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Full text of "Die Philosophie im Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts: Festschrift für Kuno Fischer"

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Die Philosophie 



im 



Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. 

Festschrift für Kuno Fischer 

unter Mitwirkung 
von 

B. Bauch, K. Groos, E. Lask, O. Liebmann, H. Rickert, 
E. Troeltsch, W. Wundt 

herausgegeben 
von 

W. Windelband. 

IL Band. 







HEIDELBERG. 
Carl Winter's Universitätsbuchhandlung. 

1905. 
VerUgB-Archiv Nr. 9. 



Alle Beohte yorbehalten. 



T-y.; 



Inhalt Yon Band IL 



Seite 

^ ! Rechtsphilosophie yon Emil Lask 1 

i) GeschichtsphiloBophie yon Heinrich Bickert 61 

( -i c Ästhetik yon Karl Oioos 136 

2 Geschichte der Philosophie yon Wilhelm Windelhand 175 



' OF TIfl 

VNIVER8ITY 



Rechtsphilosophie. 



Von 

Emil Lask. 



Trotz der so lebhaften Beschäftigung unserer Zeit mit den 
Problemen des Gesellschaftslebens zeigt die eigentliche Spekulation 
der Gegenwart gerade auf rechts- und sozialphilosophischem 
Gebiet nur eine geringe Selbständigkeit und immer noch eine 
starke Abhängigkeit von den großen Systembildungen des deut- 
schen Idealismus. Das mag zur Eechtfertigung dafür dienen, 
daß bei der Darstellung derjenigen modernen rechtsphilosophischen 
Theorien, die überhaupt noch die Fühlung mit den letzten Fragen 
der Weltanschauung bewahrt haben (Abschnitt I), zuweilen auf 
Kant und Hegel zurückverwiesen wurde. Ungeachtet eines 
solchen Mangels an Originalität in den grundlegenden Problemen 
ist jedoch der Stand der Bechtsphilosophie im Beginn des 
zwanzigsten Jahrhunderts kein trostloser. Denn die gerade in 
der jüngsten Zeit lebhaft beginnende, äußerst zukunftsreiche 
methodologische Bewegung (Abschnitt 11) wird die Rechts- 
philosophie von neuem zu der Erkenntnis zwingen, daß aller 
Streit um die Methode empirischer Kulturwissenschaften über 
die bloße Methodologie hinausweist und erst in einem System 
überempirischer Werte seine endgültige Entscheidung findet 



Windelband, Die Philosophie im Beginn dos 20. Jahrh. II. Bd. 



2 Bechtsphilosophie. 

Abschnitt I. 

Die Philosophie des Rechts. 

a) Die Methode. 

Auch der Bechtswissenschaft hat erst das neunzehnte Jahr- 
hundert die volle Selbständigkeit und, wie es scheint, endgültige 
Befreiung aus der metaphysischen Spekulation gebracht Seit- 
dem besteht eine klare Scheidung, aber immer noch ein starkes 
gegenseitiges Mißtrauen zwischen „philosophischer^ und „histo- 
rischer" Richtung. Wer sich nicht mit „allgemeiner Rechtslehre" 
oder sonstigen verallgemeinernden Sublimierungen empirischer 
Wissenschaftsergebnisse begnügen will, sondern es heute noch 
wagt, von der Rechtsphilosophie die Ergründung einer absoluten 
Bedeutung des Rechts und seiner Beziehungen zu anderen un- 
bedingten Werten zu verlangen, der verfällt von vornherein dem 
schweren Verdacht der „naturrechtlichen Ketzerei". Muß wirk- 
lich — so hat darum die Lebensfrage der modernen Rechts- 
philosophie stets gelautet — jede nicht empiristische Philo- 
sophie des Rechts mit der alten, durch eine glänzende Ent- 
faltung der positiven Wissenschaft bei Seite geschobenen Meta- 
physik des Rechts zusammenfallen? 

Das Naturrecht war eine Frage nach dem absoluten Sinn 
von Recht und Gerechtigkeit, und dadurch wurde es zu einem 
weit- und problemgeschichtlichen Prinzip, dessen unvergängliche 
Bedeutung durch keinerlei — wenn auch methodisch noch so 
unentbehrliche — Berichtigungen wesentlich getrübt werden 
kann. Diese absolute, transzendentalphilosophische Tendenz hat 
mit ihm jede denkbare Wert Spekulation, auch jede „kritische"^ 
gemeinsam. 

Grundverschieden wird dagegen von der Naturrechtsmeta- 
physik und von der kritischen Rechtsphilosophie das Verhältnis 
zwischen Wert und Wirklichkeit bestimmt, und diese Diflferenz^ 
die unmittelbar ins Leben eingreift und doch auf tiefe Gegen- 
sätze der theoretischen Philosophie zurückgeht^ eröffnet die 
Möglichkeit, eine scharfe Abgrenzung zwischen dem Naturrecht 
und einer metaphysikfreien Rechtsphilosophie vorzunehmen. 

Der kritischen Wertlehre gilt im Unterschiede zu jeder 
platonisierenden Zweiweltentheorie die empirische Wirklichkeit 



Beehtsphilosophie. 3 

als einzige Art der Realität^ zugleich aber als Schauplatz oder 
Substrat überempirischer Werte, allgemeingültiger Bedeutungen. 
Sie läßt deshalb auch nur eine juristische Einweltentheorie zu, 
nach ihr gibt es nur einerlei Art von Recht: die empirische 
Rechtswirklichkeit Aber aus der notwendigen Auseinander- 
haltung von Wert und empirischem Wertsubstrat folgt die 
grundlegende Zweidimensionalität der Betrachtungsweise, 
der Dualismus philosophischer und empirischer Methode. Die 
Philosophie betrachtet die Wirklichkeit lediglich unter dem 
Gesichtspunkte ihres absoluten Wertgehaltes, die Empirie ledige 
lieh unter dem ihrer tatsächlichen Inhaltlichkeit. Die Rechts- 
philosophie muß nach dieser Anschauung Rechtswert-, die em- 
pirische Rechtswissenschaft Rechtswirklichkeitsbetrachtung sein. 
Allein die prinzipielle Stellung der Rechtsphilosophie als 
Wertspekulation bedarf noch einer Präzisierung durch einige 
allgemeine Bemerkungen über die verschiedenen Erscheinungs- 
formen des Wertes. Auf dem Standpunkt des kritischen Dua- 
lismus von Wert und Wirklichkeit lassen sich nämlich zwei 
Ausprägungen, gleichsam zwei Aggregatzustände des Wertes 
schon formallogisch leicht voneinander scheiden. Der Wert kann 
entweder als Werteinmaligkeit ebenso einzigartig sein wie 
das unendlich mannigfaltige empirische Wirklichkeitssubstrat, 
an dem er „haftet'', oder als Wertgemeinsamkeit einer Mehrheit 
einzelner Wirklichkeitsinhalte zukommen. Fast die gesamte 
Philosophie hat es mit der letzteren Wertart, mit Wertgemein- 
samkeiten also oder Werttypen zu tun, und es gilt mit Recht 
als ihre Aufgabe, den idealen Kosmos, das nach Über- und 
Unterordnung abgestufte Reich solcher formaler Bedeutungen, 
z. B. der theoretischen, ethischen, ästhetischen, in seiner syste- 
matischen Gliederung zu enthüllen. Daß aber der Werttypus 
die einzige logische Form des Wertes sein müsse, ist ein bloßes, 
wenn auch durch sein Alter ehrwürdiges Vorurteil. Es ist 
schlechterdings nicht einzusehen und niemals eine Begründung 
dafür auch nur versucht worden, warum die Absolutheit des 
Geltens, die Allgemeingültigkeit des Wertes an die logische 
Struktur der All gemein begrifflichkeit gebunden sein soll, 
warum sie nicht ebensogut auch die der unvergleichbaren Ein- 
maligkeit und UnWiederholbarkeit an sich tragen könne. Die 
Erhabenheit des Wertes wird durch diese zweite Möglichkeit in 
keiner Weise berührt; der Wert kann als Wertindividualität 

1* 



4 BechtsphiloBophie. 

um nichts weniger eine über alle empirische Wirklichkeit heraus- 
gehobene, er kann eiue in ebenderselben Höhe über ihr schwe- 
bende Sphäre bedeuten wie der Werttypus, wofür sich schon 
als formallogisches Symptom anfuhren ließe, daß die Wert- 
individualität wohl die Einmaligkeit, nicht aber auch die un- 
endliche Mannigfaltigkeit der empirischen Wirklichkeit teilt 
Also lediglich eine ganz unvollkommene Analogie, höchstens eine 
Art Parallelstruktur würde auch in diesem Fall zwischen Wert 
und Wirklichkeit bestehen. Der Wert in der Gestalt der Wert- 
einmaligkeit, der aus lauter Gliedindividualitäten zusammen- 
gesetzten einmaligen Wertreihe, muß, wie man ihn auch schließ- 
lich im Verhältnis zu den formalen Werten teleologisch rangieren 
mag, jenseits aller spezifischen Bestimmtheit der einzelnen 
typischen Wertbedeutuugen (der theoretischen, der ethischen usw.) 
stehen. Alle Isoliertheit, Vereinzelung und gleichsam Bedürftig- 
keit des Inhaltes muß in konkrete Allseitigkeit, in gänzliche 
Durchdrungenheit und Homogeneität übergeführt sein. 

Schon daraus wird klar, daß die Rechtsphilosophie als Lehre 
vom spezifischen Bechtswert ebenso wie die Logik, die 
Ästhetik, die Beligionsphilosophie und die übrigen philosophischen 
Disziplinen nur Werttypuslehre sein kann. Ob es freilich einen 
eigentümlichen Wert des Hechtes gibt, der sich den übrigen 
koordinieren läßt, oder in welchen sonstigen Beziehungen der 
Bechtswert zu anderen Werten steht — danach soll jetzt noch 
nicht gefragt werden. Hier kommt es vorläufig nur auf das 
methodische Verhältnis des Werttypus zur Empirie an. Es 
wurde schon angedeutet, daß der Wert bereits in der Gestalt 
der Werteinmaligkeit hinter der unendlich mannigfaltigen In- 
haltsfülle des Empirischen zurücksteht Der Werttypus vollends 
entfernt sich von der konkreten Gegebenheit noch weiter, da er 
ja für eine unbegrenzte Zahl einzelner Verwii'klichungsfäUe die 
absolute Vorbildlichkeit in sich zusammenfaßt Das verleiht ihm 
im Gegensatz zur unwiederholbaren Werteinmaligkeit den Cha- 
rakter der Wertformel. Wie z. B. die ürteilslehre die all- 
gemeingültige Bedeutungsformel ergründet» die in jedem Urteil 
gemäß seinem absoluten Wahrheitszwecke stecken muß, so sucht 
die Rechtsphilosophie die allgemeingültige Rechtswertformel, 
den formalen absoluten Zweck jedes einzelnen geschichtlichen 
Rechts, den systematisch gegliederten Inbegriff von Postulaten, 
die an jede empirische Rechtswirklichkeit ergehen, oder wie 



Bechtsphilosophie. 5 

Stammler sagft, das Recht des Rechtes, das richtige Recht. 
Rechtsphilosophie ist die Aufsuchung des transzendentalen Ortes 
oder der typischen Wertbeziehungen des Rechts, die Frage nach 
seinem Eingespanntsein in einen Weltanschauungszusammenhang. 

Zu weit und vieldeutig ist es deshalb, wenn man die Rechts- 
philosophie als Lehre vom „Begriff des Rechts" definiert. Be- 
griffsbildung ist stets das Produkt einer bestimmten Methode. 
Ein „Begriff" des Rechts wird darum nicht nur in der Philo- 
sophie, sondern auch in den verschiedenen das Recht behandeln- 
den Einzelwissenschaften gebildet. Es gibt einen philosophischen^ 
einen juristischen und einen sozialen Rechtsbegriff. 

Die allgemeinsten Kriterien der Wertspekulation sollten 
bisher nur soweit herausgearbeitet werden, als unbedingt nötig 
ist, um den Kontrast mit dem metaphysisch gerichteten 
Naturrecht klar hervortreten zu lassen. Im Gegensatz zur kri- 
tischen Auseinanderhaltung von Wert und Wirklichkeit und zur 
Lehre von der Unableitbarkeit des geschichtlich Gegebenen aus 
der abstrakten Wertformel erstrebt die rationale Metaphysik 
eine Hypostasierung überempirischer Werte zu realen selb- 
ständigen Lebensmächten und dadurch eine Überbrückung und 
Vermengung von Wert und Wirklichkeit. 

In diesem Sinne ist jedes Natun-echt metaphysischer Ratio- 
nalismus; es hypostasiert Rechtswerte zu Rechtswirklichkeiten. 
Um aber diesen Kern aller Naturrechtlerei in Schärfe zu er- 
fassen, muß man sich erst darüber verständigen, was denn auf 
dem Gebiete des Rechtes „empirische Realität" im Gegensatz 
zum bloßen Werte bedeuten kann. Ohne auf eine methodologische 
Untersuchung des kulturwissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriffs 
eingehen zu müssen, kann man zur Entscheidung dieser Frage 
sich vorläufig darauf beschränken, den komplizierten Begriff der 
Rechtswirklichkeit — in Übereinstimmung mit Erörterungen von 
Bergbohm, dem hierin z. B. Hegel, Stahl und Bruns voran- 
gegangen waren, — in die Unterarten der formellen und der 
materiellen Positivität zu zerlegen. Entsprechend dieser Ein- 
teilung dürfte auch das Naturrecht in eine formelle und eine 
materielle Vermischung von Wert und Wirklichkeit zerfallen. 

Die formelle Rechtspositivität ist nichts anderes als eine Art 
des Gelten s. Eine Art des Geltens erscheint darum hier als 
„empirische Realität" und folglich als naturrechtliches Verding- 
lichungsprodukt. Das Hypostasieren wirkt in diesem Falle als 



6 Bechtsphilosophie. 

Umdeutung der einen Geltungsart in eine andere, einer absolnten 
Normativität in eine empirische oder kurz als Verwandlung der 
Vemünftigkeit in die äußere Verbindlichkeit des Rechts. Denn 
in der äußeren unbedingten Verbindlichkeit für Oemeinschafts- 
organe und Gemeinschaftsglieder besteht das Wesen der positiven 
Eechtsnorm. Nun lautet die daran anknüpfende These des for- 
mellen ßechtspositivismus, daß diese positive Normativität den 
Grund ihres bindenden Charakters lediglich in der Autorität 
«iner menschlichen Gemeinschaft findet. Gerade dieser Zu- 
43ammenhang zwischen Gemeinschaftsautorität und Verbind- 
lichkeit repräsentiert das formelle Kechtskriterium, das vom 
Naturrecht zersetzt wird. Das Naturrecht läßt nämlich die 
Äußere Gebundenheit der Gemeinschaftsglieder unvermittelt 
aus der absoluten Bedeutung eines Sechtspostulates, also aus 
seiner rein ideellen Dignität — emanatistisch — hervorgehen. 
Dadurch scheidet das Kriterium der Gemeinschaftsautorität gänz- 
lich aus, und an seine Stelle tritt die Vernunft als eine höhere 
formelle Rechtsquelle, aus der „Recht" emaniert ohne und gegen 
menschliche Satzung, so daß also mit der Vernunft nicht über- 
einstimmendes Recht auch formell nichtig wird. 

Es ist Bergbohms Verdienst gewesen, gerade den formell 
naturrechtlichen Spuren, ja den bloß verdächtigen Ansätzen zur 
Naturrechtsgläubigkeit innerhalb der neueren Rechtswissenschaft 
nachgegangen zu sein. Ein ausdrückliches Bekenntnis zum 
formellen Naturrecht findet sich jedoch heute fast nur in der 
katholischen Rechtsphilosophie, wie sie z. B. von Cathrein, 
V. Hertling, Gutberiet und anderen vertreten wird. 

Allein es gibt in der Vergangenheit und in der Gegenwart 
rechtsphilosophische Theorien, die man ohne weiteres als natur- 
rechtlich bezeichnet, auch wenn sie die metaphysische Rechts- 
quellenlehre ausdrücklich ablehnen. Will man nicht jeden Glauben 
an absolute Maßstäbe des Rechts, also überhaupt alle Arten von 
Wertbetrachtung, mit dem Naturrecht zusammenwerfen, so muß 
es neben dem formellen Naturrecht noch ein materielles geben, 
das ebenso wie jenes im Gegensatz zur kritischen Wertspekulation 
steht. Wie das formelle Naturrecht in einer Verdunklung der 
Wirklichkeitsform des Rechts, seines spezifischen Norm- 
charakters bestand, so muß das Naturrecht im materiellen Sinne 
dem materiellen Positivitätsmoment oder der empirischen Inhalt- 
lichkeit des Rechts verderblich sein. In diesem Fall kann 



Bechtspbilosophie. 7 

die „Realität", die der metaphysischen Hypostasierung verfallt, 
nur in der individuellen Inhaltsfälle und geschichtlich bedingten 
Eonkretheit der positiven Bechtsbestimmungen liegen, also 
gerade in demjenigen Moment, das nach der kritischen An- 
schauung die transzendentale Prärogative der empirischen Wirk- 
lichkeit ausmacht Aus einem System abstrakter Wertformeln 
glaubt der Naturrechtler einen Bestand von Rechtsnormen de- 
duzieren zu können, der seiner Inhaltlichkeit nach einer 
weiteren Individualisierung nicht bedarf und ohne jede Berück- 
sichtigung konkreter historischer Zusammenhänge überall als 
Recht eingeführt zu werden geeignet ist. Es ist dabei sehr 
wohl möglich, daß ein solcher Inbegriff von aufgestellten Sätzen 
ausschließlich seiner Inhaltlichkeit nach für fertig und er- 
schöpfend gehalten wird, daß ihm hingegen die formelle 
Rechts Qualität nach der Meinung seines Urhebers erst durch 
Einführung seitens der positiven Gesetzgebung zuwachsen solL 
Hier läge also ein ausschließlich materielles Naturrecht vor, 
während umgekehrt das Naturrecht im formellen Sinne das 
materielle Moment wohl stets involvieren wird. An dieses 
materielle Moment wird meist gedacht, wenn dem Naturrecht 
die Aufstellung eines für alle Zeiten und Völker gültigen Ideal- 
kodex zum Vorwurf gemacht wird. 

Das Naturrecht ist unhistorischer Rationalismus und Meta- 
physik; keineswegs aber braucht es mit einer naturalisti- 
schen Metaphysik zusammenzufallen. Vielmehr ist die in der 
Oeschichte der Naturrechtstheorien so häufig auftretende natu- 
ralistische Unterströmung lediglich als eine Abart des materiellen 
Naturrechtsgedankens zu begreifen. Ebenso nämlich wie der 
unveränderliche Vemunftwert kann die überall gleiche „Natur'^ 
das spekulative Prinzip p^bgeben für die Herausreißung und 
Isolierung abstrakter Partialinhalte aus der konkreten Fülle des 
Gegebenen. Nicht Wertformeln, sondern naturgesetzliche Ab- 
straktionen werden dann zu selbständigen Realitäten verdichtet 
In dem Worte „Naturrecht'' stecken eben mehrere selten genügend 
geschiedene Bedeutungen von „Natur''. „Natur" bedeutet erstens 
— zumal im formellen Naturrecbtsbegriff — die Allgemeingültig- 
keit oder Absolntheit im Gegensatz zur bloß relativen 
Geltung der menschlichen Satzung und zweitens die inhaltliche 
Allgemeinheit entweder der Vernunft oder der Natur im 
Gegensatz zur individuellen Besonderheit 



8 Eechtsphilosophie. 

Es ist notwendig, dem Naturrecht die engere Bedeutung 
einer hypostasierenden Metaphysik im Unterschiede zur abso- 
luten Wertbetrachtung überhaupt zu geben. Nur bei dieser 
Fassung läßt sich die einmütige Auflehnung der positiven Wissen- 
schaft gegen das Naturrecht schon aus allgemeinsten erkenntnis- 
theoretischen Gründen rechtfertigen. Freilich krankt, wie neuer- 
dings wiederum Bergbohm gezeigt hat, die gesamte Polemik gegen 
die Ungeschichtlichkeit des Naturrechts an einer ungenügenden 
Scheidung des formellen und des materiellen Moments. Gerade 
die formell-positivistische Rechtsquellenlehre jedoch, auf die Berg- 
bohm das Kriterium der historischen Methode ausschließlich ab- 
stellen will, hat mit dem Prinzip der Geschichtlichkeit nur in- 
sofern einen gewissen Zusammenhang, als der Begriff der posi- 
tiven Rechtsquelle auf die Erforderlichkeit eines „äußerlich 
erkennbaren" , „geschichtlich nachweisbaren" Rechtsbildungs- 
prozesses hinausläuft. Im übrigen ist das bei dieser ganzen 
Opposition gegen das Naturrecht vorwaltende Interesse so forma- 
listisch und so sehr auf die Reinhaltung des — wenn auch 
empiristischen — Rechtsbegriffes gerichtet, daß man es 
in seiner Totalität lieber als ein empiristisches oder positivisti- 
sches denn als ein rein „historisches" terminologisch zusammen- 
fassen möchte. 

Fast sämtliche Anhänger absoluter rechtsphilosophischer 
Wertprinzipien im neunzehnten Jahrhundert — so z. B. Stahl, 
Trendelenburg, Lassen — haben den Empirismus auf sich wirken 
lassen und eine Versöhnung der Spekulation mit der positiven 
Rechtswissenschaft zum mindesten angestrebt In neuester Zeit 
hat vor allem Stammler die Einordnung des Rechts in absolute 
Zweckzusammenhänge mit der Ansicht zu vereinigen gewußt, 
daß die „formale Gesetzmäßigkeit" oder „gegenständliche Richtig- 
keit" lediglich einen Maßstab für oder eine unbedingte Anforde- 
rung an das Recht, ein Ziel für den Gesetzgeber, nicht aber eine 
äußerlich verbindliche Norm für das Zusammenleben der Menschen 
bedeuten kann. So erfüllt die kritische Wertspekulation die 
Forderung Bergbohms, Philosophie des positiven Rechts 
zu sein. 

Eine klarere Erfassung der Ziele rechtsphilosophischer For- 
schung bahnt sich jetzt hauptsächlich dadurch an, daß das in 
der Gegenwart vor allem von Windelband geltend gemachte 
Fundamentalprinzip aller philosopischen Besinnung, die Scheidung 



Bechtsphilosophie. . 9 

von Wert- und Wirklichkeitsbetrachtnng, auch bei den Vertretern 
der Rechts- und Sozialphilosophie immer mehr Anerkennung ge- 
winnt. Fast das gesamte vorkantische Naturrecht hatte sich von 
der für den Naturalismus typischen Verschwommenheit noch nicht 
frei zu machen gewußt, wonach der allgemeinen Naturgesetzlich- 
keit heimlich zugleich eine Wertbedeutung untergeschoben wird. 
Hegel und nach ihm viele Spätere, wie Stahl und Lassen, haben 
die hieraus notwendig folgende Orientierungslosigkeit und Will- 
kürlichkeit der naturalistischen Ausleseprinzipien gegeißelt. In 
der neuesten Zeit hat der marxistische Naturalismus eine metho- 
dische „Bückkehr zu Kanf* auf sozialphilosopischem Gebiet 
hervorgerufen. Diese „Neukantische Bewegung", wie Vorländer 
sie nennt, an deren Spitze Cohen, Natorp, Stammler und Stau- 
dinger stehen, beginnt sich jetzt auch innerhalb des Sozialismus 
auszubreiten und zählt Marxisten wie Struve und Woltmann zu 
ihren Anhängern. Sie kämpft gegen die Alleinherrschaft der 
„genetischen" Erklärung, die sie durch die „systematische" Er- 
wägung über die absolute Berechtigung des kausal Entstandenen 
nicht verdrängt, sondern ergänzt sehen will. In der Gruppe der 
Neukantianer macht sich dabei ein starker Intellektualismus in 
der philosophischen Fragestellung bemerkbar, die Neigung, alle 
Wertprobleme für rein erkenntniskritische oder methodologische 
zu halten. In den Erörterungen über die „Gesetzmäßigkeit" und 
oberste „Einheit" des Sozialen gehen die Bedeutungen von sozial- 
philosophischer Methode, absolutem Sinn des Sozialen selbst und 
methodischer Form der empirischen Sozialwissenschaft oft un- 
unterscheidbar ineinander über. Allein die Grenzlinie zwischen 
Philosophie und Empirie wird überall streng beobachtet. 

Im engsten methodischen Zusammenhang mit dem Begriff 
der kritischen Rechtsphilosophie steht die gleichfalls durch 
Stammler von neuem aufgeworfene Frage nach der Berechtigung 
einer mit absoluten Maßstäben richtenden und dadurch von der 
empiristischen Disziplin gleichen Namens unterschiedenen Politik. 
Die Rechtsphilosophie gehört als Werttypuslehre der syste- 
matischen Wertwissenschaft an. Die Bedeutungszusammen- 
hänge, die sie zu erforschen hat, weisen deshalb nicht nur die- 
jenige Disparatheit gegenüber den Wirklichkeitszusammenhängen 
auf, die überhaupt zwischen Wert und Wirklichkeit besteht, 
sondern entbehren überdies jenes partiellen Parallelismus der 
Struktur^ der zwischen der Wert ein mal igkeit und der empi- 



10 Bechtsphilosophie. 

rischen Wirklichkeit immerhin noch statt hat Nichtsdestoweniger 
zeigt auch der Werttypus darin eine der Wirklichkeit gleichsam 
zugekehrte Seite, daß diese doch wenigstens als sein Substrat an- 
gesehen werden darf. Die Folge davon ist, daß jede Werttypus- 
lehre zwei Möglichkeiten des Operierens mit dem formalen Werte 
zuläßt: ein reines Systematisieren der absoluten Bedeutungen 
untereinander, also ein bloßes Verweilen im Eeiche der Werte 
selbst und außerdem ein Berücksichtigen der einzelnen Wertver- 
wirklichungen. Dadurch wird die Stellung der Eechtspolitik, 
auf die es Stammler in letzter Linie allein ankommt, zur rein 
systematischen Rechtsphilosophie verständlich. In der Politik 
gerät der Wert unter den Gesichtspunkt der Verwirklichung 
im einzelnen; der Wert wird zur Norm oder zum Postulat. Der 
WertbegrifF ist das sachliche Prius des Normbegriffs. Da jedoch 
gerade aller rechtsphilosophischen Betrachtung der Gedanke an 
eine durch menschlichen Willen realisierbare Einfuhrung der 
Werte ins Leben immanent ist, so ist es nicht zu verwundem, 
daß auf diesem Gebiete der normative Hintergrund des Wert- 
begriffes von vornherein heimisch ist. Im Unterschied zur reinen 
Systematik bedeutet somit das Verfahren der Politik ein Eon- 
frontieren des einzelnen Falles mit dem formalen 
Wert, eine Prüfung des individuell Gegebenen auf seine Über- 
einstimmung mit dem formalen Endzweck. — 

Die Vergleichung von Rechtsphilosophie und Eechtsmeta- 
physik hat ergeben, daß die kritische Wertspekulation, weit ent- 
fernt, den Empirismus abzulehnen, ihn vielmehr bestätigt und 
begründet. Allein die Kehrseite hiervon muß ebenso energisch 
betont werden : daß die Spekulation sich dann sofort gegen den- 
selben Empirismus und zwar insbesondere gegen den historischen, 
zu wehren hatte, sobald er sich anmaßte, selbst als ^Philosophie 
aufzutreten. Es ist ja ein in der Gegenwart weit verbreiteter 
Wahn, daß gerade auf sozial- und rechtsphilosophischem Gebiet 
aus den Grundgedanken der „historischen Schule^' sich eine 
Weltanschauung gewinnen lasse. 

Beim ersten Anblick scheint in der Tat der Dualismus 
wertender und nichtwertender Betrachtung durch die Existenz 
der historischen Kulturwissenschaften durchbrochen zu werden, 
wenn man bedenkt, daß in diesen Disziplinen die Wirklichkeit 
mit Rücksicht auf objektive Kulturbedeutungen bearbeitet wird. 
Um trotzdem auch deren komplizierteren empiristischen Charakter 



Bechtsphiloaophie. 11 

aufs schärfste herauszustellen, hat Eickert hervorgehoben, daß 
hier die Berücksichtigung der Eulturbedeutungen nicht als direkte 
Wertbeurteilung, sondern lediglich als rein theoretische Wert- 
beziehung, also als Mittel der bloßen Wirklichkeitsumformung 
aufzufassen sei. Die Aufgabe der Kulturwissenschaften besteht 
nicht darin, die absolute Geltung der Kulturbedeutungen zu 
ergründen, sondern darin, die bloß empirische und zeitliche 
Tatsächlichkeit ihres Auftretens herauszuarbeiten, die sich 
allerdings dem ursprünglichen Wirklichkeitsmaterial gegenüber 
schon als ein methodologisches Ausleseprodukt darstellt. Wer 
der Geschichte Wertmaßstäbe entnehmen will, der müßte konse- 
quenterweise alles das für wertvoll halten, was dem Historiker 
als Wissenschaftler zur Darstellung des historischen Zu- 
sammenhangs als bedeutsam erscheint; er müßte, wenn man es 
methodologischer ausdrückt, einfach das Produkt einer empiri- 
stischen Tendenz verabsolutieren. Der Historismus ist in der 
Tat nichts anderes als eine empirische Wissenschaftsmethode, die 
sich als Weltanschauung gebärdet, eine inkonsequente, unkon- 
trollierte, dogmatische Art des Wertens. Darin gleicht er genau 
dem Naturalismus. 

Doch es scheint, als ob diese Kennzeichnung dem Histo- 
rismus Unrecht tut. Besagt nicht der Gedanke der Wertein- 
maligkeit, daß historische Konkretheit und Individualität in das 
Beich der Werte selbst eingedrungen ist, es also ein historisches 
Werten gibt? Diese Annahme würde auf eine schwere Täuschung 
gegründet sein. Gewiß besteht ein Parallelismus der 
Struktur, eine gewisse formallogische Analogie wie zwischen 
Werteinmaligkeit und empirischer Wirklichkeit so auch zwischen 
Werteinmaligkeit und historischer Tatsächlichkeit Bei beiden 
erscheint nämlich Individuelles um seiner Bedeutung willen zu- 
sammengeschlossen und herausgehoben. Aber diese Ähnlichkeit 
ist doch keine Identität! Mit demselben Recht, wie man die 
Werteinmaligkeit historisch nennt, müßte man die gesamte syste- 
matische Philosophie, Logik, Ethik, Ästhetik, Religionsphilosophie, 
als naturwissenschaftlich bezeichnen — denn eine gewisse for- 
mallogische Analogie besteht zweifellos auch zwischen dem Wert- 
typus und der naturgesetzlichen Allgemeinheit. Wer Wertindi- 
vidualität und historische Faktizität miteinander vermengt, über- 
sieht, daß beide durch die unendliche Kluft voneinander unter- 
schieden sind, die zwischen Sinn und Sein liegt. Als bloßes Pro- 



12 Eechtephilosophie. 

dukt der historischen Begriffsbildung stellt die einmalige Kultur- 
entwicklung einen zeitlichen, kausalverknüpften, realen Zusammen- 
hang dar. In ihm ist folglich das Moment der Zeitlichkeit und die 
brutale Zufälligkeit des empirischen Grade-So-Seins noch gar nicht 
überwunden. In der Region der Wert zusammenhänge dagegen 
darf von zeitlichen Beziehungen nicht mehr die Eede sein, und hierin 
kann kein Unterschied bestehen zwischen der Werteinmaligkeit 
und dem System der Werttypen. Alle seit je vom Piatonismus 
des Wertens ausgegangenen Angriffe gegen die Möglichkeit der 
Wertindividualität stammen ja daher, daß man immer glaubte, 
die Beibehaltung des Momentes der Werteinmaligkeit müsse un- 
bedingt auch zur Verabsolutierung der bloß zeitlichen Gegeben- 
heit führen. 

Die geschichtliche Tatsächlichkeit, als immer noch in der 
bloßen Zeitlichkeit befangen und in dieser ihrer formellen Fakti- 
zitätsstruktur sich überall gleich bleibend, gewährt so- 
mit von sich aus kein Prinzip einer Heraushebung des absoluten 
Wertes, sondern bietet dem Werte lediglich einen Schauplatz 
dar: die historische Tatsächlichkeit kann, was ja gar nicht be- 
stritten werden soll, gar wohl als ein Orientierungsmittel beim 
Suchen nach dem absoluten Werte dienen, aber in keinem an- 
deren Sinne, als in dem überhaupt die empirische Wirklichkeit 
das Substrat für alle Wertbetrachtung, auch für die syste- 
matische, abgibt. Auch die Erzeugung der Wertindividualität 
und die Konstruktion der einmaligen Wertreihe ist ein schöpfe- 
risches Verfahren, ein Herausschauen des Wertes aus der Zeit- 
lichkeit. Und daraus folgt, daß der geschichtlichen Wirklichkeit 
als solcher auch der konkrete oder individuelle Wert nicht 
einfach entnommen werden kann. Nur auf dieses prinzipielle 
und formalmethodische Verhältnis kommt es hier an. In 
populärer und ungenauer Redeweise mag von absoluten histori- 
schen Werten gesprochen werden. Pflicht des Philosophen aber 
ist es, die in solchen Ausdrücken enthaltene quatemio termi- 
norum zu durchschauen. Materiell wird durch diese formellen 
Auseinanderhaltungen die Bedeutung des geschichtswissenschaft- 
lichen Strebens um keines Haares Breite herabgesetzt Ja, man 
kann bei aller Ablehnung des Historismus sogar zugeben, daß 
in letzter Linie das Regulativ auch der empirischen Geschichts- 
schreibung in dem Glauben an absolute Werteinmaligkeiten liegt. 
Aber gerade dadurch wird ja bestätigt, daß nicht die Welt- 



Bechtsphilosophie. 13 

anschauung der Geschichte, sondern höchstens umgekehrt die 
Geschichte der Weltanschauung zu entnehmen ist. 

Der Historismus ist das genaue Gegenstück des Naturrechts, 
und das macht seine prinzipielle Bedeutung aus. Das Natur- 
recht will aus der Absolutheit des Wertes das empirische Sub- 
strat, der Historismus aus dem empirischen Substrat die Ab- 
solutheit des Wertes hervorzaubern. Das Naturrecht zerstört 
zwar durch die Hypostasierung der Werte die Selbständigkeit 
des Empirischen. Daß es aber überhaupt an übergeschichtliche, 
zeitlose Normen geglaubt hat, ist nicht, wie viele meinen, ein 
durch die historische Aufklärung der Gegenwart widerlegbarer 
Irrtum, sondern sein unsterbliches Verdienst gewesen. Der Histo- 
rismus andrerseits — nicht etwa die Historie und die geschicht- 
liche Rechtsauffassung selbst — zerstört alle Philosophie und 
Weltanschauung. Er ist die modernste, verbreitetste und ge- 
fährlichste Form des Relativismus, die Nivellierung aller Werte. 
Naturrecht und Historismus sind die beiden Klippen, vor denen 
die Rechtsphilosophie sich hüten muß. 



b) Die einzelnen Richtungen. 

Den Ausgangspunkt aller neueren rechtsphilosophischen Spe- 
kulation bildet die auch von Kant angenommene Begriffsbe- 
stimmung, daß das Recht die äußere Regulierung menschlichen 
Verhaltens zur Erreichung eines inhaltlich wertvollen Zustandes 
sei. Auf dieser gemeinsamen Grundlage hat sich eine doppelte 
Möglichkeit der Einordnung des Rechts in Wertzusammenhänge 
ergeben. Entweder wurde sein Endzweck ausschließlich in der 
Vollendung der ethischen Persönlichkeit gesucht, und der Sinn 
des Gemeinschaftslebens allein an der Erfüllung dieses einen 
Ideales gemessen. Oder es herrschte die Ansicht vor, daß der 
Ordnung und den Einrichtungen der menschlichen Gemeinexistenz 
eine eigene Herrlichkeit, ein eigentümlicher nicht erst irgendwie 
vom individualethischen abgeleiteter Wert innewohne. Es ist 
klar, welche Bedeutung der Gegensatz dieser Weltanschauungen 
gerade für die Rechtsphilosophie haben mußte. Das Recht ge- 
hört seiner empirischen Stellung nach zweifellos in den Be- 
reich der „sozialen'' Institutionen. Nur wenn es einen eigen- 
artigen „sozialen'' Werttypns neben dem individualethischen gibt, 



14 BechtBphilosophie. 

kann darnm die unbestrittene empirisch-soziale Bedeutung des 
Rechts auch ein Korrelat in der Sphäre des absoluten Wertes 
erhalten. Nur in diesem Fall steht es nicht lediglich in einer 
mechanischen Beziehung zu einem seiner eigenen sozialen Struktur 
fremden indiyidualethischen Werttypus; sondern ebenso wie dem 
sozialen Zweckgebiet des Rechts ein eigentümlicher Wert korre- 
spondiert, so gilt auch schließlich das Recht selbst nicht mehr 
bloß als Mittel, sondern gleichzeitig als ein Bestandteil im ge- 
gliederten Bau des „objektiven Geistes^, wenngleich es auch 
nach dieser Anschauung noch keineswegs zum Endzweck ver- 
absolutiert zu werden braucht 

Der rechtsphilosophische Hegelianismus, wie man die über 
den Individualismus Kants und des achtzehnten Jahrhunderts 
hinausgehende Spekulation nennen darf, hat darum den ethischen 
Individualismus als gesellschaftsphilosophischen Atom Is- 
mus charakterisieren zu können geglaubt Wenn nämlich wie 
bei Kant der Wert ungeachtet seiner überindividuellen Geltung 
ausschließlich an der einzelnen Persönlichkeit haftet, so 
werden damit alle den isolierten Wertpunkten etwa überbauten 
Zusammenhänge aus der Region des absoluten Wertes prin- 
zipiell ausgeschlossen. Gegenüber einem solchen rein persona- 
listischen Wertsystem kennzeichnet sich die neue Weltanschauung 
zunächst als eine Verkündigung transpersonaler Werte, sie stellt 
dem personalen Werttypus einen gleichsam sachlichen gegen- 
über. Nicht an Willen und Tat der Persönlichkeit ergeht die 
absolute Anforderung, sondern, wie schon bei Plato, an die 
gegenständliche Ordnung der „sittlichen Welt" selbst Ihre, 
nicht des einzelnen Menschen Vollendung ist der Endzweck des 
gesellschaftlichen Daseins. Mit dieser antiken Idee einer „sub- 
stanziellen Sittlichkeit" hat Hegel den Individualismus des 
Christentums und der Neuzeit in einer höchsten Synthese zu 
vereinigen gesucht Das Recht der individuellen Freiheit soll 
bei ihm anerkannt sein, aber nur als ein aufgehobenes „Moment", 
als ein in den Bau des Ganzen sich notwendig einfügendes Glied. 
Die gesamte Rechtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts 
hat sich damit abgemüht, einen eigenen absoluten Sinn der 
sozialen Zusammenhänge zu behaupten, ohne dabei die vom acht- 
zehnten Jahrhundert erkämpfte Anerkennung des Individuums 
als eines absoluten Selbstzweckes preisgeben zu müssen. In der 
Gegenwart ist der Kampf dieser Weltanschauungen noch um 



BechtsphiloBophie. 15 

keinen Schritt seiner Entscheidung näher gebracht. Ungelöst 
sind insbesondere all die Fragen geblieben, ob der transpersonale 
Wert des gesellschaftlichen Lebens dem ethischen Werte als 
Unterart anzugliedern, ob er den übrigen Werten zu koordi- 
nieren oder endlich in eine besondere Gruppe von „Kulturwerten** 
einzureihen ist. Alle Diskussionen über Individual- und Sozial- 
ethik, über die soziale Frage, über Staat und Kecht, über Natio- 
nalismus und Eosmopolitismus, alle Ansätze einer Eulturphilo- 
sophie haben sich im Grunde darum gedreht, ob dem Werttypus 
des Sozialen eine selbständige Stelle in einem umfassenden Wert- 
system gebührt. — 

Als Musterbeispiel eines rechtsphilosophischen Eantianismus 
darf in der Gegenwart Stammler angesehen werden. Ein so 
großes Gewicht er auch darauf legt, das gesellschaftliche Zu- 
sammenleben der Menschen als einen eigentümlichen, durch be- 
sondere methodologische Kategorien konstituierten Gegenstand 
einer spezifisch sozialwissenschaftlichen Erkenntnis zu begreifen, 
das soziale Ideal und die absolute Aufgabe der Rechtsordnung 
will er trotzdem ausschließlich in den Dienst der individual- 
ethischen Norm stellen. Bei ihm findet sich das entscheidende 
Argument des Kantianismus: da das unbedingte Gesetz für den 
Menschen der freie, nur durch das Pflichtbewußtsein motivierte 
Wille ist, kann auch das Endziel des sozialen Lebens nur in 
der Vereinigung des pflichtmäßigen Wollens aller, in der „Ge- 
meinschaft frei wollender Menschen** bestehen. Als das Absolute 
an allen sozialen Institutionen gilt so die „Gemeinschaft** im 
Sinne einer bloßen Koexistenz von individualer Sittlichkeit, einer 
Verschmelzung dessen, was an den Bestrebungen der Gemein- 
schafter als allgemeingültig angesehen werden darf. Hier herrscht 
dieselbe Anschauung, auf Grund deren die individualistische 
Bechtsphilosophie aller Zeiten den Vertrag als die Willensüber- 
einstimmung ethisch autonomer Wesen zum einzigen Recht- 
fertigungsprinzip der sozialen Gebilde erhoben hat. Der em- 
pirischen Struktur des Sozialen, deren Eigentümlichkeit Stammler 
im methodologischen Interesse so sehr unterstreicht, korrespon- 
diert keine eigentümliche Wertstruktur. 

Durch diese Unterscheidung zwischen empirischer und Wert- 
struktur des Sozialen fällt auch Licht auf die neueren Versuche, 
den Sozialismus an den „Gemeinschaftsgedanken** der Kantischen 
Ethik anzuknüpfen. Sie konnten nur deshalb gelingen, weil das, 



16 Rechtsphilosophie. 

was mau Merbei für eine sozialistische Weltanschauang ausgab, 
noch in keiner Hinsicht den individualistischen Gedankenkreis 
überschreitet „Menschheit" bedeutet bei Kant nicht die kon- 
krete Menschengemeinschaft, sondern den abstrakten Menschen- 
wert. Nicht daß wir alle Nebenmenschen als Glieder, sondern 
daß wir sie als Bepräsentanten der Menschheit hochhalten, 
verlangt die Eantische Ethik. Aus ihr folgt kein anderer „Ge- 
meinschaftsgedanke" als der Stammlers. Und ebenso kann sich 
die ganze Kontroverse über individualistische und sozialistische 
Wirtschaftsordnung als eine interne Angelegenheit einer rein 
individualistischen Weltanschauung abspielen. Daneben gibt es 
allerdings auch sozialistische Systeme, in denen die Forderung 
einer zentralistischen Wirtschaftsorganisation gerade als Kon- 
sequenz einer auch im Sinne des Wertes „sozialen" Weltan- 
schauung auftritt Lassalle und Rodbertus begründen als An- 
hänger von Fichte und Hegel das Eingreifen des Staates in das 
Wirtschaftsleben damit, daß das Menschengeschlecht als Ganzes 
seine nur durch die Gattung, nicht durch die einzelnen reali- 
sierbaren Aufgaben zu erfüllen habe. Hier wird an ein selb- 
ständiges Urbild des Gemeinlebens geglaubt, eine eigene Pracht 
und Vollendung des menschlichen G^samtdaseins ersehnt — 

Von besonderer Bedeutung für eine Erneuerung der Rechts- 
philosophie ist es geworden, daß durch den Hegelianismus das 
System der gesellschaftlichen Endzwecke eine viel konkretere 
Gestalt annahm. Bereits bei Schelling, Hegel, Schleiermacher, 
Stahl, Trendelenburg und in der Krauseschen Schule wird be- 
ständig hervorgehoben, daß nunmehr eine Fülle eigenartiger Ziele 
und Vorbilder, eine neue Welt von Lebensaufgaben und Bestim- 
mungen entdeckt sei, die nicht dem einzelnen in seiner Ver- 
einzelung zukommen, sondern den Lebensverhältnissen der mensch- 
lichen Gemeinschaft als solcher eigentümlich sind. Der reichen 
Gliederung dieser Zwecke und „Güter**, den in ihnen sich aus- 
drückenden „weltökonomischen Ideen", soll sich die Rechtsordnung 
genau anpassen und deshalb sich selbst zu einem „organischen 
Ganzen" oder einem „Organismus" zusammenschließen. Die den 
einzelnen Lebensverhältnissen wie Eigentum, Familie, Stand, 
S.taat innewohnende Bestimmung {TÜog) soll das „objektive und 
reale Prinzip der Rechtsphilosophie" werden. 

Mit dieser Anschauung verband sich eine Polemik gegen die 
itusschließliche Ableitung der gesellschaftlichen Welt aus dem 



VNIYER8ITY 

Eechtspliüosophie. ^<&UlOSS^^^ 17 

Willens- und Persönlichkeitsbegriff, durch die aber die Eantische 
Ethik selbst keineswegs getroffen werden sollte. Es besteht 
nicht nur eine Eomprädikabilität, eine gegenseitige Ergänzuugs- 
hedürftigkeit Zwischen Kantischer und Hegelscher Wertungsart, 
sondern es muß auch nach der Ansicht des recbtsphilosophischen 
Hegelianismus die Idee der Persönlichkeit als das oberste %ikog 
der Eechtsordnung in den Bestand des Gemeinethos mit aufge- 
nommen werden. 

Die Eeaktiou gegen die philosophische Zurilckfilhrung aller 
Eechtsgebilde auf Willens- und FreiheitskoUektiva ist eine inter- 
essante Parallele zu dem in der Mitte des neunzehnten Jahr- 
hunderts namentlich von Ihering geführten Kampf der positiven 
Wissenschaft gegen den juristischen Willensformalismus. Ihering 
selbst hat die Krausesche Schule als eine — freilich recht ein- 
flußlose — Vorläuferin in der Bekämpfung der sog. Willens- 
theorie erwähnt. Von größerem Einfluß auf die positive Wissen- 
schaft sind jedoch die Spekulationen Schellings, Hegels und, wenn 
man Ahrens glauben darf, auch Stahls gewesen. Neben der hier 
in erster Linie wirksam gewordenen historischen Schule haben 
sie zur lebendigeren Erfassung und konkreteren Behandlung des 
Eechts beigetragen. Andrerseits ist die starke Wirkung, die 
Eousseaus, Kants und Hegels abstrakte Auffassung auf die posi- 
tive Jurisprudenz ausgeübt haben, gleichfalls allgemein anerkannt. 
Einen weiteren Beleg dafür, wie die Spekulationen über die 
Struktur der sozialen Welt von der reinen Wertbetrachtung bis 
in die methodologischen Begriffsbildungsprobleme hinüberreichen, 
enthält vor allem die Entwicklung des Korporationsbegriffe. 
Oierke hat eingehend gezeigt, daß auch im Bereiche der Eechts- 
lehre sich der atomisierend-individualistische Geist der Aufklärung 
in der begrifflichen Zertrümmerung aller genossenschaftlichen 
Eechtsgebilde bewährt hat Umgekehrt hat die Bechtswissen- 
schaft, insbesondere die Staatsrechtslehre, ihre Ablehnung der 
Alleinherrschaft individualrecbtlicher Prinzipien oft durch die 
Weltanschauung des Hegelianismus zu begründen gesucht. So- 
fern überhaupt Verbindungslinien von den methodologischen 
Problemen zu letzten Weltanschauungsfragen hinaufreichen, kann 
in der Tat der juristische Genossenschaftsbegriff, wie ihn z. B. 
Gierke vertritt, nicht durch eine individualistische Ethik, sondern 
nur durch die Idee eines eigenen sozialen Werttypus spekulativ 
fundiert werden. Denn nur die Annahme eines besonderen ge- 

Windelband, Die Philosophie im Beginn des 80. Jahrh. II. Bd. 2 



18 Eechtsphilosophie. 

sellschaftlichen Zwecksystems ermöglicht in letzter Linie die 
Konstruktion selbständiger, von der Summierung von Einzelge- 
bilden unterschiedener Wertganzheiten. 

Über dem tiefen Zusammenhang zwischen methodologischen 
und reinen Wertproblemen darf allerdings auf der anderen Seite 
niemals die formelle Diskrepanz übersehen werden, die infolge 
grundsätzlicher Verschiedenheit ihrer Ziele stets zwischen empi- 
rischer und philosophischer Begriffsbildung besteht. So muß denn 
auch die von Stahl und anderen angebahnte konkretere Zweck- 
theorie reinlich abgegrenzt werden gegen die gegenwärtig zum 
Gemeingut gewordene empirisch-teleologische Lehre von der 
sozialen Funktion des Rechts und seiner Abhängigkeit von den 
Interessen der Gesellschaft. Diese empirischen Zusammenhänge 
leugnet ja auch kein ethischer Individualist. Er leugnet nur^ 
daß ihnen absolute Wert zusammenhänge korrespondieren. Eine 
in die Wertregion hineinragende Beziehung wird er hier ent- 
weder überhaupt bestreiten oder nur eine solche zwischen dem 
Recht und dem individualen Persönlichkeitswert zulassen, in 
beiden Fällen aber die entgegengesetzte Anschauung als Verab- 
solutierung bloß empirischer Erscheinungen von nur relativer 
Geltung verwerfen. Doch dieser Vorwurf braucht den rechts- 
philosophischen Hegelianismus an sich nicht zu schrecken. Denn 
in formalmethodischer Hinsicht droht er dem einen Wertgebiet 
nicht weniger als dem anderen. Dem Dualismus philosophischer 
und empirischer Betrachtungsweise ist ja prinzipiell die Gesamt- 
heit der erfahrbaren Gegenstände unterworfen: auch die das 
Material der individualistischen Ethik bildenden Willensprozesse 
bieten eine empirische Seite dar. Die Grenzlinie aber zwischen 
den nur empirischen und denjenigen Bestandteilen der empiri- 
schen Wirklichkeit, denen sich noch ein Wertmoment abgewinnen 
läßt, eindeutig zu bestimmen — das gehört bereits zu den axio- 
matischen und unwiderlegbaren Entscheidungen einer jeden in 
sich geschlossenen Weltanschauung. 

Gleichzeitig mit dem philosophischen Willensdogma beseitigt 
der Hegelianismus noch eine andere Konsequenz der Kantischen 
Rechtsphilosophie. Nach individualistischer Auffassung muß das 
Recht seiner sozialen Struktur nach gänzlich aus der Weit- 
sphäre herausfallen. Es kann streng genommen nur als selbst 
empirische Maschinerie zur Erhaltung überempirischer Freiheits- 
zwecke begriffen werden. Es läßt sich deshalb, soll es überhaupt 



Rechtsphilosophie. 19 

transzendental charakterisiert werden, nnr durch lanter nega- 
tive Prädikate ausdrücken, die sämtlich von einer bloßen Kon- 
trastierung mit der Moral hergenommen sind. Freilich hat die 
Kantische Richtung sich nie darauf beschränkt, in strenger Folge- 
richtigkeit das substantielle Wesen des Rechts lediglich als 
konträren Gegensatz zur ethischen Innerlichkeit, als bloße Äußer- 
lichkeit und Erzwingbarkeit zu fassen. Stets hen*schte auch 
hier die Überzeugung, daß das Recht selbst an der Heiligkeit 
der Zwecke Anteil hat, denen es dient. Das läßt sich besonders 
deutlich schon bei Eant verfolgen, dessen Auflösung aller empi- 
rischen Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute in lauter intelli- 
gible Freiheitsbeziehungen sich schwer mit der gleichzeitigen 
Behauptung der Äußerlichkeit des Rechts in Einklang bringen 
läßt Den Vorzug der Konsequenz hat gegenüber dem Schwanken 
Kants zweifellos Fichtes viel strengere Deduktion des Rechts- 
begriffs aus einer logischen Analyse des „sinnlichen Vernunfts- 
wesens", des „bestimmten materialen Ichs". Auch bei Hegel und 
Stahl trifft man die zuerst von Fichte transzendental deduzierte 
empirische Färbung mancher Rechtsbegriffe, besonders des Per- 
sönlichkeitsbegriffs, an. In der Gegenwart hat in Übereinstim- 
mung mit Fichtes immanentem Idealismus vor allem Schuppe 
das metajuristische Apriori des Rechts zu finden gesucht Nach 
ihm bleibt der rechtliche Standpunkt bei der Bejahung der ein- 
zelnen „räumlich-zeitlichen Bewußtseins-Konkretion" stehen, ohne 
zur ethischen Wertschätzung des An-sich-Guten, des Bewußtseins 
überhaupt, überzugehen. Dabei verläßt Schuppe in den grund- 
legenden rechtsphilosophischen Konstruktionen niemals das charak- 
teristische Schema des Kantianismus, die Entgegensetzung von 
abstrakter Weiiallgemeinheit und einzelnen empirisch-konkreten 
Exemplaren, sowie die ausschließliche Erläuterung des Recht- 
lichen durch Vergleichung mit dem Ethischen. — 

Erst durch die Einführung eines besonderen sozialen Wert- 
typus wird das Recht selbst als eine soziale Erscheinung in den 
Bereich des Wertes hineinverlegt. Auch die transzendentale 
Charakterisierung vermag ihm nunmehr eine — wenn auch even- 
tuell noch so geringe — positive Bedeutung zuzuschreiben 
und in ihm die wertvollen Gestaltungen des menschlichen Ge- 
meinlebens in wenn auch noch so primitiver und veräußerlicht^r 
Form wiederzuerkennen. In diesem Sinne ist das Recht von 
Jellinek — freilich in einem mehr empirisch-soziologischen Zu- 

2* 



20 Bechtsphilosophie. 

sammenhaBge — als „ethisches Minimam^' bezeichnet worden, 
mit der ausdrflcklichen Bemerkung, daß eine solche Würdigung 
der individualethischen Anschauung verschlossen bleiben mttsse. 
Ähnlich haben Hegelianer wie Lasson das Recht als den noch in 
die Natürlichkeit versenkten Geist, als eine erste Stufe der Ver- 
nunft und Sittlichkeit geschildert Glänzend ist diese Auffassung 
bereits von dem noch jetzt einflußreichen Stahl vertreten worden. 

Um die Notwendigkeit einer rechtlichen Eeguliemng des 
Gemeinschaftslebens zu zeigen, kann man zunächst die Idee einer 
restlosen Wechseldurchdringung von individueller sittlicher Be- 
tätigung und objektivem Ethos flngieren. In dem Idealzustande 
einer vollendeten Ausgeglichenheit der menschlichen Gemein- 
existenz müßten die einzelnen die Endzwecke der Gesamtheit in 
jedem Augenblicke intuitiv erkennen und in unwandelbarer 
pflichtmäßiger Gesinnung freiwillig erfüllen. In der theoretischen 
Philosophie dient die hiermit vergleichbare kritisch ersonnene 
Fiktion des intuitiven Verstandes dazu, die uns allein be- 
schiedene Art der Bewältigung des theoretischen Zieles, nämlich 
die Spaltung des Erkennens in allgemeine Begriffe und konkrete 
Wahrnehmungen, desto schärfer hervortreten zu lassen. Analog 
mag das praktische Idealbild uns daran erinnern, daß alle er- 
fahrbare Gemeinscbaftsordnung sich nur durch die Aufstellung 
formaler, die sittliche Komplikation des Einzelfalles nicht be- 
rücksichtigender Vorschriften aufrecht erhalten läßt Die Siche- 
rung des Bestandes der sittlichen Welt erfordert aber außerdem 
die Erzwingbarkeit und Äußerlichkeit der rechtlichen Imperative, 
und diese Merkmale ergeben zusammen mit der Abstraktheit 
zugleich den starren traditionellen Charakter des Rechts, der es 
zu einer die Generationen und geschichtlichen Wandlungen eines 
Volkes überdauernden Lebensgestaltung macht. Aus der Ab- 
straktheit geht femer hervor, daß die Rechtsordnung den Ideen- 
gehalt des Gemeinethos nicht in seinem vollen konkreten Be- 
stände, sondern nur in seinen äußeren dürftigsten umrissen aus- 
zudrücken vermag. 

Dadurch also, daß das Recht zwar die abstrakteste und 
formalste Gestalt innerhalb des sozialen Werttypus, aber doch 
immerhin schon ein Minimum des Gemeinethos repräsentieren 
soll, ist bereits der entscheidende Schritt über die bloß nega- 
tive Charakterisierung der Kantischen Rechtsphilosophie hinaus 
getan. 



Bechtsphilosophie. 21 

Der erste und noch das neunzehnte Jahrhundert, soweit es 
solchen Spekulationen überhaupt zugänglich war, beherrschende 
Versuch, dem Eecht seinen transzendentalen Ort in einem System 
der sozialen Werttypen anzuweisen, ist von der Philosophie 
Hegels ausgegangen. Hier erhält die Rechtsordnung ihre genaue 
Stelle in der immer konkreter werdenden Beihe der objektiven 
Kulturzwecke und wird als eine eigenttlmliche Entwicklungsstufe 
des „Geistes" begriffen. Hegel, nach dessen Ansicht das kon- 
kreteste „Eecht", das Becht des Weltgeistes, über alle ab- 
strakteren Begeln und Berechtigungen mit absoluter Souveränität 
hinweggeht, war trotz seiner Vergötterung sachlicher trans- 
personaler Institutionen weit davon entfernt, die bloß rechtlichen 
Formen des Kulturlebens zu verabsolutieren. Viel eher könnte 
man ihm einen ungerechten Haß gegen alle abstrakte und 
„formelle" Gesetzgebung vorwerfen, die ihn dazu verleitet, prin- 
zipiell das Systematische und Werttypische als eine unvoll- 
kommene und ergänzungsbedürftige Vorstufe der absolut ge- 
sättigten Totalität und Homogeneität des Wertes anzusehen. Das 
zeigt sich denn auch darin, daß er die „Person" im rechtlichen 
Sinne, die aus der lebendigen menschlichen Individualität das 
bei allen absolut identische Abstraktum der Persönlichkeit oder 
Bechtsfähigkeit heraussondert, stets als ein aus den substantiellen 
geistigen Zusammenhängen herausgerissenes Atom charakterisiert 
Durchweg vermag er ja das Abstrakte nur als ein der wahren 
konkreten Unendlichkeit Entfremdetes und wegen seiner Leer- 
heit mit dem Moment der Negativität Behaftetes zu würdigen. 
Er vergleicht den Standpunkt des Bechts mit der Weltanschauung 
des späteren Griechentums, in der das eitle spröde Selbst die 
in sich befriedigte Einzelnheit, in trotzigem Selbstbewußtsein 
aus dem Leben der sittlichen Substanz herausgetreten ist. Was 
dem Stoizismus nur in der Beflexion das Ansich war, ist durch 
das Becht zur Wirklichkeit geworden. Es war der weltgeschicht- 
liche Beruf des Bömertums, die konkrete Individualität unter die 
Gewalt der abstrakten Freiheit und des abstrakten Staates zu 
beugen, ebenso aber auch die konkreten Gestalten der Völker- 
individuen dem abstrakten Staatsbegriffe einzuverleiben und sie 
unter dieser Allgemeinheit zu „zerdrücken", alle Götter und alle 
Geister in dem Pantheon der Weltherrschaft zu versammeln. 

An dieser Stelle sei gleich bemerkt, daß in Hegels Lehre 
auch die in der Jurisprudenz des neunzehnten Jahrhunderts 



22 Bechtsphilosophie. 

häufig begegnende methodologische Fassung des Hechts- 
formalismus wurzelt, wovon jedoch erst im nächsten Abschnitt 
die Rede sein soll. 

Gerade bei den Denkeni also, die ein konkretes Urbild des 
Oemeinlebens postulieren, muüte von jeher die Tendenz bestehen, 
die Rechtsordnung wegen ihres lediglich regulativen und orga- 
nisatorischen Charakters für ein bloßes Surrogat des sozialen 
Ideales zu halten. Wie oft ist der Ausspruch Piatos zitiert 
worden, daß das abstrakte Gesetz, das durchaus Sichselbstgleiche, 
ungenügend sei, die Ungleichheit und das Niemals-Ruhe-Halten 
der menschlichen Dinge gerecht zu ordnen. Alle Revolutionen 
und Staatsstreiche hat man mit Fichtes Argument zu verteidigen 
gesucht, daß die rationalen und systematisierbaren Formen der 
Gesellschaftsordnung, die Güter, in deren Besitz die Zeitalter 
„gläubig fortgehen auf der angetretenen Bahn", nur Mittel, 
Bedingung und Gerüst dessen sind, „was die Vaterlandsliebe 
eigentlich will, des Aufblühens des Ewigen und Göttlichen in 
der Welt." Mit Fichte oft übereinstimmend hat Lagarde in 
dem unpersönlichen, die Tatkraft der Männer und der Nationen 
lähmenden Zwang der Gesetze, in der Herrschaft von staatlichen 
Institutionen und Konstitutionen, diesem „caput mortuum der 
Menschheit", das Unheil der Gegenwart erblicken wollen. 

In unserer Zeit hat Tönnies die Abstraktheit des Rechts nicht 
bloß als ein methodologisches Problem behandelt, sondern in ein 
Gesamtbild der sozialen Welt einzuzeichnen gesucht Ähnlich 
wie Hegel schildert es das spätere Rom: Die Herrschaft über 
den Erdkreis nähert alle Städte der einen Stadt, schleift alle 
Unterschiede und Unebenheiten gegeneinander ab, gibt allen 
gleiche Mienen, Geld, Bildung, Habsucht. Das Recht erzeugt 
den Begrilf der juristischen „Person", eine Fiktion und Kon- 
struktion des wissenschaftlichen Denkens, eine „mechanische 
Einheit", die der konkreten Vielheit nicht wie die Einheit des 
organischen Wesens zugrunde liegt, sondern über ihr wie eine 
begriffliche Gattungseinheit, eine universitas post rem und extra 
res steht. Immer mehr streift in den letzten Jahrhunderten das 
Recht seinen organischen Charakter ab, und immer ausschließ- 
licher dient es dem Prinzip der „Gesellschaft" d. h. einem Zu- 
stande, in dem die von allen ursprünglichen und natürlichen 
Verbindungen losgelösten Individuen nur durch die abstrakt ver- 
nünftigen Erwägungen gegenseitigen Nutzens und Entgeltes in 



.BechtsphiloBophie. 23 

Beziehnngen zueinander treten. Durch diese Konstruktion des 
sozialen Eationalismus erhält der in der spekulativen Würdigung 
Hegels auch für die Philosophie so einflußreich gewordene Ge- 
sellschaftsbegriff der klassischen Nationalökonomie seine extremste 
philosophische Formulieruug. Dem System der gesellschaftlichen 
Abstraktionen stellt Tönuies die „Gemeinschaft'' als organischen 
Typus des Sozialen gegenüber. Sie ist ihrer Struktur nach das 
Analogon zu Hegels Begriffen des substantiellen Geistes und der 
sittlichen Totalität, unterscheidet sich jedoch von Hegels ganz 
kulturphilosophischer Tendenz durch eine viel naturalistischere 
Färbung, durch die Betonung des Naturhaften und Ursprüng- 
lichen. Während alles Gemeinschaftsleben auf der Universalität, 
der ungebrochenen Einheit der Lebensinteressen beruht, schafft 
das Kecht die technischen Formen für die Isolierung und ge- 
sonderte Verfolgung einseitiger, z. B. rein wirtschaftlicher Zwecke, 
die erst den Grund für den Zusammenschluß wesentlich ge- 
trennter, nur in diesem einen Punkt übereinstimmender Willkür- 
sphären abgeben. Die Emanzipation der Individuen aus allen 
ursprünglichen Gemeinschaftsbanden, die allgemeine Auflösung 
und Nivellierung, deren bereites Werkzeug auch innerhalb der 
christlichen Kultur das Recht — insbesondere das römische — 
war, hat nach Tönnies ihre höchste Verkörperung im modernen 
Staat gefunden, der sich aus einem echten Gemeinwesen in eine 
gesellschaftlich-kapitalistische Vereinigung verwandelt habe. 

Auch Simmel, der jedoch das Recht nur in gelegentlichen 
Ausführungen berücksichtigt, hält es ähnlich wie Tönnies f&r 
ein Symptom der gerade in der Gegenwart immer mehr um sich 
greifenden Rationalisierung des Lebens. Vergleichbar mit der 
Intellektualität einer- und mit dem Geld andrerseits zeige es die 
Gleichgültigkeit gegen individuelle Eigenart und ziehe aus der 
konkreten Ganzheit der Erlebnisse einen abstrakten, allgemeinen 
Faktor heraus. Allein Simmel glaubt, daß der moderne Ent- 
personalisierungsprozeß nur die Außenseiten des Lebens ergreift, 
daß also die Persönlichkeit sich zwar mit gewissen Partikelchen 
ihres Wesens immer mehr unpersönlichen Organisationen unter- 
ordne, dagegen desto schärfer ein nicht zu verdinglichender Per- 
sönlichkeitskem sich von allen seinen absplitterbaren Bruchteilen 
unterscheide und unangreifbar erhalte. 

Neben solcher Neigung, im Rechte die Verkörperung eines 
Formalismus zu sehen, der aller Ursprünglichkeit der einzelnen 



24 BechtsphüoBophie. 

und der Kultur feiudlich ist^ hat sich stets die spekulative An* 
erkennung einer eigentümlichen positiven Wertbedeutung des 
Bechts aufrechterhalten und in der Gerechtigkeitsidee von jeher 
ihren allgemeinsten Ausdruck gefunden. Es wäre aber vergeh« 
lieh, eine einheitliche Definition der Gerechtigkeit versuchen zu 
wollen. Denn da dieser Terminus einfach die Absolutheit und 
Apriorität des Hechts als solche aussagen will, so sind in ihm 
all die Anforderungen zusammengedrängt, die nach den ver- 
schiedenen Weltanschauungen an das Becht gestellt werden. 

Eine engere Bedeutung hat der Gerechtigkeitsbegriff in den 
Lehren des Strafrechts angenommen. Die einst so einflußreiche 
Auffassung, daß in der Bestrafung des Verbrechers die Majestät 
des Gesetzes wiederhergestellt werde, geht auf Kant und Hegel 
zurück. Ersetzt können solche „absoluten Strafrechtstheorien^ 
niemals durch die „relativen" werden. Auch im Strafrecht 
brauchen die Fragen nach dem letzten Sinn und nach dem em- 
pirischen „Zweck'^ einer sozialen Institution einander nicht ins 
Gehege zu kommen. 

Wofern Gerechtigkeit wirklich eine eigentümliche und in 
sich wertvolle Idee ausdrücken soll, wird durch die Einführung 
dieses Begriffs die ausschließliche Persönlichkeitswertung zu- 
gunsten einer Idealisierung des Gemeinlebens im Prinzip bereits 
durchbrochen. Selbst jede Bechtsphilosophie des Kantianismus 
— auch die von Kant selbst — enthält darum die Ansätze zu 
einem Hinausstreben über den sozialphilosophischen Personalismus. 

Deutlich zeigt sich das bei dem Kantianer Cohen. Wie das 
Becht sachlich in der Ethik begründet ist, so soll nach ihm 
methodisch die Ethik an der Bechtswissenschaft orientiert werden. 
Bechts- und Staatswissenschaft liefern das „methodische Vorbild" 
für die ethischen Begriffe der reinen Werteinheit, der Ein- 
heit der Handlung und der Person, der „echten Einheit des 
Willens". Da nämlich bei der Juristischen Person" die Ver- 
mengang mit dem sinnlichen Substrat, das hier aus einer Mehr- 
heit von Individuen besteht, schwerer fällt, als bei der Einzel- 
persönlichkeit, so kann sie als Muster dienen für den Gedanken 
einer rein ideellen „Allheit", die sich als selbständig^ Einheit 
von ihrer diskreten, in sinnliche Einzelheiten zerfallenden Wirk- 
lichkeitsunterlage abhebt. Ganz im Sinne Hegels sollen die 
Partikularitäten der Bässen und Stände als Vertretungen der 
lediglich gesellschaftlichen „Mehrheit" oder Kollektivität und als 



Beehtsphiloflophie. 25 

in letzter Linie blofi naturhafte Elemente der „bezwingenden 
Einheit des Staats'^ unterworfen werden. Cohen geht sogar so 
weit, die ethischen Grundbegriffe „mit ausschließlicher Rttcksicht 
auf Becht und Staaf konstruieren zu wollen. Die ethischen 
Handlungen des Staates selbst vollziehen sich in den Gesetzen, 
die in ihrer Heiligkeit und ausnahmslosen Allgemeinheit als un- 
ersetzliche Leitbegriffe für das Selbstbewußtsein des reinen 
Willens zu gelten haben. Der Formalismus des Rechts wird bei 
Cohen gerade zum Symptom seiner absoluten Werthaftigkeit, 
seiner Reinheit, seines Apriorismus. Recht und Gerechtigkeit 
sind das eigentliche Reich der überempirischen Zwecke, sie ge- 
währen die Erlösung des Wollens von seiner Zwiespältigkeit und 
Unberechenbarkeit, von den Schranken des Eigensinns und der 
Selbstsucht. Recht und Staat sind Gebilde des Geistes, ethische 
Eultnrbegriffe, das Volk dagegen ist ein Produkt der Natur, 
und deshalb bewahrt selbst der Patriotismus trotz der Erhaben- 
heit des Eulturbegriffs Vaterland noch den naturalistischen Bei- 
geschmack der bloßen „Affekterweiterung". Hegels reinen Kultur- 
begriff des Volkes lehnt Cohen ab. Der formale Gerechtigkeits- 
gedanke triumphiert bei ihm über das konkretere Werten. — 

So gehen in der Gegenwart die Ansichten über die absolute 
Bedeutung des Rechts noch weit auseinander, und seine Ein- 
gliederung in ein System der Kulturwerte bleibt der Philosophie 
der Zukunft überlassen. Nur die Begriffsbestimmung der Rechts- 
philosophie als Werttypuslehre hat sich an den verschiedenen 
Richtungen dieser Disziplin gleichmäßig bewährt Es muß aber 
eigens darauf hingewiesen werden, daß der wenn auch noch so 
„konkret" gefaßte Hegeische Begriff der sozialen Welt in 
doppelter Hinsicht einen lediglich formalen Sinn hat. Zunächst 
muß beim „objektiven Geist" als bei einem Wertbegriff von 
aller „Konkretheit" des Empirischen abgesehen werden: das 
Wort „konkret", vom Werte gebraucht, enthält nur ein Gleichnis, 
deutet nur eine gewisse Wertfärbung symbolisch an, woraus 
gleichzeitig hervorgeht, daß auch aus dem konkreten Wert die 
empirische Besonderheit nicht rationalistisch konstruiert werden 
kann. Zweitens aber unterscheidet sich das Soziale auch von 
der Werteinmaligkeit, und zwar dadurch, daß es wegen 
seines werttypischen Charakters als ein Inbegriff idealer An- 
forderungen von allem denkbaren Gemeinschaftsleben, von jeder 
beliebigen sozialen Wirklichkeit zu gelten beansprucht. Das 



26 Rechtsphilosophie. 

Soziale ist somit formal gegenüber dem empirischen Wertsab- 
strat und formal gegenüber der Werteinmaligkeit. Es nimmt 
im Reiche der Werte eine eigentümliche Zwischenstellung ein. 
Konkret erscheint es als eine Welt neuer transpersonaler Werte 
im Verhältnis zur exklusiven Einförmigkeit des individualen 
Fersönlichkeitstypus und abstrakt oder formal als wiederholbare 
Wertallgemeinheit im Unterschiede zur einmaligen Werttotalität. 
Aus dieser mittleren Stellung folgt, was Windelband hervor- 
gehoben hat, daß die gesellschaftlichen Werte inhaltlich aus- 
sehen vom Standpunkt der Pflicht des einzelnen, dagegen formal 
gegenüber der jedesmaligen individuellen Gesamtbestimmung der 
Gesellschaft selbst. Das vorzüglichste historische Beispiel für 
ebendasselbe Verhältnis bietet die Platonische Sozialethik dar. 
Als ein Muster konkreter Staatsauffassung verharrt 'sie dennoch 
in den Schranken des Griechentums, ohne zum Prinzip der ein- 
maligen Wertreihe vorzudringen, das — zuerst von Schelling — als 
ein Spezifikum der christlichen Spekulation bezeichnet worden ist 
Mit der „Konkretheit" des sozialen Werttypus kehrt dieselbe 
Komplikation wieder, die bei der Verquickung der Werteinmalig- 
keit mit dem Historismus vorlag, und es wird nunmehr erklärlich, 
warum der Historismus, der ja nur von der Vermengung der 
empirischen mit der Wertkonkretheit lebt, gerade auf rechts- 
und sozialphilosophischem Gebiet so verführerisch geworden ist. 
Was der Historismus als unreflektierte Wertungsart im Sinne 
hat, das tritt explizite und in Dogmen gefaßt als Philosophie 
der Bestauration auf. Nach dieser bilden die empirisch er- 
wachsenen legitimen staatlichen Organisationsformen die un- 
verrückbare Schranke, an der alle Kritik und Messung mit ab- 
soluten Wertmaßstäben verstummen muß. Den schroffsten Gegen- 
tatz zu solcher Verabsolutierung der politischen Gegebenheit 
stellt die Lehre Hegels dar mit ihrem unerbittlichen Kampf 
gegen die Leerheit der bloßen Endlichkeit, gegen die Unver- 
nunft der einzelnen empirischen Diesheit, und darum sollten nie- 
mals die Worte in Vergessenheit geraten, in denen Kuno Fischer 
am Schluß seines Werkes über Hegel gezeigt hat, daß man 
während des gesamten neunzehnten Jahrhunderts den politischen 
Tendenzen der Bestauration nichts Tieferes entgegenzusetzen 
wußte, als die Hegeische Philosophie, die Entwicklung des Welt- 
geistes in seiner bew^ußten, logisch entfalteten Form. 



Rechtsphilosophie. 27 

Abschnitt IL 

Die Methodologie der BechtswissenschafL 

Im ersten Abschnitt ist von der rechtsphilosophischen Be- 
griffsbildung und vom Wertbegriff des Bechts selbst die Rede 
gewesen. Um die philosophische „Methode" durch Kontrastierung 
mit der empirischen zu beleuchten, mußten wir Philosophie nnd 
Empirie miteinander vergleichen nnd zu diesem Behufe beide 
auf einen gemeinsamen Nenner bringen, beide unter den Gesichts- 
punkt der Betrachtung, Lehre, Erkenntnis oder Wissenschaft 
subsumieren. Die Methodenlehre der Philosophie ist die Frage 
nach dem Wissenschafts wert der Philosophie. Die Lehre von 
der Form der philosophischen Wissenschaft wird dadurch ver- 
gleichbar mit der Lehre von den speziellen Formen der empiri- 
schen Wissenschaft, also mit der Methodologie im engeren Sinne. 

Die Methodologie der empirischen Kechtswissenschaft gehört, 
streng methodisch angesehen, nicht in die Philosophie des Bechts, 
sondern in die Philosophie der Wissenschaft. Handelt sie doch 
unmittelbar nicht von dem Werttypus Eecht, sondern von dem 
Werttypus Wissenschaft. Es braucht nicht ausgeführt zu werden, 
wie sehr dieser Ausschnitt aus der speziellen Wissenschaftslehre 
in sachlicher Hinsicht trotzdem in den Bahmen der „Bechts- 
Philosophie" hineinpaßt. Die Logik der Bechtswissenschaft ist 
gerade das gegenwärtig bei weitem am meisten kultivierte Gebiet 
der BechtsphUosophie, und die positive Jurisprudenz hat sehr 
wertvolle Beiträge hierzu geliefert 

So ordnet sich der gesamte Stoff der BechtsphUosophie dem 
einheitlichen Begriff der Philosophie als der kritischen Wertlehre 
unter. Er zerfällt in die Lehre vom Wissenschaftswert der 
Bechtsphilosophie (Abschnitt la), vom Wert des Bechtes selbst 
(Abschnitt Ib) und endlich vom Wissenschaftswert der Bechts- 
empirie (Abschnitt II). 

Die Bechtswissenschaft ist ein Zweig der empirischen 
„Kulturwissenschaften". Die über diese Wissenschaftsgruppe in 
neuerer Zeit angestellten Untersuchungen werden darum das 
allgemeinste Fundament fiir eine methodologische Kritik der 
Bechtswissenschaft bilden können. Bereits im ersten Abschnitt 
wurde an die Auffassung Bickerts angeknüpft, daß die kultur- 



28 Bechtsphilotophie. 

wissenschaftlich angesehene Welt durch eine rein theoretische 
Beziehung der unmittelbaren Wirklichkeit auf Kulturbedeutungen 
entsteht Um die orientierenden Verbindungslinien zwischen der 
Logik der Rechtswissenschaft und den kulturwissenschaftlichen 
Grundbegriffen allmählich herauszupräparieren, müssen wir zu- 
nächst zwischen einer historischen und einer systematischen 
Tendenz innerhalb der Kulturwissenschaften unterscheiden. Die 
systematisierenden Disziplinen lösen aus der Komplexität des 
Gegebenen tjrpische Kulturmomente heraus, um sie nicht, wie 
die Geschichte es tut, in den unvergleichbaren und unzerlegbaren 
Bedeutsamkeiten des Individuellen wieder verschwinden zu 
lassen, sondern um sie gerade in ihrer ausdrücklich isolierten 
formellen Stiiiktur zu Leitbegriffen der einzelnen Kulturdiszi- 
plinen zu erheben. Zur Verhütung von Mißverständnissen mag 
hinzugefügt werden, daß sich von diesen allgemeinbegrifflichen 
Wissenschaften das naturwissenschaftliche Abstraktions- 
und Systematisierungsprinzip durch gänzliches Absehen von 
Kulturbedeutungen hinlänglich unterscheidet. 

Die Einsicht in den schon öfter erwähnten Parallelismus 
methodologischer und reiner Wertprobleme, der analog wie 
zwischen Werteinmaligkeits- und historischer Methode so zwischen 
philosophischer und empirisch-kulturwissenschaftlicher Syste- 
matik stattfindet, kann uns wiederum vor einer Vermengung 
des empirischen Kulturbegriffs als eines einzelwissenschaftlichen 
Ausleseprinzips mit dem absoluten Wert- und Weltanschauungs- 
begriff der Kultur bewahren. Wie wir die Behauptung einer 
eigenartigen sozialen Wissenschaftsstruktur mit der Leugnung 
einer selbständigen sozialen Wertstruktur — z. B. bei Stammler 
— miteinander verträglich fanden, so läßt sich überhaupt eine 
rein methodologisch interessierte Sondenmg der kulturwissen- 
schaftlichen Gruppe ohne gleichzeitige Anerkennung absoluter 
Kulturwerte immerhin denken. Man wird somit die methodologisch- 
empiristische „Kulturbedeutung*^ und den absoluten „Kul- 
tur wert^ zum mindesten in formalmethodischer Hinsicht aus- 
einanderhalten müssen, mag auch letzterer sich zu sämtlichen 
empirischen Kulturwissenschaften in demselben Sinne als regu- 
latives Prinzip verhalten wie es früher bereits von der Wert- 
einmaligkeit im Verhältnis zur empirischen Geschichtsschreibung 
zugestanden wurde. 

Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten gilt die 



Bechtsphilosophie. 29 

Wirklichkeit als ein Erzeugnis kategorialer Synthesen. Die 
Methodologie fibei-trägt diesen Eopemikanischen Standpunkt auf 
die Schöpfungen der einzelwissenschaftlichen Auslesetätigkeit 
und sieht z. B. in den Atomen und Naturgesetzen Produkte der 
naturwissenschaftlichen, in den Ereignissen der Weltgeschichte, 
in den rechtlichen, staatlichen und wirtschaftlichen Phänomen 
Produkte der kulturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Dem un- 
geübten Blick wird es nicht leicht, den Eopemikanischen Grund- 
gedanken überall streng festzuhalten. Der Einwand liegt so 
nahe, daß den großen historischen Ereignissen ihre weltgeschicht- 
liche RoUe doch nicht erst durch den Geschichtsschreiber zu- 
diktiert wird, daß die verschiedenen typischen Kulturbedeutungen 
wie Wirtschaft, Becht, Sprache usw. nicht erst von der Wissen- 
schaft gegeneinander abgegrenzt werden. Auch der Methodolog 
wird in der Tat nicht umhin können, in der von ihm bereits 
vorgefundenen primitiven Disziplinierung des Stoffes gleichsam 
Vorarbeiten der wissenschaftlichen Tätigkeit anzuerkennen. 
Allein wieweit auch diese „vorwissenschaftliche Begriffsbildung^, 
wie Bickert sie nennt, im einzelnen Fall bereits gediehen sein 
mag, stets muß ihr die eigentliche begriffliche Schärfe und 
wissenschaftliche Strenge fehlen. Auf jeden Fall wird darum 
der Wissenschaft immer noch die Aufgabe zufallen, unbestimmte 
Versuche zu präzisen, begrifflich fixierten Ergebnissen weiter- 
zubilden, z. B. die verschiedenen Eulturtypen exakt voneinander 
zu sondern und sie sodann in den einzelnen Disziplinen zu 
feineren systematischen Verästelungen fortzugestalten. Der 
Eopemikanische Beruf der Wissenschaft kann also zwar einge- 
schränkt und verhüllt, aber niemals dadurch ganz in Frage ge- 
stellt werden, daß die Heraushebung einer spezifisch kultur- 
wissenschaftlichen Welt zum Teil bereits in das vorwissenschaft- 
liche Denken fällt. 

Die Tatsache der vorwissenschaftlichen Bearbeitung ver- 
bietet es, als das Material der Eulturwissenschaften ohne 
weiteres die unmittelbar gegebene Wirklichkeit zu betrachten. 
Zwischen diese und das von der Wissenschaft erstrebte Endziel 
schiebt sich vielmehr in den meisten Fällen, einem Halbfabrikate 
vergleichbar, eine schon auf Eulturbedeutungen bezogene Welt, 
und diese komplexe Eulturrealität, nicht die ursprüngliche, von 
jeder Art der Wertbeziehung freie Wirklichkeit wird zum Material 
der eigentlichen Eultur Wissenschaften. Nun verschwimmen 



30 Eechtsphilosopliie. 

aber die Grenzen zwischen yorwissenschaftlicher und wissenschaft- 
licher Bearbeitung, und außerdem wird sehr häufig die vom vor- 
wissenschaftlichen Bewußtsein abgebrochene Tätigkeit von der- 
Wissenschaft zwar rektifiziert und vervollkommnet, aber trotz- 
dem in der gleichen Bichtung wieder aufgenommen. Aus diesem 
Grunde lassen sich die Gesichtspunkte methodologischer Kritik 
von der wissenschaftlichen auf die vorwissenschaftliche Funktion 
übertragen, und darum können vom einseitig methodologischen 
Standpunkt aus nicht nur die Kulturwissenschaften, sondern 
auch die einzelnen Kulturgebiete selbst als geronnene theoretische 
Vernunft, eben als Verkörperungen von — allerdings vorwissen- 
schaftlichen — „BegriflFsbildungen" angesehen werden. Das fahrt 
zu dem merkwürdigen und scheinbar widerspruchsvollen Resul- 
tate, daß die Methodologie unter Umständen etwas anderes zu 
ihrem Untersuchungsobjekt hat als Wissen Schaftsformen, 
daß sie sich nicht nur auf die Kulturwissenschaften, sondern 
zuweilen direkt auf die „Kulturwirklichkeit", nicht nur auf die 
Sozialwissenschaften, sondern auf das Soziale selbst und ent- 
sprechend auf das Recht usw. zu richten vermag. Nichtsdesto- 
weniger steht natürlich auch die auf die Kulturmächte selbst 
gerichtete methodologische Untersuchung unverwechselbar den 
das gleiche Objekt behandelnden Einzelwissenschaften gegenüber, 
da sie sich von diesen durch ihre andersartige Absicht deutlich 
unterscheidet und alle von ihr aufgeworfenen Fragen auf Be- 
griffsbildungsprobleme zuspitzt. Es wird sich später her- 
ausstellen, daß insbesondere zwischen der Methodologie der vor- 
wissenschaftlichen und der der wissenschaftlichen Rechtsbegriffe 
keine grundsätzliche Trennung vorgenommen werden darf. 

Über die Gliederung der systematischen Kulturwissenschaften 
soll an dieser Stelle nur die allgemeine Andeutung Platz finden, 
daß die verschiedenen Kulturtypen, die als Leitbegriffe die ein- 
zelnen Disziplinen konstituieren, nicht nur in dem Verhältnis 
der Nebenordnung, sondern auch in dem der Über- und Unter- 
ordnung stehen können. So dürfte z. B. in sämtlichen Kultur- 
typen das Moment des Sozialen stecken, das in seiner völligen 
Isoliertheit und unvermischten Reinheit erst einer letzten ab- 
straktesten Analyse erfaßbar wäre, einer „Soziologie", wie Simmel 
sie postuliert, die die Endergebnisse der übrigen Disziplinen zu 
ihrem Ausgangspunkt hätte und sich zu ihnen wie ihr „allge- 
meiner Teil" verhielte. 



BechtsphiloBophie. 31 

Durch den Gedanken der formalistischen Kulturdisziplin 
wird die methodologische Struktur aller Arten von Rechtswissen- 
schaft schon in unbestimmten Umrissen erkennbar. Die Heraus- 
lösung von homogenen Teilausschnitten aus dem komplexen 
Eulturmaterial, in dem sie in konkrete Zusammenhänge einge- 
bettet sind, zeigt uns das allgemeinste Schema der Wissenscliafts- 
klasse, der unter anderem die Bechtswissenschaft angehört. Auch 
die Isolierung des Eechtsgebietes und überdies seine Hyposta- 
sierung zu einer realiter abgesonderten Lebensmacht wird bereits 
vom vorwissenschaftlichen Bewußtsein geleistet. Und auch hier 
ist es die Aufgabe der Wissenschaft, dem vorwissenschaftlichen 
Ausleseprozeß ei*st die begriffliche Schärfe zu verleihen, ist es 
die Aufgabe der Methodologie, der Hypostasierung gegenüber 
den Kopemikanischen Gesichtspunkt hervorzukehren, die Abgren- 
zung eines spezifischen Bechtsgebietes als — z. T. vorwissen- 
schaftliche, z. T. wissenschaftliche — Verwandlung der erkenntnis- 
theoretischen „Wirklichkeit^^ in eine abstrakte, auf bestimmt- 
geartete Eulturbedeutungen bezogene Welt zu begreifen. 

Man kann nun in der Methodologie der Bechtswissenschaft 
keinen Schritt vorwärts tun, ohne zunächst den methodischen 
Dualismus zu berücksichtigen, dem alle Bechtserforschung unter- 
worfen ist und den man mit Fug das ABC der juristischen 
Methodologie nennen könnte. In der Gegenwart hat vor allem 
Jellinek, dem sich bereits Eistiakowski, Hold v. Femeck u. a. 
angeschlossen haben, auf eine Scheidung zwischen Jurisprudenz 
und Sozialtheorie des Bechts gedrungen, während sich von dieser 
fruchtbai-en Gegenüberstellung bei früheren Schriftstellern, z. B. 
bei Enapp, Ihering und dem russischen Juristen Fachmann, nur 
geringe Ansätze finden. Eistiakowski hat die Bekämpfung des 
methodologischen Synkretismus durch logische Begriffs- und Ur»- 
teilstheorien zu stützen und die sozialwissenschaftlichen Begriffe 
als den Niederschlag verschiedener Erkenntniszwecke zu wür- 
digen gewußt 

Der rechtswissenschaftliche Methodendualismus beruht darauf, 
daß das Becht entweder als realer Eulturfaktor, als sozialer Lebens- 
vorgang angesehen oder alsEomplex von Bedeutungen, genauer 
von Normbedeutungen auf seinen „dogmatischen Gehalt" hin ge- 
prüft werden kann. Schon die Sozialtheorie des Bechts isoliert 
freilich wie alle formalistischen Eulturwissenschaften ein Ab- 
straktum aus der konkreten sozialen Totalität, das in solcher 



32 Bechtsphiloflophie. 

Lo6gel5stheit von der außerrechtlichen UmgebuDg realiter nicht 
existiert. Allein ungeachtet dieser klar erkannten Abstraktheit 
projizieren wir das sozial wissenschaftlich gedachte Hecht wie 
alle „realen'^ Eultnrerscheinungen dennoch gleichsam in die 
Fläche der Wirklichkeit, und es braucht sich, so argumentieren 
wir, bloß mit bestimmten anderen Partialrealitäten zu verbinden, 
um sofort als volle lebendige Wirklichkeit zu erscheinen. Ganz 
in derselben Weise durchschauen wir ja, sobald wir einmal 
methodologisch darüber nachdenken, auch den Abstand, der so- 
gar noch die komplexe und angeblich konkrete Eulturwirklichkeit 
von dem Eonkretissimum der erkenntnistheoi*etischen Wirklich- 
keit trennt Dessenungeachtet hören wir nicht auf, diese me- 
thodisch herauspräparierte Eulturwelt, trotz ihrer Einbuße an 
Inhaltlichkeit und trotz ihrer gleichsam entstellenden Bezogen- 
heit auf Eulturbedeutungen, als Wirklichkeit anzusehen, was 
hinsichtlich der konkreten historischen Eealitäten wohl jeder 
unbedenklich zugeben dürfte. 

Aber auch die Objekte der einzelnen formalistischen Enltur- 
disziplinen, bei denen die kfinstliche Entfremdung von dem im 
erkenntnistheoretischen Sinne ursprünglichen Wirklichkeitssub- 
strat noch unendlich viel weiter fortgeschritten ist, scheuen wir 
uns nicht als Realitäten anzusprechen. Wir bilden den 
eigentümlichen Begriff der Eulturrealität und zwar in diesem 
Falle der abstrakten Partialrealität, die wir den konkreten 
Eulturrealitäten der Geschichte gegenüberstellen. An diesem 
Punkte steht nun die Logik der formalistischen Eulturdisziplinen 
vor einer ihrer schwierigsten Aufgaben. Sie wird sich nämlich 
durchgehends die Frage vorzulegen haben, inwieweit die kultur- 
wisseDschaftliche Bearbeitung bloß bis zu den auf Eulturbedeu- 
tungen bezogenen „Bealitäten^ vordringt und inwieweit sie 
das Reich reiner losgelöster Bedeutungen selbst zu ihrem End- 
ziel macht Die, wie Lotze glaubt, schon von- Plato erkannte 
Gegensätzlichkeit von Realität und Bedeutung muß hier 
in einem ganz eingeschränkten empiristischen Sinne fttr die 
Methodologie fruchtbar gemacht werden. 

Auf einem Gebiete ist dies bereits mit dem größten Erfolg 
durchgesetzt worden, nämlich für die Rechtswissenschaft durch 
die Trennung von Sozialtheorie und Jurisprudenz. Das Recht 
im sozialen Sinne gilt als „realer^ Eulturfaktor, das Recht im 
juristischen Sinne als Inbegriff von nur gedachten Bedeutungen. 



BechtsphiloBophie. 33 

Die Abstraktheit der juristischen Welt muß deshalb in einem 
komplizierteren Sinne behauptet werden als die der sozialtheo- 
retisch erforschbaren Objekte. Der Sozialtheoretiker oder auch 
der Eechtshistoriker nimmt eine „reale'' Abgrenzung des Bechts 
gegen Sitte, Gewohnheit und andere LebensäuSerungen eines 
Volkes vor. Gar keinen Sinn hat es dagegen, von einer Norm, 
die bloß gilt, zu meinen, sie kOnne sich mit anderen isolier- 
baren Seiten des Kulturlebens zu einer selbständigen Bealität 
ergänzen. Für den Juristen ist darum begrifflich die 
soziologische oder rechtsgeschichtliche Gi'enzregulierung eine 
bloße Voraussetzung und Vorarbeit — mag sie auch aus wissen- 
schaftstechnischen Gründen von ihm selbst mit besorgt werden. 
Denn ihm kommt es lediglich darauf an, den gedankenmäßigen 
Inhalt der Normen, die auf Grund sozialtheoretischen Urteils 
als „Recht'* erkannt sind, in einen systematischen Zusammen- 
hang zu bringen. Die These vom juristischen „Rechts- 
formalismus'' kann sich somit nur auf eine ideelle Vergleichung 
juristischer Bedeutungen mit dem vom Recht ergriffenen vor- 
juristischen „Substrat" beziehen, das stets in den konkreten und 
abstrakten Eulturre alitäten sowie in den Realitäten des ge- 
wöhnlichen „Lebens" liegen muß. Die juristische Isolierungs- 
nnd Systematisierungstendenz ist darum von der typisierenden 
Methode der meisten übrigen Sozialwissenschaften noch unter- 
schieden und kann erst im folgenden genauer charakterisiert 
werden. 

Zu den bekanntesten sozialwissenschaftlichen Rechtstheorien 
gehört die Marxistische Lehre. Neuerdings hat der Marxist 
Kamer die Einordnung des Rechts in den Eausalnexus aller 
nichtrechtlichen Phänomene, die Erforschung seiner „sozialen 
Wirksamkeit" für das einzige der Wissenschaft würdige Thema 
«rklärt gegenüber jeder bloß dogmatisch- technischen Bewältigung 
des juristischen Stoffes. In der zweiten Hälfte des neunzehnten 
Jahrhunderts entstand eine allgemeine, auch von Nationalöko- 
nomen unterstützte Auflehnung gegen die Alleinherrschaft einer, 
wie man glaubte, um die realen Lebensverhältnisse unbekümmerten 
^Dogmatik", eine lebhafte Bewegung in der Eechtswissenschaft, 
die sich in der allmählichen Entwicklung der Schriften Ihering's 
deutlich widerspiegelt. Die Methodologie der soziologischen 
Bechtstheorien geht jedoch so sehr in der allgemeinen Logik 
der sozialwissenschaftlichen Eulturdisziplinen auf, daß sie in 

Windelband, Die Philosophie im Beginn des W. Jahrh. II. Bd. 3 



34 Bechtsphilosophie. 

unserer auf die Methodologie der Jurisprudenz sich beschränken- 
den Darstellung nicht weiter berücksichtigt werden kann. 

In der Entgegensetzung von Realitäts- und Bedeutungs- 
forschung zeigt sich der Parallelismus philosophischer und em- 
piristischer Wissenschaftstendenzen in seiner verwirrendsten Ge- 
stalt. Nur allzunahe liegt der Gedanke an den letzten spekula- 
tiven Gegensatz von Sollen und Sein, Normen und Naturgesetzen, 
normativer und genetischer Betrachtungsweise, und häufig — 
z. B. von Jellinek, Kistiakowski, Kohlrausch, Eltzbacher — ist 
dieser allgemeinste Methodendualismus zur Charakterisierung 
der Jurisprudenz verwertet worden. Allein es gäbe keine ver- 
derblichere Verwischung methodologischer Grenzlinien, als wenn 
über all den unbezweifelbaren Analogien und Parallelitäten 
andrerseits die Vieldeutigkeit des Normbegriffes, die Kluft 
zwischen seinem philosophischen und seinem empirischen Sinn, 
übersehen würde und dadurch die Jurisprudenz als „Normwissen- 
schaft" etwa unvermerkt in einen Gegensatz zu den rein em- 
pirischen Disziplinen geriete. Gewiß hat die Jurisprudenz ebenso 
wie die Philosophie nicht ein Existierendes, sondern ein bloß 
Bedeutendes, nicht ein Seiendes, sondern ein Seinsollendes, ein 
Befolgung Heischendes zum Objekt. Aber während dieser Sollens- 
charakter in der Philosophie einer absoluten Werthaftigkeit ent- 
stammt, für die es keine empirische Autorität gibt, hat er in 
der Jurisprudenz seinen formellen Grund in positiver Anordnung 
durch Gemeinschaftswillen. Das von Stammler und Eltzbacher 
gerade in diesem Zusammenhange mit Recht hervorgehobene 
Moment der empirischen Gegebenheit, des tatsächlichen Bestehens^ 
ist nicht etwa, wie es bei Jellinek und Kistiakowski zuweilen 
den Anschein hat, bloß für die soziale Seinslehre, sondern grade 
auch für die juristische SoUenslehre vom Recht relevant. Höch- 
stens die formelle Naturrechtstheorie, die das juristische Sollen 
unmittelbar aus dem absoluten Werte folgert, hätte Grund, die 
Jurisprudenz mit den „Normwissenschaften" der Logik und der 
Ethik in eine Linie zu stellen. Für uns dagegen kann die 
juristische Wissenschaft nur die ganz unvergleichbare Methode 
eines rein empiristischen Operierens mit einer gedachten Welt 
von Bedeutungen darstellen. 

Der genaueren Betrachtung der juristischen Methode muß 
die Bemerkung vorausgeschickt werden, daß die Existenz einer 
vorwissenschaftlichen Begriffsbildung nirgends eine so große 



Rechtsphilosophie. 35 

Eolle spielt wie auf juristischem Gebiet. Es gibt — wenn man 
von der Wissenschaft selbst absieht — keine Kulturerscheinung, 
die sich als begriflfsbildender Faktor auch nur annähernd mit 
dem Eecht vergleichen ließe. Das Recht selbst nimmt bereits 
eine weitgehende Auseinandersetzung zwischen sich und der 
außerrechtlichen Wirklichkeit vor und bildet Begriffe von so 
hoher technischer Vollendung, daß sie sich oft nur dem Grade 
nach von denen der Wissenschaft unterscheiden und der wissen- 
schaftlichen Bearbeitung zuweilpn nichts anderes als die bloße 
Fortsetzung des vom Gesetz begonnenen Formungsprozesses übrig 
lassen. Sind doch auch umgekehrt zu allen Zeiten Ergeb- 
nisse der Wissenschaft zu kodifiziertem Recht geworden. Alle 
bisherigen Versuche einer juristischen Methodenlehre von Ihering 
bis zur Gegenwart haben diesen im Recht selbst steckenden 
begriffsbildenden Geist anerkannt und deshalb häufig zwischen 
einer Logik des Rechts und einer Logik der Rechtswissenschaft 
nicht einmal terminologisch einen Unterschied* gemacht. — 

Die juristische Methodologie im weiteren Sinne, als Kritik 
sowohl der rechtlichen als der rechtswissenschaftlichen Begriffs- 
bildung, hat zwei Hauptthemata: sie untersucht in erster Linie 
die eigentümliche und einheitliche Stellungnahme des Rechts und 
der Jurisprudenz zum vorjuristischen Lebens- und Kultursubstrat, 
also die Umprägung des vorrechtlichen Materials in Rechts- 
begriffe, in zweiter Linie den systematischen Zusammenhang der 
juristischen Begriffe untereinander oder die Systemform der 
Jurisprudenz. 

Die neueren Ansätze zu einer Logik der Rechtswissenschaft 
haben hauptsächlich den Erfolg gehabt, das von der Jurisprudenz 
stets angewandte teleologische Prinzip auch in der metho- 
dologischen Besinnung ausdrücklich zum Bewußtsein zu bringen. 
Insbesondere hat Jellinek Sigwarts Ausführungen über teleo- 
logische Einheitsprinzipien für eine „Kritik der juristischen 
Urteilskraft" zu verwenden gesucht. Schon das Substrat des 
Rechts filUt ja fast niemals mit der ursprünglichen psychophy- 
sischen Gegebenheit zusammen. Dem Bereiche des praktischen 
Lebens, der sozialen und wirtschaftlichen, sowie der höheren 
genossenschaftlichen Gebilde angehörend, ist es vielmehr durch- 
weg schon von teleologischen Momenten durchsetzt. Mit Be- 
nützung Iheringscher Gedanken hat Rickert den Zweck des 
Rechts als Prinzip der im juristischen Sinne „wesentlichen" 

3* 



36 • BechtsphOoiopliie. 

Begriffsmerkmale bezeichnet, und 0. Sümelin sowie Zitelmann 
haben daraaf hingewiesen, daß hier wie stets der Wissenschaft 
die Aufgabe erwächst, die unbestimmte Allgemeinheit des vor- 
wissenschaftlichen Denkens zu überwinden. Die Methodologie 
wird in Zukunft noch genauer zu ergründen haben, wie der 
Jurisprudenz, der doch begriffliche Exaktheit nachgerühmt wird, 
dieser Präzisierungsprozeß gerade in den Schranken der wert- 
und zweckbeziehenden Methode gelingt So viel aber ist von 
den meisten Juristen und Rechtsphilosophen seit Savigny, Puchta 
und Stahl erkannt worden, daß man einen Unterschied machen 
müsse zwischen den vom Recht unverändert beibehaltenen, den 
modifizierten und endlich den neu geschaffenen Begriffen und 
daß alles, was in den Bereich des Rechts gerät, seinen natura- 
listischen, von Wertbeziehungen freien Charakter einbüßt Sogar 
die physischen Objekte fallen nicht in der Totalität ihrer Quali- 
täten, sondern — was Oierke gelegentlich der Vergleichung 
römischer und germanischer Rechtsbegriffe besonders stark betont 
hat — nur mit dem Inbegriff ihrer zur Willensherrschaft ge- 
eigneten Seiten unter das Recht Die „Sache" ist mit dem 
Körper ebensowenig identisch wie die „Person" mit dem Menschen. 
In derselben Weise wird — was hier nicht genauer dargestellt 
werden kann — die Gesamtheit der dem Recht zugänglichen 
Gegenstände gleichsam mit einem teleologischen Gespinnst über- 
zogen. Das methodologisch Bedeutsame hieran ist, daß die 
juristisch geformte Welt ganz andersartige, für die erkennt- 
nistheoretische und naturalistische Betrachtung, oft auch 
für die Auffassung des Lebens unerhörte Gliederungsmöglich- 
keiten, neue Synthesen, neue Einheits- und Individualisierungs- 
prinzipien kennt Was naturalistisch ein Kontinunm ist, kann 
juristisch ein Diskretum, was naturalistisch eine nur kollektive 
Vielheit ist, juristisch eine von bloßer Summierung verschiedene 
Einheit sein. Die unentbehrlichste Vorbedingung für das Ver- 
ständnis der juristischen Einheitspiinzipien ist die bis vor kurzem 
noch ganz vernachlässigte Durchforschung der sozialwissenschaft- 
lichen Ding- und EoUektivbegriffe, die erst in letzter Zeit durch 
aufschlußreiche Untersuchungen Kistiakowskis in ein neues 
Stadium gekommen ist. 

Zwei einander durchdringende Momente konstituieren das 
spezifisch juristische Verhalten gegenüber der Wirklichkeit: Die 
von Zweckbeziehungen geleitete Umsetzung des realen Substrats 



Rechtsphflosophie. 37 

in eine Gedankenwelt reiner Bedeutungen und die damit ver- 
bundene Herausfaserung bloßer Teilinhalte aus der Totalität des 
Erlebbaren. Glänzend hat bereits Ihering diese zersetzende 
Funktion von Becht und Rechtswissenschaft geschildert Sein 
„Geist des römischen Bechts'', ein Werk, dem der Ruhm einer 
ersten umfassenden Untersuchung aber den Rechtsformalismus 
gebührt, darf als eine Vermittlung zwischen manchen Bestand- 
teilen der rechtsphilosophischen Spekulation Hegels und der po* 
sitiven Wissenschaft des neunzehnten Jahrhunderts betrachtet 
werden. Schon die von Kant und Hegel besonders ffir das 
Privatrecht vertretene Reduzierung aller Rechtsbeziehungen auf 
Willensverhältuisse war ein erster, wenn auch fiber das Ziel 
hinausgehender Versuch, die Eigenart des juristischen Ab- 
strahierens und Isolierens begrifflich zu bestimmen. Des all- 
gemein angenommenen, von Lassalle weiter ausgebauten Dogmas 
von der Entdeckung der abstrakten Persönlichkeit durch das 
Römertum wurde bereits im ei'sten Abschnitt gedacht. Aber 
auch im übrigen findet sich bei Hegel allenthalben die Erkenntnis 
des Formalismus und der „Praktikabilität" (Ihering), der tech- 
nischen Geeignetheit des Rechts, leicht und gleichmäßig realisiert 
zu werden. Genau wie Hegel hat Ihering die universalhistorische 
Stellung Roms gezeichnet, den Konflikt zwischen dem Nationa- 
litäts- und dem abstrakten Staats- und Rechtsprinzip, durch das 
die Völker der damaligen Zeit „zermalmt und zerrieben" wurden. 
Von Ihering stammt die eingehendste, die vorzüglichen gedrängten 
Bemerkungen Puchtas ergänzende Darstellung der Generali- 
sierungs- und Gleichmachungstendenz des Rechts und seiner 
Zerstückelung des unmittelbaren Totaleindrucks, mit der seine 
Bestimmtheit und Gleichmäßigkeit sowie seine Erhebung über 
den bloßen Gefdhlsstandpunkt zusammenhängt. 

Unsere bisherige Darstellung könnte vielleicht den Anschein 
erwecken, als wenn das Recht nur in seiner fertigen, zusammen- 
gedrängten, in Kodifikationen formulierbaren Gestalt, als Komplex 
von Normen oder als „Recht im objektiven Sinne" für die Me- 
thodologie in Betracht käme. Recht und vorrechtliche Wirklich- 
keit schienen sich als einander niemals berührende und nur nach 
den logischen Beziehungen ihrer Inhaltlichkeit in abstracto mit- 
einander vergleichbare Reiche gegenüber zu stehen. Darauf ist 
nämUch bisher noch gar nicht Bezug genommen worden, daß 
das Recht als „Recht im subjektiven Sinne" und zwar in der 



38 Bechtsphilosophie. 

Form der „einzelnen, konkreten" Rechtsverhältnisse und sonstigen 
subjektiven Rechtsbeziehungen gleichsam in die Mannigfaltigkeit 
und Vereinzelung des realen Lebens hineingerissen wird. Auch 
in diese Seite des Verhältnisses zwischen Recht und Wirklich- 
keit muß die methodologische Kritik hineinleuchten, und so 
entsteht das neue Problem der Verschlingung von recht- 
licher Bedeutung und realem Substrat im Einzelfall. Auch 
das Recht in seinem individualisierten und konkretisierten, in 
die Zeitlichkeit hineingezogenen Zustande gilt es als ein Reich 
reiner Bedeutungen zu begreifen, es von den realen Trägern, 
in denen es sich festzusetzen pflegt, abzulösen. Bei diesem Ver- 
such macht sich eine allgemeine, in ihrer exakten Struktur noch 
wenig erforschte und nur dem zersetzenden Geiste des Methodo- 
logen erfaßbare Erscheinung geltend: das Verwacbsensein ab- 
strakter Inhalte mit konkreten Trägern, das den Schein realen 
Fürsichbestehens jener uns vortäuscht und ihre Hypostasierung 
im naiven Bewußtsein denn auch stets veranlaßt. Eine solche 
Vorspiegelung selbständiger Existenz wiederholt sich in allen 
Sphären der Erkenntnis: bei der „konkreten" Kulturrealität 
gegenüber der Wirklichkeit im erkenntnistheoretischen 
Sinne, bei den abstrakten Parti alreali täten gegenüber der 
komplexen Kulturrealität und endlich bei den — z. B. recht- 
lichen — Bedeutungen gegenüber den ihnen als Substrat 
dienenden psychophysischen oder Kultur- und Lebens realitäten. 
Marx hat damit Zusammenhängendes in seinen Ausführungen 
über den Fetischcharakter der Ware berührt, und Simmel hat 
ausfuhrlich von den „realen Abstraktionen", von der gleichsam 
symbolischen Vergegenständlichung abstrakter Sozialfunktionen 
in objektiven Einrichtungen gehandelt. Auf naturwissenschaft- 
lichem Gebiet stellen z. B. die astronomischen Objekte analoge 
Kristallisationen bloß quantitativer Beziehungen an konkreten 
Gebilden dar, und ähnlich verhalten sich die zeichnerischen 
Darstellungen geometrischer Figuren zu den in ihnen ausge- 
drückten rein mathematischen Verhältnissen. Gerade das letzte 
Beispiel mag zur Veranschaulichung unseres juristischen Problems 
dienen. Wie man bei der realen sinnenfälligen Individualität 
z. B. eines Kreises erst von den empirischen Hilfsmitteln der 
Zeichnung wie Papier, Tinte, Wandtafel, Kreide usw. absehen 
muß, um zur mathematischen Individualität dieser Figur 
zu gelangen, so muß man von dem realen Gesamtbestande 



Bechtsphilosophie. 39 

z. B. eines einzelnen Kaufes erst die Einzelheiten des physischen 
Ereignisses, die psychischen Begleiterscheinungen, die Besonder- 
heit der historischen Situation usw. abziehen, um zur juristi- 
schen Individualität dieses Bechtsgeschäftes vorzudringen. 
Vortrefflich hat Brodmann den komplexen Charakter der „ju- 
ristischen Tatsachen" und „Tatbestände", das beständige In- 
einandergreifen von lebendiger Wirklichkeit und rechtlicher Be- 
deutung gekennzeichnet, das bei den nur scheinbar konkreten 
Bechtsakten, Rechtsausübungen, Rechtsfolgen, Rechtsverletzungen 
usw. stets vorliegt. Auch Schloßmann, Thon, Zitelmann u. a. 
sind auf diese merkwürdige Verqnickung und geradezu an die 
Metaphysik des Okkasionalismus erinnernde Wechselwirkung 
zwischen der Welt des Seienden und des Geltenden aufinerksam 
geworden und haben versucht, die Denkformen des Entstehens, 
Vergehens, Einander-Bedingens, kurz des Zusammenhanges in 
der „Rechtswelt" zu begreifen. Zitelmann erklärt sich für eine 
kausale Verknüpftheit der rechtlichen Erscheinungen, aber, wie 
er selbst hinzufügt, für eine nur nach der Analogie der „natür- 
lichen" geschaffene „eigene juristische" Kausalität, die sich mit 
„keiner der sonstigen Gestaltungen des Satzes vom Grunde" 
deckt. Schuppe dagegen will die Kategorien der Dingheit und 
der Kausalität unterschiedslos auf die psychophysische und die 
Rechtswelt angewandt wissen, da es nach seiner Logik nur auf 
die Möglichkeit einer wie auch immer gearteten einheitlichen 
Zusammenfassung von Bewußtseinsinhalten ankommt. Auch 
auf dem Gebiete des Strafrechts beginnt jetzt eine metho- 
dologische Revision des Tatbestandbegriffs, Kohlrausch und 
Hold V. Femeck polemisieren gegen die Vermengung des tat- 
sächlichen Vorgangs als „realen Substrats" mit seiner Juristi- 
schen Seite", die, wie Hold v. Femeck treffend hervorhebt, 
„trotz ihrer Konkretisierung", niemals ihren abstrakten Charakter 
verliert. 

Der Hinweis auf diese unmittelbar die Rechtsprechung und 
mittelbar die Rechtswissenschaft angehende Verflechtung der 
konkretisierten Rechtswelt mit der lebendigen Wirklichkeit 
sollte vor allem dem Mißverständnisse vorbeugen, als ob die 
schroffe Gegenüberstellung der Welten des Seins und des Geltens 
einseitig auf das Recht im objektiven Sinne und auf eine Iden- 
tifikation von Recht und I^ormbedeutung zugeschnitten sei 
oder überhaupt von irgend einer der „allgemeinen Rechtslehre" 



40 BeehtsphiloBophie. 

angehörenden Theorie über das Verhältnis zwischen objektivem 
nnd subjektivem Recht abhänge. 

Die teleologische Färbung sämtlicher Rechtsbegriffe läßt 
sich am besten an den Veränderungen und — vom bloß natura- 
listisch-psychologischen Standpunkt aus — unberechtigten Intro- 
jektionen studieren, die die Rechtsordnung an den psychischen 
Realitäten vorzunehmen genötigt ist. Das psychische Sein ist 
für die juristische Betrachtung in genau demselben Sinn ein 
bloßes in die praktische Welt des Handelns erst hineinzuver- 
arbeitendes Material wie die Eörperwelt. Gerade die Juris- 
prudenz ist deshalb vorzüglich zu dem Nachweis geeignet^ daß 
die irreführenderweise „Geisteswissenschaften^ genannten Dis- 
ziplinen keineswegs in einer Analyse psychischer Phänomen be- 
stehen. Jellinek hat darauf hingewiesen, daß eine Untersuchung 
über die Verwendung, welche die Rechtsordnung von den 
Willensakten der Individuen machen kann, zur Feststellung 
der juristischen Grundbegrifie unentbehrlich sei. Es gibt in der 
Tat kaum ein juristisches Einzelproblem, dessen methodologische 
Beurteilung bisher nicht daran laboriert hat, daß man den Unter- 
schied zwischen dem rein psychologischen und dem sehr ver- 
änderlichen juristischen Willensbegriff zu wenig beachtete. 

Hier wird die Methodologie der Zukunft ein weites Feld für 
ihre Tätigkeit vorfinden. Noch fehlt jeder Versuch, die juristi- 
sche Verarbeitung psychologischer Begriffe in ihre wahrhaft 
psychologisch-naturalistischen und in ihre teleologischen Elemente 
zu zerlegen. Freilich war ein solches Unternehmen von der 
Jurisprudenz um so weniger zu erwarten, als bisher die Logik 
der Psychologie ebensowenig wie diese selbst zu allgemein an- 
erkannten Ergebnissen gekommen ist. Vielleicht können durch 
eine Auseinandersetzung zwischen psychologischen und teleologi- 
schen Bestandteilen beide Wissenschafben an methodologischer 
Selbsterkenntnis gewinnen, da in der Jurisprudenz das mit den 
psychischen Begriffen verschmolzene praktische Moment, von dem 
die naturalistische Psychologie gerade abzusehen hat, die höchste 
ihm überhaupt beschiedene Stufe begriiflicher Präzision erreicht. 

Nur angedeutet mag noch werden, daß auch der Streit 
zwischen „Willens-" und „Zweckdogma" erst durch eine ein- 
gehende Berücksichtigung der hier gleichfalls hineinspielenden 
teleologischen Begriffsbildung entschieden werden kann. Diese 
durch Ihering berühmt gewordene Kontroverse ist dadurch noch 



Bechtspliiloflophie. 41 

Übermäßig verwirrt worden^ daß bisher trotz aller Anläufe dazu 
niemals eine klare Antwort darauf gegeben wurde, ob der Zweck, 
wie Laband mit größter Schärfe betont^ Jenseits^ der dogmati- 
schen Sechtsbegriffo liegt und deshalb nur in den Bereich der 
Sozialtheorie fällt oder ob es sich hier um ein Hineinragen 
metajuristisch-sozialer Faktoren in die juristische BegrifFs- 
bildung handelt 

Erfreuliche Anzeichen dafür, daß die Einsicht in die Unzu- 
länglichkeit des methodologischen Psychologismus sich allmählich 
auszubreiten beginnt, sind in jüngster Zeit auf dem Gebiet des 
Strafrechts hervorgetreten. Liepmann hat die Ansicht ausge- 
sprochen, daß die Lösung des strafrechtlichen Eausalitätsproblems 
von der Erkenntnis spezifisch juristischer Ausleseprinzipien ab- 
hängig ist, und Eohlrausch hat das von Jellinek postulierte 
Prinzip der teleologischen Begriffsbildung besonders für den Be- 
griff des Erfolges (als eines „Ausschnitts aus der Beihe der 
sinnenfälligen Folgen unter einem juristisch relevanten Gesichts- 
punkt^) fruchtbar zu machen gesucht. Hier ist überall bereits 
die richtige Auffassung angebahnt, daß die rechtlich bedeutsame 
„ Adäquatheit^ einer Verursachung nur auf praktische, in Zweck- 
mäßigkeits- und Gerechtigkeitserwägungen begründete Kriterien 
abgestellt werden kann, z. B. — wie es in der zivil- und straf- 
rechtlichen Literatur häufig geschieht — auf die durch „objek- 
tive nachträgliche Prognose" ermittelte „Vorhersehbarkeit** oder 
„Berechenbarkeit" eines Erfolges. Auch der so viel verhandelte 
Streit aber die Anwendbarkeit des „philosophischen" Eausal- 
begriffs in der Jurisprudenz dürfte sich durch die Einsicht 
schlichten lassen, daß ein präziser erkenntnistheoretischer Kausal- 
begriff zwar der Ausgangspunkt, nicht aber der ausschließliche 
Zielpunkt strafrechtlicher Untersuchungen sein kann. Am schärf- 
sten hat sich M. E. Mayer gegen die Alleinherrschaft des 
kriminalistischen Naturalismus gewandt; unter Anlehnung an 
Windelbands und Rickerts Wissenschaftsklassifikationen begreift 
er die Jurisprudenz als eine Art der kulturwissenschaftlichen 
Wertbeziehung, sucht aber dabei manche Bestandteile auch der 
systematischen Strafrechtswissenschaft stark der „idiographischen" 
Methode anzunähern. 

Endlich untersteht auch das Verhältnis zwischen Ethik 
und Jurisprudenz der methodologischen Kritik. Es sei nur an 
Begriffe wie pfi\chtwidrige Willensbetätigung, Vorsatz, Verant- 



42 Rechtsphilosophie. 

wortlichkeit, Willensfreiheit erinnert. In diesem Fall würde das 
„Vorjuristische'' in der Region der Werte liegen, die methodo- 
logische Abgrenzung auf eine Vergleichung philosophischer und 
empiristischer Begriffsbildung hinauslaufen. 

Mit den Problemen der teleologischen Psychologie hängt die 
alte Streitfrage der Juristischen Person" und des Verhältnisses 
zwischen Einzel- und Gesamtpersönlichkeit zusammen. Hier 
dürfte die von Jellinek gefundene Lösung eine Klärung ver- 
sprechen. Das Substrat sowohl der Einzel- als der Gesamt- 
persönlichkeit erscheint nach ihm in naturalistischer Be- 
leuchtung gleicherweise als Aggregat oder Gewühl un verbundener 
Realitäten, dagegen in vorjuristisch-teleologi seh er Beleuch- 
tung gleicherweise als selbständige, durch Zweckbeziehungen zu- 
sammengedachte Einheit, nämlich als einheitliches Individuum 
und als einheitlicher Verband. An diese teleologischen Gestal- 
tungen der vorrechtlichen Realitäten lehnt sich mit Fug das 
Recht an und prägt in demselben Sinne im Reiche der juristi- 
schen Bedeutungen die Begriffe der Einzel- und der Gesamt- 
persönlichkeit. In keinem Fall bedeutet „Person" eine Fiktion, 
in beiden Fällen eine wissenschaftliche Abstraktion. Für das 
Recht gibt es nur Juristische" Personen. An die Stelle der 
eine fierdßaaig elg &kh) yävog involvierenden Gegenüberstellung 
von „physischer" und Juristischer Person" hat die von juristi- 
scher Einzel- und Gesamtperson zu treten. Verwertet man für 
das Persönlichkeitsproblem gleichzeitig den Begriff der teleo- 
logischen Willenseinheit, so wird man keine mythologische 
Personifikation mehr darin finden wollen, daß die von der Summe 
ihrer Mitglieder unterschiedene Personeneinheit einen im teleo- 
logischen Sinne einheitlichen Willen haben kann. 

Da die Kontroversen der positiven Wissenschaft in unserem 
Zusammenhang lediglich alsIUustrierungen allgemeinster methodo- 
logischer Anschauungen in Betracht kommen, so möge an dieser 
SteUe zum Thema der juristischen Person nur noch die Polemik 
zwischen Gierke und Laband herangezogen werden. Die For- 
schungen Gierkes haben nämlich, unter einseitig methodologischen 
Gesichtspunkten betrachtet, hauptsächlich die Bedeutung, daß 
sie bei ausdrücklicher Anerkennung des abstrakten Charakters 
der Rechtswelt den Grad des Rechtsformalismus, also die so 
schwierige Frage der Anschmiegung der Rechtsbegriffe 
an das vorrechtliche Substrat sich bewußt zum Problem 



Bechtsphilosophie. 43 

machen. Trotz aller Veränderungen und Nivellierungen, die die 
Rechtsordnung mit der Gliederung der vorrechtlichen Welt vor- 
nimmt, ist sie ja dennoch imstande, deren Eigentümlichkeiten 
und Unterschiede bis zu einem gewissen Grade in die juristische 
Bedeutungssphäre zu transponieren. Nach zwei Richtungen läßt 
sich eine solche Anschmiegung des Rechts an sein Substrat ver- 
folgen: als Beibehaltung eines gewissen Kernes der psychophy- 
sischen Gegebenheit — so wenn natürliche Unterschiede der 
Sachen oder der psychischen Erscheinungen irgendwie in die 
juristische Gedankenwelt wirksam hineinreichen — oder zweitens 
als Anlehnung an die schon teleologisch geformten Lebens- und 
Kulturrealitäten. Hierbei ist von Wichtigkeit — Ihering, Jellinek 
und Lassen haben dies bemerkt — , daß die Lebensverhältnisse 
bereits einen typisch gestalteten, für die rechtliche Regelung 
also präparierten Stoff darbieten. Als Beispiele dafür, daß das 
Recht die Anpassung an den Formenreichtum des Lebens in 
verschiedenen Intensitätsgraden ausbilden kann, mögen die Gegen- 
sätze romanistischer und germanistischer, zivilistischer und 
publizistischer Generalisierungsprinzipien erwähnt werden. Rosin 
und Stoerk halten die größere oder geringere Gleichartigkeit und 
Einförmigkeit der Zwecke für den Gradmesser des Formalismus. 
Auch in der Polemik zvrischen Laband und Gierke stehen 
sich in letzter Linie romanistische und germanistische Tendenzen 
gegenüber. Gierke macht der romanistischen Jurisprudenz den 
allerdings zuweilen metaphysisch eingekleideten Vorwurf, daß 
sie ganz so verfahre, als gäbe es kein anderes Substrat des Per- 
sönlichkeitsbegriffs als die unverbundenen , einander lediglich 
koordinierten Einzelwesen, wobei sie es durchaus verschmähe, 
die vor dem Recht liegende soziale Eingeordnetheit des 
einzelnen in Genossenschaften innerhalb der juristischen Sphäre 
irgendwie auszuzeichnen. Laband hat dagegen eingewandt, daß 
das eigentümliche Verhältnis der Eingliederung von Individuen 
in Verbände gerade zu denjenigen Momenten zu zählen sei, die 
ausschließlich dem Leben angehören, im juristischen Per- 
sönlichkeitsbegriff aber keinen korrespondierenden Ausdruck er- 
halten dürfen. Allein es ist von vornherein gar nicht einzu- 
sehen, warum soziale Substrat- und juristische Persönlichkeits- 
struktur gerade im Punkte der Eingliederung gänzlich 
auseinanderfallen müssen, warum nicht zwischen der Gesamt- 
person und den Einzelpersonen personenrechtliche Beziehungen 



44 Rechtsphilosophie. 

konstruiert werden dürfen, die von den zwischen nnyerbnndenen 
Individuen möglichen Bechtsverhältnissen abweichen. Wenn 
Gierke von der juristischen Konstruktion eine feinere An- 
schmiegungsfähigkeit fordert und so die Möglichkeit für das 
Einströmen neuer Gedanken in die Rechtsbildung offen läßt^ so 
sucht er damit noch nicht die Kluft zwischen Recht und Wirk-* 
lichkeit zu überbrücken, wie er denn auch zwischen den „die 
tatsächliche Unterlage der Rechtspersönlichkeit^ bildenden so- 
zialen Lebenszentren und ihrem Auftreten als „Verbandsper- 
sonen" im „Rechtsgebiet", ausdrücklich unterscheidet. 

Auch die Frage, wieweit der juristische Formalismus ohne 
Schaden getrieben werden kann, dürfte einer einheitlicheren Er- 
fassung erst zugänglich werden, wenn die Methodologie stets 
Fühlung mit der Erkenntnistheorie behält und in einem erkennt- 
nistheoretischen Wirklichkeitsbegriff den festen Punkt gewinnt^ 
von dem aus die einzelnen gleichsam übereinander gelagerten 
Begriffsbildungsschichten sich in ihrem verschiedenen Abstand 
von der gemeinsamen Wirklichkeitsbasis eindeutig beurteilen 
lassen. Erst dann wird auch über den Aufbau, insbesondere 
über die „Objektivität" und „Subjektivität" der ineinander- 
greifenden wissenschaftlichen Synthesen Klarheit gewonnen 
werden. — 

Während über das Verhältnis der rechtlichen Begriffswelt 
zum vorrechtlichen Substrat eine gewisse Übereinstimmung 
herrscht, gehen die Ansichten über die Wissenschafts- und 
Systemform der Jurisprudenz noch weit auseinander. Da 
bereits die „Technik" des Rechts selbst Systematisierungen des 
juristischen Stoffes in hoher Vollendung hervorbringt, kann auch 
hierin nicht eine ausschließliche Eigentümlichkeit der Rechts- 
wissenschaft gesehen werden, und es darf nicht wundernehmen, 
wenn sich von jeher Zweifel gegen die Wissenschaftlichkeit der 
Jurisprudenz erhoben haben. 

Welche Lösung diese Frage auch immer durch eine ein- 
heitliche Fixierung des knlturwissenschaftlichen Erkenntnis- 
begrifi's finden mag, soviel darf als ausgemacht gelten, daß die 
Jurisprudenz auf jeden Fall hinsichtlich ihrer Selbständigkeit 
einen wesentlichen Vorzug vor der sonstigen Technik aufweisen 
müßte. Während diese nämlich die in den Dienst ihrer prakti- 
schen Zwecke gestellten rein theoretischen Kenntnisse anders- 
woher und zwar den Naturwissenschaften entnimmt, erzeugt die 



Rechtsphilosophie. 45 

Jarispmdenz alles zur Bewältigung ihrer praktischen Aufgabe 
Erforderliche durch eine nur ihr eigentümliche Begriffswelt, die 
es sich wohl verlohnt, methodologisch zu beleuchten. Freilich 
wird die Methodologie überall den praktischen Beruf des Eechts 
im Leben als systembildenden Faktor anzuerkennen haben und 
sich nicht dazu versteigen dürfen, das Logische im Recht anders 
als in seiner Durchdringung mit dem Praktischen zu verstehen. 
Mit der Forderung exakter Erforschung der logischen Struktur 
der Rechtswissenschaft wird der mit Recht verspotteten „Be- 
griffsjurisprudenz*^ keineswegs das Wort geredet. 

Man kann der Jurisprudenz eine selbständige Bedeutung 
zunächst ii einem formalen Sinne zuschreiben, nämlich eine 
Selbständigkeit gegenüber dem Recht, namentlich gegenüber dem 
Gesetz. Trotz seines auch für die Wissenschaft richtunggebenden 
Charakters beansprucht das Gesetz dennoch in gewisser Hinsicht 
lediglich die Stellung eines bloBen Materials, an dem noch ge- 
deutet, dessen Zuverlässigkeit noch geprüft werden kann. Es 
gibt ein Auseinanderfallen von Recht und Gesetz. Nicht das 
Gesetz, sondern das Recht bildet das Objekt der Rechtswissen- 
schaft. Das Gesetz ist neben dem G^ewohnheitsrecht, der richter- 
lichen Gesetzesanwendung und anderen Anhaltspunkten nur 
eins der Indizien, aus denen die Jurisprudenz das dahinter 
steckende System der zu einer bestimmten Zeit und in einer be- 
stimmten Gemeinschaft in Wahrheit „geltenden^, „vom Gesetz- 
geber gewollten", also durchaus „positiven" Rechtsnormen erst 
durch zum Teil schöpferische Arbeit gewinnen muß. Es liegt 
außerhalb des Rahmens dieser Skizze, von all den gegenwärtigen 
Untersuchungen über Gesetzesauslegung, Analogiebildung, Lücken 
im Recht, Gesetz und Gewohnheitsrecht, Gesetz und Richter- 
amt usw. auch nur ein andeutendes Bild zu geben. 

Am wenigsten ergiebig zeigt sich die gegenwärtige Me- 
thodologie, wenn man von ihr über die materiale Selbständigkeit 
der Jurisprudenz, über die inhaltliche Eigenart, die den spezifisch 
juristischen Systematisierungsformen im Unterschiede zu den 
Systembildungen sonstiger Wissenschaften zukommt, Aufschlüsse 
erwartet Iherings Ausführungen über die „Präzipitation der 
Rechtssätze zu Rechtsbegriffen" gehören trotz aller berechtigten 
Einwendungen, die man gegen ihre bilderreiche naturwissen- 
schaftliche Terminologie erhoben hat, wohl immer noch zu den 
gelungensten Charakterisierungen des juristischen Denkens. Über 



46 Rechtsphilosophie. 

die Umsetzung der ursprünglichen imperativen Form in die 
wissenschaftliche Urteils- und Begriffsform, über die Zerlegung 
des Zusammengesetzten in seine einfachsten Bestandteile, über 
die juristische „Konstruktion" u. a. gibt es eine Menge gedanken- 
reicher Untersuchungen. Aber es scheint trotzdem, als ob dabei 
das eigentliche Geheimnis der juristischen Systemform zwar von 
dem durch die wissenschaftliche Praxis damit vertrauten Fach- 
mann unmittelbar mitgefühlt^ aber noch nicht zu einem logischen 
Ausdruck objektiviert worden sei. Desgleichen sind, z. B. von 
G. Rümelin, von Wundt und neuerdings besonders von Radbiiich, 
die allgemeisten, von allen Wissenschaften geltenden logischen 
Schemata wie Deduktion, Reduktion, Induktion, Klassifikation in 
ihrer Anwendung auf die Jurisprudenz dargestellt worden. 
Allein so lehrreich solche Versuche einer ersten logischen Be- 
herrschung des Rechtsstoffes auch zweifellos sind, gerade die in- 
dividuelle juristische Nuance dieser formallogischen Prinzipien 
wird dabei nicht immer scharf genug gekennzeichnet. Auch 
hier ist die einseitige Orientierung der bisherigen Logik an den 
Naturwissenschaften der böse Schaden der Methodologie gewesen. 
Häufig wird übersehen, daß die den juristisch geformten Stoff 
zu höheren systematischen Bildungen fortgestaltenden Opera- 
tionen in ähnlicher, nur noch verwickelterer Weise von dem 
teleologischen Grundcharakter des Rechts durchherrscht werden 
wie die ursprünglichen, dem von-echtlichen Substrat gegenüber 
betätigten juristischen Bearbeitungsfunktionen. 

Kompliziert ist die methodische Stellung der Rechtsgeschichte. 
Um sie genau zu bestimmen, wird man den Begriff der histori- 
schen Kulturdisziplin mit relativ systematischen Bestandteilen 
zu konstruieren haben, ein Analogen zu dem von Rickert unter- 
suchten Begriff der Geschichtswissenschaft mit relativ natur- 
wissenschaftlichen Bestandteilen. Sodann aber erwachsen noch 
besondere Schwierigkeiten daraus, daß diese Disziplin entweder 
als Geschichte der sozialen oder als Geschichte der juristischen 
Rechtswirklichkeit gedacht sein und endlich als Dogmen- 
geschichte einen Zweig der Wissenschaftsgeschichte bilden kann. 
Es ist oft, z. B. von Ihering und Arnold, bemerkt worden, daß 
die Rechtsgeschichte, sobald sie nicht im ausschließlichen Dienst 
der Dogmatik steht, die Tendenz haben muß, die juristischen 
Abstraktionen im Zusammenhang mit der Totalität des Lebens 
zu begreifen. 



Rechtsphilosopliie. 47 

Endlich hat die Logik der Jurisprudenz auch das Verlangen 
der Gegenwart nach einer „allgemeinen Rechtslehre", die For- 
derung, daß das Ganze der Rechtswissenschaft zu seinem „all- 
gemeinen Teil" komme, methodologisch zu analysieren. Hierbei 
muß dem bereits von Stammler bekämpften sehr verbreiteten 
Irrtum entgegengetreten werden, es könne die empirische For- 
schung durch bloße Steigerung und Generalisierung des Systema- 
tisierens plötzlich in „Philosophie" umschlagen. 

Der Dualismus sozialwissenschaftlicher und juristischer Be- 
trachtungsweise dringt auch in die obersten Begritfe der rechts- 
wissenschaftlichen Prinzipienlehre ein und erzeugt die Spaltung 
in eine allgemeine Soziallehre des Rechts und in eine allgemeine 
Jurisprudenz, die jetzt beide noch ungeschieden mit einer Menge 
anderer Wissenschaftsbruchstücke in der „allgemeinen Rechts- 
lehre" zusammengeworfen werden. Der allgemeinen Jurisprudenz 
stehen zwei einander gegenseitig ergänzende Mittel zu Gebote: 
die alle historischen Rechtsordnungen umspannende vergleichend 
dogmatische Behandlung und die aus einer Analyse der speziel- 
leren Begriffe sich herausarbeitende Gewinnung der juristischen 
Grundbegriffe. Die Rechtsvergleichung kann aber nicht nur 
juristisch-dogmatisch, sondern auch ethnologisch und soziologisch 
betrieben werden, und mit diesen Gegensätzen kreuzen sich die 
Unterschiede systematischer und historischer Methode. Über- 
haupt nicht zur vergleichenden, das „rationell Verwandte" zu- 
sammenstellenden Rechtswissenschaft gehört, wie Leist treffend 
bemerkt hat, die auf einmalige Zusammenhänge zwischen ver- 
schiedenen Rechtsordnungen, also auf ein ausschließlich historisch 
Verwandtes, gerichtete Forschung, z. B. die „arische Stammes- 
rechtsgeschichte". 

Rechnet man, wie hier geschehen ist, die allgemeine Rechts- 
lehre lediglich zum Untersuchungsobjekt der Methodologie, so 
ist damit nicht nur die sozialwissenschaftliche und kulturgeschicht- 
liche Behandlung der lebendigen Zusammenhänge des Rechts mit 
den übrigen Lebensmächten aus der Philosophie verwiesen, 
sondern es bleiben auch die allgemeinsten juristischen, das Ver- 
hältnis von Recht und Staat, Recht und Zwang, objektivem und 
subjektivem Recht usw. betreffenden Probleme der empirischen 
Wissenschaft überlassen. 

Nicht hierüber, sondern allein über die rein methodologischen 
Versuche der Jurisprudenz, ihr eigenes Wesen zu verstehen. 



48 Bechtophilosophie. 

sollte in den vorangegangenen Sieilen berichtet werden. Noch 
besteht die Methodologie der Rechtswissenschah nnr in einer 
Seihe zerstreuter Bemerkungen. Aber der gerade gegenwärtig 
in der Jurisprudenz stark hervortretende Trieb nach logischer 
Selbstbesinnung berechtigt zu der Erwartung, daß sie sich in 
Zukunft zu einem Ganzen fügen werden. 



Literatur. 



Abschnitt I. 
Die PhiloBopliie des Beohte. 

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Abschnitt U. 
Zur allgemeinen Methodologie der Knlturwissenschaften« 

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Mttnsterberg, H., Grundzttge der Philosophie. 1. Bd. 1900. 
Rickert, H., Der Gegenstand der Erkenntnis. 2. Aufl. 1904. 

— Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. 1896/1902. 

— Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 1899. 



Rechtsphilosophie. 49 

Simmely G., Das Problem der Sosiologie. Schmollers Jahrbach für Oesetzg. 

Verw. und Volksw. Bd. 18. 1894. 
— Die Probleme der Geschichtsphilosophie. 1892. 
Weber, M., Die „Objektintftt*^ sozial wissenschaftlicher und sozialpolitischer 

Erkenntnis. Arch. f. Sozialw. n. Sozialpol. Bd. 1. 1904. 
Windelband, W., Geschichte und Naturwissenschaft. 3. Anfl. 1904. 



Zur Methodologie der Jarlspmdeni.^) 

Arnold, W., Enltnr und Rechtsleben. 1866. 
Bierling, £. R., Juristische Prinzipienlehre. 2 Bde. 1894. 1898. 
Brodmann, E., Vom Stoffe des Rechts und seiner Stroktor. 1897. 
Eltzbacher, P., Über Rechtsbegriffe. 1900. 

— Die Handlungsfähigkeit. 1. Bd. 1903. 

Oierke, 0., Das deutsche Genossenschaftsrecht. 3 Bde. 1868—1881. 

— Die Genossenschaftotheorie und die deutsche Rechtsprechung. 1887. 

— Deutsches Priyatrecht. 1. Bd. 1895. 

— Labands Staatsrecht und die deutsche Rechtswissenschaft. Schmollers 

Jahrb. für Gesetzg.. Verw. u. Volksw. Bd. 7. 1883. 
fiold Ton Ferneck, A., Die Rechtswidrigkeit. 1903. 
Ihering, R., Geist des rOmischeu Rechts. 4. u. 6. Aufl. 3 Tle. 1881—1891. 

— Der Zweck im Recht. 2. Aufl. 2 Bde. 1884/1886. 

— Unsere Aufgabe. Jahrbücher für Dogmatik des heutigen römischen und 

deutschen Privatrechts. 1. Bd. 
Jellinek, G., Die rechtliche Natur der Staaten?erträge. 1880. 

— Gesetz und Verordnung. 1887. 

— System der subjektiven öffentlichen Rechte. 1892. 

— Allgemeine Staatslehre. 1903. 

Xarner, J., Die soziale Funktion der Rechtsinstitute. 1904. (Marx-Studien 

hrsg. y. Adler und Hilferding.) 
Xistiakowski, Th., Gesellschaft und Einzelwesen, 1899. 
Knapp, L., System der Rechtsphilosophie. 1857. 

Kohlrausch, £., Irrtum und Schuldbegriff im Strafrecht 1. TL 1903. 
Lab and, P., Beiträge zur Dogmatik der Handelsgesellschaften. Zeitschr. f. 

d. ges. Handelsrecht. Bd. 80. 1885. 
Leist, B. W., Altarisches jus gentium. 1889. 
Liepmann, M., Einleitung in das Strafrecht 1900. 
Mayer, M. £., Die schuldhafte Handlung. 1901. 

— Rechtsnormen und Kultnmormen. 1903. 

Meumann, G. A., Prolegomena zu einem System des Vermögensrechts. 1903. 

Fachmann, S., Über die gegenwärtige Bewegung in der Rechtswissenschaft. 
(Aus dem Russischen übersetzt) 1882. 

Puchta, G. F., Cursus der Institutionen. 1. Bd. 10. Aufl. 1893. 

Radbruch, G., Der Handlungsbegriff in seiner Bedeutung für das Straf- 
rechtssystem. 1904. 



Die im folgenden genannten Schriften sind lediglich um ihrer rein 
methodologischen Bestandteile willen ausgewählt. 

Windelband, Die Pliilosophie im Beginn des M. Jahrh. II. Bd. 4 



50 Reehtsphiloflophie. 

Rick er t, H., Zur Lehre von der Definition. 1888. 

Bosin, H., Sonyer&netät, Staat, Gemeinde, SelbstYerwaltong. Annalen de» 

Deutschen Reiches. 1883. 
Rflmelin, G., Juristische Begriffsbildnng. 1878. 
Schuppe, W., Der Begriff des Rechts. Grünhats Zeitschr. f. d. Privat- n. 

öffentl. Recht d. Gegenw. Bd. 10. 1883. 
Stoerk, F., Zur Methodik des öffentlichen Rechts. 1886. ' 
Thon, A., Rechtsnorm und subjektives Recht. 1878. 
Wundt, W., Logik. 2. Bd. 2. Abt 2, Aufl. 1895. 
Zitelmann, E., Lrtum und Rechtsgeschäft 1879. 



Gesehiehtsphilosophie. 

Von 

Heinricil Sickert. 



Einleitung. 

Die philosophischen Wissenschaften stehen am Anfang des 
zwanzigsten Jahrhunderts znm großen Teil noch im Zeichen der 
Bestauration. Ihrletzter Aufschwung war von dem Wiedererwachen 
des Interesses für Kant abhängig, und auch die Gedanken, mit 
denen die an Samt orientierte Philosophie heute zu kämpfen hat 
sind nicht erst in unserer Zeit entstanden, sondern stammen aus 
einer noch fr&heren Periode der philosophischen Entwicklung. 
Gilt es doch meist, den Naturalismus der Aufklärung, den Eantg 
Idealismus nicht definitiv zu besiegen vermocht hat^ von neuem 
zurückzudrängen. Ebenso darf, wenn jemand behaupten wollte^ 
daß auch Kant zum Teil wenigstens überwunden sei, nicht ge- 
sagt werden, daß erst kürzlich geschaffene Ideen dies vollbracht 
haben, sondern fast jeder wirkliche Fortschritt über Kant hinaus 
liegt im wesentlichen in der Richtung, die bereits von Kants 
unmittelbaren Nachfolgern eingeschlagen war, und an die man 
heute wieder anzuknüpfen beginnt Aus diesem Grunde hat das 
Studium der Geschichte der Philosophie in unseren Tagen eine 
große Bedeutung, und deshalb feiern wir einen Mann wie Euno 
Fischer, der nicht nur zur Wiederbelebung des Verständnisses 
für Eant soviel beigetragen, sondern auch die Gedanken seiner 
großen Jünger unserer Zeit wieder näher gebracht hat. Man 
braucht nicht zu fürchten, daß wir den Entwicklungsgang von 

4* 



52 GeschielitBphilosophie. 

Kant zu Fichte, von diesem zu Schelling oder Schopenhauer nnd^ 
von dort weiter zu Hegel noch einmal durchzumachen hätten. 
Unsere neue Zeit bringt neue Fragen, die neue Antworten ver- 
langen, und noch niemals hat sich etwas im geschichtlichen 
Leben wiederholt. Aber der Einsicht sollte man sich nicht ver- 
schließen, daß der kantische und nachkantische Idealismus einen 
Schatz von Gedanken enthält, der noch lange nicht vollständig 
ausgemünzt ist, und aus dem wir eine Fülle wertvoller Ideen 
holen können, wenn wir mit den philosophischen Problemen 
unserer Zeit zu ringen haben. 

Für keine philosophische Disziplin gilt dies mehr, als für 
die Oeschichtsphilosophie. Obwohl in letzter Zeit das Interesse 
für sie außerordentlich gewachsen ist, darf sie, wenigstens mit 
Sucksicht auf ihre Grundbegriffe, nicht den Anspruch erheben, 
daß sie Unerhörtes, Neues lehre. Gerade^ die Spekulationen, die 
für besonders „modern^ gelten, zehren fast nur von Gedanken, 
die in der Aufklärung ihre Formulierung gefunden haben, und 
ebenso muß auch die Bichtung, welche diese Aufklärungsten- 
denzen bekämpft, dankbar anerkennen, daß einige ihrer besten 
Waffen ihr zum Teil von Kant, zum noch größeren Teil von 
nachkantischen Idealisten, besonders von Fichte und Hegel, ge- 
schmiedet worden sind. Wer daher ein Bild von der gegen- 
wärtigen Lage der Geschichtsphilosophie und ihren Bewegungen, 
von ihren Hauptproblemen und den verschiedenen Sichtungen 
ihrer Lösung erhalten will, könnte zur Gewinnung der Grund- 
begriffe versuchen, die Fäden rückwärts zu verfolgen, die zum 
deutschen Idealismus und dann noch weiter in die Vergangen- 
heit hinein bis zur Aufklärung führen. Aber auch auf geschichts- 
philosophischem Gebiet wird es sich nicht um eine bloße Wieder- 
herstellung des Früheren handeln. Man braucht nur an die Ent- 
wicklung der Geschichtswissenschaft im neunzehnten Jahrhundert 
zu denken, um das einzusehen, und jedenfalls müssen wir in den 
Systemen der Vergangenheit das dauernd Wertvolle von dem 
„historisch'* Gewordenen scheiden. Das aber ist gerade für die 
Geschichtsphilosophie erst zum Teil getan. Es wird noch mehrerer 
Untersuchungen von der Art bedürfen, wie sie z. B. für Ficbtes 
Idealismus und die Geschichte von Lask angestellt worden sind, 
bis die dauernde Bedeutung dieser Gedanken hervortritt. Schon 
aus diesem Grunde ist für einen kurzen Überblick über die Gegen- 
wart die geschichtliche Orientierung nicht geeignet Und auch 



Geschichtspliilosopliie. 53 

abgesehen davon empfiehlt es sich hier nicht, nur historisch zu 
verfahren. Trotz aller Dankbarkeit, die wir für unsere philo- 
sophische Vergangenheit empfinden, trotz aller Anerkennung 
ihrer Überlegenheit an schöpferischer Originalität, ist es dringend 
zu wünschen, daß wir aus dem Zustande des Epigonentums wieder 
hinauskommen, daß wir nicht nur vom Zeitalter der Aufklärung 
zum Zeitalter Kants fortschreiten, sondern versuchen, unsere 
eigenen Wege zu gehen, und gerade die Geschichtsphilosophie 
hat vielleicht am meisten Veranlassung hervorzuheben, daß der 
Philosoph niemals nur Historiker sein, daß die Philosophie nie- 
mals in der Geschichte stecken bleiben darf. So sei denn hier 
die Vergangenheit beiseite gelassen und eine systematische 
Orientierung versucht. ^ 

Doch auch auf diesem Wege begegnen uns Schwierigkeiten. 
Die intensive Beschäftigung mit der Geschichte hat nicht nur 
einen großen Reichtum an philosophischen Ideen, sondern auch 
eine erhebliche Verwirrung gebracht und damit eine Unsicher- 
heit, die sich auf die elementarsten Begriffe unserer Arbeit er- 
streckt. Auf die Frage, was Philosophie überhaupt sei, gibt es 
keine Antwort, die sich allgemeiner Anerkennung erfreut, und 
was für das Ganze gilt, wird für die Teile gelten. Wollen wir 
daher ohne Willkür verfahren, so werden wir uns zunächst die 
verschiedenen Bedeutungen, die man mit dem Worte G^schichts- 
philosophie verbinden kann, zu vergegenwärtigen und unseren 
Begriff dieser Wissenschaft zu rechtfertigen haben. 

Drei Begriffe heben sich vor allem deutlich heraus. Von 
der Philosophie überhaupt sagt man, daß sie die Wissenschaft 
vom Allgemeinen sei im Gegensatz zu den Einzelwissenschaften. 
Philosophieren kann dann heißen, eine Gesamterkenntnis der 
Wirklichkeit suchen, den Inbegriff aller wissenschaftlichen Er- 
kenntnis geben. Bestimmt man hiernach die Aufgaben einer Philo- 
sophie der Geschichte, so hat sie, während die historischen Einzel- 
wissenschaften es mit den besonderen Gebieten des geschichtlichen 
Lebens zu tun haben, das von ihnen Gefundene zu einem einheit- 
lichen Gesamtbilde, zu einem Überblick über das Ganze, kurz zu 
einer allgemeinen Geschichte zusammen zu fassen. Geschichtsphilo- 
sophie in dieser ersten Bedeutung des Wortes würde also soviel 
wie Universalgeschichte oder „Weltgeschichte" heißen. Die 
Allgemeinheit einer Darstellung kann aber verschieden ver- 
standen werden. SteUt man, um wieder an den Begriff der 



54 GeBciuchUphilosophie. 

Philosophie überhaupt anzuknüpfen, ihr die Aufgabe, Gesamt- 
Erkenntnis der Wirklichkeit zu geben, so kann man nicht meinen, 
•daß sie die ganze inhaltliche Fülle des von den Einzelwissen- 
schaften erkannten Materials in sich aufzunehmen habe. Ihre 
Allgemeinheit muß vielmehr stets mit einer Verallgemeinerung 
in dem Sinne verbunden sein, daß der Inhalt des Spezialwissens 
in mehr oder minder hohem Grade dabei verloren geht, und 
schließlich läßt sich diese Verallgemeinerung so weit treiben, 
daß nur noch die allgemeinen „Prinzipien'^ zum Gegenstande der 
Untersuchung werden. Daraus ergibt sich auch ein neuer Be- 
griS der Geschichtsphilosophie. Diese Disziplin hat dann den 
besonderen Inhalt des geschichtlichen Lebens bei seite zu lassen, 
nm nach seinem allgemeinen „Sinn^ oder nach seinen allgemeinen 
^Gesetzen^ zu fragen. Auch ohne daß die Begriffe des Sinnes 
und des Gesetzes näher bestimmt sind, entsteht so der Begriff 
•einer Wissenschaft von den historischen Prinzipien, der 
«ich scharf gegen den Begriff der Universalgeschichte abhebt. 
Und einen dritten Begriff gewinnt man endlich, wenn Geschichte 
nicht das Geschehene selbst, sondern die Darstellung des Ge- 
schehens oder die Geschichtswissenschaft bedeutet. Dieser Be- 
griff steht ebenfalls in Übereinstimmung mit einer vielfach ver- 
tretenen Ansicht von den Aufgaben der Philosophie überhaupt, 
wonach sie, besonders in ihrem theoretischen Teile, nicht so sehr 
die Dinge selbst, als vielmehr das Wissen von den Dingen zu 
ihrem Objekte zu machen hat. Die Geschichtsphilosophie kann 
also auch als Wissenschaft vom geschichtlichen Erkennen oder 
als ein Teil der Logik im weitesten Sinne des Wortes ange- 
sehen werden. Vielleicht wird man noch eine Disziplin ver- 
missen, die von der Bedeutung des geschichtlichen Denkens für 
die Behandlung der allgemeinen Problieme der Weltanschauung 
und Lebensauffassung handelt. Aber diese Fragen werden 
leicht zu beantworten sein, wenn die bisher angegebene Arbeit 
getan ist, und zur Aufstellung einer vierten Art von Geschichts- 
philosophie besteht deshalb kein Grund. Wohl aber scheinen in 
der Tat die Universalgeschichte, die Lehre von den Prinzipien 
des geschichtlichen Lebens und die Logik der Geschichtswissen- 
schaft drei gleich berechtigte Wissenschaften zu sein, von denen 
jede ihre besonderen Probleme hat, und die doch alle das Secht 
auf den Namen der Geschichtsphilosopie besitzen. 

Sieht man jedoch genauer zu, so ergibt sich bald ein anderes 



Oeschichtsphilosophie. 55 

Bild. Wie soll die Universalgeschichte neben den einzelnen 
historischen Disziplinen bestehen? Ist sie zu denken als bloße 
Snmmiemng des von ihnen Gefiindenen? Gewiß nicht. Zorn Min- 
desten wird man von ihr verlangen, daß sie das geschichtliche 
Ganze einheitlich darstelle. Was aber ist dieses Ganze, worin 
besteht das P r i n z i p seiner Einheit nnd seiner Gliederung ? Durch 
solche Fragen wird die erste Art der Geschichtsphilosophie bei 
der Behandlung ihrer Grundbegriffe auf die zweite Art hinge- 
wiesen. Aber auch die Begriffe, welche die Prinzipienwissen- 
«chaft zur Bestimmung ihrer Aufgabe braucht, dürfen nicht als 
selbstverständlich vorausgesetzt werden, und zwar weder wenn 
man dabei an allgemeine „Gesetze" denkt, denen alles geschicht- 
liche Leben unterworfen sein soU, noch wenn man einen einheit- 
lichen „Sinn'^ dem Ganzen der geschichtlichen Entwicklung zu- 
j^nnde legen will. In diesen Begriffen stecken Probleme. Während 
•es jeder für selbstverständlich hält, daß man nach Gresetzen der 
Natur forscht, wird die Möglichkeit, historische Gesetze aufzu- 
stellen, entschieden bestritten, und, abgesehen davon, wie kommt 
«s, daß auf naturwissenschaftlichem Gebiete die Gesetze von den 
Einzelwissenschaften selbst gesucht werden, während fär die 
Geschichte diese Aufgabe einer philosophischen Disziplin zufällt? 
Mit welchem Bechte nehmen wir femer einen Sinn des geschicht- 
lichen Verlaufes an, und welche Mittel haben wir, um ihn zu 
erkennen? Die Greschichtsphilosophie als Prinzipienwissenschaft 
kann mit ihrer Arbeit nicht beginnen, ohne auf diese Fragen 
«inzugehen, und sie wird sie nicht beantworten können, ohne Klar- 
heit über das Wesen des historischen Erkennens überhaupt, d. h. 
logische Kenntnisse zu besitzen. So sehen wir die zweite der 
drei Disziplinen ebenso auf die dritte angewiesen, wie die erste 
auf die zweite angewiesen war, und es ergibt sich demnach 
zwischen den verschiedenen Arten von Geschichtsphilosophie, 
die zunächst drei selbständige Wissenschaften mit verschiedenen 
Problemen zu sein schienen, ein Zusammenhang von der Art, 
daß die Logik der Geschichte den Ausgangspunkt und die 
Grundlage aller geschichtsphilosophischen Untersuchungen bilden 
muß. Wieweit dann die Probleme der Prinzipienwissenschaft 
und der Universalgeschichte in logische Probleme verwandelt 
werden müssen, wenn sie überhaupt lösbar sein sollen, das kann 
«rst die Untersuchung selbst zeigen. Schon jetzt aber steht 
fest, daß es nicht Willkür, sondern Notwendigkeit ist, wenn wir 



S6 GeschichtBphiloiophie. 

hier mit einer Übersicht über die wichtigsten Probleme nnd 
Streitfragen der Geschichtslogik den Anfang machen. 



Die Logik der OescMchtswissenschaft 

Mit dem Voranstellen dieses Teiles betreten wir zugleich 
das Gebiet der Geschichtsphilosophie, auf dem unsere Zeit noch 
am meisten den Anspruch auf eine gewisse Originalität machen 
darf. Für die logische Formulierung und Behandlung der Pro- 
bleme finden sich nämlich in der Philosophie des deutschen Idea- 
lismus zwar sehr wertvolle, aber doch nur vereinzelte und un- 
systematische Bemerkungen, und in der vorkantischen Philosophie 
der Vei'gangenheit und Gegenwart ist zur Beantwortung dieser 
Fragen soviel wie nichts geleistet Es gehen vielmehr trotz, 
des einleuchtenden Zusammenhanges zwischen Geschichtslogik und 
Geschichtsphilosophie im weiteren Sinne die Ansätze zu dem 
Versuche, das logische Wesen der Geschichtswissenschaft in 
seiner Eigenart gründlich zu verstehen, nicht viel weiter als bis 
auf Paul, Naville, Simmel und besonders Windelband zurück. 
Es herrscht denn auch über die elementarsten Fragen auf diesem 
Gebiet bisher der heftigste Meinungsstreit, ja eine Logik der 
Geschichte, die diesen Namen verdient, hat sogar noch um ihre 
Existenzberechtigung zu kämpfen. Man glaubt nicht nur, wie z. B. 
Lindner, geschichtsphilosophische Probleme ohne logische Grund- 
legung wissenschaftlich behandeln zu können, sondern man hat 
geradezu das Recht zur Aufstellung eines rein logischen Be- 
griffes der Geschichte und der geschichtlichen Methode bestritten. 
Die Gründe daför liegen nicht allein darin, daß zu diesen Fragen 
viele das Wort ergriffen haben, denen es zur Behandlung logi- 
scher Probleme wohl an der nötigen Schulung fehlt. Sie stammen 
auch nicht allein aus den Schwierigkeiten, die sich hier ergeben^ 
denn das logische Wesen der Geschichte ist nicht schwerer zu 
verstehen als das anderer Wissenschaften, sobald man nur den 
richtigen Weg dazu einschlägt Aber gerade über diesen Weg 
besteht merkwürdigerweise keine Einigkeit Man sollte denken^ 
es sei selbstverständlich, daß, wer hier nach Klarheit sucht, sieb 



GeBchichtsphiloflopliie. 57 

dabei, wenigstens zunächst» an den Werken der allgemein aner- 
kannten großen Historiker orientiert, und vor allem das fest- 
stellt, wodurch das historische Denken sich von dem der anderen 
Wissenschaften unterscheidet Man sollte femer glauben, daß 
die logische Struktur der vorhandenen Geschichtswissenschaft 
verstanden sein muß, ehe man ein Urteil über ihren wissenschaft- 
lichen Wert zu fällen unternimmt. Aber das Selbstverständliche 
ist in diesem Falle nicht das Übliche. Die Orientierung an den 
Werken der großen Historiker wird vielmehr bisweilen, z. B. von 
Lamprecht und Tönnies, als unwissenschaftlich verworfen: diese 
Darstellungen sollen keine wahre Wissenschaft enthalten. Ins- 
besondere diejenigen, die sonst nicht müde werden, die Erfahrung 
als einzige Grundlage alles Wissens zu preisen, gehen bei der 
logischen Untersuchung der Erfahrungswissenschaften mit einem 
vorher festgestellten und noch niemals verwirklichten Begriff von 
Geschichtswissenschaft an die Arbeit, und glauben, weil sie die 
Historiker nirgends auf dem Wege zu ihrem Ideale finden, es 
sei notwendig, die Greschichte erst zur Wissenschaft zu erheben. 
In manchen Köpfen hat sich so der Gedanke eines Gegensatzes 
von Wissenschaft und Geschichte festgesetzt, und gerade diese 
Denker fühlen sich dann sonderbarerweise berufen, die Geschichts- 
wissenschaft über ihre wahren Ziele aufzuklären. 

Daß die meisten Historiker von solchen geschichtsfremden 
Spekulationen nichts wissen wollen, ist nicht wunderbar. So 
kommt es, daß Geschichte und Philosophie einander vielfach über- 
haupt nicht mehr verstehen, und unter diesem Zustande leiden 
beide Teile. Zwar wurde die ungeschichtliche Geschichtsphilo- 
sophie, die früher besonders in der Gestalt der Theorien (nicht 
der Praxis) von Taine und Buckle Verbreitung gefunden hatte, 
und die heute wieder mit mehr Eifer als Klarheit, z. B, von Lam- 
precht, erneuert wird, für die Zwecke der empirischen Geschichts- 
wissenschaft durch Droysen, Bemheim, v. Below, Ed. Meyer u. a. 
genügend zurückgewiesen. Aber unter philosophischen Gesichts- 
punkten ist in diesem methodologischen Streit der Historiker 
untereinander, in den man auch Fragen wie die nach Frei- 
heit und Notwendigkeit, Gesetzmäßigkeit und Zufälligkeit, Teleo- 
logie und Mechanismus hineingezogen hat, trotz manches wert- 
vollen Ergebnisses, doch noch vieles ungeklärt geblieben, und 
daher zeigen sich denn auch Historiker bisweilen ziemlich rat- 
los, wenn sie von ihren spezialwissenschaftlichen Untersuchungen^ 



58 Geschiehtsphiloflophie. 

dem wieder mehr philosophisch werdenden „Zug der Zeit^ fol- 
gend, zu allgemeineren Betrachtungen übergehen. Noch viel mehr 
aber leidet unter diesem Zustand die Philosophie. Infolge ihres 
Mangels an Verständnis für das gerade in nenerer Zeit eminent 
wichtige historische Denken ist sie zu weitgehender Einflußlosig- 
keit verurteilt, und wie sehr diese Einflußlosigkeit damit zu- 
sammenhängt, daß sie keine Fühlung mit der Geschichte hat, 
zeigt sich besonders deutlich darin, daß, wenn irgendwo bei den 
Vertretern der sogenannten Geisteswissenschaften sich heute 
philosophisches Interesse kund gibt, dies meist durch Anknüpfen 
an geschichtsmethodologische Untersuchungen vermittelt ist. 

Die Verständnislosigkeit für das Wesen der geschichtlichen 
Arbeit tritt in unsem Tagen natürlich am deutlichsten bei den Ver- 
tretern der heute wieder einmal zur Mode gewordenen naturalisti- 
schen Dogmen hervor, und es macht keinen wesentlichen Unter- 
schied, ob dieser Naturalismus als Materialismus oder als Psycho- 
logismus auftritt. In beiden Fällen würde die Anerkennung 
der Geschichte als Wissenschaft eine Erschütterung der grund- 
legenden naturalistischen Begriffe bedeuten. Denn wo man die 
Wirklichkeit mit der Natur gleichsetzt, ist für Geschichte um 
so weniger Platz, je konsequenter man denkt Aber die Ge- 
schichtsfremdheit unserer Philosophie hat noch tiefere Gründe. 
So völlig durch Kant der Naturalismus als Weltanschauung im 
Prinzip überwunden ist, so liegt in der Hauptsache diese Über- 
windung doch nicht in einer Richtung auf das histori^fche 
Denken. Zu dessen Erfassung finden sich bei dem Jünger 
Newtons höchstens Ansätze, und Kants Methodologie wird 
gerade in seinem theoretischen Hauptwerke noch fast ganz durch 
sein Interesse an der Mathematik und der Naturwissenschaft 
beherrscht. Man kann sich also in der Tat, wie z. B. M. Adler, 
mit einem gewissen Schein des Rechts auch auf Kant stützen, 
wenn man der geschichtlichen Arbeit den eigentlich wissen- 
schaftlichen Charakter abspricht Schließlich kommt noch hin- 
zu, daß zwischen den Naturwissenschaften, insofern sie systema- 
tische Wissenschaften sind, und der Philosophie, die ebenfalls 
nach einem System strebt, eine größere formale Verwandtschaft 
besteht, als zwischen dieser und der Geschichte, die niemals 
eine systematische Wissenschaft werden kann. Ja, man muß 
sogar von einem Antagonismus zwischen historischem und philo- 
sophischem Denken reden, den niemand zu beseitigen auch nur 



Geschichtsphilosopbie. 59 

Wünschen darf: den Historismus als Weltanschauung wird die 
Philosophie immer zu bekämpfen haben. Aber alles dies läßt 
die Aufgaben einer Logik der Geschichte nur um so dringender 
-erscheinen. Der Naturalismus ist ja nicht weniger ein Objekt 
der Bekämpfung als der Historismus, und femer darf die Philo- 
sophie nur dann hoffen, mit dem Historismus fertig zu werden, 
wenn sie das Wesen und die Bedeutung des historischen Denkens 
gründlich verstanden hat. Für die Logik ergibt sich aus alle- 
dem die Aufgabe, auch den von Kant noch vertretenen metho- 
dologischen Naturalismus in seiner Einseitigkeit gründ- 
lich zu überwinden und so zu einem Verständnis aller wissen- 
schaftlichen Arbeit vorzudringen. 

Die Behauptung, daß zur Lösung dieser Aufgabe bisher noch 
wenig getan sei, wird vielleicht angesichts der vielen Unter- 
suchungen über das Wesen der „Geisteswissenschaften^, die seit 
Mill unternommen sind, auf Widerspruch stoßen, und es soll 
auch gewiß nicht gesagt werden, daß alle diese Arbeiten wertlos 
sind. Nur der entscheidende Punkt, der ein wirklich logisches 
Verständnis der Geschichte ermöglicht, ist in den in anderer 
Hinsicht äußerst wertvollen Untersuchungen, wie z. B. Dilthey, 
Wundt, Münsterberg u. a. sie angestellt haben, entweder, wie bei 
Wundt und Münsterberg, überhaupt nicht getroffen, oder doch, 
wie bei Dilthey, wenigstens nicht so scharf herausgearbeitet und 
in den Mittelpunkt gestellt worden, daß er in einer Logik der 
Geschichte wirklich fruchtbar gemacht werden kann. Es kommt 
dies schon in der üblichen Terminologie, welche die Geistes- 
wissenschaften den Naturwissenschaften gegenüber- 
stellt, zum Ausdruck. Der Gegensatz von Natur und Geist ist 
heute nichts weniger als eindeutig. Die Denker, welche über 
das Wesen der Geisteswissenschaften geschrieben haben, bestimmen 
denn auch den grundlegenden Begriff des Geistes in sehr ver- 
schiedener Weise, und sie sind eigentlich nur darin einig, daß 
es überhaupt zwei verschiedene Gruppen von Erfahrungswissen- 
schaften gibt. Es ist auch nicht zu hoffen, daß man vom Begriff 
des Geistes aus zu einer Einigung über das Wesen des ge- 
schichtlichen Denkens kommen wird. Diese Versuche enthalten 
in den Grundlagen viel zu viele, meist metaphysische Voraus- 
setzungen, die dem geschichtsfremden Naturalismus nur Angriffs- 
punkte darbieten. Der einzige Begriff des Geistes, mit dem, man 
heute ohne nähere Begründung arbeiten darf, ist der des Psychi- 



60 Geschichtsphilosophie. 

sehen in seinem Gegensatz zn dem des Physischen, denn daß 
das, was wir Lnst oder Erinnerung oder Wille nennen, kein 
Körper ist, wird wohl von allen Denkern, die wissenschaftlich 
in Betracht kommen, zugestanden werden. Aber dieser einzige, 
ohne weiteres brauchbare Begriff des Geistes, ist zu einer Ab- 
grenzung der verschiedenen Wissenschaften und zum Verständnis 
des Wesens der Geschichte ganz ungeeignet. Der Naturalismus 
wird mit Becht behaupten, daß, wenn das Geistige in dem an- 
gegebenen Sinne auch gewiß nicht Körper sei, es doch durchaus 
zur Natur gehöre und daher in derselben Weise wissenschaftlich 
untersucht werden müsse, wie alle anderen Naturobjekte. Das 
sei nicht nur eine Theorie, sondern die Praxis der modernen 
Psychologie erhebe diese Gewißheit über den Kampf der metho- 
dologischen Ansichten. Solchen Behauptungen gegenüber sind 
dann die Vertreter eines Gegensatzes von Natur- und Geistes- 
wissenschaften so lange wehrlos, als sie ihren grundlegenden 
Begriff nicht in vollkommen einwandfreier Weise bestimmt haben, 
und das wird bei dem Begriff des Geistes mit logischen Mitteln 
entweder gar nicht, oder jedenfalls erst dann möglich sein, wenn 
vorher schon der logische Begriff der Geschichte gewonnen ist. 
Auf alle diese Streitfragen braucht die Methodenlehre sich 
zunächst gar nicht einzulassen, wenn sie ihr Augenmerk auf das 
allein richtet, was sie klarstellen will, nämlich auf die Methode. 
Diese besteht in den Formen, welche von der Wissenschaft 
bei der Bearbeitung ihres Stoffes benutzt werden. Daß die Me- 
thode vielfach dui*ch die Eigenart des Stoffes bedingt ist, soll 
damit nicht geleugnet werden. Es kann deshalb auch eine 
Untersuchung, welche auf die Verschiedenheit des Inhaltes der 
Einzelwissenschaften reflektiert, zu diesem oder jenem logisch 
wertvollen Resultate führen. Aber solche Erfolge werden sich 
dann mehr oder weniger zufallig einstellen, und eine Logik, die 
mit Sicherheit und auf dem kürzesten Wege ihr Ziel eneichen 
will, sieht daher von allen Unterschieden im Inhalte der Einzel- 
wissenschaften ab, um die formalen methodologischen Unter- 
schiede um so besser zu verstehen. Sie hat zunächst nur darauf 
zu reflektieren, daß in den Erfahrungswissenschaften überall ein 
erkennendes Subjekt Objekten gegenübersteht^ die es, mögen sie 
geistige oder körperliche, Naturvorgänge oder Kulturprodukte 
sein, als „gegeben" hinnimmt, und daß das Subjekt sich das 
Ziel setzt, diesen oder jenen Teil, oder auch das Ganze, der ge- 



GeschiehUpliiloiopliie. 61 

gebenen Welt zu erkennen. Man wird dann leicht konstatieren, 
daß die Erkenntnis nicht in einer Beproduktion oder in einem 
Abbilde, sondern in einer umbildenden Auffassung der Objekte 
besteht. Zum Beweise daf&r genügt, abgesehen von aUen an- 
deren Gründen, schon die einfache Überlegung, daß die gegebene 
Wirklichkeit, von der jede empirische Wissenschaft ausgeht, sich 
sowohl im ganzen als auch in allen ihren Teilen als eine schlecht- 
hin unübersehbare Mannigfaltigkeit darstellt, die niemand ab- 
zubilden vermag. Der Inhalt jedes Urteils, das etwas über die 
Wirklichkeit aussagt, ist im Vergleich zu ihr selbst notwendig 
eine große Vereinfachung. Die Wissenschaft; kann daher auch 
als eine Umsetzung des anschaulich gegebenen Materials in 
Denkgebilde betrachtet werden, für die man, zum Unterschiede 
Ton der Anschauung, am besten den Namen des Begriffes ge- 
braucht In diesem begrifflichen Umformungsprozeß steckt die 
Methode der Wissenschaft. Femer aber — und das ist die 
Hauptsache — müssen die Formen der wissenschaftlichen Arbeit, 
insofern sie Mittel zur Erreichung des wissenschaftlichen Zieles 
sind, in ihrer Eigenart abhängig sein von der formalen Eigen- 
art der Ziele, die das Subjekt beim Erkennen verfolgt. Die "^ 
Logik wird also nach den formal voneinander verschiedenen 
Aufgaben zu fragen haben, welche die verschiedenen Wissen- 
schaften sich setzen, und die wissenschaftlichen Methoden in 
ihrer Verschiedenheit als die notwendig verschiedenen Mittel 
zur Erreichung dieser verschiedenen Ziele oder als die notwendig 
verschiedenen Arten der Umformung und begrifflichen Bearbei- 
tung des anschaulich gegebenen Materials zu verstehen suchen. 
Selbstverständlich sind die hierbei sich ergebenden Unterschiede 
der Methoden, ebenso wie die der Ziele, rein formal, aber gerade 
wegen ihres rein formalen Charakters müssen sie als die grund- 
legenden, ausschlaggebenden Momente für das Erfassen des logi- 
schen Wesens einer wissenschaftlichen Methode gelten. Die 
Logik hat es immer nur mit den Formen des Denkens zu tun. 
Wenden wir uns von diesen allgemeinen Bestimmungen der 
Aufgabe einer Logik der Einzelwissenschaften zu den Grundbe- 
griffen, welche die Logik der Qeschichtswissenschaft im besonderen 
zu entwickeln hat, so wird es zunächst nötig sein, den größten 
formalen Gegensatz in unserer Auffassung der empirischen Wirk- 
lichkeit zum Bewußtsein zu bringen, zu fragen, was dieser Gegen- 
satz logisch bedeutet und dann anzugeben, welches Glied dieses 



62 Geflohichtsphiloaophie. 

Gegensatzes ffir die geschichtliche Darstellung der Wirklichkeit 
maßgebend ist Daß es zwei prinzipiell verschiedene Arten der 
Wirklichkeitsauffassung gibt, kann man sich vieUeicht am besten 
an den vorwissenschaftlichen Kenntnissen klar machen, die wir 
von einem größeren oder kleineren Teile der Welt besitzen. Es 
wäre eine Täuschung, wenn man glauben wollte, wir hätten 
darin ein Abbild der Wirklichkeit, wie sie ist Ehe die Wissen- 
schaft an ihre Arbeit geht, ist vielmehr überall bereits eine Be- 
griffsbüdung entstanden, und die Produkte dieser vor wissen- 
schaftlichen Begriffsbildung, nicht die auffassungsfreie 
Wirklichkeit, findet die Wissenschaft als Material vor. Der größte 
formale Unterschied in dieser vorwissenschaftlichen Begriffs-, 
bildung aber ist folgender. Weitaus die meisten Dinge und 
Vorgänge interessieren uns nur durch das, was sie mit anderen 
gemeinsam haben, und daher achten wir auch nur auf dies Ge- 
meinsame, obwohl tatsächlich jeder Teil der Wirklichkeit von 
jedem anderen individuell verschieden ist und nichts in der 
Welt sich genau wiederholt Weil die Individualität der meisten 
Objekte uns also ganz gleichgültig ist, so kennen wir ihre In- 
dividualität auch nicht, sondern diese Objekte sind für uns nichts 
anderes als Exemplare eines allgemeinen Gattungsbegriffes, die 
durch andere Exemplare desselben Begriffes ersetzt werden 
können, d. h. wir sehen sie, obwohl sie niemals gleich sind, als 
gleich an, und bezeichnen sie daher auch nur mit allgemeinen 
Gattungsnamen. Diese jedem bekannte Beschränkung des In- 
teresses auf das Allgemeine im Sinne des einer Gruppe von 
Gegenständen Gemeinsamen oder die generalisierende Auf- 
fassung, auf Grund deren wir mit Unrecht glauben, es gäbe 
so etwas wie Gleichheit und Wiederholung in der Welt, ist für 
uns zugleich von großem praktischem Werte. Sie gliedert die 
unübersehbare Mannigfaltigkeit und Buntheit der Wirklichkeit 
für uns in bestimmter Weise und macht es uns möglich, daß 
wir uns in ihr zurechtfinden. 

Andrerseits aber erschöpft die generalisierende Auffassung 
das, was uns an unserer Umgebung interessiert, und was wir 
daher auch von ihr kennen, keineswegs. Dieser oder jener 
Gegenstand kommt vielmehr gerade durch das für uns in Be- 
tracht, was ihm allein eigentümlich ist, und was ihn von allen 
anderen Objekten unterscheidet Unser Interesse und unsere 
Kenntnis bezieht sich dann also gerade auf seine Individualität, 



Ge8chicht8philos(^hie> 63 

auf das, was ihn unersetzlich macht, und wenn wir auch wissen, 
dafi er sich ebenso wie andere Objekte als Exemplar eines 
Gattungsbegriffes auffassen lä£t, so wollen wir ihn doch nicht 
als gleich mit anderen Dingen ansehen, sondern ihn ausdrücklich 
aus seiner Gruppe herausheben, was sprachlich darin seinen 
Ausdruck findet, daß wir ihn nicht mit einem Gattungsnamen, 
sondern mit einem Eigennamen bezeichnen. Auch diese Art der 
Gliederung oder die individualisierende Auffassung 
der Wirklichkeit ist jedem so geläufig, daß sie keiner weiteren 
Erörterung bedarf. Nur eins ist wichtig und muß hervorgehoben 
werden: auch die Kenntnis der Individualität eines Objektes ist 
nicht etwa ein Abbild in dem Sinne, daß wir die ganze Mannig- 
faltigkeit seines Inhaltes kennen, sondern auch dabei wird eine 
bestimmte Auswahl und Umbildung vollzogen, d. h. ein Komplex 
von Elementen herausgehoben, der in dieser besonderen Zu- 
sammenstellung dem einen bestimmten Objekt allein angehört 
Wir müssen deshalb die jedem beliebigen Ding oder Vorgang 
zukommende Individualität, deren Inhalt mit seiner Wirklichkeit 
zusammenfällt, und deren Kenntnis weder erreichbar noch er- 
strebenswert ist, von der aus ganz bestimmten Elementen be- 
stehenden, für uns bedeutungsvollen Individualität unterscheiden 
und uns klar machen, daß diese gewöhnlich allein gemeinte In- 
dividualität im engeren Sinne, ebenso wie der allgemeine Gattungs- 
begriff, nicht eine Wirklichkeit, sondern nur ein Produkt unserer 
Auffassung der Wirklichkeit, unserer vorwissenschaftlichen Be- 
griffsbildung ist. 

Der dargestellte Unterschied muß das Interesse der Logik 
in hohem Maße erregen. Zunächst knüpft ja nicht nur alle 
wissenschaftliche Arbeit an vorwissenschaftliche Prozesse und 
ihre Ergebnisse an, sondern sie läßt sich auch bis zu einem hohen 
Grade als planmäßige Ausgestaltung des unwillkürlich bereits 
Begonnenen verstehen. Femer aber ist der Unterschied be- 
sonders deswegen bedeutsam, weil er einmal rein formal ist, 
denn jedes beliebige Objekt kann generalisierend und individuali- 
sierend aufgefaßt werden, und weil er außerdem, als Gegensatz 
des Allgemeinen und Besonderen, den größten Unterschied dar- 
stellt, der in logischer Hinsicht gedacht werden kann. Sollte er 
also von Bedeutung für die Methoden der Einzelwissenschaften 
sein, so würde die Logik ihn zum Ausgangspunkte ihrer Unter- 
suchungen machen müssen. 



64 GeschielitspbiloMpliie. 

Was znnächst die generalisierende Betrachtang der Objekte 
betrifft, so ist nicht nur über ihre praktische, sondern anch über 
ihre theoretische Bedeutung für die Wissenschaft kein Zweifel. 
In einer Unterordnung des Besonderen unter das Allgemeine, 
die mit der Bildung allgeineiner Gattungsbegriffe und der Be- 
trachtung der Objekte als deren Exemplare zusammenfällt, be- 
steht die Methode vieler Wissenschaften. Erkennen heißt dann 
das Unbekannte in der Weise als Fall des Bekannten verstehen, 
daß das Individuelle, Einzigartige ausgeschieden und nur das 
Gemeinsame in die Wissenschaft aufgenommen wird. Das höchste 
Ziel dieser Erkenntnis ist, die zu erkennende Wirklichkeit so 
unter allgemeine Begriffe zu bringen, daß diese sich durch die 
Verhältnisse der Unter- und Überordnung zu einem einheitlichen 
System zusammenschließen, und man wird dabei, wo es angeht, 
nach solchen Begriffen streben, deren Inhalt unbedingt all- 
gemein für die zu untersuchenden Objekte gilt. Wo diese Er- 
kenntnis gelungen ist, da hat man das erfaßt, was man die 
Gesetze der Wirklichkeit nennt. Es ist femer auch ein durch- 
aus berechtigter Versuch, diese Methode des Begreifens auf allen 
Gebieten der Wirklichkeit anzuwenden und daher überall, sei es 
im Geistigen oder Eöi*perlichen, in den Naturvorgängen oder im 
Kulturleben, nach Gesetzen zu suchen. Das mag freilich auf dem 
einen Gebiete schwieriger sein, als auf dem anderen, ja vielleicht 
sind hier und da die unbedingt allgemeinen BegrUfe für den 
Menschen unerkennbar, aber die generalisierende Betrachtung 
ist nirgends im Prinzip ausgeschlossen, und daraus scheint sich 
«ine grundlegende methodologische Folgerung zu ergeben. Man 
kann nämlich schließen, es falle das wissenschaftliche Denken 
überhaupt mit dem Bilden allgemeiner Begriffe zusammen, und 
«s gebe .daher unter rein formalen Gesichtspunkten nur eine 
wissenschaftliche Methode. Der Gegensatz eines generalisieren- 
den und eines individualisierenden Auffassens würde danach nur 
insofern Bedeutung für die Logik besitzen, als die Wissenschaft 
überall das Individuelle durch allgemeine Begriffe beseitigt, und 
gerade weil in unserer Erörterung auf die Eigentümlichkeiten 
des Materials der verschiedenen Wissenschaften keine Rücksicht 
genommen ist, scheint durch sie die übliche Einteilung in Natur- 
und Geisteswissenschaften, jedenfalls in ihrer formal methodo- 
logischen Bedeutung, hinfällig zu werden. Das geistige Leben 
ist vielmehr ebenso generalisierend zu behandeln wie die Körper- 



Geschichtsphilosoplue. 66 

weit, und deshalb mnß natürlich auch die Geschichtswissen- 
schaft die generalisierende Methode anwenden. 

In der Tat sind dies die besten Gründe, auf welche man 
die Proklamier ung einer üniversalmethode stützen kann, 
denn es sind rein formale Gründe, und, insofern die generali- 
sierende Auffassung in den Naturwissenschaften ihre höchsten 
Triumphe feiert, haben wir hier zugleich die beste Grundlage 
für den methodologischen Naturalismus. Eine Logik aber, welche 
die wirklich vorhandenen Wissenschaften verstehen will, wird 
sich hiermit doch nicht begnügen. Sie wird aus dem richtigen 
Satz, daß alle Wirklichkeit einer generalisierenden Betrachtung 
unterzogen werden kann, nicht schließen, daß die Bildung von 
allgemeinen Begriffei^ mit dem wissenschaftlichen Verfahren 
überhaupt identisch sei Sie wird vielmehr fragen, ob faktisch 
alle Wissenschaften dieses Verfahren anwenden, und sie muß 
diese Frage bei einem Blick auf die wissenschaftliche Arbeit, 
die in den Werken aller Historiker als Tatsache vorliegt, ver- 
neinen. Diese Tatsache ist so evident, daß denn auch die An- 
hänger der generalisierenden Universalmethode oder des methodo- 
logischen Naturalismus sie nicht leugnen können. Sie suchen 
sich dadurch zu helfen, daß sie sagen, die Geschichtswissenschaft 
sei heute noch unvollkommen und passe deswegen nicht in das 
angedeutete System, aber je weiter sie fortschreite, um so 
mehr werde auch sie sich der einzig wissenschaftlichen, der 
generalisierenden Methode bedienen. Diese Ansicht jedoch ist 
unhaltbar, und zwar nicht etwa, wie immer aufs schärfste her- 
vorgehoben werden muß, deswegen, weil die Wirklichkeit, welche 
die Geschichte behandelt, nicht unter aUgemeine Begriffe ge- 
bracht werden kann, denn dies ist eine für die formal ver- 
fahrende Logik unbeweisbare Behauptung, sondern einfach des- 
wegen, weil es zum Wesen der Geschichtswissenschaft gehört, 
daß sie, sobald sie sich selbst versteht, eine Bearbeitung der 
Wirklichkeit mit Bücksicht auf das den Objekten Gemeinsame 
nicht vollziehen will, und deswegen nicht vollziehen will, weil 
auf diesem Wege die Ziele, die sie als Geschichte sich setzt, 
niemals zu erreichen sind. 

Denn welches sind diese Ziele ihrem rein formalen Charakter 
nach? Unter allen Umständen gilt es, den geschichtlichen 
Gegenstand, sei er eine Persönlichkeit, ein Volk, ein Zeitalter, eine 
wirtschaftliche oder eine politische, eine religiöse oder eine künst- 

Windelband.Die Philosophie im Beginn des SO. Jshrh. II. Bd. 5 

^f rui ^ 



66 Geschichtsphilosophie. 

lerische Bewegung, wenn er als Ganzes dargestellt werden soll, 
in seiner Einmaligkeit und nie wiederkehrenden Individualität 
zu erfassen und ihn so, wie er durch keine andere Wirklichkeit 
ersetzt werden kann, in die Darstellung aufzunehmen. Deshalb 
kann die Geschichte, soweit ihr letztes Ziel, die Darstellung 
ihres Objektes in seiner Totalität^ in Betracht kommt, sich des 
generalisierenden Verfahrens nicht bedienen, denn dieses fällt ja 
mit einer Ausscheidung des Individuellen zusammen und fährt 
also zum logischen Gegenteil von dem, was die Geschichte an- 
strebt. Es ist dabei wiederum zunächst noch ganz gleichgültig, 
ob das historische Objekt körperlich oder geistig, Eulturprodukt 
oder Naturvorgang ist, sondern nur darauf kommt es an, daß, wo 
überhaupt ein geschichtliches Interesse^ an irgend einer Wirk- 
lichkeit vorhanden ist, eine Darstellung mit individuellem 
Inhalt angestrebt wird, da diese allein sich zur Lösung einer 
y geschichtswissenschaftlichen Aufgabe eignet. Das soll nicht 
heißen, daß die Geschichte ein Abbild der Individualität ihres 
Objektes zu geben versucht, denn dies könnte sie ebensowenig 
erreichen, wie wir in den vorwissenschaftlichen Kenntnissen Ab- 
bilder der mit Eigennamen bezeichneten Objekte besitzen. Es 
soU auch nicht heißen, daß sie ihren Gegenstand in allen seinen 
Teilen individualisierend darstellt, sondern nur die Indivi- 
dualität des Ganzen kommt zunächst in Betracht, und diese fällt, 
wenn wir von dem Gedanken eines Abbildes absehen, durchaus 
nicht mit der Summe der Individualitäten seiner Teile zusammen. 
Es soll endlich auch nicht geleugnet werden, daß die Geschichte 
auf dem Wege zu ihrem Ziel allgemeine Begriffe braucht und 
generalisierend verfährt, ebenso wie umgekehrt in den generali- 
sierenden Wissenschaften die Darstellung des Individuellen als 
Ausgangspunkt für die Bildung allgemeiner Begriffe nicht ent- 
behrt werden kann. Vorläufig soll vielmehr nur der logische 
Charakter des letzten Zieles jeder historischen Darstellung und 
die diesem Ziel notwendig entsprechende logische Struktur des 
Ergebnisses zum Bewußtsein gebracht werden. 

Sucht man dafür nach Beispielen, so ist es natürlich auch 
ganz gleichgültig, welcher „Richtung" das geschichtliche Werk 
angehört, das man ins Auge faßt Nehmen wir Bankes Welt- 
geschichte oder Taines Origines de la France contemporaine, 
Treischkes Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert 
oder Buckles Geschichte der Zivilisation in England, Sybels 



Geschichtsphilosophie. 67 

Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I. oder Bnrck- 
hardts Kultur der Benaissance in Italien, Max Lehmanns 
Schamhorst oder Karl Lamprechts Deutsche Geschichte, so finden 
wir ttberall, wie dies den Titeln der Werke, die das historische 
Ganze bezeichnen, entspricht, eine Reihe von Ereignissen so be- 
handelt, wie sie nur einmal in der Welt vorgekommen sind, und, 
welche Formung ihnen der Historiker auch gegeben haben mag, 
stets sind sie in ihrer Besonderheit und Individualität in die 
Darstellung aufgenommen. Oder enthält etwa Lamprechts 
Deutsche Geschichte, deren Verfasser glaubt, nach einer neuen 
Methode zu arbeiten, als wesentlichen Bestandteil nur das, was 
an anderen Exemplaren des allgemeinen Gattungsbegriffes einer 
Nation, also an der Entwicklung des französischen, des eng- 
lischen, des russischen Volkes ebenfalls zu finden ist, und was 
beliebig oft zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten 
sich wiederholt hat und sich wiederholen wird? Man braucht 
nur diese Frage zu stellen, um einzusehen, daß auch ein Histo- 
riker, der in der Theorie die „individualistische" Auffassung 
verwirft, in der Praxis sein Objekt stets individualisierend be- 
handelt. Dies Verfahren aber, das zum Wesen jeder geschicht- 
lichen Darstellung gehört, ist bei keinem Werke der nicht ge- 
schichtlichen Wissenschaften, mögen sie sich mit Körpern oder mit 
geistigem Leben beschäftigen, angewendet. Helmholtz' Lehre 
von den Tonempfindungen oder Weismanns Keimplasma, Lotzes 
medizinische Psychologie, oder von Baers Entwicklungsgeschichte 
der Tiere, Maxwells Traktat fiber Elektrizität und Magnetismus 
oder Tönnies' Gemeinschaft und Gesellschaft, alle diese Werke 
berücksichtigen an ihren Objekten in der endgültigen Dar- 
stellung, wie das ebenfalls schon die Titel zeigen, nur das, was 
es gestattet, sie mit anderen Exemplaren desselben Gattungs- 
begriffes als gleich anzusehen, und wovon man daher sagen 
kann, da£ es sich beliebig oft wiederholt. Daß es nicht nur 
generalisierende Geisteswissenschaften, sondern auch individua- 
lisierende Körperwissenschaften gibt, hat in diesem Zusammen- 
hange keine Bedeutung. Uns beschäftigt hier nicht der Unter- 
schied von Geist und Körper, sondern nur der formale Unter- 
schied der wissenschaftlichen Ziele und Methoden, und den 
Unterschied, den wir aufgezeigt haben, zu leugnen, wird auch 
den Fanatikern einer Universalmethode schwer werden. Es ist 
fast unbegreiflich, daß man hier überhaupt noch streitet. 

6* 



68 Geschichtsphiloaopliie. 

Wir stellen also als den Ausgangspunkt einer Logik der 
Geschichte fest: es gibt nicht nur in unseren vorwissenschaftlichen 
Kenntnissen zwei prinzipiell verschiedene Wirklichkeitsaufifas- 
sungen, die generalisierende und individualisierende, sondern es 
entsprechen ihnen auch zwei in ihren letzten Zielen und ebenso 
in ihren letzten Ergebnissen verschiedene Arten der wissenschaft- 
lichen Bearbeitung der Wirklichkeit Selbstverständlich sollen 
damit nicht zwei Gruppen von Wissenschaften so voneinander 
getrennt werden, da£ dadurch zugleich das Prinzip fttr die Tei- 
lung der wissenschaftlichen Arbeit angegeben wird. Logische 
Einteilung ist nicht wirkliche Teilung, und zur wirklichen 
Teilung soll und kann der formale Gegensatz nicht dienen, weil 
diese nicht an logische, sondern an sachliche Verschiedenheiten des 
Materials anknüpft. Es ist deswegen völlig verfehlt, den logischen 
Wert des Gegensatzes damit zu bekämpfen, das man sagt, er 
zerreiße die wissenschaftliche Arbeit in einer den Tatsachen 
widersprechenden Weise und wolle trennen, was doch faktisch 
überall zusammenwirke. Nur um das begriffliche Auseinander- 
halten zweier verschiedener Auffassungstendenzen in den Wissen- 
schaften handelt es sich, die faktisch sehr oft, ja vielleicht 
überall zusammenwirken mögen, und diese begriffliche Aus- 
einanderhaltung wäre sogar dann notwendig, wenn nicht einmal 
mit Rücksicht auf ihre letzten Ziele zwei Arten von Wissen- 
schaften dadurch voneinander geschieden werden könnten. 

Sucht man das Wesen des individualisierenden Verfahrens 
nun genauer zu bestimmen, so ist zunächst hervorzuheben, daß 
die Methode der Wissenschaft nicht etwa mit jener individuali- 
sierenden Wirklichkeitsaufifassung zusammenfällt, die wir in 
unseren voi-wissenschaftlichen Kenntnissen besitzen. Auch bei der 
generalisierenden Auffassung sprechen wir erst dort von Methode, 
wo die Begriffsbildung systematisch vollzogen wird. Was entspricht 
in der Geschichte jenem systematischen Zusammenhang von mehr 
oder minder allgemeinen Begriffen? In der Aufzeigung dieser 
die Wissenschaftlichkeit der individualisierenden Methode aus- 
machenden Bestandteile wird, nachdem der Ausgangspunkt ge- 
funden ist, die Logik der Geschichte ihre weitere Aufgabe sehen 
müssen. Hier kann es sich natürlich nur um das Hervorheben 
einiger Punkte handeln, die in neuerer Zeit zu Streitfragen 
Veranlassung gegeben haben, und die besonders geeignet sind, 
den Unterschied des individualisierenden Verfahrens vom genera- 



GeschichtsphiloBophie. 69 

lisierenden deatlich zu machen. Wir beginnen mit einer weiteren 
Erörterung des Begriffs ^ den wir gleich am Anfang in den 
Vordergrund gestellt hatten, des Begriffes vom historischen 
Ganzen. 

Das vorwissenschaftliche Individualisieren hebt oft die Ob- 
jekte so aus ihrer Umgebung heraus, da£ es sie dadurch gegen- 
einander abschließt und insofern vereinzelt Das Vereinzelte 
ist als solches jedoch nicht Gegenstand des wissenschaftlichen 
Interesses, und nichts ist verkehrter, als die individualisierende , 
Methode mit dem bloßen Zusammenstellen vereinzelter Tatsachen 
zu identifizieren, wie dies von. ihren Gegnern getan wird. Alles 
soll vielmehr von der Geschichte, wie von den generalisierenden 
Wissenschaften, in einem Zusammenhang begriffen werden. 
Worin aber besteht der historische Zusammenhang? Er er- 
streckt sich von jedem geschichtlichen Objekte aus gewisser- 
maßen nach zwei Dimensionen, die man als Breiten- und Längen- 
dimension bezeichnen könnte, d. h. es gilt erstens, die Be- 
ziehungen festzustellen, welche das Objekt mit seiner Umwelt 
verbinden, und zweitens, die verschiedenen Stadien, die es von 
seinem Anfang bis zu seinem Ende durchläuft, in ihrer Verbin- 
dung miteinander zu verfolgen, oder, wie man zu sagen pflegt: 
seine Entwicklung kennen zu lernen. Nun ist freilich ein 
so dargestelltes Objekt selbst wiederum ein Teil einer größeren 
Umwelt und einer weiter reichenden Entwicklung, und von 
diesem umfassenderen Zusammenhange gilt wiederum dasselbe, 
so daß eine Beihe in beiden Dimensionen entsteht, die bis an 
die Grenzen des letzten historischen Ganzen fuhrt. Wo diese 
Grenze liegt, läßt sich mit den bisher gewonnenen Begriffen 
noch nicht klar machen. In einer historischen Spezialunter- 
suchung hängt es von der Wahl des Themas ab, wo die Ver- 
folgung des historischen Zusammenhanges aufhört. Hier kommt es 
vorläufig nur darauf an, den Begriff eines historischen Zusammen- 
hanges überhaupt als den einer in Verbindung mit ihrer Um- 
gebung aufgefaßten Entwicklungsreihe von verschiedenen unter- 
einander verbundenen Stadien zu fixieren. 

Es ist dies um so notwendiger, als sich hieran weit ver- 
breitete Irrtümer über das Wesen der historischen Methode ge- 
knüpft haben. Den Zusammenhang kann man im Gegensatz zu 
den einzelnen Objekten das Allgemeine der Geschichte nennen, 
und daraus ist dann die Ansicht entstanden, daß auch die Ge- 



70 Oeschichtsphilosophie. 

schichtswissenschaft generalisierend verfahre. Die Einordnung 
eines Objektes in seine Umwelt ist jedoch, so wie der Historiker 
sie vornimmt, ein dem Verfahren der generalisierenden Wissen- 
schaften fremder Vorgang. Das „milieu'' ist stets individuell 
und kommt für den Historiker in seiner Individualität in Be- 
tracht. Allgemein ist es nur in dem Sinne, daß die ihm ein- 
geordneten einzelnen Individuen seine Teile sind. Daß aber das 
Verhältnis des Teiles zum Ganzen nicht dasselbe ist, wie das 
des Exemplars zu seinem fibergeordneten Gattungsbegriff, sollte 
keiner Erörterung bedürfen. Gerade weil die Geschichte das 
Einzelne stets im Allgemeinen, d. h. als Glied eines Ganzen zu 
betrachten hat, muß sie mit Rücksicht auf ihre letzten Ziele zu 
den individualisierenden Wissenschaften gerechnet werden, und 
genau dasselbe Resultat ergibt sich bei einer Betrachtung der 
historischen Entwicklung. Auch sie ist allgemein nur in dem 
Sinne, daß sie das ihre Teile umfassende Ganze bildet. Sie be- 
deutet in der Geschichte stets das Entstehen von etwas Neuem, 
bisher noch nicht Dagewesenem, und weil in Geselzesbegriffe 
nur das eingeht, was so angesehen werden kann, als ob es sich 
beliebig oft wiederholt, so schließen die Begriffe der historischen 
Entwicklung und des Gesetzes einander geradezu aus. Nur die 
Vieldeutigkeit des Wortes Entwicklung ermöglicht es, entwick- 
lungsgeschichtliches mit gesetzeswissenschaftlichem Verfahren 
zu vereinigen und von „Entwicklungsgesetzen" zu reden, nämlich 
dort, wo man, wie z. B. in der „entwicklungsgeschichtlichen" 
Embryologie, Entwicklungsreihen auf das hin ansieht, was sie 
miteinander gemeinsam haben, und wo also das geschichtliche 
Werden des Neuen in seiner Eigenart grade nicht in Betracht 
kommen soll. Kurz, historische Entwicklungen sind nichts 
anderes als historische Individualitäten in ihrem Werden und 
Wachsen aufgefaßt, und ihre Darstellung ist daher, wie die des 
Zusammenhanges mit der historischen Umwelt, nur mit einer in- 
dividualisierenden Methode möglich. Ja, der „allgemeine" histo- 
rische Zusammenhang ist gar nichts anderes als das historische 
Ganze selbst, nicht etwa ein System von allgemeinen Begriffen, 
und gerade dieses Ganze kommt für die Geschichte immer in 
seiner Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität in Betracht. 
Fragen wir sodann auch nach der Rolle, welche die allge- 
meinen Begriffe in der Geschichtswissenschaft spielen, so stoßen 
wir zunächst darauf, daß alle Elemente der historischen Ur- 



Geschichtsphilosophie. 71 

teile and Begriffe allgemein sind. Sie müssen es schon deswegen 
sein, weil man sie ja stets mit allgemein verständlichen Worten 
bezeichnet, nnd weil die Worte ihre Verständlichkeit nor dem 
Umstände verdanken, daß sie eine allgemeine,, d. h. fSr mehrere 
Objekte gemeinsame Bedeutung haben. Stets also wird die Gfe- 
schichte mit allgemeinen Begriffen von Wirklichkeiten als den 
letzten Elementen ihrer individuellen Begriffe arbeiten und nur 
durch eine bestimmte Kombination dieser allgemeinen Elemente 
ihre individualisierende Darstellung zustande bringen. Aber da- 
mit ist die Bedeutung der Allgemeinbegriffe in der Geschichte 
noch nicht erschöpft. Sie sind vielmehr gerade auch für die 
Herstellung des historischen Zusammenhanges unentbehrlich. 
Die Verknüpfung der verschiedenen Stadien einer historischen 
Entwicklungsreihe miteinander oder eines geschichtlichen Ob- 
jektes mit seiner Umwelt ist stets eine kausale, und die Ge- 
schichtswissenschaft hat diese Verhältnisse von Ursache und 
Wirkung darzustellen, um die Verbindung der Teile mit dem 
Ganzen zum Ausdruck zu bringen. Nicht selten freilich wird 
behauptet, die Objekte der historischen Untersuchung, oder ein 
Teil von ihnen, seien „freie'' Wesen, und deshalb habe der His- 
toriker nicht nach den kausalen Zusammenhängen zu fragen. 
Doch auch wenn wir davon absehen, ob der Begriff der Freiheit 
überhaupt mit dem der Ursachlosigkeit gleichzusetzen ist, und 
ob das Freiheitsproblem nicht aus der theoretischen Philosophie 
in die Ethik verwiesen werden sollte, so hat der Begriff der 
Ursachlosigkeit jedenfalls für eine empirische Wissenschaft 
keinen Sinn. Auch die Geschichte muß voraussetzen, daß jedes 
ihrer Objekte die notwendige Wirkung vorangegangener Ereig- 
nisse ist, und sie hat daher auch nach dem kausalen Zusammen- 
hange zu forschen. 

Wir stoßen damit wiederum auf einen Punkt, der zu vielen 
Streitfragen führen kann. Man hat nämlich eine „kausale Me- 
thode" der Geschichte proklamiert^ die der Methode der gene- 
ralisierenden Gesetzeswissenschaften gleichen soll. Dies kann 
man jedoch nur dort für richtig halten, wo man den Begriff der 
Kausalität mit dem der Gesetzmäßigkeit identifiziert. Freilich, 
wenn man dies tut, dann ist jede Wissenschaft, die nach kau- 
salen Zusammenhängen feilscht, also auch die Gesctiichte, eine 
Gesetzeswissenschaft, aber zu dieser Identifizierung besteht kein 
Becht. Kausalverbindungen müssen vielmehr, wenn sie über- 



72 Geschichtsphflosophie. 

haupt empirische Realität besitzen sollen, individuelle Wirklich- 
keiten sein, denn andere als individuelle empirische Wirklich- 
keiten gibt es nicht Gesetze dagegen sind immer allgemein 
und können daher, wenn sie mehr als Begriffe sein sollen, nur 
als metaphysische Eealitäten gelten. Von metaphysischen Vor- 
aussetzungen aber hat sich die Methodenlehre frei zu halten, 
und deshalb darf sie nur von individuellen Eausalverbindungen 
als empirischen Wirklichkeiten und von Gesetzen als allgemeinen 
Begriffen sprechen. Der Ausdruck „kausale Methode", der heute 
besonders als Gegensatz zum „teleologischen" Verfahren gebraucht 
wird, ist daher ein nichtssagendes Schlagwort, gerade weil jede 
empirische Wissenschaft es mit Kausalzusammenhängen zu tun 
hat, und weil Kausalzusammenhänge als solche noch indifferent 
gegenüber den Unterschieden der Methoden sind, d. h. wie jede 
andere* empirische und individuelle Wirklichkeit sowohl eine 
generalisierende, als auch eine individualisierende Auffassung 
gestatten. 

Aber, und damit kommen wir auf die Bedeutung der allge- 
meinen Begriffe zurück, wenn auch jeder historische Kausal- 
zusammenhang zwischen zwei Stadien einer geschichtlichen Ent- 
wicklungsreihe ein Vorgang ist, bei dem durch die Ursache 
etwas bewirkt wird, was noch niemals da war, so ist doch die 
Darstellung solcher historischer Kausalverknüpfungen nicht allein, 
wie jede Darstellung des Individuellen, nur mit Begriffselementen 
möglich, die jedes Ar sich einen allgemeinen Inhalt haben, und 
die erst in ihrer besonderen Zusammenstellung die Individualität 
der Wirklichkeit zum Ausdruck bringen, sondern es kommt bei 
der Darstellung individueller Kausalverbindungen etwas hinzu, 
was in der Tat den Gebrauch allgemeiner Begriffe noch in einem 
besonderen Sinne fordert. Der Historiker will nämlich nicht 
nur die zeitliche Folge von Ursache und Wirkung angeben, 
sondern auch einen Einblick in die Notwendigkeit gewinnen, 
mit der aus dieser individuellen, nie wiederkehrenden Ursache 
diese individuelle, nie wiederkehrende Wirkung hervorgeht, 
und dabei ist ein Umweg über allgemeine Begiiffe von Kausal- 
verhältnissen und eventuell Kausalgesetzen nicht zu vermeiden. 
Wir haben, so wenig die Kausalverbindung als empirische 
Wirklichkeit allgemein genannt werden darf, zum wissenschaft- 
lichen Ausdruck ihrer Notwendigkeit nur das räumliche und 
zeitliche „Schema" des überall und immer, und dadurch ver- 



Geschichtsphilosophie. 73 

knüpft sich mit der wissenschaftlichen Darstellung auch der 
individuellen kausalen Notwendigkeit stets die Bildung eines 
allgemeinen Begriffs oder, wo dies erreichbar ist, eines allge- 
meinen Kausalgesetzes, ein Umstand der zugleich die übliche 
Verwechslung von Gesetz und Kausalität erklären kann. Dies 
zwingt auch die Geschichte, wenn sie zwischen einer individuellen 
Ursache und ihrer individuellen Wirkung eine Brücke so schlagen 
will, daß sich der Kausalzusammenhang als notwendig begreifen 
läßt, allgemeine Begriffe von Kausalverbindungen zu gebrauchen. 
Sie erreicht ihr Ziel dadurch, daß sie den Begriff des individuellen 
Objektes, das als notwendiger Effekt begriffen werden soll, in seine 
stets allgemeinen Elemente zerlegt, diese Elemente dann mit 
ebenfalls allgemeinen Elementen des Begriffes der individuellen Ur- 
sache verbindet, so daß jede dieser Verbindungen von allgemeinen 
Begriffselementen den notwendigen kausalen Zusammenhang der 
unter sie fallenden Wirklichkeiten zum Ausdruck bringt. Ist 
dies geschehen, so schließt die Geschichte die für sich betrachtet 
allgemeinen Elemente des Begriffs der Ursache zu einem die 
Individualität dieser Ursache darstellenden Begriff wieder zu- 
sammen und hat dann auf dem Umwege über die allgemeinen 
Kausalbegriffe eine wissenschaftliche Einsicht in die notwendige 
Verbindung der individuellen historischen Ursache mit der indi- 
viduellen historischen Wirkung gewonnen. Selbstverständlich 
ist hiermit nur ein logisches Ideal aufgestellt, dessen Verwirk- 
lichung überall dort nur teilweise sich erreichen läßt, wo es 
nicht gelingt, alle Elemente des Effektbegriffes Elementen von 
Ursachbegriffen kausal zuzuordnen, und deswegen wird ein kausal 
unableitbarer Rest aus den historischen Darstellungen wohl nur 
selten verschwinden. In solchen Fällen spricht man dann auch 
von Freiheit, weil die Einsicht in die kausale Notwendigkeit 
fehlt Welche Mittel die Geschichte besitzt, um die Notwendig- 
keit einer historischen Kausalverknüpfung möglichst vollständig 
zu begreifen, und in welches Verhältnis sie dabei zu den 
generalisierenden Wissenschaften tritt, soll hier nicht näher er- 
örtert werden. Es ist schon jetzt klar, daß auch für den Histo- 
riker die Kenntnis von Kausalgesetzen Bedeutung gewinnen 
muß, ein Umstand, der es erklärt, daß man die Geschichte 
selbst zu einer Gesetzeswissenschaft machen möchte. Es ist 
aber ebenso klar, daß durch diese Bedeutung der Gesetzes- 
begriffe an den Zielen der Geschichte nichts geändert wird 



74 Geschichtsphilosophie. 

Die Produkte des generalisierenden Denkens sind für sie eben 
immer nur Umwege oder Mittel und dienen, ebenso wie die 
allgemeinen Elemente der historischen Begriffe überhaupt, einer 
Darstellung, die das historische Ganze individualisierend auf- 
fassen will. 

Doch auch mit einer Darlegung aller der Fälle, in denen 
das generalisierende Verfahren nur Mittel einer individualisieren- 
den Darstellung ist, würde die Bedeutung, welche die allge- 
meinen Begriffe in der Geschichte haben, noch nicht erschöpft 
sein. Nur das historische Ganze kommt stets mit Rücksicht auf 
seine Einmaligkeit und Individualität in Betracht, nicht aber 
auch alle seine Teile. Viele von ihnen werden durch die Ge- 
schichte überhaupt nicht dargestellt, wenn sie nämlich für die 
Individualität des Ganzen keine Bedeutung haben, und auch die 
Mehrzahl der dargestellten Teile wird unter allgemeine Gruppen- 
begriffe zusammengefaßt. Ja, man kann behaupten, daß Begriffe 
von Teilobjekten, die nur Einmaliges und Individuelles enthalten, 
in einer historischen Darstellung gar nicht vorzukommen 
brauchen, und daß also lediglich Gruppenbegriffe in ihr gebildet 
werden, die das einer Mehrheit von Objekten Gemeinsame ent- 
halten. Solche Gruppenbegriffe müssen dort entstehen, wo der 
Historiker von den Ereignissen, die er darstellt, nicht genug 
weiß, um bis zu ihrer Individualität vorzudringen, und er sich 
daher mit einem allgemeinen Begriff zu begnügen genötigt ist. 
In sehr vielen und eventuell auch in allen Fällen aber will der 
Historiker in der Tat nur einen Gruppenbegriff bilden, und dann 
scheint er auch mit Rücksicht auf sein Ziel generalisierend zu 
verfahren. Im Anschluß hieran läßt sich wieder eine ^del- 
behandelte Streitfrage verstehen. Man hat nämlich gemeint, es 
sei zwar richtig, daß die „alte Richtung" in der Geschichts- 
schreibung „individualistisch" sei, aber nur deswegen, weil sie 
zu viel Wert auf die politischen oder anderen Ereignisse und 
damit auf einzelne Personen lege. Die „neue" Richtung müsse, 
um nicht an der Oberfläche zu bleiben, sich weniger mit den 
politischen Aktionen einzelner Persönlichkeiten als vielmehr mit 
den Massenbewegungen beschäftigen und dadurch zum eigent- 
lichen Wesen der Kulturentwicklung vordringen. Deshalb stellt 
man der alten ;,individualistischen" Methode eine neue „kollek- 
tivistische" Methode entgegen und preist diese, eben weil sie 
nur allgemeine Begriffe bildet, als die einzig wissenschaftliche, 



Geschichtsphilosophie. 75 

in den Naturwissenschaften auch längst angewendete, neue 
Methode der Geschichte. 

Nehmen wir, um die logische Bedeutung dieser Ansicht zu 
verstehen, einmal an, es sei richtig, daß der Historiker mit 
Gruppenbegriffen allein auskomme, denn logisch widersinnig 
wie die Behauptung, daß die Geschichte ein System allgemeiner 
Begriffe zu bilden habe, ist dieser Satz ja nicht, und denken 
wir uns z. B. eine Darstellung der französischen Bevolution, die 
nur Massenbewegungen berflcksichtigt, weil das, was die einzelnen 
Personen dabei getan haben, als unwesentlich erscheint. Würde 
man dann auch sagen können, daß die Geschichte nun wirklich 
nach der neuen Methode nicht nur kollektivistisch, sondern auch 
generalisierend verfahre, wie eine Naturwissenschaft? So selbst- 
verständlich diese Meinung den Vertretern der neuen Methode 
erscheint, so falsch ist sie, denn — dieser Grund ist immer 
wieder maßgebend — es sind ja eben nur die Teile des 
Ganzen, die sich unter allgemeine Begriffe bringen lassen. Das 
Ganze selbst kommt auch für eine kollektivistisch verfahrende 
Geschichte stets in seiner Individualität in Betracht, und auch 
die allgemeinen Gruppenbegriffe müssen daher so gebildet sein, 
daß sie sich zur Darstellung der Individualität des Ganzen eignen. 
Von generalisierender Methode dürfte man nur dann sprechen, 
wenn mit den Gruppenbegriffen irgend eine beliebige Revolution, 
und nicht, wie wir voraussetzten und, solange die Darstellung 
Geschichte ist, voraussetzen müssen, vielmehr diese eine be- 
stimmte französische Revolution dargestellt werden soll, die im 
Jahre 1789 begann usw. Die Gegenüberstellung einer „indivi- 
dualistischen" und einer „kollektivistischen" Methode ist daher 
irreführend. Mehr oder weniger kollektivistisch verfahren alle 
Historiker und haben es immer getan. Der Umstand, daß heute 
Mancher möglichst viel mit allgemeinen Schlagwörtern von Zeit- 
altern und Massenbewegungen arbeitet, nur noch von sozial- 
psychischen Faktoren redet und alle „Individualpsychologie", 
(die übrigens mit der „individualistischen" Geschichtsauffassung 
nur von Dilettanten in Verbindung gebracht werden kann) für 
unbrauchbar erklärt, um sich und anderen vorzumachen, als ver- 
fahre er naturwissenschaftlich, gestaltet daher vielleicht die 
Gteschichte verschwommen und unbestimmt oder führt wegen 
Vernachlässigung der wesentlichen Persönlichkeiten zu direkter 
Verfälschung der Tatsachen, kann aber an dem individualisieren- 



y 



76 Geschichtsphilosophie. 

den Charakter der historischen Methode nicht das Geringste 
ändern. Ja, wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Anch 
die allgemeinen Grnppenbegriflfe der Geschichte sind, obwohl sie 
nnr das einer Mehrheit von Objekten Gemeinsame enthalten, 
doch nicht Allgemeinbegriffe in dem Sinne, wie eine systematisch 
verfahrende, generalisierende Wissenschaft sie bildet. Nnr dann 
nämlich kann sich der Historiker mit einem Gmppenbegriff be- 
gnügen, wenn darin zugleich schon die im historischen Zu- 
sammenhange für ihn bedeutsame Individualität aller Glieder 
dieser Gruppe enthalten ist. Das Ziel also, mit Bücksicht auf 
welches die historischen Gruppenbegriffe gebildet sind, ist nicht 
eine Verallgemeinerung von der Art, wie die generalisierenden 
Wissenschaften sie vollziehen, sondern Darstellung der Gruppen- 
individualität. Auch diese allgemeinen Begriffe sind stets Pro- 
dukte eines individualisierenden Verfahrens insofern, als das 
Prinzip, welches ihre Bestandteile bestimmt, sich nur aus den 
Zielen der individualisierenden Geschichte verstehen läßt. Man 
wird sie daher auch als individualisierende Kollektivbegriffe be- 
zeichnen können, um sie sowohl von den in den generalisierenden 
Wissenschaften angestrebten Kollektivbegriffen als auch von 
den in der Geschichte als Mittel verwendeten Allgemeinbegriffen 
zu unterscheiden. 

Doch diese Unterscheidung klingt vielleicht so lange etwas 
spitzfindig, als nicht noch eine andere Seite der historischen 
Methode erörtert worden ist. Es gilt nämlich, die Aufmerksam- 
keit jetzt auf den bereits erwähnten Umstand zu lenken, daß 
die individualisierende Auffassung nicht die ganze individuelle 
Mannigfaltigkeit einer Wirklichkeit berücksichtigt, sondern 
eine umbildende Auswahl trifft. In der Geschichtswissenschaft 
muß dieser Auswahl und Umbildung ein Prinzip zugrunde liegen, 
und erst dessen ausdrückliche Klarstellung wird die Einsicht in 
das logische Wesen der geschichtlichen Methode vollenden. 

Reflektieren wir zur Gewinnung dieses Prinzips wieder auf 
unsere vorwissenschaftlichen Kenntnisse. Sie sind von dem In- 
teresse abhängig, das unsere Umgebung in uns erregt. Was aber 
heißt es, daß wir Interesse an den Objekten haben? Es bedeutet, 
daß wir sie nicht nur vorstellen, sondern zugleich auf unseren 
Willen beziehen und in Verbindung mit unseren Wertungen 
setzen. Fassen wir etwas individualisierend auf, so muß also 
seine Besonderheit sich irgendwie mit Werten verknüpft haben, 



Geschichtophilosophie. 77 

die mit keinem anderen Objekt so verknüpft sind, und begnügen 
wir nns mit der generalisierenden Auffassung, so hängt die Ver- 
knüpfung mit dem Werte nur an dem, was an anderen Objekten 
ebenfalls vorkommt und daher durch andere Exemplare desselben 
Gattungsbegriffes ersetzt werden kann. Das ist die noch nicht 
dargestellte Seite in dem Unterschiede der generalisierenden und 
individualisierenden Auffassung, und mit Rücksicht hieraufzeigen 
auch die beiden wissenschaftlichen Methoden einen prinzipiellen 
Gegensatz. 

Geht man vom vorwissenschaftlichen Generalisieren dazu über, 
die Objekte wissenschaftlich unter ein System allgemeiner Be-' 
griffe zu bringen, so wird dabei nicht nur vom Interesse am Ein- 
maligen und Individuellen abstrahiert, sondern auch die Ver- 
bindung des mehreren Objekten Gemeinsamen mit Werten immer 
melir gelöst, je weiter det Prozeß der Systembildung fortschreitet. 
Ist nämlich jeder allgemeine Begriff einem noch allgemeineren 
untergeordnet, und sind schließlich alle Begriffe unter den all- 
gemeinsten gebracht, den die Untersuchung anstrebt, so müssen 
auch alle Objekte, für welche das System gelten soll, so ange- 
sehen werden können, als ob sie gleich wertvoll oder gleich 
wertlos sind, denn das Prinzip, welches bestimmt, was an einem 
Objekte wesentlich ist, darf jetzt nirgends mehr das ursprüng- 
liche Interesse, sondern nur noch die Stellung sein, die das Ob- 
jekt in dem System allgemeiner Begriffe einnimmt. Es wird 
also die ursprünglich überall nach Wertgesichtspunkten voll- 
zogene Scheidung des Wesentlichen vom Unwesentlichen durch 
eine generalisierende Wissenschaft sowohl verdrängt als auch 
zugleich dadurch ersetzt, daß nun das Allgemeine oder das Ge- 
meinsame als solches mit dem Wesentlichen zusammenfällt. Die 
Loslösung der Objekte von allen Wertverbindungen ist also die 
andere noch nicht betrachtete Seite der generalisierenden Me- 
thode, und sie weist uns zugleich auf die andere noch nicht be- 
trachtete Seite des wissenschaftlichen Individualisierens hin. 
Kann dieses sich vom vorwissenschaftlichen Individualisieren 
etwa ebenfalls dadurch unterscheiden, daß es zur Loslösung der 
Objekte von allen Werten führt? Es ist nicht einzusehen, durch 
welches andere Prinzip als das der Wertverbindung eine indi- 
vidualisierende Auffassung überhaupt entstehen sollte. Lösen 
wir ein Objekt aus allen Verknüpfungen mit unseren Interessen 
los, so wird es lediglich als Exemplar eines allgemeinen Be- 



78 Geschichtsphilosophie. 

gnSa filr uns in Betracht kommen. Das Individuelle kann nur 
mit Rücksicht auf einen Wert wesentlich werden, und dah^ 
würde mit der Beseitigung jeder Wertverbindung das historische 
Interesse und die Geschichte selbst beseitigt sein. Es enthüllt 
sich uns also nicht nur ein notwendiger Zusammenhang der 
generalisierenden mit der wertfreien Betrachtung, son- 
dern auch ein ebenso notwendiger Zusammenhang der indi- 
vidualisier enden mit der wert verbinden den Auffassung, 
und es kommt daher, um die logische Struktur der Geschichts- 
wissenschaft auch nach dieser Seite hin zu erfassen, jetzt darauf 
to, die Art der Werte und die Art ihrer Verbindung mit den 
geschichtlichen Objekten näher kennen zu lernen. Auch hier ist 
es natürlich notwendig, nachdem das Gemeinsame in der vor- 
wissenschaftlichen und der wissenschaftlichen Wertverbindung 
festgestellt ist, beide scharf voneinander zu sondern. 

Daß Werte in der Wissenschaft überhaupt eine maßgebende 
Rolle spielen, ja Prinzipien der Begriffsbildung sein sollen, scheint 
dem Wesen der Wissenschaft zu widersprechen. Mit Recht ver- 
langt man gerade von dem Historiker, daß er die Dinge mög- 
lichst „objektiv" darstelle, und mag dieses Ziel auch von keinem 
völlig erreicht sein, so läßt es sich doch jedenfalls als logisches 
Ideal bezeichnen. Wie stimmt hierzu die Behauptung, daß Wert- 
verbindungen zum Wesen der historischen Methode gehören? 
Um dies zu verstehen, muß man sich klar machen, daß es eine 
Art der Wertverbindung gibt, die nicht mit einem praktischen 
Stellungnehmen und Werten zusammenfällt, sondern daß man 
Objekte auch in einer rein theoretischen Weise aufwerte 
beziehen kann. Freilich, wenn wir aus der Mannigfaltigkeit 
der Wirklichkeit diesen Bestandteil als wesentlich herausheben 
und jenen als unwesentlich beiseite lassen, so kann man dies 
immer auch als Stellungnahme zur Wirklichkeit bezeichnen, in- 
sofern das Wesentliche das für die wissenschaftliche Erkenntnis 
Wertvolle ist. Aber diese Art der Wertung fehlt bei keiner 
wissenschaftlichen Begriffsbildung, bei der generalisierenden eben- 
sowenig wie bei der historischen, weil überall das Ziel der 
Wissenschaft als Wert gelten muß, um der wissenschaftlichen 
Arbeit einen Sinn zu verleihen. Von dieser Wertung muß man 
daher, so wichtig ihr Vorhandensein für die Behandlung anderer 
philosophischer Probleme ist, ganz absehen, wenn man das Wesen 
der geschichtswissenschaftlichen Wertverbindung in seiner Be- 



OeschichtsphiloBophie. 79 

Sonderheit verstehen will. Hier kommt es nnr darauf an, ob 
dadurch, daß mit Rficksicht anf einen Wert die Individualität 
eines Objektes wesentlich wird, notwendig auch eine positive 
oder negative Bewertung dieses Objektes entsteht, und diese 
Frage ist entschieden zu verneinen. Die geschichtliche Dar- 
stellung schließt nur insofern eine Wertverbindung ein, als das 
individualisierend aufgefaßte Objekt überhaupt irgendeine Be- 
deutung für einen Wert hat, sie braucht aber nichts darüber 
auszusagen, ob es einen positiven oder negativen Wert besitzt, 
und sie kann insofern von jeder Wertung, die immer positiv oder 
negativ sein muß, gänzlich absehen. Wir müssen praktische 
Wertung und bloß theoretische Wertbeziehung genau 
scheiden. Ja, wenn wir daran denken, daß wir nie die Wirk- 
lichkeit so kennen, wie sie ist, sondern daß jede Kenntnis schon 
eine Umbildung der Wirklichkeit ist, so wird klar, daß über den 
positiven oder negativen Wert einer Individualität gar nicht 
gestritten werden kann, wenn unter den Streitenden nicht schon 
eine durch die bloß theoretische Wertbeziehung entstandene, von 
der Verschiedenheit ihrer praktischen Wertungen unabhängige, 
gemeinsame individualisierende Wirklichkeitsauffassung vorhanden 
ist, denn sonst würde man gar nicht um dieselbe Individualität 
streiten. Also, so gewiß das theoretische Erkennen und das posi- 
tive oder negative Werten zwei prinzipiell verschiedene Prozesse 
sind, so wenig steht die rein theoretische Wertbeziehung im 
Widerspruch mit der wissenschaftlichen Erkenntnis. Der Histo- 
riker wertet als Historiker seine Objekte nicht, 
wohl aber findet er Werte, wie die des Staates, der wirtschaftlichen 
Organisationen, der Kunst, der Keligion usw. vor, und durch die 
theoretische Beziehung der Objekte auf diese Werte, d. h. mit . 
Bäcksicht darauf, ob und wodurch ihre Individualität etwas für 
diese Werte bedeutet, gliedert sich ihm die Wirklichkeit in 
wesentliche und unwesentliche Bestandteile, ohne daß dabei von 
ihm irgend ein direktes positives oder negatives Werturteil über 
die Objekte selbst gefällt zu werden braucht. 

Völlig klar wird das Wesen der historischen Wertbeziehung, 
wenn wir noch einen zweiten Punkt fixieren, durch den sich das 
wissenschaftliche von dem vorwissenschaftlichen Individualisieren 
unterscheidet, und schon die soeben als Beispiele benutzten Wert- 
begriffe weisen darauf hin. Die theoretische Wertbeziehung in 
der Geschichte ist nicht nur von positiver oder negativer Wer- 



80 Geschichtsphilosophie. 

tnng unabhängig, sondern muß auch noch in anderer Hinsicht 
frei von Willkür sein, nämlich in bezug darauf, welche Werte 
es sind, auf die die Objekte bezogen werden. Das aber wird 
dadurch erreicht, da£ der Historiker die Wirklichkeit nur durch 
Beziehung auf allgemeine Werte in wesentliche und unwesent- 
liche Bestandteile gliedert, also auf solche Werte, wie sie in 
den bereits genannten Beispielen des Staates, der Kunst, der 
Religion usw. verkörpert sind. Jedoch, so einfach dies im Grunde 
ist, so haben sich auch hieran viele Streitfragen und Mißver- 
ständnisse geknüpft. Insbesondere hat man wieder gemeint, 
daß wegen der Allgemeinheit der Werte die Methode der Ge- 
schichte nun doch generalisierend sei. Offenbar, so kann man 
diese Ansicht begründen, ist z. B. der Staat ein allgemeiner 
Begriff, und wenn geschichtliche Vorgänge als politische dar- 
gestellt werden, so ist das Politische in ihnen, um dessentwillen 
sie historisch wesentlich sind, doch eben das ihnen Gemein- 
same. Also werden sie in derselben Weise unter den allge- 
meinen Begriff des Politischen gebracht, wie man in den gene- 
ralisierenden Wissenschaften die Objekte als Exemplare eines 
Gattungsbegriffes auffaßt Ist dies wirklich zutreffend? Daß 
die allgemeinen Werte zugleich allgemeine Begriffe sind^ ist 
richtig. Aber erstens geht die Geschichte nie darauf aus, solche 
allgemeinen Wertbegi*iffe erst zu bilden oder gar systematisch 
zu ordnen, wie sie es tun müßte, wenn sie eine generalisierende 
Wissenschaft wäre, sondern sie findet diese allgemeinen Wert- 
begriffe vor, und nur die Geschichtsphilosophie, nicht aber die 
empirische Geschichtswissenschaft, kann, wie wir später sehen 
werden, sich die Aufgabe stellen, ein System allgemeiner Wert- 
begriffe zu gewinnen. Ferner aber, und das ist die Hauptsache, 
hat die Allgemeinheit des Wertes für den Historiker nicht die 
Bedeutung, daß sie das mehreren besonderen Werten Gemein- 
same enthält, sondern nur darauf kommt es an, daß die Ge- 
schichte ihre Objekte auf solche Werte bezieht, die alleu, an 
die sie sich wendet, als Werte gelten oder wenigstens von allen 
als Werte verstanden werden. Im übrigen führt das Beziehen 
der Objekte auf Werte zu einer individualisierenden Auffassung, 
gleichviel, ob die Werte rein individuell oder in dem angegebenen 
Sinne allgemein sind, denn dieser Unterschied betrifft nur die 
Geltung der Werte, nicht aber die logische Struktur der Wert- 
beziehung. Kurz, es wird durch den Umstand, daß die Ge- 



Oeschichtsphilosophie. 81 

schicfatswissenschaft, um zu aJlgemeingfiltigen Resultaten zu 
kommen, allgemeine Werte braucht, ' der Gegensatz der wert- 
beziehenden individualisierenden geschichtlichen Methode zur 
wertfreien generalisierenden gesetzeswissenschaftlichen Methode 
gar nicht bertthrt. Wenn man durchaus will, kann man ja 
sagen, daß alle Wissenschaft, um allgemeingültig zu sein, stets 
das Besondere dem Allgemeinen „unterordnen'' müsse. Aber 
diese Wendung ist wegen ihrer Unbestimmtheit sehr mifiver- 
ständlich und jedenfalls nichtssagend. Man mufi, wenn man sie 
in der Methodenlehre gebrauchen will, eine generalisierende 
Unterordnung unter wertfreie Oattungs- oder Oesetzesbegriffe 
von einer individualisierenden „Unterordnung'' unter allgemeine 
Wertbegriffe streng scheiden, und am besten wird es wohl sein, 
das Wort Unterordnung nur zur Bezeichnung des Verhältnisses 
der allgemeinen Begriffe untereinander und des Exemplars zu 
seinem fibergeordneten Gattungsbegriffe zu verwenden, da sonst 
nur Irrtümer entstehen können. 

Kehren wir mit dieser genaueren Einsicht in das Wesen 
des individualisierenden Verfahrens noch einmal zu den histo- 
rischen Begriffen zurück, die wegen der Allgemeinheit ihres 
Inhaltes eine negative Instanz gegen die Charakterisierung der 
Geschichte als individualisierende Wissenschaft zu bilden 
schienen, so lassen sich jetzt auch die historischen Gruppen- 
begriffe noch besser in ihrem Unterschiede von den generali- 
sierenden Gruppenbegriffen verstehen. Sie haben nicht nur, wie 
alle Begriffe historischer Teile, den Zweck, die Individualität 
des historischen Ganzen zum Ausdruck zu bringen, zu dem sie 
gehören, sondern auch die Auswahl des Wesentlichen bei ihrer 
Bildung ist durch den allgemeinen leitenden Wert bestimmt, 
d. h. nicht das Gemeinsame als solches ist schon das Wesent- 
liche, sondern der Umstand, daß ihr Inhalt nur aus dem einer 
Mehrheit von Objekten Gemeinsamen besteht, hat darin allein 
seinen Grund, daß nur die Individualität der Gruppe, nicht« aber 
auch die Individualität ihrer einzelnen Teile für den allgemeinen 
Wert Bedeutung besitzt, und daß daher schon der Gmppen- 
begriff genug Individualität enthält, um das für die wert- 
beziehende individualisierende Darstellung Wesentliche zum Aus- 
druck zu bringen. Das Prinzip der Begiiffisbildung ist also bei 
den historischen EoUektivbegriffen genau dasselbe wie bei allen 
anderen historischen Begriffen, und es ergibt sich daraus zu- 

Windelband, Die Philosophie im Beginn des SO. Jahrh. IL Bd. 6 



82 Geschiclitgphilosopliie. 

gleich von neuem, wie wenig Sinn es hat, das Verfahren der Ge- 
schichte mit Bücksicht auf seinen logischen Charakter kollek- 
tivistisch zn nennen. Der Kampf um die sogenannte kollekti- 
vistische und individualistische Methode ist ein Kampf um den 
Inhalt der Geschichtswissenschaft und hat mit den logischen 
Problemen der Methode nichts zu tun. Auch eine rein kollekti- 
vistisch verfahrende Darstellung würde nicht nur, wie wir bereits 
sahen, individualisierend, sondern auch, wie jede geschichtliche 
Darstellung, von Wertgesichtspunkten geleitet sein. 

Die große Bolle, welche die Wertgesichtspunkte in der Ge- 
schichte spielen, wird übrigens in neuester Zeit immer mehr 
anerkannt und zu verstehen gesucht, wenn auch die Aufmerk- 
samkeit nicht stets auf die zwei wichtigsten Punkte, auf die 
Scheidung der theoretischen Wertbeziehung von der praktischen 
Wertung und auf die Allgemeinheit der Werte gerichtet ist 
Natürlich lassen sich hier nicht alle Fragen, die mit den Werten 
in Zusammenhang stehen, erschöpfend behandeln, aber wenigstens 
zwei Punkte seien noch hervorgehoben. 

Eine logische Untersuchung kann niemals dem Historiker 
verbieten wollen, über die theoretische Wertbeziehung hinaus- 
zugehen und wertend zu seinen Objekten Stellung zu nehmen, 
ja es ist vielleicht keine geschichtliche Darstellung von positiver 
oder negativer Wertung ganz frei. Doch muß auch festgestellt 
werden, daß nicht überall, wo ein Werturteil vorzuliegen scheint, 
ein solches auch wirklich gemeint zu sein braucht. Man wird 
nämlich in jeder geschichtlichen Darstellung Sätze finden, welche 
insbesondere menschlichen Handlungen ein lobendes oder tadeln- 
des Prädikat beilegen, hier eine Tat der Güte oder des Mutes, 
dort ein Verbrechen konstatieren, und dies scheint die Ge- 
schichte ebenfalls von den Gesetzeswissenschaften zu unter- 
scheiden, für die Lastei' und Tugend Produkte wie Vitriol und 
Zucker sein müssen. Es ist auch klar, daß mit solchen Sätzen 
der Historiker Stellung nehmen kann. In sehr vielen Fällen 
aber dienen die Wertprädikate nur zur Feststellung von Tat- 
sachen und zur rein theoretischen Charakterisierung der Ereig- 
nisse. Wenn z. 6. eine Handlung als verbrecherisch bezeichnet 
wird, so kann das auch heißen, daß die Quellen zu der An- 
nahme zwingen, es liege hier eine Tat vor, die man allgemein 
ein Verbrechen nennt und wenn etwa ein anderer Historiker 
dieser Handlung ein anderes Prädikat beilegt, so braucht das 



GeschichtsphiloBopMe. 83 

nicht zu bedeuten, dafi er denselben Tatbestand anders wertet, 
sondern er kann anch einen anderen Tatbestand annehmen, den 
er dann natfirlich anch anders bezeichnen mnß. Man sollte also 
jedenfalls bei der Behandlung der Wertfaktoren in der Ge- 
schichte sich stets die Frage vorlegen, ob das Wertprädikat 
auch wirklich den Sinn hat, zu werten, oder ob es nicht viel- 
mehr nur dem Zwecke dient, die mit ihm allgemein verbundene 
Wortbedeutung in derselben Weise zur Feststellung eines Fak- 
tums zu benutzen, wie dies mit Wortbedeutungen geschieht, die 
überhaupt nicht zur Wertung verwendet werden können. 

Wird also in manchen Fällen das Vorkommen von Wer- 
tungen häufiger zu sein scheinen, als es wirklich ist, so mufi 
andererseits hervorgehoben werden, dafi in gewissem Sinne doch 
auch Wertungen zu den unentbehrlichen Bestandteilen der Ge- 
schichtswissenschaft gehören. So gewiß die theoretische Wert- 
beziehung keine praktische Stellungnahme ist, und so gewiß 
daher der Historiker sich jeder Wertbeurteilung seiner Gegen- 
stände enthalten kann, ebenso gewiß ist es, daß er innerhalb 
des Gebietes der Werte, auf die er seine Objekte bezieht, zu- 
gleich selbst, auch als Historiker, irgendwie ein wertender 
Mensch sein muß. Es ^wird niemand politische Geschichte 
schreiben oder lesen, der nicht die politischen Werte zu seinen 
eigenen positiven oder negativen Wertungen in Beziehung setzt, 
d. h. zu politischen Fragen überhaupt irgend ein wertendes 
Verhältnis hat, denn er würde, ohne auf diesem Gebiete selbst 
ein wertender Mensch zu sein, die Werte, welche die Auswahl 
des historischen Stoffes leiten, nicht verstehen, und daher an 
dem Stoffe selbst auch nicht das geringste historische Interesse 
haben. Was aber für die politische Geschichte gilt^ muß für die 
Kunstgeschichte, die Geschichte der Religion, der Wirtschaft usw. 
ebenso gelten. Dies wird, wie manches Selbstverständliche, 
häufig gar nicht bemerkt, ja es gibt wohl viele Historiker, die 
sich nicht nur ihren Objekten gegenüber lediglich betrachtend 
zu verhalten, sondern als Historiker überhaupt rein zuschauende 
Menschen zu sein glauben. Tatsächlich jedoch unterscheidet 
sich der Historiker auch dadurch von dem generalisierenden 
Forscher, daß er bei seiner Arbeit nicht nur das wissenschaft- 
liche Ziel, das er verfolgt, als Wert anerkennen muß, sondern, 
wenn auch nicht zu seinen historischen Objekten selbst, so doch 
zu den allgemeinen Werten Stellung nimmt, auf die er seine 

6* 



g4 Geschichtsphilosophie. 

Objekte individualisierend bezieht. Welche Bedeatnng dieser 
Umstand, dafi es nur für wertende Wesen Geschichte gibt^ Ar 
die „Objektivität^ der historischen Wissenschaften besitzt, in 
welchem Verhältnis diese Objektivität zu der der generalisieren- 
den oder Gesetzeswissenschaften steht, die keinen anderen Wert 
als den der generalisierenden Wissenschaft selbst anznerkennm 
brauchen, das steht hier nicht in Frage. Hier sollte nur die 
logische Struktur der faktisch vorhandenen Geschichtswissen- 
schaft verstanden, insbesondere das Wesen ihres wertbeziehenden 
und individualisierenden Methode, so wie sie wirklich ausgeübt wird, 
beschrieben und diese Methode in ihrer aus den Zielen der Ge- 
schichte sichergebenden logischen Notwendigkeit begriffen werden. 
Von der Eigenart des historischen Materials war aus den 
angegebenen Gründen bisher nicht die Rede, und es konnte 
daher auch keine Antwort auf die Frage gegeben werden, wie 
wir dazu kommen, gerade den Stoff, von dem die Geschichts- 
wissenschaften handeln, nicht nur generalisierend, sondern auch 
individualisierend darzustellen. Der Grund dafür muß schließlich 
auch noch angegeben werden, um das Wesen der Geschichts- 
wissenschaft verständlich zu machen, und zwar soweit, als die 
materiale Eigenart der historischen Objekte sich aus dem 
logischen Wesen der historischen Methode verstehen läßt. Ent- 
scheidend ist dabei wiederum der Zusammenhang der individua- 
lisierenden mit der wertbeziehenden Auffassung. Die individua- 
lisierende Darstellung muß nämlich dort vor allem ein Bedürfnis 
sein, wo die Verknüpfung der Objekte mit Werten am engsten 
ist. Erinnern wir wieder an die vorwissenschaftliche Begriffs- 
bildung, so ist sie wohl überall dadurch charakterisiert, daß es 
vorwiegend Menschen sind, die als Individuen betrachtet werden, 
und an diesen Menschen ist femer besonders das durch seine Indi- 
vidualität bedeutsam, was Ausdruck ihres Seelenlebens ist Ja, 
unsere individualisierende Auffassung wird in so hohem Grade 
durch das Interesse an menschlichem Seelenleben be- 
herrscht, daß man den Begriff des Individuums geradezu mit dem 
der Persönlichkeit gleichsetzt und sich erst ausdrücklich darauf 
besinnen muß, daß jedes beliebige Objekt ebenfalls ein absolut 
individuelles Gepräge zeigt. Ob und wieweit die Geschichte als 
Wissenschaft, die ihre Objekte nicht auf rein persönlich indivi- 
duelle, sondern nur auf allgemeine Werte bezieht, Persönlich- 
keiten darzustellen hat, hängt davon allein ab, was Persönlich- 



GescliichtsphiloBopliie. 86 

keiten in ihrer Einzigartigkeit für die allgemeinen Werte be- 
deuten, und insofern kann daher das wissenschaftliche Individua* 
lisieren sich sehr weit von dem vorwissenschaftlichen entfernen. 
Da aber alle Geschichte von Menschen betrieben wird, so mufi 
auch die wissenschaftliche Darstellung des Einmaligen und Be- 
sonderen vorwiegend auf menschliches Seelenleben gerichtet sein, 
und dies ist der Grand, weshalb die historischen Wissenschaften 
stets zu den „Geisteswissenschaften" get^chnet worden sind. 
Wir sehen jetzt ganz deutlich, warum diese Bezeichnung 
ein unter logischen Gesichtspunkten sekundäres Merkmal zum 
Ausdruck bringt und sich auch, abgesehen hiervon, nicht einmal 
zur vollständigen Charakterisierung des Materials der Geschichts- 
wissenschaft eignet, denn einmal ist es durchaus nicht allein, 
sondern nur vorwiegend geistiges Leben, das den Historiker im 
Zusammenhange mit körperlichen Vorgängen interessiert, und 
femer kommt nicht alles geistige Leben, auch nicht alles mensch- 
liche Seelenleben, sondern nur ein bestimmter, verhältnismäßig 
kleiner Teil des menschlichen Seelenlebens vorwiegend als 
Material für die Geschichtswissenschaft in Betracht. 

Will man auch diesen Teil abgrenzen, um so eine noch 
genauere Charakterisierung des historischen Stoffes zu erhalten, 
so kann dies wiederum nur von der gewonnenen Einsicht in das 
Wesen der historischen Methode aus, und zwar mit Rücksicht 
auf die Besonderheit der Wertgesichtspunkte geschehen, die 
für die Auswahl des Wesentlichen bei der individualisierenden 
Begriffsbildung maßgebend sind. Daß dies stets allgemeine 
menschliche Werte sind, kann man auch so ausdrücken, daß 
nur die Objekte historisch wesentlich werden, die mit Sücksicht 
auf gesellschaftliche oder soziale Interessen Bedeutung besitzen. 
Daher ist, wegen des historischen Zusammenhanges der Teile 
mit dem historischen Ganzen oder der Gesellschaft, nicht der 
von ihr losgelöst gedachte Mensch überhaupt, sondern der Mensch 
als soziales Wesen das Hauptobjekt des geschichtlichen Forschens, 
und dies wiederum besonders insofern, als er an der Bealisierung 
der sozialen Werte beteiligt ist. Dabei muß freilich der Begriff 
der societas so weit genommen werden, daß auch Gemein- 
schaften wie die der wissenschaftlichen oder der künstlerischen 
Menschen unter ihn fallen. Nennt man dann den Prozeß, durch 
den im Laufe der geschichtlichen Entwicklung die allgemeinen 
sozialen Werte realisiert werden, die Kultur, so muß daa 



86 GeschichtsphiloBophie. 

Hauptobjekt der Geschichte die Darstellung von Teilen oder 
vom Ganzen des menschlichen Kulturlebens sein, und aller ge« 
schichtlich wichtige Stoff muß in irgend eina* Verbindung mit 
dem menschlichen Kulturleben stehen, weil nur dann eine Ver- 
anlassung dafür vorhanden ist, ihn auf die allgemeinen Werte 
zu beziehen und in seiner Besonderheit und Individualität zu 
untersuchen. Die Werte, welche die Auswahl des Wesentlichen 
in der Geschichte leiten, sind deshalb auch als die allgemeinen 
Kulturwerte zu bezeichnen, wie wir sie in den Wertbegriffen 
des Staates, des Eechts, der Kunst, der Religion, der wirtschaftr 
liehen Organisation als Beispiele bereits kennen gelernt haben. 
Es versteht sich von selbst, daß der Historiker deshalb nicht zu 
sagen hat, was Kulturfortschritt oder Kulturrflckschritt ist, denn 
damit würde er von der theoretischen Wertbeziehung zur prakti- 
schen Wertung übergehen. Seine eigenen Kulturideale brauchen 
überhaupt nicht von maßgebender Bedeutung für. die Gestaltung 
seines Stoffes zu werden, sondern er muß nur im stände sein, die 
aUgemeinen Kulturwerte der Menschen und Völker, die er dar- 
stellt, zu verstehen, um dann durch rein theoretische Wert- 
beziehung das Wesentliche vom Unwesentlichen abzusondern. 
Auch ist die geschichtliche Untersuchung nicht auf Kulturvor- 
gänge selbst beschränkt. Besonders wenn es gilt, die Ursachen 
der geschichtlichen Ereignisse kennen zu lernen, können auch 
solche Objekte von Bedeutung sein, die lediglich zur „Natur^ 
gehören, und die dann ebenfalls mit Rücksicht auf ihre Indivi- 
dualität wichtig werden, wie z. B. die Besonderheit des Klimas 
einer bestimmten Gegend, die geographische Situation eines 
Landes und dergl. Immer aber müssen diese Objekte sowohl 
kausal mit Kulturvorgängen zusammenhängen, als auch in ihrer 
Bedeutung für Kulturwerte betrachtet werden, wenn sie in einer 
geschichtlichen Darstellung ihren Platz finden sollen, und irgend 
ein Teil der einmaligen Entwicklung des Kulturlebens selbst wird 
stets im Zentrum einer individualisierenden Wissenschaft stehen. 
Daß hiermit nicht eine besondere „kulturgeschichtliche Methode" 
gepriesen werden soll, wie das heute im Gegensatz zur Methode 
der politischen Geschichte vielfach geschieht, bedarf wohl kaum 
der ausdrücklichen Versicherung. Die Frage nach dem „eigent- 
lichen Arbeitsgebiet^ der Geschichte kann von der Logik nicht 
entschieden werden, und sie erstreckt sich auch gar nicht auf 
die Frage nach dem Wesen der historischen Methode. Will man 



Geschichtsphilosophie. 87 

Überhaupt von einem Gegensatz der politischen und der Kultur- 
geschichte sprechen, so haben doch beide dasselbe individuali- 
sierende Verfahren anzuwenden, und nur das wäre möglich, daß 
die Kulturgeschichte in jenem heute bisweilen gemeinten engeren 
Sinne mehr Gruppenbegriffe verwendet als die Geschichte poli- 
tischer Vorgänge. Wir aber wissen, dafi ein mehr oder weniger 
von Gruppenbegriffen an dem Wesen der geschichtlichen Methode 
gar nichts ändert. Abgesehen davon steht es auch durchaus 
nicht fest, daß die Kulturgeschichte in höherem Ma£e „kollek- 
tivistisch'' gestaltet sein muß als die politische Geschichte. 

Doch haben diese Fragen mit der Methodenlehre nur inso- 
fern etwas zu tun, als sie sorgfältig aus den logischen Unter- 
suchungen fem zu halten sind. Der logische Dilettantismus 
unserer Tage hat auch hier viel Verwirrung angerichtet, aber 
er besitzt nicht so viel sachliche Bedeutung, daß ein näheres 
Eingehen auf ihn an dieser SteUe gerechtfertigt wäre. Das 
Wort Kultur ist hier so gebraucht^ daß das politische Leben ein 
Teil des Kulturlebens überhaupt ist Es soll nichts anderes als 
den Inbegriff derjenigen Objekte bezeichnen, die von direkter 
Bedeutung für die Verwirklichung der allgemeinen Werte sind, 
und die wegen dieser Wertbeziehung durch eine generalisierende 
Wissenschaft niemals erschöpfend dargestellt werden können, 
sondern die Auffassung durch eine individualisierende Wissen- 
schaft verlangen. Es wird dadurch zugleich klar, in welchem ' 
Sinne die Geschichte für den Kulturmenschen eine Notwendigkeit 
ist. Der Kulturmensch wird immer die Wirklichkeit auf die 
allgemeinen Kulturwerte beziehen, so daß die Frage entstehen 
muß, wie sich die Bealisierung der Kultur in ihrer einmaligen 
Entwicklung vollzogen hat, und auf diese Frage kann nur die 
individualisierende Geschichte, niemals aber eine generalisierende 
Wissenschaft die Antwort geben. 



n. 
Die Prinzipien des historischen Lehens. 

Blicken wir noch einmal zurück, so läßt sich mit den an- 
gegebenen Begriffen ein System der empirischen Wissenschaften 
andeuten, in dem der Geschichte sowohl mit Bücksicht auf ihre 
Methode als auch mit Bücksicht auf ihr Material ein fester Platz 



88 GeBchichtsphiloBophie. 

angewiesen ist, so daß anf Grund dieser Einsicht dann die an- 
deren Gruppen von geschichtsphilosophischen Problemen ver- 
standen und in Angriff genommen werden können. In bezug auf 
die Methode verfahren die Einzelwissenschaften entweder gene- 
ralisierend und systematisch oder individualisierend und dann 
nicht systematisch. Ihr Material besteht entweder aus Natur- 
objekten, die von Werten losgelöst oder aus Eulturvorg&ngen, 
die auf Werte bezogen sind. Das ist jedoch nur ein ganz all- 
gemeines Schema, und es soll damit, wie immer wieder hervor- 
gehoben werden mu£, nicht gesagt sein, daß die verschiedenen 
Disziplinen entweder nur generalisierend oder nur individuali- 
sierend arbeiten, daß sie nur Naturobjekte oder nur Eulturvor- 
gänge behandeln, und daß Naturobjekte nur generalisierend, 
Eulturvorgänge dagegen nur individualisierend darzustellen sind. 
Im Gegenteil, die verschiedenen Methoden gehen bei der Be- 
handlung der verschiedenen Stoffe eng zusammen, und die an- 
gegebenen Einteilungsprinzipien können sich in verschiedener 
Weise miteinander verbinden lassen. Das generalisierende Ver- 
fahren fängt mit individuellen Tatsachen an, das individuali- 
sierende bedarf der allgemeinen Begriffe als Mittel der Dar- 
stellung und Verknüpfung. Neben den generalisierenden Natur- 
wissenschafken gibt es Disziplinen, welche Naturvorgänge indi- 
vidualisierend und dann, wenn auch vermittelt und indirekt, 
'weitbeziehend behandeln, wie z. B. die Stammesgeschichte der 
Organismen, und umgekehrt kann das Kulturleben trotz der 
Wertbeziehung einer generalisierenden Darstellung unterworfen 
werden. Ja, ganz abgesehen von der Psychologie, sind viele der 
sogenannten Geisteswissenschaften, wie z. B. die Sprachwissen- 
schaft, die Jurisprudenz, die Nationalökonomie, wenigstens zum 
Teil, gewiß nicht historische, sondern systematische Kulturwissen- 
schaften, deren Methode nicht mit der der generalisierenden 
Naturwissenschaften zusammenzufallen braucht, und deren logische 
Struktur deswegen eines der schwierigsten und interessantesten 
Probleme der Methodenlehre ist. Aber wie groß auch die 
Mannigfaltigkeit der wissenschaftlichen Bestrebungen sein mag, 
die die Logik nicht zu kritisieren, sondern einfach als Tatsache 
anzuerkennen hat, und so sehr deshalb die logischen Einteilungs- 
prinzipien sich darauf beschränken müssen, begrifflich ausein- 
ander zu halten, was in Wirklichkeit eng miteinander verknüpft 
ist, so darf doch die Geschichte, die von den Menschen, ihren 



Geschichtspliilosophie. 89 

Einrichtnngen und ihren Taten handelt mit Sücksicht auf ihre 
letzten Ziele nur als individualisierende Kulturwissen- 
schaft bezeichnet werden. Ihr Zweck ist immer die Dar- 
stellung einer einmaligen, mehr oder weniger umfassenden Ent- 
wicklungsreihe, und ihre Objekte sind entweder selbst Eultur- 
vorgänge oder stehen zu Eulturwerten in Beziehung. Dadurch 
ist diese Wissenschaft von allen Naturwissenschaften, mögen sie 
generalisierend oder individualisierend verfahren, sachlich und 
ebenso von allen Kulturwissenschaften, die ihre Objekte S}'ste- 
matisch behandeln, methodisch prinzipiell geschieden. Innerhalb 
dieses Rahmens hat sich die Ge^chichtslogik zu bewegen. Nur 
dann kann sie begreifen, was Geschichte wirklich ist, und nur 
so kann sie einer Philosophie Dienste leisten, die die Bedeutung 
der wirklichen Geschichte fiir die Lösung ihrer Probleme ver- 
stehen will. Die Konstruktion von Zukunftswissenschaften da- 
gegen, die heute besonders in der Geschichtslogik beliebt ist, 
hat weder für die Einzelforschung noch für die Philosophie einen 
Wert, es sei denn den Wert eines abschi-eckenden Beispiels. 

Auch die Frage nach den Prinzipien des historischen 
Geschehens, der wir uns jetzt zuwenden, kann nur beantwortet 
werden, wenn man sich dabei auf den Begriff dessen stutzt, was 
als Geschichte von den historischen Wissenschaften tatsächlich 
dargestellt wird. Wir wissen nun bereits, daß diese Prinzipien 
entweder in den allgemeinen Gesetzen oder in dem allgemeinen 
Sinn des geschichtlichen Lebens gesucht werden. Will man 
über die Aufgaben der Geschichtsphilosophie als Prinzipienlehre 
zur Klarheit kommen, so muß man daher bestimmen, was unter 
Gesetz und was unter Sinn der Geschichte gemeint sein kann, 
und dann fragen, was den Namen eines Pi*inzips der Geschichte 
verdient. Es wird sich ergeben, daß es sich bei der Alternative 
Gesetz oder Sinn der Geschichte, ebenso wie bei dem Kampf um 
die generalisierende und die individualisierende Methode, um die 
beiden einander entgegengesetzten Hauptrichtungen der gegen- 
wärtigen Geschichtsphilosophie handelt, und daß die Entschei- 
dung in diesem Kampf im wesentlichen wieder von der Einsicht 
in das logische Wesen der empirischen Geschichtswissenschaft 
abhängt. 

Das Wort Gesetz gehört zu jenen Ausdrucken, deren Viel- 
deutigkeit zu mannigfachen ünklarkeiten und Mißverständnissen 
Veranlassung gegeben hat. Während bei der Identifikation von 



90 Geschichtsphilosophie. 

Gesetz and Kausalität die Kausalität einseitig als Form der 
generalisierenden Auffassung betrachtet wird, gibt es andererseits 
einen Sprachgebrauch, nach dem gesetzlich so viel wie notwendig 
überhaupt bedeutet Das Wort kann dann die Notwendigkeit 
des Einmaligen und Besonderen und auch die Notwendigkeit eines 
Imperatives oder eines Wertes bezeichnen. Diesen Gebrauch 
fiberall verbieten zu wollen, wäre pedantisch und wurde keinen 
Erfolg haben. In der Philosophie aber sollte man ihn wenigstens 
an entscheidender Stelle vermeiden, und jedenfalls hat, wenn der 
Geschichtsphilosophie die Aufgabe gestellt wird, die Gesetze der 
Geschichte zu suchen, dies nur einen klaren Sinn, falls man 
unter Gesetz soviel wie Naturgesetz versteht. Die Notwendigkeit 
des Gesetzes bedeutet dann also nicht die Notwendigkeit einer 
individuellen Wirklichkeit, sondern die unbedingte Allgemeinheit 
eines Begriffes, genauer die notwendige Verknüpfung von min- 
destens zwei allgemeinen Begriffen und die notwendige Ver- 
knüpfung von Wirklichkeiten nur insofern, als das Gesetz sagt, 
es sei, wenn ein individuelles Objekt unter anderen Merkmalen 
auch die zeigt, welche die Elemente des einen allgemeinen Be- 
griffes sind, mit ihm überall und immer ein anderes Objekt real 
verbunden, das unter anderen Merkmalen auch die hat, welche 
die Elemente des anderen allgemeinen Begriffes bilden. Kurz, 
Gesetzeserkenntnis ist die Form der Wirklichkeitsauffassung, die 
von jeder generalisierenden Naturwissenschaft als höchstes Ideal 
erstrebt wird. 

DaB die empirische Geschichtswissenschaft, Gesetze in diesem 
Sinne zu finden, sich niemals als letztes Ziel setzt, wissen wir. 
Der Historiker, der dies tut, hört damit auf, ' Historiker zu sein 
und eine geschichtliche Darstellung seines Objektes zu wollen. 
Da also empirische Geschichtswissenschaft und Gesetzeswissen- 
schaft einander begrifflich ausschließen, so kann man sagen, daß 
der Begriff eines „historischen Gesetzes" eine contradictio in 
adjecto enthält, wobei selbstverständlich das Wort „historisch" 
nur den angegebenen formalen oder logischen Sinn hat, und logisch 
ist dieser Satz auch insofern, als er nicht nur unabhängig ist 
von jeder Meinung über das Material der Geschichte, sondern 
auch von jeder Ansicht über das Wesen der Wirklichkeit über- 
haupt. Unter der Voraussetzung des Materialismus oder des 
psychophysischen Parallelismus gilt er ebenso wie unter der 
Voraussetzung einer spiritualistischen Metaphysik oder einer meta- 



Geschichtsphiiosophie. 91 

physischen Freiheitslehre. Auch die Geschichte eines Objektes, 
dessen Gesetze uns restlos bekannt wären, würde niemals aus 
diesen Gesetzen bestehen, sondern sie nur als Mittel benutzen. 

Was jedoch für die empirische Geschichtswissenschaft gut, 
braucht darum nicht für die Geschichtsphilosophie zu gelten. 
Weil es logisch gerechtfertigt ist, jede Wirklichkeit mit einem 
System allgemeiner Begriffe zu überziehen, und weil man daher 
nicht Anhänger des Materialismus oder des psychophysischen 
Parallelismus zu sein braucht, um es für möglich zu halten, daß 
alles den empirischen Wissenschaften überhaupt zugängliche Sein 
unter allgemeine Gesetze gebracht werden kann, so erscheint es 
durchaus denkbar, daß der Geschichtsphilosoph, der als Philo- 
soph nicht Historiker ist, sondern es stets mit dem Allgemeinen 
zu tun hat, Gesetze für dasselbe Material findet, dessen indi- 
vidualisierende Auffassung die historischen Einzelwissenschaften 
erstreben. Da dieses Material der Hauptsache nach das soziale 
Leben der Menschen ist, so entsteht hieraus dann der Gedanke 
einer Gesetze suchenden Soziologie als Geschichtsphilosophie, 
ein Gedanke, der älter ist als Comtes Terminologie, der aber, 
auch in unseren Tagen viele Anhänger findet. Diese Soziologen 
suchen auf ihrem Wege eine Erkenntnis, die über die einzelnen 
historischen Darstellungen mit ihrem Haften am Besonderen 
hinausführt und zum allgemeinen Wesen aller geschichtlichen 
Entwicklung vordringt. Selbstverständlich, so meinen wenigstens 
die besonnenen Vertreter dieses Standpunktes, ist die historische 
Erkenntnis des Einmaligen und Individuellen nicht wertlos, im 
Gegenteil, sie bildet die unentbehrliche Grundlage für eine weiter- 
greifende Betrachtung, aber vom geschichtsphilosophischen Stand- 
punkt aus ist sie auch nur die Grundlage, die Vorarbeit. Auf 
ihr als Basis ist dann das Gebäude einer umfassenden Geschichts- 
philosophie zu errichten, die in Gesetzen den ewigen Shytmus 
und damit die Prinzipien alles geschichtlichen Lebens erfaßt. 

Gehen wir zur Beurteilung dieser Ansicht über, so scheint 
in der Tat, wenn das Wort historisch nicht die Methode, sondern 
das Material der Geschichte bezeichnet, der Begriff des histori- 
schen Gesetzes wenigstens keinen logischen Widerspruch zu ent- 
halten, und jedenfalls ist es ein durchaus berechtigtes Unter- 
nehmen, nach Gesetzen des gesellschaftlichen Lebens der Men- 
schen zu forschen. Etwas ganz anderes aber ist es doch, ob es 
einen Sinn hat, die bei der generalisierenden Behandlung des von 



92 Gtadncto^oeophie. 

der Geschichte indiridiulisiereiid dargestellten Stoffes eventuell 
gefiindenen Gesetze als Prinadpien des historisdien Geschehens 
zu, bezeidinen, nnd ob es also richtig ist, die Soziologie Ge- 
sehichtsphilosophie zn nennen. Das ist mehr als eine termino- 
logische Frage, nnd wo man sie anf Gmnd des Satzes bejaht» 
daß man Gesetze fBr jede Wirklichkeit, also anch für die Objdd;e 
der Oeschichtswissenschafteny mfisse finden können, werden zwei 
Punkte von entscheidender Wichtigkeit übersehen. Historische 
Prinzipien mässen nämlich erstens Prinzipien der Kultur und 
zweitens Prinzipien des historischen Universums sein. Sind 
Gesetze im Sinne von Naturgesetzen dazu geeignet? 

Das, worauf es dabei zunächst ankommt, kann man sich am 
besten klar machen, wenn man wieder daran denkt, daß weder 
die vorwissenschaftliche noch irgendeine wissenschaftliche Kennt- 
nis, die wir von der empirischen Wirklichkeit haben, diese so 
wiedergibt, wie sie unabhängig von unserer Begriffsbildung 
existiert, daß vielmehr jede Kenntnis nur durch eine umbildende 
Auffassung der Wirklichkeit zustande kommt Bei ihrem Um- 
bilduDgsprozeß darf die Wissenschaft nur von dem Ziele geleitet 
sein, das sie sich als generalisierende oder individualisierende 
Wissenschaft gesetzt hat, und eine generalisierende Wissenschaft 
wird daher nur dann hoffen dürfen, zu Gesetzen zu kommen, wenn 
sie sich von allen anderen Interessen an der Wirklichkeit frei 
macht, alB von denen, die auf die Aufstellung von unbedingt all- 
gemeinen Begriffen für ihr Gebiet gerichtet sind. Sie muß trennen 
können, was anderen Auffassungen als zusammengehörig er- 
scheint, und sie muß unter einen Begriff zusammenfassen, was 
f&r andere Interessen gar nichts gemeinsam zu haben scheint 
Wieweit sie sich dadurch von der vorwissenschaftlichen Auf- 
fassung entfernt, wird besonders dort deutlich, wo die um- 
fassendsten Gesetze aufgestellt sind. Man braucht nur daran 
zn erinfiem, daß die Gesetzeswissenschaften zu einer prinzipiellen 
Scheidung des raumerfäUenden Physischen von dem unausge- 
gedehnten Psychischen führen, also zur Darstellung von zwei 
Welten, zwischen denen gar keine reale Verknüpfung mehr her- 
zustellen ist, während f&r unsere vorwissenschaftliche und auch 
für unsere geschichtliche Auffassung diese beiden Gebiete un- 
trennbar miteinander verbunden sind. Oder man denke daran, 
wie unter der Hand der G^etzeswissenschaften der dinghafte 
Charakter unseres Weltbildes immer mehr verschwindet und 



Geschichtsphilosophie. 98 

immer mehr Begriffe von Relationen dafür eintreten. Eine Ge- 
setzeswissenschaft vom sozialen Leben der Menschen wird selbst- 
verständlich im Prinzip dieselbe Freiheit fftr eine solche weit- 
gehende Umbildnng der Wirklichkeit durch die generalisierende 
Begriffsbildung verlangen müssen, nnd wendet man dies auf ihr 
Verhältnis znm geschichtlichen Leben an, so ergibt sich, daß die 
Soziologie, falls sie zugleich Geschichtsphilosophie sein will, diese 
Freiheit zur Zerstörung jeder anderen als der durch ihr Ziel einer 
Gesetzeserkenntnis bestimmten Wirklichkeitsauffassnng nicht 
besitzt. 

Soll man nämlich wirklich von ihr sagen können, daß sie 
dasselbe Material wie die Geschichte behandelt, so wird sie 
znm mindesten doch nach Gesetzen fdr das Kulturleben suchen 
müssen, da alle Geschichtswissenschaft es entweder mit Eultnr- 
vorgängen selbst oder mit Wii*klichkeiten zn tun hat, die zu 
ihnen in Beziehung stehen. Kultur aber ist keineswegs eine 
auffassnngsfreie Wirklichkeit, die- jeder beliebigen Bearbeitung 
nnd Umformung durch Begriffe unterworfen werden kann, sondern 
Kultur ist einmal ein bestimmter Ausschnitt aus der Wirklich- 
keit, von dem man nicht weiß, ob gerade für ihn und nur für 
ihn Gesetzesbegriffe gelten, und femer ist dieser Ausschnitt eine 
schon in ganz bestimmter Weise durch Kulturwerte gegliederte 
und umgebildete Wirklichkeit. Wer kann sagen, ob diese Gliede- 
rung, von deren Bestand es abhängt, daß wir eine Wirklichkeit 
als Kultur bezeichnen, erhalten bleibt, wenn die generalisierende 
Auffassung versucht, sich geltend zu machen? Ist das aber 
nicht der Fall, dann stellt die Soziologie als Gesetzeswissen- 
schaft zwar unter anderem, nicht geschichtlichem Gesellschafts- 
leben auch dieselbe Wirklichkeit dar, die die Geschichte be- 
handelt, aber sie faßt sie nicht als dieselbe Wirklichkeit auf, 
d. h. sie stellt sie nicht als Kultur dar, und wie wenig eine Ge- 
meinsamkeit des Stoffes in diesem Sinne noch bedeutet, wird 
sofort klar, wenn man daran denkt, daß das gemeinschaftliche 
Objekt dann nichts als ein Stück jener unübersehbaren Mannig- 
faltigkeit ist, die nicht nur als solche in keine Wissenschaft ein- 
geht, sondern von der wir überhaupt nur ganz im allgemeinen, 
niemals aber im besonderen reden können, weil wir sie auf- 
fassungsfrei überhaupt nicht kennen. Es besteht also nicht nur 
eine Unvereinbarkeit zwischen generalisierender und individuali- 
sierender Methode in den SpezialWissenschaften, sondern es fehlt 



94 Geschichtsphilosophie. 

auch zum mindesten jede Garantie Ar die Vereinbarkeit gesetzes- 
wissenschaftlicher nnd kaltorwissenschaftlicher Betrachtungsweise, 
ja, bei der engen Beziehung zwischem dem individualisierenden 
und dem wertbeziehenden Denken ist es, wenn auch nicht 
logisch unmöglich, so doch sehr unwahrscheinlich, daß die Ge- 
setzesbegriffe inhaltlich immer mit allgemeinen Kulturbegriffen 
zusammenfallen werden. Damit aber ist dem Programm einer 
Soziologie als Geschichtsphilosophie, das sich auf den Satz stützt^ 
es müssen sich fär jede beliebige Wirklichkeit Gesetze finden 
lassen, im Prinzip schon der Boden entzogen. Der Versuch, 
Gesetze des gesellschaftlichen Lebens aufzustellen, behält selbst- 
verständlich seinen guten Sinn, aber nichts kann uns veran- 
lassen, diese Gesetze blofi deshalb, weil sie Gesetze derselben 
auffassungsfreien Wirklichkeit sind, die die Geschichte behandelt, 
zugleich für Prinzipien des Kulturlebens zu halten. Nur dort 
wird man dies glauben, wo man, einem naiven Begriffsrealis- 
mus huldigend, unsere vorwissenschaftliche und wissenschaftliche 
Auffassung der Wirklichkeit mit der Wirklichkeit selbst ver- 
wechselt 

Doch weil wir hiermit in einem gewissen Sinne nicht über 
logische Möglichkeiten hinauskommen, und wenigstens nach dem 
bisher Ausgeffihrten ein wunderlicher Zufall es fügen könnte, 
daß Gesetzesbegriffe und Kulturbegriffe sich stets decken, so muß 
zur Klarstellung noch ausdrücklich gezeigt werden, in welchem 
Fall jedes Suchen nach Gesetzen des Kulturlebens sinnlos ist 
Der entscheidende Punkt steckt wieder in dem Begriff des Ver- 
hältnisses, das das historische Ganze zu seinen Teilen hat. Zu- 
nächst: in welchen Fällen kann die Auffassung der Wirklich- 
keit als Kultur mit der generalisierenden Auffassung zusammen- 
gehen? Da die Kultui*werte als allgemeine Werte immer auch 
Begriffe mit allgemeinem Inhalt sind, so lassen sich die histori- 
schen Ereignisse, die durch ihre Individualität mit Bäcksicht auf 
einen allgemeinen Kulturwert wesentlich werden, zugleich auch 
als Exemplare dieses allgemeinen Begriffes betrachten. Denn 
wenn auch das individualisierende Verfahren immer wertbe- 
ziehend ist, so dari man doch diesen Satz nicht umkehren und 
behaupten, daß jeder allgemeine Wert die Darstellung indi- 
vidualisierend macht Es können vielmehr z. B. diejenigen Vor- 
gänge, die in einer Geschichte der Kunst oder des Rechtes vor- 
kommen, auch als Exemplare des allgemeinen Begriffes Kunst 



Geschichtsphilosophie. 95 

oder Recht angesehen werden, nnd wenn dabei auch die Wert- 
beziehung, welche die Dinge durch ihre Individualität zu dem 
Kulturwert Kunst oder Recht haben, gelöst werden muß, so 
bleibt eine solche generalisierende Darstellung doch eine Dar- 
stellung von Kulturvorgängen auch in dem Sinne, daß sie die 
Objekte als Kultur behandelt, denn der Kulturbegriff der Kunst 
oder des Rechts ist es, der das Gebiet abgrenzt und bestimmt, 
welche Objekte zu Exemplaren des betreffenden Systems von all- 
gemeinen Begriffen werden. Was für diese Kulturwerte gilt, 
kann natürlich auch für alle gelten, und es läßt sich daher 
denken, daß jene großen Einheiten des geschichtlichen Lebens, 
die wir Kulturvölker nennen, alle als Exemplare eines Systems 
von allgemeinen Begriffen aufgefaßt werden, in dem dann die 
Gesetze zum Ausdruck kommen, die für den sich stets wieder- 
holenden Werdegang jedes beliebigen Kulturvolkes gelten. Frei- 
lich, man darf dies aus den angegebenen Gründen nie Geschichte 
nennen, und femer soll, wenn dies als möglich bezeichnet wird, 
nur die logische Möglichkeit gemeint, von den faktischen Schwie- 
rigkeiten dagegen, die einem solchen Unternehmen entgegen- 
stehen, mit keinem Wort die Rede sein. Denn es kommt hier 
nur darauf an, dem Programm einer Gesetzeswissenschaft des 
Kulturlebens alles nur irgend Denkbare zuzugestehen, um dann, 
nachdem dies geschehen ist, um so sicherer entscheiden zu können, 
ob die erstrebte Gesetzeswissenschaft, in ihrer höchsten Vollen- 
dung gedacht, den Ansprüchen genügen würde, die man an eine 
Geschichtsphilosophie als Lehre von den Prinzipien des histori- 
schen Lebens stellen muß. 

Will man diese Frage beantworten, so ist zu beachten, daß 
die GeschichtsphUosophie, wie man ihre Aufgabe auch sonst 
bestimmen mag, nicht Philosophie des Objektes einer historischen 
Spezialuntersuchung, sondern Philosophie des Objektes der 
Universalgeschichte zu sein und zugleich die Prinzipien des 
historischen Universums festzustellen hat. Unter dem historischen 
Universum aber ist, so unbestimmt dieser Begriff auch noch sein 
mag, jedenfalls das denkbar umfassendste historische Ganze, also 
ein seinem Begriff nach Einmaliges und Individuelles zu ver- 
stehen, zu dem jedes von einer historischen Spezialuntersuchung 
behandelte Objekt als individuelles Glied gehört, und wir werden 
femer von den Prinzipien der G^chichte verlangen, daß sie 
Prinzipien der Einheit dieses Universums sind. Schon daraus 



96 GesehiehtipfaikMopliiA. 

folgt, daß eine Oesetzeswissenschaft als historische Prinzipiett- 
lehre nicht etwa nur vor mehr oder weniger großen Schwierig- 
keiten steht, sondern logisch unmöglich ist Man wende nicht 
ein, daß auch das Weltganze seinem Begriffe nach etwas Ein- 
maliges sei, und daß es daher, wenn diese Argumentation richtig 
wäre, keine Gesetze geben könne, die, wie wir das z. B. vom 
Gravitationsgesetz annehmen, für das Weltganze gelten. Die 
generalisierenden Wissenschaften haben es niemals in der Weise 
mit dem Weltganzen zu tun, wie die Geschichtsphilosophie es 
mit dem historischen Universum zu tun haben muß. Sie suchen 
nach Gesetzen daf&r nur in dem Sinne, daß sie das feststellen 
wollen, was fBr alle seine Teile gilt Niemals aber denken sie 
daran, diese Teile zugleich als Glieder des Ganzen zu be- 
trachten, und vollends können die allgemeinen Gesetze nicht 
Prinzipien der Einheit dieses Ganzen sein. Je allgemeiner sie 
gelten, um so mehr ist jeder Teil nur Gattungsexemplar und 
damit von all den Bestimmungen, die ihn zum Glied des Ganzen 
machen, losgelöst Nehmen wir also an, die Soziologie hätte ihr 
höchstes Ziel erreicht und Gesetze fBr alle Teile des historischen 
Universums, z. B. f&r die Entwicklung aller Kulturvölker ge- 
funden, so wären diese Kulturvölker dadurch f&r sie zu Gattungs^ 
exemplaren geworden, und ständen als Gattungsexemplare not- 
wendig begrifflich isoliert nebeneinander. Sie könnten nicht 
zur Einheit des einmaligen individuellen historischen Univer- 
sums zusammengeschlossen werden, denn als Glieder eines histo- 
rischen Zusammenhanges müssen sie immer Individuen sein, und 
vollends wären die von der Soziologie gefundenen Gesetze nicht 
als Prinzipien f&r die Einheit der individuellen Glieder des indi- 
viduellen Universums zu brauchen. Der Begriff des Gesetzes als 
eines Prinzipes des historischen Universums ist demnach f&i- die 
Geschichtsphilosophie ebenso logisch widersinnig, wie der Begriff des 
historischen Gesetzes als Ziel einer empirischen Geschichtswissen- 
schaft. Gewiß geht die Geschichtsphilosophie auf das „Allgemeine", 
ab^ nur insofern, als sie es mit dem historischen Universum zu tun 
hat^ und gerade deswegen bleibt auch ihr Objekt stets ein ein- 
maliger und individueller Entwicklungsgang, daraus Individuen als 
seinen Gliedern besteht Die Soziologie als Gesetzeswissenschaft 
kann daher, so wertvoll sie sonst sein mag, der Geschichte wohl 
Hilfsbegriffe bei der Erforschung kausaler Zusammenhänge liefern, 
darf aber niemals an die Stelle der Geschichtsphilosophie treten. 



Geschichtsphilosophie. 97 

Von diesem G^esichtspankt ans sind auch alle die Versuche zu 
beurteilen, allgemeine „Faktoren^' oder „Kräfte^ des geschichtlichen 
Lebens zu erkennen. Da alle Geschichte von Menschen handelt, 
und bei allen Menschen eine körperliche von einer geistigen 
Seite geschieden werden kann, läßt sich selbstverständlich eine 
Einteilung dieser Kräfte in physische und psychische vornehmen, 
und man wird auch vielleicht mit Erfolg eine noch mehr spe- 
zialisierte Übersicht Aber diejenigen Faktoren geben können, 
die in dem historischen Geschehen wirksam sind. Aber, wie 
man auch im einzelnen über den Wert solcher Bemühungen 
denken mag, es ist nicht nur wegen des Auseinanderfallens der 
Natui*- und Eulturauffassung der Wirklichkeit die äußerste Vor- 
sicht bei der Verwendung von solchen generalisierenden Theorien 
notwendig, sondern, man sollte vor allem sich nie darüber 
täuschen, daß diese allgemeinen Kräfte und Faktoren nicht das 
sind und auch nicht das bestimmen, was geschichtlich wesentlich 
ist. Sie sind vielmehr nur Bedingungen, ohne die allerdings die 
historischen Ereignisse nicht sein können, aber gerade wenn sie 
absolut allgemeine Bedingungen sind, werden sie weder fSr den 
empirischen Historiker, noch für den Geschichtsphilosophen 
Interesse haben. So ist z. B. die Wärme der Sonne ein Faktor, 
den wir aus keinem geschichtlichen Ereignis weg denken können, 
und ebenso würde die ganze Geschichte anders verlaufen sein, 
als sie verlaufen ist, ja es würde wohl überhaupt keine Kultur 
geben, wenn die Menschen sich nicht durch die Sprache 
untereinander verständigen könnten. Aber darum sind doch 
Sonnenwärme oder Sprache ganz gewiß keine „historischen 
Prinzipien^. Gerade die unbedingte Allgemeinheit ist es, die 
ihnen das geschichtliche Interesse raubt. Ja, ganz abgesehen 
davon, ob man eine Wissenschaft von den allgemeinen Kräften 
und Faktoren des gesellschaftlichen Lebens Geschichtsphilosophie 
nennen soll, darf man wohl bezweifeln, daß die hier in Betracht 
kommenden mannigfaltigen naturwissenschaftlichen, psycho- 
logischen und kulturwissenschaftlichen Kenntnisse sich überhaupt 
zu einer einheitlichen Wissenschaft zusammenschließen lassen. 
Bisher existiert jedenfalls diese Wissenschaft nicht, und es wird 
auch wohl so bleiben, daß, wenn der Historiker das Bedürfnis 
nach Einsicht in die allgemeinen „Kräfte^ hat, die in dem von 
ihm behandelten Gebiet eine Rolle spielen, er sich an die 
generalisierenden SpezialWissenschaften wendet, an die Anthropo- 

Windel1>and, Die Philosophie im Beginn des 80. Jahrh. II. Bd. 7 



98 Geschichtspliflosophie. 

logie, die Psychologie, die Soziologie nsw^ die ihn dann am gründ- 
lichsten informieren werden. 

Es würde znr Elarlegnng des allgemeinen Prinzips, auf das 
wir nns hier beschränken müssen, nicht wesentlich beitragen, 
wenn wir die verschiedenen Gmppen von Problemen, die hier 
in Betracht kommen, im einzelnen durchgehen wollten, und nur 
das sei noch hervorgehoben, da£ nur für die mehr oder weniger 
konstanten Faktoren des geschichtlichen Lebens der Historiker 
Belehrung bei generalisierenden SpezialWissenschaften suchen 
kann, für manche Fragen dagegen, die sich auf das allgemeine 
Wesen des geschichtlichen Lebens beziehen, von den generali- 
sierenden Wissenschaften überhaupt eine Antwort nicht zu er- 
warten hat, und zwar werden das besonders solche Fragen seiu, 
die man zu den geschichtsphilosophischen Problemen rechnet. 
Wir beschränken uns hier auf ein Beispiel, bei dem die ver- 
schiedensten Richtungen der empirischen Geschichtswissenschaft 
und der Geschichtsphilosophie fehlgreifen. Es ist die Frage 
nach der Rolle, welche die Individuen in der Geschichte spielen, 
die man vor allen als Individuum zu bezeichnen gewöhnt ist, näm- 
lich die einzelnen Persönlichkeiten. Hier hat gerade die 
Ansicht, welche sowohl die empirische als auch die philosophische 
Behandlung der Geschichte durch eine Gesetzeswissenschaft ab- 
lehnt, ein Interesse daran, hervorzuheben, daß dieses Problem 
eine allgemeine Lösung in einem sogenannten „individualistischen^ 
Sinne nicht gestattet, und zwar ergibt sich dies wieder aus 
einer logischen Einsicht. Gewiß ist es ganz verkehrt, zu sagen, 
daß es in der Geschichte auf die einzelnen Persönlichkeiten gar 
nicht ankomme, sondern überall nur das „allgemeine" Leben 
der Massen ausschlaggebend sei, aber es ist ebenso falsch, die 
entscheidenden Faktoren stets in den Taten einzelner Persön- 
lichkeiten zu suchen und die Geschichte mit Carlyle für eine 
Summe von Biographien zu erklären. Leider wird die hier 
entstehende Alternative sehr häufig mit der Frage nach dem 
logischen Wesen der Geschichte so in Zusammenhang gebracht, 
daß man die Vertreter der Ansicht, nach der die Geschichte 
individualisierend in unserem Sinne verfährt^ zugleich für die 
Anhänger einer Geschichte von Persönlichkeiten hält, und doch 
hat die individualisierende Methode auch nicht das Geringste 
mit Heroenkult zu tun. Im Gegenteil, gerade weil die Ge- 
schichte die Wissenschaft vom Individuellen ist^ kann die Frage, 



GeschichtsphiloBophie. 99 

welche Bedentniig die einzelnen Persönlichkeiten besitzen, von 
der Geschichtsphilosophie nicht zugunsten der großen Männer 
entschieden werden. Der Grund ist derselbe, der es verbietet, in 
das entgegengesetzte Extrem zu verfallen und aus der Bildung 
von EoUektivbegriffen ein Prinzip der Methode zu machen. 
Die Behauptung, es komme überall auf Persönlichkeiten 
an, wäre ja ein Produkt der generalisierenden Begriffsbildung, 
ein historisches Gesetz. Es muß für jeden besonderen Teil des 
historischen Geschehens untersucht werden, welche Massen- 
bewegungen und welche rein persönlichen Taten für die leiten- 
den Eulturwerte von ausschlaggebender Bedeutung waren, und 
erst dann ist eine Beantwortung der Frage nach der Bedeutung 
der einzelnen Menschen für alle besonderen Teile der Ge- 
schichte möglich. Tatsächlich verdanken auch weder die all- 
gemeinen Behauptungen über die ausschlaggebende Bedeutung 
der Massen, noch die über die Bolle der einzelnen Personen 
einer generalisierenden Begriffsbildung ihre Beliebtheit, sondern 
sie sind auf willkürliche Einseitigkeit in der Bevorzugung dieser 
oder jener Eulturwerte und damit auf willkürliche Auswahl des 
historisch wesentlichen Materials zurückzuführen, wie sich bei 
der Antwort auf die Frage, was denn wirklich die Prinzipien 
des historischen Lebens sind, noch deutlicher zeigen wird. 

Bei der Frage nach der Bedeutung der historischen Gesetze 
sei schließlich noch auf einen Punkt hingewiesen, der ebenfalls 
zu Streitfragen Veranlassung gegeben hat. Es kommt nämlich 
noch darauf an, zu zeigen, daß nicht nur gewisse viel behandelte 
geschichtsphilosophische Probleme keine allgemeine Entscheidung 
zulassen, sondern daß auch dort, wo ein Historiker einen für 
alles geschichtliche Leben gültigen Satz behauptet^ es sich dabei 
durchaus nicht immer um ein Produkt der generalisierenden 
Auffassung zu handeln braucht. Nehmen wir als Beispiel eine 
These Bankes, die im Eampf um die historischen Gesetze eine 
Rolle gespielt hat. Sie enthält, wie v. Below sagt> die „allgemeine 
Wahrheit: die Erkenntnis, daß das innere Leben der Staaten 
zum großen Teil abhängig ist von dem Verhältnis der Staaten 
untereinander, von den Weltverhältnissen", und sie wird zu- 
gleich als eine wissenschaftliche Entdeckung allerersten Banges 
bezeichnet. Ist, so kann man fragen, diese allgemeine Wahrheit 
nicht ein historisches Gesetz, wenn auch nur in jenem logisch 
widerspruchslosen Sinn eines Gesetzes für den von der Geschichte 

7* 



IjOO Geschichtspliilosophie. 

individualisierend dargestellten Stoff? Wer Bankes Geschichts- 
auffassung kennt, wird diese BYage verneinen. Die „Welt- 
verhältnisse^ sind f&r diesen großen Historiker ein bestimmter 
Komplex von untereinander zusammenhängenden Eulturstaaten, 
und Ranke rechnet überhaupt nur Staaten, die in einem Zu- 
sammenhange mit diesen Eulturstaaten stehen, also auch Einflüsse 
von ihnen empfangen, zu seiner geschichtlichen „Welt". Wir 
haben in dem angefahrten Satze, gerade wenn er absolut all- 
gemein gelten soll und daher von jedem eigentlich geschicht- 
lichen Inhalt frei ist, nichts weniger als ein Produkt generali- 
sierender Wissenschaft und überhaupt keine wissenschaftliche 
„Entdeckung^' vor uns, sondern nur die Formulierung einer metho- 
dologischen Voraussetzung, mit der Bänke an die individuali- 
sierende Darstellung der einzelnen Staaten herangeht und heran- 
gehen muß, wenn er alles universalgeschichtlich in seinem Sinn 
behandeln wilL Ebenso steht es mit anderen allgemeinen Be- 
hauptungen, wie z. B., daß jedes noch so große Individuum in 
Grenzen eingeschlossen ist, die durch den Enlturzustand seines 
Volkes gegeben sind. Das ist absolut selbstverständlich, denn 
auch hier wird gar nichts anderes als der reale Zusammenhang 
jedes historischen Teiles mit seinem historischen Ganzen be- 
hauptet. Ein System solcher allgemeinen Sätze würde also 
nicht einmal als generalisierende Hilfswissenschaft der Ge- 
schichte bei Erforschung von Kausalzusammenhängen Dienste 
leisten, sondern nur die Voraussetzungen enthalten, die gemacht 
werden müssen, wenn Greschichte als wissenschaftliche Dar- 
stellung historischer Zusammenhänge überhaupt möglich sein soll 
So zeigt sich von neuem, daß es keinen Sinn hat, die Prinzipien 
des historischen Geschehens in Gesetzen zu suchen. 

Aber gerade weil die Ablehnung einer GeschichtsphUosophie 
als Gesetzeswissenschaft sich als notwendige Folge der Einsicht 
in das logische Wesen der Geschichte ergeben hat, so scheint 
damit zu viel bewiesen zu sein, denn, mögen auch alle sozio- 
logischen Theorien, die Geschichtsphilosophie sein wollen, inhalt- 
lich falsch sein, so gibt es doch tatsächlich Versuche, Gesetze fftr 
das einmalige Ganze der historischen Entwicklung aufzustellen, 
und diese wären überhaupt unmöglich, wenn der Begriff der 
Gesetzeswissenschaft als Geschichtsphilosophie einen logischen 
Widerspruch enthielte. Das ist gewiß richtig, und deshalb 
muß noch gezeigt werden, daß, wo Prinzipien des historischen 



Geschiehtsphiloflophie. 101 

Geschehens in Form von Gesetzen aufgestellt scheinen, tatsäch- 
lich nicht einmal in formaler Hinsicht Gesetze im Sinne von 
Naturgesetzen gebildet sind. Zugleich wird sich dadurch, daß 
wir einsehen, was hier wirklich vorliegt, eine Antwort auf die 
Frage ergeben, was allein als Prinzip des historischen Lebens 
bezeichnet werden darf 

Es ist für fast alle Versuche, das Naturgesetz des histo- 
rischen Universums zu finden, charakteristisch, daß ihr Gesetz 
zugleich die Formel für den Fortschritt der Geschichte ent- 
halten soll, und damit ist eigentlich bereits das Wesentliche 
klargestellt Man versteht, wie verlockend es sein muß, mit 
einem Schlage Naturgesetz, Entwicklungsgesetz und Fortschritts- 
gesetz zu erfassen, wie z. B. Gomte dies mit seinem Gesetz von 
den drei Stadien: dem theologischen, dem metaphysischen und 
dem positiven getan zu haben glaubte, und wie großer Beliebt- 
heit sich daher diese Art von Soziologie, die so viel zu leisten 
verspricht, noch heute erfreut. Man versteht aber auch, sobald 
man über das logische Wesen der Geschichte sich Klarheit ver- 
schafit hat, daß solche Versprechungen nie erfüllt werden können. 
Erstens sind nämlich Fortschritt oder Rückschritt Wert- 
begriffe, genauer Begriflfe von Wertsteigerungen oder Wert- 
verminderungen, und von Fortschritt kann man daher nur dann 
reden, wenn man einen Wertmaßstab besitzt. Zweitens ist 
Fortschritt das Entstehen von etwas Neuem, in seiner Indivi- 
dualitat noch nicht Dagewesenem. Der Begriff eines Wertmaß- 
stabes aber als Begriff dessen, was sein soll, kann niemals mit 
einem Gesetzesbegriff zusammenfallen, der das enthält, was 
überall und immer ist oder sein muß, und was daher zu fordern 
keinen Sinn hat Sollen und Müssen schließen einander begriff- 
lich aus, und nur wegen der erwähnten Vieldeutigkeit des 
Wortes Gesetz kann man von einem Fortschrittsgesetz reden. 
Femer geht das Enstehen des Neuen, noch nicht Dagewesenen 
in kein Gesetz ein, denn ein Gesetz enthält nur das, was sich 
beliebig oft wiederholt. Versteht man daher unter Fortschritt 
erstens das Entstehen von etwas Neuem und zweitens eine 
Wertsteigerung, und versteht man unter Gesetz ein Naturgesetz, 
so ist der Begriff des Fortschrittsgesetzes zweifach logisch 
widersinnig. Wo also durch ein „Gesetz" das historische Uni- 
versum zur Einheit zusammengefaßt, mit Rücksicht auf das 
Entstehen des Neuen gegliedert und als Fortschritt bezeichnet 



102 Geschichtsphilosophie. 

wird, kann das Gesetz niemals ein Naturgesetz sein. Comtes 
„Gesetz'^ ist denn auch tatsächlich eine WertformeL Das „Po- 
sitive^' gilt ihm als das, was sein soll, als das absolute Ideal 
Von hier aus betrachtet er die Entwicklung der Menschheit und 
stellt fest, was ihre verschiedenen Stadien Neues und Wertvolles 
für die Bealisierung seines Ideals bedeuten. Das vermag eine 
Gesetzeswissenschaft, welche ihre Objekte von allen Wertver- 
knüpfungen loslösen und als gleichgültige Gattungsexemplare 
betrachten muß, niemals zu leisten. 

Es ist hier nicht möglich und zur Klarlegung des Prinzips 
auch nicht erforderlich, die verschiedenen Versuche kritisch zu 
beleuchten, die gemacht worden sind, um angebliche Gesetze als 
Prinzipien des historischen Geschehens zustande zu bringen, und 
überall nachzuweisen, daß diese G^etze mehr oder weniger ver- 
steckt Wertbegriffe enthalten, also keine Gesetze sind. Nur an 
eine Art sei ausdrücklich erinnert, die an den Namen Da rwins 
anknüpft und als Versuch bezeichnet werden kann, dem Begriff 
der geschichtlichen Entwicklung einen rein naturalistischen Cha- 
rakter zu geben durch den Nachweis, daß gerade das Natur- 
gesetz der Entwicklung deren notwendige Wertsteigerung ver- 
bürge. Jeder Fortschritt vom Niederen zum Höheren, so argu- 
mentiert man, ist bedingt durch das überall gültige Gesetz 
der Auslese, die immer mehr das Schlechte beseitigt und dem 
Guten zum Siege verhilft. Dieses Gesetz muß daher zugleich 
auch das Prinzip der historischen Entwicklung und des Fort- 
schrittes sein. Das klingt manchem wohl sehr plausibel, aber 
man braucht auf die nähere Ausführung derartiger Gedanken, 
auf Grund deren man die verschiedensten Fortschrittsbegriffe 
gewonnen hat, nicht einzugehen, um zu zeigen, daß hier ein 
totales Mißverständnis der Biologie Darwins vorliegt. Wenn 
diese Theorie wirklich eine rein naturalistische Erklärung geben 
soll, so muß sie auf jede Wertteleologie verzichten und daher auch 
die Verwendung von Wertbegrift'en wie „höher" und „nieder" 
gänzlich vermeiden. Die natürliche Auslese beseitigt nicht das 
Schlechte und erhält das Gute, sondern verhilft lediglich dem 
unter bestimmten Verhältnissen Lebensfähigeren zum Siege, und 
dieser Prozeß kann ein Fortschritt nur dann genannt werden, 
wenn man das Leben als solches, in welcher Gestalt es auch 
auftreten mag, zum absoluten Werte machen will Das aber 
wäre ganz sinnlos, denn Lebensfähigkeit hat alles Leben schon 



Geschichtsphilosophie. 103 

durch sein bloßes Dasein bewiesen, und daher fällt jeder Wert- 
unterschied von diesem Standpunkte aus weg. Man darf nicht 
einmal auf Grund der Begriffe Darwins menschliches Leben höher 
als tierisches schätzen und daher die Entwicklung zum Menschen 
als einen Fortschritt bezeichnen. Vollends ist es unmöglich, 
unter rein naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten innerhalb des 
Menschenlebens irgendwelche Wertunterschiede zu machen. Nur 
wenn man vorher schon auf Grund eines Wertmaßstabes eine 
bestimmte Gestaltung als wertvoll gesetzt hat, kann man die 
Entwicklung, die zu ihr hinfuhrt, als Fortschritt bezeichnen. 
Niemals aber wird man aus den Naturgesetzen des Entwick- 
lungspi*ozesses, die ffir jedes beliebige Stadium dieselben sein 
müssen, wenn sie allgemeine Gesetze sein sollen, das Fortschritts- 
prinzip ableiten können. Der Umstand, daß gewisse Natur- 
gebilde, wie z. B. die Menschen, „selbstverständlich^ höher ge- 
schätzt werden als andere Formen, erklärt uns zwar die Mög- 
lichkeit einer individualisierenden Stammesgeschichte der Orga- 
nismen und trägt dazu bei, die Vertreter einer naturwissen- 
schaftlichen Geschichtsphilosophie ttber den Gebrauch, den sie 
fortwährend von Wertprinzipien machen, zu täuschen, ändert 
aber an der Tatsache, daß aus wirklich naturwissenschaftlichen 
Begriflfen keine Werte abgeleitet werden können, nichts. Von 
solcher Täuschung sind endlich auch diejenigen beherrscht, die, 
wohl meist ebenfalls angeregt durch Darwins Begriff der „be- 
günstigten Eassen im Kampf ums Dasein^, eine Geschichtsphilo- 
sophie auf den Begriff der Basse bauen wollen. Sie fibersehen, 
daß sie diesen Begriff, um überhaupt irgend eine Philosophie der 
Geschichte zustande zu bringen, ganz unkritisch und grundlos 
als Wertbegriflf benutzen müssen, und dies Verfahren ist um so 
bedenklicher, als sie dadurch den für die Geschichtsphilosophie 
äußerst wichtigen Begriff der Nation, der ein Kulturbegriflf 
ist und eine Volksindividualität bedeutet, in Mißkredit bringen. 
Der Begriff der Eultumation hat mit dem, übrigens auch unter 
naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten wohl nicht ganz ein- 
wandsfreien Naturbegriff der Rasse, mit dem heute so viel dilet- 
tantisches Unwesen getrieben wird, nichts zu tun. Das Deutsch- 
tum steckt nicht im Geblüte sondern im Gemüte, hat Lagarde 
gesagt, ein Mann, der über den Verdacht, das Nationale 
zu gering zu schätzen, erhaben ist, und diesem Ausspruch 
liegt derselbe Gedanke zugrunde, der es verbietet, Naturbegriffe, 



104 Geachichtsphilosophie. 

wie den der Basse, zn geschichtsphilosophischen Prinzipien zu 
machen. 

Der Nachweis, dafi die angeblichen historischen Gesetze 
Wertformeln sind, hat nns zugleich den Weg gezeigt^ auf dem 
tatsächlich die Prinzipien des historischen Geschehens gesucht 
werden mfissen, und wieder ist es die Einsicht in das logische 
Wesen der Geschichtswissenschaft, die hier entscheidet. Das 
historische Universnm ist nichts anderes als das denkbar um- 
fassendste individualisierend aufgefaßte historische Ganze, und 
weil die Wertbeziehung die conditio sine qua non einer indi- 
vidualisierenden Auffassung überhaupt ist, so können es auch 
nur Wertbegriffe sein, die den Begriff des historischen Univer- 
sums konstituieren. Das allein aber, was diese Arbeit leistet 
und es möglich macht, die verschiedenen Teile des historischen 
Universums als individuelle Glieder zu einer Einheit zusammen- 
zuf&gen, verdient den Namen eines historischen Prinzipes, und 
deswegen ist die Geschichtsphilosophie als Prinzipienwissen- 
schaft, wenn sie überhaupt eine Aufgabe haben soll, die Lehre 
von den Werten, an denen die Einheit und Gliederung des 
historischen Universums hängt. Mit Rücksicht auf diese Werte 
kann dann auch der einheitliche Sinn der Gesamtentwicklung 
gedeutet werden. Die Deutung dieses Sinnes ist auch tatsächlich 
immer das gewesen, was man in der Geschichtsphilosophie er- 
strebte, auch dort, wo man nach Gesetzen suchen zu müssen 
glaubte, weil man Gesetz und Wert, Müssen und Sollen, Sein 
und Sinn nicht unterschied und sich nicht klar darüber war, 
daß das, was man nicht auf Werte beziehen kann, absolut sinnlos 
ist. Auf eine Deutung des Sinnes der Geschichte wollte auch 
der Naturalismus nicht verzichten, und man wird es auch nicht 
gut können. Alles Kulturleben ist geschichtliches Leben, und die 
Kulturmenschen, zu denen doch auch die Naturalisten gehören, 
können es als Kulturmenschen gar nicht unterlassen, sich 
über den Sinn der Kultur und damit über den Sinn der Ge- 
schichte Rechenschaft zu geben. Es entsteht demnach hier 
eine Aufgabe, welche weder der Naturalismus, der die Wirk- 
lichkeit von allen Wertverbindungen loslöst, noch die empi- 
rische Geschichtswissenschaft, die den geschichtlichen Verlauf 
nur theoretisch wertbeziehend darstellt, in Angriff nehmen 
kann, und daher wird man die Lösung dieser notwendigen 
und unvermeidlichen Aufgabe von der Geschichtsphilosophie 



Geschichtsphilosophie. 105 

als der Lehre von den Prinzipien des historischen Greschehens 
erwarten. 

Nicht 80 einfach wie die Frage nach dem Gegenstände 
dieser Geschichtsphilosophie ist jedoch die Frage nach der Art 
seiner Behandlang zu beantworten. Nor eine Aufgabe läßt sich 
hier stellen, gegen deren Lösbarkeit man nicht erhebliche Be- 
denken geltend machen wird. Sie knüpft an die wirklich vor- 
handenen Leistungen der Historiker und Geschichtsphilosophen 
an nnd sucht darin die leitenden Eoltnrwerte als Prinzipien der 
Darstellung aufzuzeigen. Für manche Arbeiten wird diese Auf- 
gabe zum Teil wenigstens so leicht zu lösen sein, da£ es einer 
besonderen Untersuchung kaum bedarf. In einer Kunstgeschichte 
oder in einer Beligionsgeschichte müssen es jedenfalls künstle- 
rische und religiöse Werte sein, auf welche die darzustellenden 
Objekte bezogen werden. Aber durchaus nicht immer liegt die 
Sache so, daß ein bestimmter Wertgesichtspunkt sogleich als 
leitend hervortritt. Besondere bei umfassenderen Werken, die 
ganze Völkerentwicklungen oder Zeitalter zum Gegenstande 
haben, wird man auf die mannigfachsten Wertgesichtspunkte 
stoßen, und es ist eine sehr anziehende Beschäftigung, sich dar- 
über klar zu werden, warum der Historiker die^e Ereignisse 
ausführlich, jene nur kurz, andere ebenso wirkliche Vorgänge 
gar nicht behandelt hat. Die Historiker selbst sind sich der 
Gründe hierfür nicht immer bewußt. Sie können es nicht sein, 
da sie ja oft nichts von der logischen Struktur ihrer Tätigkeit 
wissen und Wertbeziehungen überhaupt nicht vorzunehmen 
glauben, um so wichtiger ist es, ihre Voraussetzungen aus- 
drücklich klarzulegen und aufzuzeigen, wovon sie bei der Ge- 
staltung ihres Materials abhängig sind. Es muA sich dabei 
zeigen, daß jeder Historiker, besonders wenn er sich nicht auf 
Spezialuntersuchungen beschränkt, eine Art Geschichtsphilosophie 
besitzt^ die entscheidend dafür ist, was er fUr wichtig und was 
er für unwichtig hält, und es ist gewiß eine lohnende Aufgabe, 
diese Geschichtsphilosophie besonders der großen Historiker zu 
entwickeln. Auch bei einem so „objektiven^ Historiker, wie 
z. B. Ranke es ist, sind ganz bestimmte philosophische Voraus- 
setzungen über den Sinn der Geschichte wirksam und müssen es 
sein, da er ja alles vom universalhistorischen Standpunkt be- 
handeln wollte. Mit Recht hat Dove bemerkt, daß Ranke der 
einseitigen Teilnahme nicht durch Neutralität, sondern durch 



106 Geschichtsphüosophie. 

Universalität des Mitgefühls entgangen sei, und damit ist die 
Beziehung auf Werte implicite anerkannt. Aber, wenn dies so 
ist, dann kann man dabei nicht stehen bleiben. Worin besteht 
das Universum der Mitgefühle bei diesem großen Historiker? 
Eine hierauf gerichtete Untersuchung würde auch vielleicht 
etwas mehr Klarheit in die Frage bringen, was eigentlich die 
so viel besprochenen ßankeschen „Ideen'' sind. Es dürfte sich 
zeigen lassen, daß Bankes Geschichtsphüosophie Wandlungen 
unterworfen gewesen ist, aber unter den Faktoren, aus denen die 
nichts weniger als einfachen Ideen bestehen, haben immer die 
leitenden Wertgesichtspunkte von Eankes Geschichtsauffassung 
eine wesentliche Bolle gespielt. In solchen und ähnlichen Unter- 
suchungen müssen Geschichte und Philosophie sich aufs engste 
berühren. 

Noch wichtiger unter philosophischen Gesichtspunkten aber 
ist die Analyse der Versuche, die insofern über die empirische 
Geschichtswissenschaft hinausgehen, als sie ausdrücklich Prin- 
zipien des geschichtlichen Lebens aufstellen, und zwar solche, 
die zum Verständnis der gesamten menschlichen Entwicklung 
und zur Deutung ihres Sinnes dienen sollen. Hier bedarf es 
daher nicht nur der Analyse, sondern auch der Kritik, d. h. es 
ist nach der Feststellung, inwiefern die Prinzipien des historischen 
Lebens Werte sind, und worin sie bestehen, zu untersuchen, mit 
welchem Becht gerade diese Wertgesichtspunkte als entscheidend 
für den allgemeinen Sinn der universalen Entwicklung be- 
trachtet werden. Natürlich kann es sich hier wieder nur um 
den Hinweis auf dieses oder jenes Beispiel handeln. Als be- 
sonders charakteristisch sei die sogenannte materialistische 
Geschichtsauffassung herausgegriffen, und zwar in ihrer 
ursprünglichen Gestalt, wie sie ün kommunistischen Manifest 
vorliegt^ und soweit sie, ganz unabhängig von dem theoretischen 
oder metaphysischen Materialismus, sich auf eine Deutung des 
empirischen geschichtlichen Lebens beschränkt. Schon der Um- 
stand, daß sie als Bestandteil eines politischen Programms ent- 
standen ist, weist darauf hin, wo die für sie leitenden Wert- 
gesichtspunkte zu suchen sind. Sie ist nur zu verstehen, wenn 
man berücksichtigt, daß um den Kampf des Proletariats gegen 
die Bourgeoisie die Interessen ihrer Urheber sich drehten, und 
daß der Sieg des Proletariats der zentrale, absolute Wert war. 
Weil das mit Bücksicht auf diesen Wert Wesentliche in der 



Gescbichtsphüosophie. 107 

Gegenwart der Kampf zweier Klassen miteinander ist, so sucht 
man die ganze Geschichte als eine Geschichte von Klassen- 
kämpfen zu verstehen nnd sie dadurch zu einer Einheit zu- 
sammenzuschließen. Die Namen der kämpfenden Parteien 
wechseln: Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und 
Leibeigener, Zunftbarger und Gesell stehen einander gegenüber. 
Aber jedesmal ist es, wieder mit Bücksicht auf den leitenden 
Wertgesichtspunkt, das eigentlich Wesentliche, daß es Unter- 
drücker und Unterdrückte, Ausbeutende und Ausgebeutete sind, 
die auf den verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwick- 
lung miteinander kämpfen. So sind die allgemeinen Prinzipien 
des historischen Geschehens gewonnen, und auch die nähere Aus- 
gestaltung wird ebenfalls durchweg von dem absoluten Wert, 
von dem erhofften Sieg des Proletariats über die Bourgeoisie 
bestimmt. In dem gegenwärtigen Kampf ist die Hauptsache, 
weil das entscheidende Moment, der Kampf um die wirtschaft- 
lichen Güter. Deswegen muß überall in der Geschichte das 
wirtschaftliche Leben die Hauptsache sein, und nach den ver- 
schiedenen Gestaltungen der Wirtschaft sind daher die Epochen 
der Geschichte zu gliedern, wodurch dann die „materialistische" 
d. h. ökonomische Auffassung entsteht. Es bedarf keines weiteren 
Beweises, wie sehr diese ganze Auffassung von Wertgesichts- 
punkten abhängig ist Daß sie sich nicht damit begnügt^ das 
auf ihren absoluten Wert Bezogene für das Wesentliche anzu- 
sehen, sondern daß sie nach Art des naiven Begriffsrealismus, 
zu dem hier noch der gar nicht naive Begriffsrealismus der 
Hegelianer hinzukommt, das Wesentliche zugleich als das 
„eigentlich Wirkliche" betrachtet und dem ganzen übrigen Kul- 
turleben nur eine Existenz geringeren Grades zugestehen will, 
ändert nichts an der Sache. Dieser Fehler ist typisch für ge- 
schichtsphilosophische Konstruktionen, die sich nicht klar ge- 
worden sind, daß sie Werte als leitende Gesichtspunkte be- 
nutzen, und er dient zugleich dazu, die Unklarheit über das 
leitende Prinzip aufrecht zu erhalten, denn ist einmal die 
Scheidung zwischen zwei verschiedenen Arten des Realen ge- 
macht, und im wirtschaftlichen Leben, infolge eines Piatonismus 
mit umgekehrtem Vorzeichen, die „eigentliche Ursache" von allen 
anderen historischen Ereignissen gefunden, dann muß der Schein 
entstehen, als konstatiere die materialistische Greschichtsauffassung 
lediglich Tatsachen, wenn sie überall von dem wirtschaftlichen 



108 GeBchichtsphilosophie. 

Leben als der Grundlage ausgeht. Doch sind diese metaphysi- 
schen Hypostasierungen des Wirtschaftlichen schließlich nur 
Übertreibungen und würden sich beseitigen lassen, ohne den 
geschichtsphilosophischen Kernpunkt des historischen Materialis- 
mus zu berühren. Jedenfalls ist mit der Einsicht in die Wert- 
prinzipien dieser Geschichtsauffassung zugleich der Gesichtspunkt 
gegeben, von dem die Kritik auszugehen hat Die entscheidende 
Frage besteht darin, ob es berechtigt ist, in dem Sieg des Pro- 
letariats auf wirtschaftlichem Gebiete und somit in einem wirt- 
schaftlichem Gut den absoluten Wert zu erblicken. Natürlich 
soll diese Frage hier nicht entschieden werden. Man wird es 
höchstens von vornherein als nicht sehr wahrscheinlich be- 
zeichnen dürfen, daß diese unter parteipolitischen Gesichts- 
punkten gewonnenen Wertprinzipien auch zur Deutung des 
Sinnes der Universalgeschichte geeignet sind. Denn eine un- 
übersehbare Fülle von menschlichen Bestrebungen und Taten 
aller Jahrhunderte muß von diesem Standpunkt aus als gänzlich 
sinnlos erscheinen. 

Doch mit solchen Vermutungen kann es natürlich nicht sein 
Bewenden haben. Gerade der Gedanke, daß die Geschichts- 
philosophie nicht nur durch Analyse die Prinzipien der empiri- 
schen geschichtswissenschaftlichen Werke und der geschichts- 
philosophischen Konstruktionen klarzulegen hat, sondern auch 
kritisch zu ihnen Stellung nehmen muß, sobald diese Prinzipien 
auf universale Geltung Anspruch erheben, we|st darauf hin, 
daß die Hauptaufgabe einer historischen Prinzipienwissenschaft 
noch in einer ganz anderen Eichtung liegt Kritik ist immer 
nur auf Grund eines Wertmaßstabes möglich, und femer 
muß, um eine Geschichtsauffassung als einseitig bezeichnen 
zu können, der Begriff einer allseitigen Auffassung in irgend 
einem Sinne vorhanden sein. Zu einer selbständigen Wissenschaft 
wird daher die Lehre von den Prinzipien des historischen Ge- 
schehens sich nur dann entwickeln, wenn sie sowohl systematische 
Vollständigkeit als auch kritische Begründung bei der Auf- 
stellung der historischen Prinzipien anstrebt, d. h. sie muß sich die 
Au&tellung eines Wertsystems zum Ziele setzen, und femer 
kommt für sie nicht nur die tatsächliche Wertung, sondern auch 
die Frage nach der Geltung der Kulturwerte in Betracht, und 
dazu braucht sie einen absoluten Wert, an dem die tatsächlichen 
Wertungen gemessen werden können. Dieser Wert wird dann 



Greschichtsphilosophie. 109 

zugleich auch den Gesichtspunkt abgeben, der bei der Auf- 
stellung eines Weilsystems maßgebend ist, so daß die Probleme 
einer Systematisierung und einer Geltung der Kulturwerte auf 
das Engste zusammenhängen. Wie aber soll die Geschichts- 
philosophie ein solches Wertsystem gewinnen, das es ihr er- 
möglicht, den Sinn des gesamten geschichtlichen Verlaufes zu 
deuten? Damit kommen wir zur letzten und zugleich wichtigsten 
Frage der histoiischen Prinzipienlehre. 

Es liegt der Gedanke nahe, diese Aufgabe einer besonderen 
Art der psychologischen Untersuchung zuzuweisen. Freilich 
nicht der „erklärenden" Psychologie, möge sie als „Individual- 
psychologie" vom Seelenleben im allgemeinen, oder als Sozial- 
psychologie vom sozialen Leben im besonderen nach naturwissen- 
schaftlicher Methode handeln, sondern nur einer Psychologie der 
Kulturwerte. Alle Geschichte handelt ja nicht nur im wesent- 
lichen von Kulturmenschen, sondern wird ausschließlich von 
Kulturmenschen geschrieben. Die Werte, welche der Kultur- 
mensch allgemein anerkennt, müssen, so scheint es, zugleich die 
Prinzipien einer universalen Geschichte der Kulturmenschheit 
sein. Es ließe sich also eine Kulturpsychologie denken, welche 
die Gesamtheit der allgemeinen Kulturwerte erforscht und syste- 
matisch darstellt, und damit zugleich ein System der Prinzipien 
des historischen Geschehens liefert, in dem alle die durch 
Analjrse der historischen und geschichtsphilosophischen Werke 
gewonnenen Wertsysteme ihren Platz finden, und an dem sie zu 
messen sind. Das ist jedenfalls der tiefste, ja der einzige Sinn, 
den man der Behauptung, daß die Psychologie die Basis för die 
Geschichtsphilosophie sein müsse, geben kann, und dieser Sinn 
liegt wohl auch dem von den Psychologen so gänzlich unver- 
standenen Bemühen Diltheys zugrunde, das Programm für eine 
„beschreibende und zergliedernde Psychologie" zu entwerfen, 
die neben die „erklärende" Psychologie zu treten hat So be- 
stechend jedoch der Gedanke erscheinen mag, der Geschichts- 
philosophie auf diese Weise eine rein empirische und daher 
sichere Grundlage zu verschaffen, so steht seiner Ausführung eine 
unüberwindliche Schwierigkeit im Wege. Diese Kulturpsycho- 
logie kann sich nicht auf die Untersuchung „des Kulturmenschen" 
in dem Sinne beschränken, daß sie die allen Kulturmenschen 
gemeinsamen Wertungen feststellt und systematisiert, 
denn bei diesem generalisierenden Verfahren würde ein äußerst 



110 Geschichtsphilosophie. 

dürftiges Wertsystem herauskommen, in dem nnr wenig von den 
Prinzipien einer Geschichte des historischen Universums ent- 
halten sein könnte. Die Eulturpsychologie müßte sich vielmehr 
an das historische Leben selbst in seiner ganzen Fülle und 
Mannigfaltigkeit wenden, um alle Eulturwerte kennen zu lernen, 
und wie sollte sie so zu leitenden Gresichtspunkten kommen, die 
ihr eine Gliederung und Beherrschung dieses Materials ermög- 
lichen ? Sie müßte, um in der Fülle der Wertungen das Wesent- 
liche vom Unwesentlichen scheiden zu können, das bereits be- 
sitzen, was sie erst suchen soll: nämlich die Kenntnis der Werte, 
die Prinzipien einer universalen Geschichte und Prinzipien des 
historischen Universums selbst sind. So gerät die Eultur- 
psychologie als Geschichtsphüosophie in einen unentfliehbaren 
Zirkel. 

Dem Ziel einer systematischen Darstellung und Begründung 
der historischen Prinzipien wird man sich auf rein empirischem 
Wege durch bloße Analyse tatsächlich vorhandener Wertungen 
überhaupt nicht nähern können. Es gilt vielmehr, sich zuerst^ 
ganz unabhängig von der Mannigfaltigkeit des historischen 
Materials, auf das zu besinnen, was absolut gilt, und was Vor- 
aussetzung jedes Werturteils ist, das auf mehr als individuelle 
Geltung Anspruch erhebt. Erst wenn zeitlos gültige Werte 
gefunden sind, kann man auf sie die ganze Fülle der empirisch 
zu konstatierenden, in der Geschichte zur Entwicklung ge- 
kommenen Eulturwerte beziehen und so eine systematische An- 
ordnung und zugleich kritische Stellungnahme versuchen. Nur 
dann also, wenn die Gewinnung üb er geschichtlicher Werte 
möglich ist, läßt sich Geschichtsphilosophie als eine besondere 
Wissenschaft von den Prinzipien des historischen Universums 
treiben und der Sinn der Geschichte des Universums deuten. 
Die Besinnung auf übergeschichtliche Werte aber gehört nicht 
mehr in das Gebiet der Geschichtsphilosophie als einer philo- 
sophischen Spezialdisziplin, sondern kann nur im Zusammenhange 
mit der Aufstellung eines Systems der Philosophie überhaupt 
unternommen werden. Es sieht sich also die Geschichtsphilo- 
sophie als Prinzipienwissenschaft angewiesen auf das Ganze der 
philosophischen Untersuchungen, insbesondere auf die Lehre vom 
Sinn der Welt, oder, falls die Frage danach keine wissenschaft- 
liche Frage sein sollte, auf die Lehre vom Sinn des Menschen- 
lebens. Die Grundlagen der Geschichtsphilosophie fallen daher 



Oeschichtsphflosophie. 111 

mit den Gmndlag^en einer Philosophie als Wertwissen- 
schaft überhaupt zusammen. 

Nor bis zu diesem Punkte kann die Untersuchung geführt 
werden, um den Begriff der Oeschichtsphilosophie als der Lehre 
von den historischen Prinzip\en im allgemeinen festzustellen. 
Die Frage, ob die Aufstellung absoluter Werte noch zu den 
Aufgaben der Wissenschaft gerechnet werden kann, ist an dieser 
Stelle nicht zu beantworten, denn sie ist identisch mit der Frage 
nach dem Begriff der wissenschaftlichen Philosophie überhaupt. 
Hier kam es nur darauf an, zu zeigen, daß Gesetze nicht Prin- 
zipien der Geschichte sein können, daß daher, wenn es außer der 
Logik der Geschichte noch geschichtsphilosophische Probleme 
geben soll, diese Probleme sich zu der Frage nach dem Sinn 
der Geschichte zusammenschließen müssen, und daß die Deutung 
dieses Sinnes eines Wertmaßstabes von übergeschichtlicher Gel- 
tung bedarf. Nur das sei noch hinzugefügt, daß die Philosophie 
als kritische und systematische Wertwissenschaft keinen inhalt- 
lich bestimmten absoluten Wert als Maßstab vorauszusetzen 
braucht Gelingt es auch nur, einen rein formalen unbedingten 
Wert zu gewinnen, so kann dann der ganze Inhalt des Wert- 
systems dem geschichtlichen Leben entnommen werden, obwohl 
dieses seinem Begriffe nach unsystematisch ist. Ja, die Ge- 
schichtsphilosophie, welche nach dem Sinne der Geschichte fragt, 
wird sich rein formaler Wertprinzipien bedienen müssen, gerade 
weil diese Prinzipien geeignet sein sollen, für alles geschicht- 
liche Leben zu gelten. Freilich läßt sich unter dieser Voraus- 
setzung dann auch nur ein Wertsystem denken, das systematische 
Vollständigkeit ebenfalls allein nach der formalen Seite hin be- 
sitzt, in bezug auf seinen Inhalt dagegen niemals abgeschlossen 
werden kann, weil sich immer neues geschichtliches Leben ent- 
wickelt, und damit immer neue inhaltlich bestimmte Eulturwerte 
entstehen, die in dem System ihre Stellung finden müssen. Das 
Wertsystem kann also mit Rücksicht auf seinen Inhalt nur in- 
sofern systematisch genannt werden, als der systematische Ab- 
schluß sich uns als eine ebenso notwendige wie unlösbare Auf- 
gabe darstellt, und der Gegenstand der Geschichtsphilosophie als 
Prinzipienwissenschaft ist deshalb eine „Idee'' im Eantischen 
Sinne, wie überall, wo der Gegenstand das Unbedingte in der 
Fülle seines Inhalts ist. An der Realisierung der Idee eines 
solchen Wertsystems hätten also alle Zeiten zu arbeiten mit dem 



y 



112 GeBchichtsphilosophie. 

Bewußtsein, daß sie diese Arbeit nie vollenden werden. Das 
aber bebt die Bedeutung dieser Arbeit nicht auf. Im Gegenteil, 
wer sich zu ihr entschließt, wird Mut sowohl aus einem Blick 
in die Vergangenheit als auch aus einem Blick in die Zukunft 
schöpfen. Sehen wir von all den Problemen ab, die im Laufe 
der Jahrhunderte sich von der Philosophie losgelöst haben und 
den SpezialWissenschaften zugewiesen worden sind, so zeigt sich, 
daß alle bedeutenden Philosophen für ein System von Werten 
in dem angegebenen Sinne zu arbeiten gesucht haben, denn sie 
alle haben nach dem Sinn des Lebens gefragt, und schon diese 
Frage setzt einen absoluten Wertmaßstab voraus. So sind sie 
alle als Vorläufer anzusehen. Der Umstand aber, daß diese 
Grundfrage aller Philosophie nicht nur nicht beantwortet ist, 
sondern in inhaltlicher Vollständigkeit auch niemals ganz be- 
antwortet werden kann, solange neues geschichtliches Leben ent- 
steht, ist ebenfalls nur ein Grund, die Bedeutung der Arbeit an 
ihrer Beantwortung zu erhöhen, denn das Bewußtsein von der 
eben so großen Notwendigkeit wie von der ünlösbarkeit einer 
Aufgabe gibt uns die Sicherheit ihrer „Ewigkeit^ und damit 
den Fichteschen Trost, daß diejenigen, die an der Lösung dieser 
Frage mit arbeiten, durch diese ihre Arbeit „ewig** werden, wie 
die Aufgabe selbst es ist. 



IIL 

Die Geschichtsplillosopliie als Universal- 
geschlchte. 

Jetzt können wir uns schließlich den Problemen der dritten 
Disziplin zuwenden, die auf den Namen der Geschichtsphilo- 
sophie Anspruch erhebt Sie will im Gegensatz zu den histori- 
schen SpezialWissenschaften eine allgemeine Geschichte 
geben, d. h. die historische „Welt'', oder das historische Uni- 
versum darstellen. Wie soll sie dieses Ziel erreichen? Besteht 
ihre Aufgabe etwa darin, die spezialwissenschaftlichen Darstel- 
lungen zu einem Ganzen zusammenzufassen, und, wenn auf diesem 
Wege ein wirklich geschlossenes Ganzes nicht zu gewinnen ist, 
die Lücken, welche die spezialwissenschaftliche Forschnng in 
der Universalgeschichte noch läßt, mit mehr oder weniger hypo- 



Qeschichtsphiloflophie. 113 

thetischen Gebilden anszofUlen? Bloße Zusammenfassung kann 
als selbständige wissenschaftliche Arbeit nicht gelten^ und der 
Versuch, dort Vermutungen aufzustellen, wo die Einsicht der 
Spezialforscher zu wirklich begründeten Annahmen nicht mehr 
ausreicht^ mUBte den Spott aller Historiker herausfordern. Eine 
solche Geschichtsphilosophie ist schon deswegen zum mindeste 
überflüssig, weil ja von den Historikern selbst Universalge- 
schichte geschrieben wird. So gewiß also die Philosophie über- 
haupt, nachdem jedes besondere Gebiet der Welt von einer Spe- 
zialwissenschaft für sich in Anspruch genommen worden ist, als 
Seinswissenschaft keine selbständigen Aufgaben mehr hat^ die 
sich auf die empirische Wirklichkeit beziehen, so gewiß kann 
eine Gesamterkenntnis des geschichtlichen Ganzen, die sich nur 
dadurch von den spezialwissenschaftlichen Untersuchungen unter- 
scheidet, daß sie sich nicht auf einen Teil beschränkt^ keine 
Aufgabe der Geschichtsphilosophie mehr sein. Nicht nur die 
Darstellung geschichtlicher Sondergebiete, sondern auch die Uni- 
versalgeschichte muß als historische Wissenschaft ausschließ- 
lich den hier allein kompetenten Historikern überlassen werden, 
ebenso wie über das Sein der Natur, im allgemeinen wie im be- 
sonderen, nur die Männer der empirischen Forschung etwas 
wissenschaftlich feststellen dürfen. Die Philosophie würde sich 
lächerlich machen, wenn sie glaubte, hier mehr als jene leisten 
zu können. 

Aber damit ist die Frage nach einer philosophischen Behand- 
lung des von der Gesamtheit der empirischen Geschichtswissen- 
schaften dargestellten Stoffes noch nicht entschieden. Auch wenn 
nicht nur die Formen, sondern zugleich der Inhalt des historischen 
Ganzen in Betracht kommt, hat die Philosophie ihm gegenüber 
eine Aufgabe, die von keiner empirischen Geschichtswissenschaft 
in Angriff genommen werden kann, und gerade der Umstand, 
daß Universalgeschichte von Historikern rein historisch ge- 
schrieben wird, vermag zur Bestimmung dieser philosophischen 
Aufgabe zu dienen. Versuchen wir daher, auf Grund der Ein- 
sicht in das logische Wesen der Geschichtswissenschaft zunächst 
den Begriff einer empirischen Darstellung der Universalgeschichte 
klar zu machen und dann zu sehen, welche Fragen, die die 
Historiker als Historiker nicht beantworten können, für die 
Philosophie noch übrig bleiben. 

Die „Weltgeschichte**, wie sie z. B. Ranke geschrieben hat, 

Windelbftnd.Die Philosophie im Beginn des M. Jahrh. II. Bd. 8 



114 Oeschiditspliilosophie. 

unterscheidet sich der Art nach durch nichts von seinen Dar- 
stellungen besonderer Objekte, und so hat ihr Verfasser es auch 
gewollt Er war ja, wie Dove berichtet, der Überzeugung, daß 
„zuletzt doch nichts weiter geschrieben werden könne als Uni- 
versalgeschichte'^, und jedenfalls ist ihm die „Weltgeschichte" 
aus seiner spezialwissenschaftlichen Arbeit ohne Hinzufugung 
eines neuen Prinzipes herausgewachsen. Wichtig ist dabei fAr 
uns vor allem, zu sehen, was Ranke als Historiker unter der 
historischen „Welt", unter dem Ganzen versteht, das er be- 
handelt. Er sagt einmal, der Drang nach Erkenntnis werde 
von der Überzeugung, da£ nichts Menschliches ihm fem und 
fremd sei, zur Umfassung des ganzen Kreises aller Jahrhunderte 
und Reiche fortgerissen. Aber tatsächlich ist er weit davon 
entfernt, alle Jahrhunderte und alle Reiche in seiner Welt- 
geschichte zu behandeln, und er würde dies auch dann nicht 
getan haben, wenn es ihm vergönnt gewesen wäre, sein Werk 
zum Abschluß zu bringen. Bemerkt er doch einmal, als er da- 
von spricht, daß es nicht der Beruf Alexanders gewesen, Indien 
zu durchziehen und die Osthälfte Asiens zu entdecken, diese sei 
„noch lange Jahrhunderte hindurch nicht in den Kreis der 
Weltgeschichte gezogen worden". Rankes „Universum" ist nur 
als ein Teil der uns bekannten Geschichte der Menschheit zu 
bestimmen, und nicht etwa als das letzte umfassendste historische 
Ganze im logischen Sinne, ja, seine Forderung einer universal- 
geschichtlichen Behandlung des historischen Stoffes besteht im 
wesentlichen nur darin, daß er sich nicht auf ein einzelnes Volk 
beschränken, sondern den Zusammenhängen nachgehen will, 
welche die verschiedenen Völker eines bestimmten Kulturkreises 
miteinander verknüpfen. Eine begriffliche Feststellung des 
historischen Universums hat Ranke aber nicht nur tatsächlich 
nicht versucht, sondern er konnte es auch nicht, wenn er 
Historiker bleiben wollte. Erstens nämlich ist diese Aufgabe 
nur mit Hilfe eines Systems von Kulturwerten in dem ange- 
gebenen Sinne zu lösen, dessen Aufstellung dem Historiker ganz 
fern liegt, und zweitens muß sich der „historische Sinn" nicht 
nur gegen historische Gesetze, sondern auch gegen jede andere 
Art von Systematik sträuben, denn sie würde ihn der Freiheit 
und Weite der Betrachtungsweise berauben, deren er zur un- 
befangenen Auffassung jedes geschichtlichen Ereignisses in 
seiner Eigenart bedarf. Alle Historiker werden daher, auch 



QeschichtspliiloBophie. 115 

wenn sie Universalgeschichte schreiben und dabei Historiker 
bleiben, im Prinzip nicht anders als Sänke verfahren. Dieser an- 
gebliche Mangel ist neuerdings in einer auf ^ethnogeographischer^ 
Grundlage ruhenden „Weltgeschichte" scharf hervorgehoben. 
Aber hat dieser Versuch, alle Teile der Erde geschichtlich zu 
behandeln, im Prinzip wirklich etwas geändert? Als systema- 
tische Abgrenzung des historischen Universums kann er jeden- 
falls nicht gelten. Ja, was die Geschichte dabei an äußerlicher, 
quantitativer Allgemeinheit gewinnt, geht ihr, weil das leitende 
Prinzip kein Eulturbegriff ist, an innerer Einheit notwendig ver- 
loren. 

Der unvermeidliche „Mangel" jeder rein historischen Dar- 
stellung der Universalgeschichte weist uns zugleich auf die 
Aufgaben einer philosophischen Behandlung des historischen 
Universums hin. Im Gegensatz zur Geschichte wird die Philo- 
sophie das Streben nach Systematisierung niemals aufgeben. 
Selbstverständlich hat sie sich, so weit die historischen Tat- 
sachen in Frage kommen, stets auf die empirische Geschichts- 
wissenschaft zu stützen und sich ihrer Autorität bedingungslos 
zu unterwerfen. Im übrigen aber kann sie in allen rein histo*- 
rischen Darstellungen, mit Einschluß der umfassendsten, nur 
Material sehen, das sie in ihrer Weise systematisch gestaltet 
Sie vermag dies freilich nur, wenn sie als Prinzipienwissenschafb 
ihre Aufgabe mehr oder weniger gelöst hat. Ist aber auch nur 
der Ansatz zu einem kritisch begründeten System der Kultur- 
werte in dem angegebenen Sinne gewonnen, dann kann sie auch 
den Inhalt der Geschichte so auffassen, daß dadurch zwar kein 
System allgemeiner Begriffe wie in einer generalisierenden 
Wissenschaft, wohl aber eine systematische Abgrenzung und 
Gliederung des historischen Universums entsteht. Was die Ab- 
grenzung betrifft, so fällt unter den Begriff des letzten histori- 
schen Ganzen alles, was mit Rücksicht auf die kritisch begründ- 
baren, also mehr als empirisch allgemeinen Eulturwerte durch 
seine Individualität wesentlich ist. Freilich kann das so ent- 
stehende historische Universum nur eine „Idee" im Eantischen 
Sinne sein, d. h., ebenso wie das System der Eulturwerte selbst, 
inhaltlich niemals definitiv abgeschlossen werden, und es gehört 
daher, um mit Medicus zu reden, in die „transzendentale Dia- 
lektik" einer Eritik der historischen Vernunft. Aber dieser 
Umstand hebt die Selbständigkeit seiner systematischen, ge- 



116 aeBchichtsphiloeophie. 

schichtsphilosophischen Behandlung nicht auf. Ja, die Beziehung 
auf das Wertsystem ermöglicht zugleich auch eine Gliederung 
des historischen Ganzen, d. h. es lassen sich bestimmte Teile als 
seine wichtigsten Glieder, als seine „Epochen^ oder ^yPerioden"^ 
gegeneinander abgrenzen und so ordnen, daß der Sinn der Ge- 
schichte nicht nur in einer abstrakten Wertformel, sondern auch 
in der Darstellung der Entwicklung selbst zum Ausdruck kommt 
Es mu£ sich in einer solchen Gteschichtsphilosophie auch die 
Auswahl des Wesentlichen von der unterscheiden, die die empi- 
rischen Wissenschaften vollziehen, denn sobald nicht alle empi- 
risch allgemeinen Eulturwerte, sondern nur noch diejenigen in 
Betracht kommen, die in dem Wertsystem ihre Begründung ge- 
funden haben, wird die Fülle des historischen Details zurück- 
treten und nur noch von den „großen^ Epochen oder Perioden 
die Bede sein. 

Worin man die Träger dieser Epochen sehen wiU, ob in 
einzelnen Persönlichkeiten oder in Massenbewegungen, kann 
natürlich wiederum nur von Fall zu Fall entschieden werden, 
und ebenso läßt sich die Frage, ob die umfassendsten Glieder 
des einmaligen Entwicklungsprozesses verschiedene Zeitalter 
sind, die aufeinander folgen, oder verschiedene Volksindividuen, 
die zum Teil gleichzeitig zusammenwirken, vor der historischen 
Untersuchung nicht beantworten. Hier kommt es nur darauf 
an, den systematischen Charakter einer philosophischen Behand- 
lung desselben Gegenstandes klarzulegen, den die Geschichts- 
wissenschaften historisch behandeln, und dadurch die Geschichts- 
philosophie scharf von den empirischen Geschichtswissenschaften 
abzugrenzen. Auch mit der Geschichte selbst mu£ die Philosophie 
in dem angegebenen Sinne ungeschichtlich verfahren. Ranke hatte 
daher Recht, wenn er sich im G^ensatz zu den von Philosophen 
unternommenen universalgeschichtlichen Konstruktionen fühlte 
und einen Einbruch der Philosophie in das Gebiet des Historikers 
fürchtete. Er ist jedoch in seinem Urteil der Geschichtsphilo- 
sophie nicht gerecht geworden, weil er den angegebenen Unter- 
schied mehr fühlte, als begrifflich scharf zu formulieren ver- 
mochte. Er hat selbst, wenn auch nicht in seiner „Welt- 
geschichte", so doch in seinen Vorträgen „über die Epochen der 
neueren Geschichte" etwas versucht, was einer Philosophie der 
Geschichte in gewisser Hinsicht nahe kommt Doch ist diese 
Darstellung für eine Philosophie viel zu historisch ausgefallen 



Geschichtsphilosophie. 117 

und stellt sich so als eine Übergangs- oder Mischform dar, die 
selbstTerständlich als Kundgebung einer genialen Persönlichkeit 
damit nicht das geringste an Wert verliert, aber doch mit 
Bücksicht auf ihre logische Struktur als Übergangsform be- 
zeichnet werden muß. Sie will nämlich in gewisser Hinsicht 
systematisch sein und erkennt zugleich die Voraussetzungen, die 
keine geschichtsphilosophische Systematik entbehren kann, zum 
Teil nicht an. Sie zeigt uns gerade dadurch, wie nötig es ist, 
begrifflich scharf zwischen empirischer, unsystematischer Qe- 
schichtswissenschaft und Geschichtsphilosophie zu unterscheiden. 
Ist dies geschehen, und vermeidet der Geschichtsphilosoph jeden 
Einbruch in die historischen Wissenschaften, so hat seine syste- 
matische Betrachtungsweise der geschichtlichen G^samtentwick- 
lung neben der historischen und unsystematischen Darstellung 
des geschichtlichen Lebens ihr unbezweifelbares Becht 

Damit jedoch diese Scheidung und zugleich auch die Not- 
wendigkeit dieser Art von Geschichtsphilosophie vollkommen 
deutlich wird, ist noch ein zweiter Punkt zu berficksichtigen, 
der mit dem Streben nach Systematisierung aufs engste zu- 
sammenhängt Zum Wesen des historischen Sinnes gehört nicht 
nur die Systemlosigkeit, sondern es setzt die unbefangene Auf- 
fassung des geschichtlichen Verlaufs auch einen Glauben an das 
„Becht^ jeder geschichtlichen Wirklichkeit voraus. Deshalb mufi 
der Historiker sich als Historiker des direkten Werturteils über 
seine Objekte zu enthalten suchen, und deswegen muß die Logik 
der Geschichte die theoretische Wertbeziehung scharf von der 
praktischen Wertung trennen. Die Philosophie dagegen, welche 
kritisch zu den Eulturwerten Stellung zu nehmen hat, weiß von 
einem „Bechte'', das dem Geschichtlichen als solchem zukommt, 
nichts, und ebenso entschieden, wie sie das rein historische Ver- 
fahren der Einzelforschung anerkennt, ist für sie der Historis- 
mus als Weltanschauung ein Unding. Dieser Historismus, 
der sich so positiv dünkt, erweist sich als eine Form des Bela- 
tivismus und Skeptizismus und kann, kopsequent zu Ende ge- 
dachty nur zum vollständigen Nihilismus fähren. Den Schein 
meidet er dadurch allein, daß er an irgend einer Gestaltung der 
geschichtlichen Mannigfaltigkeit haften bleibt, das „Becht des 
Geschichtlichen'' an sie knttpft und sich dann aus ihr eine Fälle 
des positiven Lebens herholt. Das unteracheidet ihn zwar von 
dem abstrakt formulierten Belativismus und Nihilismus, hebt ihn 



118 Geschichtsphilosophie. 

aber im Prinzip in keiner Weise fiber diesen hinaus. Er mfiBte, 
wenn er konsequent wäre, das Recht des Geschichtlichen jedem 
beliebigen historischen Sein zugestehen, und deshalb darf er 
nirgends haften, gerade weil er überall haften sollte. Er macht 
als Weltanschauung die vollkommene Prinzipienlosigkeit zum 
Prinzip und ist daher von der Geschichtsphilosophie auf das 
entschiedenste zu bekämpfen. 

In der Auffassung des historischen Universums zeigt sich 
der Gegensatz zum Historismus darin, da£ die Geschichtsphilo- 
sophie die historische, rein theoretisch wertbeziehende Betrach- 
tungsweise zugunsten der kritischen Wertung verläßt Was das 
bedeutet, kann man sich am besten daran klar machen, daß durch 
sie der Begriff des Fortschritts wieder zu seinem Rechte 
kommt. Diese Kategorie gehört gewiß nicht unter die Prin- 
zipien der empirischen Geschichtswissenschaft. Sie würde ebenso 
wie die Beziehung auf ein Wertsystem die unbefangene Würdi- 
gung der geschichtlichen Vorgänge in ihrer Eigenart aufheben 
und die Vergangenheit, wie Ranke mit Recht gesagt hat, mediati- 
sieren. Die Geschichtsphilosophie dagegen kann diese Kategorie, 
um sich über den Nihilismus des Historismus zu erheben, gar 
nicht entbehren. Sie hat im Zusai^amenhang mit der Gliederung 
des historischen Universums die verschiedenen Stadien des ein- 
maligen Entwicklungsprozesses mit Rücksicht darauf zu beur- 
teilen, was sie für die Realisierung der kritisch begründeten 
Werte geleistet haben. Zu diesem Zwecke muß sie, im bewußten 
Gegensatz zur rein historischen Betrachtung, die Vergangenheit 
um der Gegenwart und der Zukunft willen nicht nur mediati- 
sieren, sondern richten, d. h. ihren Wert messen an dem, was sein 
soll Selbstverständlich ist die Frage, ob der Verlauf der Ge- 
schichte überall oder auch nur in einigen seiner Teile eine konti- 
nuierliche Fortschrittsreihe oder Wei-tsteigerung darstellt, erst 
durch die Untersuchung selbst zu beantworten. Es besteht von 
vornherein ebenso die Möglichkeit eines kontinuierlichen Rück- 
schrittes, oder eines Auf- und Abwogens, eines Wechsels von 
Fortschritt und Entartung. Ja, es ist denkbar, daß sich weder 
ein Aufsteigen noch ein Niedergang im geschichtlichen Leben 
mit Rücksicht auf die Werte nachweisen läßt. Aber wie auch 
die Entscheidung hierüber ausfallen möge, jedenfalls sind alle 
Philosophen, die sich wirklich mit der Geschichte, d. h. mit der 
einmaligen menschlichen Kulturentwicklung individualisierend 



GeaehichtsphiloBophie. 119 

beschäftigt und nicht nur als Soziologen Gesetze des gesell- 
schaftlichen Lebens gesucht haben, mit einem Wertmaßstab an 
die Betrachtang des historischen Verlaufes herangegangen, 
und konnten dadurch allein die Epochen des geschichtlichen 
Universums gliedern und beurteilen. Auch ein Philosoph wie 
Schopenhauer, der von der Geschichtsphilosophie nichts wissen 
wollte, weil die geschichtliche Entwicklung ihm keinen Fort- 
schritt zeigte und deshalb g&nzlich sinnlos erschien, hat Ge- 
schichtsphilosophie in dem angegebenen Sinne getrieben und ist 
nur durch sein rein negatives Resultat^ nicht aber mit Kttcksicht 
auf die Stellung des geschichtsphilosophischen Problems, von 
den anderen Geschichtsphilosophen im Prinzip verschieden. Das 
systematische und zugleich wertende Wesen der philosophischen 
Behandlung des historischen Universums kann nur dort unklar 
bleiben, wo man, wie so oft, Sein und Sollen, Wirklichkeit und 
Wert nicht zu unterscheiden vermag, oder wegen des herrschen- 
den Mißtrauens gegen wissenschaftliche Wertbegrnndung die 
Werturteile nur versteckt auszusprechen wagt, um den Anschein 
einer rein betrachtenden Behandlung hervorzurufen. Das Auf- 
spüren der Werturteile und der Nachweis ihrer prinzipiellen Un- 
entbehrlichkeit wird wegen der heute weit verbreiteten Unklar- 
heit und Verschwommenheit auf diesem Gebiete eine um so 
dringendere Aufgabe der Philosophie. 

Doch diese Ausführungen haben nur den Zweck, zu zeigen, 
welche Aufgabe für die Philosophie neben der empirischen Ge- 
schichtswissenschaft entsteht, sobald sie ein System der Kultur- 
werte als Idee voraussetzen darf. Eine Andeutung über die 
Ausf&hrung könnte nur im Zusammenhange mit einem System 
der Philosophie eiuerseits und mit den Resultaten historischer 
Wissenschaften andererseits gegeben werden, und das ist hier 
nicht möglich. Damit jedoch die Darlegung nicht ganz schema- 
tisch bleibt, blicken wir an dieser Stelle einmal auf die Ver- 
gangenheit der Geschichtsphilosophie zurück. Eine Vergleichung 
der früher aufgestellten Begriffe des historischen Universums 
und der daraus sich ergebenden philosophischen Universalge- 
schichte mit der jetzt noch haltbaren Gestaltung dieser Diszi- 
plin kann vielleicht am besten zur Beleuchtung der gegen- 
wärtigen Lage dienen. Das Anknüpfen an die Vergangenheit 
ist hier femer auch deswegen von Vorteil, weil wir es jetzt mit 
der Gestalt der Probleme zu tun haben, in der die Philosophie 



120 Gesehiehtsphiloiophie. 

der Geschichte am frühesten und am meisten die Menschen be- 
schäftigt hat, and weil deshalb durch den Rückblick sich zu- 
gleich zeigen muß, wie wenig willkürlich unsere an der Logik 
orientierte Art der geschichtsphilosophischen Betrachtungsweise 
ist. Denn es wird sich ergeben, daß wir schließlich auch durch 
sie auf die Probleme hinauskommen, die sonst als die Haupt- 
probleme der Greschichtsphilosophie gegolten haben. 

Schon oft ist hervorgehoben und besonders von Dilthey ge- 
zeigt worden, daß, wenn auch nicht der Begriff der Geschichte 
überhaupt, so doch der des historischen Universums den Griechen 
fremd war, und daß erst durch das Christentum der Ge- 
danke an eine „Weltgeschichte^ im strengen Sinne des Wortes 
möglich wurde. Entscheidend ist dabei die Vorstellung von der 
Einheit des Menschengeschlechts. Sie erscheint der Hauptsache 
nach hergestellt durch die Beziehung der verschiedenen Teile 
auf Gott. Denn alle Völker sollen Gott suchen, und dadurch 
wird das Menschengeschlecht in seiner einmaligen Entwicklung 
zur Idee eines geschlossenen Ganzen. Gott hat die Welt und 
den Menschen geschaffen, und zwar stammen alle Menschen von 
einem Paare ab. So beginnt die Weltgeschichte an einem be- 
stimmten Zeitpunkte, und mit dem Weltgericht wird sie enden. 
Dies entscheidet dann, wie weit die Entwicklung ihre Aufgabe 
erfüllt, ihren Sinn zum Ausdruck gebracht hat Sündenfall und 
Erlösung sind es, welche die Epochen dieses Verlaufes so glie- 
dern, daß ein Reihe von Entwicklungsstufen entsteht Es ist 
klar, wie sich auf dieser Grundlage eine Universalgeschichte 
darstellen läßt, in der jedes Ereignis, das mit Rücksicht auf den 
Sinn der Geschichte bedeutsam ist^ zum Gliede des Ganzen, zur 
Entwicklungsstufe eines einheitlichen Zusammenhanges wird. 

Doch fehlt für die Ausgestaltung des Bildes im ein- 
zelnen noch ein wesentliches Moment. Anfangs mochte man sich 
in der christlichen Philosophie um die Probleme der äußeren 
Welt wenig kümmern, aber allmählich verbinden sich die reli- 
giösen Vorstellungen auf das innigste mit einem bestimmten, im 
wesentlichen der Antike entnommenen Bilde vom Kosmos. Der 
Verlauf des Ganzen ist nun nicht nur zeitlich durch Schöpfung 
und Weltgericht begrenzt, sondern auch auf einen räumlich über- 
sehbaren Schauplatz verlegt. Man denke z. B. an die Welt Dantes, 
eine Welt, die man in ihrer Totalität zeichnen kann. Sie bildet 
eine in sich geschlossene Engel, in deren Mitte der Schauplatz 



GeschichtsphiloBophie. 121 

der Weltgeschichte, die Erde ruht Über dieser Engel, räumlich 
Yon ihr getrennt, ist der Sitz Gtottes. Ihm zugewandt auf der 
Erde Jerusalem usw. usw. Unter solchen Voraussetzungen darf 
man wirklich yon einer „Weltgeschichte'' im strengen Sinne des 
Wortes sprechen, und in dem genau begrenzten Bahmen der an- 
gedeuteten Vorstellungsweise läßt sich auch ein anschauliches 
Bild dieser Weltgeschichte entwerfen. Während der Blick der 
griechischen Denker entweder auf dem ewigen Rhythmus des 
Geschehens ruhte, oder sich dem Bilde eines Reiches übernatür- 
licher, aber ebenfalls ganz ungeschichtlicher, zeitloser Formen 
zugewendet hatte, sah man nun in dem einmaligen, auf Gott be- 
zogenen Werdegang der Welt ihr eigentliches Wesen. Die 
Mannigfaltigkeit der auf diesem Boden unternommenen geschichts- 
philosophischen Versuche kümmert uns hier nicht Daß ihr Be- 
griff und ihre Gliederung des historischen Universums logisch 
dieselbe Struktur zeigen wie der früher erörterte Begriff und die 
Gliederung des letzten historischen Ganzen, leuchtet ein, und daß 
insbesondere ihre Grundprinzipien Wertbegriffe sind, das ist 
schon durch einen Hinweis auf ihren religionsphilosophischen 
Charakter klar : Gott ist der absolute Wert. Die Weltgeschichte 
will eine Art von „Weltgerichf* sein, und zwar in einem Sinne, 
den dieses Wort bei Schiller nicht hat Sie will gewissermaßen 
vorläufig eine Abrechnung über den Wert des geschichtlichen 
Verlaufes geben, die dann durch Qott beim letzten Weltgericht 
endgültig erfolgen soll. 

Uns interessiert sodann weiter, was allen diesen geschichts- 
philosophischen Versuchen schließlich den Boden entzogen hat. 
Es ist zum großen Teil die beim Beginn der modernen Welt 
erfolgte Umwandlung in den Vorstellungen vom Kosmos, jene 
Umwandlung, die deswegen auch heute noch von Bedeutung ist, 
weil sie im Prinzip das Weltbild schuf, in dem wir das defi- 
nitive, jeden£Edls das bis jetzt allein wissenschaftlich haltbare 
sehen müssen. Entscheidend ist dabei, wie besonders Riehl dar- 
gestellt hat, nicht so sehr die Vertanschung des geozentrischen 
Standpunktes mit dem heliozentrischen, denn mit der veränderten 
Lage der Erde innerhalb der Weltkugel hätte sich wohl ein 
Kompromiß schließen lassen. Entscheidend ist vielmehr die 
Zerstörung des Gedankens an einen geschlossenen, übersehbaren 
Kosmos überhaupt Giordano Brunos Lehre von der Unend- 
lichkeit der Welt war es, an der jede Geschichtsphilosophie, 



122 Geschichtsphilosophie. 

die „Weltgeschichte" im strengen Sinne des Wortes sein wollte, 
scheitern maßte. Von dem zeitlich und ränmlich Grenzenlosen 
gibt es nur noch Gesetzeswissenschaft, und der Ausdruck Welt- 
geschichte verliert so für alle Zeiten seine eigentliche Bedeutung. 
Damit wird zugleich der Begriff eines historischen Ganzen über- 
haupt zum Problem, und es scheint sich zunächst kein Weg zur 
Lösung zu bieten. Auch die Geschichte der menschlichen „Welt^' 
ist nicht mehr jene in ihrer Individualität notwendig auf den 
absoluten Wert bezogene Einheit Ihr Schauplatz, die Erde, hat 
im unendlichen AU ihre Bedeutung verloren. Sie ist zum gleich- 
gültigen Gattungsexemplar geworden, und ebenso gleichgültig 
wird unter gesetzeswissenschaftlichen Perspektiven alles Ein- 
malige und Besondere, das sich auf ihr abspielt. Es ist wichtig, 
hervorzuheben, da£ alle diese Wandlungen im Prinzip bereits 
durch die Lehren von Eopernikus und Giordano Bruno gegeben 
sind und nicht etwa erst, wie viele meinen, durch die moderne 
Biologie. Die Deszendenztheorie ist für die SpezialWissenschaft 
gewiß von außerordentlichem Wert Daß sie keine positiven 
philosophischen Prinzipien für eine geschichtliche Betrachtung 
zu liefern vermag, wurde bereits gezeigt, und wir müssen jetzt 
hinzufügen, daß sie nicht einmal mehr wesentliche Bestandteile 
der alten Geschichtsphilosophie zu zerstören vorfindet, wenigstens 
für den nicht, der auch nui* den Gedanken der zeitlichen Un- 
begrenztheit der Welt zu Ende gedacht hat Unter den Natur- 
wissenschaften ist also wirklich bedeutsam für Weltanschauungs- 
fragen nicht die Biologie, sondern die Astronomie gewesen, und 
auch diese hat, wenigstens für die geschichtsphilosophischen 
Probleme, lediglich eine negative Bedeutung gehabt 

Ja, wir können sagen, daß der entscheidende Schritt für 
die neue und positive Wendung in der Behandlung der geschichts- 
philosophischen Probleme bereits getan war, ehe die entwick- 
lungsgeschichtliche Biologie es auch nur zu ihren ersten An- 
sätzen gebracht hatte, denn diese Wendung ging, wie überall, 
wo es sich um die letzten Grundlagen unseres philosophischen 
Denkens handelt, von Kant aus, den man heute wunderlicher- 
weise durch den Darwinismus glaubt widerlegen zu können, und 
zwar von der ganz eigenartigen Leistung, die in der Verknüpfung 
der erkenntnistheoretischen mit den ethischen Problemen steckt 
Seine Erkenntnistheorie hat Kant selbst mit der Tat des Eoper- 
nikus verglichen, und wir können diesen Vergleich noch in einer 



GheschichtsphiloBopliie. 123 

anderen Richtung verfolgen. Der transzendentale Idealismus 
bedeutete nämlich gerade wegen des „kopemikanischen Stand- 
punktes" eine Umkehr auf dem Wege, den die Philosophie auf 
Grund des neuen Weltbildes der Astronomie glaubte einschlagen 
zu müssen. Aber, und das ist das Entscheidende, eine Umkehr, 
welche das neue Weltbild selbst gänzlich unangetastet lä£t und 
es trotzdem ermöglicht, die alten Probleme wieder aufzunehmen. 
Durch Eant wird der Mensch, unter voller Anerkennung der 
modernen Naturwissenschaft, wieder in den „Mittelpunkt** der 
Welt gestellt. Freilich, nicht räumlich, aber in einer far die 
Probleme der Geschichtsphilosophie noch viel bedeutsameren 
Weise. Es „dreht sich** jetzt wieder alles um das Subjekt 
Die „Natur" ist nicht die absolute Wirklichkeit, sondern ihrem 
allgemeinen Wesen nach durch subjektive Auffassungsformen be- 
stimmt, und gerade das „unendliche" Weltall ist nichts anderes 
als eine „Idee" des Subjekts, der Gedanke einer ihm notwendig 
gestellten und zugleich unlösbaren Aufgabe. Dui*ch diesen 
„Subjektivismus" sind die Fundamente der empirischen Natur- 
wissenschaft nicht etwa angetastet, sondern nur noch mehr be- 
festigt, die Fundamente des Naturalismus als Weltanschauung, 
der jeden Sinn des Historischen leugnet, dagegen völlig unter- 
graben. Und diese Zerstörungsarbeit, welche zunächst die 
Hindemisse für die Auffassung eines Seins als Geschichte hin- 
wegräumt, wird dadurch um so bedeutsamer, daß sich, infolge 
der engen Verbindang der Erkenntnistheorie mit der Ethik, 
daran sofort die Grundlegung fär einen positiven geschichts- 
philosophischen Aufbau anschließt. Der Mensch steht nicht 
nur mit seiner theoretischen Vernunft im Zentrum der „Natur", 
sondern er erfaßt sich mit seiner praktischen Vernunft zugleich 
unmittelbar als das, was dem Kulturleben einen objektiven Sinn 
gibt, nämlich als pflichtbewußte, autonome, „freie" Persönlichkeit^ 
und diese praktische Vernunft hat den Primat. Was will dem 
gegenüber die Tatsache noch bedeuten, daß der Schauplatz der 
Geschichte räumlich und zeitlich ein vers6hwindend kleines 
Teilchen an irgend einem gleichgültigen Punkte des Weltganzen 
ist? Für das theoretisch und praktisch „Gesetze" gebende, 
autonome Subjekt sind diese räumlichen und zeitlichen Verhält- 
nisse bei der Behandlung von Wertfragen jetzt vollständig 
gleichgültig geworden. Der autonome Mensch läßt der Wissen- 
schaft, die das alte Weltbild zerstört hat, bei der Erforschung 



124 QeschiohtsphiloBophie. 

der „Natnr^, mit EinschlaB des psychischen Lebens, jede beliebige 
Freiheit. Doch nie wird er zugeben, daß diese Wissenschaft 
vom Sein der Dinge irgend etwas über Wert oder Unwert, über 
Sinn oder Sinnlosigkeit des Weltlanfes mitzureden habe, denn 
er ist sich als praktische Vemonft seiner „Freiheit^' als des wahren 
Sinnes der Welt und ihrer Geschichte absolut gewiß. 

Kant selbst hat ein System der Geschichtsphilosophie nicht 
geschaffen, aber auf dem Boden seines Denkens ist eines nach 
dem anderen emporgewachsen, und hierin haben wir gewiß nicht 
eine unwesentliche Wirkung zu sehen. Der einmalige Verlauf 
der Menschheitsentwicklung konnte nun mit Hilfe der absoluten 
Wertbegriffe von Vernunft und Freiheit wieder als Einheit auf- 
gefaßt und in seinen verschiedenen Stadien so gegliedert werden, 
daß man jede Stufe an dem maß, was sie in üirer Eigenart zur 
Realisierung des Weltsinnes beigetragen hat. Diese Möglichkeit^ 
zum geschichtlichen Leben wieder ein positives Verhältnis zu 
gewinnen, das ist es, was der Philosophie des deutschen Idea- 
lismus ihre überragende und für absehbare Zeit unvergängliche 
Bedeutung verleiht. Eine Philosophie, die hierzu im Prinzip 
unfähig ist, mag für spezielle Probleme Bedeutendes leisten^ 
eine den Kulturmenschen befriedigende, wirklich umfassende 
Weltanschauung wird sie niemals zu stände bringen, und am 
wenigsten darf sie Anspruch darauf erheben, über die Philo- 
sophie des deutschen Idealismus fortgeschritten zu sein. Von 
dem Gedanken beherrscht, der Zweck des Erdenlebens der 
Menschheit sei der, daß sie alle ihre Verhältnisse mit Freiheit 
nach der Vernunft einrichte, hat nicht nur Fichte zum ersten- 
mal nach Eant die „Weltgeschichte^^ philosophisch als einheitliches 
Ganzes konstruiert, sondern auch Hegel hat vom Begriff der 
Freiheit aus sein geschichtsphilosophisches System entworfen, 
das viel mehr umfaßt als die aus seinem Nachlaß heraus- 
gegebenen „Vorlesungen^, und er hat damit zugleich den heute 
vielfach noch nicht verstandenen Höhepunkt dieser Art der ge- 
schichtsphilosophischen Betrachtung erreicht. Auf den Inhalt 
seines Systems können wir hier nicht eingehen. Es kommt 
auch nicht darauf an, die Unterschiede hervorzuheben, welche 
die Freiheitsbegriffe Eants, Fichtes und Hegels voneinander 
trennen. Nur das ist hier wichtig, daß die Philosophie des 
deutschen Idealismus überhaupt einen unbedingten Wertbegriff 
fand, der es ihr ermöglichte, das Ganze des geschichtlichen Ver- 



GeaehichtsphiloBophie. 125 

laufes in der angegebenen Weise philosophisch zu behandeln, 
dafi dieser Wertbegriff zugleich formal genug war, um zum 
Beziehungspunkte für die Universalgeschichte zu dienen, wie 
das besonders bei Hegel in großartiger Weise zum Ausdruck 
kommt, und da£ dabei endlich Voraussetzungen von der Art, 
wie die durch die moderne Naturwissenschaft zerstörte Ge- 
schichtsphilosophie sie gemacht hatte, im Prinzip gar nicht mehr 
gebraucht wurden. Fflr die Geschichtsphilosophie unserer Zeit 
ergibt sich daraus die Frage, ob es möglich ist, auf dem Boden 
des durch Kant begründeten Idealismus und unter voller An- 
erkennung aller Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft, 
zunächst einen Wertgesichtspunkt zu finden, von dem aus sich 
die Universalgeschichte philosophisch behandeln läßt, und dann 
zu einer Geschichtsphilosophie zu kommen, die mit Berücksich- 
tigung des historischen Wissens unserer Zeit, bei aller inhalt- 
lichen Verschiedenheit, im Prinzip doch dieselbe formale Struktur 
zeigen wfirde, wie die geschichtsphilosophischen Systeme Fichtes 
und Hegels. 

Aber hiermit scheint, gerade wegen der Erinnerung an 
diese Denker, das Problem einer philosophischen Behandlung des 
historischen Universums doch noch nicht genügend klargestellt 
zu sein. Die Geschichtsphilosophie des deutschen Idealismus ist 
nämlich zwar unabhängig von den Lehren der Naturwissenschaft, 
daf&r jedoch um so abhängiger von Voraussetzungen über das 
der geschichtlichen „Erscheinungswelt" zugrunde liegende 
metaphysische Wesen. Schon Kants Freiheitslehre hängt 
zusammen mit seinem metaphysischen Begriff eines intelligiblen 
Charakters, und vollends deutlich ist es bei Hegel, wie sehr 
seine Geschichtsphilosophie metaphysisch begründet ist Läßt sich 
die Geschichtsphilosophie von der Metaphysik loslösen, oder setzt 
sie immer zwei Arten des Seins voraus, eine Welt der 
Erscheinungen, in der sich die historischen Ereignisse abspielen, 
und eine Welt der wahren, jenseits der Erscheinungen liegen- 
den Bealität, auf welche die historischen Ereignisse bezogen 
werden müssen, wenn sie sich zu einer einheitlichen und ge- 
gliederten Entwicklung zusammenschließen sollen? Damit 
scheinen wir erst an den entscheidenden Punkt gekommen zu 
sein, und wegen des Zusammenhanges, den die verschiedenen 
geschichtsphilosophischen Probleme untereinander haben, reicht 
die Bedeutung dieser Frage noch weiter zurück. Wir fanden 



126 Geachichtsphilosophie. 

daß die Deutung des allgemeinen Sinnes der G^chichte die Idee 
eines Systems unbedingter Werte voraussetzt, an dem die em- 
pirisch allgemeinen Kulturwerte gemessen werden können. Wird 
nicht dieses System nur dann wirklich begründet sein, wenn 
man es, sozusagen, metaphysisch verankert hat und dadurch 
gewiß sein kann, daß das geschichtliche Sein in seinem meta- 
physischen Grunde auch angelegt ist zur Sealisierung dessen, 
was sein soll? Ja, auch für die empirische Geschichtswissen- 
schaft scheinen metaphysische Voraussetzungen unentbehrlich zu 
sein. Es gibt Denker, denen die Geschichte als etwas „Ge- 
spenstisches" erscheint, solange ihre Objekte, insbesondere die 
geschichtlichen Persönlichkeiten, lediglich als immanente Wirk- 
lichkeiten betrachtet werden. Wesenhafte, metaphysische Seelen 
sollen es sein, die auf dem geschichtlichen Schauplatz tätig sind, 
und wir mttssen sie uns gewissermaßen eingebettet denken können 
in einen aber die Einzelseelen hinausragenden, großen „geistigen'' 
Zusammenhang, von dem die bloße Erfahrung nichts weiß, der 
aber der Träger der unbedingten Werte ist, und ohne den daher 
alle Geschichte ein sinnloses Durcheinander bilden wfirde, dessen 
Erforschung keine Bedeutung hat 

Es ist notwendig, die Stellungnahme auch zu diesen Pro- 
blemen wenigstens anzudeuten, und wir beginnen mit der Frage 
nach den metaphysischen Voraussetzungen, welche auch die 
empirische Geschichtswissenschaft nicht soll entbehren können, 
weil so allein sich die Frage nach der Notwendigkeit meta- 
physischer Annahmen fdr die Erforschung des Sinnes der Ge- 
schichte und fär die philosophische Behandlung der Universal- 
geschichte beantworten läßt. 

Zunächst ist unbedingt zuzugeben, daß viele Historiker einen 
Glauben haben, der,. wenn man ihn begrifflich formulieren 
wollte, einen metaphysischen Charakter annehmen würde, und 
ebenso steht fest, daß dieser Glaube mit dazu beiträgt, ihnen 
die Erforschung des geschichtlichen Lebens als wahrhaft bedeut- 
sam erscheinen zu lassen. Auch hier kann wieder auf Sänke 
verwiesen werden, der die großen Tendenzen der Geschichte als 
Gedanken Gottes bezeichnet, durch die sich der göttliche Welt- 
plan verwirklicht, und bei anderen Historikern wQrde sich eben- 
falls zeigen lassen, daß sie überempirische Voraussetzungen 
machen. Davon sind insbesondere diejenigen gewiß nicht frei, 
die „Entwicklungsgesetze'' für alles geschichtliche Leben ge- 



Geschichtsphilosophie. 127 

fnnden zu haben meinen, denn bei ihnen nimmt der Glanbe 
unter dem Einfluß der Mode zwar ein naturalistisches Gewand an 
und wird zum Glauben an Gesetzesbegriffe als wirkende Kräfte, 
hört aber darum nicht auf, metaphysisch zu sein. Man kann 
auch das Problem, welches in einem solchen Glauben, wie in 
dem von Ranke geäußerten, steckt, nicht damit abweisen, daß 
man erklärt, das alles stehe außerhalb der Wissenschaft und 
übe auf sie nicht den geringsten Einfluß, denn diese Meinung 
ist nur in dem Sinne richtig, daß der Glaube, wie Ranke von 
seiner Ideenlehre sagt, Einzelheiten des geschichtlichen Lebens 
nirgends einen Zwang antut Im übrigen aber gehört auch er 
zu den Voraussetzungen des geschichtlichen Forschens insofern, 
als in ihm die Überzeugung steckt, es sei mehr als eine will- 
kürliche Annahme, wenn wir dem geschichtlichen Leben über- 
haupt eine „objektive** Bedeutung beilegen. 

Damit ist jedoch andererseits noch nicht gesagt, daß gerade 
das in dem Glauben steckende metaphysische Moment dabei 
wichtig ist. Der Historiker wird als Historiker jedenfalls gut 
tun, es bei seinem Glauben als einem bloßen Glauben bewenden 
zu lassen und sich vor dem Hineinziehen jeder wissenschaftlich 
formulierten Metaphysik in seine Untersuchungen zu hüten. Er 
käme sonst auf den Boden der angedeuteten Theorie von zwei 
Seinsarten und geriete sofort in die größten Schwierigkeiten, 
wenn er irgend etwas über das Verhältnis der allein in der 
Erfahrungswelt sich abspielenden geschichtlichen Ereignisse zur 
transzendenten Wirklichkeit aussagen sollte. Ja, schon der Ge- 
danke, daß die geschichtlichen Ereignisse bloße „Erscheinungen** 
eines dahinter liegenden metaphysischen Seins sind, ist nicht 
etwa geeignet, dem Historiker ihre Erforschung bedeutsamer 
erscheinen zu lassen, sondern muß ihm im Gegenteil jede Freude 
an seiner Arbeit verderben. Dem Mann der Naturwissenschaften 
mag es vielleicht gleichgültig sein, ob seine Gegenstände Er- 
scheinungen oder absolute Realitäten sind. Sie kommen ja nur 
als Gattungsexemplare für ihn in Betracht, und die allgemeinen 
Begriffe, die gesucht werden, behalten auf jeden Fall ihre 
Geltung. Die Ereignisse dagegen, die mit Rücksicht auf ihre 
Individualität wesentlich sind, verlieren ihre Bedeutung, wenn 
sie nicht als Realitäten angesehen werden dürfen, und wenn 
nicht in dem der Wissenschaft unmittelbar zugänglichen Sein 
sich auch die Werte verwirklichen, auf welche der Historiker 



128 Oeschichtsphilosopliie. 

seine Objekte bezieht Das Bedürfnis nach einer hinter ihnen 
steckenden wahren Bealität verdankt daher niemals einem ge- 
schichtswissenschaftlichen Interesse seine Entstehung. Es ist viel- 
mehr znrfickznführen auf die Wirkungen jener sonderbaren „Er- 
kenntnistheorie^; welche die Erfahrungswelt zum bloßen Scheine, 
zum Majaschleier macht und behauptet, daß ihre Anerkennung 
als Bealität zum Somnambulismus oder, wie man neuerdings 
sagt, zum Illusionismus f&hre. Dem Denken, das nicht in dieser 
oder ähnlicher Weise verbildet ist, kann das unmittelbar ge- 
gebene Leben niemals als ein Traum oder ein Gespenst gelten, 
und jedenfalls hat sich der empiiische Historiker an die Welt 
zu halten, die seiner Erfahrung zugänglich ist. Er darf in ihr 
die einzige Realität sehen, die ihn als Historiker kümmert, und 
die Frage nach ihrem metaphysischen „Hintergrund'^ auf sich 
beruhen lassen. 

Dürfen wir aber bei einem System von Werten als dem 
letzten auch dann stehen bleiben, wenn wir nach den Prinzipien 
der Geschichte suchen und ihren Sinn deuten? Oder schließt 
die Annahme einer unbedingten Geltung dieser Werte nicht die 
Annahme einer transzendenten Realität ein, und entsteht daraus 
für die Philosophie, die solche Fragen doch nicht in suspenso 
lassen darf, nicht die Aufgabe, das Verhältnis der Werte zu 
dieser metaphysischen Welt zu bestimmen? 

Es ist auch hier zuzugeben, daß die Voraussetzung einer 
unbedingten Geltung von Werten uns aus der immanenten Welt 
hinaus und demnach ins Transzendente führt, und es muß des- 
halb, damit nichts verschleiert bleibt, einer rein immanenten 
Philosophie gegenüber in der Tat die Geltung transzen- 
denter Werte behauptet werden. Aber es ist doch sehr wenig 
geleistet, wenn man nun glaubt, noch weiter gehen zu müssen, 
und erklärt, daß diese Werte auch auf irgend ein transzendentes 
Sein hindeuten. Erstens kann man mehr als ein solches ganz 
unbestimmtes Hindeuten mit gutem wissenschaftlichen Gewissen 
nicht aussagen, und femer muß jeder Versuch, die transzendente 
Realität näher zu bestimmen, sein Material entweder der imma- 
nenten Realität entnehmen oder bei reinen Negationen stehen 
bleiben. Daß aber über das Verhältnis einer ganz unbestimmten 
oder rein negativ bestimmten Realität zur immanenten Welt 
nichts wissenschaftlich Greifbares ausgesagt werden kann, be- 
darf keines Nachweises. Die transzendente Realität bleibt also 



Geschichtsphilosopliie. 129 

auch für die Geschichtsphilosophie als Prinzipienlehre ein voll- 
kommen leerer und unfruchtbarer Begriff. Diese Disziplin hat 
daher genug getan, wenn sie sich dies klar macht, und sich mit 
dem Streben nach der Aufstellung eines Systems unbedingter 
Werte begnügt Man wende nicht ein, daß der Begriff des trans- 
zendenten Sollens, der dabei vorausgesetzt wird, mit denselben 
Argumenten als leer und unfruchtbar erwiesen werden könne, 
wie der Begriff des transzendenten Seins. Zwar kann man nicht 
anders bestimmen, was ein transzendentes Sollen bedeutet, als daß 
man sagt, es handele sich dabei um Werte von ubergeschicht- 
licher, zeitloser, unbedingter Geltung, und gewiß ist also auch 
hier der Begriff insofern lediglich vermittels der Negation ge- 
wonnen, als wir vom bedingten Wert ausgehen und ihm die Be- 
dingtheit absprechen. Der dadurch entstehende Begriff aber hat 
eine ganz andere Bedeutung als diejenige, die entsteht, wenn 
wir, um den Begriff des transzendenten Seins zu gewinnen, vom 
Begriff des immanenten Seins ausgehen und dann seine Imma- 
nenz negieren. Dem Sein nehmen wir mit dieser Negation jeden 
Inhalt, dem Sollen dagegen lassen wir seinen Inhalt und nehmen 
ihm nur eine Beschränkung, die es an der vollen Entfaltung 
einer in ihm steckenden Tendenz, zu gelten, hindert Man kann 
sich diesen Unterschied von transzendentem Sein und transzen- 
dentem Sollen vielleicht an nichts anderem besser klar machen, 
als wieder an dem Kantischen Begriff der Idee. Kant wandelt 
hier ebenfalls den Begriff der transzendenten Realität in den des 
transzendenten Sollens um und stellt dadurch sowohl das Recht 
als auch das Unrecht einer nach dem Unbedingten strebenden 
Wissenschaft fest. Genau dasselbe geschieht, wenn wir bei dem 
transzendenten Sollen stehen bleiben und ein transzendentes 
Sein ablehnen, und gerade die Geschichtsphilosophie als Prin- 
zipienwissenschaft hat keinen Grund, die Hindeutung der trans- 
zendenten Werte auf ein transzendentes Sein weiter zu ver- 
folgen. Es sind eben nur Werte, die sie als Prinzipien des histo- 
rischen Lebens findet, und allein auf die Geltung der Werte als 
Werte kommt es ihr an. Femer muß diese unbedingte Gel- 
tung schon feststehen, ehe auch nur von einer Hindeutung auf 
eine transzendente Realität gesprochen werden kann, d. h. es 
muß das für die historische Prinzipienlehre allein bedeutsame 
Problem bereits gelöst sein, bevor das Problem einer transzen- 
denten Realität überhaupt auftaucht Deshalb kann auch die 

Wlndelband, Die Philosophie im Beginn des SO. Jahrh. II. Bd. 9 



130 GescMchtsphilosophie. 

Geschichtsphilosophie, soweit sie es mit den Prinzipien des histo- 
rischen Lebens zu tun hat, die metaphysischen Probleme ebenso 
in suspenso lassen, wie die empirische Geschichtswissenschaft, 
denn diese Probleme gehören jedenfalls nicht in diesen Teil der 
Philosophie. 

Wie aber steht es endlich mit der philosophischen Universal- 
geschichte, falls wir gezwungen sein sollten, gegenüber der Frage 
nach einer transzendenten Realität und nach ihrem Verhältnis 
zum immanenten Sein bei einem non liquet stehen zu bleiben, 
oder gar den (bedanken an eine metaphysische Wirklichkeit 
überhaupt abzulehnen? Verliert die systematische philosophische 
Darstellung des historischen Universums, welche sich nicht auf 
die Werte beschränkt, sondern sie ausdrücklich mit dem Inhalt 
des geschichtlichen Seins selbst in Verbindung bringt, nicht jeden 
Sinn, wenn sie ihre Werte gewissermaßen nur von außen an das 
historische Leben heranträgt und gar keine Voraussetzung dar- 
über machen darf, ob und wie das immanente geschichtliche 
Sein nicht nur durch die Wertbeziehung, sondern auch real mit 
seinem Ziele der Wertverwirklichung zusammenhängt? Es unter- 
liegt keinem Zweifel, daß wir hier vor einem ungemein schwie- 
rigen Problem stehen, und daß die metaphysischen Bestrebungen 
unserer Zeit, wie sie besonders in den Werken Euckens zum 
Ausdruck kommen, unter diesem Gesichtspunkt auch für die Ge- 
schichtsphilosophie eine nicht zu unterschätzende Bedeutung ge- 
winnen. Zwar kann auch in diesem Zusammenhange nicht zu- 
gegeben werden, daß die Erfahrungswelt deshalb eines meta- 
physischen Unterbaues bedürfe, weil sonst die Welt sozusagen 
nicht real genug sei und etwas Gespenstisches bekomme. Denn 
wenn wir im unmittelbaren Erleben nicht genug Realität zu er- 
fassen vermögen, so wird kein in abstrakten Begriffen sich be- 
wegendes Denken diese Lücke ausfüllen. Aber, so kann man in 
der Tat fragen, setzt die notwendige Beziehung der geschicht- 
lichen Realität auf unbedingte Werte nicht ein übergreifendes 
Band zwischen Sein und Sollen voraus, und damit zugleich eine Art 
von Realität, die wir als immanent nicht mehr auffassen können? 
Hier scheint der Gedanke einer metaphysischen Wirklichkeit unver- 
meidlich, und daher die Geschichtsphilosophie in der Weise mit der 
Metaphysik verknüpft, wie dies z. B. bei Hegel zum Ausdruck kommt 

Aber, werden wir vielleicht nicht auch hier sagen müssen, 
daß durch den bloßen Gedanken einer Hindeutung auf eine meta- 



Gescliichtspliilosophie. 131 

physische Verbindung der Werte mit der empirischen Wirklich- 
keit zugleich alles erschöpft ist, was die Wissenschaft dabei zu 
denken vermag, und daß es auch vollkommen genügt, wenn wir 
nur überhaupt irgend eine, nicht weiter bestimmbare, notwendige 
Beziehung der Wirklichkeit auf die Werte annehmen? Sehen 
wir uns daraufhin z. B. wieder Hegels Geschichtsphilosophie an, 
so werden wir finden, daß darin die Metaphysik bei der Aus* 
führung aller Einzelheiten nur eine ganz geringe KoUe spielt 
Für die Abgrenzung und Gliederung des historischen Universums 
kommt es doch eigentlich nur auf den Begriff der Freiheit als 
Wert begriff an und auf die ganz allgemeine Überzeugung, daß 
die Entwicklung zur Freiheit im Wesen der Welt selbst ii'gend- 
wie angelegt ist. Darin aber stecken nur die beiden genannten 
Voraussetzungen eines absoluten Wertes und dessen notwendiger 
Beziehung auf die geschichtliche Wirklichkeit überhaupt. Im 
übrigen bewegt sich Hegels Geschichtsphilosophie in lauter Be« 
griffen, die aus dem immanenten geschichtlichen Leben stammen 
und auf dieses immanente Leben allein bezogen werden. Wird 
es sich nicht ebenso in allen geschichtsphilosophischen Versuchen 
verhalten, welche die Form einer Universalgeschichte haben, ja^ 
müssen wir nicht sagen, daß auch für den Geschichtsphilosophea 
ein Mehr an Metaphysik nicht nur nicht erforderlich ist, son- 
dern geradezu verderblich werden wird? Für ihn ist, ebenso 
wie für den empirischen Historiker, die Entwicklung der Kultur 
in der immanenten, räumlich-zeitlichen Welt das, was ihn inter- 
essiert. Wird also diese immanente Welt durch eine Metaphysik 
zu einer Realität zweiten Grades herabgesetzt, und dann die 
wahre Realität, in der die höchsten Werte mit dem höchsten 
Sein zusammenfallen, als zeitlos und raumlos gedacht, so ver- 
liert sofort auch unter geschichtsphilosophischen, ebenso wie 
unter empirisch-geschichtlichen Gesichtspunkten, die räumlich- 
zeitliche, einmalige und individuelle Entwicklung ihren Sinn. 
Wozu jener ganze Prozeß des Ringens und Kämpfens der Mensch- 
heit, der im Laufe der Jahrtausende doch nur annäherungsweise 
und unvollkommen das zu verwirklichen vermag, was im tiefsten 
Wesen der Welt ewig real ist? Dürfen wir in der Zeit nur 
einen Faden im Gewebe des Majaschleiers sehen, dann gibt es 
keine positive Geschichtsphilosophie mehr. Dann besteht ihre 
Aufgabe allein darin, alles Historische, weil es notwendig in der 
Zeit verläuft, in seiner Nichtigkeit zu durchschauen und der 

9* 



132 G^schichtsphilosophie. 

Geschichte mit Schopenhauer jeden Sinn abzusprechen. Es muß 
also jedenfalls gerade das Zeitliche an der Welt absolut real 
sein, wenn es nicht nur empirische Geschichtswissenschaft, son- 
dern auch Philosophie der Geschichte geben soll. 

Aber — so könnte man schließlich noch fragen — darf man 
denn nicht vielleicht dem Zeitlichen auch eine metaphysische 
Realität beilegen, und ist das transzendente Sein notwendig zeit- 
los zu denken, wenn es überhaupt gedacht werden soB? Hier 
scheint sich noch ein letzter Weg zu eröffnen, auf dem Ge- 
schichtsphilosophie und Metaphysik miteinander zu vereinigen 
sind. Doch es scheint nur so, denn es wird durch die Annahme 
einer metaphysischen Realität des Zeitlichen der eigentliche 
Nerv des metaphysischen Denkens in der Geschichtsphilosophie 
durchschnitten. Das, was allein uns die Hindeutung auf ein 
transzendentes Wesen der Welt gab, war ja die Überzeugung 
von der transzendenten Geltung der Werte und die Forderung 
ihrer realen Verknüpfung mit der geschichtlichen Wirklichkeit. 
Die Transzendenz des Wertes bedeutet aber gerade seine zeit- 
lose Geltung, und nur eine zeitlose Realität also könnte der meta- 
physische Träger zeitloser Werte sein, niemals aber kann man, 
um eine notwendige Verbindung der geschichtlichen Entwick- 
lung mit den zeitlosen Werten herzustellen, die Geltung der 
Werte auf ein in der Zeit ablaufendes metaphysisches Sein 
gründen. Eine Metaphysik, die Basis der G^schichtsphilosophie 
sein will, gerät also, sobald sie nach irgend einer anderen be- 
grifflichen Formulierung ihrer transzendenten Voraussetzungen 
strebt, als siQ in dem Begriff des transzendenten SoUens ent- 
halten ist, in die größten Schwierigkeiten. Wir bedürfen des 
Zeitlosen, um dem zeitlichen geschichtlichen Verlauf einen ob- 
jektiven Sinn abzugewinnen. Sobald wir aber dies Zeitlose als 
metaphysische Realität setzen und damit dem geschichtlichen 
Verlauf die wahre Realität nehmen, vernichten wir jeden Sinn 
der Geschichte und jede Möglichkeit ihrer philosophischen Be- 
handlung. Gibt es einen Weg, um diesem Zirkel zu entfliehen, 
oder muß an ihm nicht jede Geschichtsmetaphysik scheitern? 
Sind wir daher nicht genötigt, auch bei der philosophischen Be- 
handlung der Universalgeschichte in den zeitlosen Werten und 
ihrer notwendigen, aber wissenschaftlich unbestimmbaren Be- 
ziehung auf die zeitliche Realität die letzten Voraussetzungen 
zu sehen, bei denen wir stehen zu bleiben haben? 



Geschichtsphilosophie. 133 

Falls diese Frage bejaht werden müßte — und wir sehen 
bisher wenigstens keinen Weg, sie zu verneinen — würden sich 
die Aufgaben der Geschichtsphilosophie, die zuerst in drei ver- 
schiedene Disziplinen zu zerfallen schien, durchaus einheitlich 
gestalten. Der Philosophie bleibt, nachdem sie das ganze Gebiet 
des empirischen Seins den SpezialWissenschaften zur Erforschung 
überlassen und auf eine Erfassung des metaphysischen Wesens 
der Welt verzichten muß, das Reich der Werte als ihr eigent- 
liches Gebiet Sie hat diese Werte als Werte zu behandeln, 
nach ihrer Geltung zu fragen und in die teleologischen Wert- 
zusammenhänge einzudringen. Eines der Wertgebiete ist das 
der Wissenschaft, insofern diese nach der Verwirklichung der 
Warheitswerte strebt, und die Geschichtsphilosophie hat es daher 
zunächst mit dem Wesen der Geschichtswissenschaft zu tun. 
Sie begreift sie als die individualisierende Darstellung der ein- 
maligen Entwicklung der Kultur, d. h. des mit Rücksicht auf 
die Kulturwerte in seiner Individualität bedeutungsvollen Seins 
und Geschehens. Daraus ergibt sich dann, daß die Prinzipien 
des geschichtlichen Lebens selbst Werte sind, und die Behand- 
lung dieser Werte mit Rücksicht auf ihre Geltung wird deshalb 
die zweite Aufgabe der Geschichtsphilosophie, die jedoch schließ- 
lich mit der Aufgabe der Philosophie als Wertwissenschaft über- 
haupt zusammenfällt. So stehen die beiden sich als notwendig 
ergebenden Untersuchungen in einem systematischen Zusammen- 
hang, und diesem Zusammenhang ordnet sich endlich auch die 
dritte Gruppe von geschichtsphilosophischen Fragen ein. Sie 
wird den Abschluß des ganzen philosophischen Systems bilden, 
indem man versucht, zu zeigen, wie viel von den kritisch be- 
gründeten Werten im bisherigen Verlauf der Geschichte ver- 
wirklicht worden ist, und welches die großen Epochen dieser 
Wertverwirklichung waren, um so zu begreifen, wo wir heute 
in dem Entwicklungsgange stehen, und wo wir unsere Aufgabe 
für die Zukunft zu suchen haben. Immer also sind es Werte, 
mit denen die Geschichtsphilosophie, die von der Logik der Ge- 
schichte ausgeht, es zu tun hat. Zunächst die Werte, aus denen 
die Denkformen und Normen des empirisch -geschichtlichen 
Forschens sich herleiten lassen, sodann die Werte, welche als 
Prinzipien des geschichtlich-wesentlichen Materials die Geschichte 
selbst erst konstituieren, und endlich die Werte, deren allmähliche 
Verwirklichung sich im Lauf der Geschichte vollzieht. 



134 Geschichtsphilosophie. 



Literatur. 



Adler, M., Kausalität und Teleologie im Streite am die Wissenschaft. 1904. 
Barth, P., Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. I. 1897. 
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Bernheim, £., Lehrbuch der historischen Methode. 3. Aufl. 1903. 
BreysigjE., Aufgaben nnd Maßstäbe einer allgemeinen Geschichtsschreibung. 

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Dilthey, W., Einleitung in die Geisteswissenschaften. I. 1883. 

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Droysen, J. G., Grundriß der Historik. 1868. 3. Aufl. 1882. 
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Lotze, H., Mikrokosmos, m. 1864. 

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(Hscliichtsphilosophie. 



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' — Das Historische in Kants Bellgionsphilosophie. 1904. (Kantstndien Bd. IX.) 
^ Weber, H., Die ,,Objektiyität'' sozialwissenschaftlicher nnd sozialpolitischer 

Erkenntnis. 1904. (Archiv f. Sozialwiss. n. Sozialpol. Bd. I.) 
' Windelband, W., Präludien. 1883. 2. AnfL 1903. 

• — Natorwissenschaft und Geschichte. 1894. 

» Wandt, W., Logik der Geisteswissenschaften. 2. Anfl. 1895. (Logik ü, 2.) 
> X6nopol, A. D., Les principes fondamentanx de Thistoire. 1899. 

Hanptsl&chlich geschichtsphilosophische Fragen behandelt die seit 1900 in 

Paris erscheinende Zeitschrift: Bevne de synthäse historiqne. Directeor: 

Henri Berr. 



Ästhetik. 

Von 

Karl Oroos. 



Wer sich einen Überblick Aber die gegenwärtige Lage der 
Ästhetik zu verschaffen sucht, der mn£ nicht nur die Gegen- 
stände ihrer Forschungsarbeit selbst, nämlich den ästhetischen 
GenuB und die künstlerische Produktion ins Auge fassen, sondern 
er wird auch die methodischen Gesichtspunkte zu erwägen haben, 
von denen aus die genannten Gegenstände wissenschaftlich unter- 
sucht werden. Ich beginne mit einer kurzen Erörterung der 
wichtigsten unter diesen Gesichtspunkten, um daran die Be- 
sprechung derjenigen methodologischen Streitfrage zu knüpfen, 
die für den gegenwärtigen Betrieb unserer Wissenschaft von 
vorherrschender Bedeutung ist 



Es gibt eine metaphysische, eine kritische und 
eine psychologische Behandlung der ästhetischen Probleme. 
Die metaphysische bringt die ästhetischen Erscheinungen 
in Zusammenhang mit einer bestimmten Auffassung von dem 
Wesen der letzten Weltgründe und sucht sie aus diesem Zu- 
sammenhang heraus zu verstehen. Es ist einleuchtend, daß eine 
solche Behandlungsweise in einer Zeit, die selbst keine beherr- 
schenden metaphysischen Systeme hervorgebracht hat, nicht so 
sehr im Vordergründe stehen wird, wie es dem Bedürftiis, unsere 
wichtigsten Kulturerscheinungen in den Konnex einer philo- 



Ästhetik. 137 

sophischen Weltanschaaung einzustellen, im gründe gemäß wäre. 
Am stärksten ist für die Gegenwart, wie mir scheint, die Wir- 
kung der metaphysischen Ästhetik Schopenhauers geblieben, 
der bei der Erklärung des Schönen auf die Ideen als die Ob- 
jektivationsstufen des Weltwillens, ja im Bereiche des musikalisch 
Schönen sogar auf diesen Willen selbst zurückgreift. Die Äs- 
thetik y. Hartmanns verdankt dagegen ihren Einfluß wohl 
mehr dem empirischen Teil ihrer Untersuchungen als dem meta- 
physischen. Diese Vorliebe der Zeit für die empirische For- 
schung tritt charakteristisch in der „Ästhetik des Tragischen" 
von Volkelt hervor, einem Manne, der der spekulativen Philo- 
sophie im allgemeinen durchaus sympathisch gegenübersteht. 
Volkelt hat seinem Buche einen Schlußabschnitt hinzugefQgt, 
der von der Metaphysik des Tragischen handelt; aber er betont 
ausdrücklich, daß er dabei das Tragische nicht mehr als eine 
ästhetische, sondern nur noch als eine metaphysische Kategorie 
in Betracht ziehe, während die ästhetische Untersuchung des 
Begriffes grundsätzlich auf dem Boden der empirischen Psycho- 
logie zu bleiben habe. 

Die kritische Ästhetik, die durch Kant begründet wurde, 
wirkt in der Gegenwart seit der Erneuerung des Kantstudiums 
weiter und wird vermutlich in der nächsten Zeit noch mehr als 
bisher zur Geltung gelangen. Denn für die, wie ich glaube, im 
Wachsen begriffene Anzahl von Forschern, die ihren Beruf in 
der Anwendung der kritischen Methode auf die philosophischen 
Probleme unserer Zeit finden, ist der weitere Ausbau der Ästhetik 
im Sinne Kants die zentrale Aufgabe dieser Wissenschaft Wenn 
man nun den „kritischen" Standpunkt mit wenigen Sätzen kenn- 
zeichnen soll, so verfährt man für unsere Zwecke wohl am 
besten in folgender Weise. Der kritische Philosoph findet in 
den verschiedenen Gebieten der ihn umgebenden geistigen Kultur 
Urteile vor, die den Anspruch erheben, allgemein und not- 
wendig zu gelten. Sein richterliches Amt besteht nun darin, 
daß er solche Ansprüche auf ihre Berechtigung hin prüft 
Die Gesetze aber, nach denen er über ihren Rechtsanspruch 
entscheidet, sind die ursprünglichen Gesetze des Bewußt- 
seins. — Zuerst treten ihm die Urteile der Mathematik und 
der mathematischen Naturwissenschaft entgegen; er konstatiert, 
daß sie in ihrem Anspruch auf allgemeine und notwendige 
Geltung berechtigt sind, soweit sie aus den obersten Voraus- 



138 Ästhetik. 

Setzungen des theoretischen Bewußtseins abgeleitet werden 
können. Dann erscheinen die sittlichen urteile auf dem Plane; 
auch sie haben Geltung, sofern sie zurückzufuhren sind 
auf ein Sittengesetz, das autonom der Selbstgesetzgebung der 
praktischen Vernunft entspringt. Aber nicht nur aus dem Ge- 
biete der Wissenschaft und des sittlichen Lebens, auch aus dem 
dritten unter den großen Eulturgebieten, dem Seiche des Schönen, 
erheben sich Urteile, die vor den Richterstuhl des kritischen 
Philosophen geladen werden. Ist der Anspruch des ästhetischen 
Urteils auf Allgemeinheit und Notwendigkeit berechtigt? Kant 
entscheidet, daß er insofern berechtigt ist, als das Wohlgefallen, 
das in dem ästhetischen Urteil festgestellt wird, auf einer Ein- 
helligkeit in dem freien Spiele derselben Erkenntnisvermögen 
beruht, die auch zum gewöhnlichen Yerstandesgebrauch nötig 
sind, den man bei jedermann voraussetzen darf. 

Hiemach würde die Eigenart der kritischen Ästhetik in erster 
Linie darin bestehen, daß sie das ästhetische Wertuii;eil und 
von da aus die ästhetischen Werte überhaupt auf ihre Berechti- 
gung hin prüft, indem sie die Gründe dafür in den obersten Be- 
dingungen des Bewußtseins sucht. Eine selbständige und tief- 
dringende Emeaerung der Theorie Kants hat H. Cohen in 
seinem Werke „Kants Begründung der Ästhetik" (1889) vollzogen. 
Arbeiten von Kühnemann und Erörterungen von Natorp 
gehören derselben Richtung an. Und 1901 erschien die „All- 
gemeine Ästhetik^ von Jonas Cohn, der die Ästhetik zu den 
Wertwissenschaften zählt und die Aufgabe solcher Wissen- 
schaften darin erblickt, die Werte „in bezug auf die Berech- 
tigung ihres Anspruches'^ zu untersuchen (vgl. J. Cohn, 
„Psychologische oder kritische Begründung der Ästhetik", Arch. 
f. syst. Phüos. 1904, S. 136). 

Die psychologische Behandlung der Ästhetik ist gegen- 
wärtig unbestreitbar im Besitze der Vorherrschaft. Wenn 
Külpe in seiner „Einleitung in die Philosophie" (3. Aufl. 1903, 
S. 96) zu dem Ergebnis gelangt, daß die Ästhetik als eine 
„Psychologie des ästhetischen Genusses und des künst- 
lerischen Schaffens" anzusehen sei, so spricht er damit die 
Meinung der überwiegenden Mehrheit unter den modernen Ver- 
tretern der Philosophie aus. Die psychologische Ästhetik ist 
bestrebt, die ästhetischen Seelenzustände zu analysieren, zu 
klassifizieren und aus den Gesetzen des psychischen Lebens zu 



Ästhetik. 139 

erklären. Ihr nrsprünglichstes und wichtigstes Untersuchungs- 
gebiet ist in dem Genießen und Schaffen des erwachsenen Kultur- 
menschen gegeben. Daneben wendet sich das Interesse der ver- 
gleichenden und genetisch erklärenden Psychologie besonders den 
Anfangen der künstlerischen Produktion bei dem Individuum und in 
der Gattung zu. Ein Teil der hierher gehörenden wichtigeren Ar- 
beiten wird im weiteren Verlaufe der Darstellung angeführt werden. 

— Wo sich verschiedene Methoden um ein Wissensgebiet be- 
mühen, da pflegt es nicht an Streitfragen und Mißverständnissen 
zu fehlen. So ist es auch hier. Ich beschränke mich auf ein 
einziges Problem, das mir als das wichtigste erscheint. Die rein 
psychologische Behandlung der Ästhetik, die gegenwärtig, wie 
schon bemerkt wurde, beherrschend im Vordergrunde steht, 
wird — besonders von den Anhängern der kritischen Ästhetik — 
mit beachtenswerten Gründen angegriffen. Man findet, daß die 
Psychologie den Aufbau der Ästhetik nur vor- 
bereiten, nicht ausführen könne und wirft ihr vor, 
diese Tatsache dadurch zu verschleiern, daß sie 
Gesichtspunkte in ihre Betrachtung einmenge, die 
für sie gar nicht erreichbar seien. 

Will man sich über diese methodologische Streitfrage, die 
dringend der weiteren Bearbeitung bedarf, klar werden, so wird 
man vor allem den Untei'schied ins Auge zu fassen haben, der 
zwischen einem ästhetischen Werturteil (z. B. „die Peters- 
kirche besitzt die schönste aller Kuppeln") und dem psychi- 
schen Zustande des ästhetischen Wohlgefallens 
selbst besteht. Der Psychologe wird sich der Natur seiner 
Wissenschaft nach vor allem für den Zustand des Wohlgefallens, 
seine Eigenart und seine Ursachen interessieren; dagegen ist 
die kritische Ästhetik von dem ästhetischen Werturteil und der 
Frage nach seiner Berechtigung oder Geltung ausgegangen. — 
Wenn nun ihre Vertreter die Ansicht gewinnen, daß die Psy- 
chologie in Wertfragen keine Entscheidungen zu 
treffen vermöge, während die eigentliche Aufgabe der' 
Ästhetik gerade in der Herbeiführung solcher Entscheidungen 
zu suchen sei, so gelangen sie leicht zu der schon angedeuteten 
Auffassung, wonach die ästhetische Arbeit des Psychologen nur 
den Charakter einer Vorbereitungstätigkeit besitzen würde, sodaß 
der Schein, als ob sie mehr als dieses zu leisten vermöge, auf 
die unberechtigte Einmengung von Gesichtspunkten zurückzu- 



140 ABtheük. 

f&hren wäre, die ganz außerhalb des psychologischen Interessen- 
gebietes und Machtbereiches liegen. 

Die Frage der Wertentscheidungen f&hrt uns aber auf den Be- 
griff derNormation, einen Terminus, an dem wir schon darum 
nicht vorbeigehen dürfen, weil er nicht eindeutig ist und infolge- 
dessen eine Quelle von Mißverständnissen bildet. Das Wort 
„norma^ bedeutet bereits im alten Lateinischen mindestens 
zweierlei, nämlich einmal das „Winkehnaß^ und dann übertragen 
die Richtschnur und „Vorschrift". Wir gewinnen daraus eine 
rein theoretische und eine praktische Bedeutung der „norma- 
tiven" Wissenschaft: sie hat es erstens mit der Gewinnung von 
Maßstäben für richtige Beurteilung und zweitens mit 
der Aufstellung von Forderungen (Vorschriften) auf Grund 
der so gewonnenen Beurteilungen zu tun. Man kann in der 
ästhetischen und erkenntnistheoretischen Literatur häufig Miß- 
verständnissen begegnen, die dieser zu wenig geschiedenen 
Doppelbedeutung entspringen. Wir aber werden nun die These, 
daß die Psychologie in \yertfragen nichts zu entscheiden ver- 
möge, genauer so formulieren können. Die Psychologie soll nach 
der Ansicht ihrer kritischen Gegner 1. nicht die Fähigkeit besitzen, 
Maßstäbe für gültige ästhetische Werturteile herzustellen; in- 
folgedessen soll sie speziell außerstande sein, a) die Abgren- 
zung des Ästhetischen von dem, was nicht ästhetisch ist, 
zu vollziehen, b) innerhalb des Ästhetischen selbst Wertunter- 
schiede zwischen dem höher und weniger hoch Stehenden zu 
begründen und c) den Wert des ganzen ästhetischen Gebietes 
für das Bewußtsein der Kulturmenschheit überhaupt festzulegen, 
und sofern sie das nicht vermag, soll sie 2. auch nicht berechtigt 
sein, die Forderungen zu erheben, die aus den angedeuteten 
Wertentscheidungen abgeleitet werden können. — Ich möchte 
nun im folgenden einige Bemerkungen zu der hiermit ent- 
wickelten Streitfrage machen, die natürlich weit davon entfernt 
sind, den Anspruch auf eine erschöpfende Behandlung zu erheben. 
Ich wiU dabei hauptsächlich vom Standpunkt des Psychologen 
aus sprechen und zwar so, daß ich nicht etwa die selbständige Be- 
deutung der Erkenntnistheorie in Zweifel ziehe (was mir durch- 
aus fem liegt), sondern nur nachprüfe, wieweit etwa doch auch 
die Psychologie berechtigt sei, Wertentscheidungen zu treffen. 
Der bereits angeführte Aufsatz von J. Cohn, die Abhandlung 
von Witasek über „Wert und Schönheit" (Archiv f. System. 



Ästhetik. 141 

Philos., Vin, 1902) und der letzte Abschnitt in Volke Its 
„Ästhetischen Zeitfragen" (1895) kann zur Orientierung über 
das Problem dienen. 

Geht man von der allgemeinen Frage aus, ob die Psycho- 
logie sich darauf zu beschränken habe, die Erscheinungen, die 
als ästhetisch bezeichnet werden, ohne jede Rücksicht auf ihre 
Wertunterschiede, z. B. ohne jede Bück sieht darauf zu unter- 
suchen, ob eine Kunstleistung als „besser" oder „schlechter", 
ein ästhetischer Genuß als „höher" oder „niedriger" bezeichnet 
werden müsse, so findet man, daß sich hier nicht nur Bejahung 
nnd Verneinung gegenüberstehen, sondern daß auch im Falle der 
Bejahung ganz entgegengesetzte Auffassungen hervortreten. Die 
einen bekennen sich zu der Ansicht, daß die Psychologie wegen 
dieser Beschränkung gar nicht selbst Ästhetik treiben, sondern 
nur Material fttr die eigentliche Ästhetik, die eben Wertwissen- 
schaft sei, beschaffen könne. Die anderen sehen gerade in der 
„wertfreien" Behandlung die einzige Möglichkeit, zu einer 
wissenschaftlichen Ästhetik zu gelangen. Zur letzteren Auf- 
fassung bekennen sich Taine, Scherer und von neueren 
Forschem besonders E. Eisler,' der in seinen „Studien zur 
Werttheorie" (1902) den Begriff des Schönen „absolut wertfrei" 
so bestimmt: „schön ist, was irgend jemandem gefällt, bzw. zu 
irgend einer Zeit gefallen hat" (S. 97). Dagegen würden die 
kritischen Ästhetiker in einer solchen Definition die Unzuläng- 
lichkeit der rein psychologischen Methode aufs Schlagendste er- 
wiesen finden. Aber auch Volkelt ist dieser Meinung. Eine 
solche Ästhetik, sagt er, müßte ja alles Stümperhafte und Lang- 
weilige, alles Schrullenhafte und Verfaulte in den künstlerischen 
Leistungen nicht nur ebenso ausführlich analysieren wie das 
Eeife, Interessante und Große, sondern es auch auf gleiche Linie 
mit diesem stellen, und er folgert daraus, daß sie dadurch zu 
einem Unding würde. 

Das ist nun nach meiner Ansicht dann richtig, wenn eine 
derartige, alle Wertunterschiede ignorierende Untersuchung den 
Anspruch erheben würde, den Bedürfhissen der Ästhetik in jeder 
Hinsicht gerecht zu werden. Es wird aber betont werden 
müssen, daß es eine noch zu wenig bearbeitete und dabei 
äußerst wichtige Aufgabe der Psychologie ist, die große Ver- 
schiedenartigkeit im ästhetischen Verhalten gerade auch mit 
Sücksicht auf das, was vom Standpunkt der normgebenden 



142 Ästhetik. 

Ästhetik als minderwertig bezeichnet wird, zu untersuchen. 
Das, was der künstlerisch Ungebildete unter ästhetischem Ge- 
nuß versteht, ist in vielen Fällen ein von dem Genüsse des 
Kenners stark verschiedener Zustand, und neben der Psycho- 
logie des Genies ist auch die Psychologie der minder wert- 
vollen künstlerischen Produktion von großem Interesse. Wenn 
es die Ästhetik im weitesten Sinne mit den an Wahmeh- 
mungsakte geknüpften Erlebnissen zu tun hat, die durch 
ihren eigenen Inhalt gefallen, so wird sie die Aufgabe, sich 
ohne Rücksicht auf Wertunterschiede einen Überblick über 
die verschiedenen Zustände zu verschaffen, in denen ein solches 
Wohlgefallen tatsächlich hervortritt, nicht von der Hand weisen 
dürfen. Sie wird mit einem Worte das ästhetisch Wirk- 
same unbekümmert darum, ob es auch ein ästhetisch Wert- 
volles ist, untersuchen müssen. In meinem Buche über die 
„Spiele der Menschen" (1899) habe ich vielfach auf diese Auf- 
gabe hingewiesen und sie in einzelnen Fragen der Lösung näher 
zu bringen gesucht (vgl. z. B. S. 215 f., 355). Solche Erörte- 
rungen sind gerade auch für eine Behandlungsweise, die Wert- 
unterschiede machen möchte, eine unerläßliche Voraussetzung. 
Wer z. B. die Aufgaben der Kunst bestimmen will und dabei nur 
die Gesichtspunkte des Kenners in Anschlag bringt, der wird 
leicht Momente übersehen, die bei naiveren Formen des Kunst- 
genusses stärker hervortreten und von großer Bedeutung sind. 
Und wer das neuerdings so viel behandelte Themader ästhe- 
tischen Erziehung, auf das ich hier nur im Vorübergehen 
hinweisen kann, erfolgreich bearbeiten will, der muß sich gleich- 
falls vor allem die Frage stellen, welche Arten des Genießens 
und welche Motive zur Produktion überhaupt existieren, ehe er 
klar und deutlich bestimmen kann, wo die ästhetische Pädagogik 
einzusetzen und welchen Zielen sie nachzustreben habe. In der 
Zeitschrift „La Plume" (April 1903) habe ich in dieser Eichtung 
einen Versuch veröffentlicht, den ich bald auf breiterer Grund- 
lage wieder aufzunehmen beabsichtige. 

Wenn aber dem Psychologen in der wertfreien Behand- 
lung der ästhetischen Phänomene eine wichtige Aufgabe gestellt 
ist, die nur er in genügender Weise zu lösen vermag, so ist 
damit natürlich noch nicht gesagt, daß seine Wissenschaft voll- 
ständig unfähig sei, mit ihren Mitteln den vorhin angegebenen 
Forderungen gerecht zu werden. Die erste dieser Forderungen 



Ästhetik. 143 

bezog sich auf die Abgrenzung dessen, was „ästhetisch" ist, 
von dem Außerästhetischen. In dieser Hinsicht können wir auf 
unsere Unterscheidung von „ästhetisch wirksam" und „ästhetisch 
wertvoll" zurückgreifen. Was das ästhetisch \^ksame betrifft, 
so befindet sich die Psychologie hier durchaus auf vertrautem 
Boden. Sie ist als empirische Wissenschaft darauf angewiesen, 
von den Fällen auszugehen, wo der gewöhnliche Sprachgebrauch 
tatsächlich von einer ästhetischen Wirkung redet. Wenn sie nun 
diese Fälle genauer untersucht, die gemeinsamen Eigentümlich- 
keiten, die in ihnen enthalten sind, heraushebt, und unter ihnen 
wieder diejenigen, die einen kausalen Zusammenhang mit dem 
Eintreten der Wirkung aufweisen, besonders betont, so wird sie 
zu Begriffsbestimmungen und damit zu Abgrenzungen ihres 
Gebietes gelangen, die zwar vom gewöhnlichen Sprachgebrauche 
aus gewonnen, aber keineswegs einfach durch ihn festgelegt 
sind. So könnte z. B. ein Psychologe ohne jede Beziehung auf 
das Wertproblem zu dem Eesultate gelangen, daß das sinnlich 
Angenehme bei dem bekanntlich der Sprachgebrauch ein ge- 
wisses Schwanken in der Anwendung des Prädikates „schön" auf- 
weist, wissenschaftlich nicht als schön zu bezeichnen sei, weil 
ihm wesentliche Merkmale fehlen, die sonst dem Schönen zu- 
geschrieben werden. Oder er könnte in einer selbstgeschaffenen 
Terminologie zwischen einem Schönen im „engeren" und 
„weiteren" Sinne unterscheiden, das bloß Angenehme aber nur 
im weiteren Sinne als schön gelten lassen. In beiden Fällen 
würde er mittels der psychologischen Methoden zu selbständigen 
Grenzbestimmungen gelangen. 

Erst wenn wir nach dem ästhetisch Wertvollen fragen, 
stoßen wir daher auf Schwierigkeiten. Hat die Psychologie 
die Fähigkeit^ durch Angabe des „wahrhaft" ästhetischen Ge- 
nießens oder Produzierens innerhalb der mannigfaltigen Er- 
scheinungen, die als ästhetische tatsächlich bezeichnet werden, 
eine Auslese zu treffen? Kann sie von sich aus bestimmen, 
was „höheren" und was „niedrigeren" ästhetischen Wert besitzt? 
Soviel ich sehe, muß die Lösung des Problems durch Besinnung 
auf den allgemeinen methodologischen Begriff der Psychologie 
gewonnen werden. Dieser wird nun neuerdings häufig in einer 
Weise bestimmt, die ihre Schwierigkeiten besitzt, aber für unsere 
Zwecke dienlich ist Alle Wissenschaften, so wird etwa aus- 
geführt, haben bei ihrer Arbeit irgendwie von den „Erlebnissen" 



144 Ästhetik. 

oder „Bewußtseinsinhalten" auszugehen. Die Psychologie be- 
trachtet nun diese Erlebnisse in ihrer Zugehörigkeit 
zum erlebenden Individuum, während die anderen Wissen- 
schaften, sofern sie nicht selbst psychologische Gesichtspunkte 
verwenden, davon absehen und sich infolgedessen Objekte bilden, 
die mit dem eigentlichen „Erlebnis" nicht mehr identisch sind. 
Das letztere gilt keineswegs nur von der Naturwissenschaft^ 
sondern z. B. auch von der nicht psychologisch betriebenen Logik. 
Wie der Baum für den Naturforscher einer ist, auch wenn 
tausend Wahrnehmungen von ihm bestehen, so ist, wie Her hart 
sehr richtig hervorgehoben hat, auch der logische Begriff „nur 
einmal vorhanden", selbst wenn ihn tausend Individuen denken. 
Betrachten wir nun den reinen Logiker, der es ja auch mit 
Wertentscheidungen zu tun hat Er hat etwa zwei Schlüsse 
vor sich, die er auf ihre Richtigkeit hin untersucht Er tut das 
ohne jede Rücksicht auf das individuelle Ich, das die Schluß- 
prozesse denkend erlebt; während seiner Untersuchung existieren 
die Prämissen und Konklusionen rein für sich, sozusagen, als ob 
sie im leeren Räume schwebten; und ohne Bezugnahme auf 
seine individuelle Bewußtseinslage der Überzeugtheit sagt er 
mit absoluter Setzung: dieser Schluß ist falsch, jener ist 
richtig. Der Psychologe dagegen kann eine solche absolute 
Entscheidung nicht fällen, weil er eben die Beurteilung nicht 
„losgelöst" vom beurteilenden Individuum betrachtet. Er wird 
vielmehr zunächst nur die Tatsache konstatieren: wenn ich die 
beiden Schlußprozesse durchdenke, so entsteht in mir der Zu- 
stand der Überzeugung, daß der eine richtig, der andere falsch 
sei. Hierauf wird er den Ursachen nachforschen, die den Zu- 
stand der Überzeugung herbeigeführt haben. Entspringen diese 
Ursachen allgemeinen Gesetzmäßigkeiten des Bewußtseins, so 
wird er auch annehmen dürfen, daß alle Menschen, bei denen 
dieselben Bedingungen vorliegen (also vor allem diejenigen, 
welche überhaupt in der Lage sind, einem Schlußverlauf mit 
Verständnis zu folgen) mit seiner Überzeugung übereinstimmen 
werden. Aber zur absoluten Setzung gelangt er als reiner 
Psychologe nicht; seine Methode verwehrt es ihm. 

Ähnlich verhält es sich nun in der Ästhetik. Für den 
Psychologen bleiben auch die ästhetischen Werturteile stets an 
die urteilenden Individuen festgebunden. Wenn er als Fach- 
mann sagt, die Peterskuppel sei schön, oder der Genuß der 



Ästhetik. 145 

„Züricher Novellen" stehe höher als der eines Detective-Eomans von 
Conan Doyle, so darf das nicht ohne weiteres in dem Sinne der ,,ab- 
solnten Setznng" gemeint sein : „alle Urteile, die die Peterskoppel 
als häßlich bezeichnen oder die Züricher Novellen nicht höher 
einschätzen als den spannenden Kriminalroman, sind falsch"; 
sondern er kann dabei znnächst nur ähnliches meinen wie vor- 
hin bei der Beurteilung der Schlußfolgerungen: nicht die Richtig- 
keit der Wertentscheidung selbst, sondern bloß das Überzeugt- 
sein von ihrer Richtigkeit. Und er ist hier viel schlimmer 
daran. In elementaren Fällen freilich, z. B. angesichts der Wohl- 
gefälligkeit einer regelmäßigen Figur, wird er vielleicht gleich- 
falls darauf hinweisen können, daß dieses Wohlgefallen allge- 
meinen Gesetzmäßigkeiten des Bewußtseins entspringe und daher 
unter denselben Bedingungen auch überall zu übereinstimmenden 
Urteilen führen werde ; aber bei den komplizierteren ästhetischen 
Erscheinungen sind die Bedingungen, wie die Erfahrung zeigt, 
meistens zu mannigfaltig, um eine generelle Übereinstimmung 
der Beurteilungen zu ermöglichen. Er wird z. B. keineswegs er- 
warten dürfen, daß auch nur die größere Mehrheit von Genießen- 
den jenes Urteil über Keller und Conan Doyle anerkennen würde. 

Sind aber die Psychologen infolgedessen gänzlich auf die 
wertfreie Ästhetik zurückverwiesen? Das wäre doch zuviel be- 
hauptet. Außer der absoluten Normation, die ihnen 
versagt ist, gibt es hypothetische Maßstäbe und 
relative Forderungen, die ihnen offenstehen. Wie 
die Spezial Wissenschaften gewisse oberste Erkenntnisse auf- 
nehmen, die ihnen entweder als unmittelbar einleuchtend oder 
als durch andere Methoden bewiesen gelten, so kann der psycho- 
logische Ästhetiker auch Wertentscheidungen, von deren 
Richtigkeit er „überzeugt" ist, als unbedingt geltend annehmen, 
und nun unter der Voraussetzung, daß sie gelten, also hypo- 
thetisch, andere Wertentscheidungen davon ableiten. In 
dieser Hinsicht stehen ihm hauptsächlich zwei Wege oflfen: er 
kann eine Wertentscheidung über die verschiedenen genießenden 
Individuen oder eine Wertentscheidung über die verschiedenen 
in der ästhetischen Wirkung hervortretenden Bewußtseins- 
zustände als „geltend" annehmen. Der zweite Weg führt 
weiter als der erste. Fassen wir beide ins Auge. 

Daß ein Mann, der die Zwecke und Mittel des Künstlers ge- 
nauer kennt, auch dem Kunstwerk (und dem Naturschrmeu) besser 

Win 'lel band. Die VtiilosM^Me im B'.'.:ii:n <lo-< 2». J.ihrh. II. B»l. 1') 



146 Ästhetik. 

als der ästhetisch Ungebildete gerecht zu werden yermOge, nnd 
daß sein ästhetisches Verhalten daher das „richtigere'' sei, ist 
die Ansicht vieler Ästhetiker. In dieser Ansicht werden sie da- 
durch bestärkt, daß ein solcher Kenner stets „naivere'' Formen 
des Grenießens in seiner Jugend durchgemacht hat und dabei 
doch in der Begel das später Erreichte höher schätzt. Wenn 
man nun, der persönlichen Überzeugung entsprechend, hypothe- 
tisch voraussetzt, der Standpunkt des Kenners^) sei tatsächlich 
der höher zu bewertende, so kann man daraus viele Wertent- 
scheidungen mit psychologischen Mitteln ableiten. Vergleicht 
man z. B. das Verhalten der Kenner auf gemeinsame Zuge, so 
wird man finden, daß bei ihnen das Genießen des Formalen (der 
Gestaltung) ganz anders in den Vordergrund tritt als bei dem 
ästhetisch Ungebildeten mit seinem mehr inhaltlichen, stofflichen 
Interesse. Wenn nun vorausgesetzt wird, daß der Standpunkt 
des ästhetisch Gebildeten wirklich höher zu bewerten sei, so 
kann der Psychologe hieraus mit Gründen, die seiner Wissen- 
schaft entspringen, die Wertentscheidung ableiten, daß der Kri- 
minalroman von Conan Doyle mit seiner starken Spannung auf 
den Verlauf des Inhalts einen weniger wertvollen Genuß ver- 
schaffe als die Novellen Kellers. — Aber selbstverständlich ist 
die so gewonnene Entscheidung von der Geltung der vorausge- 
setzten abhängig. Und diese Geltung kann bezweifelt werden. 
Ich denke dabei weniger an die von R Eisler scharf hervor- 
gehobene Tatsache der Geschmacksverschiedenheiten unter den 
Kennern der aufeinander folgenden Kunstperioden als daran, daß 
der Schöpfer des Kunstwerkes, den wir doch in erster Linie für 
sachverständig halten, den Genuß des Kenners nicht immer höher 
bewertet als das naive Genießen. Vielleicht würde Baffael 
das Verhalten eines ästhetisch weniger Gebildeten, der vor der 
Sistina das Gefühl hat, eine Vision göttlicher Herrlichkeit zu 
erleben, für ,.richtiger'' erklären als das des Kenners, dessen 
Bewußtsein vorwiegend von dem Entzücken über die geniale 
Komposition der Linien erfüllt ist. 

Weniger äußerlich verfährt der Psychologe, wenn er die als 
geltend vorausgesetzte Wertentscheidung direkt in den Bewußt- 

^) Zu den „Kennern" im weiteren Sinne rechne ich hier natürUch auch 
die Künstler seihst. — Der Rekurs auf das Urteil der Kenner ist schon von 
Home gefordert worden. Von neueren Forschem seien hief Rutgers 
Jfarshall, Roetteken und K. Lange genannt 



VKfVERStTY ) 

ABthetik. '-^^J^Ü-SlN- 147 

seinszuständen findet, die ihm in der ästhetischen Wirkung ent- 
gegentreten. Um ein Beispiel zu geben, stelle ich eine Überlegung 
an, die ein wenig auf die allgemeine Bedeutung des Ästhetischen 
hinweist (vgl. o. S. 140, 1. c) und zugleich den Vorzug hat, mit der 
Bekämpfung eines Irrtums zu beginnen. Die Intensität des 
Vergnügens am Kunstwerk ist nach psychologischer Erfahrung 
kein ausreichender Maßstab für die Bestimmung des ästhetischen 
Wertes, weil sich die Wertschätzung überhaupt nicht nur nach 
der augenblicklichen Lust oder Unlust richtet Ich kann bei 
Conan Doyle lebhaftere Lustgefühle haben und dennoch den 
Genuß der „Züricher Novellen^ höher schätzen. Das ist eine 
psychologische Tatsache, die wohl verständlich ist.^) Besonders 
wo schwer erfüllbare Wünsche ihr Ziel finden, da wird uns eine 
„Befriedigung" zuteil, deren Wertschätzung weniger von der 
Intensität des augenblicklichen Lustgefühls abhängt als von der 
Stärke der Gefühle und Wünsche, die nun stille sind, aber das 
nicht erreichte oder wieder verlorene Objekt umdrängen würden. 
— Von hier aus führen verschiedene Wege weiter; wir wollen 
in folgender Weise verfahren. Es gibt (auch das ist eine psycho- 
logische Tatsache) in dem menschlichen Bewußtsein ein allge- 
meines, im Leben draußen nur schwer zu verwirklichendes Ziel 
der Sehnsucht, das darin besteht, einmal von dem immer weiter- 
hastenden Drang des WoUens überhaupt befreit zu sein und die 
Gegenwart wunschlos genießen zu können. Der Ge- 
danke der himmlischen Seligkeit ist das Ideal, das sich aus 
dieser Sehnsucht heraus gestaltet hat. Wenn wir einen solchen 
Zustand wirklich kennen lernen, so haben wir gewöhnlich den 
Eindruck, daß er anderen Lustgefühlen, die vielleicht intensiver, 
aber in die Unrast des Willenslebens verstrickt sind, vorzuziehen 
sei. So soll schon Demokrit gelehrt haben: tiXog d' elvai x^ 
eidv^ilav, ad vipf aöripf oiaav vfj ijdovff. 

Aber die bloße Flucht aus dem Jagen der Wünsche ins 
Leere würde keine Befreiung sein; von der Langeweile — so 
würde hier Schopenhauer sagen — werden wir ja nur zu 
neuer Qual getrieben. Daher sucht der Mensch nach wunschloser 
Fülle des Bewußtseins. Eine solche kann er nur in der Be- 
schäftigung mit Inhalten finden, die um ihrer selbst willen, 

*) Ganz ähnlich yerhftlt es sich mit dem Bewußtsein der „Wichtig- 
keit" du ebenfalls nicht nur von der an genblick liehen Stärke des 
Interesses abhängt. 

10» 



148 Ästhetik. 

ohne Beziehung auf Draußenstehendes, noch zu Erstrebendes (als 
„rein intensive Werte") genußreich sind. Auf mannigfache Weise 
sucht er diesen Zustand zu erreichen, und nur zu oft mißlingt 
der Versuch. Am besten ist aber der Anblick des Schönen ge- 
eignet, jene wunschlose Fülle des Daseins zu erzeugen. Denn in 
dem Schönen verwirklicht sich für das Bewußtsein die notwendige 
Bedingung für ihr Zustandekommen, nämlich eine Einstimmig- 
keit und Harmonie seiner Inhalte, die nirgends über sich 
hinausweisend selbstgenugsam als etwas in sich Vollendetes da- 
steht. Daher ist es von diesem Gedankengang aus begreiflich, 
wenn man den Hauptwert des Schönen immer wieder in dieser 
wunschlosen „Befiiedigung" erblickt hat — Nimmt man nun an, 
die so gewonnene Überzeugung sei wahr, so kann man davon 
abermals relativ geltende Wertentscheidnngen ableiten. Der 
Künstler z. B., der zu stark mit dem Beiz der „Spannung" ar- 
beitet, wird dann eine weniger wertvolle Wirkung hervorbringen, 
indem er durch das ungeduldige Vorwärtsdrängen nach der Lö- 
sung den wunschlosen Genuß des Gegenwärtigen schädigt. 

Ist das bisher Gesagte richtig, so erledigt sich damit ohne 
weiteres auch die praktische Seite der „Normation". Wenn 
der Psychologe keine absolut geltenden Wertentscheidungen voll- 
ziehen kann, so muß er auch mit dem Aufstellen von Forde- 
rungen im Relativen bleiben. Er mag in Fällen, wo er der all- 
gemeinen Zustimmung zu seinen Voraussetzungen sicher zu sein 
glaubt, seinen Forderungen sprachlich eine kategorische Form 
geben — im Grunde bleibt seine Normation stets eine hypo- 
thetische: wenn das wertvoll ist, so ist aus psychologischen 
Gründen dieses und jenes zu verlangen. Die Aufstellung solcher 
relativer Postulate wird man ihm aber ebensowenig verwehren 
können wie die Hervorhebung hypothetischer Maßstäbe für Wert- 
entscheidungen. 

Nun wird sich freilich dem kritischen Leser doch noch eine 
Frage aufdrängen. Man kann, auch wenn man dem Psychologen 
das Recht hypothetischer Wertentscheidungen und Postulate zu- 
gesteht, doch der Ansicht sein, daß er viel besser tue, sich auf 
die wertfreie Behandlung der ästhetischen Phänomene zu be- 
schränken. Wenn nämlich die nicht „psychologisch" betriebene 
Wertwissenschaft die Fähigkeit besitzt, absolute Wertbestim- 
mungen und Normationen zu geben, so scheint es doch ratsamer, 
ja direkt geboten zu sein, eine reinliche Scheidung zu vollziehen, 



Ästhetik. 149 

indem der Psychologe sich auf das ästhetisch Wirksame, so wie 
er es versteht^ beschränkt und es dem kritischen Ästhetiker 
überläßt, die Wertprobleme in endgültiger und zweifelsfreier 
Weise zu lösen. Das würde ja nicht ausschließen, daß er die 
ihm von der kritischen Wertwissenschaft überlieferten Begriffe, 
bei der Auswahl seiner Spezialuntersuchungen auf sich wirken 
ließe, wie umgekehrt die Wertwissenschaft ohne psychologische 
Unterscheidungen nicht auskommen kann. Dieser Gedanke hat 
manches für sich, und es wird jedenfalls zu begrüßen sein, wenn 
die psychologischen Ästhetiker in Zukunft die wertfreie Be- 
handlung in wachsendem Maße als eine selbständige und wichtige 
Aufgabe ihrer Wissenschaft betrachten lernen. Aber er hätte 
noch mehr für sich, wenn es erwiesen wäre, daß die kritische 
Ästhetik wirklich zu absoluten Wertentscheidungen gelangen 
kann. Es ist mir aber, obwohl manche Sätze in erkenntnis- 
kritischen Schriften das zu behaupten scheinen, sehr zweifelhaft, 
ob der Beweis dafür zu erbringen ist. 

Nehmen wir eines der obersten Erkenntnisgesetze, die allen 
Urteilen, also auch den Wertentscheidungen logisch zugrunde 
liegen, etwa den Satz vom Widerspruch. Wie wir wissen, kann 
hier der Psychologe nur das Erfahrungsgesetz aufstellen, daß 
die Bewußtseinslage der Zustimmung einem Urteil gegenüber 
versagt, das Identität zwischen Inhalten behauptet, mit deren 
Nicht-Identität man bekannt ist. Der Logiker dagegen betrachtet 
ein solches Urteil ganz ohne Bücksicht auf die individuellen 
Bewußtseinslagen und kommt so zu der absoluten Setzung: jenes 
Urteil (A sei non = A) ist — wenn ich mich so ausdrücken 
darf — eine „ewige Unwahrheit". — Hier tritt nun die erkenntnis- 
theoretische Frage hervor: mit welchem Rechte faßt der Logiker 
das, was er doch auch nur als zeitliche Überzeugung erlebt, als 
absolute und ewige Geltung auf? 

Soviel ich sehe, kommen hier folgende Ausgangspunkte in 
Betracht. Man kann erstens die Wissenschaft, und zwar die 
Wissenschaft in dem besonderen Sinne eines Systems von ab- 
solut notwendigen und allgemeingültigen Erkennt- 
nissen als gegebene Tatsache voraussetzen und dann fragen: 
wie ist diese Tatsache mOglich? Selbstverständlich ist sie in dem 
angegebenen Sinne nur möglich, wenn auch der Satz vom 
Widerspruch absolute Geltung besitzt. Hier liegt aber das 
Hypothetische in der Annahme jener Tatsache. — Oder man 



150 Ästhetik. 

verfährt zweitens so, daß man nicht von einem gegebenen 
Faktum, sondern von einer idealen Forderung ausgeht. 
T^ wollen Wissenschaft in dem angegebenen Sinne und daher 
sagen wir: „wenn anders" notwendige und allgemeingültige 
Wissenschaft bestehen soll, dann muß der Satz vom Widerspruch 
eine ewige Wahrheit sein. Das „Wenn" tritt hier schon in 
unserer sprachlichen Formulierung ohne weiteres zutage. 

Damit hängt aber auch die besondere Form zusammen, in 
der die ewige Wahrheit dann behauptet wird, wenn man die 
absolute Geltung nicht einfach mit einer dem „naiven Bealis- 
mus" verwandten Selbstverständlichkeit hinnimmt. Wie mir 
scheint, kann man in dieser Hinsicht drei Wendungen des Ge- 
dankens als die beachtenswertesten bezeichnen. Zwei von ihnen 
stellen sich als „Annahmen" (im Sinne Meinongs) dar, die 
dritte hat gewöhnlich den Charakter des „Glaubens". Man kann 
erstens die Behauptung von der absoluten Geltung einfach als 
eine methodische Voraussetzung betrachten, damit un- 
bedingt notwendige und allgemeingültige Wissenschaft möglich 
sei. Dann kommt zu dem eben Ausgeführten nichts Neues hinzu. 
Oder man macht zweitens die weitere Annahme eines zeit- 
losen überindividuellen Bewußtseins als der Voraus- 
setzung für die absolute Geltung solcher Wahrheiten. Damit 
begibt sich die Erkenntnistheorie auf ein dünnes und schwankes 
Seil, das über dem „Abgrunde der Metaphysik" ausgespannt ist. 
Freilich kann der Erkenntnistheoretiker sagen, jene psycho- 
logische Betrachtungsweise, die die Erlebnisse in ihrer zeitlichen 
Zugehörigkeit zu einem Individuum untersuche, entferne sich 
selbst von dem wirklich Gegebenen, sobald sie mit dem Indi- 
viduum nicht den Leib, sondern das Subjekt meine; sie habe 
kein Becht, das dem Bewußtseinsinhalt gegenüberstehende Sub- 
jekt als individuell und zeitlich zu bezeichnen. Das ist kaum 
zu bezweifeln. Aber wir können hier auch ganz von jener 
Definition der Psychologie absehen und einfach sagen : wir wissen 
unmittelbar nur von zeitlichen Überzeugungen; wir be- 
haupten nichts von einem Subjekt, für das sie da sind; aber 
zeitliche Überzeugungen sind gegeben, und ihre Beziehung auf 
ein zeitloses überindividuelles Subjekt ist ebensogut eine An- 
nahme wie ihre Beziehung auf ein individuelles und zeitliches.^) 

^) Das Argument, wonsich die znr Vorstellnug des Zeitverlaufs gehörende 
Einheit in der Sukzession der Bewußtseinsinhalte selbst nicht zeitlich sein 



Ästhetik. 151 

Endlich ist die dritte Wendung anzuführen, die entschlossen den 
Schritt ins Metaphysische tut, indem sie „glaubend^' das über- 
individuelle Bewußtsein als Gott oder als das Absolute auffaßt. 
Wieweit Kant selbst, der in der Schrift „de mundi sensibilis" etc. 
seinen Konnex mit Malebranche hervorhebt, auch für diesen 
Gedanken in Betracht kommt, lasse ich dahingestellt. Seine 
Lehre, die ja auch noch „Metaphysik" sein will, konnte so auf- 
gefaßt werden, daß ihm die überempirische Einheit des Bewußt- 
seins eine metaphysische Wesenheit bedeutet, und daß sein 
Unterschied von der alten Spekulation in der Beschränkung 
auf die bloß erkenntnistheoretische Verwertung 
dieser metaphysischen „Annahme'' besteht (Metaphysik als Trans- 
zendentalphilosophie). Jedenfalls ist die Entwicklung von Kant 
zu Hegel, die zweifellos bisher die historisch wichtigste Weiter- 
bildung war, von dieser Auffassung aus am besten zu verstehen. 
Von neueren Forschern aber ist es besonders Uphues, für den die 
absolute Wahrheit nur als metaphysischer Begriff denkbar bleibt. 
Das Ergebnis dieser Bemerkungen, wonach man auch im 
erkenntniskritischen Gebiete ohne „Wenn'' nicht auskommt, 
wird durch die kritischen Forscher selbst vielfach bestätigt. 
Die erkenntnistheoretische Logik hat zweifellos ihren reinsten 
Ausdruck da gefunden, wo die Einheit des Bewußtseins den 
geistigen Blickpunkt aller Gesetzeseinheiten oder die ideale 
Einheit des Gesetzes in dem Sinne bedeutet, „daß wir Gesetze 
haben müssen, sofern wir Wissenschaft haben wollen" 
(Cohen, „Kants Theorie der Erfahrung" 2. Aufl. S. 591). In 
der Ethik hat der kategorische Imperativ seine Geltung, „wenn 
eins anerkannt wird, daß nämlich praktische Vernunft und daß 
als ihr Träger eine Gemeinschaft von Vernunftwesen sein soll" 
(A. Messer, „Kants Ethik" 1904, S. 217 f.). Und in der kri- 
tischen Ästhetik ist es ebenso. J. Cohn z. B. betont, daß dem 
Schönen „Forderungscharakter" zukomme: im Unterschied von 
dem bloß Angenehmen trete das große Kunstwerk mit dem 
„Anspruch" an uns heran, von uns nachgefühlt zu werden. In- 
dem er nun meint, für den, der diesen Forderungscharakter des 
Schönen leugne, sei das Schöne im weitesten Sinne nur eine 



kann, weil sie „die Zeit erst möglich macht'', kann ich schon darnm nicht 
anerkennen, weil sie ja nicht „die Zeit", sondern das „Bewußtsein der Zeif 
möglich machen soll. Vom Zeitlichen ins Ewige führt, wie mir scheint, eben- 
sowenig ein logisch sicherer Weg wie yon der essentia zur existentia. 



152 Ästhetik. 

Art des Angenehmen und zwischen Poesie und Eochknnst be- 
ständen dann nor Unterschiede des Materials nnd der Technik, 
kommt er zn dem Ergebnis: „den Fordemngscharakter des 
SchOnen muß anerkennen, wer im Schonen etwas anderes 
als eine Art des Angenehmen sieht nnd wer den primären 
Kulturwert der Kunst behauptet'' (a. Abh. S. 168). Den Ge- 
dankengang habe ich hier nicht zu kritisieren; nur darauf 
möchte ich hinweisen, daß auch in dieser Bestimmung das „Wenn'' 
vorhanden ist, obschon es sprachlich nicht zum Ausdruck kommt 

Hiermit habe ich die Erörterung soweit gef&hrt, als es 
meinen gegenwärtigen Zwecken entspricht, und ich kann daher 
zu den Schlußfolgerungen aus dem Gesagten &bergehen. 

Worin stimmen erkenntnistheoretische und 
psychologische Normation äberein? Beide sind logisch 
imgrunde auf hypothetische Maßstabe und relative Forderungen 
beschränkt; denn auch der kritische Philosoph kommt, falls er 
wirklich kritisch ist, nicht erkennend fiber ein letztes „Wenn" 
hinaus. Beide können aber wollend eine Grundlage oder 
„Hypothesis" schaffen, durch den Entschluß zu einer An- 
nahme, die gelten soll — im Anfang ist die Tat. Und 
beide finden in diesem Entschluß zu grundlegenden Annahmen 
den Weg, der über den Skeptizismus hinausfuhrt; 
denn Skepsis ist Entschlußlosigkeit des Denkens (l^ox^'). 

Worin besteht der Unterschied zwischen er- 
kenntnistheoretischer und psychologischer Nor- 
mation? Der Erkenntnistheoretiker geht von der Annahme 
oder dem Wunsche aus, daß notwendige und allgemeingültige 
Erkenntnisse vorhanden seien und sucht nach logischer, d. h. 
vom individuellen Erlebnis absehender Me- 
thode das Prius aller Einzelerkenntnisse im Begriff der Ge- 
setzmäßigkeit des „Bewußtseins überhaupt". — Der Psychologe 
sagt erstens allgemein: damit ich wissenschaftlich arbeiten kann, 
gehe ich über die Enthaltung der Skepsis hinaus, indem ich den 
Entschluß fasse, solche Urteile, die in mir von dem „Bewußt- 
sein der Evidenz« ^) oder der „Bewußtseinslage der Überzeugung" 
begleitet sind, solange für allgemeingültig anzusehen, 
als ich keinen Grund habe, an ihrer Allgemein- 



') Daß Evidenz eigentlich ein psychologischer Begriff sei, hat Natorp 
Hnsserl gegenüber heryorgehohen. Rein logisch besteht nur das sie etnon. 



Ästhetik. 153 

gültigkeit zu zweifeln. (Auf diese Weise kann er z. B. 
eine subjektive „Überzeugungslogik^ aufbauen, die der „reinen^ 
oder „Wahrheitslogik'' durchaus parallel geht.) Und um diese 
hypothetische Allgemeingültigkeit genauer yom psychologischen 
Standpunkt aus zu bestimmen, kann er zweitens hinzufügen: damit 
ich wissenschaftlich tätig sein kann, will ich speziell annehmen, 
meine aus vergangener Erfahrung gewonnene Überzeugung, wo- 
nach dasjenige, was mir evident erscheint, unter genau denselben 
Bedingungen auch allen anderen denkenden Wesen als gültig er- 
scheinen muß, sei solange festzuhalten, als sie nicht durch künftige 
Erfahrung erschüttert wird. So will ich z. B. bis ich vom 
Gegenteil überzeugt werde, daran festhalten, daß mein Urteil 
über die Wertschätzung des Schönen, das den Orund dieser 
Wertschätzung nicht in der Lust als solcher, sondern in dem 
(auf emotionalen, voluntarischen und logischen Wertungen be- 
ruhenden) allgemeineren Zustand der „Befriedigung" über die 
„wunschlose Fülle des Erlebens" erblickt, richtig sei; und so- 
lange ich an diesem Maßstabe festhalten kann, will ich auch 
die Eonsequenzen ziehen und die Postulate aufstellen, die sich 
mir daraus ergeben. 

Hiermit glaube ich trotz der Beschränkung auf wenige 
Hauptpunkte gezeigt zu haben, in welcher Weise und innerhalb 
welcher Grenzen der Psychologe normative Ästhetik betreiben kann. 



II. 

Die Gegenstände der ästhetischen Forschung verteilen sich, 
wie schon im Eingang erwähnt wurde, auf zwei Hauptgebiete: 
die künstlerische Produktion und das ästhetische 
Genießen. 

Bei der wissenschaftlichen Behandlung der künstleri- 
schen Produktion, die ich hier nur mit einigen kurzen Be- 
merkungen streifen will, wird wohl die Frage nach dem Wesen 
des Genies stets die schwierigste bleiben. Ich kann auf die 
einzelnen Untersuchungen über diesen Gegenstand (Lombro so, 
Türck, S6ailles, die anonym erschienene Schrift „Zeus" 
usw.) nicht eingehen. Am tiefsten dringt, da weder die all- 
gemeine Betonung der abnormen oder gar krankhaften Ein- 
seitigkeit noch die spezielle Hervorhebung einer verfeinerten 



154 Ästhetik. 

sinnlichen Eeizbarkeit, eines anschaulichen Gedächtnisses, einer 
gesteigerten Phantasietätigkeit usw. recht genügen will, noch 
immer die scheinbar rein formale Bestimmung der kritischen 
Philosophie, wonach das Genie in der Naturgabe besteht, für 
das Gefühl Gesetze zu geben. Auf den ersten Blick freilich 
erscheint diese Bestimmung ebenso wie der kategorische Impe- 
rativ bloß als ein negatives Kriterium, indem dadurch angegeben 
wird, unter welcher Bedingung wir allein von einem genialen 
und originalen Künstler sprechen können: nur der ist ein künst- 
lerischer Genius, der unserem ästhetischen Fühlen eigene Gesetze 
gibt. Sobald man aber unter „Gefühl" etwas anderes, weiteres 
als Lust und Unlust, nämlich die gesamte, alle Dispositionen 
umfassende Zuständlichkeit des Bewußtseins versteht, so wird 
aus der Gesetzlichkeit des Gefühls die immanente Einstimmig- 
keit des gegenwärtigen Seelenzustandes, und das Wesen der 
künstlerischen Genialität besteht in der Naturanlage, dem ästhe- 
tischen Bewußtsein neue Blickpunkte zu verschaffen, durch 
die sich das Gegebene zu jener wunschlosen geordneten Fülle 
des Erlebens gestaltet, die man von alters her die Einheit 
(= Einstimmigkeit, Gesetzlichkeit) des Mannigfaltigen nennt. 

Von der Aufgabe, den Begriff des Genies zu bestimmen, 
unterscheidet sich die Frage nach den besonderen Motiven 
künstlerischer Produktion. Wie ich glaube, ist hier die 
allgemeine „Freude am Ursachesein" der umfassende Begriff, 
von dem man auszugehen hat; sie zielt aber im künstlerischen 
Schaffen auf solche Wirkungen ab, die dem Künstler selbst wie 
dem Betrachter um ihres eigenen Inhaltes willen erfreulich sind. 
Jenem allgemeinen Bedür&isse entspringen drei speziellere 
Motive: das Prinzip der Selbstdarstellung, das Prinzip der 
Schöngestaltung und das Prinzip der Nachahmung. Diese Prin- 
zipien zeigen sich in allen Künsten, aber sie treten in sehr ver- 
schiedenen Gewichtsverhältnissen auf, und man kann häufig be- 
obachten, wie auch in derselben Kunst die Entwicklung dadurch 
bestimmt ist, daß sich die genannten Motive in der Vorherr- 
schaft ablösen. 

Eine dritte Aufgabe, die seit dem Bekanntwerden der Dar- 
winschen Theorie sehr viel behandelt worden ist, bezieht sich 
auf die Anfänge der Kunst. Von neueren Werken sind hier 
unter anderen die „Anßlnge der Kunst" von Große (1894), die 
jetzt auch ins Deutsche übersetzten „Origins of art" von Yriö 



Ästhetik. 155 

Hirn (1900) und Gummeres „Beginnings of poetry" (1901) 
hervorzuheben. Die Frage, inwiefern die Darwinsche Hypo- 
these, die in der Kunst ein Bewerbungsprodukt erblickt, zu ver- 
werfen ist und inwieweit trotzdem ein Zusammenhang des Pro- 
blems mit dieser Hypothese gewahrt bleiben könne, habe ich in 
einem vor kurzem veröffentlichten Vortrag ilber „die Anfange 
der Kunst und die Theorie Dai-wins** (Hessische Blätter für 
Volkskunde, Bd. III, 1904) so zu behandeln versucht, daß ich 
dabei zuerst von den uns bekannten Tatsachen, dann von den 
vorhin angeführten künstlerischen Motiven, besonders aber von 
dem Prinzip der Selbstdarstellung ausging. 

Eine vierte bei der Untersuchung der Kunst hervortretende 
Hauptaufgabe wäre die Entwicklung eines Systems der 
Künste. Doch wird man im ganzen sagen können, daß hier- 
über in den älteren Werken mehr zu finden ist als in den ästhe- 
tischen Untersuchungen der Gegenwart. So sei an dieser Stelle nur 
das durch fachmännische Kenntnisse ausgezeichnete Buch von Alt 
über „das System der Künste" (1888), die Einteilung der Künste 
in Hartmanns Ästhetik und der im VII. Bande der „University 
of Toronto Studies" (Psychol. Series) veröffentlichte Aufsatz von 
Külpe „The conception and Classification of art" angeführt 

Was die Untersuchung des ästhetischen Genießens 
anlangt, so muß ich an den Ergebnissen der experimentellen 
Psychologie ebenso flüchtig vorübereilen wie an den Problemen 
der künstlerischen Produktion. Als Fe ebner durch seine in- 
teressanten Versuche die experimentelle Ästhetik begründete, 
haben viele eine gewaltige Ausbreitung der neuen Methode er- 
wartet. In Wirklichkeit wird man bei aller Anerkennung der 
zahlreichen und wertvollen Beiträge der experimentellen For- 
schung (von denen hier nur Meumanns Untersuchungen über 
den Ehythmus als Beispiel genannt seien), doch zugestehen müssen, 
daß es dem Experimentator im ästhetischen Gebiete ganz be- 
sonders schwer fällt^ über die Untersuchung der elementarsten, 
noch sozusagen unterästhetischen Erscheinungen hinauszukommen. 
Die Psychologen, die es dennoch gewagt haben, weiter empor- 
zudringen, wie z. B. Dessoir und Külpe, haben dabei nicht 
immer dieselben Erfolge, errungen wie in anderen Gebieten ihrer 
Tätigkeit. — Infolgedessen muß die Ästhetik bis jetzt gerade 
bei ihren wichtigsten Untersuchungen meistens auf das Experi- 
ment (im gewöhnlichen Sinne des Wortes) verzichten. Freilich, 



156 Ästhetik. 

wenn man genauer zusieht^ so kann auch die sogenannte Selbst- 
beobachtung, auf die der Ästhetiker sich so oft beschränken 
muß, als eine Art von Experiment bezeichnet werden. Denn 
der Schriftsteller, der sein Genießen analysiert, verfährt sicher- 
lich nur selten so, daß er etwa ein Erinnerungsbild seines 
Genießens einfach „beobachtet''. Seine -Arbeit gleicht viel 
eher einem Zeichnen aus dem Gedächtnis, wobei man mit 
dem Stifte versuchsweise beginnt und bei jeder Wendung der 
Linien prüft, ob die Qualität der Bekanntheit hervorspringt 
oder nicht. 

Stellt man die Frage, ob unter den mannigfaltigen ästheti- 
schen Problemen, die zurzeit erörtert werden, eines das Überge- 
wicht über die anderen errungen habe, so wird man wohl fast 
einstimmig auf das Problem der „Einfühlung'' verwiesen 
werden. Wenn ich daher im folgenden den Begriff der Ein- 
fühlung zu dem hauptsächlichen Thema meiner Bemerkungen 
über den ästhetischen Genuß mache, so führe ich den Leser 
mitten in die Gebiete angestrengtester ästhetischer Arbeit hin- 
ein; damit hängt der Vorteil zusammen, daß wir im Anschluß an 
unsere Betrachtung Gelegenheit haben werden, eine ganze Beihe 
von anderen Streitfragen zu berühren, die mit dieser zentralen 
in Verbindung stehen. 

Vor allem muß es betont werden, daß sich das Denken der 
Ästhetiker dem Begriff der Einfühlung von zwei verschiedenen 
Ausgangspunkten aus zugewendet hat und daß die Kenntnis 
dieser Verschiedenheit sehr wichtig ist, um sich in den ver- 
schlungenen Pfaden der Einfühlungslehre zurecht zu finden. Bei 
aller Einfühlung handelt es sich darum, daß die geistigen In- 
halte, die das sinnlich Gegebene durch seine wahrnehmbaren 
Eigenschaften „ausdrückt" oder „bedeutet", von dem Genießen- 
den nicht in abstrakter Weise, z. B. durch Wortvorstellungen 
wie „traurig", „zornig", „emporstrebend" hinzugedacht, 
sondern in einer konkreteren Weise erlebt werden. Bei aller 
Einfühlung steht es femer fest, daß diese geistigen Inhalte 
(einerlei ob es sich um ein „wirklich" beseeltes Objekt oder um 
ein nur „personifiziertes" handelt) aus dem auffassenden Be- 
trachter stammen, also von ihm, wie die ältere Ästhetik zu 
sagen pflegt, dem sinnlich Gegebenen „geliehen" werden: er 
fühlt sein eigenes Ich oder Teilbetätigungen seines eigenen Be- 
wußtseins in das sinnlich Gegebene ein. In der Art aber, wie 



Ästhetik. 157 

sich der Zustand des Beschauers während dieser lebenleihenden 
Auffassung in der Selbstbeobachtung zeigt, tritt ein charak- 
teristischer Unterschied hervoi*, der sich vielleicht am besten 
durch ein Beispiel des Erhabenen veranschaulichen läßt: wenn 
ein frisch empfilnglicher Betrachter vor der ungeheueren Fels- 
wand der Zugspitze steht, wie man sie vom Eibsee aus erblickt, 
so kann er infolge der Einfühlung etwas von dem einschüch- 
ternden Eindruck einer übermächtigen himmelstürmenden Per- 
sönlichkeit erleben und hierin aufgehend seinen Genuß haben; 
es kann aber auch der Fall eintreten, daß er das Gefühl hat, 
als nehme er selbst an dem mächtigen Aufschwung der Massen 
teil, als werde sein eigenes physisches und psychisches Ich 
irgendwie von diesem Aufschwung mit emporgerissen. Und 
gerade beim Anblick des Erhabenen kann derselbe Betrachter 
auch beide Zustände mit einer in der ästhetischen Literatur 
längst bekannten Gegensätzlichkeit der Gesamtstimmung durch- 
laufen — „in jenem sel'gen Augenblicke, ich fühlte mich so 
klein, so groß!" 

Oder nehmen wir noch ein einfacheres Beispiel. Ein ein- 
zelner Akkord oder eine Farbe erscheint uns von einem geistigen 
Leben erfüllt, das wir im Konnex mit dem sinnlich Gegebenen 
inne werden, ohne dabei in der Regel den Eindruck zu haben, 
daß wir in irgend einer Weise an diesem (von uns „geliehenen") 
Leben Teil hätten. Vor einer aufstrebenden und wieder herab- 
sinkenden Linie oder Tonfolge können wir uns ebenso ver- 
halten: in der Linie spielt sich dann eine Anspannung und ein 
Nachlassen des Strebens ab — weiter nichts. Unter Umständen 
aber, und zwar besonders dann, wenn die Anschauung uns stärker 
packt, müssen wir unseren Zustand so beschreiben, als hätten wir 
selbst diese Strebungen aktiv mitgemacht. Obgleich aller 
Ausdruck nur aus unserer eigenen Seele stammt, erscheint uns 
die beseelte Form wie ein gegebenes Ganzes und zieht uns 
mitfühlend, mitstrebend in „ihre" Gefühle und Strebungen hinein. 
Im ersten Falle hat der geistige Zustand des Betrachters mehr 
den Charakter eines ruhigen Schauens, im zweiten Falle mehr 
den eines bewegten Mitgerissenwerdens. Man könnte in einer 
kleinen Veränderung des von R Vischer eingeführten Sprach- 
gebrauches beides als „Einfühlung", aber spezieller das erste als 
„Zufühlung", das zweite als „Nachfühlung" bezeichnen. 
Jener Zustand ist mehr mit dem Begriff der ästhetischen „Per- 



158 Ästhetik. 

sonifikation" verwandt, dieser fällt mit dem des ästhetischen 
„Mit-" oder „Nacherlebens" zusammen. 

Die ästhetische Personifikation ist von sehr vielen Forschem 
bearbeitet worden. Zu den interessantesten älteren Unter- 
suchungen gehört die psychologische Erklärung, die Siebeck 
in seinem „Wesen der ästhetischen Anschauung" (1875) gegeben 
hat. Dieses Wesen der ästhetischen Anschauung besteht für ihn 
eben darin, daß das betrachtete Objekt auf Grund seiner äußeren 
Beschaffenheit als ein „analogen personalitatis" erscheint — 
Dagegen ist es unter den früheren Forschern neben Jouffroy in 
erster Linie Lotze, der an verschiedenen Stellen seiner Werke 
über das bloße Schauen des Personifizierten hinausgehend im 
inneren Miterleben den Kern des ästhetischen Zustandes zu finden 
glaubte. Ebenso wird in R Y i s c h e r s berühmtem Aufsatz „über 
das optische Formgefühl" (1873) das innere Miterleben stark 
betont: „wir klettern empor an dieser Tanne, wir recken uns 
an ihr selbst empor; wir stürzen in diesen Abgrund usw.". 

Dieser Gegensatz zwischen einer mehr passiven und einer 
mehr aktiven Auffassung der Einfühlung macht sich auch in 
der neueren Literatur geltend. In meiner „Einleitung in die 
Ästhetik" (1892) habe ich den zweifellos einseitig ausgefallenen 
Versuch gemacht, das ästhetische Miterleben, das ich als eine 
Art von innerem Nachahmungsspiel betrachtete, als den Kern des 
ästhetischen Verhaltens im Begriff des Schönen selbst und seiner 
sogenannten Modifikationen nachzuweisen. Später habe ich in 
dem fragmentarischen kleinen Buch über den „ästhetischen 
Gtenuß" (1902) beide Zustände als wichtige Erscheinungen im 
ästhetischen Verhalten anerkannt und an Beispielen zu zeigen 
versucht, wie enge sie zusammenhängen (233 f.); dem Mit- 
erleben wurde aber dabei doch der Vorrang eingeräumt: es 
genüge nicht, so schloß ich im Hinweis auf einige Verse von 
C. F. Meyer (263), daß der schwebende Adler sich dem Himmel 
nahe zu fühlen scheine (Zufühlung), sondern uns selbst müsse er 
zum Gefühl der Himmelsnähe emporreißen (Nachfühlung). — 
Auch Lipps ist der Ansicht, daß der ästhetische Zustand in 
dem Miterleben gipfelt. Der eigentliche Inhalt seiner ästhetischen 
Einfühlung oder ästhetischen „Sympathie" besteht in der 
„Persönlichkeit", die man in dem Wahrgenommenen „mit- 
fühlend erlebt" („Grundlegung der Ästhetik" 1903, S. 132), 
und das Gefühl der Schönheit wird von ihm definiert als „das 



Ästhetik. 159 

Geffihl der positiven Lebensbetätigung, die ich in einem 
sinnlichen Objekt erlebe" (140). 

Auf der anderen Seite verlangt aber auch der passivere 
Znstand, in dem der Betrachter ohne ein Gefühl des Mitgerissen- 
werdens das in der ausdrucksvollen Gestaltung wirkende Leben 
„anschaut", sein gutes Recht. Nachdem besonders durch Schopen- 
hauer dieses ruhige Schauen in eindrucksvoller Weise meta- 
physisch gedeutet worden war, ist es von psychologischer Seite 
wohl am sorgfältigsten durch Witasek analysiert worden. In 
seinen „Grundzügen der allgemeinen Ästhetik" (1904),^) fuhrt er 
aus, daß es verschiedene Haupttypen ästhetischer Gegenstände 
gebe, unter denen das „Ausdrucks- und Stimmungsvolle" eine 
besondei*s wichtige Klasse sei (98 f.). Durch das Mittel des 
Ausdruckes biete das Schöne in Kunst und Natur neben und im 
Physischen auch das Psychische unserer Anschauung dar 
(104). Unserer Anschauung; damit soll nicht nur gesagt sein, 
daß dieses Psychische in konkreter Unmittelbarkeit und Frische 
(im Unterschied von einer abstrakteren Vorstellungsweise) erfaßt 
wird. Witasek nimmt vielmehr an, daß wir die Fähigkeit be- 
sitzen, Vorgänge des Innenlebens, z. B. Affekte, im Erinnerungs- 
oder Phantasiebild ähnlich wie Außendinge zu betrachten. 
Im gewöhnlichen praktischen Leben freilich kommt ein solches 
„anschauliches Vorstellen" von psychischen Vorgängen außer hin 
und wieder im ethischen Verhalten gegen den Nebenmenschen 
wohl nur in Augenblicken ruhigen Meditierens vor, wenn man 
sich einmal in die Betrachtung des eigenen oder eines fremden 
Seelenlebens versetzt Während des ästhetischen Verhaltens sind 
dagegen viel günstigere Bedingungen vorhanden; hier ist man 
von vornherein in die Anschauung des sinnlichen G^enstandes 
vertieft, so daß sich diese beschauende, betrachtende Geistes- 
haltung leicht zugleich auf das Psychische überträgt, das uns 
ja in dem wahrgenommenen Gegenstande dargeboten zu sein 
scheint Der ästhetische Zustand gibt uns also die seltene Ge- 
legenheit, Seelenregungen zu betrachten und das Schauspiel, das 
sie bieten, mit dem inneren Auge zu verfolgen. Die Freude an 
diesem Schauspiel ist für Witasek das Wesentliche in dem Be- 
griff der „Einfühlung" (1221, 152). 



^) Vgl auch Witasek, „Zur psychologischen Analyse der ftsthetischen 
Ernftthlung*', Ztschr. f. Psych, n. Phydol. der Sinnetorg. Bd. 25. 



160 Ästhetik. 

Der weitere Verlauf der ästhetischen Arbeit wird über dwi 
Wert dieser sich entgegenstehenden Auffassungen zu entscheiden 
haben. Nach meiner schon früher geäußerten Ansicht handelt 
es sich dabei nicht um ein Entweder-Oder. Ich glaube vielmehr, 
daß hier tatsächlich bemerkenswerte Unterschiede im ästhetischen 
Verhalten vorliegen, Unterschiede, die zum Teil differentiell- 
psychologischer Natur sein m6gen, die aber, wie schon unser 
Beispiel des Erhabenen zeigte, auch bei demselben Individuum 
angetroffen werden können. Der künftige Bearbeiter des Pro- 
blems wird dabei gut tun, wenn er gewisse methodologische 
Gesichtspunkte beachtet, auf die ich hier aufmerksam machen 
mochte. Man wird den schon vorliegenden psychologischen Er- 
örterungen über die Einfühlung vielfach nicht gerecht werden 
können, wenn man von ihnen außer einer Analyse und Klassi- 
fikation von auffallenden Phänomenen, die während des ästhe- 
tischen Verhaltens hervortreten, zweierlei erwartet: erstens all- 
gemeine logische Merkmale für alles ästhetische Genießen und 
zweitens eine ausreichende Angabe der Ursachen der ästhe- 
tischen Lust Jene Erörterungen mögen den Anspruch erhoben 
haben, beides vollständig zu leisten, und wenn es sich nun 
herausstellt, daß manche von ihnen dazu nicht imstande sind, 
so kann der Kritiker leicht zu einem durchaus verwerfenden 
Urteil gelangen. Er würde dann übersehen, daß man außer den 
allgemeinen, bei jedem „Repetitionsgenuß'' anzutreffenden Merk- 
malen des ästhetischen Zustandes auch diejenigen Eigentümlich- 
keiten untersuchen muB, die für das intensivste ästhetische 
Genießen, die „ästhetische Ekstase" charakteristisch sind; 
und er würde femer übersehen, daß für die Psychologie die 
Analyse und Klassifizierung solcher Eigentümlichkeiten auch 
ohne Rücksicht auf ihren Lustwert von größtem Interesse ist 
Auf der anderen Seite wird man bei der positiven Bearbeitung 
des Problems vor unberechtigten Verallgemeinerungen mehr auf 
der Hut sein müssen, als es bisher geschehen ist. 

Ich kehre zu der Bemerkung zurück, daß jene beiden Zu- 
stände, das ruhige Betrachten und das aktive Miterleben des 
Psychischen, auch abgesehen von dem Spezialfall des Erhabenen, 
in demselben Individuum auftreten können. Derselbe Betrachter 
kann einerseits von dem abstrakten und außerästhetischen „Ver- 
ständnis" zum ästhetischen „Schauen" und von da aus zum 
ästhetischen „Miterleben" des Psychischen übergehen, und er 



Ästhetik. 161 

kann andererseits vom Miterleben zam Schauen und zum bloßen 
Verständnis weitergeführt werden. Nehmen wir den Anfang 
von Schumanns „Träumerei" als Beispiel. Die Form dieser 
Tonfolge bringt es mit sich, daß ihre Auffassung durch ver- 
schiedene Analogien beeinflußt ist, die von der Bewegung im 
Baume, von der Bewegung der menschlichen Sprechstimme und 
von der „Gestalt" im Ablauf unserer Emotionen herkommen. 
Wir haben etwa den Eindruck eines im Räume bewegten, sich 
ähnlich einer Stimme äußernden Psychischen (einer „tanzenden 
Stimme" sagte ich in den „Spielen der Menschen"), das nach 
Überwindung einer kleinen Hemmung sehnsuchtsvoll anschwellend 
emporsteigt, um von der schönen Höhe liebevoll zögernd wieder 
herabzugleiten. Dieser Eindruck kann, — z. B. eben jetzt, wo 
ich mich aus theoretischen Gründen beobachte — einen mehr 
abstrakt-verstandesmäßigen Charakter besitzen, sodaß in mir 
die niedergeschriebenen Wortvorstellungen an Stelle der durch 
sie bezeichneten Gemütszustände die Vorherrschaft einnehmen; 
dann verhalte ich mich nicht eigentlich ästhetisch. Ich kann 
femer die konkret erlebten Gemütszustände, die in die Töne 
eingefühlt sind, passiv „beschauen" und an diesem Schauspiel 
meine Freude haben. Und endlich kann ich mich so verhalten, 
daß ich das Auf und Ab der Töne durch eine reproduktive oder 
sensorische Aktivität, die sich in meinem Gesamtbewußtsein 
geltend macht, kopiere, mitmache, nachahme und daß das ein- 
gefühlte Psychische an dieses aktive Mitmachen an- 
geschlossen erscheint; dann bin ich im Zustande des Mit- 
erlebens. Auch wer der Ansicht zuneigt, daß der „wahrhaft" 
ästhetische Zustand oder das „richtige" ästhetische Verhalten 
in dem bloßen Schauen des Psychischen bestehe, wird nicht 
leugnen können, daß die schriftstellerischen Versuche, die 
„ästhetische Ekstase" zu schildern, neben dem passiveren Zu- 
stande immer und immer wieder auf etwas Aktiveres hinweisen, 
wobei das Einfühlen als eine Betätigung des Beobachters er- 
scheint, für die sich die Bezeichnungen Mit- oder Nacherleben 
unwillkürlich einstellen. Mit dem bloßen Einwand, das sei eben 
unwissenschaftlich geredet, ist es für den nicht getan, dem ein 
solches Mitgerissenwerden als besonders köstlich, ja als der 
Gipfel der ästhetischen Zustände erscheint. Er wird sich viel- 
mehr als Psychologe ernstlich fragen müssen, inwiefern man bei 
der Schilderung des Erlebten zu diesem „Mit" oder „Nach" ge- 

Windelband, Die Philosophie im Beginn des so. Jahrh. U. Bd. 11 



162 ÄBthetik. 

langt, nnd ob dabei tatsächliche Beziehungen vorhanden sind, 
die es erlauben, das „Mit'' oder „Nach'' auch in der wissen- 
schaftlichen Terminologie beizubehalten. 

Hier kann man nun ohne Zweifel mit leichter Mühe fest- 
stellen, daß der Ausdruck „Miferleben in einer Hinsicht wissen- 
schaftlich bedenklich ist. Wir haben die „Sehnsucht" in der 
Schumannsclfen Melodie nicht zuerst wie ein Vorbild „vor uns" 
und leben das Qefdhl dann außerdem noch einmal „in uns" 
nach, sondern es ist von vornherein unsere Sehnsucht, die sich 
den Tönen einfühlt, und dabei bleibt es: das Erlebnis ist, wenn 
wir von dem Zustande des komponierenden Künstlers, der uns ja 
nicht gegeben ist, absehen, nicht doppelt, sondern nur einfach 
da. Sogar der besondere Fall, wo wir eine in einem Mitmenschen 
wirklich vorhandene Sehnsucht „miterleben", bildet psychologisch 
betrachtet, keine Ausnahme hiervon; denn auch dem lebenden 
Menschen müssen wir „unsere" Sehnsucht einfühlen — die seinige 
ist uns nicht als Vorbild gegeben. Sofern man daher das psy- 
chische Innenleben des betrachteten Objekts für sich allein in 
Erwägung zieht, hat unser Ausdruck keine wissenschaftliche Be- 
rechtigung; er fällt mit dem Irrtum des naiven Bewußtseins, 
daß uns fremdes Psychisches von außen her gegeben sein könne.^) 
— Wenn trotzdem Ästhetiker, denen das ganz genau bekannt 
ist, an dem „Mit" oder „Nach" festhalten möchten, so muß dafür 
noch ein anderer Grund vorhanden sein. 

Auf diesen anderen Grund weist der Ausdruck „innere 
Nachahmung" hin, den ich zu dem Terminus „Miterleben" in 
Beziehung gebracht habe. Wenn ich die Schumannsche Melodie 
ruhig anhöre, so ist sie mir einfach gegeben. Wenn ich dagegen 
zugleich leise mitsinge, und zwar so, daß ich mich ganz durch 
das Gehörte leiten lasse, so ist sie doppelt gegeben, einmal als 
Vorbild und einmal als Nachahmung. Wie es aber ein 
„inneres Sprechen" gibt, das auf bloß reproduzierten oder auf 
sinnlich wirklichen Bewegungen des Stimmapparates (oder auf 
beidem) beruht, so gibt es auch ein inneres Singen. Begleite ich 
nun die gehörte Melodie durch mein inneres Mitsingen, so habe 
ich sie „innerlich nachgeahmt". Eine solche innere Nachahmung 



^) BaJi man bei Knnstwerken von einem wirklichen oder yermeintlichen 
Nacherleben des vom schaffenden Künstler Erlebten reden kann, ist selbstver- 
ständlich. Dann hat aber das „Nach'' nicht die psychologische Bedeutung, 
Ton der hier die Rede ist. 



Ästhetik. 163 

ist aber nicht nur in dem angef&hrten Falle, sondern überall 
da möglich, wo nns Formen gegeben sind: wir können op- 
tische nnd akustische Gestalten innerlich nachformen.^) — Und 
nnn vertrete ich die Hypothese: wo wir so unabweisbar das 
Bedürfnis haben, bei der genußreichen Wahrnehmung ästhetischer 
Objekte von ieinem Mit oder Nach des Erlebens zu reden, da 
pflegt der „Eopiecharakter", den wir dem Zustande zuschreiben, 
in der inneren Nachahmung von Formen begründet zu sein, und 
soweit das zutrifft, hat jene Ausdrucksweise wissenschaftliche 
Berechtigung. Weil wir das Auf und Ab der Töne, durch eine 
reproduktive und oft auch sensorische Aktivität, die sich in 
unserem Gesamtbewußtsein geltend macht, nacherzeugen, erhält 
die eingefühlte Sehnsucht den Charakter des Miterlebens: das 
Nach oder Mit ist die Färbung, die dem ganzen ästhetischen 
Zustand durch die innere Nachahmung der Form zuteil wird. 
Ich will nun versuchen, diese Theorie der inneren Nach- 
ahmung in kurzen Sätzen übersichtlich zu formulieren. 

1. Das Verständnis für Psychisches und damit auch die 
Einfahlung des Psychischen wird beim Kinde hauptsächlich durch 
äußere Nachahmungshandlungen herbeigeführt 

2. Die meisten äußeren Nachahmungen sind kein un- 
mittelbares Mitmachen, sondern stellen sich beträchtlich 
später ein, wenn das Vorbild nicht mehr vorhanden ist. Zu 
ihrer vollständigen Erklärung bedarf es der Annahme, daß 
schon beim Wahrnehmen des Objektes leise imitatorische 
Einstellungen, die den Charakter eines inneren Nachahmens 
oder Mitmachens besitzen, vorausgegangen sind.^) 

3. Dieses innere Nachahmen kann eine selbständigere 
Bedeutung für das Seelenleben gewinnen, sobald Analogien 
der psychischen Zustände, die früher mit der äußeren Handlung 
verbunden waren, den Gesetzen der Gewohnheit entsprechend 
zu der andeutenden imitatorischen Einstellung hinzutreten. 



*) Wenn Külpe daranf hinweist, daß dieses innere Nachahmen bei ver- 
schlnngenen, komplizierten Ornamenten zn schwerfiOlig sei, nm den Qenoß zu 
erklären, so antworte ich mit der Frage, ob wir uns von solchen Ornamenten 
„hingerissen'' fühlen? 

*) Vgl. hierzn mein Bach über den ästhetischen Genoß 202 f., 60 f., 193 f. — 
Ein frappanter Fall, der diese Erklärung anch andern nahegelegt hat, findet 
sich in dem Anisatz von C. Stumpf über die „eigenartige sprachliche Ent- 
wicklung eines Kindes*". Ztsch. f. pädag. Psychol. in, 4401, 478. 

n* 



164 Ästhetik. 

4. Dieses Hinzukommen kann nach denselben Gesetzen auch 
dann erfolgen, wenn das ursprünglich sensorische innere 
Nachahmen durch ein ausschließlich oder zum Teil reproduk- 
tives ersetzt wird. 

5. Es wird sich nach denselben (besetzen auch da ein- 
stellen können, wo andere als die ursprünglich der Imitation 
dienenden Bewegungsvorgänge von ähnlicher „Gestaltqualität^ 
vikarierend eintreten. So kann der besonders gut geübte und 
äußerst bewegliche Sprachapparat „innerlich nachahmend" eine 
Bewegung des ganzen Organismus (z. B. Aufsteigen, Hinab- 
gleiten) ersetzen, und psychische Inhalte an sich ziehen, die 
ursprünglich jener durch ihn ersetzten Bewegung zukommen.^) 

6. Wenn beim Wahrnehmen der Form die altgewohnte 
Tendenz zur inneren Nachahmung so verwirklicht wird, daß die 
sensorischen oder reproduzierten Einstellungen zu schwach und 
zu wenig lokalisiert sind, um uns von der Konzentration 
auf das Objekt abzuziehen, und doch zu stark, um ohne Wirkung 
auf den Gesamtzustand des Bewußtseins zu bleiben, so nimmt 
die Einfühlung den Charakter des Miterlebens an: wir schauen 
das Psychische nicht nur im Objekt, sondern es ist uns, in der 
nachträglichen Reflektion, als habe während des Genießens unser 
eigenes Ich mitlebend darin gesteckt. Die Selbstvergessen- 
heit des Schauens wird zur aktiveren Selbstversetzung, 
ein Unterschied, der auch bei anderen Ekstasen von Bedeutung 
ist — Ein Schritt mehr, und der Zauber ist zerstört, die deut- 
lichere Lokalisierung der Einstellungen läßt das Bewußt- 
sein des eigenen leiblichen Zustandes hervortreten, an Stelle 
der Selbstversetzung tritt die Selbstbesinnung. Hier kann man 
in gänzlich verändertem Sinne sagen: die Träne quillt — die 
Erde hat mich wieder. 

7. Das selbstvergessene „Schauen" des Psychischen ist in 
seiner Entstehung hauptsächlich vom äußeren und inneren Nach- 
ahmen abhängig.^) Auch hier machen es aber die Gesetze der 

') Man sehe doch einmal ganz davon ab, ob derartiges unentbehrlich ist 
oder eine Hauptursache der Lust bildet; die einfache Erwägung, was man 
alles durch den von der Sprechmuskulatur geleiteten Atem „ausdrücken" kann, 
ist Ton höchstem Interesse für die Psychologie des ästhetischen Verhaltens. 

^ Ich sage nur „hauptsächlich", weil Gefühle mit Farben und Tönen durch 
angeborene Einrichtungen yerbunden sein können und weil neben der Nach- 
ahmung auch die gemeinsame, ähnliche, aber nicht aus Imitation entspringende 
Beaküon auf einen gegebenen Reiz in Betracht kommen kann. 



Ästhetik. 165 

Gewohnheit verständlich^ daß z. B. das energische Emporstreben 
einer menschlichen Gestalt, das ursprünglich infolge der inneren 
Nachahmung zu dem sinnlich Gebotenen hinzugekommen war, 
auch ohne diesen aktiveren Zustand dem Objekte einzuwohnen 
vermag. Infolgedessen kann es eine Einf&hlung geben, die nicht 
als innere Nachahmung bezeichnet werden darf. 

8. Die Grenzen der inneren Nachahmung sind durch den 
Begriff der Form bestimmt. Wo das ästhetische Objekt durch 
Formen zu uns redet — wenn aber die Form fehlt, so „reden" 
die Objekte nicht viel — da ist die Möglichkeit gegeben, daß 
die Einfühlung durch die sensorische oder reproduktive Nach- 
erzeugung dieser Formen den Charakter des Mit- oder Nach- 
erlebens annimmt^) 

9. Das auf der inneren Nachahmung der Form beruhende 
Miterleben ist weder ein für alle ästhetischen Zustände wesent- 
liches Merkmal noch die einzige Quelle ästhetischen Vergnügens. 
Aber es ist eine besondere Form der „ästhetischen Ekstase" und 
daher eine der wichtigsten Erscheinungen der Psychologie des 
Ästhetischen überhaupt 

— Im Anschluß an diese Ausführungen berühre ich noch eine 
Beihe von Fragen, die mit dem Problem der Einfühlung mehr 
oder weniger eng zusammenhängen. 

Was eben über die Grenzen der inneren Nachahmung ge- 
sagt wurde, führt auf einen sehr interessanten Gegenstand, dessen 
Erforschung sich erst in den Anfangen befindet: den Genuß der 
„Lesepoesie". Die Fähigkeit, ein poetisches Kunstwerk durch 
den Anblick geschriebener oder gedruckter Worte zu genießen, 
steht meines Erachtens auf der Grenze zwischen ästhetischem 
Genuß und künstlerischer Reproduktion. Wenn wir ein von dem 
Poeten niedergeschriebenes Gedicht lesen, so ist das Wahmeh- 
mungsobjekt, das der Künstler geschaffen hat und uns zur Be- 
trachtung darbietet, im Gegensatz zu allen anderen Kunst- 
schöpfungen (außer der analogen „Lesemusik") auf Buchstaben- 
zeichen zusammengeschrumpft, die als solche jegliche ästhetische 
Bedeutung für den poetischen Genuß entbehren, d. h. ein ästhe- 



^) Es gibt Menschen, deren ästhetisches Verhalten so stark nach der 
aktiven Seite ausgebildet ist, daO sie auch da, wo für den gewöhnlicher Be- 
schauer von einer Form kaum gesprochen werden kann, in der gewohnten 
Weise zu reagieren suchen. Dahin gehört das „Einatmen^* einer einzelnen 
Farbe. 



166 ÄBthetik. 

tisch es Wahrnehmungsobjekt ist (da die Schönheit der Schrift 
oder des Dmckes hier nicht mitspricht) überhaupt nicht vor- 
handen. Es wird (soweit die ästhetische Bedeutung des Wahr- 
nehmungsobjektes in der Poesie überhaupt in Betracht kommt) *), 
ersetzt durch die Erzeugung der den Wortzeichen entsprechen- 
den Klangbilder in unserer Reproduktion, die, wie ich in 
dem ^^ästhetischen Genuß" zeigte, von solcher Lebhaftigkeit sein 
können, daß sie gleich sinnlichen Gehörseindrücken im „primären 
Gedächtnis'^ nachklingen. — Hier könnte nun von einer „inneren 
Nachahmung" nur noch in dem Sinne geredet werden, in dem 
man die Handlung eines Kindes, das aus irgend einem Anlaß 
früher nachgeahmte Bewegungen der Erwachsenen wiederholt, 
eine äußere Nachahmung nennt, oder in dem man von einer durch 
die Lektüre veranlaßten „imitatio Christi" spricht: das Vorbild 
ist durch Bedeutungszeichen vertreten. Jedenfalls beginnt aber 
hier nicht nur der Begriff der inneren Nachahmung zu versagen; 
denn der der Einfühlung in das Wahrnehmungsobjekt ist, 
soviel ich sehe, in demselben Falle überhaupt nicht mehr ver- 
wendbar, und von einem „Miterleben" kann man nur in dem 
uneigentlichen Sinne sprechen, daß man das von dem Dichter beim 
Schreiben Erlebte am Leitfaden der Buchstabenfolge in sich 
selbst aufs neue erzeugt Der Leset steht dem reprodu- 
zierenden Künstler nahe. Wenn der erfolgreiche Vorleser 
poetischer Werke ein Künstler genannt werden kann, so ist 
auch die „innere Deklamation" des genießenden Lesers eine 
Art Virtuosenleistung. Diese Erwägung wirft Licht auf die 
innere Verwandtschaft, die auch zwischen dem sonstigen ästheti- 
schen Genießen und dem künstleiischen Schaffen zweifellos 
besteht. 

Mit der ästhetischen Einfühlung steht femer das vielum- 
strittene Problem der ästhetischen Illusion in naher Be- 
ziehung, obwohl die beiden Begriffe keineswegs äquipoUent sind. 
Am bekanntesten ist in der neueren Literatur die lUusionslehre 
Konrad Langes, dessen Auffassung des Vorganges jedoch 
vielfach auf Widerspruch gestoßen ist. Auch hier ist die 
Kritik meistens in den gewöhnlichen Fehler verfallen, rein negie- 
rend zu bleiben, anstatt nach dem positiv Wertvollen in dem 
Objekt ihrer Beurteilung zu fragen. Das Richtige an Langes 



') Ygl Th. A. Meyer, „Das StUgesetz der Poesie", 1901. 



Ästhetik. 167 

Theorie liegt, wie mir scheint, darin, daß er in Übereinstimmung 
mit älteren Ästhetikern den Unterschied zwischen der Illusion 
im gewöhnlichen Sinne (wirkliches Getäuschtwerden, objektiv 
unrichtige Apperzeption) und der „ästhetischen^ Illusion klar 
erkannt und durch den Ausdruck „bewußte Selbsttäuschung*' 
hervorgehoben hat: von jenem Getäuschtwerden unterscheidet 
sich der Zustand der bewußten Selbsttäuschung dadurch, daß 
sich außer der unrichtigen Apperzeption auch die 
richtige Auffassung im Bewußtsein geltend macht. 
Nur in der Frage, wie das Gegeneinanderwirken der beiden 
Auffassungen psychologisch zu beschreiben ist, scheint mir Langes 
Theorie des Pendeins oder Oszillierens nicht zu genügen. Meine 
eigene Ansicht gibt, wie ich glaube, durch Anknüpfung an die 
Lehre des Psychiaters 0. Groß von der „Sekundärfunktion" die 
Wirklichkeit genauer wieder. Da ich sie erst in dem „Seelen- 
leben des Kindes" (1904, S. 162 f.) mit genügender Klarheit formu- 
liert habe, gestatte ich mir, wenigstens die Hauptsätze hier zu 
wiederholen. 

Die Erklärung der für das Spiel und den ästhetischen Genuß 
so bedeutungsvollen Zwischenzustände, in denen wir, wie Dil- 
they einmal sagt, glauben und doch nicht glauben, ist hiemach 
in der Nachwirkung („Sekundärfunktion", „Perseveration") 
der vorausgegangenen objektiv richtigen Auffassung zu 
suchen. Diese Nachwirkung tritt den zur völligen Illusion 
drängenden Momenten hemmend entgegen, wie sich das 
z. B. bei einem körperlichen Kampfspiele zeigt, wo die ursprüng- 
liche Apperzeption der Sachlage derart in den Ringern fortwirkt, 
daß sie trotz alles Aufgehens in der Situation doch nicht die 
Grenzen zwischen Spiel und Ernst überschreiten. Und wie diese 
Nachwirkung bei den Kämpfenden eine doppelte sein kann: 
einmal eine rein physiologisch zu fassende dauernde Hem- 
mung von äußeren Reaktionen, die sich ohne sie zum ernstlichen 
Zerstörungsversuch auswachsen würden, andererseits ein in der- 
selben Richtung wirkendes momentanes Aufblitzen des Spiel- 
bewußtseins (das sich ja manchmal in dem kurzen, stoßweise 
hervortretenden Auflachen der Ringenden verrät) — so verhält 
es sich auch bei der ästhetischen Illusion. Die objektiv 
richtige Auffassung, mit der wir an den Gegenstand herantreten 
und die (das sei der Kritik gegenüber ausdrücklich hervorge- 
hoben) durchaus kein aktueller Urteilsvorgang zu sein braucht 



168 Ästhetik. 

liegt dabei auf dem Gnmde der Seele und „wirkt nach^. Wir 
liaben im Theater nicht genrteilt: „hier sitzen wir in einem 
Sessel, um einer bloß mimischen Darstellung zuzuschauen'', „dieses 
Gretchen ist in Wirklichkeit die Schauspielerin N." usw.; wohl 
aber ist die objektiv richtige Apperzeption in uns dagewesen, 
die die Voraussetzung far solche Urteile bilden würde. Wäh- 
rend wir nun unter dem Einfluß der illusionsfördemden Momente 
scheinbar völlig in der dargestellten Situation aufgehen, als ob 
gar nichts auf der Welt existierte als dieser Kerker und diese 
Unglückliche in ihrem herzzerreißenden Zustande, bleibt doch 
die Sekundärfunktion der richtigen Auffassung in Wirkung, und 
zwar in doppelter Hinsicht. Sie kann gänzlich unbewußt den 
vollen Ausbruch der Gefühle und der sich an sie anschließenden 
Eeaktionen zurückhalten, und sie kann außerdem (wie die „Aus- 
hilfesilben" bei Memorierversuchen) zeitweise flüchtig im Be- 
wußtsein aufsteigen und dadurch die Hemmungen noch 
verstärken. In beiden Fällen entsteht aber jener eigentümliche 
Zwischenzustand der ästhetischen Hlusion, der in Wahrheit 
als eine nur „aufkeimende", in der vollen Entfaltung „gehemmte" 
Illusion bezeichnet werden darf. 

Ein anderes Problem, das sich auf alle ästhetischen Emo- 
tionen, damit aber auch auf den Begriff der Einfühlung er- 
streckt, tritt in der gleichfalls viel verhandelten Frage hervor, 
inwiefern die Organempfindungen für den ästhetischen 
Zustand in Betracht kommen. Der Streit um die Bedeutung 
der Organempflndungen spielt seit dem Auftreten der James- 
Lang eschen Gefühlstheorie in der Ästhetik eine nicht unbe- 
trächtliche Rolle. Ich erwähne hier nur den Aufsatz von Ver- 
non Lee und Anstruther-Thomson über „Beauty and 
ugliness" (Contemporary Review 1897), die „Poetik" von 
H. Roetteken (1902) und die neuere Schrift des Begründers 
jener Gefühlstheorie: Karl Langes Abhandlung über „Sinnes- 
genüsse und Kunstgenuß" (herausg. von H. Kurella, 1903). Der 
schon von Lotze in eindringlichster Weise entwickelte Ge- 
danke, daß die psychischen Begleiterscheinungen der innerorgani- 
schen Vorgänge (der Zirkulation, der Atmung, der nach außen 
nicht merklich hervortretenden Innervationen in den Gliedmaßen, 
in der dem Ausdruck dienenden Gesichtsmuskulatur u. dgl) einen 
wichtigen Anteil an dem Gesamtcharakter unserer Gemütsbe- 
wegungen habe, ist von seinen neueren Vertretern zum Teil mit 



Ästhetik. 169 

unkritischer Einseitigkeit als ausschließlicher Erklärungsgrund 
yerteidigt, von manchen seiner Gegner als eine Absurdität ver- 
spottet worden. Ich gestehe, da£ mir auf Grund der Selbst- 
beobachtung jene Übertreibung fast eher begreiflich erscheinen 
will, als die yöllige Verwerfung. Zum mindesten wird man, wie 
ich glaube, das an der Theorie bestehen lassen müssen, was 
von einem ihrer schärfsten und scharfsinnigsten Kritiker, von 
Stumpf als berechtigt anerkannt wird. „Gilt es,^ so sagt er 
am Schluß seines Aufsatzes „Über den Begriff der Gemütsbewe- 
gung" (Zeitschr. t Psych, u. Physiol. der Sinnesorgane, Bd. XXT, 
S. 93 f.), „nicht bloß das Minimum wesentlicher Merkmale an- 
zugeben, die den Begriff des Affekts überhaupt und der ein- 
zelnen Affekte ausmachen, sondern eine einigermaßen ausgiebige 
Beschreibung des Gesamtzustandes zu liefern, welchem so 
inhaltsschwere Wörtchen wie Zorn, Gram, Liebe entsprechen: 
dann freilich werden die Organempfindungen mehr als bisher in 
den Vordergrund treten müssen. Romanschriftsteller sind uns 
hierin vorausgeeilt. Der Ton, die Farbe, die Temperatur des 
Affekts ist durch solche Empfindungen sicherlich mitbedingt" 
Wer möchte aber bestreiten, daß in der Ästhetik auf Ton, Farbe, 
Temperatur der Gemütsbewegungen sehr viel ankommt? 

Wie mir scheint, wird es sich empfehlen, bei der künftigen 
Behandlung dieser Streitfrage zwei Unterscheidungen nicht außer 
acht zu lassen. In erster Linie muß betont werden, daß die 
inneren Organempfindungen in vielen Fällen auch durch ihre 
Reproduktionen ersetzt sein können. Besonders die Unter- 
suchungen Volkelts haben in dieser Hinsicht aufklärend ge- 
wirkt. Wie stark (auch abgesehen von Traum und Halluzination) 
die bloßen Reproduktionen in anderen Sinnesgebieten zu wirken 
vermögen, das hat mir die schon erwähnte Beobachtung über- 
zeugend vor Augen gefuhrt, daß die rein reproduzierten Klang- 
bilder beim stillen Lesen noch längere Zeit im „primären Ge- 
dächtnis" mit einer Frische und Lebhaftigkeit nachzutönen 
pflegen, die man a priori sicherlich nur im Anschluß an sinn- 
liche Gehörsdaten erwarten würde. Es ist kein Grund vor- 
handen, eine ebenso kräftige Wirkung reproduzierter Organ- 
empfindungen zu bezweifeln. Daher ist es ganz gut denkbar, 
daß „der Ton, die Farbe, die Temperatur des Affekts" im ästhe- 
tischen Zustand durch solche Reproduktionen bedingt sein kann, 
ohne sich darum bis zur Unwirksamkeit zu verflüchtigen. 



170 ÄBthetik. 

Zweitens muß man bei der Würdigung der Organempfln- 
dungen zwischen ihrem speziellen Anteil an dem Geffihlscharakter 
und ihrer aUgemeinen Bedeutung für die ästhetischen Bewußt- 
seinszustände überhaupt unterscheiden. Schon die „Einfühlung'^ 
ist keineswegs, wie der Name vermuten lassen könnte, ein bloßes 
Leihen von Gefühlen; besonders das innere Miterleben enthält 
vieles, was ganz abgesehen von den Emotionen der Betrachtung 
wert ist Wir erleben beim Anhören jener Melodie nicht nur 
„Sehnsucht", sondern auch eine auf- und abwärts gehende Be- 
wegung, und wenn bei dem „Erleben" dieser Bewegung Organ- 
empfindungen eine Rolle spielen sollten, so ist das an und für 
sich von Bedeutung. Der Psychologe wird sich daher erstens 
fragen können, ob der lebendige Eindruck einer uns „mitreißenden" 
Tonfolge durch solche leibliche Resonanz in sensorischer oder 
reproduktiver Form zustande komme. Er wird davon die zweite 
Frage unterscheiden, ob die in jener Bewegung hervortretende 
„Sehnsucht" als gefühlswarmes ästhetisches Erlebnis ebenfalls 
mit solchen Faktoren zusammenhänge. Und wenn er dann auch 
das genußreiche Resultat, die Lust am Erlebnisinhalt ins 
Auge faßt, so wird er nicht, annehmen müssen, daß das Vergnügen 
den Organempflndungen als solchen entspringe; wohl aber wird 
er sich die dritte Frage stellen können, ob diese Lust, die ihn 
mit süßen Schauem überrieselt, als konkrete Gemütsbewegung 
nicht abermals eine „Färbung gebende" leibliche Resonanz 
aufweise. 

Auch der Begriff des Spieles ist für die Auffassung der 
ästhetischen Erscheinungen von Wichtigkeit. Man kann sowohl 
die künstlerische Produktion als auch das ästhetische Genießen 
mit dem Spiele vergleichen, und wir sind seit Kant und 
Schiller mit diesen Beziehungen vertraut. Ich habe in meinen 
Schriften die Verwandtschaft des Spiels mit dem ästhetischen 
Genuß besonders stark betont, ja diesen direkt als Spiel be- 
zeichnet. Wenn man eine um ihrer eigenen Inhalte willen (also 
nicht erst durch Beziehung auf andere Inhalte) genußreiche Tätig- 
keit als Spiel bezeichnet, so wird auch das ästhetische Anschauen 
diesem Begriff zu subsumieren sein. Eülpes „Eontemplations- 
wert" und Cohns „rein intensiver Wert" liegen in derselben 
Richtung. Der Einwand, daß man unter Spielen nur äußere 
Tätigkeiten verstehe, scheint mir sachlich nicht berechtigt, da 
man auch vom Spiele mit Phantasiebildern redet (man denke 



Ästhetik. 171 

an den Yersnch, ein Sätsel oder ein Schachproblem zu lösen). 
Will man aber dennoch den Spielbegriflf enger fassen, so würden 
eben Spiel und ästhetischer Gennß unter den umfassenderen 
Begriflf der „Inhaltsgenüsse" fallen, für den uns freilich die 
Sprache keinen schon gebräuchlichen Terminus zur Verfugung 
stellt. Das Wesentliche hängt natürlich am Gedanken, nicht 
am Worte. Wichtiger ist die Frage, wodurch sich das ästhetische 
Genießen von den übrigen Spielen (oder Inhaltsvergnügungen) 
unterscheidet. Einen beachtenswerten Versuch zur Lösung dieser 
Frage, der aber zunächst die früher geschilderte Auffassung des 
ästhetischen Verhaltens als eines Beschauens oder Betrachtens 
von Gefühlen voraussetzt, findet man in der Ästhetik Witaseks. 
Im Spiele, sagt er dort (S. 227 f.), seien die durch Illusion („An- 
nahme") erregten Gefühle gleich auch schon der Genuß am Spiel; 
in der Kunst dagegen seien diese Gefühle erst Gegenstand 
des Genießens, indem sie, ihrerseits vorgestellt, die Voraussetzung 
des ästhetischen Lustgefühls bilden. 

Der letzte Begriff, den ich im Zusammenhang mit dem 
Problem der Einfühlung noch erwähnen möchte, ist die „Ein- 
heit des Mannigfaltigen". Daß das Schöne auf eine 
Einheit des Mannigfaltigen (Einstimmigkeit, Harmonie des Ein- 
zelnen im Ganzen) zurückzuführen sei, ist eine der ältesten und 
beharrlichsten Überzeugungen der Ästhetik, und es ist inter- 
essant zu sehen, wie dieser Satz je nach dem wissenschaftlichen 
Standpunkt des Forschers in verschiedener Beleuchtung wieder- 
kehrt. Man kann eine metaphysische, eine physische, eine er- 
kenntnistheoretische und eine psychologische Formulierung des- 
selben Gedankens unterscheiden. Die metaphysische geht auf 
die — sei es nun mißverständlich oder berechtigterweise als 
transzendentes Sein aufgefaßte — platonische Idee zurück, deren 
formales Wesen in der Einheit des Mannigfaltigen besteht und 
mit der Schönheit zusammenfallt. Unter der physischen For- 
mulierung verstehe ich eine solche, die den in der Erfahrung 
gegebenen Grund des Schönen in der objektiven Übereinstimmung 
der Teile untereinander und mit dem Ganzen erkennt, ohne 
dabei auf die subjektive Seite dieser Beziehung zu reflektieren. 
Die erkenntnistheoretische Bestimmung setzt an Stelle der empi- 
risch- oder metaphysisch-objektiven Einheit die Gesetzmäßigkeit 
oder Einstimmigkeit des Bewußtseins, die im Wirklichen 
sich nicht vollendet, im Sittlichen als Seinsollendes nur gefordert 



172 Ästhetik. 

wird, aber im schönen Scheine so zur Darstellung gelangt, als 
ob das Seinsollende Wirklichkeit wäre. Die psychologische end- 
lich gründet sich auf die tatsächlich vorhandene Tendenz des 
Bewußtseins, das Mannigfaltige — besonders im Zustand der 
Aufmerksamkeit — zu einer Einheit zusammenzufassen. Diese 
„monarchische Einrichtung" oder „Verfassung", wie ich sie in 
meiner Einleitung in die Ästhetik nannte, wird auch durch die 
psychologischen Unterscheidungen von „Blickfeld und Blickpunkt", 
„Fokal- und Bandobjekt" des Bewußtseins zum Ausdruck ge- 
bracht. Nimmt man an, daß das Schöne in einer objektiven 
Darbietung begründet sei, deren Eigenart eben darin besteht, 
die monarchische Verfassung des Bewußtseins durch Über- und 
Unterordnung zu vollkommener Verwirklichung gelangen zu lassen, 
so hat man den alten Gedanken in der Sprache der Psychologie 
ausgedrückt Die beste Durchführung der „monarchischen Unter- 
ordnung" findet sich wohl in der Ästhetik von Lipps. 

Diese psychologische Fassung hat aber den Vorteil, das 
Prinzip der Einstimmigkeit in direkte Verbindung mit dem 
Prinzip der Einfühlung zu bringen. Denn wenn eine monarchische 
Verfassung den innersten Tendenzen des Bewußtseins entspricht 
so wird die Einfühlung der eigenen Persönlichkeit in das Objekt 
da am vollkommensten und reinsten sein, wo sich der Gegenstand 
als Einheit des Mannigfaltigen darstellt Dieser Konnex, der 
z. B. in den Ausführungen Siebecks („Harmonie ist die nach 
außen gewendete Beseelung", a. a. 0. 140) besonders deutlich 
hervortritt, ist eine der tiefsten Gedankenbeziehungen innerhalb 
der Ästhetik. 



Literatur. 



Das Verzeichnis beschränkt sich im wesentlichen auf die im Text 
angeführten Schriften. 



Allen, Grant, Physiological aesthetics. 1881. 

Alt, Th., System der Künste. Berlin 1888. 

Cohen, H., Kants Begründung der Ästhetik. Berlin 1889. 

Gohn, J.) Allgemeine Ästhetik. Leipidg 1901. 



Ästhetik. 173 

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Dessoir, M., Beiträge zur Ästhetik. Arch. f. System. Philos. 1889 f. 
Dilthey, Dichterische Einhildungskraft und Wahnsinn. Leipzig 1886. 
Eisler, B,., Stadien zur Werttheorie. Leipzig 1902. 
Fechner, Th., Vorschule der Ästhetik. 2. Anfl. 1897. 
Gross, 0., Die zerebrale Seknndärfnnktion. Leipzig 1902. 
Grosse, E., Die Anfänge der Ennst. Freibnrg und Leipzig 1894. 
Gnmmere, F. B., The beginnings of poetry. New York 1901. 
Hartmann, E. v., Ästhetik. Leipzig 1886, 1887. 
Hirn, T., The origins of art. London 1900. Deutsch 1904. 
Jouffroy, Cours d'esth^tique. Paris 1845. 
Kant, Kritik der Urteilskraft 
Eülpe, 0., Über den assoziativen Faktor des ästhetischen Eindrucks. Viertel- 

jahrsschr. f. wiss. Philos. 1899. 

— Einleitung in die Philosophie. 3. Aufl. Leipzig 1903. 

— Bespr. Ton Groos, der ästhetische Genuß. Götting. Gel. Anz. 1902. 

— The coneeption and Classification of art. Üniversity of Toronto Studios YLL 

— Ein Beitrag zur experimentellen Ästhetik. Commemorative number of the 

American Jonm. of Psyochol. 1903. 
Lange, Karl, Sinnesgenttsse und Kunstgenuß. Wiesbaden 1903. 
Lange, Konr., Das Wesen der Kunst Berlin 1901. 

— Über die Methode der Kunstphilosophie. Ztschr. f. Psych, u. Phys. d. 

Sinnesorg. 1904. 
Lipps, Th., Grundlegung der Ästhetik. Hamburg u. Leipzig 1903. 

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— Ästhetische Einfühlung. Ztschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. XXn. 
Lombroso, C, Der geniale Mensch. Hamburg 1890. 

Lotze H., Mikrokosmus, n. Leipzig 1858. 

Marshall, Eutgers, Aesthetic prindples. 1895. 

Meumann, E., Untersuchungen zur Psychologie und Ästhetik des Bbythmus. 

Philos. Studien. 1894. 
Meyer, Th. A., Das Stilgesetz der Poesie. Leipzig 1901. 
Natorp, P., Sozialpädagogik. 2. Aufl. StnUgart 1904. 
Bibot, Th., Die Schöpferkraft der Phantasie. Deutsch. Bonn 1902. 
Boetteken, H., Poetik. L München 1902. 
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Sieb eck, H., Das Wesen der ästhetischen Anschauung. Berlin 1875. 
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Taine, H., Philosophie der Kunst Leipzig 1902, 1903. 
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Beview 1897. 



174 ÄBthetik, 

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Leipzig: 1846—1857. 

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Vis eher, B., Über das optische FormgefUhl. Leipzig 1873. 
Yolkelt, J., Der Symbolbegriff in der neuesten Ästhetik. Jena 1876. 

— Ästhetische Zeitfragen. München 1895. 

— Ästhetik des Tragischen. München 1897. 

— System der Ästhetik. I. München 1905. 

Witasek, St., Zur psychologischen Analyse der ftsthetischen Einfühlnng. 
Ztschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. XXV. 

— Wert und Schönheit. Arch. f. syst. Ph. 1902. 

— Gmndzüge der allgemeinen Ästhetik. Leipzig 1904. 
Zens, Gedanken über Kunst und Dasein. Stuttgart 1904. 



Gesehiehte der Philosophie. 



Von 
Wilhelm Windelband. 



Es ist außer Frage, daß die Geschichte der Philosophie in 
der wissenschaftlichen Arbeit des neunzehnten Jahrhunderts eine 
Ausdehnung und eine Bedeutung gewonnen hat wie zu keiner 
Zeit vorher: und man begegnet vielfach der Ansicht, diese 
Emsigkeit des historischen Interesses stehe in wesentlichem Zu- 
sammenhange mit dem Mangel an schöpferischer Kraft und Lust, 
der nach der überreichen Entladung des metaphysischen Triebes 
als ein natfirlicher Rfickschlag eingetreten war, — es sei ein 
Zeichen der Erschöpfung und der Sammlung, wie nach einer 
verlorenen Schlacht Diese Auffassung trifft auch wirklich in 
gewissem Sinne die Verhältnisse der Philosophie im Anfang der 
zweiten Hälfte des Jahrhunderts, wo ein großer Gelehrter das 
Wort geprägt haben soll: „es gibt gar keine Philosophie, es 
gibt nur eine Geschichte der Philosophie". 

Allein es würde ein großer Irrtum sein, wenn man meinen 
wollte, darin liege der Ursprung und der entscheidende Grund 
für die lebhafte Beschäftigung der Philosophie mit ihrer eignen 
Geschichte. Diese reicht vielmehr bis in die große schöpferische 
Zeit der deutschen Philosophie zurück und entspringt in ihr aus 
den innersten Motiven der idealistischen Bewegung selbst. Sie 
ist eine notwendige Erscheinung der historischen Weltanschauung, 
zu der jene Entwicklung geführt hat. Es war das prinzipielle 
Ideal der Romantik, die neue „Bildung^, die sie suchte, aus einem 



176 Geschichte der Philosophie. 

bewußten Verständnis aller gi'oßen Errungenschaften der Ver- 
gangenheit herauszuarbeiten. Aus diesem gemeinsamen Motiv 
sind die Anfänge einer Literaturgeschichte großen Stils und die 
Gedanken der historischen Schule der Jurisprudenz ebenso her- 
vorgegangen wie die Begründung einer wissenschaftlichen Ge- 
schichte der Philosophie. Für einen Mann freilich von der un- 
fruchtbaren Paradoxie Friedrich Schlegels mochte es bei dem 
„Dichten über das Dichten^ und bei dem „Philosophieren über das 
Philosophieren" bleiben: aber schon Schleiermacher griflf das 
große Werk der Piatonübersetzung kräftig an und dehnte in 
der Folge seine eindringenden Untersuchungen auf den ganzen 
Umfang der antiken Philosophie aus. Mit ihm begann die gleich- 
zeitig aus dem Geiste des Neuhumanismus neugeborene Philologie 
sich einem kritischen Studium auch der griechischen Philosophen 
zuzuwenden, und die feinsinnigen Arbeiten Böckhs leiteten die 
Reihe der glänzenden Forschungen ein, die seitdem diesem 
Teil der Geschichte der Philosophie so reichlich zu statten ge- 
kommen sind. 

Viel tiefer aber und energischer gestaltete sich das Ver- 
hältnis zwischen dem System und der Geschichte der Philosophie 
durch Hegels Lehre: hier nahm es die Form einer begrifflich 
notwendigen Beziehung an. Schon in der Phänomenologie hatte 
Hegel die Selbstverständigung der Vernunft nach zwei Richtungen 
entrollt, indem er einerseits den dialektischen Fortschritt des 
sich selbst von Stufe zu Stufe tiefer und konkreter verstehenden 
Bewußtseins, andererseits die reiche Fülle der Gestalten verfolgte, 
in deren Reihe es sich, wie an allen Formen des lebendigen 
Eulturgeistes, so auch an den historischen Gebilden des wissen- 
schaftlichen Begreifens entfalte : und beide Linien hatte er kunst- 
voll ineinander spielen lassen, — mit jener geheimnistuerischen 
Virtuosität des Polyhistoren, die diesem ebenso bizarren wie ge- 
nialen Erstlingswerke seinen unvergleichlichen Charakter auf- 
drückt. In dem ausgereiften und didaktisch gegliederten System 
treten die beiden Linien scharf und deutlich auseinander, um 
ihren Parallelismus desto eindrucksvoller erkenntlich zu machen: 
die dialektische Entwicklung des Systems der Kategorien in der 
Logik soll dieselbe sein, wie die historische Entwicklung der 
Prinzipien in der Geschichte der Philosophie. 

Damit war — was zu allen Zeiten und von allen Seiten 
anerkannt werden muß und auch wohl anerkannt wird — zum 



Geschichte der Philosophie. 177 

erstenmal prinzipiell die Geschichte der Philosophie selbst za 
einer Wissenschaft erhoben; an die Stelle der geistlosen Kuriosi- 
tätensammlung, in der man bisher die verwunderlichen Meinungen 
gelehrter Herrn nacherzählt hatte, war die Aufgabe getreten, 
sie in ihrem inneren Zusammenhange als eine notwendige Reihen- 
folge und als ein sinnvolles Ganzes zu verstehen. Das bleibt 
Hegels Verdienst auf alle Fälle. Aber vielen schien es sogleich, 
und den weitaus meisten scheint es noch heut, als habe er in 
seiner Ausfuhrung dieses Gedankens weit über das Ziel hinaus- 
geschossen, indem er die Sache dahin wendete, daß die Geschichte 
der Philosophie nun auch gleich selber eine philosophische 
Wissenschaft sein sollte. Das war in der Tat seine Meinung. 
In dem großartig entworfenen Zusammenhange der philosophi- 
schen Disziplinen bildete ihm die Geschichte der Philosophie 
das letzte, abschließende Glied: und indem sie mit der Logik, 
als dem Anfangsgliede, zu durchgängiger Korrespondenz über- 
einstimmte, rundete sich gerade dadurch das ganze System zu 
geschlossener Totalität ab. 

Das Bedenkliche und Gefahrliche solcher Konstruktion liegt 
auf der Hand. Von jeher hat man sich die billige Freude nicht 
entgehen lassen, zu zeigen, daß Hegel, um den Parallelismus von 
dialektischer und historischer Entwicklung der Kategorien auf- 
recht zu erhalten, in der Geschichte der Philosophie gelegentlich 
recht willkürlich mit den chronologischen Verhältnissen umge- 
sprungen ist: und man hätte umgekehrt — was freilich nicht 
ganz so bequem war — zeigen können, wie oft er in der Logik 
dem historisch unverrückbar gegebenen Fortgang und Übergang 
eine dialektische Notwendigkeit künstlich unterzuschieben be- 
müht gewesen ist. Darüber kann also kein Zweifel sein, daß in 
diesem schematischen Sinne eines Parallelismus von systemati- 
scher und chronologischer Reihenfolge der Kategorien nicht die 
Rede davon sein daif, die Geschichte der Philosophie selbst als 
eine philosophische Wissenschaft zu behandeln. 

Aber damit ist nun keineswegs gesagt, daß die Geschichte 
der Philosophie nur als eine lediglich historische Disziplin zu 
betrachten und aus dem systematischen Zusammenhange der 
Philosophie selbst auszuschließen sei. Die Korrekturen freilich, 
welche Hegels konstruktivei* Entwurf durch die bedeutenden 
Schüler, die er gerade auf diesem Gebiet — mehr als auf 
irgend einem anderen — gehabt hat, durch Männer wie Zeller, 

Windelband. Die Philosophie im Beginn des 20. Jahrh. U. Bd. 12 



178 Geschichte der Philosophie. 

Job. Ed. Erdmann nnd Enno Fischer erfahren hat, diese Kor- 
rektoren bewegen sich alle in der Eichtang, daß sie der ge- 
nauen, mit allen Mitteln der Kritik eindringenden Feststellnng 
der historischen Tatsächlichkeit ihr volles Recht in erster Linie 
nnverkfimmert zukommen lassen. Aber auch in solcher, dem 
historischen Empirismus völlig Bechnung tragenden Gestalt 
läßt die philosophiegeschichtliche Forschung deutlich erkennen, 
daß ihr letzter Zweck niemals ein nur historisches Wissen, 
sondern immer zugleich ein Verständnis ist, das sich in den 
Dienst der Philosophie selbst stellt. Eine prinzipielle Unter- 
suchung über dies Verhältnis ist deshalb unerläßlich, wenn man 
sich über die gegenwärtige Lage und Aufgabe dieser Disziplin 
verständigen wilL 

Es ist von vornherein klar und nicht weiter zu diskutieren, 
daß man Geschichte der Philosophie treiben und erfolgreich 
treiben kann, ohne dabei einen anderen wissenschaftlichen Zweck 
im Auge zu haben, als den rein historischen: festzustellen, „wie 
es eigentlich gewesen ist'', d. L in diesem Falle, was die Philo- 
sophen gelehrt haben, wie sie dazu gekommen sind, welche 
Stellung ihre Gedanken in dem geistigen Gesamtzustande ihrer 
zeitlichen Umgebung einnehmen. Für jede Spezialforschung 
werden sogar die Aussichten des Erfolgs um so günstiger stehen, 
je mehr sie sich auf diesen Boden der tatsächlichen Untersuchung 
beschränkt. Die Möglichkeit also und unter Umständen die Er- 
forderlichkeit, philosophiegeschichtliche Forschungen als rein 
historische Arbeit anzusprechen, steht völlig außer Frage: sie 
gilt ebenso wie für die Geschichte jeder besonderen Wissenschaft 

Allein daneben finden wir nun doch ein weit verbreitetes, 
wenn auch seines Rechtsgrundes nicht immer deutlich bewußtes 
Gefühl davon, daß die Philosophie ein weit intimeres Verhältnis 
zu ihrer eigenen Geschichte hat, als irgend eine andere Wissen- 
schaft zu ihrer Geschichte. Schon ein Blick auf den Lehrbetrieb 
der Universitäten zeigt, daß bei keiner Wissenschaft ihre Ge- 
schichte eine so große Rolle spielt wie bei der Philosophie. 
Wir können uns sehr gut denken, daß jemand Mathematik, 
Physik oder Chemie mit höchster Leistung studiere, ohne sich 
am die historische Vorgeschichte seiner Disziplin auch nur im 
geringsten zu kümmern; der Mangel einer Bekanntschaft damit 
wird nicht als etwas Bedenkliches empfunden. Auch in den 
historischen Disziplinen selber, z. B. in den philologischen, wird 



Geschichte der Philosophie. 179 

die Beschäfügung mit ihrer Geschichte als ein wohl interessantes 
und lehrreiches, aber schließlich doch entbehrliches Nebenwerk 
angesehen. Für das Studium der Philosophie dagegen gilt all- 
gemein die Vertrautheit mit ihrer Geschichte als etwas völlig 
unerläßliches, als ein integrierender Bestandteil der Sache 
selbst 

Worauf beruht diese Verschiedenheit? Handelt es sich dabei 
um Intensitätsunterschiede in der Bedeutung des historischen 
Moments für das theoretische Studium — oder handelt es sich 
um eine prinzipielle Differenz? Bedeutsam genug ist ja das 
historische Wissen schUeßlich für jede Art wissenschaftlicher 
Arbeit. Es ist überall anregend und lehrreicL Das Nacherleben 
der Gedankengänge, die zu den großen Entdeckungen, den 
grundlegenden Einsichten gefuhrt haben, wird stets eine wirk- 
same Art der Schulung für jedes wissenschaftliche Denken sein. 
Nicht umsonst pflanzt die Geschichte neben den Irrtümern, von 
denen sie zu erzählen hat, ihre Warnungstafeln auf: „Dies ist 
ein Holzweg." Und wenn so der Durchschnittsarbeiter durch 
das historische Verständnis positiv und negativ in den gemein- 
samen Gang seiner Wissenschaft sich einzuleben lernt, so springt 
aus den großen, typischen Leistungen der Vergangenheit wohl 
der zündende Funke in den Sinn des neuen Genius über, dessen 
schlummernde Kraft er zur Entladung und mächtigen Wirk- 
samkeit bringt. 

Das alles gut nun für die Philosophie nicht anders als für 
jede andere Disziplin. Auch von ihrer Geschichte haben wir 
an Irrtümern ebensoviel — ja, vielleicht mehr — zu lernen als 
an positiven Errungenschaften: und unzweifelhaft ist es die 
Versenkung in die Gedankenwelt der großen philosophischen 
Genien, aus der oft dem kongenialen Nachkommen die Be- 
rufung zu seiner eigenen Arbeit und die Richtung seines Nach- 
denkens erwächst. Das letztere Moment ist bei der Philosophie 
um so bedeutsamer, je näher sie dem künstkrischen Schaffen 
steht. Wenn man in ihr wesentlich den Versuch einer Harmoni- 
sierung der Ideen sieht, die Tendenz, das zerstreute Wissen zu 
einer letzten Einheit der Anschauung zusammenzufassen und 
damit auch zu einer überzeugungsstarken Einheit des Lebens 
vorzudringen, — gerade dann tritt die vorbildliche Bedeutung 
der großen Persönlichkeiten hervor: denn dies ästhetische Mo-* 
ment ist das persönliche. Rud. Euckens schönes Buch über die 

12» 



180 Geschichte der Philosophie 

Lebensanschaaungen der großen Denker gibt diesem Verhältnis 
den glücklichsten und nachhaltigsten Aasdmck. 

Wie Fichte gesagt hat daß, was für eine Philosophie man 
wähle, davon abhängt, was für ein Mensch man sei, so gilt es 
psychogenetisch jedenfalls, daß die Vorliebe, womit der Einzelne 
an dem einen oder dem andern Philosophen der Vergangenheit 
hängt, vielfach durch die Sympathie für die Eigenart bedingt 
ist, mit der das Bild von Welt und Leben von der Persönlich- 
keit seines „Lieblingsphilosophen" zurückgeworfen wird. Daher 
hat die Geschichte der Philosophie vor der anderer Wissen- 
schaften in der Tat dies voraus, daß in ihr mehr als sonst der 
Zauber großer vorbildlicher Individualitäten zur Geltung kommt. 
Das lehrt in erster Linie die Erfahrung des akademischen Vor- 
trages der Geschichte der Philosophie, und der Mann, dem diese 
Blätter gewidmet sind, ist mit seinem Wort und seinem Werk 
ein leuchtendes Zeugnis dafür. Keiner hat es mit so voll- 
endeter Meisterschaft wie Enno Fischer verstanden, die Persön- 
lichkeiten der großen Philosophen aus ihrer Entwicklung heraus 
vor dem geistigen Auge seiner Zuhörer und Leser lebendig zu 
machen und die Zusammenhänge aufzudecken, die zwischen ihrer 
Individualität und ihrer Lehre obwalten. 

Aber auch darin handelt es sich schließlich nur um einen 
graduellen Unterschied, und den übrigen Wissenschaften fehlt 
es nicht an einer analogen Bedeutsamkeit, die ihre Geschichte 
und deren hervorragende Träger für ihre Jünger besitzen. Auch 
der Naturforscher kann sich an einem Newton oder Helmholtz, 
auch der Historiker an einem Ranke oder Mommsen als vorbild- 
lichen Persönlichkeiten begeistern und aus bewundernder Sym- 
pathie sich zu eigener Forschungsweise und Auffassungsart er- 
ziehen. Die intuitive Energie der Genialität spielt eben in jeder 
Wissenschaft ihre Rolle, und ihre Erregung durch das geschicht- 
liche Vorbild hat überall ihren Wert, wenn auch der ästhetische 
Einschlag, fttr den sie erforderlich ist, in der Philosophie un- 
gleich bedeutsamer mitwirkt, als in anderen Disziplinen. 

Alles dies nun, was in bezug auf ihre Geschichte der Philo- 
sophie mit den übrigen Wissenschaften gemeinsam und z. T. nur 
in höherem Maße eigen ist, betrifft wesentlich die Frage, wie 
der Einzelne Philosophie treibt oder treiben soll, wie er dabei 
aus der Vergangenheit zu lernen, die Probleme aufzunehmen 
und mit den Wegen zu ihrer Lösung sich vertraut zu machen 



Geschichte der Philosophie. 181 

hat. Das ist alles prinzipiell gerade so, wie bei den übrigen 
Disziplinen, nnd in diesen Hinsichten kann man höchstens sagen, 
daß es erfahmngsgemäB für den Philosophen in stärkerem Maße 
als für den Mann anderer Wissenschaften förderlich und er- 
forderlich ist, in der Geschichte seiner Disziplin heimisch zn 
sein. Das Beispiel großer Denker wie Descartes nnd Kant zeigt 
freilich, daß eine intime nnd ausgebreitet gelehrte Kenntnis des 
Historischen auch in der Philosophie nicht unerläßlich ist: aber 
für den durchschnittlichen Fortgang triflft jenes Verhältnis 
zweifellos bei der Philosophie in besonderem Maße zu. 

Ganz anders steht es dagegen mit der Frage, ob ihre eigene 
Geschichte ein integrierender Bestandteil des Systems der Philo- 
sophie selbst sei. Von keiner anderen Wissenschaft kann man 
ein derartiges Verhältnis behaupten oder hat man es je be- 
hauptet, und auch auf die Philosophie ist es nicht anwendbar, 
solange man in ihr nichts weiter sieht, als die landläufige Welt- 
anschauungswissenschaft. Ist sie wirklich dazu berufen, die sog. 
allgemeinen Ergebnisse des übrigen Wissens zu einer einheit- 
lichen Gesamtvorstellung von Welt und Leben zusammenzu- 
arbeiten, so ist in der Tat nicht abzusehen, weshalb sie zu ihrer 
Geschichte in einem anderen Verhältnis stehen sollte, als jede 
der besonderen Disziplinen, aus denen sie ihre Weisheit zu- 
sammenliest. Dann kann sie schließlich, nötigenfalls auch be- 
trieben werden, ohne daß man sich um ihre Vorgeschichte son- 
derlich kümmert; — dann kann sogar die Beschäftigung mit all 
den Irrgängen, in die sie im Laufe der Jahrtausende verfallen 
ist, als ein unnützer Ballast beiseite geworfen werden: dann 
heißt es, frisch aus der Gegenwart heraus philosophieren und 
das Recht, das der Lebende hat, gegen die Schatten der Ver- 
gangenheit hochhalten. Es fehlt der heutigen Zeit nicht an 
Stimmen und Stimmungen, die so die Last der Tradition abzu- 
werfen bereit sind. 

Dasselbe gilt, und zwar in verstärktem Maße, wenn man 
die Aufgabe der Philosophie in einer Metaphysik sieht, die un- 
abhängig von dem besonderen Wissen der empirischen Wirklich- 
keit aus irgend welchen Quellen eigener Erkenntnis die letzten 
Prinzipien alles Seins und Werdens erfassen soll. Dieser dog- 
matische Standpunkt ist der absolut ungeschichtliche. Er sieht 
in der historischen Phänomenologie des philosophischen Bewußt- 
seins im besten Falle die Reihenfolge der Versuche, sich der 



182 Geschichte der Philosophie. 

Einsicht zu nähern, die er besitzt Ein solcher Dogmatiker 
verhält sich znr Geschichte der Philosophie etwa so wie der 
Mathematiker oder der Physiker zu der seiner Wissenschaft: 
überzeugt, die wahre Erkenntnis seines Gegenstandes im Prinzip 
errungen zu haben, betrachtet er die Arbeit seiner Vorgänger als 
die in den Irrtum verschlungenen Wege zu der Höhe, von der 
er auf sie zurücksieht. Die Geschichte der Wissenschaft ist die 
werdende Wahrheit: als solche wird sie begriffen, wenn die 
Wahrheit geworden, fertig geworden ist. So etwa hat Herbart, 
wie seine „Einleitung" erkennen läßt, die Geschichte der Philo- 
sophie aufgefaßt: sie gehört nicht zu ihr selbst. 

Ein intimes und notwendiges, allen anderen Wissenschaften 
gegenüber prinzipiell eigenartiges Verhältnis der Philosophie zu 
ihrer Geschichte ist deshalb nur dann zu verstehen, wenn man 
ihre Aufgabe so bestimmt, daß ihrem Gegenstande selbst, den 
sie zu erkennen hat, eben die Entwicklung wesentlich ist, die 
in ihrer Geschichte, empirisch erforschbar, vorliegt. Hier liegt 
der Kernpunkt der Frage, und hier liegt auch der Grund, wes- 
halb der deutsche Idealismus mit seiner neuen Auffassung vom 
Wesen der Philosophie auch ein philosophisches Verständnis 
ihrer Geschichte verlangt hat. 

In allgemeinerer Formulierung hat Kuno Fischer das in der 
Einleitung zu seiner Geschichte der neueren Philosophie so aus- 
gesprochen, daß er die Philosophie selbst als die Selbsterkenntnis 
des menschlichen Geistes definiert und den „fortschreitenden 
Bildungsprozeß", der zu dem Wesen dieses ihres Gegenstandes 
gehört, für den Grund des „fortschreitenden Erkenntnisprozesses" 
erklärt hat, den sie in ihrer Geschichte aufweist. Die Gründe 
dieser Auffassung aber weisen auf Kant und seinen neuen Be- 
griff der Philosophie zurück. Kein metaphysischer Wettbewerb 
mit den anderen Wissenschaften und kein System von Anleihen 
bei ihnen macht danach die Aufgabe der Philosophie aus: sie 
hat ihr eigenes Forschungsreich in der kritischen Untersuchung 
der Vernunft und ihrer normativen Bestimmungen. 

In dieser Aufgabe, wie sie Kant mit dem Begriff der syn- 
thetischen Urteile a priori bezeichnet hat, steckt aber ein Di- 
lemma von tiefster Schwierigkeit, das man sich ganz deutlich 
gemacht haben muß, wenn man das Wesen und die Gegensätze 
der deutschen Philosophie in ihrem letzten Grunde verstehen will. 

Alle diese Bestimmungen nämlich, auf welche die Selbst- 



Oeschichte der Philosophie. Ig3 

besinnung der Vernunft in der kritischen Philosophie fuhren 
soll, beanspruchen eine zeitlose und überempirische Geltung. 
Sie können daher auf keine Weise in dem empirischen Wesen 
des Menschen begründet sein. Selbst wenn es in der müh- 
sam sich heraufflringenden Sprache des werdenden Kritizismus 
bei Kant am Anfang so scheint — aber auch nur so scheint! — , 
als sollten, die Formen der Anschauung, Baum und Zeit, als 
spezifisch menschliche Auffassungsweisen der Realität behandelt 
und gewertet werden, so belehrt uns die transzendentale Analytik 
und nachher die präzise Formulierung der Prolegomena zweifel- 
los, daß es sich dabei um ein „Bewußtsein überhaupt" handelt, 
das mit den empirischen Bestimmungen des menschlichen Wesens 
nichts zu tun hat, — daß auch die Formen von Raum und Zeit 
„gelten", gleichviel, ob und wann je ein Mensch sie tatsächlich 
in seinem empirischen Bewußtsein angeschaut hat. Und je mehr 
wir nun fortschreiten zu den logischen Formen, den Kategorien 
und den Ideen, und dann gar zu dem Gesetz der praktischen 
Vernunft, um so mehr kommt es auch in Kants Worten zum 
Ausdruck, daß es sich überall um die notwendige Geltung „für 
alle vernünftigen Wesen" handelt. Der Gegenstand der Philo- 
sophie ist nicht etwa die „menschliche Vernunft" als ein durch 
die psychische Entwicklung der Spezies homo sapiens empirisch 
gegebener Zusammenhang, sondern es ist die Vernunft in ihrer 
überempirischen, allgemeingültigen Bestimmtheit, — die Welt- 
vernunft 

Allein die Besinnung auf diese überempirische Geltung der 
Vemunftwerte können wir nun als philosophierende Menschen 
niemals anders vollziehen, als von dem Wissen unserer mensch- 
lichen Vernunft aus. Von ihrer Selbsterkenntnis also muß die 
Philosophie ausgehen: wir müssen vertrauen, daß sie Anteil hat 
an jener übergreifenden Wahrheit, die weit über uns selbst 
hinaus ihre Geltung besitzt, und daß wir diesen Anteil aus den 
Umschlingungen herauszulösen imstande sind, in denen er für 
unsere Erfahrung mit den empirischen Bestimmungen unseres 
spezifisch menschlichen Wesens gegeben ist Wir dürfen dabei 
nicht vergessen, daß die Geltung des Vemunftgesetzes — das 
leuchtet am einfachsten schon bei jeder mathematischen Wahr- 
heit ein — lediglich in ihm selbst begründet und daher niemals 
aus der Art und Weise abzuleiten ist, wie es in unser empi- 
risches Bewußtsein eingebettet ist: und wir werden uns damit 



184 G«8chichte der Philosophie. 

bescheiden^ daß wir von dieser fibergreifenden Weltvemunft 
immer nur soviel verstehen und uns aneignen können, als es in 
unser empiiisches Bewußtsein eingegangen ist und seine An- 
erkennung darin zur Geltung gebracht hat. Eben aus diesem 
Verhältnis folgt, daß die Philosophie niemals fertig sein und 
immer nur in der fortschreitenden Aneignung der fibergreifenden 
Vemunftinhalte begriffen sein kann. 

Deshalb liegen zwar die Geltungsgrfinde für alle die 
Vemunftwahrheiten, welche die Philosophie aufeustellen hat, 
immer nur in der Vernunft selbst, und so wenig wie in irgend 
einer Erfahrung auch in der von den menschlichen Bewußtseins- 
tätigkeiten: aber die Erforschung dieser Wahrheiten kann 
ihren Ausgangspunkt immer nur von der Selbsterkenntnis der 
menschlichen Vernunft nehmen. Wo ist diese Selbsterkenntnis 
zu gewinnen? Das ist die methodische Grundfrage des Kritizis- 
mus: es ist zugleich der Punkt, an dem die Wege der deutschen 
Philosophie auseinander gegangen sind. 

Denn zwei Antworten lassen sich auf diese Frage geben. 
Auf der einen Seite meint man diese Selbsterkenntnis der 
menschlichen Vernunft in einem empirischen Wissen von dem 
ein für allemal und fiberall gleich gegebenen Wesen der mensch- 
lichen Seele finden zu können : dann ist die Forschungsbasis für 
die Philosophie eine psychische Anthropologie. Auf der anderen 
Seite sucht man jene Selbsterkenntnis in der fortschreitenden 
Selbstentfaltung und in dem fortschreitenden Selbstverständnis, 
womit der menschliche Geist seine unbestimmte und unfertige 
Naturanlage im Laufe der Geschichte mit dem ganzen Reichtum 
seiner Arbeit an den mannigfachsten Aufgaben zu bewußten 
Gebilden entwickelt hat: dann wird die Geschichte zum Organon 
der Philosophie. 

Das ist — von den Schulformeln abgelöst — der Gegensatz 
des Friesschen Anthropologismus zu Hegels historischem Idealis- 
mus. Ihre — Kantische — Gemeinsamkeit besteht darin, daß 
beiden die empirische Vorerkenntnis nur als Mittel gilt, um zu 
der selbstevidenten Besinnung auf die Vemunftwahrheit vorzu- 
dringen; ffir beide ist diese Vorerkenntnis nur ein Hilfemittel 
der Auffindung, aber keine Begrfindung der philosophischen 
Wahrheit. Ihr Unterschied ist der, daß diesen Handlangerdienst 
ffir Fries die Anthropologie, ffir Hegel die Geschichte leisten soll. 

Die Entscheidung dieser bedeutsamen Alternative kann nur 



Geschichte der Philosophie. 185 

Ton der Beantwortung der Frage abhängig gemacht werden^ 
welche der beiden Arten von Selbsterkenntnis der menschlichen 
Vernunft, die psychologische oder die historische, dazu geeignet 
ist, das Hervortreten der überempirischen Yemunftwahrheit in 
dem empirischen Vemanftbewußtsein erkenntlich zu machen. 
Und diese Frage muß mit aller Entschiedenheit zugunsten der 
historischen Methode beantwortet werden. 

Die Psychologie betrachtet das seelische Wesen des Menschen, 
wie es von Natur allgemein und gleichmäßig gegeben ist: sie 
behandelt nach Art der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung 
das Individuum als Exemplar seiner Gattung und die einzelnen, 
inhaltlich individuell bestimmten Tätigkeiten und Zustände wie- 
derum als Exemplare der Gattungsbegriffe, die sie aufstellt, und 
sie erforscht auf diese Weise die formale Gesetzmäßigkeit des 
tatsächlichen Seelenlebens. Allein diese formale Gesetzmäßig- 
keit, die, ihrem logischen Wesen zufolge, für jeden beliebigen 
psychischen Lebensinhalt zutreffen soll, ist in Bezug auf die 
Vemunftinhalte an sich indifferent und stellt nur die natürlichen 
Bedingungen dar, unter denen allein diese Inhalte sich in dem 
empirischen Bewußtsein entfalten können. Diese Inhalte selbst 
können daher aus den Begriffen der psychischen Anthropologie 
nicht abgelesen werden, und wenn das, wie bei Fries, dennoch 
zu geschehen scheint, so ist das nur durch eine unwillkürliche 
Subreption möglich, indem der Forscher den formalen Begriffen 
der Psychologie sein aus anderen Quellen persönlich geschöpftes 
Wissen von den inhaltlichen Vemunftbestimmungen unterschiebt. 

Diese anderen Quellen aber fließen nirgend anders als in 
der Geschichte. Denn die Vemunftinhalte erwachen im mensch- 
lichen Bewußtsein nur an den Aufgaben des gemeinsamen Lebens: 
sie ringen sich aus dessen natürlichen Bedingungen mit harter 
Arbeit und in wechselvollem Kampfe heraus. Der Mensch 
als Vernunftwesen ist nicht naturnotwendig ge- 
geben, sondern historisch aufgegeben. Seine in immer 
neuer Selbstgestaltung begriffene Verwirklichung vollzieht sich 
in denjenigen Lebenssphären, welche die Individuen in ihrer 
Wechselwirkung als ein neues und höheres Reich über sich auf- 
bauen: darin kommt mit dem, was empirisch für alle gilt, das 
wahrhaft Allgemeingültige, das gelten soll, Schritt für Schritt 
zur bewußten Entfaltung und Gestaltung. So ist der „objektive 
Geist", die historische Entwicklung der menschlichen Gattungs- 



186 Geschichte der Philosophie. 

vemanfty das Zwischenreich zwischen dem natnrnotwendigen 
Seelenleben nnd der ewigen Wahrheit der reinen Vemonft, die 
darin eintreten soll Deshalb ist die Geschichte das Organen 
der Philosophie, deshalb bildet dieser „objektive Oeist", d. h. 
der gesamte Tatbestand des historischen Lebens der Mensch- 
heit, das empirische Material, an dem sich die Besinnung aui 
die reine Vernunftwahrheit in der Philosophie entwickelt 

Tatsächlich ist das nie anders gewesen. Aach dem einsamen 
Denker, der zu der zeitlosen Wahrheit aufringt, treten die qual- 
voll uralten Bätsei des Daseins nicht in der blassen Struktur 
seines psychologischen Naturwesens, sondern immer wieder in 
der Oestalt entgegen, die sie in der historischen Arbeit des 
menschlichen Geschlechts gewonnen haben, — in den Gebilden 
des religiösen Bewußtseins, in den Lebenszusammenhängen der 
Sitte und der staatlichen Ordnung, in den Gestalten der Kunst, 
in den Errungenschaften begreifender Erkenntnis des Wirklichen. 
Aus ihnen schöpft — bald mehr aus der einen, bald mehr aus 
der anderen dieser Sphären — jede Philosophie ihi-e Probleme 
und die Prinzipien ihrer Lösung. Es ist Hegels Verdienst, dies, 
was die Philosophie von jeher getan hat, mit vollem Bewußtsein 
verstanden zu haben. Seitdem wird uns jede Geschichte der 
Philosophie unzulänglich erscheinen, die nicht diesen intimen 
Lebenszusammenhang der Systeme mit den Eulturinteressen ihrer 
Zeit aufzudecken verstünde. Wir sehen in der Lehre eines 
großen Denkers mehr als den Reflex seiner eigenen Persönlich- 
keit, wir erkennen darin den verdichteten und begrifflich ge- 
formten Vemunftinhalt seines Zeitalters. Die historische Selbst- 
erkenntnis der menschlichen Vernunft, deren die Philosophie als 
ihrer methodischen Voraussetzung bedarf, gewinnen wir zwar 
aus der gesamten Entwicklung der Eulturtätigkeiten in der Ge- 
schichte, und die einzelnen Zweige der Philosophie, wie Ethik, 
Beligionsphilosophie usw. werden das ihnen zugehörige Material 
aus den besonderen Teilen dieses historischen Kulturlebens zu 
bemeistern haben: aber das unmittelbar und zunächst Gegebene 
f&r den Ausgangspunkt der philosophischen Prinzipenlehre bleibt 
schließlich ihre eigene Geschichte. 

Darum ist die Geschichte der Philosophie für sie selbst 
wesentlich und ihr integrierender Teil; und diese Anlehnung an 
die Geschichte ist nicht ein Zeichen der Schwäche und des 
Mangels an ürsprünglichkeit, sondern die notwendige Folge des 



Geschichte der Philosophie. 187 

Verständnisses vom Wesen der Philosophie selbst. Gerade diese 
Auffassung des Verhältnisses aber ist auch allein geeignet, die 
Gefahren zu beseitigen, die aus der umfassenden Beschäftigung 
mit dem Historischen für die Philosophie erwachsen können und 
die Philosophie selbst in ihre Geschichte aufzulösen drohen. 

Denn es wäre ein großes Mißverständnis, wenn man das 
Gesagte so deutete, als solle sich nun die Philosophie selber mit 
dieser historischen Selbsterkenntnis der menschlichen Vernunft 
beruhigen und sich die vermeintlichen Ergebnisse des geschicht- 
lichen Prozesses als ihre Vemunftlehre zu eigen machen. Keine 
schlimmere Verwechslung kann dem historischen Philosophieren, 
das dem deutschen Idealismus eigen ist, angetan werden als 
diese: es ist die Verwechslung der Sache selbst mit dem Material, 
aus dem sie gewonnen werden soll. Es muß ausdrücklich hervor- 
gehoben werden, daß das historisch Gültige eben das Problem 
für die Philosophie abgibt, daß aber die historische Geltung für 
sich allein kein Grund für die philosophische Geltung sein darf. 
Vergäße man dies, so ergäbe sich aus solchem Mißverständnis 
ein heilloser Relativismus; das wäre wirklich das Ende der 
Philosophie. 

In Wahrheit ist das Verhältnis ganz anders gemeint Be- 
zeichnen wir einmal, wie es sich einzuführen scheint, jene Ver- 
nunftinhalte, welche den Gegenstand der Philosophie bilden, als 
die allgemeingültigen Werte, so zeigt uns die Geschichte den 
vielverschlungenen Prozeß, durch den in allen Kultursphären 
und namentlich in der Wissenschaft selbst, Vemunftwerte zur 
Anerkennung und Herrschaft gelangt sind: aber diese ihre 
historisch allgemeine Geltung ist niemals ein Beweis ihrer 
kritisch philosophischen Gültigkeit. Sie bedeutet vielmehr nur 
einen Anspruch, dessen Berechtigung gerade durch die philo- 
sophische Untersuchung geprüft werden soll. Das historisch 
Gegebene der Werte ist das Objekt für die philo- 
sophische Kritik. Das ist das ABC der kritischen Philo- 
sophie — am besten zu lernen aus Kants Erkenntnistheorie. 

Behält man dies im Auge, so ist keine Gefahr, daß das 
historische Philosophieren in „Historismus" verfalle. Aber es 
ist nun nicht zu leugnen, daß Hegels Behandlung der Sache der 
Gefahr dieses Mißverständnisses zum mindesten Vorschub ge- 
leistet hat. Denn er scheint auf die kritische Methode voll- 
ständig zu verzichten, wenn er jedem Ergebnis des historischen 



188 Geschichte der Philosophie. 

Prozesses seinen relativen Wert als „Moment" der Wahrheit zu- 
erkennt und diese Wahrheit selbst dann nur in dem dialektisch 
geordneten System eben dieser selben Momente findet. Damit 
scheint die historische Tatsächlichkeit in philosophische Geltung 
umgedeutet, das Prinzip der Kritik verlassen, die begriffliche 
Entwicklung abgeschlossen und die Philosophie wirklich in ihre 
Geschichte aufgelöst zu sein. 

Es ist hier nicht weiter zu verfolgen, ob diese Einwurfe 
auf Hegels Lehre vollständig zutreffen: was an ihnen berechtigt 
ist, hängt von einer Voraussetzung ab, die er allerdings dem 
Prinzip des historischen Philosophierens hinzugefugt hat Es 
ist die von dem Parallelismus der geschichtlichen und der dialek- 
tischen Entwicklung der Kategorien. Sie beruhte bei ihm auf 
jenem Optimismus, der ein wesentliches Merkmal seines logischen 
Idealismus bildete: aber daß „alles, was ist, vernünftig ist^^ gilt 
bei ihm nicht für die Natur, die das Reich der Zufälligkeit be- 
deutet, sondern wesentlich für die Geschichte, ffir den „objektiven 
Geist '^. Darum fällt bei ihm, wie oft bemerkt worden und am 
besten an seiner eigenen Entwicklung zu erkennen ist, der ob- 
jektive Geist eigentlich und schließlich mit dem „absoluten Geist" 
zusammen: darum muß die historische Reihenfolge der Momente 
des menschlichen Geistes sich mit der dialektischen Reihe der 
Momente des göttlichen Geistes decken. Daher zum mindesten 
der Anschein einer philosopischen Konstruktion der Geschichte 
überhaupt und der Geschichte der Philosophie insbesondere. 

Diese Nebenvoraussetzung Hegels ist nun in der Tat so 
irrig, wie sie bei ihm begreiflich ist. Kein Geringerer freilich 
als Kant hat einmal den Gedanken hingeworfen von einer 
„philosophischen Geschichte der Philosophie, die selber nicht 
historisch oder empirisch, sondern rational, d. h. a priori möglich 
sei." Er versteht darunter ein aus der Natur der menschlichen 
Vernunft a priori zu entwerfendes „Schema, mit welchem die 
Epochen der Meinungen der Philosophen aus den vorhandenen 
Nachrichten so zusammentreffen, als ob sie dieses Schema selbst 
vor Augen gehabt und danach in der Kenntnis derselben fort- 
geschritten wären". Aber auch auf diesen Gedanken ließe sich 
immer nur eine systematische Übersicht über das historische 
Material, niemals die Notwendigkeit einer Übereinstimmung 
zwischen der systematischen und der chronologischen Ordnung 
begründen. 



Greschichte der Philosophie. 189 

Von einer solchen Übereinstimmung ist auch tatsächlich 
durchaus nichts zu entdecken. Schon der Fortgang des Inter- 
esses, mit dem sich im Laufe der Geschichte die Philosophie 
bald diesen, bald jenen Gegenständen vorwiegend oder aus- 
schließlich zuwendet, ist durch die Wandlungen des allgemeinen 
Kulturlebens und durch die besondere Stellung, die der einzelne 
Philosoph yennöge seiner Persönlichkeit und Lebensgestaltung 
darin einnimmt, in der Hauptsache bedingt Der kulturgeschicht- 
liche und der individuelle Faktor bestimmen die Probleme und 
vielfach auch die Kichtung ihrer Lösung. Diese beiden Faktoren 
aber sind in Hinsicht auf das philosophische System an sich zu- 
fällig. Nur in sehr seltenen Fällen — gerade das ist ja ein 
häufiger Grund der Enttäuschung und des Vorwurfs — schreitet 
die Entwicklung geradlinig in einer sachlichen Notwendigkeit 
fort Das sind sehr kurze Strecken, an deren Ende sogleich 
wieder die Fülle anderer Fragen hinzudrängt und die einfachen 
Linien verwirrt oder ablenkt So ist der geschichtliche Prozeß 
der Philosophie allen Zufälligkeiten des tatsächlichen Geschehens 
preisgegeben, und die „List der Idee'' ist nicht stark genug, 
sich gegen die Macht des Empirischen durchzusetzen. Die Ge- 
schichte der Philosophie kann begrifflich ebensowenig konstruiert 
werden, wie irgend eine andere historische Disziplin. 

Diese Einsicht beherrscht gegenwärtig die ganze Entwick- 
lung der Geschichte der Philosophie, und ihr verdankt sie ihre 
wissenschaftlichen Erfolge. Sie muß als eine exakt historische 
Disziplin behandelt werden, wie jeder sonstige Teil der Ge- 
schichte. Gerade: damit leistet sie am besten den Dienst, der 
ihr im systematischen Zusammenhange der Philosophie selbst 
zukommt. Denn nur durch die konstruktionsfreie Erkenntnis 
des tatsächlichen Verlaufs kommt es am deutlichsten zutage, 
welchen Anteil an der Bildung der Begriffe einerseits die Be- 
dürfnisse des Zeitbewußtseins und die persönliche Energie der 
selbständigen Denker, andererseits aber die sachlichen Not- 
wendigkeiten des gedanklichen Fortschritts haben. Indem die 
Geschichte der Philosophie als eine nicht bloß registrierende 
und reproduzierende, sondern begreifende und erklärende Wissen- 
schaft diese verschiedenen Fäden in der historischen Genesis 
der Systeme auseinanderlegt, scheiden sich von selbst die zeit- 
lichen Ursachen und die zeitlosen Gründe. Darin besteht 
ihre kritische Leistung und ihr Anteil an der Philosophie selbst. 



190 Geschichte der Philosophie. 

Das ist der Sinn der ausgedehnten und fruchtbaren Be- 
deutung, welche die Geschichte der Philosophie für diese selbst 
hat: dai*aus versteht sich, weshalb sie ein notwendiger Bestand- 
teil des Systems der Philosophie und selbst eine philosophische 
Wissenschaft, aber nicht in dem konstruktiven Sinne Hegels, 
sondern gerade vermöge ihrer exakt historischen Ausführung ist 
Die große Bolle, welche die historischen Studien in der gegen- 
wärtigen Philosophie spielen, wäre damit verständlich gemacht 
und unsere prinzipielle Frage erledigt, wenn sich nicht eine 
letzte Schwierigkeit erhöbe, die mit dem Wesen der historischen 
Forschung selbst zusammenhängt. 

Jede geschichtliche Wissenschaft wählt aus der endlosen 
Mannigfaltigkeit dessen, was überhaupt „geschehen" ist, dasjenige 
an Zuständen und Begebenheiten aus, was mit Kncksicht auf 
den Kulturwert, der ihre Voraussetzung ist, darauf Anspruch 
hat, „geschichtlich", eine geschichtliche Tatsache zu sein. Die 
Geschichte der Philosophie hat es also mit der kritischen Fest- 
stellung und dem Verständnis derjenigen Tatsachen der Über- 
lieferung zu tun, die mit der „Philosophie" in wesentlicher Be- 
ziehung stehen. Müssen ^wir nicht danach schon wissen, was 
Philosophie ist, um die für ihre Geschichte erforderliche Auswahl 
aus der Masse der Tradition vorzunehmen? 

Diese Frage ist nicht müßig. Sie muß Jeden beschäftigen, 
der selber aus den Quellen arbeitet und sich nicht, wie freilich 
viele der sog. Historiker der Philosophie, darauf beschränkt, aus 
den bisherigen Darstellungen eine neue zusammenzufügen. Und 
diese Frage wird um so brennender, je mehr man bedenkt, wie 
weit bei den Philosophen selbst die Begriffsbestimmungen von 
dem, was sie unter Philosophie auch nur der Aufgabe nach ver- 
standen wissen wollen, in der Geschichte auseinander gehen. 
Da fragt es sich ernstlich: was gehört wesentlich in die Ge- 
schichte der Philosophie, und was ist entbehrliches Beiwerk? 

Gerade das ist ein vortreffliches Beispiel, an dem man sich 
klar machen kann, in welchem Maße schon der elementare Vor- 
gang der Auswahl der Tatsachen, den jede Wissenschaft 
vorzunehmen hat, durch den Erkenntniszweck dieser Wissen- 
schaft bestimmt ist. Denn die Antwort auf jene Frage wird 
offenbar sehr verschieden ausfallen, je nachdem ob man die Ge- 
schichte der Philosophie lediglich als eine rein historische 
Forschung oder ob man sie als einen Teil der Philosophie selbst 



Geschichte der Philosophie. 191 

behandeln will. Im ersteren Falle wird alles was mit „Philo- 
sophie'' und „Philosophen'' in irgend einem Znsammenhange 
steht, zn sammeln, kritisch zu sichten, zn ordnen und in seinem 
genetischen Verhältnis zu untersuchen sein: im anderen Falle 
wird aus dieser riesig anschwellenden Masse wieder die engere 
Auswahl desjenigen zu treffen sein, was für die systematische 
Arbeit der Philosophie selbst dauernd von Bedeutung ist. Ge- 
rade die emsige Arbeit, die das letzte Jahrhundert auf die Ge- 
schichte der Philosophie verwendet hat, die philologische Be- 
arbeitung der Quellen mit dem ganzen kritischen Apparat, die 
sorgfaltige Durchforschung des biographischen Materials mit der 
Aufdeckung aller der Beziehungen, worin die philosophischen 
Lehren zu dem geistigen Leben ihrer Zeit stehen, — diese emsige 
Arbeit hat eine Fülle des Stoffs aufgehäuft, worin die rein 
historische Einzeluntersuchung in keiner unmittelbaren Beziehung 
mehr zu jener Bedeutung zu stehen scheint, die der gesamten 
Geschichte der Philosophie für das System zuzusprechen war. 
Als philosophische Disziplin muß also die Geschichte der Philo- 
sophie wieder eine engere Auswahl aus demjenigen Material 
darstellen, das sie als historische Disziplin umfaßt 

Ist es nun deutlich, daß diese engere Auswahl, deren Er- 
gebnis gerade der Philosophie selbst dienen soll, eine syste- 
matische Vorstellung von dieser oder wenigstens von ihrer Auf- 
gabe voraussetzt, so gilt doch dasselbe auch schon für jene 
weitere Auswahl. Denn um zu entscheiden, welche Bestandteile 
der Überlieferung in den Dntersuchungsbereich der Geschichte 
der Philosophie hineingezogen werden sollen, muß man doch, 
scheint es, wissen, was man unter Philosophie selbst zu ver- 
stehen hat. 

Scheinen wir uns also nicht in einem Zirkel zu bewegen, 
wenn wir auf der einen Seite behaupten, die Philosophie bedürfe 
ihrer Geschichte, um aus dieser historischen Selbsterkenntnis der 
menschlichen Vernunft ihre Probleme zu entnehmen, — und 
wenn wir andererseits nicht verkennen dürfen, daß die Auswahl 
dessen, was zur Geschichte der Philosophie gehören soll, selber 
schon eine Vorstellung von der Philosophie als kritischen Maß- 
stab voraussetzt? 

Diesem Zirkel, — der sich übrigens analog vielleicht in 
mancher anderen historischen Disziplin finden mag, — entgehen 
wir nur durch die Unterscheidung zwischen der Wissenschaft- 



192 Geschichte der Philosophie. 

liehen Selbstbestimmung der Philosophie und der unbestimmten, 
vieldeutigen Ansicht^ die wir von ihr, ihren Aufgaben und Gegen- 
ständen schon aus der gewöhnlichen Vorstellungsweise mitbringen. 
Von einem solchen hdo^ov geht, wie bereits Aristoteles gesehen 
hat, jede Wissenschaft in ihrer Forschung aus: sie findet es in 
der überliefeii;en Auffassung und Bezeichnung vor und über- 
nimmt es daraus, um es umzuarbeiten und durch Ausscheidung 
oder Hinzufügung neu zu gestalten. Gerade so liegt das Mate- 
rial in unserem Falle schon vorbereitet da durch die Deno- 
minationen, mit denen die Überlieferung Menschen und Lehren 
als philosophisch ausgezeichnet hat Die Auslese, die darin be- 
reits unwillk&rlich obwaltete, wird nun in der wissenschaftlichen 
Arbeit mit absichtlichem Bewußtsein fortgesetzt, z. T. korrigiert, 
z. T. ergänzt, und findet so ihre methodische Begründung. Und 
dieser selbe Prozeß der Auslese setzt sich dann von der rein 
historischen Behandlung der Geschichte der Philosophie in die 
philosophische fort. Gar vieles wird über die Philosophen von 
Anekdoten und Aussprüchen, von Meinungen und Handlungen 
überliefert, was mit der Philosophie selber nichts zu tun hat; 
es kann historisch interessant bleiben, entweder als zur Ge- 
schichte anderer Wissenschaften, z. B. der Naturforschung ge- 
hörig, oder als allgemein menschlich bedeutsam, oder endlich als 
Beitrag zur persönlichen Charakteristik der Denker; aber für 
den philosophischen Zweck der Geschichte der Philosophie ist 
es irrelevant. Andererseits wird sich schon die rein historische, 
ebenso aber auch die philosophische Behandlung unserer Dis- 
ziplin genötigt sehen, aus Gründen der Vollständigkeit und des 
Zusammenhanges manches in ihren Forschungsbereich mit hinein- 
zuziehen, was von jener unwillkürlichen Auslese des populären 
Bewußtseins und der Überlieferung nicht direkt als „philosophisch^ 
in Anspruch genommen worden ist^ so die Welt- und Lebens- 
anschauungen großer Dichter und Künstler, so unter Umständen 
die Refiexionen bedeutender Forscher oder Männer des öffent- 
lichen Lebens. 

Je mehr wir auf die Kontinuierlichkeit dieses aus der un- 
willkürlichen in die bewußte Form übergehenden Auslesevor- 
ganges unser Augenmerk richten, um so begreiflicher wird es, 
daß die Grenzen wie zwischen naiver Überlieferung und wissen- 
schaftlich historischer Behandlung so auch zwischen rein geschicht- 
lichem und philosophischem Betrieb der Philosophiegeschichte 



QeBchiehte der Philosophie. 193 

äußerst flüssig sind. Es schadet dämm auch nichts, daß die wenig- 
sten der Forscher auf unserem Oebiete sich über diese Verhältnisse 
prinzipiell so klar zu werden versucht haben, wie es hier nötig 
• erschien. Während bei den antiken Dozographen das traditio- 
nelle Fabulieren mit unmerklichen Übergängen zu historisch- 
kritischen Berichten auswuchs, so stehen die modernen Philo- 
sophiehistoriker, mit feinen Abstufungen verteilt, zwischen der 
rein historisch und der wesentlich philosophisch interessierten 
und bestimmten Behandlung ihres Gegenstandes. Es liegt in 
der Natur der Sache, daß bei allen Spezialforschungen das erste, 
bei allen Gesamtdarstellungen dagegen das zweite Moment fiber- 
wiegt. Aber eine deutliche und wirksame Beziehung zu dem 
anderen Interesse muß doch immer gewahrt bleiben. Auch die 
Spezialuntersuchung gehört der Philosophiegeschichte nur dann 
noch an, wenn sie irgendwie einen Beitrag zu der historischen 
Gestaltung philosophischer Begriffe und Probleme liefert: tut sie 
das nicht, so fällt sie der allgemeinen Literaturgeschichte zu. 
Sobald dagegen die Gesamtdarstellung ihre kritische Auswahl 
einseitig unter die Gesichtspunkte eines besonderen Systems der 
Philosophie stellen will, fällt sie aus dem Rahmen der histo- 
rischen Wissenschaft prinzipiell heraus und behält nur noch den 
Charakter einer geschichtlichen Übersicht zur Einf&hrung in 
eine besondere Lehre. Geht das gar so weit, daß die Tendenz 
der Auswahl und der Kritik auf die Apologie eines konfessionellen 
Dogmas gerichtet ist, so fallen solche Darstellungen eo ipso aus 
der Wissenschaft überhaupt heraus. Aber es ist klar, wie fein 
und unmerklich hier die Übergänge, wie schwer die Prinzipien 
der Unterscheidung zu bestimmen sind: es handelt sich dabei, 
wie in aller Geschichte, um die Frage nach den Grenzen der 
„historischen Objektivität". 

Mitten in dies flüssige Grenzgebiet zwischen historischer 
und philosophischer Zweckbeziehung der Philosophiegeschichte 
fuhrt uns eine dritte Auffassungsweise, die von ihrem Gegen- 
stande unabtrennbar ist. Wie auch immer man die Philosophie 
definieren, ihre Aufgabe bestimmen und zu lösen versuchen 
möge, — wesentlich ist ihr stets die Beschäftigung mit den 
allgemeinen Fragen der Welt- und Lebensanschauung, die schließ- 
lich jeden gebildeten Menschen angehen. Daher gehört die 
Kenntnis der Geschichte der Philosophie auch zu den unerläß- 
lichen Bestandteilen der allgemeinen Bildung und gilt als solcher 

Wind«lbattd, Die Pbilosophi« im Beginn dM 10. Jalurh. U. Bd. 13 



194 Geschichte der Philosophie. 

in der Literatur, im akademischen Unterricht usf. mit vollem 
Rechte. Mit dieser Zweckbestimmung aber verschiebt sich einiger- 
maßen auch die Bedeutsamkeit des historischen Details: vieles^ 
was begrif^geschichtlich von Wichtigkeit ist, stößt in dieser 
Hinsicht auf kein Interesse und bleibt deshalb besser fort, um 
Ermüdung zu vermeiden; anderes dagegen, was für die Philo- 
sophie selbst von keinem Belang ist, eignet sich desto besser fui* 
die Anknüpfung an bekannte Vorstellungen und Interessen, und 
in dieser Hinsicht bietet namentlich der kulturhistorische und 
der biographische Hintergund die erwünschte Möglichkeit zu einer 
farbigen Belebung des Ganzen. Jedenfalls verlangt auch diese 
Behandlungsweise eine zweckvolle Auswahl aus der riesigen 
Masse des ganzen historischen Materials, ohne sie jedoch aus- 
drücklich oder ausschließlich durch die Gesichtspunkte der syste- 
matischen Philosophie zu bestimmen. 



Das sind also die drei Ziele, welche der Philosophiegeschichte 
gesetzt werden können: das historische, das allgemein literarische, 
das philosophische. Sie sind miteinander keineswegs unvereinbar. 
Wie sie vielmehr alle drei in dem Wesen desselben Stoffs be- 
gründet sind, so kommen sie in der Gesamtheit der reichen 
philosophiegeschichtlichen Arbeit, auf die wir heute zurückblicken 
dürfen, alle drei zu ihrem Bechte, und wir haben Werke genug, 
in denen tatsächlich alle drei Interessen gleichmäßig ihre Be- 
friedigung finden. Dazu gehören in erster Linie die großen 
monumentalen Schöpfungen wie Zellers Werk über die Philo- 
sophie der Griechen oder Kuno Fischers Geschichte der neueren 
Philosophie. Aber auch viele einzelne Behandlungen größerer 
oder kleinerer Zeitabschnitte besonderer Philosophen oder philo- 
sophischer Richtungen sind so gehalten, daß sie allen drei 
G^ichtspunkten gleichmäßig gerecht werden: es sei als aner- 
kanntes Beispiel nur Langes Geschichte des Materialismus er- 
wähnt. Im übrigen will dieser Bericht seinem Zwecke gemäß, 
auf die Anführung und Charakteristik der einzelnen literarischen 
Erscheinungen grundsätzlich verzichten: er müßte sonst, an- 
gesichts der außerordentlich großen Zahl hervorragender Arbeiten, 
die das philosophiegeschichtliche Interesse des neunzehnten Jahr- 
hunderts gezeitigt hat^ entweder ins Ungeheuerliche anwachsen 
oder sich auf knappe, an dieser Stelle nicht zu begründende 



Geschichte der Philosophie. 195 

urteile beschränken. Es werden deshalb am Schluß nur die 
bekannten Hauptwerke über den gesamten Stoff und seine ein- 
zelnen Teile aufgeführt werden: im übrigen weiß jeder, der 
diesen Dingen ein eingehenderes Studium zuwenden will, daß er 
sich über den literarischen Befund in dem trefflichen Werke 
von Überweg zu orientieren hat, dessen neue Auflagen von 
M. Heinze auf der Höhe der Zuverlässigkeit und Vollständigkeit 
erhalten werden. 

Die vorwiegend historische Bearbeitung der Geschichte der 
Philosophie ist ihre wesentlich gelehrte Seite. Sie hat sich zu- 
nächst, der Lage der Sache gemäß, der antiken Philosophie zu- 
gewendet und hat daran bei dem vielfach zerrütteten und ver- 
schütteten Zustande der Überlieferung ein unerschöpfliches Feld 
ihrer Betätigung. Die Hauptsache wird hier immer die Aus- 
einandersetzung mit dem Grundstock unserer Tradition, den 
Werken von Piaton und Aristoteles, bleiben. Ihnen ist seit 
einem halben Jahrhundert eine schier unübersehbare Menge von 
Arbeit im großen wie im kleinen gewidmet worden; aber der 
stattliche Umfang sicherer Einsicht, der dabei gewonnen ist und 
glücklicherweise die im philosophischen Sinne wichtigsten Punkte 
betrifft, läßt um so deutlicher erkennen, daß bei einer Anzahl 
ebenfalls erheblicher Punkte wie bei vielen Einzelheiten unser 
Wissen über den Stand der Hypothese mit den jetzigen Mitteln 
nicht hinauskommen kann: und die Hoffnung auf deren Er- 
gänzung scheint auch durch die PapjTUsfunde nur in sehr ge- 
ringem Maße in Erfüllung zu gehen. In neuerer Zeit hat die 
gelehrte Forschung sich, vielleicht nicht ohne Einfluß natur- 
wissenschaftlicher Interessen, gern wieder den Vorsokratikern 
zugewendet, die zur Aufsuchung von Analogien zwischen antikem 
und modernem Denken besonders zu reizen scheinen: andererseits 
lenken die religionsgeschichtlichen Studien die Aufmerksamkeit 
auf die vielfach dunklen Bewegungen der alexandrinischen Philo- 
sophie. Die Anforderungen der Dogmengeschichte kommen hier 
auch der Philosophiegeschichte zugute, und das genauere Studium 
der Kirchenväter verspricht ihr auch für ältere Partien einen 
erfreulichen Ertrag. 

Mit der Zeit hat sich die spezifisch gelehrte Bearbeitung 
des Stoffs auch der neueren Philosophie zugewendet, obwohl 
dafür das Bedürfnis danach nicht überall gleich zwingende Gründe 
darbot, wie bei der alten: das Wort von der Kantphilologie ist 

13* 



196 Oeschichte der Philosophie. 

in aller Mond. Doch wird Niemand verkennen wollen, daß die 
gesteigerte Sorgfalt dieser Forschungen große Erfolge zu yer- 
zeichnen hat und daß durch die Vollständigkeit, die für das 
Material angestrebt wird, häufig genug die Linien des Bildes, 
das man vorher im allgemeinen besaß, nicht nur verfeinert, 
sondern auch ergänzt und korrigiert worden sind. 

Das wertvollste Ergebnis solcher Studien aber sind die 
musterhaften Ausgaben, die wir von den Schriften, Briefen und 
eventuell Vorlesungen der großen Philosophen bekommen haben: 
die von Bacon und Spinoza mögen besonders hervorgehoben sein. 
Zum Teil ist es das Verdienst der Akademien, dafür gesorgt zu 
haben. So gibt die Berliner, wie sie es früher mit Aristoteles 
getan hat und mit der Sammlung seiner Kommentatoren fort- 
setzt, uns jetzt die Eantausgabe. Die Pariser Akademie ist mit 
der Sammlung der Briefe und Werke Descartes schon ziemlich 
weit fortgeschritten. Für das Riesenwerk einer Leibnizausgabe 
wird an eine gemeinsame Aktion mehrerer Akademien gedacht. 

Am meisten rückständig ist die gelehrte Durcharbeitung 
der mittelalterlichen Philosophie. Die in manchem Betracht 
wenig anziehende Form ihrer Literatur wirkte mit schwer 
weichenden Vorurteilen zusammen lange Zeit als Hindernis. 
Die Anfänge, die seinerzeit Victor Cousin mit Ausgaben und 
Untersuchungen veranlaßt hatte, waren bald ins Stocken ge- 
kommen: erst in neuerer Zeit sind sie in Deutschland erfolgreich 
wieder aufgenommen worden. Ungünstig wirkt es außerdem, 
daß durch Einflüsse, die mit der Wissenschaft nichts zu tim 
haben, das Interesse an dieser Literatur einseitig auf eine be- 
sondere Richtung, die thomistiscbe, geleitet wird: nur so ist es 
zu erklären, daß es für die bedeutendsten Denker des Mittel* 
alters, einen Duns Scotus und einen Occam, noch an jeder adä- 
quaten monographischen Behandlung fehlt. Nicht minder be- 
dauerlich ist die unvollkommene Kenntnis, die wir von der 
arabisch-jüdischen Philosophie immer noch besitzen: es bleibt 
der Wunsch bestehen, daß durch eine glückliche Fügung endlich 
ein Mann, in welchem sich philosophisches Verständnis mit der 
Kenntnis der Literatur der semitischen Völker verbände, eine 
Lebensarbeit daran setzte, mit der oberflächlichen Tradition, die 
wir darüber weiterschleppen, aufzuräumen und eine quellenmäßige 
Einsicht an ihre Stelle zu setzen. Bei der eminenten Bedeutung, 
die diese Literatur für die christliche Scholastik und Mystik 



Geschichte der Philosophie. 197 

des Mittelalters besitzt, wäre das viel wichtiger und förderlicher, 
als die gelegentlich wiederholten Versuche, die Ansätze zn philo- 
sophischer Reflexion, die sich bei Indem und Chinesen finden, in 
die Gesamtgeschichte der Philosophie einznbeziehen. 

Fehlt es so nicht an Lücken in der gelehrten Durchforschung 
der Geschichte der Philosophie, so hat doch im ganzen die red- 
liche Arbeit des vorigen Jahrhunderts reiche, beinah überreiche 
Früchte getragen. Ein ungeheures Material ist aufgestapelt und 
kritisch durchgearbeitet. Iji dem von Zeller gegründeten „Archiv 
für Geschichte der Philosophie'' haben wir ein zentrales Organ 
für diese Studien. Schon ist es ausgeschlossen, daß ein einzelner 
die ganze Fülle dieses Stoffs je bis in alles Besondere hinein 
sich zu eigen mache, und auch der Gefahr der Verzettelung in 
wertlose Äußerlichkeiten sind wir nicht vollständig entgangen. 
Manchmal regt sich — wie vielleicht auch in anderen historischen 
Disziplinen — der Wunsch nach einer sicheren Methode zur Ent- 
lastung dieses riesig angeschwollenen Schulsacks. — 

Solcher Gefahr ist diejenige Behandlung der Philosophie- 
geschichte nicht ausgesetzt, welche sich vorwiegend auf die Be- 
dürfhisse der allgemeinen Bildung einrichtet, — eher der ent- 
gegengesetzten. Dieser unterliegen am ehesten die populären 
Darstellungen, welche die gesamte Geschichte der Philosophie 
so leicht und bündig wie möglich zugänglich zu machen suchen. 
Ihre Zahl ist Le^on und mehrt sich jährlich. Sie haben ihr 
Publikum in eiligen Prüfungskandidaten, in Literaten und all 
denen, die mehr oder minder bequem auf der Bildungshöhe stehen 
wollen. Doch gibt es auch ernsthafte Bücher, die jene Aufgabe 
nicht bloß mit Geschick, sondern mit gründlicher Kenntnis und 
mit eindringendem Verständnis erfüllen und eignen wissenschaft- 
lichen Wert besitzen. Selbständiger und erfreulich sind in dieser 
allgemeinverständlich gestimmten Literatur die Sonderdar- 
stellungen einzelner Philosophen, Lehrsysteme, Zeitalter usw.: 
hier kann am besten aus ursprünglicher Vertrautheit mit einem 
begrenzten Stoff durch künstlerische Gestaltungskraft ein ge- 
schlossenes und eindrucksvolles Bild herausgearbeitet werden. 
Aus dieser Absicht, die auch bei den Engländern und den 
Franzosen ihre Ausführung gefunden hat, ist in Deutschland 
die Frommannsche Sammlung der „Klassiker der Philosophie^ 
hervorgegangen. — 

Die vorwiegend philosophisch, d. h. systematisch orientierte 



198 Geschichte der Philosophie. 

Bearbeitung der Geschichte der Philosophie wirft sich gelegent- 
lich auf einzelne Zeitabschnitte, in denen eine zusammenhängende 
Gruppe philosophischer Probleme im Vordergrund des Interesses 
steht und eine wesentlich sachlich bedingte Begriffsentwicklung 
hervorruft, — oder sie wendet sich gern der vergleichenden 
Betrachtung philosophischer Systeme zu, um durch deren Über- 
einstimmung und Verschiedenheit charakteristische Beziehungen 
sachlicher Art zu beleuchten: aber weitaus am wichtigsten ist 
für diese systematische Auffassungsweise doch immer die Ge- 
samtheit des historischen Verlaufs; denn nur in ihr liegen auch 
die Ansatzpunkte für eine umfassende und in sich abgeschlossene 
Ausbildung der Philosophie selbst. 

Allein diese Behandlungsart der Gesamtgeschichte der Philo- 
sophie ist wiederum einer Gefahr ausgesetzt Sie besteht, wie 
oben schon berührt, darin, daß der Verfasser seine eigene philo- 
sophische Ansicht nicht nur der Auswahl, Gruppierung und sach- 
lichen Verbindung des Materials, sondern auch der Beurteilung 
der von ihm dargestellten Lehren zugrunde legt. So haben wir 
Geschichten der Philosophie vom Kantischen, vom Schellingschen, 
vom Herbartischen, vom positivistischen „Standpunkte" erlebt. 
Je ausgesprochener und schärfer dabei die maßgebende Meinung 
ist, um so parteiischer, ungerechter und unbrauchbarer wird 
die geschichtliche Darstellung als solche. Das verstößt gegen 
die fundamentale Forderung, daß der Historiker zwar seinen 
Stoff nach Wertbeziehungen auszuwählen, zu ordnen und zu ver- 
stehen hat, sich aber jeder positiven oder negativen Wertung so 
viel als menschenmöglich enthalten soll. 

Die philosophische Bearbeitung der Geschichte der Philo- 
sophie darf daher kein fertiges philosophisches System als Prinzip 
der Beurteilung voraussetzen, wenn sie sich nicht der wissen- 
schaftlichen Allgemeingttltigkeit ihrer Auffassung begeben will. 
Statt dessen bleibt ihr nur übrig, mit strenger empirisch histo- 
rischer Wahrhaftigkeit den Wegen nachzugehen, auf denen die 
immer wiederkehrenden und zuletzt jedes ernste Menschenleben 
bewegenden Probleme der Philosophie zu den verschiedenen 
Zeiten aus den allgemeinen und den individuellen Gedanken 
heraus bei den selbständigen Denkern zu bewußter Erfassung 
gelangt sind, und die mannigfachen Begriffe zu verstehen, die 
sich, je nach den geschichtlichen Voraussetzungen, zur Lösung 
dieser Probleme ergeben haben. Eine solche Geschichte der 



Geschichte der Philosophie. 19d 

Philosophie ist also notwendig eine Geschichte der Probleme 
und der Begriffe. Indem sie das geschichtliche Material in dieser 
Weise gestaltet, legt sie es der Philosophie selbst bereit, nm in 
der Formung ihrer Probleme und ihrer Begriffe das nur historisch 
Geltende der Veranlassungen und Vermittlungen von dem an 
sich Geltenden der Vemunftwahrheit abzulösen und von dem 
Zeitlichen zu dem Ewigen vorzudringen. 



Literatur. 

(Vgl. S. 194 f.) 



Überweg, Fr., Grundriß der Geschichte der Philosophie. 4 Bde. 9. Anfl. 
Bearbeitet yon M. Heinze. 1903—1905. 



Hegel, G. W., Vorlesnsgen über Geschichte der Philosophie. Ges. Werke. 

Bd. 13—16. 
Krdmann, J. E., GnmdriO der Geschichte der Philosophie. 2 Bde. 4. Aufl. 

Bearbeitet Ton B. Erdmann. 1896. 
Windelband, W., Lehrbuch der Geschichte der Philosophie. 3. Aufl. 1903. 
Encken, R., Die Lebensanschanongen der großen Denker. 5. Anfl. 1904. 



Prantl, C, Geschichte der Logik im Abendlande. 4 Bde. 1870. 
Janet, P., Histoire de la philosophie morale et politiqne. 1858. 
Zimmermann, R., Geschichte der Ästhetik. 1858. 
Lange, Alb., Geschichte des Materialismus. 6. Aufl. 1898. 



Brandis, Chr. Aug., Geschichte der Entwicklungen der griechischen Philo- 
sophie und ihrer Nachwirkungen im römischen Reiche. 2 Bde. 
1862—64. 

Zeller, E., Die Philosophie der Griechen. 5 Bde. 3. bis 5. Aufl. 1882—1904. 



Hu her, J., Die Philosophie der E^irchenyäter. 1859. 
Kaulich, W., Geschichte der scholastischen Philosophie. 1 Bd. 1863. 
Haur^au, B., £istoire de la philosophie scolastique. 2 Tle. 1872—80. 
Wulf, M. de, Histoire de la philosophie mödi^yale. 1900. 



200 Geschichte der Philosophie. 

Erdmann, J. E., Versnch einer wiBsenschaftlichen Darstellung der Oeschichte 

der neueren Philosophie. 6 Bde. 1834—53. 
Ulrici, H.y Geschichte und Kritik der Prinzipien der neueren Philosophie. 

2 Bde. 1845. 
jpischer, Euno, Geschichte der neueren Philosophie; Jubiläumsausgabe. 

10 Bde. 1897—1904. 
Windelband, W., Geschichte der neueren Philosophie. 2 Bde. 3. Aufl. 1903. 
Höffding, Har., Geschichte der neueren Philosophie; deutsch in 2 Bdn. 

1894-96. 
Zeller, E., Geschichte der deutschen Philosophie. 2. Aufl. 1875. 



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VJNIVERSITY 

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Lippert ä Co. (G. Päts'sche Bnehdr.). Nanmbors a. S. 



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