufzunehmen
und mit den Wegen zu ihrer Lösung sich vertraut zu machen
Geschichte der Philosophie. 181
hat. Das ist alles prinzipiell gerade so, wie bei den übrigen
Disziplinen, nnd in diesen Hinsichten kann man höchstens sagen,
daß es erfahmngsgemäB für den Philosophen in stärkerem Maße
als für den Mann anderer Wissenschaften förderlich und er-
forderlich ist, in der Geschichte seiner Disziplin heimisch zn
sein. Das Beispiel großer Denker wie Descartes nnd Kant zeigt
freilich, daß eine intime nnd ausgebreitet gelehrte Kenntnis des
Historischen auch in der Philosophie nicht unerläßlich ist: aber
für den durchschnittlichen Fortgang triflft jenes Verhältnis
zweifellos bei der Philosophie in besonderem Maße zu.
Ganz anders steht es dagegen mit der Frage, ob ihre eigene
Geschichte ein integrierender Bestandteil des Systems der Philo-
sophie selbst sei. Von keiner anderen Wissenschaft kann man
ein derartiges Verhältnis behaupten oder hat man es je be-
hauptet, und auch auf die Philosophie ist es nicht anwendbar,
solange man in ihr nichts weiter sieht, als die landläufige Welt-
anschauungswissenschaft. Ist sie wirklich dazu berufen, die sog.
allgemeinen Ergebnisse des übrigen Wissens zu einer einheit-
lichen Gesamtvorstellung von Welt und Leben zusammenzu-
arbeiten, so ist in der Tat nicht abzusehen, weshalb sie zu ihrer
Geschichte in einem anderen Verhältnis stehen sollte, als jede
der besonderen Disziplinen, aus denen sie ihre Weisheit zu-
sammenliest. Dann kann sie schließlich, nötigenfalls auch be-
trieben werden, ohne daß man sich um ihre Vorgeschichte son-
derlich kümmert; — dann kann sogar die Beschäftigung mit all
den Irrgängen, in die sie im Laufe der Jahrtausende verfallen
ist, als ein unnützer Ballast beiseite geworfen werden: dann
heißt es, frisch aus der Gegenwart heraus philosophieren und
das Recht, das der Lebende hat, gegen die Schatten der Ver-
gangenheit hochhalten. Es fehlt der heutigen Zeit nicht an
Stimmen und Stimmungen, die so die Last der Tradition abzu-
werfen bereit sind.
Dasselbe gilt, und zwar in verstärktem Maße, wenn man
die Aufgabe der Philosophie in einer Metaphysik sieht, die un-
abhängig von dem besonderen Wissen der empirischen Wirklich-
keit aus irgend welchen Quellen eigener Erkenntnis die letzten
Prinzipien alles Seins und Werdens erfassen soll. Dieser dog-
matische Standpunkt ist der absolut ungeschichtliche. Er sieht
in der historischen Phänomenologie des philosophischen Bewußt-
seins im besten Falle die Reihenfolge der Versuche, sich der
182 Geschichte der Philosophie.
Einsicht zu nähern, die er besitzt Ein solcher Dogmatiker
verhält sich znr Geschichte der Philosophie etwa so wie der
Mathematiker oder der Physiker zu der seiner Wissenschaft:
überzeugt, die wahre Erkenntnis seines Gegenstandes im Prinzip
errungen zu haben, betrachtet er die Arbeit seiner Vorgänger als
die in den Irrtum verschlungenen Wege zu der Höhe, von der
er auf sie zurücksieht. Die Geschichte der Wissenschaft ist die
werdende Wahrheit: als solche wird sie begriffen, wenn die
Wahrheit geworden, fertig geworden ist. So etwa hat Herbart,
wie seine „Einleitung" erkennen läßt, die Geschichte der Philo-
sophie aufgefaßt: sie gehört nicht zu ihr selbst.
Ein intimes und notwendiges, allen anderen Wissenschaften
gegenüber prinzipiell eigenartiges Verhältnis der Philosophie zu
ihrer Geschichte ist deshalb nur dann zu verstehen, wenn man
ihre Aufgabe so bestimmt, daß ihrem Gegenstande selbst, den
sie zu erkennen hat, eben die Entwicklung wesentlich ist, die
in ihrer Geschichte, empirisch erforschbar, vorliegt. Hier liegt
der Kernpunkt der Frage, und hier liegt auch der Grund, wes-
halb der deutsche Idealismus mit seiner neuen Auffassung vom
Wesen der Philosophie auch ein philosophisches Verständnis
ihrer Geschichte verlangt hat.
In allgemeinerer Formulierung hat Kuno Fischer das in der
Einleitung zu seiner Geschichte der neueren Philosophie so aus-
gesprochen, daß er die Philosophie selbst als die Selbsterkenntnis
des menschlichen Geistes definiert und den „fortschreitenden
Bildungsprozeß", der zu dem Wesen dieses ihres Gegenstandes
gehört, für den Grund des „fortschreitenden Erkenntnisprozesses"
erklärt hat, den sie in ihrer Geschichte aufweist. Die Gründe
dieser Auffassung aber weisen auf Kant und seinen neuen Be-
griff der Philosophie zurück. Kein metaphysischer Wettbewerb
mit den anderen Wissenschaften und kein System von Anleihen
bei ihnen macht danach die Aufgabe der Philosophie aus: sie
hat ihr eigenes Forschungsreich in der kritischen Untersuchung
der Vernunft und ihrer normativen Bestimmungen.
In dieser Aufgabe, wie sie Kant mit dem Begriff der syn-
thetischen Urteile a priori bezeichnet hat, steckt aber ein Di-
lemma von tiefster Schwierigkeit, das man sich ganz deutlich
gemacht haben muß, wenn man das Wesen und die Gegensätze
der deutschen Philosophie in ihrem letzten Grunde verstehen will.
Alle diese Bestimmungen nämlich, auf welche die Selbst-
Oeschichte der Philosophie. Ig3
besinnung der Vernunft in der kritischen Philosophie fuhren
soll, beanspruchen eine zeitlose und überempirische Geltung.
Sie können daher auf keine Weise in dem empirischen Wesen
des Menschen begründet sein. Selbst wenn es in der müh-
sam sich heraufflringenden Sprache des werdenden Kritizismus
bei Kant am Anfang so scheint — aber auch nur so scheint! — ,
als sollten, die Formen der Anschauung, Baum und Zeit, als
spezifisch menschliche Auffassungsweisen der Realität behandelt
und gewertet werden, so belehrt uns die transzendentale Analytik
und nachher die präzise Formulierung der Prolegomena zweifel-
los, daß es sich dabei um ein „Bewußtsein überhaupt" handelt,
das mit den empirischen Bestimmungen des menschlichen Wesens
nichts zu tun hat, — daß auch die Formen von Raum und Zeit
„gelten", gleichviel, ob und wann je ein Mensch sie tatsächlich
in seinem empirischen Bewußtsein angeschaut hat. Und je mehr
wir nun fortschreiten zu den logischen Formen, den Kategorien
und den Ideen, und dann gar zu dem Gesetz der praktischen
Vernunft, um so mehr kommt es auch in Kants Worten zum
Ausdruck, daß es sich überall um die notwendige Geltung „für
alle vernünftigen Wesen" handelt. Der Gegenstand der Philo-
sophie ist nicht etwa die „menschliche Vernunft" als ein durch
die psychische Entwicklung der Spezies homo sapiens empirisch
gegebener Zusammenhang, sondern es ist die Vernunft in ihrer
überempirischen, allgemeingültigen Bestimmtheit, — die Welt-
vernunft
Allein die Besinnung auf diese überempirische Geltung der
Vemunftwerte können wir nun als philosophierende Menschen
niemals anders vollziehen, als von dem Wissen unserer mensch-
lichen Vernunft aus. Von ihrer Selbsterkenntnis also muß die
Philosophie ausgehen: wir müssen vertrauen, daß sie Anteil hat
an jener übergreifenden Wahrheit, die weit über uns selbst
hinaus ihre Geltung besitzt, und daß wir diesen Anteil aus den
Umschlingungen herauszulösen imstande sind, in denen er für
unsere Erfahrung mit den empirischen Bestimmungen unseres
spezifisch menschlichen Wesens gegeben ist Wir dürfen dabei
nicht vergessen, daß die Geltung des Vemunftgesetzes — das
leuchtet am einfachsten schon bei jeder mathematischen Wahr-
heit ein — lediglich in ihm selbst begründet und daher niemals
aus der Art und Weise abzuleiten ist, wie es in unser empi-
risches Bewußtsein eingebettet ist: und wir werden uns damit
184 G«8chichte der Philosophie.
bescheiden^ daß wir von dieser fibergreifenden Weltvemunft
immer nur soviel verstehen und uns aneignen können, als es in
unser empiiisches Bewußtsein eingegangen ist und seine An-
erkennung darin zur Geltung gebracht hat. Eben aus diesem
Verhältnis folgt, daß die Philosophie niemals fertig sein und
immer nur in der fortschreitenden Aneignung der fibergreifenden
Vemunftinhalte begriffen sein kann.
Deshalb liegen zwar die Geltungsgrfinde für alle die
Vemunftwahrheiten, welche die Philosophie aufeustellen hat,
immer nur in der Vernunft selbst, und so wenig wie in irgend
einer Erfahrung auch in der von den menschlichen Bewußtseins-
tätigkeiten: aber die Erforschung dieser Wahrheiten kann
ihren Ausgangspunkt immer nur von der Selbsterkenntnis der
menschlichen Vernunft nehmen. Wo ist diese Selbsterkenntnis
zu gewinnen? Das ist die methodische Grundfrage des Kritizis-
mus: es ist zugleich der Punkt, an dem die Wege der deutschen
Philosophie auseinander gegangen sind.
Denn zwei Antworten lassen sich auf diese Frage geben.
Auf der einen Seite meint man diese Selbsterkenntnis der
menschlichen Vernunft in einem empirischen Wissen von dem
ein für allemal und fiberall gleich gegebenen Wesen der mensch-
lichen Seele finden zu können : dann ist die Forschungsbasis für
die Philosophie eine psychische Anthropologie. Auf der anderen
Seite sucht man jene Selbsterkenntnis in der fortschreitenden
Selbstentfaltung und in dem fortschreitenden Selbstverständnis,
womit der menschliche Geist seine unbestimmte und unfertige
Naturanlage im Laufe der Geschichte mit dem ganzen Reichtum
seiner Arbeit an den mannigfachsten Aufgaben zu bewußten
Gebilden entwickelt hat: dann wird die Geschichte zum Organon
der Philosophie.
Das ist — von den Schulformeln abgelöst — der Gegensatz
des Friesschen Anthropologismus zu Hegels historischem Idealis-
mus. Ihre — Kantische — Gemeinsamkeit besteht darin, daß
beiden die empirische Vorerkenntnis nur als Mittel gilt, um zu
der selbstevidenten Besinnung auf die Vemunftwahrheit vorzu-
dringen; ffir beide ist diese Vorerkenntnis nur ein Hilfemittel
der Auffindung, aber keine Begrfindung der philosophischen
Wahrheit. Ihr Unterschied ist der, daß diesen Handlangerdienst
ffir Fries die Anthropologie, ffir Hegel die Geschichte leisten soll.
Die Entscheidung dieser bedeutsamen Alternative kann nur
Geschichte der Philosophie. 185
Ton der Beantwortung der Frage abhängig gemacht werden^
welche der beiden Arten von Selbsterkenntnis der menschlichen
Vernunft, die psychologische oder die historische, dazu geeignet
ist, das Hervortreten der überempirischen Yemunftwahrheit in
dem empirischen Vemanftbewußtsein erkenntlich zu machen.
Und diese Frage muß mit aller Entschiedenheit zugunsten der
historischen Methode beantwortet werden.
Die Psychologie betrachtet das seelische Wesen des Menschen,
wie es von Natur allgemein und gleichmäßig gegeben ist: sie
behandelt nach Art der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung
das Individuum als Exemplar seiner Gattung und die einzelnen,
inhaltlich individuell bestimmten Tätigkeiten und Zustände wie-
derum als Exemplare der Gattungsbegriffe, die sie aufstellt, und
sie erforscht auf diese Weise die formale Gesetzmäßigkeit des
tatsächlichen Seelenlebens. Allein diese formale Gesetzmäßig-
keit, die, ihrem logischen Wesen zufolge, für jeden beliebigen
psychischen Lebensinhalt zutreffen soll, ist in Bezug auf die
Vemunftinhalte an sich indifferent und stellt nur die natürlichen
Bedingungen dar, unter denen allein diese Inhalte sich in dem
empirischen Bewußtsein entfalten können. Diese Inhalte selbst
können daher aus den Begriffen der psychischen Anthropologie
nicht abgelesen werden, und wenn das, wie bei Fries, dennoch
zu geschehen scheint, so ist das nur durch eine unwillkürliche
Subreption möglich, indem der Forscher den formalen Begriffen
der Psychologie sein aus anderen Quellen persönlich geschöpftes
Wissen von den inhaltlichen Vemunftbestimmungen unterschiebt.
Diese anderen Quellen aber fließen nirgend anders als in
der Geschichte. Denn die Vemunftinhalte erwachen im mensch-
lichen Bewußtsein nur an den Aufgaben des gemeinsamen Lebens:
sie ringen sich aus dessen natürlichen Bedingungen mit harter
Arbeit und in wechselvollem Kampfe heraus. Der Mensch
als Vernunftwesen ist nicht naturnotwendig ge-
geben, sondern historisch aufgegeben. Seine in immer
neuer Selbstgestaltung begriffene Verwirklichung vollzieht sich
in denjenigen Lebenssphären, welche die Individuen in ihrer
Wechselwirkung als ein neues und höheres Reich über sich auf-
bauen: darin kommt mit dem, was empirisch für alle gilt, das
wahrhaft Allgemeingültige, das gelten soll, Schritt für Schritt
zur bewußten Entfaltung und Gestaltung. So ist der „objektive
Geist", die historische Entwicklung der menschlichen Gattungs-
186 Geschichte der Philosophie.
vemanfty das Zwischenreich zwischen dem natnrnotwendigen
Seelenleben nnd der ewigen Wahrheit der reinen Vemonft, die
darin eintreten soll Deshalb ist die Geschichte das Organen
der Philosophie, deshalb bildet dieser „objektive Oeist", d. h.
der gesamte Tatbestand des historischen Lebens der Mensch-
heit, das empirische Material, an dem sich die Besinnung aui
die reine Vernunftwahrheit in der Philosophie entwickelt
Tatsächlich ist das nie anders gewesen. Aach dem einsamen
Denker, der zu der zeitlosen Wahrheit aufringt, treten die qual-
voll uralten Bätsei des Daseins nicht in der blassen Struktur
seines psychologischen Naturwesens, sondern immer wieder in
der Oestalt entgegen, die sie in der historischen Arbeit des
menschlichen Geschlechts gewonnen haben, — in den Gebilden
des religiösen Bewußtseins, in den Lebenszusammenhängen der
Sitte und der staatlichen Ordnung, in den Gestalten der Kunst,
in den Errungenschaften begreifender Erkenntnis des Wirklichen.
Aus ihnen schöpft — bald mehr aus der einen, bald mehr aus
der anderen dieser Sphären — jede Philosophie ihi-e Probleme
und die Prinzipien ihrer Lösung. Es ist Hegels Verdienst, dies,
was die Philosophie von jeher getan hat, mit vollem Bewußtsein
verstanden zu haben. Seitdem wird uns jede Geschichte der
Philosophie unzulänglich erscheinen, die nicht diesen intimen
Lebenszusammenhang der Systeme mit den Eulturinteressen ihrer
Zeit aufzudecken verstünde. Wir sehen in der Lehre eines
großen Denkers mehr als den Reflex seiner eigenen Persönlich-
keit, wir erkennen darin den verdichteten und begrifflich ge-
formten Vemunftinhalt seines Zeitalters. Die historische Selbst-
erkenntnis der menschlichen Vernunft, deren die Philosophie als
ihrer methodischen Voraussetzung bedarf, gewinnen wir zwar
aus der gesamten Entwicklung der Eulturtätigkeiten in der Ge-
schichte, und die einzelnen Zweige der Philosophie, wie Ethik,
Beligionsphilosophie usw. werden das ihnen zugehörige Material
aus den besonderen Teilen dieses historischen Kulturlebens zu
bemeistern haben: aber das unmittelbar und zunächst Gegebene
f&r den Ausgangspunkt der philosophischen Prinzipenlehre bleibt
schließlich ihre eigene Geschichte.
Darum ist die Geschichte der Philosophie für sie selbst
wesentlich und ihr integrierender Teil; und diese Anlehnung an
die Geschichte ist nicht ein Zeichen der Schwäche und des
Mangels an ürsprünglichkeit, sondern die notwendige Folge des
Geschichte der Philosophie. 187
Verständnisses vom Wesen der Philosophie selbst. Gerade diese
Auffassung des Verhältnisses aber ist auch allein geeignet, die
Gefahren zu beseitigen, die aus der umfassenden Beschäftigung
mit dem Historischen für die Philosophie erwachsen können und
die Philosophie selbst in ihre Geschichte aufzulösen drohen.
Denn es wäre ein großes Mißverständnis, wenn man das
Gesagte so deutete, als solle sich nun die Philosophie selber mit
dieser historischen Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft
beruhigen und sich die vermeintlichen Ergebnisse des geschicht-
lichen Prozesses als ihre Vemunftlehre zu eigen machen. Keine
schlimmere Verwechslung kann dem historischen Philosophieren,
das dem deutschen Idealismus eigen ist, angetan werden als
diese: es ist die Verwechslung der Sache selbst mit dem Material,
aus dem sie gewonnen werden soll. Es muß ausdrücklich hervor-
gehoben werden, daß das historisch Gültige eben das Problem
für die Philosophie abgibt, daß aber die historische Geltung für
sich allein kein Grund für die philosophische Geltung sein darf.
Vergäße man dies, so ergäbe sich aus solchem Mißverständnis
ein heilloser Relativismus; das wäre wirklich das Ende der
Philosophie.
In Wahrheit ist das Verhältnis ganz anders gemeint Be-
zeichnen wir einmal, wie es sich einzuführen scheint, jene Ver-
nunftinhalte, welche den Gegenstand der Philosophie bilden, als
die allgemeingültigen Werte, so zeigt uns die Geschichte den
vielverschlungenen Prozeß, durch den in allen Kultursphären
und namentlich in der Wissenschaft selbst, Vemunftwerte zur
Anerkennung und Herrschaft gelangt sind: aber diese ihre
historisch allgemeine Geltung ist niemals ein Beweis ihrer
kritisch philosophischen Gültigkeit. Sie bedeutet vielmehr nur
einen Anspruch, dessen Berechtigung gerade durch die philo-
sophische Untersuchung geprüft werden soll. Das historisch
Gegebene der Werte ist das Objekt für die philo-
sophische Kritik. Das ist das ABC der kritischen Philo-
sophie — am besten zu lernen aus Kants Erkenntnistheorie.
Behält man dies im Auge, so ist keine Gefahr, daß das
historische Philosophieren in „Historismus" verfalle. Aber es
ist nun nicht zu leugnen, daß Hegels Behandlung der Sache der
Gefahr dieses Mißverständnisses zum mindesten Vorschub ge-
leistet hat. Denn er scheint auf die kritische Methode voll-
ständig zu verzichten, wenn er jedem Ergebnis des historischen
188 Geschichte der Philosophie.
Prozesses seinen relativen Wert als „Moment" der Wahrheit zu-
erkennt und diese Wahrheit selbst dann nur in dem dialektisch
geordneten System eben dieser selben Momente findet. Damit
scheint die historische Tatsächlichkeit in philosophische Geltung
umgedeutet, das Prinzip der Kritik verlassen, die begriffliche
Entwicklung abgeschlossen und die Philosophie wirklich in ihre
Geschichte aufgelöst zu sein.
Es ist hier nicht weiter zu verfolgen, ob diese Einwurfe
auf Hegels Lehre vollständig zutreffen: was an ihnen berechtigt
ist, hängt von einer Voraussetzung ab, die er allerdings dem
Prinzip des historischen Philosophierens hinzugefugt hat Es
ist die von dem Parallelismus der geschichtlichen und der dialek-
tischen Entwicklung der Kategorien. Sie beruhte bei ihm auf
jenem Optimismus, der ein wesentliches Merkmal seines logischen
Idealismus bildete: aber daß „alles, was ist, vernünftig ist^^ gilt
bei ihm nicht für die Natur, die das Reich der Zufälligkeit be-
deutet, sondern wesentlich für die Geschichte, ffir den „objektiven
Geist '^. Darum fällt bei ihm, wie oft bemerkt worden und am
besten an seiner eigenen Entwicklung zu erkennen ist, der ob-
jektive Geist eigentlich und schließlich mit dem „absoluten Geist"
zusammen: darum muß die historische Reihenfolge der Momente
des menschlichen Geistes sich mit der dialektischen Reihe der
Momente des göttlichen Geistes decken. Daher zum mindesten
der Anschein einer philosopischen Konstruktion der Geschichte
überhaupt und der Geschichte der Philosophie insbesondere.
Diese Nebenvoraussetzung Hegels ist nun in der Tat so
irrig, wie sie bei ihm begreiflich ist. Kein Geringerer freilich
als Kant hat einmal den Gedanken hingeworfen von einer
„philosophischen Geschichte der Philosophie, die selber nicht
historisch oder empirisch, sondern rational, d. h. a priori möglich
sei." Er versteht darunter ein aus der Natur der menschlichen
Vernunft a priori zu entwerfendes „Schema, mit welchem die
Epochen der Meinungen der Philosophen aus den vorhandenen
Nachrichten so zusammentreffen, als ob sie dieses Schema selbst
vor Augen gehabt und danach in der Kenntnis derselben fort-
geschritten wären". Aber auch auf diesen Gedanken ließe sich
immer nur eine systematische Übersicht über das historische
Material, niemals die Notwendigkeit einer Übereinstimmung
zwischen der systematischen und der chronologischen Ordnung
begründen.
Greschichte der Philosophie. 189
Von einer solchen Übereinstimmung ist auch tatsächlich
durchaus nichts zu entdecken. Schon der Fortgang des Inter-
esses, mit dem sich im Laufe der Geschichte die Philosophie
bald diesen, bald jenen Gegenständen vorwiegend oder aus-
schließlich zuwendet, ist durch die Wandlungen des allgemeinen
Kulturlebens und durch die besondere Stellung, die der einzelne
Philosoph yennöge seiner Persönlichkeit und Lebensgestaltung
darin einnimmt, in der Hauptsache bedingt Der kulturgeschicht-
liche und der individuelle Faktor bestimmen die Probleme und
vielfach auch die Kichtung ihrer Lösung. Diese beiden Faktoren
aber sind in Hinsicht auf das philosophische System an sich zu-
fällig. Nur in sehr seltenen Fällen — gerade das ist ja ein
häufiger Grund der Enttäuschung und des Vorwurfs — schreitet
die Entwicklung geradlinig in einer sachlichen Notwendigkeit
fort Das sind sehr kurze Strecken, an deren Ende sogleich
wieder die Fülle anderer Fragen hinzudrängt und die einfachen
Linien verwirrt oder ablenkt So ist der geschichtliche Prozeß
der Philosophie allen Zufälligkeiten des tatsächlichen Geschehens
preisgegeben, und die „List der Idee'' ist nicht stark genug,
sich gegen die Macht des Empirischen durchzusetzen. Die Ge-
schichte der Philosophie kann begrifflich ebensowenig konstruiert
werden, wie irgend eine andere historische Disziplin.
Diese Einsicht beherrscht gegenwärtig die ganze Entwick-
lung der Geschichte der Philosophie, und ihr verdankt sie ihre
wissenschaftlichen Erfolge. Sie muß als eine exakt historische
Disziplin behandelt werden, wie jeder sonstige Teil der Ge-
schichte. Gerade: damit leistet sie am besten den Dienst, der
ihr im systematischen Zusammenhange der Philosophie selbst
zukommt. Denn nur durch die konstruktionsfreie Erkenntnis
des tatsächlichen Verlaufs kommt es am deutlichsten zutage,
welchen Anteil an der Bildung der Begriffe einerseits die Be-
dürfnisse des Zeitbewußtseins und die persönliche Energie der
selbständigen Denker, andererseits aber die sachlichen Not-
wendigkeiten des gedanklichen Fortschritts haben. Indem die
Geschichte der Philosophie als eine nicht bloß registrierende
und reproduzierende, sondern begreifende und erklärende Wissen-
schaft diese verschiedenen Fäden in der historischen Genesis
der Systeme auseinanderlegt, scheiden sich von selbst die zeit-
lichen Ursachen und die zeitlosen Gründe. Darin besteht
ihre kritische Leistung und ihr Anteil an der Philosophie selbst.
190 Geschichte der Philosophie.
Das ist der Sinn der ausgedehnten und fruchtbaren Be-
deutung, welche die Geschichte der Philosophie für diese selbst
hat: dai*aus versteht sich, weshalb sie ein notwendiger Bestand-
teil des Systems der Philosophie und selbst eine philosophische
Wissenschaft, aber nicht in dem konstruktiven Sinne Hegels,
sondern gerade vermöge ihrer exakt historischen Ausführung ist
Die große Bolle, welche die historischen Studien in der gegen-
wärtigen Philosophie spielen, wäre damit verständlich gemacht
und unsere prinzipielle Frage erledigt, wenn sich nicht eine
letzte Schwierigkeit erhöbe, die mit dem Wesen der historischen
Forschung selbst zusammenhängt.
Jede geschichtliche Wissenschaft wählt aus der endlosen
Mannigfaltigkeit dessen, was überhaupt „geschehen" ist, dasjenige
an Zuständen und Begebenheiten aus, was mit Kncksicht auf
den Kulturwert, der ihre Voraussetzung ist, darauf Anspruch
hat, „geschichtlich", eine geschichtliche Tatsache zu sein. Die
Geschichte der Philosophie hat es also mit der kritischen Fest-
stellung und dem Verständnis derjenigen Tatsachen der Über-
lieferung zu tun, die mit der „Philosophie" in wesentlicher Be-
ziehung stehen. Müssen ^wir nicht danach schon wissen, was
Philosophie ist, um die für ihre Geschichte erforderliche Auswahl
aus der Masse der Tradition vorzunehmen?
Diese Frage ist nicht müßig. Sie muß Jeden beschäftigen,
der selber aus den Quellen arbeitet und sich nicht, wie freilich
viele der sog. Historiker der Philosophie, darauf beschränkt, aus
den bisherigen Darstellungen eine neue zusammenzufügen. Und
diese Frage wird um so brennender, je mehr man bedenkt, wie
weit bei den Philosophen selbst die Begriffsbestimmungen von
dem, was sie unter Philosophie auch nur der Aufgabe nach ver-
standen wissen wollen, in der Geschichte auseinander gehen.
Da fragt es sich ernstlich: was gehört wesentlich in die Ge-
schichte der Philosophie, und was ist entbehrliches Beiwerk?
Gerade das ist ein vortreffliches Beispiel, an dem man sich
klar machen kann, in welchem Maße schon der elementare Vor-
gang der Auswahl der Tatsachen, den jede Wissenschaft
vorzunehmen hat, durch den Erkenntniszweck dieser Wissen-
schaft bestimmt ist. Denn die Antwort auf jene Frage wird
offenbar sehr verschieden ausfallen, je nachdem ob man die Ge-
schichte der Philosophie lediglich als eine rein historische
Forschung oder ob man sie als einen Teil der Philosophie selbst
Geschichte der Philosophie. 191
behandeln will. Im ersteren Falle wird alles was mit „Philo-
sophie'' und „Philosophen'' in irgend einem Znsammenhange
steht, zn sammeln, kritisch zu sichten, zn ordnen und in seinem
genetischen Verhältnis zu untersuchen sein: im anderen Falle
wird aus dieser riesig anschwellenden Masse wieder die engere
Auswahl desjenigen zu treffen sein, was für die systematische
Arbeit der Philosophie selbst dauernd von Bedeutung ist. Ge-
rade die emsige Arbeit, die das letzte Jahrhundert auf die Ge-
schichte der Philosophie verwendet hat, die philologische Be-
arbeitung der Quellen mit dem ganzen kritischen Apparat, die
sorgfaltige Durchforschung des biographischen Materials mit der
Aufdeckung aller der Beziehungen, worin die philosophischen
Lehren zu dem geistigen Leben ihrer Zeit stehen, — diese emsige
Arbeit hat eine Fülle des Stoffs aufgehäuft, worin die rein
historische Einzeluntersuchung in keiner unmittelbaren Beziehung
mehr zu jener Bedeutung zu stehen scheint, die der gesamten
Geschichte der Philosophie für das System zuzusprechen war.
Als philosophische Disziplin muß also die Geschichte der Philo-
sophie wieder eine engere Auswahl aus demjenigen Material
darstellen, das sie als historische Disziplin umfaßt
Ist es nun deutlich, daß diese engere Auswahl, deren Er-
gebnis gerade der Philosophie selbst dienen soll, eine syste-
matische Vorstellung von dieser oder wenigstens von ihrer Auf-
gabe voraussetzt, so gilt doch dasselbe auch schon für jene
weitere Auswahl. Denn um zu entscheiden, welche Bestandteile
der Überlieferung in den Dntersuchungsbereich der Geschichte
der Philosophie hineingezogen werden sollen, muß man doch,
scheint es, wissen, was man unter Philosophie selbst zu ver-
stehen hat.
Scheinen wir uns also nicht in einem Zirkel zu bewegen,
wenn wir auf der einen Seite behaupten, die Philosophie bedürfe
ihrer Geschichte, um aus dieser historischen Selbsterkenntnis der
menschlichen Vernunft ihre Probleme zu entnehmen, — und
wenn wir andererseits nicht verkennen dürfen, daß die Auswahl
dessen, was zur Geschichte der Philosophie gehören soll, selber
schon eine Vorstellung von der Philosophie als kritischen Maß-
stab voraussetzt?
Diesem Zirkel, — der sich übrigens analog vielleicht in
mancher anderen historischen Disziplin finden mag, — entgehen
wir nur durch die Unterscheidung zwischen der Wissenschaft-
192 Geschichte der Philosophie.
liehen Selbstbestimmung der Philosophie und der unbestimmten,
vieldeutigen Ansicht^ die wir von ihr, ihren Aufgaben und Gegen-
ständen schon aus der gewöhnlichen Vorstellungsweise mitbringen.
Von einem solchen hdo^ov geht, wie bereits Aristoteles gesehen
hat, jede Wissenschaft in ihrer Forschung aus: sie findet es in
der überliefeii;en Auffassung und Bezeichnung vor und über-
nimmt es daraus, um es umzuarbeiten und durch Ausscheidung
oder Hinzufügung neu zu gestalten. Gerade so liegt das Mate-
rial in unserem Falle schon vorbereitet da durch die Deno-
minationen, mit denen die Überlieferung Menschen und Lehren
als philosophisch ausgezeichnet hat Die Auslese, die darin be-
reits unwillk&rlich obwaltete, wird nun in der wissenschaftlichen
Arbeit mit absichtlichem Bewußtsein fortgesetzt, z. T. korrigiert,
z. T. ergänzt, und findet so ihre methodische Begründung. Und
dieser selbe Prozeß der Auslese setzt sich dann von der rein
historischen Behandlung der Geschichte der Philosophie in die
philosophische fort. Gar vieles wird über die Philosophen von
Anekdoten und Aussprüchen, von Meinungen und Handlungen
überliefert, was mit der Philosophie selber nichts zu tun hat;
es kann historisch interessant bleiben, entweder als zur Ge-
schichte anderer Wissenschaften, z. B. der Naturforschung ge-
hörig, oder als allgemein menschlich bedeutsam, oder endlich als
Beitrag zur persönlichen Charakteristik der Denker; aber für
den philosophischen Zweck der Geschichte der Philosophie ist
es irrelevant. Andererseits wird sich schon die rein historische,
ebenso aber auch die philosophische Behandlung unserer Dis-
ziplin genötigt sehen, aus Gründen der Vollständigkeit und des
Zusammenhanges manches in ihren Forschungsbereich mit hinein-
zuziehen, was von jener unwillkürlichen Auslese des populären
Bewußtseins und der Überlieferung nicht direkt als „philosophisch^
in Anspruch genommen worden ist^ so die Welt- und Lebens-
anschauungen großer Dichter und Künstler, so unter Umständen
die Refiexionen bedeutender Forscher oder Männer des öffent-
lichen Lebens.
Je mehr wir auf die Kontinuierlichkeit dieses aus der un-
willkürlichen in die bewußte Form übergehenden Auslesevor-
ganges unser Augenmerk richten, um so begreiflicher wird es,
daß die Grenzen wie zwischen naiver Überlieferung und wissen-
schaftlich historischer Behandlung so auch zwischen rein geschicht-
lichem und philosophischem Betrieb der Philosophiegeschichte
QeBchiehte der Philosophie. 193
äußerst flüssig sind. Es schadet dämm auch nichts, daß die wenig-
sten der Forscher auf unserem Oebiete sich über diese Verhältnisse
prinzipiell so klar zu werden versucht haben, wie es hier nötig
• erschien. Während bei den antiken Dozographen das traditio-
nelle Fabulieren mit unmerklichen Übergängen zu historisch-
kritischen Berichten auswuchs, so stehen die modernen Philo-
sophiehistoriker, mit feinen Abstufungen verteilt, zwischen der
rein historisch und der wesentlich philosophisch interessierten
und bestimmten Behandlung ihres Gegenstandes. Es liegt in
der Natur der Sache, daß bei allen Spezialforschungen das erste,
bei allen Gesamtdarstellungen dagegen das zweite Moment fiber-
wiegt. Aber eine deutliche und wirksame Beziehung zu dem
anderen Interesse muß doch immer gewahrt bleiben. Auch die
Spezialuntersuchung gehört der Philosophiegeschichte nur dann
noch an, wenn sie irgendwie einen Beitrag zu der historischen
Gestaltung philosophischer Begriffe und Probleme liefert: tut sie
das nicht, so fällt sie der allgemeinen Literaturgeschichte zu.
Sobald dagegen die Gesamtdarstellung ihre kritische Auswahl
einseitig unter die Gesichtspunkte eines besonderen Systems der
Philosophie stellen will, fällt sie aus dem Rahmen der histo-
rischen Wissenschaft prinzipiell heraus und behält nur noch den
Charakter einer geschichtlichen Übersicht zur Einf&hrung in
eine besondere Lehre. Geht das gar so weit, daß die Tendenz
der Auswahl und der Kritik auf die Apologie eines konfessionellen
Dogmas gerichtet ist, so fallen solche Darstellungen eo ipso aus
der Wissenschaft überhaupt heraus. Aber es ist klar, wie fein
und unmerklich hier die Übergänge, wie schwer die Prinzipien
der Unterscheidung zu bestimmen sind: es handelt sich dabei,
wie in aller Geschichte, um die Frage nach den Grenzen der
„historischen Objektivität".
Mitten in dies flüssige Grenzgebiet zwischen historischer
und philosophischer Zweckbeziehung der Philosophiegeschichte
fuhrt uns eine dritte Auffassungsweise, die von ihrem Gegen-
stande unabtrennbar ist. Wie auch immer man die Philosophie
definieren, ihre Aufgabe bestimmen und zu lösen versuchen
möge, — wesentlich ist ihr stets die Beschäftigung mit den
allgemeinen Fragen der Welt- und Lebensanschauung, die schließ-
lich jeden gebildeten Menschen angehen. Daher gehört die
Kenntnis der Geschichte der Philosophie auch zu den unerläß-
lichen Bestandteilen der allgemeinen Bildung und gilt als solcher
Wind«lbattd, Die Pbilosophi« im Beginn dM 10. Jalurh. U. Bd. 13
194 Geschichte der Philosophie.
in der Literatur, im akademischen Unterricht usf. mit vollem
Rechte. Mit dieser Zweckbestimmung aber verschiebt sich einiger-
maßen auch die Bedeutsamkeit des historischen Details: vieles^
was begrif^geschichtlich von Wichtigkeit ist, stößt in dieser
Hinsicht auf kein Interesse und bleibt deshalb besser fort, um
Ermüdung zu vermeiden; anderes dagegen, was für die Philo-
sophie selbst von keinem Belang ist, eignet sich desto besser fui*
die Anknüpfung an bekannte Vorstellungen und Interessen, und
in dieser Hinsicht bietet namentlich der kulturhistorische und
der biographische Hintergund die erwünschte Möglichkeit zu einer
farbigen Belebung des Ganzen. Jedenfalls verlangt auch diese
Behandlungsweise eine zweckvolle Auswahl aus der riesigen
Masse des ganzen historischen Materials, ohne sie jedoch aus-
drücklich oder ausschließlich durch die Gesichtspunkte der syste-
matischen Philosophie zu bestimmen.
Das sind also die drei Ziele, welche der Philosophiegeschichte
gesetzt werden können: das historische, das allgemein literarische,
das philosophische. Sie sind miteinander keineswegs unvereinbar.
Wie sie vielmehr alle drei in dem Wesen desselben Stoffs be-
gründet sind, so kommen sie in der Gesamtheit der reichen
philosophiegeschichtlichen Arbeit, auf die wir heute zurückblicken
dürfen, alle drei zu ihrem Bechte, und wir haben Werke genug,
in denen tatsächlich alle drei Interessen gleichmäßig ihre Be-
friedigung finden. Dazu gehören in erster Linie die großen
monumentalen Schöpfungen wie Zellers Werk über die Philo-
sophie der Griechen oder Kuno Fischers Geschichte der neueren
Philosophie. Aber auch viele einzelne Behandlungen größerer
oder kleinerer Zeitabschnitte besonderer Philosophen oder philo-
sophischer Richtungen sind so gehalten, daß sie allen drei
G^ichtspunkten gleichmäßig gerecht werden: es sei als aner-
kanntes Beispiel nur Langes Geschichte des Materialismus er-
wähnt. Im übrigen will dieser Bericht seinem Zwecke gemäß,
auf die Anführung und Charakteristik der einzelnen literarischen
Erscheinungen grundsätzlich verzichten: er müßte sonst, an-
gesichts der außerordentlich großen Zahl hervorragender Arbeiten,
die das philosophiegeschichtliche Interesse des neunzehnten Jahr-
hunderts gezeitigt hat^ entweder ins Ungeheuerliche anwachsen
oder sich auf knappe, an dieser Stelle nicht zu begründende
Geschichte der Philosophie. 195
urteile beschränken. Es werden deshalb am Schluß nur die
bekannten Hauptwerke über den gesamten Stoff und seine ein-
zelnen Teile aufgeführt werden: im übrigen weiß jeder, der
diesen Dingen ein eingehenderes Studium zuwenden will, daß er
sich über den literarischen Befund in dem trefflichen Werke
von Überweg zu orientieren hat, dessen neue Auflagen von
M. Heinze auf der Höhe der Zuverlässigkeit und Vollständigkeit
erhalten werden.
Die vorwiegend historische Bearbeitung der Geschichte der
Philosophie ist ihre wesentlich gelehrte Seite. Sie hat sich zu-
nächst, der Lage der Sache gemäß, der antiken Philosophie zu-
gewendet und hat daran bei dem vielfach zerrütteten und ver-
schütteten Zustande der Überlieferung ein unerschöpfliches Feld
ihrer Betätigung. Die Hauptsache wird hier immer die Aus-
einandersetzung mit dem Grundstock unserer Tradition, den
Werken von Piaton und Aristoteles, bleiben. Ihnen ist seit
einem halben Jahrhundert eine schier unübersehbare Menge von
Arbeit im großen wie im kleinen gewidmet worden; aber der
stattliche Umfang sicherer Einsicht, der dabei gewonnen ist und
glücklicherweise die im philosophischen Sinne wichtigsten Punkte
betrifft, läßt um so deutlicher erkennen, daß bei einer Anzahl
ebenfalls erheblicher Punkte wie bei vielen Einzelheiten unser
Wissen über den Stand der Hypothese mit den jetzigen Mitteln
nicht hinauskommen kann: und die Hoffnung auf deren Er-
gänzung scheint auch durch die PapjTUsfunde nur in sehr ge-
ringem Maße in Erfüllung zu gehen. In neuerer Zeit hat die
gelehrte Forschung sich, vielleicht nicht ohne Einfluß natur-
wissenschaftlicher Interessen, gern wieder den Vorsokratikern
zugewendet, die zur Aufsuchung von Analogien zwischen antikem
und modernem Denken besonders zu reizen scheinen: andererseits
lenken die religionsgeschichtlichen Studien die Aufmerksamkeit
auf die vielfach dunklen Bewegungen der alexandrinischen Philo-
sophie. Die Anforderungen der Dogmengeschichte kommen hier
auch der Philosophiegeschichte zugute, und das genauere Studium
der Kirchenväter verspricht ihr auch für ältere Partien einen
erfreulichen Ertrag.
Mit der Zeit hat sich die spezifisch gelehrte Bearbeitung
des Stoffs auch der neueren Philosophie zugewendet, obwohl
dafür das Bedürfnis danach nicht überall gleich zwingende Gründe
darbot, wie bei der alten: das Wort von der Kantphilologie ist
13*
196 Oeschichte der Philosophie.
in aller Mond. Doch wird Niemand verkennen wollen, daß die
gesteigerte Sorgfalt dieser Forschungen große Erfolge zu yer-
zeichnen hat und daß durch die Vollständigkeit, die für das
Material angestrebt wird, häufig genug die Linien des Bildes,
das man vorher im allgemeinen besaß, nicht nur verfeinert,
sondern auch ergänzt und korrigiert worden sind.
Das wertvollste Ergebnis solcher Studien aber sind die
musterhaften Ausgaben, die wir von den Schriften, Briefen und
eventuell Vorlesungen der großen Philosophen bekommen haben:
die von Bacon und Spinoza mögen besonders hervorgehoben sein.
Zum Teil ist es das Verdienst der Akademien, dafür gesorgt zu
haben. So gibt die Berliner, wie sie es früher mit Aristoteles
getan hat und mit der Sammlung seiner Kommentatoren fort-
setzt, uns jetzt die Eantausgabe. Die Pariser Akademie ist mit
der Sammlung der Briefe und Werke Descartes schon ziemlich
weit fortgeschritten. Für das Riesenwerk einer Leibnizausgabe
wird an eine gemeinsame Aktion mehrerer Akademien gedacht.
Am meisten rückständig ist die gelehrte Durcharbeitung
der mittelalterlichen Philosophie. Die in manchem Betracht
wenig anziehende Form ihrer Literatur wirkte mit schwer
weichenden Vorurteilen zusammen lange Zeit als Hindernis.
Die Anfänge, die seinerzeit Victor Cousin mit Ausgaben und
Untersuchungen veranlaßt hatte, waren bald ins Stocken ge-
kommen: erst in neuerer Zeit sind sie in Deutschland erfolgreich
wieder aufgenommen worden. Ungünstig wirkt es außerdem,
daß durch Einflüsse, die mit der Wissenschaft nichts zu tim
haben, das Interesse an dieser Literatur einseitig auf eine be-
sondere Richtung, die thomistiscbe, geleitet wird: nur so ist es
zu erklären, daß es für die bedeutendsten Denker des Mittel*
alters, einen Duns Scotus und einen Occam, noch an jeder adä-
quaten monographischen Behandlung fehlt. Nicht minder be-
dauerlich ist die unvollkommene Kenntnis, die wir von der
arabisch-jüdischen Philosophie immer noch besitzen: es bleibt
der Wunsch bestehen, daß durch eine glückliche Fügung endlich
ein Mann, in welchem sich philosophisches Verständnis mit der
Kenntnis der Literatur der semitischen Völker verbände, eine
Lebensarbeit daran setzte, mit der oberflächlichen Tradition, die
wir darüber weiterschleppen, aufzuräumen und eine quellenmäßige
Einsicht an ihre Stelle zu setzen. Bei der eminenten Bedeutung,
die diese Literatur für die christliche Scholastik und Mystik
Geschichte der Philosophie. 197
des Mittelalters besitzt, wäre das viel wichtiger und förderlicher,
als die gelegentlich wiederholten Versuche, die Ansätze zn philo-
sophischer Reflexion, die sich bei Indem und Chinesen finden, in
die Gesamtgeschichte der Philosophie einznbeziehen.
Fehlt es so nicht an Lücken in der gelehrten Durchforschung
der Geschichte der Philosophie, so hat doch im ganzen die red-
liche Arbeit des vorigen Jahrhunderts reiche, beinah überreiche
Früchte getragen. Ein ungeheures Material ist aufgestapelt und
kritisch durchgearbeitet. Iji dem von Zeller gegründeten „Archiv
für Geschichte der Philosophie'' haben wir ein zentrales Organ
für diese Studien. Schon ist es ausgeschlossen, daß ein einzelner
die ganze Fülle dieses Stoffs je bis in alles Besondere hinein
sich zu eigen mache, und auch der Gefahr der Verzettelung in
wertlose Äußerlichkeiten sind wir nicht vollständig entgangen.
Manchmal regt sich — wie vielleicht auch in anderen historischen
Disziplinen — der Wunsch nach einer sicheren Methode zur Ent-
lastung dieses riesig angeschwollenen Schulsacks. —
Solcher Gefahr ist diejenige Behandlung der Philosophie-
geschichte nicht ausgesetzt, welche sich vorwiegend auf die Be-
dürfhisse der allgemeinen Bildung einrichtet, — eher der ent-
gegengesetzten. Dieser unterliegen am ehesten die populären
Darstellungen, welche die gesamte Geschichte der Philosophie
so leicht und bündig wie möglich zugänglich zu machen suchen.
Ihre Zahl ist Le^on und mehrt sich jährlich. Sie haben ihr
Publikum in eiligen Prüfungskandidaten, in Literaten und all
denen, die mehr oder minder bequem auf der Bildungshöhe stehen
wollen. Doch gibt es auch ernsthafte Bücher, die jene Aufgabe
nicht bloß mit Geschick, sondern mit gründlicher Kenntnis und
mit eindringendem Verständnis erfüllen und eignen wissenschaft-
lichen Wert besitzen. Selbständiger und erfreulich sind in dieser
allgemeinverständlich gestimmten Literatur die Sonderdar-
stellungen einzelner Philosophen, Lehrsysteme, Zeitalter usw.:
hier kann am besten aus ursprünglicher Vertrautheit mit einem
begrenzten Stoff durch künstlerische Gestaltungskraft ein ge-
schlossenes und eindrucksvolles Bild herausgearbeitet werden.
Aus dieser Absicht, die auch bei den Engländern und den
Franzosen ihre Ausführung gefunden hat, ist in Deutschland
die Frommannsche Sammlung der „Klassiker der Philosophie^
hervorgegangen. —
Die vorwiegend philosophisch, d. h. systematisch orientierte
198 Geschichte der Philosophie.
Bearbeitung der Geschichte der Philosophie wirft sich gelegent-
lich auf einzelne Zeitabschnitte, in denen eine zusammenhängende
Gruppe philosophischer Probleme im Vordergrund des Interesses
steht und eine wesentlich sachlich bedingte Begriffsentwicklung
hervorruft, — oder sie wendet sich gern der vergleichenden
Betrachtung philosophischer Systeme zu, um durch deren Über-
einstimmung und Verschiedenheit charakteristische Beziehungen
sachlicher Art zu beleuchten: aber weitaus am wichtigsten ist
für diese systematische Auffassungsweise doch immer die Ge-
samtheit des historischen Verlaufs; denn nur in ihr liegen auch
die Ansatzpunkte für eine umfassende und in sich abgeschlossene
Ausbildung der Philosophie selbst.
Allein diese Behandlungsart der Gesamtgeschichte der Philo-
sophie ist wiederum einer Gefahr ausgesetzt Sie besteht, wie
oben schon berührt, darin, daß der Verfasser seine eigene philo-
sophische Ansicht nicht nur der Auswahl, Gruppierung und sach-
lichen Verbindung des Materials, sondern auch der Beurteilung
der von ihm dargestellten Lehren zugrunde legt. So haben wir
Geschichten der Philosophie vom Kantischen, vom Schellingschen,
vom Herbartischen, vom positivistischen „Standpunkte" erlebt.
Je ausgesprochener und schärfer dabei die maßgebende Meinung
ist, um so parteiischer, ungerechter und unbrauchbarer wird
die geschichtliche Darstellung als solche. Das verstößt gegen
die fundamentale Forderung, daß der Historiker zwar seinen
Stoff nach Wertbeziehungen auszuwählen, zu ordnen und zu ver-
stehen hat, sich aber jeder positiven oder negativen Wertung so
viel als menschenmöglich enthalten soll.
Die philosophische Bearbeitung der Geschichte der Philo-
sophie darf daher kein fertiges philosophisches System als Prinzip
der Beurteilung voraussetzen, wenn sie sich nicht der wissen-
schaftlichen Allgemeingttltigkeit ihrer Auffassung begeben will.
Statt dessen bleibt ihr nur übrig, mit strenger empirisch histo-
rischer Wahrhaftigkeit den Wegen nachzugehen, auf denen die
immer wiederkehrenden und zuletzt jedes ernste Menschenleben
bewegenden Probleme der Philosophie zu den verschiedenen
Zeiten aus den allgemeinen und den individuellen Gedanken
heraus bei den selbständigen Denkern zu bewußter Erfassung
gelangt sind, und die mannigfachen Begriffe zu verstehen, die
sich, je nach den geschichtlichen Voraussetzungen, zur Lösung
dieser Probleme ergeben haben. Eine solche Geschichte der
Geschichte der Philosophie. 19d
Philosophie ist also notwendig eine Geschichte der Probleme
und der Begriffe. Indem sie das geschichtliche Material in dieser
Weise gestaltet, legt sie es der Philosophie selbst bereit, nm in
der Formung ihrer Probleme und ihrer Begriffe das nur historisch
Geltende der Veranlassungen und Vermittlungen von dem an
sich Geltenden der Vemunftwahrheit abzulösen und von dem
Zeitlichen zu dem Ewigen vorzudringen.
Literatur.
(Vgl. S. 194 f.)
Überweg, Fr., Grundriß der Geschichte der Philosophie. 4 Bde. 9. Anfl.
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