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Full text of "Die romanischen Literaturen und Sprachen; mit Einschluss des Keltischen"

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DIE  ROMANISCHEN 

LITERATUREN  UND  SPRACHEN 
MIT  EINSCHLUSS  DES  KELTISCHEN 

I  VOM 

HEINRICH  ZIMMBR     •     KUNO  MEYER 
I  LUDWIG  CHRISTIAN  STERN-  HEINRICH  MORF 
I  WILHELM  MEYER-LÜBKE 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART  l.Xi.i 

MPRAUSGRCcBRN  VOM       | '  '^'"  ■■■; '  |  VERLAG  VON 

P.  HINNEBHRG       ?X>  I      B.  G.  TEÜBNER 


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DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 


IHRE   ENTWICKELUNG  UND  IHRE  ZIELE 


HERAUSGEGEBEN  VON 


PAUL  HINNEBERG 


DIE  KULTUR  DER  GEGENWART 
TEIL  I    ABTEILUNG  XI,  I 


DIE  ROMANISCHEN 
LITERAl  UREN  UND  SPRACHEN 

MIT  EINSCHLUSS  DES  KELTISCHEN 


VON 


HEINRICH  ZIMMER    •    KUNO  MEYER 

LUDWIG  CHRISTIAN  STERN    ■    HEINRICH  MORF 

WILHELM    MEYER-LÜBKE 


1909 

BERLIN   UND   LEIPZIG 

DRUCK   UND  VERLAG  VON   B.  G.  TEUBNER 


PUBLISHED   DECEÄIBER  i,  1908 

PRIVILEGE    OK    COPYRIGHT    IN    THE    UNITED    STATES 

RESERVED   UNDER  THE  ACT  APPROVED   MARCH  3,  1905. 

BY  B.  G.  TEUBNER  LEIPZIG. 


ALLE  RECHTE, 
EINSCHLIESSLICH  DES  ÜBERSETZUNGSRECHTS,  VORBEHALTEN 


INHALTSVnRZEICI  INIS. 


Seile 


Einleitung 


L  DIE  KELTISCHEN  LITERATUREN  .    . 

I.  SPRACHE  UND  LITERATUR  DER   KELTEN 
IM  ALLGEMEINEN 

Von  HEINRICH  ZIMMER. 


A.   Die  keltischen  Sprachen 


I.  Die  Geschichte  der  kehischen  Sprachen 

II.  Charakteristik  und  Ghederunj^  der  kehischen  Sprachen 

B.   Die  keltischen   Literaturen 

I.  Der  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen 
II.  Die  epische  Form  und  der  epische  Stil       .     . 
Schlußbetrarhtunp 
Literatur 


137 


«-7; 


16  —  46 

it>— 34 
34—46 

4(>— 73 

46 — 61 
01—69 
t>9— 73 

74—77 


IL  DIE  EINZELNEN  KELTISCHEN  LITERATUREN  78-1. ?7 

A.  DIE  IRISCH-GÄLISCHE  LITERATUR 78—47 

Von  kl  NO  .MEYER. 

Einleitung 7^— 74 

I.  Die  handschriftlich  vor  dem   11.  Jahrhundert  erhaltene  Literatur      ....  79 — 81 

II.  Die  epische  Literatur 62 — 85 

III.  Die  historische  Literatur    .  ...  85 — S7 

IV.  Die  Rechtsliteratur    .     .  87 — 88 

V.  Die  geistliche  Literatur  88 — 91 

VI.  Die  gelehrte  Literatur   .  91 — 92 

VII.  Die  gnomische  Literatur  ....  qi — 93 

VIII.  Die  wellliche  Lyrik  03—05 

Literatur  .  q6 — 97 


B.  DIE  SCHOTTLSCH- GALISCHE  UND  DIE  MANN- LITER ATUK 

Von  LUDWIG  CHRISTIAN  STERN. 

L  DIE  SCHOTTISCH   GÄUSC HE  LITERATUR 

I.  Die  Literatur  vor  der  sprachlichen  Trennung  vom  Irischen 

II.  Ossian  und  Fingal 

III    Die  Blütezeit  der  schottisch -gälischen  Poesie. 


y8  — 109 

98 — 09 
99 — 10; 
10: — 105 


VI  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

IV.  Die  neuere  Poesie 105 — 107 

V.  Märchen,  Sprichwörter  und  Prosaversuche 107 — 109 

VI.  Bibel  und  rehgiöse  Bücher 109 

n.  DIE  MANX- LITERATUR HO— III 

I.  Christliche  Lehre  und  Bibel iio 

II.  Weltliche  Poesie iio — iii 

Literatur 112 — 113 

C.  DIE  KYMRISCHE  (WALISISCHE)  LITERATUR 114 -130 

Von  LUDWIG  CHRISTIAN  STERN. 

I.  Die  Quellen  der  Literatur 114 

II.  Die  ältesten  Denkmäler  der  Literatur  ^ 114 — 118 

III.  Die  ältere  Bardenpoesie  und  Prosa 119 — 121 

IV.  Die  neuere  Bardenpoesie 121 — 125 

V.  Die  spätere  Literatur 125 — 128 

Literatur 129 — 130 

D.  DIE  KORNISCHE  UND  DIE  BRETONISCHE  LITERATUR  .    .    .    .  131— 1 37 

Von  LUDWIG  CHRISTIAN  STERN. 

I.  DIE  KORNISCHE  LITERATUR I3I — 132 

I.  Die  ältesten  Denkmäler  der  Sprache 131 — 132 

II.  Reste  sonstiger  Literatur 132 

IL  DIE  BRETONISCHE  LITERATUR 13  2—1 36 

I.  Die  ältesten  Denkmäler  der  Sprache 132 — 133 

IL  Das  neubretonische  Theater 134 

III,  Balladen  und  Lieder 134 — 136 

IV.  Neuere  Literatur 136 

Literatur 137 


IL  DIE  ROMANISCHEN  LITERATUREN   .    .  138-446 

Von  HEINRICH  MORF. 

Einleitung 138 — 143 

A.   Frankreich  bis  zum  Ende  des   15.  Jahrhunderts  .     .     .  143 — 168 

I.  Frankreichs  Hegemonie  (11. — 13.  Jahrhundert; 144 — 160 

II.  Frankreichs  Niedergang  (14.  und   15.  Jahrhundert) 160 — 168 

B.  Italien  bis  zum  Ende  des   17.  Jahrhunderts      .     .     .  168 — 199 

I.  Das  Mittelalter 168 — 174 

II.  Der  Humanismus 174 — 181 

III.  Die  Renaissance 181 — 193 

IV.  Italiens  Niedergang 193 — 199 


Inhaltsverzeichnis.  VII 

S««te 

C.   Die  kastilische  und  portugiesische  Literatur 

bis  zum  Ende  des    17.  Jahrhunderts  .....  199 — 220 

I.  Bis  zum   15.  Jahrhundert  199—203 

II.  Die  Zeit  der  Habsburger  (16.  und  17.  Jahrhundert 'm — 77" 

D.   Frankreich  bis   zur  Romantik  (das   16.,   17.  und   18.  Jahrhundert)     .  ^20 — 272 

I.  Die  Renaissance  des  1 6.  Jahrhunderts  2:1 — 229 

II.  Von  der  Renaissance  zum  Klassizismus       ...  229 — 239 

III.  Die  klassische  Literatur  (das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.,  .  239 — 251 

IV.  Die  .Aufklärungszeit  251 — 272 

E.   Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik  272—203 

I.  Italien  im   18.  Jahrhundert ....  ...  272 — 282 

II.  Spanien  und  Portugal  im   18.  Jahrhundert 282 — 288 

III.  Rätien  und  Rumänien ...  ...  288 — 293 

F.   Das   IQ.  Jahrhundert      ....  ...  204 — 4^8 

I.  Die  Romantik ...  295 — 351 

II.  Die  Zeit  nach  1850 ^51 — 438 

Literatur 4^9 — 446 


III.  DIE  ROMANISCHEN  SPRACHEN  .    .    .  447-470 

Von  WILHELM  MEYER -LÜBKE. 

Einleitung 447 

I.  Ausdehnung  und  Einteilung  der  romanischen  Sprachen       447 — 454 

II.  Das  Verhältnis  von  Lateinisch  und  Romanisch 454 — 456 

III.  Das  Romanische  und  die  nichllateinischen  Sprachen   innerhalb   des  romani- 
schen Gebietes 450 — 460 

IV.  Die  Entstehung  der  romanischen  Sprachen                                         .          .  460 — 461 
V.  Der  Wortschatz ...  461—462 

VI.  Die  Namenkunde .  .     .  462—468 

VII.  Die  Entstehung  der  romanischen  Scluiflsprachcn  468—469 

Literatur 470 


Register 471 — 4Qg 


\ 


DIE  KELTISCHEN  LITERATUREN. 

I.  SPRACHE  UND  LITERATUR  DER  KELTEN 
IM  ALLGEMEINEN. 

Von 
Heinrich  Zimmer. 

Einleitung.      Keltische    Zunge    herrscht    heutigentags    in    den    vom  Di«-  HedeutuoB 
Atlantischen    Ozean    bespülten    Grafschaften    Süd-,   West-    und    Nordwest-  '^^^^J^^Jl'^f^ 
Irlands,   auf   den   äußeren    und    inneren   Hebriden   und   in    den    entlegenen     europäische 
Strichen  der  schottischen  Hochlande,  in  einzelnen  Fischerhütten  der  Insel     ,  '*7^*' 

'  TorscDung. 

Man,  an  den  Küsten  und  in  dem  Berglande  von  Wales,  sowie  in  dem 
westlichen  Teile  der  französischen  Bretagne,  der  Niederbretagne.  Es  sind 
rund  3000000  Seelen  insgesamt,  unter  ihnen  i  000000  Monoglotten,  die  in 
diesen  Strichen  sich  noch  keltischer  Rede  bedienen  und  sich  auf  fünf  neu- 
keltische Literatursprachen  verteilen:  Irisch- Gälisch,  Schottisch -Gälisch, 
Manx-Gälisch,  Kymrisch  (Welsch)  und  Bretonisch;  das  Bindeglied  zwischen 
Kymrisch  und  Bretonisch,  das  einst  in  Cornwall  gesprochene  Kornische, 
ist  im   18.  Jahrhundert  langsam  ausgestorben. 

In  schreiendem  Gegensatz  zu  dieser  geringen  Zahl  Keltisch  redender 
Individuen  im  Völker-  und  Sprachgemisch  des  heutigen  Europa  steht  an- 
scheinend die  Rolle,  die  man  nach  dem  im  ersten  Viertel  des  19.  Jahr- 
hunderts eintretenden  Aufschwung  der  historischen  Wissenschaften  in 
engeren  und  weiteren  Kreisen  den  heutigen  keltischen  Sprachen  zur  Auf- 
hellung der  ferneren  Vergangenheit  West-  und  Mitteleuropas  zuwies.  Da 
glaubte  mehr  wie  einer,  mit  einem  mangelhaften  Wörterbuch  des  Neu- 
irischen oder  Neukymrischen  bewaffnet,  ohne  praktische  Kenntnis  dieser 
Sprachen  und  ohne  Einsicht  in  das  Verhältnis  der  Lautbezeichnung  zu  den 
Lauten  sowie  in  die  Geschichte  der  Laute,  den  Schlüssel  gefunden  zu 
haben,  um  den  ursprünglichen  Sinn  aller  Völker-,  Berg-,  Fluß-  und  Orts- 
namen der  mittel-  und  westeuropäischen  Kulturländer  zu  erschheßen;  die 
tiefere  Bedeutung  griechischer  Wörter  und  griechischer  Göttemamen  sollte 
plötzlich  klar  werden,  und  selbst  Namen  von  Gebirgen  und  Flüssen  Nord- 
afrikas waren  vor  Deutung  aus  dem  Keltischen  nicht  sicher.  Eine  wahre 
Keltomanie  riß  in  weiteren  wissenschaftlich  sein  wollenden  Kreisen  Deutsch- 
lands, Frankreichs,  Englands  ein,  die  keltische  Studien  in  den  Augen  phi- 
lologisch geschulter  Männer  der  Lächerlichkeit  preisgab  und  einen  Auf- 
schwung keltischer  Sprach-  und  Altertumsforschung  auf  Dezennien  hemmte. 

DiB  Kultur  dir  Gigbnwart.    L  ii.  i  I 


2        Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Dieser  auf  den  ersten  Blick  schreiende  Gegensatz  zwischen  der  ge- 
ringen Zahl  der  heutigentags  keltische  Idiome  Redenden,  die  zudem  in 
den  von  mittel-  und  westeuropäischer  Kultur  entlegensten  Strichen  leben, 
und  der  Bedeutung,  die  viele  diesen  keltischen  Idiomen  für  die  Alter- 
tumsforschung West-  und  Mitteleuropas  beilegten,  schwindet  bei  der  Er- 
wägung, daß  die  heute  kaum  mehr  als  3000000  Seelen  umschließenden 
fünf  modernen  keltischen  Sprachen  halbverdorrte  Reiser  sind  an  einem 
einst  gewaltigen  indogermanischen  Sprachstamme,  der  im  3.  Jahrhundert 
v.  Chr.  seine  grünen  Äste  vom  Galaterland  in  Kleinasien  über 
Mittel-  und  Westeuropa  bis  Kap  Finisterre  in  Spanien  und  an 
die  Küsten  Donegals  in  Westirland  ausbreitete.  Kelten  spielten 
durch  mehrere  Jahrhunderte  in  ihren  Beziehungen  zu  Italern  und  Griechen 
eine  wichtige  politische  Rolle,  saßen  als  herrschende  Rasse  in  Westeuropa 
und  weiten  Strecken  Mitteleuropas  und  bilden  somit  zu  mehr  oder  minder 
beträchtlichem  Teil  das  Völkersubstrat  der  heutigen  Völker  romanischer 
und  germanischer  Zunge.  Nicht  nur  in  Frankreich  und  dem  dem  germa- 
nischen Sprachgebiet  angehörigen  Großbritannien  gehen  zahlreiche  heutige 
Namen  für  Berge,  Flüsse  und  Örtlichkeiten  auf  keltische  Rede  zurück; 
auch  Rhein  {Rhino s)  und  Main  {Moinos),  Mainz  {Moguntiäcuni)  und  Zarten 
{Tarodünufn) ,  Wien  [Vindoböna)  und  Mailand  {Mediolänum)  finden  ihre 
Deutung  aus  den  keltischen  Sprachen.  Bologna  in  Oberitalien,  sechs  Ort- 
schaften namens  Boulogne  in  Frankreich,  Banostor  in  Pannonien,  Vidin 
an  der  unteren  Donau  {Bodon  im  Mittelalter  bei  den  Magyaren)  haben 
ihre  ursprüngliche  Form  in  einem  altkeltischen  Bonönia.  Mit  einem  festen 
Wall  umschlossen  Keltenstämme  im  Westen  und  Süden  bis  zum  i.  Jahr- 
hundert die  östlich  und  nördlich  von  ihnen  sitzenden  Germanen  von  den 
Trägern  der  mittelländischen  Kultur,  den  Griechen  und  Römern,  ab,  wäh- 
rend sie  selbst  schon  früh  unter  dem  Einfluß  der  griechischen  Kolonie 
Massilia  zu  Anteil  an  der  höheren  Kultur  der  Mittelmeerländer  gelangten. 
Sie  kamen  dadurch  in  jener  Zeit  gegenüber  den  in  ihrem  Rücken  sitzenden 
Germanen  in  dieselbe  Lage  wie  die  Germanen  selbst  nach  der  Völker- 
wanderung zu  den  hinter  ihnen  sitzenden  Slawen,  und  die  Ergebnisse  beider 
Perioden  sind  analoge.  Die  den  Germanen  vorgelagerten  Keltenstämme 
wurden,  indem  sie  mit  der  gewonnenen  höheren  Kultur  die  Germanen  be- 
einflußten, so  die  Vermittler  mittelländischer  Kultur  an  die  Germanen. 
Zahlreiche  gemeingermanische  sprachliche  Entlehnungen  aus  der  Sprache 
jener  kontinentalen  Kelten,  zum  Teil  über  die  Zeit  der  ersten  germanischen 
Lautverschiebung  hinausgehend,  legen  Zeugnis  dafür  ab,  wie  tief  vom 
6.  bis  I.  Jahrhundert  v.  Chr.  der  Einfluß  der  Kelten  auf  die  Germanen  ge- 
wesen ist.  So  wanderte,  um  ein  bezeichnendes  Beispiel  zu  wählen,  das 
keltische  Wort  für  'König-'  (altgall.  rlx^  Genit.  rlgos;  altir.  rl,  Genit.  rlg) 
nebst  der  dazu  gehörigen  Ableitung  für  'Königsherrschaft'  und  vom  'König 
beherrschtes  Land'  (altkeit.  rlgjo?t,  altir.  rige)  vor  dem  Eintritt  der  ersten  ger- 
manischen Lautverschiebung,  also  spätestens  im  5.  Jahrhundert  v.  Chr.,  zu 


Einleitung.  ^ 

den  Germanen  (got.  rciks  König,  oberdeutsch  rieh  in  'Heinrich',  'Dietrich' 
und  got.  reiki  'Herrschaft,  Obrigkeit',  altnord.  nki^  angelsächs.  rlce^  altsächs. 
rlkiy  althochdtsch.  rlJilii^  mittelhochdtsch.  rlchc,  neuhochdtsch.  'Reich'),  ganz 
wie  um  ungefähr  600  Jahre  später  die  Germanen  ihre  Bezeichnung  für 
'Mann  aus  vornehmem  Geschlecht'  (altnord.  kunungr,  angelsächs.  cynirigy 
altsächs.  kimingy  althochdtsch.  chuningy  mittelhochdtsch.  künic,  neuhochdtsch, 
König)  den  hinter  ihnen  sitzenden  Litauern  (lit.  knningas  'vornehmer  Herr') 
und  Slawen  (altslaw.  kuiicst,  russ.  kujazl  'Fürst',  poln.  ksiqze,  wend.  knjez) 
abgaben.  !Mit  der  keltischen  Bezeichnung  für  'König'  übernahmen  die 
Germanen  zugleich  das  keltische  Wort  für  den  'Boten,  Beauftragten  des 
Königs'  (altgall.  ambactus^  altkymr.  atnaci/i),  \x\go\..a?idba/its  'Diener',  andbaJiti 
'Dienst',  angelsächs.  ambiJit  'Amt',  altsächs.  avibaht-skcpi,  althochdtsch.  amba/if, 
ambahti  'Dienst,  Amt',  mittelhochdtsch.  ambet  und  ainmef^  neuhochdtsch.  Amfj 
so  daß  'Reich'  und  'Amt'  in  unserer  Sprache  neben  manchem  anderen  Wort 
als  Zeugen  stehen  für  den  Einfluß  der  Kelten  auf  die  Germanen  um  die 
Mitte  des   i.  Jahrtausends  v.  Chr. 

Es  liegt  also  der  Keltomanie  in  erster  Hälfte  des  ig.  Jahrhunderts  die 
richtige  Tatsache  zugrunde,  daß  für  die  Altertumsforschung  West-  und 
Mitteleuropas  die  Heranziehung  auch  der  heutigen  keltischen  Idiome  in 
vieler  Hinsicht  von  allererster  Bedeutung  ist.  Seit  Caspar  Zeuß  in  seiner 
die  keltische  Sprachwissenschaft  begründenden  Grammatica  celtica  im  Be- 
ginn der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  (1853)  den  Grund  zur  histo- 
rischen Betrachtung  der  neukeltischen  Sprachen  und  damit  zu  ihrer  richtigen 
Verwertung  für  ältere  Perioden  gelegt  hat,  treten  die  Fehler  der  Kelto- 
manen  in  der  Verwendung  der  heutigen  keltischen  Sprachen  für  die  euro- 
päische Altertumsforschung  mehr  und  mehr  zurück,  zumal  noch  im  Verlauf 
die  Erkenntnis  in  weitere  Kreise  drang,  daß  die  früher  bewußt  und  un- 
bewußt beliebte  glatte  Gleichsetzung  der  Begriffe  prähistorisch  und  keltisch 
für  West-  und  Mitteleuropa  ein  grober  Fehler  war. 

Anders  geartet,  aber  nicht  minder  bedeutsam  ist  die  Rolle,  welche  die 
beiden  Zweige  der  Inselkelten  im  Mittelalter  in  der  Kulturentwickelung 
und  dem  Geistesleben  der  romanischen  und  germanischen  Völker  gespielt 
haben.  Einmal  die  Iren  im  7.  bis  10.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung  und 
dann  die  Bretonen  im    11.  bis  13.  Jahrhundert. 

Im  6.  Jahrhundert  n.  Chr.  war  durch  germanische  und  romanische  Zunge   Irlands  Anteil 
die  keltische  Sprache  auf  das  Gebiet  der  damals  noch  unabhängigen  Kelten-  *°  "!"  *^°'^'" 

^  00  entwickelang  im 

Stämme,  d.  h.  auf  Irland,  die  Westhälfte  Britanniens  und  die  Bretag^ne  ein-  7.- la jahr- 
geschränkt. Gennanen  hatten  die  alte  Welt  in  Trümmer  geschlagen,  wobei  hundert, 
griechisch-römische  Kultur  in  West-  und  Mitteleuropa,  einschließlich  Ober- 
italien, unter  dem  Schutt  begraben  wurde.  Für  den  Zustand  der  Bildung 
in  Gallien  ist  es  bezeichnend,  daß  der  aus  einer  römischen  Familie 
stammende,  Bischöfe  zu  seinen  Ahnen  zählende  berühmte  Historiker  Gregor 
von  Tours  (-}•  594)  zugesteht,   daß  er  im    Lateinischen    das    Geschlecht   der 


4       Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.   I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Wörter  verwechsele,  die  Kasus  falsch  setze  und  die  Rektion  der  Präpo- 
sitionen ihm  Schwierigkeiten  mache.  Der  beredteste  Zeuge  für  den  all- 
gemeinen Niedergang  der  Bildung  selbst  in  Ober-  und  Mittelitalien  ist 
Papst  Gregor  der  Große:  er  wurde  540  in  Rom  als  Patriziersohn  geboren, 
dem  die  Mittel  der  Eltern  gestatteten,  alle  in  Rom  damals  erreichbare 
profane  Bildung  sich  anzueignen;  dann  trat  er  in  ein  Kloster,  ging  als 
päpstlicher  Nuntius  nach  Konstantinopel,  wurde  Abt  eines  Klosters  und 
festigte  als  eine  der  bedeutendsten  Gestalten  auf  dem  päpstlichen  Stuhl 
von  590 — 604  die  Grundlagen  der  römischen  Hierarchie.  Gregor  nun  konnte 
nach  eigenem,  mehrfach  wiederkehrendem  Geständnis  kein  Griechisch. 
Noch  200  Jahre  später  wagte  es  der  geistreiche  und  gelehrte  Spanier 
Claudius,  die  Versammlung  italischer  Bischöfe,  vor  der  er  seine  An- 
sichten über  den  Bilderkultus  —  er  verwarf  ihn  —  verteidigen  sollte,  eine 
^Versammlung  von  Eseln'  zu  nennen.  Der  Mann,  der  für  die  gescholtenen 
italischen  Bischöfe  damals  die  Verteidigung  des  Bilderdienstes  übernahm 
— ■  es  war  der  in  der  Lombardei  lebende  Ire  Dungal  — ,  ist  der  Repräsen- 
tant des  Landes,  in  dem  bei  dem  Niedergang  der  Kultur  des  Abendlandes 
die  griechisch-römische  Bildung  eine  Zuflucht  gefunden  hatte,  und  von  dem 
aus  diese  griechisch-römische  Bildung,  in  die  Formen  des  Christentums 
gegossen,  im  7.  bis  10.  Jahrhundert  unter  Romanen  und  Germanen  des 
Frankenreiches  neu  gepflanzt  wurde, 
stand  der  Bii-  Nach  dem  von  Römern  nicht  betretenen  Irland  war  im  4.  Jahrhundert 

düng  lu  irischen  ^^^  Christentum  von  Britannien   aus  hinübersrebracht  worden:    es  war  das 

Klosterschulen.  '-' 

abendländische  Christentum  aus  zweiter  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  gewesen, 
in  welchem  durch  den  Massenübertritt  der  Gebildeten  die  klassische  Bildung 
jener  Zeit  eine  bedeutende  Rolle  gespielt  hatte,  und  in  dem  namentlich 
bei  den  geistigen  Führern  auch  im  Abendland  lebendige  Kenntnis  des 
Griechischen  vorhanden  gewesen  war;  also  das  Christentum,  das  in  seinen 
Hauptvertretern  wie  Basilius  sich  wild  aufbäumte,  als  der  Apostat  Julian 
den  Christen  den  Unterricht  in  den  heidnischen  Klassikern  verbieten  wollte. 
Die  Wogen  der  Völkerwanderung,  die  dann  Westeuropa  einschließlich 
Großbritannien  im  5.  Jahrhundert  schwer  heimsuchten,  schlugen  nicht  an 
Irlands  Küsten;  und  während  das  Abendland  rettungslos  in  den  Sumpf 
der  Barbarei  zu  versinken  schien,  entstand  in  dem  isolierten  Irland  eine 
Pflanzstätte  christlich -antiker  Bildung  nach  der  anderen.  Bangor  und 
Armagh  in  Ulster,  Clonmacnois  auf  der  Grenze  von  Leinster  und  Connaught, 
Lismore  im  Süden  sind  am  Ende  des  6.  Jahrhunderts  nur  einige  der  be- 
kanntesten Klöster  Irlands.  Die  Bildung,  die  hier  gepflegt  wurde,  stand 
weit  über  der  eines  Gregor  von  Tours  und  Gregor  des  Großen;  sie  knüpfte 
in  ununterbrochener  Reihenfolge  an  die  des  4.  Jahrhunderts;  Muster  des 
klassischen  Altertums  wie  Vergil,  Horaz,  Ovid  wurden  neben  kirchlichen 
Schriften  in  den  Klöstern  gelesen;  Kenntnis  des  Griechischen  und  damit 
Zugang  zu  den  ersten  Quellen  des  Christentums  war  hier  zu  finden:  wir 
haben  das  Zeugnis,   daß  ein  mit  dem  des  Griechischen  unkundigen  großen 


Einleitung.  e 

Gregor  gleichzeitig  lebender  Abt  von  Bangor  in  Ulster,  Sinlan  (Mosinu 
Mac  Cumin  f  6io),  einen  von  einem  griechischen  Weisen  verfaßten 
Computus  auswendig  lernte,  und  sein  Verwandter  und  Zögling  Mocuoroc 
Mac  Cumin  Semon  schrieb  dieses  griechische  Denkmal  nach  Diktat  seines 
Lehrers  auf  der  'Gehölz  von  Dunlethglaisse'  (heute  Downpatrick)  genannten 
Insel  nieder,  'damit  es  nicht  aus  der  Erinnerung  schwinde'. 

Neben   der  Gelehrsamkeit   ist   für  das  irische  Mönchtum  vom  o.  Jahr- i>cr  Wmaderuieb 
hundert   an   charakteristisch  eine  starke  Wanderlust.     Derselbe  Trieb,   der  '"V^  "  .,"'^.''" 

'  und  ihra  &'iiftoo 

in  Ag}'pten  Christen  in  die  Wüste  führte,  veranlaßte  schon  im  frühen  auf  dem 
6.  Jahrhundert  einzelne  irische  Mönche  oder  mehrere  zusammen  in  Gruppen  <"'«'"«>'■ 
von  3,  7  oder  u  unter  einem  Führer  sich  von  den  großen  Mönchskolonien 
—  was  die  irischen  Klöster  damals  waren  —  zu  einer  Art  Anachoreten- 
leben  zu  trennen.  Mit  Inselchen  in  den  Seen  und  Flüssen  Irlands  nicht 
fem  von  den  eine  Art  Stadt  bildenden  Klöstern  begnügte  man  sich  zuerst; 
von  hier  ging  man  dazu  über,  sich  auf  die  zahlreichen,  überall  der 
irischen  Küste  in  größerer  oder  geringerer  Entfernung  vorliegenden  Inseln 
zurückzuziehen,  in  mari  ercminn  quacrerc,  wie  der  Ausdruck  lautet;  und 
als  auch  diese  keine  Einsamkeit  mehr  boten,  vertraute  man  sich  in  ge- 
brechlichen Fahrzeugen  dem  nördlichen  Ozean  an  ad  quacrouiiim  in  oceano 
desertum:  so  kamen  irische  Mönche  allmählich  über  Hebriden,  Orkneys, 
Schettlandinseln  bis  Island,  vielleicht  sogar  an  die  Küste  von  Grönland 
und  Nordamerika.  Dieselbe  Wanderlust,  verbunden  mit  dem  Trieb  nach 
größerer  Zurückgezogenheit,  führte  zu  gleicher  Zeit  andere  Iren  nach  Süd- 
westbritannien,  von  iner  nach  der  aremorikanischen  Bretagne  und  weiter  ins 
Frankenreich  der  Merowinger,  Folgenschwer  wurde  ein  solcher  Zug,  den 
um  5QO  —  also  zu  Lebzeiten  der  beiden  als  Vertreter  abendländischer 
Bildung  im  Frankenreich  und  in  Italien  genannten  Gregore  —  ein  Ire 
mit  dem  kirchlich  lateinischen  Namen  Columban  unternahm.  Von  dem 
Kloster  Bangor  in  Ulster,  über  dessen  klassische  Bildung  gerade  zu  jener 
Zeit  wir  ein  Zeugnis  hörten,  brach  er  mit  \i  Genossen  auf,  unter  denen 
der  in  der  Folge  bekannteste  Gallus  war.  Von  der  Loiremündung,  wo  sie 
landeten,  durchzogen  sie  das  Frankenreich  und  ließen  sich  in  der  Einsam- 
keit der  Vogesen  (Anegray)  zu  beschaulichem  Leben  nieder.  Die  Zustände 
im  Frankenreich  zu  jener  Zeit  führten  aber  dazu,  daß  Columban  und  seine 
Genossen  über  ihren  nächsten  Zweck  hinauswuchsen,  Missionare  und  Lehrer 
des  Volkes  wurden,  in  dessen  Mitte  sie  zu  beschaulichem  Leben  sich 
niedergelassen  hatten.  Am  Orte  ihrer  ersten  Niederlassung  (Anegray^ 
gründeten  sie  zuerst  eine  Missionsstation,  bald  eine  zweite  auf  den 
Trümmern  des  verlassenen  römischen  Badeortes  Luxovium  (Luxeuil)  und 
eine  dritte  in  Fontaines.  Nach  mehr  als  zehnjähriger  Wirksamkeit  von  den 
verkommenen  Machthabern  im  Merowingerreich  zum  Rücktransport  nach 
Irland  bestimmt  gelang  es  Columban  mit  seinen  Genossen  unter  Über- 
windung mancher  Fährlichkeiten  um  6 lo  ins  Alemannenland  zu  entkommen. 
In    Bregenz    am    Bodensee    waren    diese    irischen    Mönche    drei    Jahre   als 


6       Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.   I.Spracheu.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Missionare  tätig,  von  wo  Columban  mit  einem  Teil  der  Gefährten  613  ins 
Langobardenland  zog'  und  am  Fuße  der  Apenninen  das  Kloster  Bobbio 
stiftete,  das  durchs  ganze  Mittelalter  den  Ruhm  hatte,  eine  Pflegestätte  der 
Bildung  im  weitesten  Sinne  zu  sein;  der  in  Bregenz  krank  zurückgebliebene 
Gallus  zog  mit  1 2  Genossen,  die  er  um  sich  sammelte,  tiefer  ins  Alemannen- 
land und  gründete  im  wilden  Steinachtale  eine  Missionsniederlassung,  aus 
der  die  Erzieherin   des  Alemannenlandes,   die  Abtei  St.  Gallen,   erwuchs. 

Die  Kunde,  die  von  der  Wirksamkeit  dieser  Männer  nach  Irland  drang, 
verbunden  mit  dem  Umstand,  daß  im  zweiten  Viertel  des  7.  Jahr- 
hunderts das  christliche  Irland  in  nähere  Beziehung  zum  Haupt  der 
römischen  Kirche  getreten  war,  führte  im  Laufe  des  7.  Jahrhunderts  zahl- 
reiche irische  Mönche  ins  Frankenreich,  wo  sie  an  vielen  Orten  Missions- 
stationen errichteten,  aus  denen  Franken  und  Alemannen  als  Schüler 
hervorgingen.  Am  Ende  des  7.  und  im  Beginn  des  8.  Jahrhunderts  er- 
streckt sich  ein  breiter  Gürtel  solcher  irischen  Missionsniederlassungen  von 
den  Mündungen  der  Maas  und  des  Rheines  bis  Rhone  und  Alpen:  soweit 
sie  nicht  von  Iren  direkt  gegründet,  sind  sie  Töchter  einer  irischen  Nieder- 
lassung. Selbst  nach  jenseits  des  Rheines  in  die  östlichen  Sitze  der  Franken 
und  zu  den  vom  fränkischen  Reich  unabhängigen  Bayern  dringt  das 
Missions  werk  der  Iren  vor,  wobei  gegen  Ende  des  7.  Jahrhunderts  der  Ire 
Kilian  mit  seinen  Genossen  Colman  und  Totman  im  Grenzgebiete  Ost- 
frankens und  Thüringens  den  Märtyrertod  erleidet.  • 

Höhere  Aufgaben  erwarteten  die  Iren  von  der  zweiten  Hälfte  des  8. 
bis  ins  10.  Jahrhundert  in  dem  von  ihnen  zum  Teil  dem  Christentum  ge- 
wonnenen Frankenreich  der  Karolinger.  Angelsachsen  strömten  schon 
durchs  ganze  7.  Jahrhundert  nach  Irland,  um  in  irischen  Klöstern  ihre 
theologische  und  gelehrte  Bildung  zu  vollenden:  'von  herdenartiger  Menge 
lernender  Schüler  voll',  'gleich  dem  Pole  durch  die  lichtverbreitenden 
Strahlen  funkelnder  Sterne  der  Wissenschaft  geziert'  nennt  gegen  das 
Jahr  690  der  Angelsachse  Aldhelm  Irland  mit  neidischem  Blick.  Auch 
einzelne  Franken  lockte  es,  dorthin  zur  Ausbildung  zu  gehen,  woher  die 
verehrten  Lehrer  kamen.  Als  aber  Pipins  tatkräftiger  Sohn  Karl  die  Für- 
sorge für  die  Bildung  seiner  Franken  und  der  übrigen  ihm  unterworfenen 
Völker  übernahm,  bot  sich  für  irische  Gelehrte  im  Frankenreich  selbst 
ein  dankbares  Feld,  und  Karl  der  Große  nahm  sie  mit  offenen  Armen  auf. 
Wie  im  7.  Jahrhundert  überall  im  Frankenreich  der  Merowinger  irische 
Mönche  als  Glaubensboten  auftreten,  um  heidnische  Germanen  dem 
Christentum  und  den  ersten  Segnungen  der  Kultur  zuzuführen,  so  er- 
scheinen von  Ende  des  8.  Jahrhunderts  überall  im  Frankenreich  der  Karo- 
linger an  gelehrten  Schulen  und  in  Klöstern  Iren  als  Schreiblehrer  und 
Unterweiser  in  allen  damals  gepflegten  DiszipUnen  des  Wissens,  der 
Grammatik,  Dialektik,  Rhetorik,  Astronomie  und  Arithmetik. 

Ein  irischer  Gelehrter  mit  dem  kirchlich  lateinischen  Namen  Clemens 
wurde    von    Karl    zum    Lehrer    seines    Enkels,    des    nachherigen    Kaisers 


Kinlcitunj^.  •, 

Lothar,  bestimmt  und  der  Hofschule  vorgeset/L,  in  die  im  ersten  Viertel 
des  9.  Jahrhunderts  aus  Fulda  und  anderen  Klöstern  die  fähigsten  jungen 
Leute  geschickt  wurden,  um  unter  Clemens  Grammatik  zu  studieren; 
unter  ihm  soll  sich  auch  die  allbekannte  Geschichte  von  den  reichen,  aber 
faulen  und  den  armen,  aber  fleißigen  Schülern  abgespielt  haben.  —  Gleich- 
zeitig mit  Clemens  lebte  in  St.  Denis  und  wahrscheinlich  an  der  Hofschule 
tätig  der  Ire  Dicuil:  er  ist  Grammatiker  und  Metriker,  speziell  aber 
Astronom  und  Geograph,  von  dem  ein  zwischen  814  und  816  verfaßtes 
astronomisches  Werk  und  ein  bekanntes,  wissenschaftlich  wertvolles  Lehr- 
buch der  Geographie  aus  dem  Jahre  825  herrühren.  —  Mit  beiden  Ge- 
nannten gleichzeitig  lebte  und  wirkte  unter  Karl  und  seinem  Nachfolger 
an  verschiedenen  Stellen  des  P>ankenreiches  der  Ire  Dungal:  im  Auftrage 
Karls  verfaßte  er  8 1 1  ein  wissenschaftliches  Gutachten  über  zwei  Sonnen- 
finsternisse des  vorhergehenden  Jahres;  nach  längerem  Aufenthalt  in 
St.  Denis  und  im  Kloster  des  heiligen  Augustin  bei  Pavia  wurde  er  82.5 
der  Akademie  von  Pavia  vorgesetzt,  welcher  die  Schüler  aus  Mailand, 
Brescia,  Lodi,  Bergamo,  Vercelli,  Como,  Genua  zugewiesen  wurden;  als 
Rektor  von  Pavia  verteidigte  er  827,  wie  vorhin  erwähnt,  die  oberitalischen 
Bischöfe  gegen  den  Spanier  Claudius.  —  Schon  eine  Generation  vor  diesen 
drei  Älännern  wirkte  in  Ostfranken,  tief  im  Bayernlande,  ein  anderer  ge- 
lehrter Ire,  Virgil.  Als  Abt  des  südirischen  Klosters  'Kuhfeld'  (altir.  Achad 
6(5,  heute  Aghaboe)  hatte  er  743  Irland  verlassen,  weilte  bei  Pippin  zwei 
Jahre  und  wurde  von  ihm  dem  Bayernherzog  Odilo  empfohlen,  der  ihn  747 
zum  Bischof  von  Salzburg  machte;  zugleich  Abt  von  St.  Peter  in  Salzburg 
stand  er  der  Diözese  bis  zu  seinem  Tode  im  Jahre  784  vor.  Als  Apostel 
der  Slawen  Karantaniens,  Urheber  des  wichtigen  Verbrüderungsbuches  von 
Sl  Peter  und  durch  andere  Seiten  seiner  fast  40jährigen  Tätigkeit  in  Bayern 
ist  er  neben  Bonifatius  die  bedeutendste  Persönlichkeit  der  deutschen 
Kirchengeschichte  des  8.  Jahrhunderts.  An  wissenschaftlichem  Geiste  über- 
ragte er  jenen  weit.  Dies  führte  zu  einem  Zusammenstoß.  Virgil  vertrat 
als  weißer  Rabe  auf  dem  Kontinent  im  8.  Jahrhundert  die  Kugelgestalt 
der  Erde  und  lehrte,  daß  es  Antipoden  gebe,  denen  Sonne  und  Mond 
auch  scheine.  Entsetzt  über  diese  kosmologischen  Anschauungen  denun- 
zierte Bonifatius  den  Mrgil  in  Rom  bei  Papst  Zacharias,  der  indessen 
offenbar  den  wissenschaftlichen  Interessen  Virgils  mehr  Verständnis  als 
der  beschränktere  Bonifaz  entgegenbrachte  und  in  einer  uns  unbekannten 
Weise  die  Angelegenheit  so  erledigte,  daß  Virgil  noch  35  Jahre  seinem 
Bistum  erhalten  blieb.  In  Irland  hatte  man  den  gelehrten  Landsmann 
nicht  aus  den  Augen  verloren,  irische  Annalen  melden  seinen  Tod.  wobei 
sie  ihm  den  bezeichnenden  Beinamen  'der  Geometer'  geben. 

Aus  der  großen  Zahl  der  im  Erankenreich  tätigen  gelehrten  Iren  seien 
für  Mitte  und  zweite  Hälfte  des  g.  Jahrhunderts  noch  drei  ausgehoben. 
HauptpHanzstätte  der  Bildung  für  Oberdeutschland  war  für  mehr  als  drei 
Jahrhunderte  die  irische  Gründuncf  im  wilden  Steinachtale,  St.  Gallen.    Alle 


8        Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.   I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgenx 

die  irischen  Mönche  und  Gelehrten,  die  vom  8.  Jahrhundert  ab  von  der 
Somme-,  Maas-  oder  Rheinmündung  aus  die  Rheinstraße  hinaufzogen,  um 
zu  den  Reliquien  der  Apostel  Petrus  und  Paulus  zu  wandern,  suchten  es 
möglich  zu  machen,  sei  es  auf  der  Hinfahrt,  sei  es  auf  der  Rückfahrt,  die 
berühmte  Gründung  ihres  Landsmannes  Gallus  zu  besuchen.  Manche 
ließen  sich  zum  Bleiben  bestimmen.  Der  Bedeutendste  unter  ihnen  ist 
Moengal.  Er  war  als  designierter  Abt  von  Bangor  in  Ulster,  wo  Gallus 
einst  seine  Bildung  genossen  hatte,  auf  der  Rückreise  von  Rom  mit  seinem 
Onkel  Marcus,  vermutlich  Klosterbischof  von  Bangor,  um  850  nach 
St.  Gallen  gekommen.  Durch  seine  Gelehrsamkeit  imponierte  er  den 
St  Gallener  Mönchen,  und  sie  überredeten  ihn,  dauernd  bei  ihnen  zu 
bleiben.  Unter  dem  Klosternamen  Marcellus  stand  er  an  20  Jahre  der 
St.  Gallener  Klosterschule  vor,  und  es  sind  noch  heute  von  ihm  in  den 
Jahren  853,  855,  860  ausgefertigte  Urkunden  erhalten.  Als  seine  speziellen 
Schüler  werden  Notker,  Ratpert  und  Tuotilo  genannt,  die,  nachdem  Iso  sie 
in  der  Theologie  vorgebildet  hatte,  Moengal,  'in  der  Theologie  und  den 
schönen  Wissenschaften  gleich  hervorragend,  in  die  sieben  freien  Künste, 
hauptsächlich  aber  in  die  Musik  einführte'.  Die  Zeit  dieser  drei  Schüler 
Moengals  bildet  den  Glanzpunkt  von  St.  Gallens  Ruhm,  in  ihnen  hat  die 
St.  Gallener  Sängerschule  ihren  ersten  Höhepunkt  erreicht.  Das  St.  Gallener 
Totenbuch  erwähnt  seinen  Tod  zum  30.  September  (871)  als  ohitus  Moengal 
cognomcnto  Marcelli  viri  doctissimi  et  optimi.  Es  blieb  V.  Scheffel  vor- 
behalten, das  Bild  des  Mannes  zu  verzerren. 

Kurz  vorher,  ehe  Moengal  in  St.  Gallen  eintrat,  um  848  erschien  eines 
Tages  bei  Schneegestöber  und  grimmer  Kälte  müde  und  hungrig  im 
Domstift  zu  Lüttich  ein  irischer  Gelehrter  mit  Namen  Sedulius.  Einen 
Mann  von  seiner  gelehrten  Bildung  konnte  man  hier  gebrauchen,  und  er 
ist  von  848  —  858  in  Lüttich,  Köln  und  Metz  als  Lehrer  und  Schriftsteller 
tätig.  Er  besaß  neben  theologischer  Bildung  Kenntnisse  in  der  Mythologie 
und  Geschichte  der  Alten,  beherrschte  die  lateinische  Sprache  in  vollendeter 
Weise  und  war  mit  dem  Griechischen  wohl  vertraut,  wie  auch  noch  ein 
von  seiner  Hand  geschriebener  griechischer  Psalter  uns  erhalten  ist. 

Mindestens  gleichstehend  den  genannten  irischen  Gelehrten  an  Umfang- 
des  Wissens,  an  Originalität  des  Denkens  sie  übertreffend  war  ihr  Lands- 
mann Johannes,  der  sich  bald  den  Beinamen  Scottus  'Ire',  bald  Eriugena 
'in  Irland  geboren'  beilegte.  Auch  er  kam  um  840  ins  Frankenreich,  wo 
er  das  Glück  hatte,  bald  eine  Stelle  an  der  Hofschule  des  wißbegierigen 
westfränkischen  Herrschers  Karls  des  Kahlen  zu  finden,  der  er  später  sogar 
vorgesetzt  wurde;  er  lebte  noch  877.  Gelegenheitsgedichte  in  lateinischer 
und  griechischer  Sprache  für  seinen  Gönner  Karl  den  Kahlen  sind  er- 
halten; im  Auftrage  des  letzteren  machte  er  eine  lateinische  Übersetzung 
der  Schriften  des  sogenannten  Dionysius  Areopagita,  in  denen  der  Neu- 
platonismus  christianisiert  auftritt.  Sein  Hauptwerk  ist  jedoch  sein  vor 
865  abgefaßtes  System  der  Philosophie  (irepi  cpvjceiuq  )Liepicr|Liou  id  est  De  divi- 


Einleitung.  q 

sione  natural') ^  in  dem  er  es  wagte,  die  Philosophie  als  selbständige  und 
ebenbürtiei'e  Wissenschaft  neben  die  Theologie  zu  stellen.  Der  Arm  Karls 
des  Kahlen  schützte  den  gelehrten  Iren  vor  der  Notwendigkeit,  in  Rom 
sich  wegen  einer  Schrift  über  die  Prädestinationslehre  verantworten  zu 
müssen.  Johannes  Eriugena  war  der  hervorragendste  Vertreter  christlich- 
antiker  Bildung,  den  Irland  in  jenen  Jahrhunderten  nach  dem  Kontinent 
schickte;  schon  aus  einem  Grunde:  Kenntnis  des  Griechischen  ist  in  jener 
Zeit  im  Abendland  der  höchste  Ausdruck  dieser  Bildung,  und  hierin  war 
Johannes  allen  seinen  damaligen  Landsleuten  überlegen.  Wo  immer  aber 
im  Frankenreich  im  Laufe  des  9.  Jahrhunderts  jemand  Griechisch  kann, 
steht  er  unter  dem  \^erdacht,  ein  Ire  zu  sein,  oder  bei  einem  Iren  in  die 
Schule  gegangen  zu  sein. 

Zur  Aneignung  und  für  den  Betrieb  der  Wissenschaften  waren  neben  L>er  Aatf.i  der 
tüchtigen  Lehrern   damals   ebenso  wie  heute  Bücher  nötiof.     Diese  Bücher ..  ,^?"  *"  **" 

"  °  Erhaltung  älterer 

aber,  d.  h.  Handschriften,  waren  in  dem  Frankenreich  der  Merowinger  und      Literatur 
Karolinger  infolge  der  Verheerung  der  Völkerwanderung  fast  ebenso  selten 
wie  die  Gelehrten.     Dies  ist  die  zweite  Lücke,  in  die  die  irischen  Mönche 
des  7.  und  8.  Jahrhunderts  und  die  irischen  Gelehrten  des  9.  Jahrhunderts 
helfend   eintraten.     Zur  Reiseausrüstung   des   irischen  Mönches  im  7.  Jahr- 
hundert wie  des  irischen  Gelehrten  im  9.  Jahrhundert  gehörte  ein  lederner 
Quersack    mit   Schreibtäfelchen    und    einer    kleinen    Handbibliothek.      Von 
Moengal   berichtet  Ekkehart  ausdrücklich,    daß  er  die  Bücher,  die  er  und 
sein  Onkel  auf  der  Reise  mit  sich  führten,  für  sich  und  das  Kloster  zurück- 
behielt,  während   die   sonstigen  Besitztümer  den   in   die  Heimat  ziehenden 
Genossen  gegeben  wurden.    So  kamen  Bücher  in  Fülle  nach  allen  Klöstern 
des  Frankenreiches,  die  im  7.  Jahrhundert  von  Iren  gegründet  wurden,  oder 
in  die  irische  Mönche  und  Gelehrte  bis  zum  10.  Jahrhundert,  sei  es  dauernd, 
sei    es    vorübergehend,    eintraten.      Die    öffentliche    KlosterbibHothek    von 
Bobbio   besaß   nach   einem   Katalog  des    10.  Jahrhunderts  allein  40  Bände 
als  Geschenk   eines  Iren  Dungal.     In  dem  gegen  850,  aber  vor  Moengals 
Ankunft   verfaßten   alten   Katalog   der  St.  Gallener   Bibliothek   werden   an 
der  Spitze  vor  dem  Sachkatalog  30  Bände  'in  irischer  Schrift'  aufgeführt. 
In   Irland   hatte   sich   nämlich   im   5.  und  6,  Jahrhundert   während   der  Iso- 
lierung ein  eigenartiger  Duktus  des  lateinischen  Alphabets  herausgebildet, 
den   auch    die    Angelsachsen    im    7.  Jahrliundert   von   irischen  Lehrern   an- 
nahmen.    Diese  irische  Schrift  ermöglicht  es  uns,  zu  bestimmen,  was  von 
irischen,    d.  h.  von    Iren   geschriebenen    Handschriften   aus  jener  Zeit   sich 
noch  auf  dem  Kontinent  befindet    Die  Zahl  der  vollständigen  Handschriften, 
Fragmente  und  Blätter  von  derartigen  Handschriften  aus  dem  7.  bis  r  i.  Jahr- 
hundert   beträgt    heutigentags    117    in    kontinentalen    Bibliotheken     ohne 
die   irischen    Handschriften    in    den    beiden    großen   Sammelbecken    mittel- 
alterlicher Handschriften,  der  Vaticana  in  Rom  und  der  Biblioth«'*que  natio- 
nale  in    Paris.     Erwägt   man,    daß    von    den    30    Handschriften    in    irischer 
Schrift  des   alten   St.  Gallener  Katalogs   unter  den    auf  uns   gekommenen 


10     Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.   I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

117  in  kontinentalen  Bibliotheken  sich  nur  eine  vollständige  befindet  und 
zehn  in  Sammelbänden  erhaltene  Fragmente  von  Handschriften  mit  irischer 
Schrift,  so  bekommt  man  einen  annähernden  Maßstab,  welche  Handschriften- 
schätze aus  Irland  in  jenen  Jahrhunderten  nach  dem  Kontinent  gekommen 
sein  müssen,  um  die  durch  die  Stürme  der  Völkerwanderung  hier  gerissenen 
Lücken  auszufüllen.  Was  von  Schriften  über  göttliche  und  menschliche 
Dinge  im  8.  bis  10.  Jahrhundert  von  den  Gelehrten  jener  Zeit  geschätzt 
wurde,  hat  seinen  Repräsentanten  unter  diesen  Handschriften  und  befand 
sich,  wie  durch  die  alten  Kataloge  des  9.  und  10.  Jahrhunderts  bezeugt 
wird,  in  den  beiden  Klöstern  —  Bobbio  und  St.  Gallen  — ,  die  als  Re- 
präsentanten irischer  Bildung  auf  dem  Kontinent  fürs  9.  Jahrhundert  gelten 
können:  neben  der  Theologie  im  weitesten  Sinne  wurden  Grammatik, 
Metrik,  Astronomie,  Medizin  gepflegt  und  nicht  zum  wenigsten  die  Vor- 
bilder klassischen  Altertums,  vor  allem  Horaz,  Virgil,  Ovid,  Juvenal, 
Martial,  Persius,  Terenz,  Cicero  sind  häufiger  vertreten.  Unsere  Kenntnis 
der  lateinischen  Literatur  des  Altertums  würde  ohne  diese  Iren  noch  viel 
lückenhafter  sein,  als  sie  es  jetzt  schon  ist:  von  manchen  Klassikern  ge- 
hören die  irischen  Handschriften  und  die  Abschriften  von  ihnen  zu  den 
wertvollen  der  Überlieferung;  andere  minder  hervorragende  Werke  der 
lateinischen  Literatur  sind  überhaupt  nur  so  auf  uns  gekommen,  daß  sie 
mit  der  christlich -klassischen  Bildimg  vor  der  Isolierung  Irlands  im  Zeit- 
alter der  Völkerwanderung  dorthin  gelangt  waren  und  von  gelehrten  Iren 
im  8.  und  9.  Jahrhundert  in  Abschriften  wieder  nach  West-  und  Mitteleuropa 
gebracht  wurden.  Zu  verkennen  ist  allerdings  nicht,  daß  manche  lateinische 
Handschrift  mit  irischem  Duktus  aus  dem  9.  bis  11.  Jahrhundert  auch  von  den 
auf  dem  Kontinent  weilenden  irischen  Gelehrten  von  älteren  kontinentalen 
Handschriften  abgeschrieben  sein  kann.  Es  darf  jedoch  dies  Moment  nicht 
überschätzt  werden,  da  nach  sicheren  Zeugnissen  —  Moengal  in  St.  Gallen 
im  9.  Jahrhundert,  Marianus  Scottus  in  Regensburg  im  11.  Jahrhundert  — 
die  nach  dem  Kontinent  kommenden  Iren  sehr  bald  den  kontinentalen, 
sogenannten  fränkischen  Duktus  der  Lateinschrift  annahmen,  da  die  Hand- 
schriften mit  dem  irischen  Duktus  in  kontinentalen  Klöstern  zum  Lesen 
ähnlich  unbequem  waren,  wie  heute  einem  Franzosen  oder  Engländer  ein 
lateinisches  Buch  in  sogenannter  deutscher  Schrift  sein  würde,  und  daher, 
wie  der  alte  St.  Gallener  Katalog  gegen  850  ausweist,  in  den  Kloster- 
bibliotheken beiseite  gestellt  wurden.  Ausgeglichen,  und  mehr  als  das, 
wird  das  bei  Anlegung  des  irischen  Duktus  als  Maßstab  für  Herkunft  der 
Handschriften  für  Irland  sich  etwa  ergebende  Mehr  durch  den  Umstand, 
daß  wir  umgekehrt  manche  wertvolle  lateinische  Handschrift  des  8.  bis 
II.  Jahrhunderts  mit  kontinentalem  Duktus  haben,  deren  Vorlage  aus 
Irland  gekommen  und  nach  gemachter  Abschrift  untergegangen  ist.  Wir 
haben  hierfür  schlagende  Beispiele. 

Aber   nicht    nur   Bewahrer    und    Überlieferer   älterer    klassischer    und 
kirchlicher  Literatur  waren  diese  irischen  Gelehrten;   sie  waren  auch  pro- 


RinIcitunfT.  j  j 

duktiv  literarisch  tätig.  \'oii  Columban,  dem  Gründer  ßobbios,  über 
Clemens,  den  maxister  palatinus  Karls  bis  auf  den  Johannes  Eriugena,  den 
Rektor  an  der  Hofschule  Karls  des  Kahlen,  sind  die  Iren  zu  bedeutendem 
Teile  die  Träger  der  gelehrten  und  schönen  Literatur  in  lateinischer 
Sprache  fürs  7.  bis  10.  Jahrhundert,  wo  ohne  sie  eine  große  Lücke  klaffen 
würde.  Sie  bilden  also  auch  in  der  Hinsicht  das  Bindeglied  zwischen 
Altertum  und  Mittelalter. 

Nicht  der  geringste  Wert  aber  der  aus  dem  8.  bis  11.  Jahrhundert  in 
unseren  kontinentalen  Bibliotheken  erhaltenen  Handschriften  irischer  Her- 
kunft und  Fragmenten  von  solchen  besteht  darin,  daß  in  44  derselben 
größere  oder  geringere  Stücke  und  Bruchstücke  altirischer  Sprache  des 
8.  bis  1 1.  Jahrhunderts  in  zeitgenössischer  Lautwiedergabe  uns  erhalten  sind, 
auf  Grund  deren  C.  Zeuß  die  Grammatik  der  altirischen  Sprache  schrieb 
und  so  mit  seiner  Begründung  einer  historischen  Grammatik  der  erhaltenen 
keltischen  Dialekte  die  keltische  Philologie  schuf. 

Die  Mission  der  Iren  auf  dem  Kontinent  war  mit  Ende  des  <).  und 
beginnendem  10.  Jahrhundert  erfüllt.  Zwar  dauern  die  Wanderungen 
irischer  Mönche,  besonders  in  den  Gebieten  des  Rheines  auf  den  alten 
Wanderstraßen,  noch  durchs  1 1.  Jahrhundert,  ja  länger  fort,  aber  es  ist 
nur  mehr  die  ihnen  innewohnende  Wanderlust,  die  sie  treibt,  in  der  Fremde 
als  Klausner  ihr  Leben  zu  beschließen.  Sie  sind  als  Glaubensboten  nicht 
mehr  nötig  und  noch  weniger  vom  10.  Jahrhundert  ab  als  Lehrer  unter 
Romanen  und  Germanen,  die  anfingen,  ihre  irischen  Lehrmeister  zu  über- 
treffen und,  wofür  wir  Zeugnisse  haben,  verächtlich  auf  die  unter  ihnen 
erscheinenden  irischen  Epigonen  herabzublicken.  Es  war  nämlich  in  Irland 
selbst,  das  mit  dem  Vikingerzeitalter  gewissermaßen  seine  Völkerwanderung 
erlebte,  ein  allgemeiner  Niedergang  des  geistigen  Lebens  eingetreten,  der 
bewirkte,  daß  Irland  selbst  vom  10.  Jahrhundert  ab  keine  Gelehrten  mehr 
aufzuweisen  hatte  wie  die  aus  der  Fülle  der  Iren  auf  dem  Kontinent  oben 
ausgewählten  Repräsentanten  irischer  Bildung  des  8.  und  9.  Jahrhunderts. 
Gewiß  war  unter  den  letzteren  kein  originaler  Kopf;  den  Ruhm,  der  Erkennt- 
nis neue  Bahnen  geöffnet  zu  haben,  kann  keiner  unter  ihnen  beanspruchen. 
Aber  als  Lehrer  auf  allen  Gebieten  des  damaligen  Wissens,  als  Inhaber 
und  Träger  einer  höheren  Kultur,  als  zu  jener  Zeit  auf  dem  Kontinent 
heimisch  war,  haben  sie  Romanen  und  Germanen  das  in  Irland  bewahrte 
geistige  Erbe  des  Altertums  übermittelt:  sie  haben,  auf  den  von  ihren 
missionierenden  Landsleuten  im  7.  Jahrhundort  zum  Teil  gegrabenen 
Fundamenten  weiterbauend,  als  Schulmeistor  West-  und  Mittoleuropas  im 
8.  und  9.  Jahrhundert  für  die  abendländische  Kultur  auf  dem  Kontinent 
in  erster  Linie  die  Grundsteine  gelegt,  auf  denen  unsere  Zeit  fortbauL 

Auf  anderem  Gebiete  liegt  die  Einwirkung,  die  200  Jahre  später  von     iw  tuaflu« 
einem  Gliede  des  zweiten  Zweiges  der  Inselkelten,  des  britischen,   auf  die  ^^^*'^^J^^^ 
Völker    romanischer    und    germanischer    Zunge    ausgeübt    wurde:    es    sind   „n  Mitt*tah«r. 


I  2     Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.Sprache  u.  Literatur  d. Kelten  im  allgem. 

Erzeugnisse  der  Phantasie  der  Kelten  britischer  Zunge,  wesentlich  in  der 
Gestalt,  die  sie  bei  den  Bretonen  gewonnen  hatten,  die  im  12.  und  13. 
Jahrhundert  bedeutenden  Einfluß  auf  das  Geistesleben  des  Abendlandes 
gewannen,  einen  Einfluß,  der  bis  auf  unsere  Tage  in  der  Literatur  fortlebt. 
Vor  den  Einfällen  und  Raubzügen  der  Sachsen  in  Südbritannien 
flüchteten  im  5.  bis  7.  Jahrhundert  fortwährend  Scharen  von  britischen 
Kelten  an  die  Gestade  des  gegenüberliegenden  aremorikanischen  Küsten- 
landes, das  nur  dünn  mit  sprachlich  romanisierten  Bewohnern  besetzt  war. 
Sie  brachten  ihr  Christentum,  ihre  Einrichtungen  mit  und  bewahrten  ilir 
britisches  Keltenidiom  in  der  neuen  Heimat,  nach  ihnen  Britannia  minor 
(Bretagne)  genannt.  Es  gelang  ihnen,  ihre  Herrschaft  und  damit  ihre 
Sprache  immer  weiter  nach  Osten  in  dem  alten  Aremorica  vorzuschieben, 
so  daß  in  der  Zeit  der  größten  Ausdehnung-  bretonischer  Macht  im  9.  Jahr- 
hundert bretonische  Zunge  fast  bis  zu  einer  Linie  Avranches -Rennes- 
Nantes  vorgedrungen  war,  wenn  auch  im  östlichen  Teil  noch  stark  durch- 
setzt mit  sprachlich  nicht  assimilierten  Romanen.  Von  geistigen  Gütern 
hatten  diese  Briten  alte  gemeinkeltische  und  britische  Sagenelemente 
und  Sagenzüge  mitgebracht;  vor  allem  aber  begleitete  sie  in  die  neue 
Heimat  die  Figur  des  nationalbritischen  Sagenhelden  Arthur.  In  den 
Kämpfen  gegen  Sachsen  und  Angeln  in  zweiter  Hälfte  des  5.  Jahrhunderts 
britische  Scharen  anführend  und  an  verschiedenen  Punkten  des  bedrohten 
Gebietes  siegreich,  wurde  Arthur  bald  nach  seinem  Tode  bei  der  weiter 
wachsenden  Übermacht  der  germanischen  Eroberer  der  Nationalheros  der 
Briten,  von  dessen  Wiederkehr  man  die  Verjagung  der  verhaßten  Ein- 
dringlinge erwartete.  Überall,  wo  Briten  auf  der  Bresche  standen  gegen 
germanische  Eindringlinge,  gegen  Angeln  am  Hadrianswall,  wie  gegen 
Sachsen  in  den  Bergen  von  Wales  und  Cornwall,  erzählte  man  Arthurs 
Taten  und  ließ  sich  durch  sie  anfeuern.  Sowohl  hoch  oben  in  Britannien 
(Cumberland)  als  in  Cornwall  wehrte  man  sich  tapfer  gegen  Angeln  und 
Sachsen  bis  ins  letzte  Viertel  des  10.  Jahrhunderts,  in  Wales  sogar  noch 
300  Jahre  länger,  und  als  man  politisch  unterlegen  war,  da  dauerte  der 
geistige,  passive  Widerstand  gegen  den  gleich  dem  leibhaftigen  Teufel 
gehaßten  Sais  'Engländer'  (eigentlich  'Sachse'  aus  Saxo)  fort,  in  Wales 
mehr  oder  weniger  versteckt  bis  heute;  natürlich  ist,  daß  hier  in  Bri- 
tannien der  Charakter  der  Arthursage  als  reine  Heldensage  gewahrt 
blieb,  und  so  kennt  der  um  die  Wende  des  8.  und  9.  Jahrhunderts 
schreibende  südwelsche  Historiker  Nennius  den  Arthur  nur  als  dux  bellorurn, 
der  mit  den  britischen  Königen  [cum  regibiis  Britonum\  also  als  ihr  Feld- 
herr, kämpfte. 
EntWickelung  Andcrc  Wege  schlug  die  Arthursage  bei  den  Briten  der  neuen  Kolonie 

der  Arthursage  \^  Kleinbritannien  ein.  Bei  ihnen  mußten  die  Kämpfe  gegen  Angeln  und 
Sachsen,  die  den  Hintergrund  der  Sage  bildeten,  nach  und  nach  ver- 
blassen und  unverständlich  werden,  zumal  als  vom  7.  Jahrhundert  an  die 
bis  dahin  engen  Beziehungen  zu  den  Volksgenossen  des  Mutterlandes  sich 


Einleitung.  I  a 

mehr  und  mehr  lockerten,  in  dem  Maße  als  sich  die  sächsische  Herrschaft 
über  Somerset,  Devonshire  nach  Comwall  ausbreitete.  So  wurde  in 
Ivleinbritannien  Arthur,  zuerst  nur  Träger  der  alten  Heldensage,  zum 
Träger  der  aremorikanisch-britischen  Sage  überhaupt:  er  gab  den 
Kristallisationspunkt  ab  für  die  aus  der  alten  Heimat  mitgebrachten  ge- 
meinkeltischen und  britischen  Sagenelemente,  der  weiterhin  anzog,  was 
im  Laufe  der  Jahrhunderte,  bis  ins  i  i.  Jahrhundert,  aus  bretonischer 
Geschichte  in  die  Sage  geriet,  und  was  durch  die  Berührung  der  bretonen 
mit  ihren  fränkischen  und  romanischen  Nachbarn  an  Sagenelementen  nach 
der  Bretagne  kam.  Es  wurde  also  die  aus  der  gemeinbritischen  Helden- 
sage des  5.  und  6.  Jahrhunderts  entstandene  bretonische  Arthursage  zu- 
nächst nach  Ortlichkeiten  und  Personen  stark  bretonisiert:  so  kamen 
um  nur  einiges  zu  nennen,  der  Wald  von  Br^ch^liant  (Broc^liande)  und 
die  Quelle  B^renton  (Baranton),  bekannte  Ortlichkeiten  der  Bretagne,  in 
die  Sage,  ferner  Nantes,  Vannes  (Guenet,  Gohennet),  Carhais  u.  a.;  so 
Erec,  Karadoc  Bricbras  (Karadoc  Brechbras)  und  der  bis  heute  in  bre- 
tonischer Sage  lebende  mächtige  Herrscher  der  Niederbretagne  Gradlonus 
magnus  de  Finibus  terrae  in  zwei  Figuren,  als  Grahelent  de  Fine  posterne 
und  Graislemier  (entstellt  aus  Graelen  meur).  Dadurch,  daß  die  den  are- 
morikanischen  Bretonen  allmählich  unverständlich  gewordene  geographische 
Grundlage  der  alten  mitgebrachten  Heldensage  nicht  getilgt,  entstand  in 
der  bretonischen  Arthursage  ein  geographisches  Halbdunkel:  bald  sind  die 
Figuren  an  Ortlichkeiten,  die  wir  in  Großbritannien  suchen  müssen,  bald 
an  solchen,  die  sicher  in  der  aremorikanischen  Kleinbretagne  liegen,  ohne 
daß  die  Sage  oder  deren  Erzähler  daran  Anstoß  nahmen  oder  die  Helden 
von  einem  Lande  zum  anderen  übersetzen  lassen;  dies  wurde  natürlich  da- 
durch begünstigt,  daß  sowohl  die  alte  Heimat  als  die  neue  bei  den 
Bretonen  einfach  Bretagne  {Brei::  =  Briftia)  hießen. 

Politische  Verhältnisse  des  9.  Jahrhunderts  führten  zur  allmählichen 
Rückromanisierung  des  in  vorangegangener  Zeit  schon  in  gewissem  Um- 
fange sprachlich  bretonisierten  östlichen  Teiles  der  Bretagiie,  der  heutigen 
Haute-Bretagne,  und  gerade  in  diese  vom  10.  Jahrhundert  ab  sprachlich 
größtenteils  romanische  Hälfte  wurde  von  g36  an  der  politische  Schwer- 
punkt (Rennes  und  Nantes)  des  Bretonenstaates  verlegt  Durch  die  engen 
Beziehungen,  in  die  man  zu  den  französischen  Nachbarn  trat,  wurde  man 
in  der  Bretagne  mit  der  Karlssage  (Charlemagne)  der  romanisierten  Franken 
bekannt.  Werden  die  Kelten  mit  den  Sagenhelden  fremder  Nülker  be- 
kannt, so  haben  sie  zwei  Methoden,  sich  mit  ihnen  abzufinden:  die  eine 
ist,  daß  sie  dem  fremden  Sagenhelden  den  eigenen  Haupthelden  im 
Kampfe  gegenüberstellen  und  natürlich  den  fremden  unterliegen  la5sen; 
diese  Methode  befolgt  die  Sage  der  Iren,  die  überall,  wo  sie  tatsächlich  frem- 
den Völkern  gegenübertreten  (Vikinger  im  q.  und  10.  Jahrh.,  Anglonormannen 
\i.  und  13.  Jahrh.,  Engländer  16,  und  17.  Jahrh.),  unterliegen,  aber  vom  9.  bis 
19.  Jahrhundert  in  der  Sage  immer  glänzend  siegen.    Die  andere  Methode 


14     Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.Sprache  u. Literatur  d. Kelten  im  allgem. 

ist,  das,  was  man  am  fremden  Sagenheld  bewundert,  auf  den  eigenen  zu 
übertragnen,  aber  natürlich  mit  kolossaler  Übertreibung,  was  dem  Kelten 
bei  seiner  lebhaften  Phantasie  und  Talent  zum  Aufschneiden  nicht  schwer 
fällt.  Diesen  Weg  beschritten  die  Bretonen,  als  sie  die  französische  Karls- 
sage kennen  lernten.  Nach  dem  Vorbild  von  Charlemagne  und  seinen 
zwölf  Pairs  bildeten  sie  Arthur  mit  der  Tafelrunde  um.  In  der  kym- 
rischen  Literatur  haben  wir  das  bestimmte  Zeugnis,  daß  der  südwelsche 
Fürst  Rhys  ab  Tewdwr,  der  in  der  aremorikanischen  Bretagne  gewesen 
war,  von  dort  anno  1077  die  Kunde  von  einer  Tafelrunde  Arthurs  nach 
Wales,  wo  sie  natürlich  unbekannt  war,  gebracht  habe.  Also  um  die 
Mitte  des  11.  Jahrhunderts  war  die  allmähliche  Umwandlung  der  gemein- 
britischen  nationalen  Heldensage  des  5.  und  6.  Jahrhunderts  zur  roman- 
tischen Arthursage  der  aremorikanischen  Bretonen  vollzogen. 
Erzählungen  daraus  wanderten  bei  den  seit  Mitte  des  10.  Jahrhunderts  in 
jeder  Hinsicht  engen  Beziehungen  der  Bretonen  zu  Franzosen  und  Nor- 
mannen durch  doppelsprachige  oder  bloß  romanisch  redende  bretonische 
Sagenerzähler  der  Haute -Bretagne  zu  Normannen  und  Franzosen,  machten 
aber  auf  die  Träger  der  Literatur  bei  diesen  zunächst  keinen  Eindruck. 

Ein  wichtiges  Ereignis  für  die  Weiterentwickelung  der  romantischen 
Arthursage  war  der  Zug  Wilhelms  des  Eroberers  nach  England  im  Jahre 
1056.  Zahlreiche  Bretonen  unter  bretonischen  Führern  zogen  als  Hilfs- 
truppen mit  den  Normannen  nach  England,  wo  sie  Gelegenheit  fanden,  am 
alten  Erbfeind  des  Britentums,  dem  verhaßten  Sachsen,  Rache  zu  nehmen. 
Bretonische  Führer  wurden  im  Norden  von  England,  wo  damals  britische 
Rede  noch  nicht  ganz  ausgestorben  war,  von  Wilhelm  mit  Land- 
schenkungen belehnt,  andere  in  Devonshire  und  Cornwall,  wo  gleichfalls 
teils  rein  keltisches,  teils  erst  mangelhaft  der  keltischen  Sprache  entfrem- 
detes Gebiet  war.  Überall  aber,  in  Cumberland  wie  an  der  Grenze  von 
Südwales  und  in  Devonshire -Cornwall,  fanden  diese  Bretonen  den  Helden 
ihrer  romantischen  Sage  im  Munde  des  Volkes  wieder.  Auch  auf  die 
normannischen  Eroberer  mußte  diese  Tatsache  Eindruck  machen.  In  diese 
Stimmung  fiel  eine  bedeutsame  literarische  Erscheinung.  Ebenso  wie  die 
aremorikanischen  Bretonen  mit  dem  britischen  Arthur  der  Heldensage 
von  1056  ab  neu  bekannt  wurden,  war  man  seit  jener  Zeit  in  Devonshire- 
Cornwall  und  von  der  Wende  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  in  Südostwales  in- 
folge der  engen  Beziehungen  zu  den  Anglonormannen  mit  der  roman- 
tischen Arthursage  der  Bretonen  vertraut  geworden.  Dadurch  angeregt 
schrieb  der  sich  als  Historiker  gebärdende  südwelsche  Fabulator  Gottfried 
von  Monmouth  eine  Historia  regum  Britanniae  (anno  11 3  5):  eine  aus 
Sagen  und  eigenen  Erfindungen  bestehende,  Aufsehen  erregende  Ge- 
schichtsklitterung-, in  der  Gottfried,  unter  Berufung  auf  ein  bretonisches 
Buch,  dem  Arthur  der  britischen  nationalen  Heldensage  einen  ganz  her- 
vorragenden Raum  gewährte,  eine  Figur  aus  ihm  machte,  in  der  Arthur 
der  britisch-kymrische  Nationalheld  mit  dem  nach  der  fränkischen  Karls- 


Einleitung.  i  c 

sage  zu  einem  mächtigen  Herrscher  und  Hroberer  umgestalteten  Arthur 
der  romantischen  Sage  der  Bretonen  verschmolzen  war.  Durch  die  Be- 
arbeitung dieses  lateinischen  Werkes  in  normannischer  Sprache  durch 
Wace  (anno  1155"»,  der  sich  mancherlei  Zusätze  aus  bretonischen  P>zäh- 
lungen  erlaubte,  wurde  der  ganze  Sagenstoff  über  Arthur  literaturfähig, 
und  nun  fanden  die  Erzählungen  aus  der  romantischen  Arthursage  der 
Bretonen  die  Beachtung  in  der  schönen  Literatur  der  Franzosen,  die  ihnen 
bisher  versagt  geblieben  war.  Allerdings,  so  wie  vor  dem  Zuge  Wilhelms 
nach  England  (anno  1056)  war  ein  Jahrhundert  später  die  Sage  nicht  mehr 
ganz:  einmal  blieb  das  Bekanntwerden  der  Bretonen  mit  der  entschieden 
älteren  Gestalt  der  Sage  in  Xordbritannien,  Wales  und  Devonshire- Com  wall 
nicht  ohne  Einfluß,  der  sich  darin  vor  allem  zeigte,  daß  die  romantische 
bretonische  Arthursage,  soweit  die  Szenerie  in  Betracht  kommt,  etwas 
rückbritannisiert  wurde,  also  Ortlichkeiten  Großbritanniens,  von  denen  man 
nach  1050  als  Stätten  der  damaligen  britischen  Arthursage  erfuhr,  in  die 
bretonische  Gestalt  der  Sage  eingeführt  wurden;  besonders  Franzosen 
mußten  unter  dem  Banne  von  Gottfrieds  angeblichem  Geschichtswerk 
leicht  dazu  verführt  werden,  weil  ihnen  die  oben  erwähnte  aremorikanisch- 
bretonische  Szenerie  wenig  klar  war,  und  so  läßt  sich  nicht  verkennen, 
daß,  je  jünger  die  Texte  werden,  um  so  stärker  wieder  die  Verleg\ing 
nach  Großbritannien,  ja  Wales  zutage  tritt.  Dazu  kam  weiter  der  literarische 
Einfluß  der  durch  die  normannische  Übersetzung  des  Wace  verbreiteten 
Geschichtsklitterung  des  Gottfried  von  Monmouth. 

Chrestien  von  Troyes,  ein  großer  Dichter  der  Franzosen,  nahm  (i  168  bis 
1191)  aus  diesen  allmählich  in  Xordfrankreich  heimisch  gewordenen  Arthur-  Die  ArtharMje 
erzählungen  und  anderen  durch  bretonische  Sagenerzähler  ausgebauten 
und  verbreiteten  Sagen  das  Rohmaterial  zu  mehreren  seiner  die  höfischen 
Kreise  damaliger  Zeit  entzückenden  Meisterwerke  (Erec,  Cliges,  Chevalier 
de  la  Charette,  Chevalier  au  Lyon,  Perceval  le  Gallois,  Del  roi  ^Lirc  et 
d'Isalt).  Einen  Siegeslauf  sondergleichen  zu  den  an  nationalen,  klassischen 
und  orientalischen  Stoffen  gesättigten  germanischen  und  romanischen  Völ- 
kern traten  diese  zu  Trägern  der  Ideen  der  höfischen  Gesellschaft  benutzten 
bretonischen  Stoffe  an;  selbst  in  Wales  lockte  das  Gewand,  in  dem  Helden 
der  einheimischen  Sage  in  den  französischen  Dichtungen  auftraten,  einzelne 
dieser  Werke  in  kymrischer  Sprache  zu  bearbeiten  (Jarlles  y  BYynnawn, 
Gereint  ab  Erbin,  Peredur  ab  Efrawc).  Arthurs  Name  wurde  weiter  be- 
kannt, als  das  Reich  war,  das  ihm  bretonische  Erzähler  und  der  fabulierende 
Gottfried  von  Monmouth  andichteten:  von  Lsland  bis  nach  Unteritalien, 
von  Polen  bis  nach  Spanien.  In  Deutschland  verdanken  so,  von  Dichtem 
zweiten  und  dritten  Ranges  abgesehen,  unsere  bedeutendsten  höfischen 
Epiker  um  die  Wende  des  12,  und  13.  Jahrhunderts  —  Hartmann  von  Aue 
(Iwein,  Erec),  Gottfried  von  Straßburg  (Tristan  und  Isolde),  Wolfram  von 
Eschenbach  (Parzival)  —  das  Rohmaterial  zu  ihren  klassischen  Werken  in 
letztem  Grunde  der  Phantasie  der  bretonischen  Kelten. 


in  der 
Weltliteratar. 


1 6     HEI^fRICH  Zlmmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Noch  bis  ins  i6.  Jahrhundert  war  in  England,  Frankreich  und  Deutsch- 
land ein  lebhaftes  Interesse  für  diese  nun  in  Form  von  Prosaromanen  und 
Prosavolksbüchem  bearbeiteten  bretonischen  SagenstofFe  vorhanden.  Auch 
in  neuerer  Zeit  haben  sie  ihre  schier  unverwüstliche  Anziehungskraft  nicht 
verloren:  in  England  nahm  Tennyson  aus  ihnen  die  Vorwürfe  zu  seinen 
zweimal  ins  Deutsche  übersetzten  ^Idylls  of  the  King'  (1859)  und  deren 
Ergänzungen  'The  holy  Grail'  (1867),  'The  last  Tournament'  (1871),  'Gareth 
and  Lynette'  (1873);  in  Deutschland  griff  die  bedeutendste  Künstler- 
erscheinung der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts,  Richard  Wagner,  für 
zwei  seiner  musikalisch- dramatischen  Meisterwerke,  'Tristan  und  Isolde' 
und  'Parsifal',  zu  den  Stoffen  des  bretonischen  Sagenkreises,  die  damit, 
ähnlich  wie  im  13.  Jahrhundert,  in  den  Mittelpunkt  der  Weltliteratur  ge- 
rückt wurden. 


auf  dem 
Kontinent. 


A.  Die  keltischen  Sprachen. 

Das  Altkeltische  L  Die  Geschichtc   der  keltischen  Sprachen.     Die  Kelten  haben 

beim  Eintritt  in  die  Geschichte  im  6.  Jahrhundert  v.  Chr.  ihre  Stammsitze  am 
Mittelrhein.  Östlich  saßen  sie,  wie  aus  Fluß-  oder  Ortsnamen  ersichtlich 
ist,  über  Harz  und  Thüringerwald  bis  zur  Elbe  und  einer  weiterhin  durch 
Iser-,  Riesengebirge  und  Sudeten  begrenzten  Linie;  im  Süden  reichten  sie 
über  die  Donau  bis  zu  den  Alpen;  westlich  bevölkerten  sie  das  heutige 
Xordfrankreich  bis  zur  Loire.  Ob  damals  schon  Keltenscharen  nach  Bri- 
tannien übergesetzt  waren,  ist  nicht  sicher  auszumachen,  aber  wenig  wahr- 
scheinlich. Durch  größere  Wanderungen  vom  5.  bis  2.  Jahrhundert  ver- 
schoben sich  die  Grenzen  keltischen  Sprachgebietes  bedeutend,  da  die 
keltische  Völkerwanderung  jener  Jahrhunderte  ähnlich  der  mehr  als  ein 
Halbjahrtausend  späteren  germanischen  nicht  nur  zu  bedeutender  Er- 
weiterung des  keltischen  Gebietes,  sondern  gleichzeitig  zur  Aufgabe  alter 
Sitze  führte.  Aufgegeben  wurde  alles  Land  zwischen  Rhein,  Main  und 
Elbe.  Dafür  drangen  im  5.  Jahrhundert  Keltenscharen  durch  Gallien  über 
die  Pyrenäen  nach  Spanien,  wo  sie  in  Mittel-  und  Westspanien  sich  unter 
Iberern  niederließen;  gleichzeitig  setzten  andere  vom  Niederrhein  und  gal- 
lischer Küste  nach  Britannien  über.  Die  Österreichischen  und  Schweizer  Alpen 
gingen  in  ihren  Besitz  über,  ebenso  Rhonetal  und  die  französische  Mittel- 
meerküste, und  um  400  erscheinen  Keltenscharen  in  Oberitalien.  Zwischen 
den  Trümmern  des  eroberten  Rom  (390)  fand  ihr  Siegeslauf  zwar  ein  Ende, 
aber  w^eite  Strecken  diesseits  und  jenseits  des  Po  blieben  in  ihren  Händen 
und  wurden  keltisiert.  Gleichzeitig  hatten  andere  keltische  Stämme  die 
unteren  Donauländer  besetzt  und  kämpften  mit  Illyrern  und  Thrakern  um 
die  BalkanhalbinseL  Alexander  schloß  vor  seinem  Zuge  mit  den  pannonischen 
Kelten  ein  Bündnis,  so  daß  324  auch  keltische  Abgesandte  in  Babylon  zu 
seiner  Beglückwünschung  erschienen.  Nicht  allzulange  nach  Alexanders 
Tode  nahmen  jedoch  Keltenscharen  wieder  die  Offensive  auf  der  Balkan- 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  i- 

halbinsel:  von  einem  mächtig-cn  Heere  pannonischor  Kelten  erobein«-  ein 
Teil  unter  Brennu.s  Mazedonien  (280),  drang-  durch  Thes.salien  zu  den  Ther- 
mopylen  vor  und  plünderte  Delphi,  während  ein  anderer  in  Thrakien  sich 
loslösender  Teil  östlich  nach  Ryzanz  sich  wandte  und  {2y(j)  nach  Kleinasien 
übersetzte:  nach  mancherlei  Raubzügen  in  Kleinasien  begründeten  sie  ums 
Jahr  2js  in  tlen  östlich  und  westlich  vom  Halys  gelegenen  Strichen  eine 
kleinasiatische   Keltenkolonie,  das  selbständige  Galaterreich. 

In  der  Zeit  der  größten  Ausdehnung  des  Keltentums  auf  dem  euro- 
päischen Kontinent  waren  Rhein  und  Donau  von  den  Quellen  bis  zur 
Mündung  keltische  Ströme;  Kelten  saßen  an  den  Ufern  des  Main,  der 
Seine  und  Loire,  des  Duro,  der  Rhone  und  des  Po.  Es  ist  dies  aber  auc:h 
zugleich  der  Zeitpunkt,  in  dem  unmittelbar  ihre  Zurückdrängung  begann. 
Naturgemäß  war  das  weite  Gebiet  vom  Galaterland  in  Kleinasien  durch 
die  Donauebene  bis  Kap  Finisterre  in  Spanien  und  den  Buchten  von  Kerry 
und  Donegal  in  Irland  nicht  überall  sprachlich  keltisiert,  und  daher  schwindet 
mit  dem  Verlust  der  Macht  auch  in  den  meisten  Strichen  bald  die  keltische 
Sprache.  Römer  und  Germanen  hauptsächlich  haben  ihren  Machtbereich 
auf  Kosten  der  Kelten  ausgedehnt,  romanische  vmd  germanische  Sprachen 
herrschen  infolgedessen  um  etwa  400  n.  Chr.  in  den  meisten  Strichen,  wo 
im  3.  Jahrhundert  v.  Chr.  keltische  Rede,  im  Munde  der  Herrschenden 
wenigstens,  erklang.  Mit  dem  Jahre  222  begannen  die  Römer  endgültig 
die  Übermacht  über  die  Kelten  Oberitaliens  zu  gewinnen;  nach  ihrer  Unter- 
werfung gelangten  vor  Ende  des  2.  Jahrhunderts  die  Kelten  im  Rhone- 
gebiet (Gallia  Narbonensis)  und  in  Spanien  unter  römische  Herrschaft;  Mitte 
des  I.  Jahrhunderts  wurde  durch  Caesar  ganz  Gallien  bis  zum  Rhein  Rom 
uoterworten,  und  unter  Augustus  wurden  nicht  nur  die  österreichischen 
Alpenländer  und  die  Striche  zwischen  Rhein  und  Donau  bis  tief  in 
die  untere  Donauebene  dem  römischen  Reich  angegliedert,  sondern 
auch  Galatien  in  Kleinasien  zur  römischen  Provinz  gemacht.  Von  der 
griechischen  Kultur  wurde  das  Keltische  des  Galaterlandes  bald  ab.sorbiert; 
doch  hat  Hieronymus  in  der  Vorrede  zum  Galaterbrief- Kommentar  die 
wenig  glaubwürdige  Nachricht,  daß  noch  in  seiner  Zeit  Keltisch  neben 
Griechisch  bei  den  Galatern  gesprochen  worden  sei.  Der  Rest  des  alten 
Keltengebietes  in  Mitteleuropa,  der  beim  Tode  des  Augustus  nicht  unter 
römischer  Herrschaft  stand,  war  in  der  Gewalt  der  Germanen.  Im  Beginn 
unserer  Zeitrechnung  gab  es  keine  unabhängigen  keltischen  V^ölkerschaften 
mehr  auf  unserem  Kontinent,  und  um  400  n.  Chr.  ist  die  keltische  Rod< 
ebenfalls  vollständig  vom  Kontinent  verschwunden. 

Auf    den    britischen   Inseln  fanden  die  vom  Kontinent   einwandernden         n« 
Kelten  eine  Urbevölkerung  vor,  hatten  jedoch,   ehe  die  Römer  im    i.  und    "  ^  ,^ 
später  die  Germanen  im  5.  Jahrhundert  auch  sie  bedrängten  und  teilweise  »  jahrbaadM 
unterwarfen,  genügend  Zeit,  diese  Urbevölkerung  auf  der  Hauptinscl  Bri- 
tannien bis  auf  die  Striche    nördlich    einer  Linie  Firth  of  Fortli   und  Firth 
of  Clyde   zu   keltisieren.     Es  sind  die   Bewohner  Kaledoniens,  die   Pikten, 

Dl«  KoLTvm  Dm«  Giokxwjuit.    I.  ti.  i.  j 


1 8      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.   I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

wie  sie  seit  ungefähr  300  n.  Chr.  von  den  Römern  in  wörtlicher  Über- 
setzung des  Namens  genannt  wurden,  den  ihnen  britische  Kelten  (altkymr. 
Prytcin)  und  irische  Kelten  (altir.  Crut/ini,  Cruthentuath)  beilegten.  Nach 
der  ^grünen  Insel',  die  bei  den  Griechen  Iverne,  bei  den  Römern  luberna, 
Ivemia  und  mit  weiterer  volksetymologischer  Anlehnung  an  lateinisches 
Sprachgut  Hibernia  nach  seiner  keltischen  Bezeichnung  Iverion  (woraus 
altir.  Erhi,  Genit.  Ercnn  imd  kymr.  Iwerddon  entstanden  ist)  benannt  wurde, 
drangen  die  Römer  nicht  vor.  Die  keltischen  Eroberer  Irlands,  die  bei 
lateinischen  Schriftstellern  bis  tief  ins  Mittelalter  (11.  Jahrhundert)  aus- 
schließlich Scotti  (Scoti)  genannt  werden,  woher  wiederum  Scottia  als  früh 
mittelalterliche  Bezeichnung  Irlands  neben  Hibernia  —  der  Name  '^Ire'  und 
*  Irland'  wurde  erst  von  den  vom  Ende  des  8.  Jahrhunderts  ab  Irland  heim- 
suchenden Vikingern  nach  der  altirischen  Bezeichnung  Eriu  gebildet  — , 
konnten  daher  ungestört  von  außen  die  Keltisierung  der  zweitgrößeren 
britischen  Insel  vollziehen.  Zahlreiche,  bis  ins  S.Jahrhundert  reichende  Zeug- 
nisse in  lateinischer  und  irischer  Sprache  melden  uns,  daß  die  keltischen 
Iren  im  6.  Jahrhundert  sich  wohl  bewußt  waren,  daß  Stammverwandte  der 
in  Britannien  nördlich  des  Severuswalles  sitzenden  unabhängigen  nicht 
keltischen  Pikten  einst  auch  in  Irland  saßen,  und  daß  die  keltisch  redenden 
Bewohner  bestimmter  Striche  Nordostirlands  die  Nachkommen  solcher 
piktischen  Urbewohner  sind.  Mit  der  Mitte  des  i.  Jahrhunderts  unserer 
Zeitrechnung  beginnt  auch  auf  den  britischen  Inseln  die  Unterjochung  der 
Kelten  durch  die  Römer.  Ende  des  i.  Jahrhunderts  ist  die  größere  Insel, 
Britannien,  bis  zu  der  mehrfach  genannten  Linie  den  Römern  unterworfen. 
Im  Laufe  des  2.  und  3.  Jahrhunderts  schritt  wie  in  Gallien  die  sprachliche 
Romanisierung  der  Kelten  vor:  die  Städte  des  Ostens  und  Südens  waren 
Zentren  römischen  Lebens,  ebenso  die  Striche  um  Severn-  und  Deemündung 
(Chester),  so  daß  durch  die  nach  Abzug  der  Legionen  im  5.  Jahrhundert  be- 
ginnende Überflutung  der  Insel  durch  anglische,  sächsische,  jütische  Scharen 
zunächst  im  Osten  und  Süden  nicht  viel  keltisches,  wenigstens  rein  keltisches 
Sprachgebiet  weggeschwemmt  wurde.  Bei  weiterem  Vordringen  der  Germanen 
trat  aber  auch  dies  ein,  so  daß  in  erster  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  die  östliche 
Hälfte  Britanniens  bis  zum  alten  Severuswall  im  Besitz  der  Germanen  war  und 
sprachlich  der  Germanisierung  verfiel.  Entscheidende  Ereignisse  vollzogen 
sich  dann  in  den  Jahren  577  und  613:  in  ersterem  Jahre  drangen  die  Sachsen 
im  Süden  siegreich  bis  zur  Sevembucht  vor,  und  613  die  Angeln  bei  Chester 
an  die  irische  See.  Damit  war  der  bis  dahin  seine  Unabhängigkeit  vor 
Germanen  bewahrende  keltische  Westen  in  drei  getrennte  Teile  zerrissen. 

Neue,  in  der  Zwischenzeit  entstandene  Kolonien  der  Inselkelten  schienen 
diese  Verluste  keltischer  Macht  und  keltischen  Sprachgebietes  eine  Weile 
ausgleichen  zu  sollen.  Die  eine  ging  von  den  irischen,  die  andere  von 
britischen  Kelten  aus. 

Als  seit  Ende  des  3.  Jahrhunderts  die  nördlich  der  Linie  Firth  of  Forth 
und    Clyde    sitzenden    unabhängigen    Kaledonier,    Pikten    genannt,    ernst- 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen  ig 

lieh  den  Kampf  gegen  die  Römerherrschaft  aufnahmen,  da  fanden  sie 
Hundesgenossen  in  den  beutelustigen  Bewohnern  Nordirhinds;  waren  doch 
diese,  wie  wir  sahen,  zu  einem  beträchtlichen  Teil  die  sprachlich  keltisierten 
Stammverwandten  der  Kaledonier.  Derartige  aus  Irland  herbeigezogene 
Bundesgenossen  gründeten  im  Laufe  des  5.  Jahrhunderts  in  der  heutigen 
schottischen  Grafschaft  Argyll  einen  unabhängigen  Irenstaat,  nach  ihnen 
Scottia  minor  genannt.  Im  Laufe  des  6.  und  7.  Jahrhunderts  wuchs  er  an 
Umfang  und  Einfluß;  letzteres  namentlich  durch  den  Umstand,  daß  von 
der  zum  neuen  Irenstaat  gehörigen  kleinen  Insel  Eo  (lo,  Hi,  heute  lona) 
aus  in  zweiter  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts  durch  Columba  und  seine  Ge- 
nossen das  Volk  der  nördlichen  Pikten  christianisiert  wurde,  und  so  zuerst 
Nordpiktenland  und  im  Verlauf  ganz  Piktenland  unter  eine  im  Gebiete  der 
Iren  (in  lona)  gelegene  kirchliche  Oberleitung  und  den  geistigen  Einfluß 
der  irischen  Kelten  geriet  Noch  bis  um  die  Wende  des  7.  und  8.  Jahr- 
hunderts stand  diese  Kolonie  irischer  Kelten  an  Nordbritanniens  Westküste 
(Scottia  minor)  in  gewisser  politischer  Abhängigkeit  vom  Mutterlande  Irland, 
damals  Scottia  genannt;  sprachlich  und  literarisch  sind  diese  keltischen 
Striche  in  Nordbritannien  bis  ins  1 7.  Jahrhundert  als  irische  Kolonie  zu 
betrachten. 

Um  dieselbe  Zeit,  als  von  irischen  Kelten  an  der  Nord  Westküste  Bri- 
tanniens der  Grund  zur  Erweiterung  keltischer  Macht  und  keltischen  Sprach- 
gebietes gelegt  wurde,  begannen  christliche  Kelten  Südbritanniens  vor  dem 
Ansturm  der  Sachsen  nach  der  gegenüberliegenden  aremorikanischen  Küste 
zu  fliehen,  wie  in  anderem  Zusammenhang  schon  erzählt  ist  Es  war  alter 
Keltenboden,  auf  dem  sich  diese  britischen  Kelten  niederließen,  aber  die 
vorhandenen  Bewohner  des  Küstenlandes  waren  damals  romanisiert  wie 
die  übrigen  Kelten  Galliens.  Die  Einwanderer  betrachteten  sich  als  Brit- 
tones, nannten  ihre  Sprache  danach  (heute  breconek),  redeten  nur  Keltisch- 
Britisch  {brczonekä)  und  bezeichneten  die  neue  Heimat  als  Brittia,  woraus 
heute  Brciz  in  Breiz-  Uchel  'Hochbretagne'  und  Brciz- Izcl  'Niederbretagne'; 
von  lateinisch  schreibenden  Schriftstellern  wird  im  Verlauf  diese  britische 
Kolonie  Britannia  minor  genannt  ganz  wie  die  neue  irische  Kolonie  ihnen 
Scottia  minor  ist. 

Über    sieben     räumlich     geteilte     Gebiete,     die    aber    sprachlich    und      i»»«  int«a- 
literarisch   sich   zu   zwei   höheren  Einheiten    zusammenschlössen,   sind    also  '^'"'""^'  7" 
im  8.  Jahrhundert  die  noch  unabhängigen  Inselkelten  zerstreut     Keltische     w»  hMt« 
Iren  (Scotti)  einerseits  in  Irland  (Scottia),  an  der  Küste  Nordwestbritanniens 
(Scottia  minor)    und  auf  der   Insel  Man;    keltische   Briten  sitzen   anderseits 
unabhängig  an  der  Westküste  Britanniens  südlich  des  Clyde  (Cumberland), 
in  Wales,  in  Devonshire   und  Comwall,    im  aremorikanischen    Küstenland. 
Ihre   Geschicke   und   die  der  von    ihnen    geredeten    keltischen  Ti|i.>n..     vind 
im  Verlauf  eines  starken  Jahrtausends  sehr  verschieden.  ,,^^  Kfiu..!.« 

In  Irland,  wo  bis  Ende  des  8.  Jahrhunderts  ein  einheitliches  keltisches  in irUndbuHnd* 
Sprachgebiet    bestand,    hat    das   Keltentum    bis    in   die  Tage    der  Königin    '''^^„1,'^,'"' 

2» 


20       Heinrich  Zimmer :  Die  keltischen  Literaturen.    I.Sprache  u.  Literatur  d. Kelten  im  allgem. 

Elisabeth  eine  den  Beobachter  in  Erstaunen  setzende  Assimilationskraft 
gegenüber  fremden,  selbst  in  großen  Massen  eindringenden  anderssprachigen 
Elementen  bewiesen.  Es  nahm  auf  und  assimilierte  die  ungezählten  Scharen 
der  Norweger  und  Dänen,  die  sich  von  ca.  800 — 11 00  allerorts  in  Irland, 
am  stärksten  in  den  Küstenstrichen  und  an  den  mit  Vikingerschiffen  be- 
fahrbaren Flüssen  bis  weit  ins  Innere  niederließen.  Ganz  dasselbe  Schick- 
sal widerfuhr  den  Anglonormannen  und  englischen  Kolonisten,  die  sich  seit 
II 72  auf  Irlands  Boden  niederließen,  sei  es  in  Munster  oder  weit  in  Con- 
naught:  selbst  die  härtesten  Strafen,  die  englische  Herrscher  schon  im 
14.  Jahrhundert  (Statut  von  Kilkenny  1367)  auf  die  Irisierungen  setzten, 
vermochten  den  Fortschritt  derselben  nicht  zu  verhindern.  Hibernis  Hiber- 
niores  wurden  diese  Fremdlinge,  und  in  den  Tagen  der  Elisabeth  und 
Cromwells  sind  nicht  selten  die  heißblütigsten  Iren  Nachkommen  von  iri- 
sierten Anglonormannen.  Ebenso  bewundernswert  wie  die  Assimilations- 
kraft bis  zum  16.  Jahrhundert  ist  die  Widerstandsfähigkeit,  die  die  irische 
Sprache  vom  16.  bis  Ende  des  18.  Jahrhunderts  gegen  den  Druck  einer  in 
großen  Scharen  in  Irland  eindringenden  anderssprachigen,  die  Macht  an 
sich  reißenden  Minorität  bewies. 

Infolge  Festhaltens  der  Kelten  an  der  katholischen  Kirche  brachen 
durch  150  Jahre  fortgesetzt  Revolten  aus.  Schreckliche  Aderlässe  fürs 
keltische  Element  waren  die  Folgen  einerseits:  so  wurden  z.  B.  allein  in 
den  elfjährigen  Kämpfen  von  1642  — 1652  von  den  1500000  Bewohnern 
Irlands  durchs  Schwert  der  Scharen  Cromwells,  die  Seuchen  und  Hungers- 
not 600000  Iren  dahingerafft.  Anderseits  wurde  dem  nichtkeltischen,  eng- 
lischen Element  fortgesetzt  neues  Blut  zugeführt:  es  wurden  die  die  Auf- 
stände anzettelnden,  schürenden  und  führenden  irischen  Häuptlinge  so  be- 
straft, daß  man  ihr  Gebiet,  das  in  Wirklichkeit  Claneigentum  war,  kon- 
fiszierte, an  englische  Soldaten  verschenkte  und  an  zahlreiche  Kolonisten 
aus  England  und  Schottland  verkaufte.  Derartige  Landkonfiskationen  mit 
nachfolgender  Ansiedlung  englischer  Kolonisten  vollzogen  sich  1550  in 
Leinster,  1572  im  östlichen  Ulster,  1580 — 1584  in  Munster  und  in  noch  er- 
heblicherem Umfange  16 10  im  mittleren  und  westlichen  Ulster,  sowie  1653 
aufs  neue  durch  ganz  Ulster,  Leinster  und  Munster.  Mehr  als  zwei  Drittel 
von  Irlands  Grund  und  Boden  ging  so  aus  dem  Besitz  der  Kelten  in  die 
Hände  der  protestantischen  englischen  Kolonie  über,  die  1695  von  den 
1 030  000  Seelen  der  Insel  ein  gutes  Fünftel  ausmachte.  In  die  Hände 
dieser  nicht  Keltisch  redenden  Minderheit  war  alle  Macht  gelegt,  die 
dahin  ausgenutzt  wurde,  daß  von  1691  an  durch  eine  Reihe  strenger  Straf- 
gesetze die  Keltisch  redenden  katholischen  Iren  vom  gesamten  öffentlichen 
Leben,  von  Schule  und  Universität  ausgeschlossen  waren.  Als  zwischen 
1778  und  1829  die  auf  den  keltischen  Iren  lastenden  Strafgesetze  be- 
seitigt wurden,  da  zeigte  sich  als  Resultat  tausendjähriger  Angriffe  auf 
den  Besitzstand  der  keltischen  Sprache  Irlands,  daß  Irisch  immer  noch 
die  Verkehrssprache  des  Volkes,  der  Massen  war:  von  den  5200000 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  2  I 

Bewohnern  Irlands  im  Jahre  1801  bedienten  sich  noch  annähernd  4000000 
im  Verkehr  untereinander  der  keltischen  Sprache,  von  denen  mehr  als  die 
Hälfte  monoj^lotte   K<«lten   wan-n. 

Was  30üjähri^e  harte  iU-drückunj^^  de.s  k«,'lti.schen  Elements  in  Irland 
nicht  erreicht  hatte,  die  keltischen  Massen  zum  Aufgeben  der  irischen 
Sprache  zu  bringen,  vollzog  sich  dann  ftist  in  einem  Jahrhundert:  die  Iren 
gaben  wie  von  selbst  ihre  Sprache  auf. 

Äußerlich  hatte  die  irische  Sprache  um  die  Wende  des  1 8.  und  i  cy.  Jahr-  ihm  in»ch»  »m 
hunderts  noch  eine  stattliche  Position  inne;  aber  innerlich  war  diese  nach  "  J*'"'»^*'** 
zwei  Richtuni.»en  geschwächt.  Mit  der  \'erarmung  der  Iren  im  16.  und 
17.  Jahrhundert  und  dem  völligen  Verdrängen  der  irischen  Sprache  aus 
dem  öffentlichen  Leben  ging  die  im  Mittelalter  und  Beginn  der  Neuzeit 
über  den  Dialekten  stehende  gesprochene  Literatursprache  mehr 
und  mehr  verloren,  und  eine  geschriebene  Literatursprache  fristete  am 
Ende  des  18.  Jahrhunderts  noch  ein  kümmerliches  Dasein,  als  ob  die  Buch- 
druckerkunst  noch  nicht  erfunden  wäre.  Anderseits  war  um  dieselbe 
Zeit  der  englischen  Sprache  das  in  den  Zeiten  der  Rebellion  und  in  den 
ersten  Dezennien  der  Penalgesetze  aufgeprägte  Stigma  genommen,  wonach 
freiwillig  Englisch  lernen  oder  reden  gleich  war  mit  Verrat  an  der  nationalen 
Sache.  Nicht  zum  wenigsten  war  dies  Stigma  seit  dem  zweiten  Viertel 
des  18.  Jahrhunderts  allmählich  in  den  Augen  der  Kelten  dadurch  ge- 
schwunden, daß  eine  im  Dubliner  protestantisch -englischen  Parlament 
wegen  eigener  materieller  Interessen  gegen  England  entstandene  Oppo- 
sitionspartei anfing  als  Advokatin  für  die  keltische  Masse  Irlands  ein- 
zutreten. So  entstand  bei  den  gebildeten  Iren  die  Anschauung,  man  könne 
wie  die  Grattan  und  Burke  Englisch  reden  und  doch  in  Opposition  zu 
England  stehen,  d.  h.  den  keltischen  Haß  gegen  England  bewahren. 

In  diese  kritische  Zeit  der  irischen  Sprache  fällt  der  Moment,  wo  die 
katholische  Kirche  in  Irland  wieder  frei  wurde.  Sie  war  während  des  17. 
und  18.  Jahrhunderts  gezwungen  gewesen,  die  Ausbildung  des  katholischen 
Klerus  im  Ausland,  vor  allem  in  hVankreich,  zu  bewerkstelligen.  Zu  den 
katholikenfreundlichen  Maßregeln  in  Irland  nach  1778  gehörte  in  erster 
Linie,  daß  die  englische  Regierung  dem  katholischen  Klerus  einen  Staats- 
zuschuß für  ein  in  Irland  selbst  zu  begründendes  Priesterseminar  zur  Ver- 
fügung .stellte.  So  wurde  1795  Maynooth  gegründet,  die  katholisch-theo- 
logische Eakultät  Irlands  bis  heutigentags.  Es  war  eigentlich  selbstverständ- 
lich, daß  diese  neue,  ganz  frei  gegründete,  ausschließlich  unter  kirchlicher 
Leitung  —  ohne  Staatsaufsicht  —  .stehende  Anstalt  eine  Einrichtung  be- 
kommen hätte,  wie  sie  den  wirklichen  Bedürfnissen  der  katholischen 
Bevölkerung  Irlands  entsprach,  also  einer  Bevölkerung,  die  zu  mehr  als 
neun  Zehntel  Irisch  verstand  und  zu  mehr  als  der  Hälfte  nur 
Irisch  sprach.  Nichts  von  all  dem:  Maynooth  wurde  eingerichtet  wie 
eine  Anstalt,  die  bestimmt  war,  der  katholischen  Kirche  überhaupt  die 
Missionare   für  die   wesentlich    protestantische   Englisch   redende   Welt    zu 


2  2      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

liefern,  d.  h.  ohne  dem  Rasseninstinkt  und  der  religiösen  Abneigung  des 
katholischen  irischen  Kelten  gegen  den  protestantischen  Sassanach  (Eng- 
länder) entgegenzutreten,  im  übrigen  wie  eine  gleichartige  katholische 
Anstalt  in  England,  in  der  irische  Sprache  ein  vernachlässigter  Anhang 
war,  der  zeitweilig  auch  ganz  fehlte. 

Damit  nicht  genug.  Neben  den  Anstalten  für  die  Ausbildung  des  Klerus 
fehlten  in  Irland,  namentlich  während  Geltung  der  Penalgesetze,  höhere 
Schulen  jeder  Art,  in  denen  den  katholischen  Iren  der  besseren  Stände  — 
sow^ohl  Knaben  als  Mädchen  —  weltlicher  Unterricht  gegeben  wurde,  ohne 
daß  sie  Proselytierungsversuchen  ausgesetzt  waren.  Diese  Lücke  suchte 
die  katholische  Kürche  sehr  bald  nach  Aufhebung  der  sie  hindernden  Ge- 
setze auszufüllen,  indem  geistliche  Kongregationen  den  gesamten 
höheren  Laienunterricht  für  katholische  Iren  in  die  Hand  nahmen.  In 
diesen  Schulen,  in  denen  die  Mehrzahl  der  Schüler  im  ersten  Drittel  des 
19.  Jahrhunderts  aus  Irisch  redenden  Familien  stammte,  wurde  Englisch  zur 
Unterrichtssprache  gemacht  wie  in  den  der  Klerikervorbildung  dienenden 
Unterrichtsanstalten;  für  guten  katholischen  Unterricht  wurde  ausgiebig 
gesorgt,  aber  die  irische  Sprache  erhielt  nicht  einmal  die  Stelle  einer 
modernen  Fremdsprache  wie  Französisch,  sondern  wurde  bis  ins  letzte 
Dezennium  des   ig.  Jahrhunderts  ganz  ignoriert. 

So  ausgerüstet  traten  junge  Kleriker  und  Laien  beiderlei  Geschlechts, 
die  aus  Irisch  redenden  Familien  stammten,  ins  Leben.  Der  in  der  Schule 
gegebene  Impuls  wirkte  weiter,  zumal  nichts  da  war,  ihn  zu  parieren.  Die 
Kleriker,  statt  an  Keating  und  andere  Vertreter  der  irischen  Literatur- 
sprache des  17.  Jahrhunderts  anzuknüpfen  und  durch  ausgiebige  Be- 
nutzung des  Irischen  in  Religionsunterricht,  Predigt  und  öffentlichem 
Leben  wneder  eine  gesprochene  Literatursprache  zu  schaffen,  verließen 
in  der  Mehrzahl  Maynooth  als  Englisch  redende  Iren  mit  stark  national- 
irischem Fühlen,  aber  für  die  irische  Sprache  war  von  ihnen  nichts  zu  er- 
warten. Die  Laien  beiderlei  Geschlechts  waren  in  den  höheren  Schulen 
durch  die  englische  Sprache  mit  einer  Literatur  vertraut  worden,  die  ihnen 
reiche  geistige  Schätze  bot  und  den  Weg  zur  Weltliteratur  ebnete,  während 
die  vor  Eintritt  in  die  höhere  Schule  zu  Hause  gesprochene,  im  Unterricht 
nicht  erwähnte  keltische  Muttersprache  verarmt  war,  nichts  von  gedruckter 
Literatur  aufwies.  Dort  brauchte  man  nur  zu  genießen,  hier  wäre  an- 
gestrengte, selbstlose  geistige  Arbeit  nötig  gewesen,  um  dem  Irischen  im 
Anfang  des  19.  Jahrhunderts  wieder  zu  einer  modernen  Literatur,  wert  des 
Lesens,  zu  verhelfen.  Dies  erklärt,  wie  die  aus  der  Irisch  redenden  Be- 
völkerung seit  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  hervorgehenden  Laien  mit 
höherer  Bildung  ebenso  wie  der  Klerus  fast  ausnahmslos  ihrer  Pflicht 
gegen  die  Muttersprache  nicht  nachkamen. 

Die  Einwirkung  dieser  Verhältnisse  auf  die  irische  Volksseele  konnte 
nicht  ausbleiben.  Die  täglich  zu  machende  Beobachtung,  daß  die  besten 
Söhne  des  Volkes  —  Geistliche  und  Laien  —  mit  der  Aneignung  der  eng- 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  ^j 

lischen  Sprache  zugleich  eine  gewisse  Verachtung  gegen  die  Muttersprache 
zu  zeigen  begannen,  daß  sie  nicht  mehr,  als  unumgänglich  nötig  war,  davon 
selbst  Gebrauch  machten  und  sie  ihren  Kindern  vorenthielten,  dies  alles 
mußte  allmählich  einen  tiefen  Eindruck  auf  die  Massen  machen,  Scham 
über  die  eigene,  von  den  Besseren  des  Volkes  verlassene  irische  Mutter- 
sprache ergriff  die  irische  Volksseele,  und  diese  Scham,  verbunden  mit 
anderen  Momenten  wie  der  seit  1831  wirksamen  englischen  Volk.sschule 
und  der  von  1846  ab  eintretenden  starken  Abwanderung  aus  rein  irischen 
Bezirken,  hat  das  irische  Sprachgebiet  im  k;.  Jahrhundert  zusammen- 
schmelzen lassen  wie  ein  Schneefeld  in  der  Sonne.  Von  den  5200000  Be- 
wohnern Irlands  sprachen  1801  noch  annähernd  4000000  Irisch,  unter  ihnen 
mehr  als  die  Hälfte  nur  Irisch;  zwei  Generationen  nach  Gründung  von 
Maynooth  gaben  nur  mehr  1500000  Iren  auf  5820000  Bewohner  Irlands 
im  Zensus  (1861)  Irisch  als  ihnen  geläufige  Sprache  an;  eine  Generation 
später  (i8qi)  hatte  sich  diese  Zahl  Irisch  Redender  fast  um  weitere  850000 
vermindert,  nur  mehr  38107  waren  irische  Monoglotten  neben  mehr  als 
4000000  englischer  Monoglotten,  und  die  642000,  die  Irisch  neben  Englisch 
angaben,  gehörten  überwiegend  der  Generation  über  30  Jahre  an:  An- 
gesehene nordirische  Häuptlinge,  die  mit  John  O'Neill  1562  nach  London 
kamen,  konnten  neben  Irisch  zwar  etwas  Latein,  aber  kein  Englisch;  nicht 
350  Jahre  später  sendet  das  irische  Volk  84  'nationale'  Abgeordnete  nach 
London,  von  denen  zeitweilig  keiner  das  Wort  für  'Kopf  oder  'Hand'  im 
Irischen  kannte,  geschweige  denn  imstande  war,  eine  kurze  Rede  in  irischer 
Sprache  zu  halten. 

Im  letzten  Viertel  des  19.  Jahrhunderts  fing  in  Köpfen  des  jungen 
Irland  die  Erkenntnis  zu  dämmern  an,  daß  mit  dem  Verschwinden  der  irischen 
Sprache  das  letzte  entscheidende  Bollwerk  des  Keltentums  in  Irland  gegen 
das  allmähliche  Aufgehen  in  der  angelsächsischen  Welt  weggerissen  werde. 
Sie  begannen  (1876)  eine  'Society  for  the  preservation  of  the  Irish  language 
as  a  spoken  language'  zu  begründen,  von  der  sich  188 1  die  Gaelic  Union 
for  the  preservation  and  cultivation  of  the  Irish  language  abzweigte,  die 
1893  in  der  Gaelic  League  (ir.  Cotniradh  na  Gacdhilgc)  aufging,  deren  Ziel 
ist  'the  preservation  of  Irish  as  the  National  language  of  Ireland  and  the 
cxtension  of  its  use  as  a  spoken  language,  the  study  and  publication  of 
existing  Gaelic  Literature  and  the  cultivation  of  a  modern  Literature  in 
Irish'.  In  der  kurzen  Zeit  sind  einige  Erfolge  in  den  beiden  letzten 
Punkten  zu  verzeichnen;  gelingt  es  aber  nicht  in  kurzer  Zeit,  der  noch 
Irisch  redenden  Bevölkerung  in  den  westlichen  und  südlichen  Küsten- 
grafschaften die  Scham  vor  der  irischen  Sprache  zu  nehmen  und  den 
Strom  der  Auswanderung,  der  besonders  jene  Grafschaften  von  Jahr  zu 
Jahr  weiter  entvölkert,  zum  Stehen  zu  bringen,  dann  werden  alle  Galvani- 
sierungsversuche  im  Osten  von  Irland  nicht  verhindern  kiWinen,  daß  noch 
im  Laufe  dieses  Jahrhunderts  das  keltische  Idiom  Irlands  aus  der  Reihe 
der  lebenden  Sprachen  schwindet. 


2  4       Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Das  Keltische  All   der  Wcstküstc  Nordbritanniens   gab  es  im  S.Jahrhundert  zwei 

^,   j^"*     .      aneinander  erenzende  unabhänsfiee  Keltenstaaten  mit  keltischen  Sprachen: 

Nordbntaiimen.  o  o  o  Jr 

nördlich  der  von  der  Clydemündung  nach  dem  Firth  of  Forth  laufenden 
Linie  in  Scottia  minor  die  im  5.  Jahrhundert  entstandene  Irenkolonie;  südlich 
genannter  Linie,  umfassend  die  dort  liegenden  heutigen  südwestschottischen 
Grafschaften  und  die  englischen  Cumberland-Westmoreland,  der  Staat  der 
noch  unabhängigen  Briten,  der  nördlichen  Kymri.  Als  Nachbarn  hatten 
die  Iren  nach  Osten  den  unabhängigen  Piktenstaat,  und  die  Briten  die 
Angeln  in  Northumberland.  Um  844  gelang  es  Kenneth  mac  Alpin,  dem 
Irenherrscher  in  Scottia  minor,  begünstigt  durch  die  im  Piktenreich  durch 
Vikingereinfa.lle  hervorgerufene  Bedrängnis,  sich  des  Piktenthrones  zu  be- 
mächtigen und  so  ein  großes  Iren-Piktenreich  (Albanien)  nördlich  der 
Linie  Glasgow-Edinburg  zu  begründen,  an  welchem  im  Verlauf  der  Name 
Scottia  (Schottland)  haften  blieb,  nachdem  für  die  Mutterinsel  (Hibernia, 
Scottia)  der  aus  der  Vikingerzeit  stammende  'Irland'  gebräuchlich  geworden 
war.  In  den  Kämpfen,  die  das  mächtige  Vikingerreich  mit  dem  Stützpunkt 
in  Dublin  und  kleineren  Reichen  in  Nordengland  in  zweiter  Hälfte  des  9. 
und  erstem  Drittel  des  10.  Jahrhunderts  wechselnd  mit  dem  Staate  der 
vereinigten  Schotten -Pikten  und  den  angelsächsischen  Herrschern  führte, 
standen  die  Fürsten  der  nördlichen  Briten  in  Alcluith  und  Carlisle  immer 
auf  Seiten  der  Dubliner  Normannen.  Als  nun  der  letzteren  Macht  937 
gebrochen  war,  bemächtigte  sich  Eadmund  von  England  des  Staates 
der  nördlichen  Kymri  und  teilte  ihn  946  mit  Malcolm,  dem  König  der 
vereinigten  Schotten-Pikten,  in  der  Weise,  daß  der  nördliche  Teil  vom 
Derwent  bis  zum  Clyde  an  Malcolm  von  Schottland  und  der  südliche  Teil 
mit  Carlisle  an  England  fiel.  So  schwand  ein  unabhängiges  keltisches 
Staatswesen  und  damit  im  Verlauf  keltische  Rede  in  jenen  Strichen. 
Anglische  Sprache  war  infolge  einer  vorübergehenden,  aber  doch  immerhin 
länger  andauernden  Oberherrschaft  der  Angeln  von  Bernicia  im  7.  Jahr- 
hundert in  dem  946  aufgeteilten  Britenstaat  schon  verbreitet,  besonders 
in  der  südlichen  Hälfte.  Sie  machte  natürlich  bald  große  Fortschritte  auf 
Kosten  des  keltisch-britischen  Idioms.  Ausgestorben  war  letzteres  zur  Zeit 
der  normannischen  Eroberung  Englands  noch  nicht  Wann  britische  Rede 
im  Norden  Englands  völlig  aus  dem  Munde  des  Volkes  verschwand,  ist 
kaimi  bestimmbar.  Bei  den  südlichen  Kymri  in  Wales  wurde  im  14.  Jahr- 
hundert behauptet,  daß  zu  jener  Zeit  in  einzelnen  Strichen  Nordenglands 
noch  britische  Rede  fortvegetiere,  was  sehr  v/ohl  möglich  ist.  Literarische 
Denkmäler  hat  die  Sprache  der  nördlichen  Kymri  nicht  hinterlassen. 
Das  Keltische  Durch  Vereinigung    des    Piktenreiches    mit    dem    Irenstaat    in  Scottia 

minor  um  844  unter  einem  irisch -keltischen  Herrscherhaus  war  der  Aus- 
breitung der  irischen  Sprache  über  ganz  Nordbritannien  die  Bahn  frei. 
Mancherlei  Umstände  hemmten  jedoch  die  Ausbreitung  des  irisch- keltischen 
Idioms.  Zu  den  Südpikten  war  früh  von  Bernicia  aus  anglische  Sprache 
eingedrungen.     Verstärkt    wurde    dieser  Einfluß    von  717    an,    als  die  pik- 


Schottland. 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  2  S 

tische  Kirche  sich  von  der  irischen  Leitunj^  in  lli  lossagte  und  naturgemäß 
in  engere  Beziehung  zu  dem  angelsächsischen  Kirchenwesen  trat  Der 
schwerste  Schlag  aber  wurde  der  irisch -keltischen  Sprache  in  Schottland 
durch  das  nationale  Herrscherhaus  zugelugt.  In  den  Kämpfen  der  schottisch- 
piktischen  und  englischen  Herrscher  im  kj.  und  erster  Hälfte  des  i  1.  Jahr- 
hunderts um  die  Grenzen  fielen  die  Würfel  dahin,  daß  der  Teil  des  alten 
Northumberland  zwischen  Tweedmündung  und  l*irth  of  Forth  an  den 
Schottenpiktenstaat  kam.  Damit  war  ein  weiteres  Gebiet  nichtkeltischer, 
englischer  Zunge  dem  Schotten -Piktenreich  zugefügt.  Der  Schwerpunkt 
des  so  entstandenen  Staates  'Schottland'  lag  nicht  mehr  in  den  keltisch- 
irischen Stammstrichen  in  Scottia  minor,  sondern  auf  der  Linie  Glasgow- 
Edinburg  und  südlich  dieser  Linie,  also  in  einem  ganz  oder  zu  wesent- 
lichen Teilen  sprachlich  anglisierten  Gebiet.  Mit  der  Verheiratung  Malcolm 
Cennmors  mit  Margarete,  der  Enkelin  Eduard  des  Bekenners,  vollzog  sich 
dann  auch  die  sprachliche  Verengländerung  des  seinem  Ursprünge 
nach  keltischen  Herrscherhauses.  Unter  ihm  und  seinen  Söhnen 
wurde  das  Staatswesen  in  Sprache  vollständig  verengländert  und 
nach  normannischen  Idealen  ein  Feudalstaat  geschaffen.  Von  da  an 
(1153)  ist  Schottland  als  Staat  ein  feudales  englisches  Staatswesen  im 
Norden  Britanniens,  das  in  den  Strichen  nördlich  vom  Clyde  keltische 
Bevölkerung  hatte,  die  das  irisch -keltische  Idiom  redete.  Bedrückt 
wurde  dieses  keltische  Idiom  direkt  nicht,  aber  vom  Staate  als  Luft 
behandelt  bis  zur  Zeit  der  Reformation.  So  kommt  es,  daß  in  diesem 
Schottenstaat,  der  eine  irisch-keltische  Gründung  ist,  und  der  bis  in  die 
Neuzeit  die  Wurzeln  seiner  Kraft  in  irisch-keltischem  (gälischem)  Sprach- 
gebiet liegen  hatte,  seit  dem  13.  Jahrhundert  eine  reiche  Literatur  in 
englischer  Sprache  sich  entfaltete,  so  daß  'schottisch',  das  eigentlich 
'irisch'  (irisch -gälisch)  bezeichnen  sollte  und  seit  dem  10.  Jahrhundert 
'albanisch'  (albanisch-  oder  nordbritannisch-gälisch)  meint,  jetzt  zur  Be- 
zeichnung eines  englischen,  also  germanischen  Dialekts  wurde.  Die 
eigentliche  schottische  Sprache,  d.  h.  das  Gälische,  verkümmerte  mehr  und 
mehr;  für  die  gebildeten  Laien  war  es  Patois,  eine  selbständige  gälische 
Literatur  kam  nicht  auf:  man  nährte  sich  von  den  Brosamen,  die  vom 
Tische  des  Mutterlandes  (Irland)  abfielen. 

Glücklichere  Tage  schienen  für  das  Gälische  Nordbritanniens  mit  dem 
Beginn  der  Neuzeit  anbrechen  zu  wollen.  Zwei  Ereignisse  führten  sie 
herbei.  Zunächst  die  Einführung  der  Reformation  in  der  Mitte  des 
16.  Jahrhunderts:  sie  wirkte  überall  fördernd  auf  Idiome,  die  unter  dem 
Druck  sie  umgebender  Literatursprachen  verkümmerten;  auch  das  Ciälische 
Schottlands  empfand  diesen  belebenden  Hauch.  Das  andere  fordernde 
Moment  liegt  auf  politischem  Gebiet  Seit  letztem  Viertel  des  im.  Jahr- 
hunderts und  mehr  noch  mit  der  1603  eintretenden  Personalunion  zwischen 
Schottland  und  England  und  der  V^erlcgung  des  gemeinsamen  Hofes  nach 
London  fing  der  gesellschaftliche  Druck  auf  das  Gälische  an  nachzulassen: 


26      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.   I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

die  Clanhäuptlinge  gälischer  Zunge  betrachteten  ihr  Heim  wieder  als 
dauernden  Aufenthalt;  die  Barden  fanden  an  ihnen  Förderer,  und  neben 
der  protestantisch-kirchlichen  Literatur  in  gälischer  Sprache  beginnt  eine 
Bardenliteratur  in  dem  keltischen  Idiom  Schottlands  zu  sprießen.  Gleichwohl 
haben  sich  die  Sprachgrenzen  in  weiteren  zwei  Jahrhunderten  merklich  zu- 
ungunsten des  Gälischen  verschoben:  gesprochen  wird  es  heutigentags  —  aber 
schon  lange  nicht  mehr  ausschließlich  —  westlich  einer  Linie,  die  vom  Firth 
of  Clyde  nordöstlich  über  Loch  Lommond  an  Dunkeid  und  Baimoral  vorbei 
bis  Naim  am  Moray  Firth  läuft,  abzüglich  des  nördlichen  Caithness;  zu  den 
Zeiten  der  weitesten  Ausdehnung  reichte  Gälisch  über  diese  Linie  östlich 
in  die  Grafschaften  Perth,  Elgin,  Banff  und  Aberdeen  hinein.  Der  Haupt- 
grund liegt  in  Ereignissen  des  i8.  und  19.  Jahrhunderts,  die  zu  einer 
starken  Verringerung  der  Keltisch  redenden  Bevölkerung  geführt  haben. 
Die  schottischen  Hochlande  mit  ihrer  Keltisch  redenden  Bevölkerung 
bildeten  das  große  Reservoir,  aus  dem  die  Regimenter  aufgefüllt  wurden, 
die  in  den  verschiedenen  Erdteilen  für  des  Weltreiches  Interessen  zum 
Teil  hingeopfert  werden:  so  wurden  in  den  Jahren  1740 — 18 10  mehr  als 
50  Hochländer  Regimenter  von  je  1000  Mann  ausgehoben.  In  den  drei 
großen  Aufständen  Schottlands  nach  Vertreibung  der  Stuarts  (1688)  vom 
Throne  Großbritanniens  {i68g,  1715  und  1745)  waren  es  die  keltischen 
Hochschotten  in  erster  Linie,  die  in  Clantreue  für  die  keltischer  Sprache 
unkundigen,  eine  andere  Religion  begünstigenden  Prätendenten  aus  dem 
Hause  Stuart  sich  hinopferten  in  Schlachten  (CuUoden  1746)  und  nach 
Niederwerfung  der  Aufstände  blutige  Racheakte,  die  die  Bevölkerung 
dezimierten,  über  sich  mußten  ergehen  lassen.  Am  schlimmsten  hat  aber 
Landlordpolitik  dem  keltischen  Element  der  Hochlande  mitgespielt.  Reiche 
Feudalherren  haben  viele  der  einstigen  Clangenossen,  die  seit  Jahr- 
hunderten auf  Grund  und  Boden  sitzenden  Kleinpächter,  erbarmungslos  an 
den  Weg  geworfen  aus  reiner  Geldgier,  um  das  eine  Tal  an  einen  kapital- 
kräftigen Engländer  zur  Schafzucht  für  hohen  Preis  und  ein  anderes  mit 
den  Höhen  als  Jagdgebiet  an  einen  Millionär  zu  verpachten:  hierdurch 
sind  weite  Strecken  der  Hochlande,  einst  dick  besetzt  mit  Gälisch  (Irisch- 
Keltisch)  redenden  fleißigen,  kinderreichen  Kleinpächtern,  zur  Wildnis  ge- 
worden. So  wurde  die  Keltisch  redende,  nach  den  Städten  Englands, 
nach  Kanada,  den  Vereinigten  Staaten,  Australien  auswandernde  Be- 
völkerung der  schottischen  Hochlande  und  Inseln  im  ganzen  19.  Jahr- 
hundert fortwährend  dezimiert.  Im  Zensus  von  1891  gaben  noch  rund 
255000  Bewohner  Schottlands  das  Keltische  (Gälisch)  als  Umgangssprache 
an,  unter  ihnen  waren  45  000  einsprachige  Kelten.  Erwägt  man,  daß  die 
Gesamtbevölkerung  des  oben  umschriebenen  heutigen  keltischen  Sprach- 
gebietes Schottlands  gleichzeitig  nur  rund  400000  Seelen  betrug,  so  sieht 
man,  daß  die  äußere  Position  des  Keltischen  in  Schottland  noch  eine  viel 
gefestigtere  ist  als  des  nahe  verwandten  Keltischen  in  Irland  trotz  der 
absolut    größeren   Zahl    der    Keltisch    redenden    Iren.      Sie    ist    aber   auch 


A.  Die  keltischen   Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  21 

innerlich  eine  viel  gefestigtere,  da  seit  300  Jahren  der  Protestanti.smus 
mit  Bibel,  Predigt,  Kirchenlied  und  reicher  Erbauungsliteratur  in  schottiscli- 
keltischer  Sprache  dem  Gälischen  Schottlands  Rückgrat  verleiht. 

l^ie  In.sel  Man,  die  ur.sprünglich  wolil  von  derselben  Urbevölkerung  i>»  K«tiUck« 
besiedelt  war,  die  in  Britannien  und  Irland  den  Kelten  vorausging,  wurde  u^itT 
zuerst  von  britischen  Kelten  erobert,  wie  ihr  ältester  Name  Monapia 
(Manapia)  ausweist.  Später  eroberten  sie  irische  Kelten,  wohl  in  der- 
selben Zeit  (3.  und  }.  Jahrhundert),  in  der  sie  in  Nordwe.stbritannien  den 
Pikten  beistanden  und  an  der  Küste  von  Nord-  und  Südwales  Fuß  zu 
fassen  suchten.  Über  diese  irischen  Kelten  von  Man  kam  das  Vikinger- 
zeitalter  in  allen  seinen  Phasen  noch  viel  heftiger  als  über  die  Mutter- 
insel Irland:  die  Plünderungsperiode  (798  —  880),  die  Zugehörigkeit  zum 
Dublincr  Vikingerstaat  (880  —  Q90),  dann  die  Herrschaft  der  nordischen 
Beherrscher  der  Orkneys  (bis  1079)  und  ein  besonderes  norwegisches 
Herrscherhaus,  bis  die  Insel  1206  an  Schottland  fiel.  Diese  450  Jahre 
dauernde  nordische  Periode  hat  unauslöschliche  Spuren  hinterlassen: 
Runendenkmäler  in  nordischer  Sprache;  ein  volles  Drittel  aller  heutigen 
Ortsnamen  der  Insel  und  ein  Drittel  aller  Personennamen  aus  Anfang  des 
19.  Jahrhunderts  sind  nordischen  Ursprungs;  die  Manxbezeichnung  des 
'Parlamentsfeldes'  Tynwald  ist  altnord.  jingvöllr.  Gleichwohl  hat  das 
irisch-keltische  Element  der  Insel  Man  dieselbe  Assimilationskraft  besessen, 
die  es  in  Irland  bewies,  und  die  Normannen  sprachlich  assimiliert  Der 
irisch-keltische  Dialekt,  Manx  genannt,  war  zur  Zeit  der  Reformation 
noch  so  ausschließlich  Sprache  der  Insel,  daß  der  protestantische  Bischof 
der  Insel  Man  John  Philipps  (-}•  1633)  es  für  nötig  erachtete,  das  Book  of 
common  prayer  ins  Manx  zu  übersetzen,  ja  der  1773  gestorbene  Bischof 
Dr.  Hildesley  hielt  es,  trotz  der  relativ  geringen  Bewohnerzahl  der  Insel, 
noch  für  notwendig,  die  ganze  Bibel  ins  Manx  übersetzen  und  drucken  zu 
lassen.  Zwei  Momente  führten  im  19.  Jahrhundert  zum  Untergang  dieses 
keltischen  Dialekts:  die  um  1790  beginnende  und  dami,  als  die  Insel  Man 
immer  mehr  Sommerfrische  für  die  großen  Städte  Manchester  und  Liver- 
pool wurde,  steigende  englische  Einwanderung,  sowie  die  starke  Aus- 
wanderung der  alten  Bewohner  von  Man  seit  1823.  Nur  alte  Fischerleute 
an  der  Westküste  sind  unter  den  ,S5  000  Englisch  redenden  Bewohnern 
der  Insel  des  keltischen  Dialekts  von  Man  noch  mächtig;  ihre  Zahl  wird 
zwischen  800  und  3000  geschätzt.  Die  moderne  pankeltische  Bewegung 
macht  vergebliche  Galvanisierungsversuche  mit  dem  Manx. 

Nach  den  Bergen  von  Wales  strömte  seit  Ende  des  5.  Jahrhunderts  von  lai  KviiucW 
britischen  Kelten  aus  dem  Nordosten  und  Osten  der  Insel  zusammen,  was  *"  ^•'•' 
dem  anglischen  oder  sächsischen  Joch  sich  nicht  beugen  wollte.  Um  Platz 
zu  bekommen,  vertrieben  sie  die  keltischen  Iren,  die  sich  im  3.  und  4.  Jahr- 
hundert in  Nordwales  und  Strichen  von  Südwales  niedergelassen  hatten. 
Durch  den  gewalttätigen  Herrscher  des  an  Wales  grenzenden  Germanen- 
staates Mercien,   Offa  (756 — 795),    wurde    von   dem    bis   dahin   noch   unah- 


2  8      Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.   I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

hängig  gebliebenen  Gebiet  ein  großes  Stück  abgerissen,  die  heutigen 
Grafschaften  Hereford  und  Shropshire  mit  der  alten  Hauptstadt  von  Mittel- 
wales. Um  den  Besitz  dieser  Eroberung  zu  sichern,  zog  Offa  in  Nach- 
ahmung der  im  Norden  Britanniens  in  Trümmern  damals  zutage  liegenden 
Wälle  Hadrians  und  Antonins  einen  großen  Wallgraben  von  der  Wye- 
mündung  im  Süden  bis  zur  Deemündung  im  Norden.  'OfFas  Wall'  (kymr. 
clawdd  Oßa)j  noch  heute  an  vielen  Stellen  erkennbar,  ist  seitdem  im 
wesentlichen  die  Grenze  zwischen  Germanen  und  Kelten  in  diesen  Strichen 
Britanniens  geblieben  Die  außerhalb  Offas  Graben  sitzenden  Briten  ver- 
fielen im  Laufe  des  Mittelalters  der  Anglisierung.  Seit  den  Tagen  der 
normannischen  Eroberung  Englands  beginnt,  zuerst  im  Süden  in  Monmouth- 
shire  und  dann  nach  der  Unterwerfung  von  Wales  unter  England  (1282) 
an  der  ganzen  Ostlinie  entlang,  ein  Eindringen  englischer  Elemente  und 
Einschränkung  des  Gebietes  der  kymrischen  Sprache  auf  Kosten  der 
englischen.  Heutigentags  folgt  auf  Monmouthshire  und  einige  Grenz- 
distrikte in  Brecknock-,  Radnor-  und  Montgomeryshire,  wo  nach  dem 
Zensus  von  1891  weniger  als  io°/(,  Kymrisch  redeten,  ein  Strich  im  Osten, 
wo  zwischen  lo^o  und  85 %  kymrische  Sprache  beherrschen,  und  dann  die 
ganze  Reihe  der  Grafschaften  im  Westen  an  der  irischen  See  von  Ang- 
lesey  an,  wo  —  mit  Ausnahme  von  Pembrokeshire  —  mehr  als  85%  der 
Bevölkerung  noch  Kymrisch  als  Sprache  des  täglichen  Lebens  angaben: 
in  Anglesey  war  die  Zahl  der  Kymrisch  Redenden  97V2  7o  ^'^^  ^^  Distrikten 
von  Cardigenshire  98^4%  ^^^  Bevölkerung;  2^  von  den  52  Zähldistrikten 
hatten  mehr  als  857,,  und  insgesamt  33  Distrikte  mehr  als  60%  Bewohner 
kymrischer  Zunge.  Von  der  Gesamtbevölkerung  von  Wales  mit  1776405 
Seelen  bezeichneten  sich  910289  als  Kymrisch  Redende,  darunter  508036, 
die  einsprachige  Kelten  waren. 

Diesem  gefestigten  äußeren  Zustande  des  Kymrischen  entspricht  auch 
die  innere  Festigkeit.  Die  gefährdetste  Zeit  war  von  Heinrich  VIL  (1485)  bis 
um  1730.  Mit  Heinrich  Tudor,  dem  Enkel  des  nordkymrischen  Häuptlings 
Owen  ap  Meredydd  ap  Tudor  und  der  Witwe  Heinrichs  V.  bestieg  eine 
kymrische  Dynastie  den  Thron  Englands;  er  und  sein  Nachfolger  hoben 
alle  Ausnahmegesetze  gegen  Wales  auf  und  taten  alles,  was  die  Staats- 
raison  gestattete,  um  den  Kymren  das  Einleben  mit  den  Engländern  zu 
erleichtem.  Die  Folgen  blieben  nicht  aus.  Zuerst  verengländerten  die 
politischen  Führer  des  Volkes,  der  Adel;  dann  die  Geistlichkeit  der  in 
Wales  von  dem  nationalen  Herrscherhaus  willig  angenommenen  englischen 
Staatskirche  mehr  oder  weniger.  Die  literarische  Produktion  in  kymrischer 
Sprache  w^urde  schwächer,  und  die  Sprache,  die  in  dieser  Literatur  zur 
Verwendung  kommt,  zeigt  im  Vergleich  mit  der  mittelkymrischen  Literatur- 
sprache Verwilderung.  Nach  mehr  als  einer  Seite  befand  sich  so  die  kym- 
rische Sprache  am  Ende  des  17.  und  im  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  in 
derselben  kritischen  Lage,  wie  die  irische  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts: 
während    jedoch    der    Katholizismus    in    seinen    Einrichtungen     der    ge- 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  ;q 

.schwächten  irischen  Sprache  den  Tode.sstreich  versetzte,  führte  von  1730 
ab  der  Prote.stcinti.smu.s  von  Wale.s  der  kymri.schen  Sprache  wieder  neue 
Leben.skraft  zu.  Es  war  die  methodi.stischc  Heweg-ung",  die  in  Wales  zu  einer 
inneren  Reformation  führte,  zu  einem  relig^iösen  Erwachen  (kymr.  deffroad 
crefyddol)  der  welschen  Ma.ssen,' auf  dem  sich  im  Verlaufe  von  150  Jahren 
nach  und  nach  eine  nationale  Wiedergeburt  des  um  1730  scheinbar  im 
Absterben  beg-riffenen  Keltentums  in  Wales  vollzog.  Die  Führer  der  metho- 
distischen Bewegung  in  Wales,  die  aus  dem  Volke  stammten,  bedienten 
sich  des  verachteten  Kymrisch,  nicht  der  kymrischen  Sprache  zuliebe, 
sondern  um  zu  den  Herzen  der  Massen  zu  reden.  Die  kymrische  Sprache 
ward  im  X'erkehr  des  Kymren  mit  seinem  Gott  zu  Ehren  gebracht,  und 
indem  man  der  Masse  in  Wales  das  Geschenk  des  letzten  direkten 
Sprosses  aus  dem  Hause  Tudor,  der  Elisabeth,  die  kymrische  Bibel  (1588) 
in  die  Hand  gab  und  sie  zum  Lesen  und  Forschen  in  derselben  anhielt, 
wurde  die  Begierde  zum  Lesen  des  Kymrischen  und  zum  Denken  über- 
haupt geweckt:  es  wurde  so  in  der  wesentlich  nordkymrische  Rede 
widerspiegelnden  Sprache  der  Bibel  wieder  eine  Literatursprache 
über  den  Dialekten  geschaffen,  ein  Ideal  hingestellt,  nach  dem  sich  Schrift- 
steller richteten,  die  in  der  Sprache  des  Volkes  zum  Volke  reden  wollten. 
Durch  Kanzel  und  Sonntagsschule  wurde  diese  Literatursprache  fort- 
während dem  Ohre  auch  der  Ungebildeten  nahegebracht.  So  erhielt  die 
kymrische  Sprache  von  Wales  wieder  Rückgrat.  Auf  die  Schaffung  des 
welschen  Kirchenliedes  folgte  seit  dem  letzten  Drittel  des  iS.  Jahrhunderts 
allmählich  ganz  allgemein  ein  sprachliches  und  literarisches  Erwachen 
(kymr.  dc'ffroad  llenyddot)  des  welschen  Volkes,  wodurch  in  einem  weiteren 
Zeitraum  von  zwei  Generationen  das  Kymrische  wieder  zu  einer  das 
geistige  Leben  von  Wales  beherrschenden  Kultursprache  erhoben  w^urde, 
in  der  für  einzelne  Gattungen,  wie  Lyrik  und  Novelle,  Literaturdenkmäler 
von  dauerndem  Wert  vorliegen. 

Ob  die  Lage  der  keltischen  Sprache  in  Wales  am  Ende  des  neuen 
Jahrhunderts  äußerlich  und  innerlich  noch  .so  gefestigt  sein  wird,  wie  sie 
am  Schlüsse  des  ig.  Jahrhunderts  dastand,  unterliegt  starken  Zweifeln. 
Es  hat  nämlich  das  letzte  Drittel  des  letzten  Jahrhunderts  für  Wales  Ein- 
richtungen gebracht,  die,  wenn  auch  nicht  rasch,  so  doch  auf  die  Dauer 
für  die  k^inrische  Sprache  ähnlich  verhängnisvoll  werden  müssen,  wie 
das  mit  Gründung  des  Priesterseminars  in  Maynooth  1705  in  Irland  in- 
augurierte Unterrichtssystem  der  katholischen  Kirche  der  irischen  Sprache 
wurde.  Rs  brachten  das  Jahr  1870  Wales  ein  geordnetes  Elementarschul- 
wesen, 1889  ein  Mittelsrhulgesetz  und  1804  ^^  Krönung  des  Unterrichts- 
•systems  in  Wales  eine  kymrische  Universität,  d.  h.  drei  philo.sophi.sche 
Fakultäten  in  Bangor,  Aber)'stwith  und  Cardiff.  Dieses  ganze  'nationale' 
welsche  Unterricht.s.sy.stem  ist  im  Prinzip  auf  Englisch  als  Landes- 
sprache aufgebaut:  die  Vorlesungen  in  den  Universitäten  und  der  Unter- 
richt   in   den   Mittelschulen    finden    in   englischer   Sprache    statt,   KjTnrisch 


3  0      Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

wird  behandelt  wie  eine  Fremdsprache,  also  wie  Französisch  und  ist 
nicht  einmal  obligatorischer  Unterrichtsgegenstand;  selbst  in  den  kymrischen 
Elementarschulen  kann  Kymrisch  nur  als  Unterrichtsgegenstand  eingeführt 
werden,  sofern  die  nächsten  lokalen  Aufsichtsbehörden  dies  gestatten  oder 
wünschen.  Wie  lange  das  Kymrische  bei  diesem  Unterrichtssystem  das  Feld 
behaupten  kann,  hängt  davon  ab,  wie  stark  sich  die  Dämme  für  die  kym- 
rische Sprache  ausweisen  werden,  die  heutigentags  gegen  die  anglisierenden 
Einflüsse  des  welschen  Unterrichtssystems  vorhanden  sind;  es  sind:  eine 
reiche,  schöne  Buchliteratur  —  die  Gesamtsumme  der  von  1801  — 1898 
veröffentlichten  Werke  und  Werkchen,  nicht  etwa  Exemplare  oder  Bände, 
in  kymrischer  Sprache  beträgt  8425  —  in  moderner  Sprache  und  eine 
reiche  periodische  Literatur,  die  1895  in  2  Vierteljahrsschriften,  2  Zwei- 
monatsschriften, 28  kirchlichen  und  schönwissenschaftlichen  Monatspubli- 
kationen und  25  Zeitungen  (Wochenausgaben)  in  kymrischer  Sprache  be- 
stand; sodann  die  kymrische  Bibel  und  die  beiden  Eckpfeiler  des  non- 
konformistischen Protestantismus,  Kanzel  und  Sonntagsschule. 
Das  Keirische  Die    in    die    zwischen  Severnbucht   und  Kanal    gelegene   südwestliche 

in  cornw  .  j^g^j|-,jj^sgl  Britanniens  sich  drängenden  Briten  gerieten  vom  7.  Jahrhundert 
ab  unter  sächsischen  Einfluß  und  823  endgültig  unter  sächsische  Herrschaft. 
Die  Rückwirkung  auf  die  Sprache  konnte  nicht  ausbleiben:  Sommerset 
und  Devonshire  waren  im  ausgehenden  Mittelalter  anglisiert;  in  Cornwall 
war  bei  Einführung  der  Reformation  die  keltische  Sprache,  das  Kornische, 
neben  dem  Englischen  schon  so  weit  zurückgetreten,  daß  ein  Bedürfnis,  es 
als  offizielle  Sprache  des  protestantischen  Gottesdienstes  zu  verwenden, 
nirgends  mehr  vorhanden  war;  es  wurden  daher  auch  weder  die  grund- 
legenden Werke  der  anglikanischen  Kirche  noch  die  Bibel  ins  Kornische 
übersetzt.  Die  Sprache  starb  im  18.  Jahrhundert  aus:  der  Sage  nach  soll 
die  am  26.  Dezember  1777  im  Alter  von  102  Jahren  gestorbene  Fischer- 
frau Dolly  Pentraeth  aus  Mousshole  die  letzte  Kornisch  sprechende  Person 
gewesen  sein.  Phantasievolle  Pankeltisten  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts 
träumen  davon,  das  Kornische  wieder  zu  beleben. 
Das  Keltische  Die  vor  dem  Ansturm  der  Sachsen  im  5.  und  6.  Jahrhundert  in  großen 

in  der  Bretagne.  Sphären  nach  der  aremorikanischen  Halbinsel  aus  Südbritannien  flüchten- 
den Briten  hatten,  wie  wir  sahen,  bis  in  die  Mitte  des  8.  Jahrhunderts  ihr 
Gebiet  immer  mehr  nach  Osten  in  der  neuen,  Britannia  minor  genannten 
Heimat  ausgedehnt.  Nach  Abschüttelung  des  fast  ein  Jahrhundert  dauern- 
den Vasallenverhältnisses  zum  Frankenreich  der  Karolinger  (841 — 845) 
gründete  der  Bretonengraf  Nominöe  einen  unabhängigen  bretonischen  Ein- 
heitsstaat in  den  ungefähren  Grenzen  der  heutigen  fünf  Departements  Finistere, 
C6tes-du-Nord,  Morbihan,  Loire  inferieure  und  Ille- et- Villaine.  Die  Sprach- 
verhältnisse in  diesem  Bretonenstaat  in  zweiter  Hälfte  des  9.  Jahrhunderts 
waren  die,  daß  das  Gebiet  östlich  einer  Linie  von  Mont  Sant  Michel  an 
der  Couesnonmündung  im  Norden  bis  zur  Loiremündung  im  Süden,  also 
die   östlichen  Hälften   der   Departements  Ille -et- Villaine  (mit  Rennes)  und 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     I.  Die  Geschichte  der  keltischen  Sprachen.  31 

Loire  inferieure  (mit  Nantes),  rein  romanisches  Sprachgebiet  war;  westlich 
der  genannten  Linie  lag  eine  breite  Zone,  in  der  das  Bretonische  schon 
vorherrschend  war,  aber  die  alte  romanische  Bevölkerung  noch  nicht  völlig 
sprachlich  assimiliert  hatte;  daran  schloß  sich,  wesentlich  in  den  Grenzen 
der  heutigen  Niederbretagne,  das  geschlossene  rein  bretonische  Sprach- 
gebiet Mit  dem  Jahre  907  kamen  über  Britannia  minor  Schreckenszeiten, 
wie  die  gewesen  waren,  denen  die  Vorfahren  der  Bretonen  im  5.  und  6.  Jahr- 
hundert durch  die  Flucht  zu  entgehen  suchten:  die  Normannendrangsal, 
die  bis  037  dauerte.  Sie  lastete  naturgemäß  am  schwersten  auf  den  öst- 
lichen Teilen  des  Landes,  aus  dem  bretonische  Mönche,  Klosterinsassen 
und  Edle  flüchteten.  Dadurch  wurde  die  bretonische  Sprache  in  dem  ö.st- 
lichen  an  das  rein  bretonischc  Sprachgebiet  angrenzenden  gemischt- 
sprachigen Strich  stark  geschwächt  Als  dann  die  Normannenbedrückung 
aufhörte,  geriet  die  Herzogs  würde  des  bretonischen  Einheitsstaates  von 
y^c^  — 1006  an  die  nach  Abstammung  und  Sprache  ursprünglich  zwar  rein 
bretonischen,  aber  in  romanischem  Sprachgebiet  sitzenden  gräflichen 
Häuser  von  Nantes  und  Rennes,  womit  der  politische  Schwerpunkt  der 
iresamtbretagne  in  den  kleineren,  erst  seit  Abwerfung  des  fränkischen 
Joches  hinzugekommenen  rein  romanischen  Strich  verlegt  wurde. 

Es  machten  die  Briten  in  Britannia  minor  von  939  an  mit  ihrem  nationalen 
Herrscherhaus  ähnliche  Erfahrungen  wie  die  Iren  der  Irenkolonie  in  Scottia 
minor  mit  dem  ihrigen  seit  den  Tagen  Malcolm  Cennmors  (1057).  Analoge 
Wirkungen  auf  die  sprachlichen  Verhältnisse  zeigten  sich  hier  wie  dort. 
In  dem  zwischen  rein  bretonischem  und  rein  romanischem  Sprachgebiet 
liegenden  gemischtsprachigen  Gebiet  empfing  nicht  das  stark  geschwächte 
liretonische  Stütze,  sondern  durch  den  Einfluß  des  sprachlich  romanisierten 
Hofes,  der  hohen  Geistlichkeit  und  Aristokratie,  das  Romanische.  So 
findet  eine  allmähliche  Rückromanisierung  des  alten  bretonischen  Sprach- 
gebietes im  Osten  statt,  und  im  11.  bis  12.  Jahrhundert  ist  neben  die 
immer  rein  romanische  Zone  im  Osten  (Grafschaften  Rennes  und  Nantes) 
eine  breite  Zone  früheren  bretonischen  Sprachgebietes  —  umfassend  die 
alten  Diözesen  Dol,  St  Malo,  St  Brieuc  ganz  und  Vanncs  zum  Teil  — 
getreten,  die  entweder  schon  vollständig  französisiert  oder  doppelsprachiges 
Gebiet  mit  Überwiegen  des  Französischen  ist  Im  \'erlauf  ist  dann  diese 
Zone  für  die  bretonische  vSprache  vollständig  verloren  gegangen,  so  daß 
seit  dem  13.  bis  14.  Jahrhundert  eine  Linie,  beginnend  im  Norden  bei 
l'louha  (westlich  von  der  Baie  de  S.  Brieuc)  und  endigend  an  der  Villaine- 
mündung  im  Süden,  die  Grenze  zwischen  keltischer  und  romanischer  Zunge, 
zwischen  Bretonisch  und  Französisch  bildet  Diese  Linie  hat  bis  Ende 
des  H).  Jahrhunderts  keine  nennenswerte  Verschiebung  erfahren.  Westlich 
von  ihr,  also  in  dem  Departement  Finistere  und  den  westlichen  Teilen  der 
Departements  C6tes-du-Nord  und  Morbihan,  gab  es  1885  nach  einer  ge- 
nauen Berechnung  eines  französischen  Gelehrten  i  300000  Bewohner,  die 
Bretonisch    reden    konnten,    auf   eine    Gesamtbevölkerung    von    i  360000; 


3  2       Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

670000  von  der  angegebenen  Zahl  sollen  nur  das  keltische  Idiom  verstanden 
haben.  Diese  Zahlen  sind  für  die  Gegenwart  zu  hoch.  Es  haben  seit 
1870  verschiedene  Faktoren  auf  die  bretonische  Sprache  eingewirkt,  deren 
Folgen  um  1885  noch  wenig  in  Zahlen  greifbar  in  die  Erscheinung  traten, 
nach  Ablauf  eines  Vierteljahr hunderts  und  weiterhin  aber  immer  mehr. 
Solche  Faktoren  sind:  die  Kleinkinderschulen,  sowohl  die  kommunalen 
salles  d'asile  als  auch  die  von  katholischen  Kongregationen  geleiteten  so- 
genannten christlichen,  die  so  gut  wie  rein  französisch  sind;  die  staatlichen 
Volksschulen,  aus  denen  die  bretonische  Sprache  aufs  strengste  verbannt  ist 
und  nicht  einmal  als  Hilfsmittel  zur  Erlernung  des  Französischen  verwertet 
werden  darf;  die  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht,  wonach  die 
Bretonen,  die  früher  in  besonderen  Regimentern  mit  Bretonisch  verstehen- 
den Offizieren  vereinigt  waren,  unter  französische  Regimenter  des  Ostens 
zerstreut  werden;  endlich  das  energische  Eintreten  der  hohen  und,  zum 
Teil  wenigstens,  niederen  Geistlichkeit  für  die  französische  Sprache  im 
Gottesdienst  und  Religionsunterricht.  Die  Wirkungen  all  dieser  Faktoren 
auf  die  bretonische  Sprache  treten  in  den  der  Debretonisierung  am 
ehesten  ausgesetzten  Strichen  schon  dahin  zutage,  daß  das  durch  Kinder- 
schule und  Elementarschule  französisierte  Kind  mit  der  im  selben  Hause 
lebenden  einsprachigen  Großmutter  sich  vielfach  nur  mehr  durch  Gesten 
unterhalten  kann.  Das  heutige  bretonische  Sprachgebiet  in  der  Nieder- 
bretagne ist  daher  äußerlich  nicht  mehr  so  kompakt  noch  die  Sprache 
innerlich  so  gefestigt,  wie  es  nach  jener  Schätzung  von  1885  den  An- 
schein hat. 

Gesamtzahl  Die  Gesamtzahl    der   im   Beginn    des   letzten  Dezenniums  in  den  vier 

Strichen  der  Celtic  fringe  und  der  Bretagne  keltische  Sprachen  Redenden 
betrug  demnach  3148000,  unter  ihnen  i  271  000  keltische  Monoglotten. 
Sie  hat  seitdem  in  vier  von  den  fünf  Sprachgebieten  entschieden  abge- 
nommen, so  daß  die  Zahlen  3000000  keltische  Sprachen  Redender  mit 
I  000  000  Monoglotten  für  die  Gegenwart  eher  zu  hoch  als  zu  niedrig  ge- 
griffen sind.  Zu  ihnen  treten  noch  all  die  Kelten,  die  fern  von  Kelten- 
landen in  der  Diaspora  ihre  keltischen  Dialekte  bewahrt  haben. 
Das  Keirische  Keltisch  redende  Iren  sind  seit  den  Tagen  Cromwells   zahlreich  über 

den  Ozean  nach  der  'neuen  Insel'  {oilean  ür)  gewandert;  besonders  stark 
wurde  diese  Auswanderung  nach  Amerika,  England  und  anderen  Teilen 
des  britischen  Weltreiches  seit  der  großen  Hungersnot  in  Irland,  wodurch 
die  1841  noch  8  iq6  597  Seelen  zählende  Bevölkerung  Irlands  trotz  großen 
Geburtenüberschusses  auf  4725000  im  Jahre  1891  sank  und  weiter  sinkt. 
Kurzsichtige  Landlordpolitik  treibt  seit  150  Jahren  Gälisch  redende  Hoch- 
schotten aus  ihren  Tälern  und  von  den  Inseln  in  Scharen  nach  den  Ver- 
einigten Staaten  von  Amerika,  nach  Kanada  und  in  die  großen  Städte 
Niederschottlands  und  Englands. 

Was  Wales    anlangt,    so    soll    nach    einer  im    16.  Jahrhundert    aufge- 
kommenen  Sage,   an   die  man  aber  lange   in  Wales  fest  glaubte,   Madoc, 


der  Kelrisch 
Redenden. 


in  der  Fremde. 


A.  Die  kcltisrlu-n  .sprachen      I.   i>ic  ».csiiiuhtc  der  keltischen  Sprachen.  ^^ 

der  Sohn  des  nordwel.schen  Fürsten  Owein  (iwynedd  (11.57  —  'löc^),  mit 
zehn  Schilfen  und  einer  ganzen  Kolonie  Kymren,  Männern  und  Frauen, 
nach  Amerika  gefahren  .sein,  woselbst  sie  sich  mit  den  Indianern  ver- 
mischten und  Vorfahren  von  Stämmen  weißer  Indianer  wurden,  die  Kym- 
risch  redeten;  noch  1801  beschwor  ein  nach  Wales  heimkehrender  frommer 
Mann,  daß  er  in  Washington  in  einem  Hotel  mit  Kymrisch  redenden 
Häuptlingen  solcher  weißen  Indianer  gesprochen.  Eine  tatsächliche  Aus- 
wanderung von  Kymren  nach  Xordanierika  hat  seit  den  Tagen  der  'Pilger- 
väter' ununterbrochen  stattgefunden,  und  modernes  Kymrisch  wird  weit 
und  breit  in  den  Vereinigten  Staaten  von  welschen  Einwanderern  oder 
Nachkommen  von  solchen  geredet.  Auch  London  und  Liverpool  bergen 
unter  ihrer  Bevölkerung  einen  Strom  von  kymrischen  Einwanderern,  die 
keltische  Sprache  weiter  reden.  Die  Xiederbretiigne  endlich  sendet  seit 
Dezennien  den  Überschuß  seiner  Bevölkerung  nach  Paris,  Havre  und 
anderen  Städten  Frankreichs,  wo  manche  noch  in  die  nächste  Generation 
das  keltische  Idiom  der  Bretagne  hinüberretten. 

Überschaut  man  diese  Kelten  in  der  Fremde,  so  kann  in  bezug  auf 
ihr  Verhältnis  zu  den  aus  der  Heimat  mitgebrachten  keltischen  Sprachen 
ein  durchschlagender  Unterschied  nicht  verkannt  werden.  Die  wesent- 
lich katholischen  Kelten  [Ireu  und  Bretonen)  beweisen  in  der  Diaspora 
eine  viel  geringere  sprachliche  Widerstandskraft  als  die  wesentlich  pro- 
testantischen Kelten  (Kymren  und  Hochschotten).  Die  großen  welschen 
Kolonien  in  London  und  Liverpool  haben  jede  ein  Zeitungsorgan  in 
kymrischer  Sprache;  welsche  Nonkonformisten  sammeln  sich  an  beiden 
Orten  Sonntags  in  ihren  Kapellen,  singen  die  schönen  Kirchenlieder  in 
kymrischer  Sprache  und  unterhalten  sich  mit  Gott  in  kymrischer  Sprache. 
Die  Zahl  der  Iren  mit  keltisch-irischer  Umgangs.sprache,  die  seit  den 
Tagen  der  großen  Hungersnot  nach  London  zogen  und  Lancashire  über- 
fluteten, ist  eine  größere  als  die  aller  Kymren  in  Wales  und  England  zu- 
sammen: wenn  sie  aber  heutigentags  sich  vereinigen,  schelten  sie  auf 
ihre  englischen  Brotgeber  in  englischer  Sprache.  Nicht  anders  steht  es 
mit  der  irischen  Sprache  in  Amerika,  während  zahlreiche  kymrische  Ge- 
meinden aller  nonkonformistischen  Sekten  mit  Kymrisch  in  Kirche  und 
Sonntagsschule  existieren;  keine  Zeitung  in  irischer  Sprache  dort, 
während  1893  in  den  Vereinigten  Staaten  drei  Wochenzeitungen  in  kym- 
rischer Sprache  und  eine  in  der  kleinen  kymrischen  Kolonie  in  Patagonien 
erschienen,  nachdem  acht  Zeitungen  in  kymrischer  Sprache  im  Laufe  des 
19.  Jahrhunderts  eingegangen  sind;  keine  Zeitschrift  in  irischer  Sprache 
in  den  Vereinigten  Staaten,  aber  1893  deren  vier  in  kymrischer  Sprache. 
In  Kanada  angesiedelte  protestantische  Hochschotten  haben  seit  1802  in 
dem  in  Sidni  (Cape  Breton)  auf  Nova  Scotia  erscheinenden  Mac-Talla  ein 
Organ  ausschließlich  —  die  zahlreichen  Annoncen  nicht  ausgenommen  — 
in  schottisch -gälischer  Sprache,  während  die  gesamte  Keltisch  redende 
Irenwelt    in    allen    fünf   Weltteilen,    Irland    eingeschlossen     <rst    «...jt    1898 

L>a   KuiTVK   OUI   G»OW«WA>T.     1. 1:.    I. 


^_j.      Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    1.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

'a  weekly  bilingual  Newspaper'  (zuerst  Fäinne  an  lae,  dann  An  claidheainh 
Sohns\  in  Dublin  besitzt,  in  dem  vorsichtigerweise  alles  Wissenswerte  zu- 
dem wesentlich  in  englischer  Sprache  mitgeteilt  wird. 

Die  Gründe  für  dies  verschiedene  Verhalten  der  Kelten  in  der 
Diaspora  —  die  Bretonen  sind  nicht  anders  wie  die  Iren  —  zu  ihren 
keltischen  Muttersprachen  liegen  auf  der  Hand.  Wo  immer  der  nonkon- 
formistische Hochschotte  oder  Welsche  mit  einer  keltischen  Mutter- 
sprache hinzieht,  da  begleitet  ihn  seine  Bibel  und  der  reiche  Schatz 
von  Kirchenliedern  in  dieser  Sprache;  wo  mehrere  Angehörige  g^e- 
nannter  Sprachen  sich  treffen,  da  versucht  ein  Beredter  unter  ihnen 
—  und  welcher  Kelte  ist  dies  nicht  —  in  der  Muttersprache  die  Ver- 
bindung mit  Gott  auch  in  fremden  Landen  herzustellen.  Bibel,  Gesang- 
buch, Predigt  und  die  Sonntagsschule  werden  somit  für  den  wesentlich 
protestantischen  Kymren  und  Hochschotten  ein  meist  auf  Generationen 
vorhaltendes  Bollwerk  gegen  den  Verlust  ihrer  keltischen  Idiome,  in 
anderer  Lage  ist  der  katholische  Ire  und  Bretone  in  der  Fremde.  Der- 
artige Stützen  für  seine  Muttersprache,  die  um  so  kräftiger  sind,  weil 
sich  der  weniger  Gebildete  ihrer  gar  nicht  bewußt  wird,  bietet  ihm  der 
katholische  Kultus,  der  überall  in  seinem  Höhepunkt  die  lateinische 
Sprache  verwendet,  weder  daheim  noch  in  der  Fremde. 

Die  Zahl  der  noch  Keltisch  Redenden  in  der  Fremde  läßt  sich  schwer 
genau  bestimmen.  Von  der  Summe  von  228000  Welschen,  die  —  in 
Wales  geboren  —  nach  dem  englischen  Zensus  von  1891  außerhalb  Wales 
im  vereinigten  Königreich  lebten,  konnten  nach  einer  sorgfältigen  Be- 
rechnung 136000  Kymrisch  reden;  ihre  Zahl  in  Amerika  (Vereinigte 
Staaten,  Kanada,  Patagonien)  ist  sicher  mindestens  ebensogroß.  Nach 
einer  Schätzung  von  Ende  1898  sollen  in  Paris  und  einigen  Departements 
von  den  aus  der  Xiederbretagne  stammenden  Bretonen  rund  70000  des 
Bretonischen  sich  im  Hause  bedienen.  Rechnet  man  alles  zusammen,  was 
außerhalb  der  Celtic  fringe  und  der  Niederbretagne  von  Kelten  in  der 
weiten  Welt  eine  der  fünf  keltischen  Sprachen  noch  sprechen  kann,  mag 
immerhin  eine  Million  herauskommen,  so  daß  die  Gesamtsumme  aller 
'Keltisch'  reden  könnenden  Individuen  vier  Millionen  betrüge,  worunter 
eine  Million  keltischer  Monoglotten. 

Das  U.  Charakteristik   und   Gliederung   der   keltischen    Sprachen. 

Altkeltische,  jj^  neucrcr  Zeit  hat  man  in  Anknüpfung  an  eine  sagenhafte  Erzählung  bei 
Livius  von  einer  festen  politischen  Einheit  der  Kelten  in  den  Zeiten 
ihrer  Ausbreitung  und  größten  Machtentfaltung  in  Europa  vom  5.  bis  An- 
fang des  3.  Jahrhunderts  v.  Chr.  geredet,  von  einem  keltischen  Kaiserreich 
unter  Ambicatus  sowie  dessen  Vorgängern  und  Nachfolgern,  das  durch 
zwei  Jahrhunderte  und  mehr  eine  feste  traditionelle  Politik  hatte:  die  rück- 
wärts sitzenden  unterjochten  Germanen  hielt  man  unter  eiserner  Fuchtel, 
und   mit    den    Griechen    standen    die    Kaiser    des    'Celticum'    im    Bündnis 


A.  Die  keltischen  Sprachen.     II.  Charakteristik  u.  (iliederunj;  der  keltischen  Sprachen. 

gegen  KarthagiT,  Ktrusker  (dann  Römer)  und  Illyrier.  In  erster  Linie 
durch  Aufgabe  dioscr  traditionellen  Politik  im  Beginn  des  ].  Jahr- 
hunderts V.  dir.  .soll  der  Rückgang  de.s  Keltentum.s  seit  jener  Zeit  ver- 
schuldet sein.  Das  ist  natürlich  ein  Phantasiegebilde,  entworfen  nach  dfin 
Rezept,  die  goldene  Zeit  in  der  Vergangenheit  zu  suchen. 

Aber  eine  Einheit,  wenn  auch  keine  politische,  bestand  unter  tien  i»'  i  r.h«!  4-« 
Kelten,  als  dieselben  an  den  Mündungen  der  Donau,  des  Rheines,  der  ^''^'■'"•''»« 
Seine,  Loire,  des  Duro,  der  Rhone  und  zu  beiden  Seiten  des  Po  saßen, 
und  diese  Einheit  erstreckte  siih  auch  auf  die  kleinasiatische  Kolonie  der 
Kelten  und  die  vorgeschobenen  Keltenstämme  der  britischen  Inseln. 
Diese  Einheit  war  eine  innere  und  sie  war  aller  Wahrscheinlichkeit  na<  h 
eine  größere,  als  wir  nach  den  mangelhaften  Dokumenten  aus  dem  Alter- 
tum beweisen  können.  Sie  war  in  erster  Linie  basiert  auf  der  sprach- 
lichen Einheit  der  Kelten  des  Altertums  gegenüber  griechischer,  italischer 
und  germanischer  Rede.  Mannigfache  andere,  innere  Bande  traten  hinzu, 
von  denen  hier  nur  weniges  beriihrt  werden  kann.  Dieselben  drei  lite- 
rarischen Stände  treffen  wir  überall  bei  Kelten  des  Altertums  und  bei  Insel- 
kelten bis  tief  ins  Mittelalter,  und  zwar  mit  denselben  Namen:  die  Druiden, 
Vaten  und  Barden.  Ehe  Alexander  der  Große  seine  Heerfahrt  nach 
Asien  antrat,  unternahm  er  einen  Zug  zur  Bestrafung  der  streitbaren  illy- 
rischen Völkerschaften;  eine  Gesandtschaft  der  Donaukelten  erschien  in 
seinem  Lager  und  schloß  mit  ihm  ein  Bündnis,  das  sie  nach  Arrians  Bericht 
durch  folgenden  nationalen  Eid  bekräftigten:  'Wenn  wir  den  Vertrag  nicht 
halten  werden,  so  soll  der  Himmel  auf  uns  fallend  uns  zerschmettern,  es 
soll  die  sich  öffnende  Erde  uns  verschlingen,  es  soll  das  über  die  Ufer 
tretende  Meer  uns  überfluten'.  In  dem  größten  altirischen  Sagentext, 
'Rinderraub  von  Cualnge',  wird  erzählt,  wie  das  abgeschlagene  Haupt  des 
Sualtam  dem  Ulsterherrscher  zubrüllte  'Männer  werden  gelittet,  Weiber 
geraubt,  Herden  weggetrieben';  dann  fährt  der  Sagentext  fort:  'Ein  wenig 
/u  groß  ist  dieses  Geschrei,  sagte  Conchobar,  denn  der  Himmel  ist  über 
uns,  die  Erde  unter  uns  und  das  Meer  um  uns  herum.  Deshalb,  wenn 
nicht  das  Eirmament  mit  seinen  Stemenschauem  auf  der  Erde  Antlitz  fallen 
wird,  oder  wenn  nicht  die  Erde  infolge  eines  Erdbebens  bersten  wird, 
oder  wenn  nicht  der  in  Ufern  eingeschlossene  blaugeränderte  ( )zean  über 
das  Stinihaar  der  Erde  flutet,  werde  ich  jede  Kuh  zu  ihrer  Hürde  und 
jede  I'rau  zu  ihrem  Heim  zurückbringen'.  Als  im  Verlauf  des  Entschei- 
dungskampfes  eben  dieser  Conchobar  bemerkt,  daß  er  an  entfernten  Stellen 
des  Schlachtfeldes  selbst  nachsehen  und  eingreifen  müsse,  *da  sagte  sein 
Gefolge:  Wir  werden  diesen  Ort  halten,  denn  der  Himmel  ist  über  un.s, 
die  Erde  unter  uns  und  das  Meer  um  uns  herum.  Wenn  nicht  das  Fir- 
mament mit  seinen  Stemenschauem  auf  der  Erde  Antlitz  fallen  wird, 
oder  wenn  nicht  der  in  Ufern  eingeschlossene  blaugeräniierte  Ozean  über 
das  Stirnhaar  der  Erde  fluten  wird,  oder  wenn  nicht  die  Erde  brechen 
wird,    werden    wir  keinen  Zollbreit    zurückweichen    bis    zum  Anbruch   des 

3* 


36      Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

(jüngsten)  Gerichtes  und  des  (ewigen)  Lebens,  bis  du  wieder  zu  uns 
zurückkommen  wirst'.  Der  keltische  Eid  ist  also  derselbe  bei  illyrischen 
Kelten  und  bei  irischen,  in  erster  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  v.  Chr.  und  in 
der  irischen  Heldensage  im  9.  und  10.  Jahrhundert  n.  Chr.  Als  Alexander  die 
Gesandten  der  illyrischen  Kelten  entließ,  da  gab  er  ihnen,  wohl  um  den 
von  ihnen  geleisteten  Eid  etwas  zu  befestigen,  neue  Goldmünzen  mit  dem 
Bildnis  seines  verstorbenen  Vaters  Philipp:  vom  Ende  des  4.  Jahrhunderts 
ab  finden  sich  dann  in  Südgallien  dem  Goldstater  Philipps  II.  von  Maze- 
donien nachgeahmte  Goldmünzen,  und  um  150  v.  Chr.  schlugen  keltische 
Fürsten  in  Südbritannien  rohe,  diesen  nachgeahmte  Goldmünzen. 

Auf  der  Einheit  der  Sprache  gegenüber  griechischer,  italischer  und 
germanischer  Rede  beruht  jedoch  in  erster  Linie  die  Einheit  der  Kelten 
im  Altertum.  Wo  Kelten  sitzen,  finden  wir  Namen  von  Städten  in  Fülle, 
die  als  zweites  Glied  das  keltische  Wort  dunon  (altir.  düriy  altkymr.  diri) 
'befestigter  Ort'  enthalten:  Cambodunum  in  Yorkshire,  Moridunum  in 
Wales,  Senodunum  in  Irland,  Caladunum  in  Portugal,  Estledunum  in 
Andalusien,  Lugdunum  in  Frankreich  und  Holland,  Cambodunum  (Kempten) 
in  Bayern,  Lugidunum  in  Schlesien,  Eburodunum  in  Mähren,  Carrodunum 
in  Kroatien,  Singidunum  in  Serbien,  Noviodunum  in  Rumänien  ist  eine 
kleine  Auslese  aus  den  mehr  als  100  Ortsnamen  auf  -dünum  in  Kelten- 
landen. Nicht  viel  weniger  zahlreich  sind  die  Ortsnamen  auf  briga  'An- 
höhe, befestigte  Anhöhe'  (gleich  germ.  -bürg),  -uiagus  'Feld'  (altir.  mag, 
altkymr.  7nag).  Begreiflich  bei  dem  Wandertrieb  der  Kelten  und  den 
damit  verbundenen  Neuansiedelungen  sind  die  zahlreichen  Ortsnamen,  die 
als  erstes  Glied  das  keltische  Adjektiv  novios  'neu'  (altir.  nüe,  altkymr. 
noiiid)  enthalten:  Noviodunum  'Neuburg'  findet  sich  für  g  Orte  im  heutigen 
Frankreich,  je  einen  in  Oberitalien,  Schweiz,  Pannonien  und  der  Dobrud- 
scha;  Noviomagus  'Neufeld'  für  12  Orte  in  Frankreich,  je  einen  in 
Britannien,  Holland,  Belgien,  Rheinprovinz  und  bayerische  Pfalz.  Ebenso 
charakteristisch  für  die  Keltengebiete  sind  die  Ortsnamen  auf  -äcum  (-äcus, 
äca),  besonders  bei  kleineren  Orten:  es  sind  ursprünglich  Adjektiva,  gebildet 
mit  dem  auch  in  den  Keltensprachen  des  Mittelalters  und  Neuzeit  gebräuch- 
lichsten Adjektivsuffix,  die,  meist  von  einem  Personennamen  abgeleitet, 
die  von  dieser  Person  begründete  oder  besessene  Ansiedelung  bezeichnen. 
Denkmäler  des  Eigentlich  literarische  Denkmäler  in  altkeltischer  Sprache  d.  h.  der  in 

Aitkeitischen.  ^^^  Tagen  der  Völkerwanderung  verschwundenen  Sprache  der  kontinen- 
talen Kelten  und  der  Inselkelten  haben  wir  so  gut  wie  nicht,  aber  doch 
eine  solche  Fülle  von  Sprachüberresten,  daß  wir  uns  in  mancher  Hinsicht 
ein  ziemlich  klares  Bild  von  diesem  Ast  des  indogermanischen  Sprach- 
stammes machen  können.  Die  Quellen  des  Altkeltischen  sind  wesentlich 
folgende:  i.  Keltische  Wörter,  die  uns  bei  griechischen  und  lateinischen 
Schriftstellern  in  ihren  Berichten  über  die  Kelten  überhaupt  oder  einzelne 
Stämme  überliefert  werden.  2.  Keltische  Wörter,  die  in  ziemlicher  Fülle 
in   die   Sprache   der  Germanen   und  Römer  als  Lehnwörter  übergegangen 


A.  Die  keltischen  Spraclicn.     II.  CharaktcribUk  u.  (ilicderunt;  der  kciti&clien  Sprachen.         jj 

sind,  wo  sie  entweder  durch  ihre  Lautgestalt  sich  als  Kindrinj^linge 
erwiesen  oder  von  römischen  Schriftstellern  als  solche  denunziert  werd«'n, 
und  die  vielfach  direkt  oder  in  Ableitungen  in  den  mittelalterlichen  und 
modernen  Phasen  des  Inselkeltischen  vorkommen.  .?.  Zahlreiche  Namen  von 
keltischen  Persönlichkeiten  und  ( )rtlichkeiten  bei  Schriftstellern  des  Alter- 
tums. 4.  Noch  zahlreichere  Namen  beider  Gattungen  in  den  lateinischen 
Inschriften  Spaniens,  Britanniens,  Galliens,  der  beiden  Germanien,  Ober- 
italiens und  der  Üonauländer.  In  großer  Mehrheit  sind  diese  Namen  unter 
.^  und  4  zweigliedrig  und  die  Bedeutung  der  beiden  Glieder  ist  meist 
aus  dem  Sprachmaterial  der  jüngeren  Dialekte  des  Inselkeltischen  sofort 
klar.  5.  Namen  auf  Münzen  und  Hausgeräten  (Töpferwaren).  0.  Inschriften 
in  keltischer  Sprache,  gefunden  in  Oberitalien  und  I^Vankreich,  in  nord- 
etruskischem,  griechischem  und  lateinischem  Alphabet:  30  an  der  Zahl, 
darunter  ein  fünfjähriger  Kalender.  7.  Ein  kleines  in  Südgallien  im 
5.  Jahrhundert  entstandenes  Glossar,  in  welchem  vulgarlateinische  (roma- 
nische) Wörter  keltischen  (gallischen)  Ursprungs  erklärt  werden. 

Aus  diesen  Quellen  läßt  sich  das  altkeltische  Wörterbuch  in  bedeuten-  i>»,  verioitBia 
dem  Umfang  herstellen,  namentlich  soweit  Substantive  und  Adjektive  in  <*"  ^''^«*''»^'*» 
Betracht    kommen ;    in    wesentlich    geringerem    Umfang    sind    die    anderen    tinecbuch«!. 


Redeteile  vertreten,  fast  gar  nicht  der  wichtigste,  das  Verbum.    Es  ergibt  sich 


I.itani»cbea  usd 

hieraus,  daß  für  die  F"lexion  des  Altkeltischen  —  sieht  man  von  den  Rück- 
schlüssen ab,  die  die  mittelalterlichen  Phasen  des  Inselkeltischen  gestatten 
—  sich  nur  einigermaßen  ein  Bild  für  die  Nominalflexion  gewinnen  läßt. 
Dagegen  ist  die  Lautlehre,  sowohl  X'okalismus  als  Konsonantismus,  voll- 
kommen klar  erkennbar  und  lehrt  deutlich  die  Einheit  des  Altkeltischen 
und  sein  Verhältnis  sowohl  zur  indogermanischen  Ursprache  als  zu  den 
Sprachen  der  verwandten  Griechen,  Italer,  Germanen.  Von  den  Sprachen 
dieser  drei  die  Keltenwelt  umgebenden  indogermanischen  Sprachäste  hebt 
sich  das  Altkeltische  in  einer  Reihe  von  Punkten  scharf  ab,  von  denen  zwei 
aus  dem  Vokalismus  und  zwei  aus  dem  Konsonantismus  hervorgehoben 
seien:  i.  altkeltisch  ist  altes  indogerm.  r  mit  dem  Laute  /  zu  i  zusammen- 
geflossen; 2.  die  indogermanischen  Sonanten  r  und  /,  die  im  Griechischen 
durch  ni,  /ti,  im  Lateinischen  und  Germanischen  durch  or,  ol  {iify  ul)  ver- 
treten sind,  erscheinen  im  Altkeltischen  als  ri  und  U  {-bri^a  gleich  genn. 
burgy  •rifiitn  gleich  lat  porfusy  germ.  /ur{)\  3.  das  indogermanische  p  ist 
im  Anlaut  und  Inlaut,  soweit  es  nicht  in  wenigen  Fällen  an  anderen  Konso- 
nanten Halt  hatte,  spurlos  geschwunden  (tirv-  aus  pure-,  ritum  aus  pritum 
gleich  lat  portiis^  germ.  ////•/;  vir-  aus  iipcr)\  4.  die  indogerm.  Media- 
aspiraten, die  im  Griechischen  zu  Tenuisaspiraten  (x,  6,  <p),  im  Italischen 
zu  tonlosen  Spiranten  mit  Weiterentwickelung  und  im  Germanischen  zu 
Medien  verschoben  wurden,  sind  im  Altkeltischen  mit  den  alten  Medien 
vollständig  zusammengefallen.  Zieht  man  die  Sprachen  des  Inselkeltischen 
seit  dem  7.  Jahrhundert  mit  in  Betracht  und  erwägt,  daß  alle  Punkte,  in 
denen  sie  indogermanisches  Erbe   treu   bewahrt   haben,   auch   in   dem  Alt- 


38       Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.Sprachcu.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

keltischen  müssen  vorhanden  gewesen  sein,  dann  ergeben  sich  aus  der 
Flexionslehre  noch  viel  mehr  Momente,  die  für  die  aUkeltische  Sprach- 
einheit im  Gegensatz  zmn  Griechischen,  Italischen  und  Germanischen  an- 
geführt werden  können.  Auch  hier  seien  nur  vier  Punkte  ausgewählt:  i.  aus 
altir.  teoir,  cetheoir^  dem  Femin.  zu  tri^  cefJiir,  und  altkymr.  /«/-,  peteir  zu 
triy  petgiiar  ergibt  sich,  daß  das  Altkeltische  den  wunderbaren  Flexions- 
unterschied bei  der  Drei-  und  Vierzahl  bew^ahrt  hatte,  den  kein  anderer  indo- 
germanischer Sprachstamm  Europas  kennt;  2.  einen  Infinitiv  als  Teil  des 
Verbalsystems  hatte  das  Altkeltische  nicht,  nicht  einmal  die  Anfange  einer 
solchen  Ausbildung,  stand  also  an  Altertümlichkeit  noch  über  der  ältesten 
Periode  altindischer  Rede,  von  den  klassischen  Sprachen  und  Germanisch 
ganz  zu  schweigen;  3.  auch  in  der  treueren  Bewahrung  des  altindo- 
germanischen Verbalakzentes  —  sowohl  hinsichtlich  der  Stellung  desselben 
als  der  Bedingungen  für  die  verschiedene  Betonung  derselben  Verbalform 
—  stand  das  Altkeltische  der  ältesten  Phase  des  Altindischen  nicht  nach 
und  hob  sich  in  Bewahrung  der  ursprünglichen  organischen  Mannigfaltig- 
keit von  der  zwar  verschiedenen,  aber  schematischen  Regulierung  im 
Griechischen,  Italischen  und  Geniianischen  ab;  4.  am  treuesten  aber  von 
allen  indogermanischen  Sprachen  aller  Perioden  hatte  das  Altkeltische 
eine  Erscheinung  des  Indogermanischen  bewahrt,  in  der  noch  ganz  moderne 
keltische  Sprachen  dem  ältesten  Indischen  oder  Griechischen  überlegen 
sind.  Es  predigte  laut  die  Tatsache,  daß  die  kleinste  gefühlte  Einheit 
indogermanischer  Rede  nicht  das  einzelne  Wort  war,  sondern  der  kurze 
Satz  und  seine  Untereinheiten  von  näher  zusammengehörigen  Wörtern, 
als  da  sind:  Substantiv  und  Adjektiv,  Substantiv  und  abhängiger  Genitiv, 
zusammengehörige  Pronomina  und  Substantive,  Präpositionen  und  Substan- 
tive, Verb  Substantiv  (Kopula)  und  Nomen,  Verbalform  und  nominales 
Objekt.  Zwischen  ihnen,  d.  h.  zwischen  dem  Auslaut  des  einen  und  dem 
Anlaut  des  anderen,  herrschen  dieselben  lautlichen  Einwirkungen  (Assimi- 
lationen und  Dissimilationen)  wie  zwischen  den  Silben  und  Teilen  eines 
Wortes  selbst,  und  die  Nachwirkungen  dieser  lautgesetzlichen  Wandlungen 
in  den  jüngeren  Stufen  des  Inselkeltischen  sind  derart,  daß,  wenn  ein 
moderner  Grammatiker  mit  plumper  Hand  die  Einheit  z.  B.  eines  kymrischen 
Satzes  zerreißt,  manches  Wort  ihm  mit  vierfachem  Anlaut  zwischen 
den  Händen  bleibt:  einmal  dem  ursprünglichen  in  der  Isoliertheit,  also 
dem  Anlaut,  der  im  Griechischen,  Italischen  und  Germanischen  Wortanlaut 
ko-t'  eEoxriv  geworden  ist,  und  einem  auf  dreifachem  Wandel  beruhenden, 
je  nachdem  das  vorhergehende  Wort  vokalisch,  nasal  oder  konsonantisch 
in  keltischer  Urzeit  auslautete;  also  kymr.  penn  'Kopf:  dy  benn  Mein  Kopf, 
fy  mhenn  'mein  Kopf,  ei  phenn  'ihr  Kopf,  oder  täd  'Vater':  dy  däd  'dein 
Vater',  fy  nhäd  'mein  Vater',  ei  thäd  'ihr  Vater'.  Diese  den  ganzen 
Organismus  des  Irischen  und  Kymrischen  noch  heute  beherrschenden  Satz- 
wandlungen sind  von  dem  Satzsandhi  des  Indischen  so  verschieden,  wie 
blühendes  Leben  von  einem  verknöcherten,  pedantischen  Stubengelehrten. 


A.  Ulf  kcluscijcn  hpiachcn.     11.  Charakteristik  u.  (.iliciicrunj;  der  keltischen  Sprachen.         in 

Anzunelinicn,  daß  die  sprachliche  Kinheit  des  Altkeltischen  dialektische  i* 
Unterschiede  ausschließe,  widerrät  schon  ein  Blick  auf  die  aus  \  ielen  ^  """^^  ' 
Denkmälern  wohlbekannten  sprachlichen  Verhältnisse  der  Griechen  und 
Italiker  zur  Blütezeit  des  Altkeltischen  (4.  und  3.  Jahrhundert).  Sicher  ist,  daß 
auf  einem  (iebi<'t  des  Altkeltischen  dialektische  Unterschiede  bestanden,  auf 
den  britischen  Inseln.  Drei  kennen  wir  dort  sicher.  Die  indogennanischen 
sonantischen  //  und  ///  vor  Konsonanten,  die  im  Altindischen  und  Griechischen 
durch  a,  im  Lateinischen  durch  in,  cm,  im  Gennanischen  durch  //«,  um 
vertreten  sind,  waren  im  Altktjltischen  Irlands  cn,  rm,  aber  im  Altkeltischen 
Britanniens  an,  um:  man  sagte  dort  kenton  'Hundert',  nrgcntou  'Silber' 
(altir.  clt^  arget)  hier  kantun,  arganton  (altk}mr.  cun/,  tirianf).  Femer  war 
die  indogermanische  Anlautverbindung  sr  im  Altkeltischen  Britanniens  zu 
Jr  geworden,  so  daß  einem  irisch -altkeltischen  sruttis  oder  srutis  (altir. 
sruth)  'der  Strom'  im  Britisch- Altkeltischen  ein  frutus  oder  frutis  (alt- 
kymr.  //■///)  entsprach.  Tiefer  ging  noch  ein  dritter  Unterschied.  Eine  altindo- 
germanische Doppelheit  gutturaler  Tenuis,  dahin  gehend,  daß  neben  reinen 
Gutturalen  solche  mit  labialem  Element  bestanden,  also  das  im  I^tein 
durch  qu  und  c  repräsentierte  Verhältnis,  war  nur  im  Altkeltischen  der 
Bewohner  Irlands  bewahrt,  während  gleichzeitig  in  der  keltischen  Rede 
der  Briten  die  gutturale  ienuis  mit  labialem  Kleinent  durch  Assimilation 
zu  p  geworden  war  wie  in  den  umbrisch-samnitischen  Dialekten  des  Ita- 
lischen: also  irisch-altkeltisch  cquus  'Pferd',  maquos  'Sohn',  qucnnon  'Kopf, 
aber  britisch -altkeltisch  cpos,  mapos^  pennon.  Ein  Blick  auf  das  kontinen- 
tale Altkeltisch  lehrt,  daß  es  in  letzterem  Punkte  auf  seiten  des  britischen 
Altkeltisch  steht;  jedoch  ist  man  in  neuerer  Zeit  auf  die  Suche  gegangen, 
ob  nicht  auf  dem  weiten  Gebiet  des  kontinentalen  Altkeltisch,  nament- 
lich in  Gallien,  sich  Dialekte  befanden,  wo  dieser  Wandel  ebenfalls  sich 
nicht  vollzogen  hatte:  es  ist  weder  unmöglich  noch  unwahrscheinlich, 
aber  nicht  einwandfrei  nachgewiesen.  Hinsichtlich  der  ersterwähnten 
Differenz  im  Altkeltischen  der  britischen  Inseln  sprechen  altgallisch  caudrtum 
'Flächenmaß  von  100  Fuß'  (für  cantttum)^  der  gewöhnliche  Name  lantu- 
mariis  (wo  iattlu  'Begierde'  gleich  altir.  tt,  kymr.  iant  in  mUUant  ist)  und 
arganto-  in  Argantomagus  und  Argnntonins  lebhaft  dafür,  daß  das  kon- 
tinentale Altkeltisch  auch  in  diesem  Punkte  auf  Seiten  des  britischen 
Altkeltisch  steht;  denn  Argcntorate  statt  zu  erwartendem  Argantoraic 
kann  auf  lateinischer  I^utgebung  beruhen,  welche  Annahme  allerdings 
gewaltsam  erscheint  für  eine  auf  einer  in  Kärnten  gefundenen  Inschrift 
vorkommende  Xamensfomi  /tnfumarus  für  die  gewöhnliche  latttumarus. 
Sicher  auf  Seiten  des  britischen  Altkeltisch  steht  das  kontinentale  Alt- 
keltisch  in  der  dritten  Diflferen/. :  Opouiig  (die  Handschriften  lesen  irrig 
<t>poubi5)  ist  der  altkeltische  Xame  des  heutigen  Flusses  Somme,  und 
Frutonius  kommt  auf  einer  Inschrift  in  Spanien  vor,  während  bezeichnender- 
weise kein  mit  sr  anlautendes  altkeltisches  Wort  auf  dem  Kontinent 
belegt  ist. 


^O      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Die  Die  Nachkommen  des  Altkeltischen  auf  den  britischen  Inseln  in  Mittel- 

''*"^'de^''"^^  alter  und  Neuzeit  scheiden  sich  nach  dem  Ausgeführten  in  zwei  Gruppen : 
Inselkeltischen.  I.  die  keltisclicn  Idiome  in  Irland,  Schottland  und  auf  Man  und  2.  die 
keltischen  Idiome  in  Wales,  Cornwall  und  Bretagne.  Die  erste  Gruppe 
bildet  das  irische  Keltisch  mit  seinen  Kolonien,  die  zweite  Gruppe  ist 
Fortsetzung  des  britischen  Altkeltisch.  Die  Angehörigen  der  ersten  Gruppe 
nennen  sich  'Gaelen'  (altir.  goidhel,  neuir.  und  schott.  gäl.  gaedheal,  ge- 
sprochen gael),  ihre  Sprache  'gälisch'  (neuir.  und  schottisch  gaedhealg,  ge- 
sprochen gaclic,  manx  gailck).  Die  Angehörigen  der  zweiten  Gruppe 
nannten  sich  zur  Zeit  der  Auswanderung  eines  Teiles  nach  Aremorika 
brython,  d.  h.  Brittones,  und  ihre  Sprache  brythonec  '  die  brittonische ',  welcher 
Name  in  der  Form  brezonek  die  heutige  einheimische  Bezeichnung  des 
Keltischen  in  der  Bretagne  ist,  während  in  Cornwall  die  genauere  Be- 
zeichnung kernuak,  cernevek  ^komisch'  und  in  Wales  cymraeg  'kymrische 
Sprache'  aufkam. 
Der  gälische  Die  Sprache   des  irischen  Zweiges   des    Inselkeltischen,   das   Gälische, 

Zweig  des     -g^    ^^   Irland   seit   dem  7.  Jahrhundert    überschaubar.     Bis    tief  ins   Mittel- 

Inselkeltischen.  '      •' 

gälische,  ja  bis  zum  Neugälischen  sind  in  den  verschiedenen  Strichen  des 
gälischen  Sprachgebietes  nur  dialektische  Unterschiede  in  der  bis  Ausgang 
des  Mittelalters  gemeinsamen  Literatursprache  erkennbar:  es  ist  dies 
das  sogenannte  Alt-  und  Mittelirische.  Zwei  Momente  führten  wesentlich 
dazu,  die  literarische  und  sprachliche  Einheit  des  gälischen  Sprachgebietes 
zu  zerreißen.  Die  Folgen  der  oben  dargelegten  politischen  Zustände  Ir- 
lands seit  der  Tudorzeit  für  seine  Sprache  ließen  den  bis  dahin  domi- 
nierenden literarischen  Einfluß  des  Mutterlandes  auf  die  Kolonien  schwin- 
den; sodann  wurde  direkt  entscheidend  die  Reformation  oder  vielmehr  das 
Verhalten  der  einzelnen  Striche  des  gälischen  Sprachgebietes  zur  Refor- 
mation: Irland  blieb  katholisch,  während  das  gälische  Schottland  und  Man 
die  Reformation  annahmen.  Bezeichnend  für  die  sprachlichen  Zustände 
jener  Zeit  ist  es,  daß  für  die  protestantischen  Hochschotten  lange  gar  keine 
Übersetzung  der  Bibel  existierte,  indem  der  schottische  Geistliche  Robert 
Kirke  dem  Bedürfnis  der  protestantischen  Hochschotten  glaubte  vorder- 
hand Genüge  zu  leisten,  daß  er  die  1603  in  Dublin  erschienene  Über- 
setzung des  Neuen  Testamentes  ins  literarische  Irisch -Gälisch,  die  mit  so- 
genannten irischen  Lettern  gedruckt  war,  im  Jahre  1690  in  London  mit 
lateinischen  Lettern  für  die  keltischen  Hochschotten  drucken  ließ  und  nur 
ein  kleines  Glossar  hinzufügte,  in  welchem  für  gewisse  in  den  schottischen 
Hochlanden  obsolet  gewordene  Ausdrücke  der  literarischen  irisch -gälischen 
Sprache  die  dort  gebräuchlichen  Wörter  gegeben  wurden.  Also  dasselbe 
sprachliche  Verhältnis  wie  zur  Zeit  der  Reformation  in  Deutschland,  wo 
der  Baseler  Drucker  Adam  Petri  einem  Abdruck  von  Luthers  Übersetzung 
des  Neuen  Testamentes  ein  ähnliches  Wortregister  wie  Robert  Kirke  bei- 
fügte. Ein  weiterer  Beleg  für  die  Einheit  des  gälischen  Sprachgebietes 
in  Irland  und  der  Kolonie  in  Schottland  liegt  in   dem  Worte    'Erse',  mit 


A.  Die  keltischen  S|)ra(hen.     11.  Charakteristik  ii.  (i\\cdciuu>;   <i<i    m  lll^.  um    ^j)r.i' m  n  i| 

dem  norh  hiiT  und  da  bei  uns  in  Anlrhnun^  an  den  Gebrauch  in  enj^- 
lischer  Literatur  im  17.  und  18.  Jahrhundert  das  keltische  Idiom  der 
schottischen  Hochlande  bezeichnet  wird:  Erische,  Erysche,  Einsehe,  Erisch, 
Erse  nennen  die  jifermanischen  Hewohner  Xiederschottlands  seit  den  Taj^en 
Barbours  (1375)  und  Wallace  11470)  die  Sprache  der  mit  ihnen  zu  einem 
politischen  Ganzen  vereinigen  keltischen  Bewohner  der  Hochlande,  also 
'irisch',  und  bezeugen  hierdurch,  daß  für  sie  ein  Unterschied  nicht  er- 
kennbar war.  Xarh  der  Ablehnung  der  Reformation  durch  Irland  kamen 
im  Verlauf  die  divergierenden  Kiemente  im  schottischen  und  manx  Gälisch 
immer  mehr  zum  Durchbruch.  1707  wurde  eine  Übersetzung  des  Neuen 
Testamentes  in  schottischem  Gälisch  veröffentlicht,  dem  1783 — 1801  das  Alte 
Testament  folgte;  1772  kam  die  Übersetzung  der  Bibel  in  Manx-Gälisch 
heraus.  Fürs  Auge  wurden  die  sprachlichen  Differenzen  durch  einen  Um- 
stand verschärft.  In  Irland  wurde  die  alte  bis  ins  8.  Jahrhundert  zurück- 
gehende historische  Orthographie  im  wesentlichen  bis  heute  beibehalten, 
so  daß  z.  B.  für  ein  altir.  nidclu-  sumna  'Nacht  zu  Sommerende'  (i.  November) 
geschrieben  wird  oUce  samna  mit  diakritischen  Punkten  über  </,  r,  s  und 
///  aber  gesprochen  wird  wie  deutsches  ihe  haunc,  OMahony  ist  genaue 
Wiedergabe  eines  in  neuirischer  Orthographie  geschriebenen  (f Matgamtta 
mit  Punkten  über  /,  i^  und  inlautendem  ///.  In  Schottland  hingegen  schlich 
sich  ein  sonderbares  Gemisch  ein  von  historischer  Orthographie  mit 
Änderungen  nach  halbwegs  phonetischen  und  halbwegs  unvernünftigen 
Gesichtspunkten,  wie  sie  Leute,  die  von  tiefer  gehendem  positiven  Wissen 
in  Phonetik  und  Lautgeschichte  unabhängig  sind,  überall  aufstellen.  Auf 
der  Insel  Man  endlich  übertrug  man  infolge  der  seit  Mitte  des  13.  Jaiir- 
hunderts  bestehenden  Beziehungen  zu  Schottland  eine  der  mittelalterlichen 
Orthographien  des  englischen  Niederschottischen  auf  den  gälischen  Dialekt 
der  Insel,  so  daß  das  Wort  für  'Vater',  das  neuir.  athair  (altir.  athir  aus 
altem  pat^r)  geschrieben  wird,  im  Gälischen  von  Man  a\r  aussieht:  ge- 
sprochen werden  athair  und  a\r  vollkommen  gleich.  Während  so  ge- 
sprochenes Manx  und  der  Munsterdialekt  des  Neuirischen  kaum  so  weit 
voneinander  abstehen  wie  Munster-  und  Ulsterdialekt  im  Neuirischen, 
sehen  sie  geschrieben  oder  gedruckt  fast  wie  einander  wildfremde  Sprachen 
aus.  Sprachlich  betrachtet  ist  das  gälische  vSprachgebiet  von  Kerry  bis 
nach  Lewis,  in  den  schottischen  Hochlanden  und  auf  der  Insel  Man  immer 
noch  eine  Sprache  mit  zahlreichen  dialektischen  Schattierungen;  politische 
und  religiöse  Verhältnisse  haben  drei  Literatursprachen  in  der  Nfu- 
zeit  geschaffen:  irisch  Gälisch,  schottisch  Gälisch,  manx  Gälisch. 

Die    drei  Glieder  des   britischen  Zweiges    des  Inselkeltischen    bildeten    »»*»  bnti.ci« 
für  die  älteste  Zeit  ^8.  bis  10.  Jahrhundert),  aus  der  gleichzeitig  geschriebene  |^,|^7*iir7M 
Sprachdenkmäler  vorliegen,  eine  Einheit  mit  so  geringfügigt-n  dialektischen 
Differenzen,  daß  der  Begründer  der  keltischen  Sprachwissenschaft  in  seinem 
grundlegenden  W^erke    noch    keine  Sonderung    der    britischen  (ilo.vsen  aus 
genannter  Zeit   nach   den   späteren  Dial«kt«-ti   iKvmrisch.    K<irnisch,    Bret«>- 


42      Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

nisch)  vorzunehmen  wagte.  Erst  allmählich  hat  die  Beobachtung,  daß  ge- 
wisse kleine  lautliche  Differenzen  in  diesen  Glossen  mit  der  Herkunft  der 
Handschriften  aus  den  verschiedenen  Teilen  des  britischen  Sprachgebietes 
zusammenfallen,  gelehrt,  daß  in  diesen  Differenzen  die  Keime  jüngerer 
dialektischer  Ausbildung  vorliegen.  Die  Zerrissenheit  des  Sprachgebietes, 
die  durch  die  politischen  Verhältnisse  geförderte  Absonderung  der  drei 
Striche  hat  dann  die  Ausbildung  der  Differenzen  so  gefördert,  daß  am 
Ausgang  des  Mittelalters  die  sprachlichen  Unterschiede  auf  britischem 
Sprachgebiet  erheblich  bedeutender  sind  wie  gleichzeitig  auf  dem  gälischen 
Sprachgebiet.  Hierzu  kommt,  daß  das  Kymrische  im  12.  und  13.  Jahr- 
hundert seine  Orthographie  selbständig  auf  der  alten  Grundlage  weiter- 
bildete, das  Komische  dagegen  unter  englischen  und  das  Bretonische  unter 
französischen  Einfluß  in  der  Schreibung  gerieten,  wodurch  die  vorhandenen 
Differenzen  in  der  Sprache  noch  größer  erscheinen ,  als  sie  sind.  Heutigen- 
tags sind  Kymrisch  und  Bretonisch,  nachdem  das  in  Lauten  und  Formen 
die  Brücke  bildende  Komisch  ausgestorben  ist,  zwei  sich  zwar  nahestehende, 
aber  doch  immerhin  mindestens  so  stark  geschiedene  Sprachen  desselben 
Zweiges  wie  z.  B.  die  beiden  nordgermanischen  Sprachen  Dänisch  und 
Schwedisch.  In  Wales  war  in  der  Blütezeit  mittelkymrischer  Literatur 
(12.  bis  15.  Jahrhundert)  eine  Schriftsprache  vorhanden,  die  sich  an  das 
Kymrische  in  Südwestwales  (Dyfed)  anlehnte,  während  die  neukymrische 
Literatursprache  infolge  ihrer  Abhängigkeit  von  der  kymrischen  Bibel 
nordwelsche  Eigenheit  repräsentiert.  Ziemlich  starke  dialektische  Ver- 
schiedenheiten, die  das  Kymrische  in  Nordwales  (Gwynedd)  gegenüber 
Südwestwales  (Dyfed)  und  Südostwales  (Morganwg)  im  Volksmunde  auf- 
weist, treten  in  der  gesprochenen  Sprache  der  Gebildeten  nicht  schärfer 
auf  als  'Schwäbeln'  oder  'Sächseln'  in  Deutschland  auf  Kanzel  und  Katheder. 
Anders  entwickelten  sich  die  Verhältnisse  in  der  Bretagne.  Die  seit 
Mitte  des  10.  Jahrhunderts  eingetretene  Romanisierung  des  bretonischen 
Herrscherhauses  verhinderte  das  Aufkommen  einer  bretonischen  Literatur- 
sprache; später  haben  weder  politische  noch  literarische  Machtverhältnisse 
einem  der  gesprochenen  Dialekte  des  Bretonischen  dazu  verholfen,  die  Grund- 
lage für  eine  gemeinsame  bretonische  Literatursprache  zu  werden.  Das 
ganze  bretonische  Sprachgebiet  besteht  heutigentags  aus  einer  Reihe  von 
Dialekten,  die,  rein  sprachlich  betrachtet,  sich  auf  zwei  Gruppen  verteilen: 
die  eine  wesentlich  umfassend  die  bretonischen  Mundarten  in  den  Departe- 
ments Cötes-du-Nord  und  Finistere,  die  andere  die  von  Morbihan.  In  diesen 
Verhältnissen  sind  drei  oder  vier  Literaturdialekte  aufgekommen;  es  beruht 
dies  wesentlich  darauf,  daß  es  vor  der  französischen  Revolution  in  dem 
Gesamtgebiet  vier  Zentren  religiösen  Lebens  gab,  nämlich  die  Mittelpunkte 
der  vier  Diözesen  Treguier,  St.  Paul  de  Leon,  Quimper,  Vannes,  in  die  die 
Xiederbretagne  zerfiel.  In  deren  Klerikerseminaren  bildeten  sich  so  allmäh- 
lich vier  Diözesenliteraturdialekte  heraus.  Von  ihnen  stehen  die  drei  nörd- 
lichen von  Treger,  Leon  und  Cornouaille  sich  so  nahe,  daß  ohne  Schwierig- 


A.  l>ie   keltisclicn  Spraclirn.     II.  c  liaraktfristik  ii.  dlieilcrunji  der  kcUischen  Spratlu-n.         ii 

kcit  eine  gemoinsamo  l.iteraturspraclic  möglich  ist,  als  welche  auch  seit 
IJeginn  des  ig.  Jahrhunderts  der  Dialekt  von  Leon  mit  mehr  oder  weniger 
starkem  dialektischen  Einschlag  aus  den  beiden  anderen  vielfach  ver- 
wendet wird.  Dagegen  ist  der  Dialekt  von  Morbihan  (Vannes)  von  den 
drei  anderen  scharf  geschieden  und  wird  sich  bei  der  keltischen  Eigen- 
brödelei  in  eine  gesonderte  Literatursprache  auswachsen,  wenn  nicht  das 
Französische  vorher  das  Keltische   der  Niederbretagne  verschwinden  läßt. 

Stehen  also  die  drei  gälisch-keltischon  Sprachen  (irisch,  schottisch  und  ihr  ihffereos«« 
manx    Gälisch)    im    Verhältnis   naher    Dialekte    zueinander    wie    etwa    die    '^'^  K»i^^^ 

'  .....  ""^  brid»cbao 

oberdeutschen  Alemannisch,  Schwäbisch  und  Fränkisch,  die  drei  briti.sch-  Keituch. 
keltischen  Sprachen  (Kymrisch,  Kornisch,  Bretonisch)  unter  .sich  etwa  wie 
die  nordischen  Brüder  des  germanischen  Sprachstammes  (Schwedi.sch, 
Dänisch,  Norwegisch),  .so  .stehen  sich  heutigentags  diese  beiden  Zweige  des 
Inselkeltischen  gegenseitig  so  fern,  daß  zwischen  ihnen  und  durch  sie  jede 
Art  auch  nur  oberflächlicher  Verständigung  vollkommen  ausgeschlossen  ist. 
Bis  ins  Altkeltische  reichte,  wie  wir  sahen,  eine  lautliche  Differenz,  wonach 
die  keltische  Sprache  Irlands  der  ^«-Ast  und  die  Britanniens  der  ^-Ast 
des  Inselkeltischen  ist  Zu  dieser  und  den  beiden  anderen  hervorgehobenen 
lautlichen  Differenzen  des  britischen  und  irischen  Altkeltisch  war  im 
4.  Jahrhundert  die  weitere  getreten,  daß  in  dieser  Zeit  die  Iren  die  indo- 
gerra.  Längen  a  und  0  in  Wurzelsilben  in  einem  einheitlichen  hellen  n 
hatten  zusammenfallen  lassen,  während  umgekehrt  die  Briten  ein  einheit- 
liches dunkles  rr  (a)  sprachen.  Hierzu  kamen  dann  vom  5.  bis  1  i.  Jahr- 
hundert zahlreiche  andere  Differenzen  im  Gebiet  des  Konsonantismus, 
Vokalismus  und  der  Flexion.     Nur  einzelne  seien  hervorgehoben. 

Das  Irische  ließ  in  dem  angegebenen  Zeiträume  intervokalisches  s,  j 
und  V  schwinden,  das  Britische  bewahrte  j  und  v\  im  Irischen  schwanden 
die  Nasale  vor  tonlosen  Konsonanten  mit  Umgestaltung  der  letzteren, 
während  das  Britische  die  Na-sale  bewahrte:  durch  Wirkung  dieser  I^ut- 
ge.setze  i.st  das  im  Altkeltischen  der  britischen  Inseln  fast  gleichlautende 
Wort  für  Jüngling  im  9.  Jahrhundert  im  Altir.  oc  (aus  und  neben  oac  aus 
jüvencos)  und  im  Altkymr.  derselben  Zeit  iouanc.  Ferner  wurde  im  Irischen 
jede  intervokalischeTenuis  zur  Spirans  und  bei  den  Vertretern  von  /und /des 
weiteren  zu  //,  da.s  sich  ganz  verfluchten  kann,  während  dieselben  Grundlaute 
im  Britischen  zu  Medien  wurden,  die  bis  heute  bleiben.  Im  Vokalismus 
herrscht  in  beiden  Zweigen  ein  stark  monophthongischer  Zug  gegenüber 
dem  Altkeltischen,  aber  er  macht  sich  in  verschiedener  Richtung  in  dem 
angegebenen  Zeitraum  in  beiden  bemerkbar.  Im  Britischen  und  nament- 
lich im  Kymrischen  geht  dieser  Zug  in  der  Richtung  des  hellen  vokalischen 
Extrems,  und  so  k(immt  zu  dem  auf  c  und  /  beruhenden  altkoltischen 
langen  /  im  Britischen  um  die  Wende  des  5.  und  <>.  Jahrhunderts  ein  weiteres 
langes  /,  das  aus  a  über  ü  entstanden  ist,  wodurch  z.  B.  die  altkeltischen 
Namen  auf  -duiium  zu  solchen  mit  dui  wurden.  Gleichzeitig  waren  die 
alten    eu    und    oti    nach    Zusammenfallen    in    cii    mit    dem    alten    oi   infolge 


11       Heinrich  Zimmer  .  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

starker  Betonung  der  Diphthongen  auf  dem  ersten  Element  zu  o  geworden, 
welches  aus  drei  Quellen  geflossene  ö  mit  dem  ö  in  lateinischen  Lehn- 
wörtern gegen  Wende  des  5.  und  6.  Jahrhunderts  zu  u  und  im  6.  Jahrhundert 
zu  ü  wurde.  Im  Südkymrischen  ist  schon  früh  dieses  //  weiter  zu  i 
geworden,  und  daß  eine  /-ähnliche  Aussprache  des  aus  vier  Quellen 
kommenden  u  früh  auf  weiten  Strecken  des  Britengebietes  herrschte,  beweist 
der  Umstand,  daß  Beda  das  alte  Lindocolönia  (Lincoln)  Lindocollna  schreibt 
und  den  auf  ein  lat.  Dönätus  zurückgehenden  Namen  des  welschen  Abtes 
aus  den  Tagen  Augustins  des  Sachsenbekehrers  mit  Dinoot  gibt.  So 
herrschte  also  im  Britischen  des  7.  Jahrhunderts  ein  7,  das  auf  i,  e^  ü 
zurückgeht,  und  ein  in  kymrischer  Orthographie  //,  geschriebener,  aber  ü 
und  in  weiten  Strichen  ebenfalls  l  gesprochener  Laut,  der  ein  oi,  eu,  ou 
und  ö  in  Lehnwörtern  repräsentierte;  dazu  war  zu  der  Zeit  noch  ein  i 
getreten,  das  aus  kurzem  i  durch  sogenannte  Ersatzdehnung  (ichi  zu  ifh, 
wie  altkymr.  rlth  gleich  altir.  rieht)  entstanden  ist.  Diesem  einen  ge- 
sprochenen langen  f  des  Kymrisch-Britischen  des  8.  und  9.  Jahrhunderts,  das 
achterlei  Ursprung  hatte,  entsprachen  im  Altirischen  derselben  Zeit  die 
Laute  /,  ij,  oe  (oi) ,  ö  (öi) ,  ua  (uai) ,  ich:  so  lauten  also  z.  B.  die  altir. 
er  nach  'Haufe'  und  froeeh  'Heide'  im  Altkymr.  crue  und  gruc.  Hierzu 
nehme  man  noch,  daß  das  Altkymrische  gleichzeitig  durch  mancherlei 
konsonantische  Lautgesetze  aus  den  alten  Kürzen  a,  e,  o  eine  Fülle  von 
Diphthongen  (ae,  ai,  ei,  oe,  zvy)  erhalten  hatte,  denen  im  Altirischen  meist  ein 
einfacher  kurzer  Laut  mit  nachfolgendem  Konsonant  oder  ein  einfacher  langer 
Laut  entsprach;  ferner,  daß  die  beiden  Zweige  des  Inselkeltischen,  der  irische 
und  der  britische,  auf  der  Grundlage  des  im  Altkeltischen  noch  vorhandenen 
freien  indogermanischen  Akzents  schon  im  7.  und  8.  Jahrhundert  zwei  ganz 
verschiedene  Akzentsysteme  entwickelt  hatten,  nach  denen  alle  mehr 
als  zweisilbigen  Wortformen  verschieden  betont  wurden  und  der  verschiedene 
Akzent  noch  verschieden  auf  den  Vokalismus  der  im  Vorton  und  Nachton 
stehenden  Silben  einwirkte.  Leicht  verständlich  ist  aus  dem  allem,  daß  im 
Verlaufe  von  500  Jahren  gesprochenes  irisches  Keltisch  und  britisches 
Keltisch  sich  so  fem  getreten  waren,  daß  im  10.  Jahrhundert  ein  lebendiger 
Austausch  zwischen  Angehörigen  altirischer  und  altkymrischer  Zunge  ziemlich 
ausgeschlossen  war.  Obwohl  von  S.  Davids  in  Südwales  und  vom  Snowdon 
in  Nordwales  bei  klarem  Wetter  die  Berge  von  Wicklow  in  Irland  sichtbar 
sind,  versteht  heutigentags  ein  keltisch  einsprachiger  Taffy  aus  Car- 
diganshire  einen  keltisch  einsprachigen  Paddy  aus  Waterford  nicht  mehr 
wie  ein  deutsch -tiroler  Bergführer  einen  isländischen  Fischer. 
Die  Folgen  der  Der  Umstand,  daß   die   gälischen   und   britischen   Dialekte    des   Insel- 

sprachiicben     keltlschcn   selt   einem  Jahrtausend   für   praktische  Zwecke    wie  vollständig 

Unterschiede  .-..,.-.  •         -l  t^ 

für  die  Literatur,  fremde  Sprachen  sich  gegenüberstehen,  ist  für  die  literarische  Ent- 
wickelung  der  Inselkelten  von  einschneidender  Bedeutung.  Es  gibt  keine 
gemeininselkeltische  Literatur  des  Mittelalters,  sondern  nur 
einen    Literaturkreis   in    gälischer    und    einen    Literaturkreis    in 


A.  Die  kclüschcn  Sprachen.     II.  Charakteristik  u.  Ghederung  der  kcltiv  licn  Sprachen.        4^ 

britisch-keltischer  Sprache.  Diese  Literaturkreise  ferner  sind 
getrennt  und  ohne  Einwirkunjr  aufeinander.  Solche  literarische« 
Berührungen,  wie  sie  im  6.  und  noch  im  y.  Jahrhundert  zwischen  Xieder- 
deutschland  und  dem  germanischen  Norden  stattfanden  und  dazu  führten, 
daß  im  Verlauf  nicht  nur  am  Rhein  und  an  der  blauen  Donau  von  Sieg- 
fried, den  Nibelungen  und  deren  tragischem  Geschick,  sondern  auch  in 
Telemarken  und  Saetersdal,  auf  Island  und  Grönland  gesungen  und  gesagt 
wurde  —  derartige  Berührungen  sind  zwischen  den  Literaturkreisen  in 
gälischer  und  in  britisch -keltischer  Sprache  unbekannt,  obwohl  damals 
wie  heute  zwischen  Wales  und  Irland  nur  die  Irische  See  lag.  Im  g. 
und  10.  Jahrhundert  nahm  in  Südirland  die  Ausbildung  der  Finn-Ossiansage 
ihren  Ausgang  und  verbreitete  sich  in  den  folgenden  Jahrhunderten  über 
das  ganze  gälische  Sprachgebiet,  so  daß  im  15.  und  10.  Jahrimndert  die 
Erzählungen  aus  diesem  Sagenkreis  von  den  Buchten  Kerrys  bis  in  die 
Täler  Hochschottlands  den  Unterhaltung.sstoff  abgaben:  in  britisch-keltischer 
(kymrisch-bretonischer)  Literatur  tindet  sich  keine  Spur,  daß  Kunde  davon 
zu  ihr  gekommen.  Umgekehrt  entstand  vom  ö.  Jahrhundert  ab  eine  natio- 
nale Heldensage  der  Kelten  britischer  Zunge,  die  Arthursage,  die  im 
I  1.  Jahrhundert  überall,  wo  britisch-keltische  Rede  noch  ertönte  —  hoch 
oben  in  Cumberland,  Wales,  Cornwall  und  der  Bretagne  — ,  im  Volke 
lebte:  von  diesem  Sagenkreis  ist  nichts  in  den  gälischen  gelangt,  d.  h. 
nichts  direkt  von  britischen  Kelten  zu  gälischen  Kelten.  In  irischen  Texten, 
die  jünger  sind  als  das  i  2.  Jahrhundert  und  in  wesentlich  jüngeren  Hand- 
schriften vorliegen,  ist  in  irische  Erzählungen  —  sowohl  des  älteren, 
Cuchulinnsagenkreises,  als  des  jüngeren  Ossiansagenkreises  —  zwar  öfters 
episodenhaft  Arthur  eingeführt  zur  weiteren  Verherrlichung  des  gälischen 
Helden;  aber  schon  die  Formen  der  Namen  beweisen,  daß  die  Kunde  von 
Arthur  den  irischen  Sagenerzählem  nicht  aus  lebendiger  britisch-keltischer 
Rede  gekommen  ist,  sondern  aus  der  um  Mitte  des  11.  Jahrhunderts  ent- 
standenen irischen  Übersetzung  der  lateinischen  Historia  Brittonum  des 
Nennius  und  des  weiteren  aus  anglonormannischer,  englischer  oder  fran- 
zösischer Literatur  des  12.  und  13.  Jahrhunderts,  die  seit  der  anglonorman- 
nischen  Eroberung  Irlands  im  Jahre  1172  und  dem  daran  anschließenden 
dauernden  Aufenthalt  anglonormannischer  Adliger  nach  Irland  kam. 

Nähere  Berührungen  zwischen  dem  irisch-gälischen  und  dem  kymrisch- 
britischen  Literaturkreis  haben  also  seitdem  0.  und  7.  Jahrhundert  nicht  mehr 
stattgefunden,  wogegen  nicht  angeführt  werden  kann,  daß  sowohl  in  der 
südwestbritannischen  Arthursage,  als  in  dem  älteren  Mabinogionsagenkreis 
Erinnerungen  an  die  früheren  poUtischen  Berührungen  der  Briten  mit  den 
Iren  liegen.  Die  sind  auch  im  u.  bis  1 3.  Jahrhundert  vorhanden,  indem 
Iren,  denen  zu  Hause  der  Boden  zu  heiß  wurde,  in  leichtem  Kahn  nach 
der  britischen  Küste  und  Welsche  in  gleicher  Lage  nach  Irland  flüchteten. 
Mit  einer  näheren  Berührung  der  getrennten  Literaturkreise  im  frühen 
Mittelalter,    die    zu    tiefer    gehenden    Einwirkungen  getuhrt  hätte,  hat  dies 


^6      Heinrich  Zi.mmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

nichts  zu  tun.  Dafür  kann  auch  nicht  angeführt  werden,  daß  unter  den 
sogenannten  altwelschen  Gedichten  sich  eine  dem  Taliessin  zugeschriebene 
'Totenklage  um  Curoi  mac  Dari'  (Marwnat  Corroi  in.  Dayry)  befindet,  in 
der  auch  auf  den  Kampf  zwischen  Curoi  und  Cuchulinn  (Kyfrmic  Corroi  a 
Chocholyii)  angespielt  wird.  Im  ausgehenden  ii,  und  1 2.  Jahrhundert  hielten 
nordwelsche  Fürsten  wie  Gruffydd  ab  Cynan  (1076 — 1135)  und  südwelsche 
Herrscher  wie  Gruffydd  ab  Rhys  (1135)  und  Rhys  ab  Gruffydd  (1176) 
große  Musiker-  und  Sängerfeste  ab,  zu  denen  lange  vorher  —  zum  Fest 
II 76  ein  ganzes  Jahr  —  Aufforderungen  an  Musiker,  Sänger  und  Dichter 
in  'Wales  und  England  und  Schottland  und  Irland  und  viele  andere  Länder' 
zum  Kommen  geschickt  wurden.  Iren  werden  unter  den  durch  große 
Preise  zum  Wettbewerb  Herbeigelockten  nicht  gefehlt  haben.  Unter  ihnen 
mag  einer  eine  irische  Elegie  auf  Curoi  mac  Dare  —  tatsächlich  ist  ja  in 
irischer  Literatur  ein  derartiges  Gedicht  unter  dem  Titel  Amra  Coriroi 
tu.  Dairi  erhalten  —  vorgetragen  und  ein  kymrischer  Barde  den  ihm 
mitgeteilten  Inhalt  in  kymrischer  Sprache  nachgeahmt  haben.  Auf  das 
Verhältnis  des  gälischen  zum  britischen  Literaturkreis  waren  solche  ver- 
einzelte Vorkommnisse  ohne  Einfluß.  Gemeinsam  haben  Iren  und  Briten 
in  den  ihnen  eigenen  mittelalterlichen  Sagenkreisen  —  Cuchulinn-  und 
Finnsage  in  Irland,  Mabinogionsagenkreis  in  Wales  und  Arthursage  bei 
Briten  —  nur  Sagen  züge  und  Sagen  demente;  wie  dieselben  Steine,  nur 
vielfach  anders  behauen  und  in  ganz  andere  Bauten  eingefügt,  muten  uns 
diese  gemeinsamen  Sagenelemente  in  den  beiden  Literaturkreisen  des  Insel- 
keltischen an:  sie  stammen  bei  den  mittelalterlichen  Kelten  aus  dem 
gemeinsamen  keltischen  Erbe  der  Inselkelten. 


B.  Die  keltischen  Literaturen. 

L  Der  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen.  Bei  den 
Kelten  gab  es  zu  allen  Zeiten  und  allerorts  neben  dem  Adel  und  der 
großen  Masse  einen  dritten  Stand,  die  literarische  Welt,  die  sich  ursprüng- 
lich überall  in  drei  Klassen  teilte.  Diese  drei  Klassen  des  Literaten- 
standes waren  nach  Zeugnissen  griechischer  und  römischer  Schriftsteller 
Druiden  (Apuibai),  Vaten  (OudreK;),  Barden  (Bdpboi)  bei  den  alten  Kelten 
genannt.  Die  Klassen  selbst  und  ihre  Namen  kommen  bei  den  mittel- 
alterlichen Nachkommen  der  Inselkelten,  ja  teilweise  bis  auf  den  heutigen 
Tag  vor.  Nach  Zeiten  und  Umständen  tritt  auf  einzelnen  Gebieten  des 
Keltentums  die  eine  oder  andere  Klasse  ganz  besonders  in  den  Vorder- 
grund: so  z.  B.  die  Druiden  bei  den  Kelten  Galliens  zu  Caesars  Zeit,  die 
Barden  im  mittelalterlichen  Wales,  die  Vaten  bei  den  irischen  Kelten 
im  Mittelalter.  Der  den  Dingen  ferner  Stehende  kann  daher  leicht  den 
Eindruck  erhalten,  als  ob  hier  oder  dort  die  eine  Klasse  die  gesamte 
Welt  des  keltischen  Literatentums  repräsentiere,  und  so  kommt  denn  auch 


li.  Ute  keltischen  Literaturen.     I.  l>cr  keltische  l.ittrutcnsland  und  seine  Klassen  i- 

4  4 

Julius  Caesar  zu  der  Vorstellung,  daß  es  in  Gallien  neben  dem  Adel 
{»•(/iiift's)  nur  Druiden  {Druidts)  ifegeben  habe.  Die  ursprünj^lichen 
Wirkunjifskreise  der  drei  Klassen  lassen  sich  im  j^roüen  mit  heuti^^en 
Hegriffen  dahin  bestimmen:  die  Druiden  waren  der  Priesterstand,  dem 
das  weit  in  die  bürgerlichen  V^erhältnisso  eingreifende  Religionswesen 
unterstellt  war;  die  Harden  sind  die  Musiker,  Sänger  und  lyrischen 
Dichter,  denen  die  Unterhaltung  von  Fürsten  und  Adel  in  erster  Linie 
oblag;  die  Vaten  sind  die  Seher  der  Kelten  und  als  solche  sowohl  die 
Rechtsfinder  wie  die  Bewahrer  der  geschichtlichen  und  sagenhaften  Über- 
lieferung. 

I.  Betrachten  wir  zuerst  die  Klasse  der  Druiden.  Di«'  praktische  !>•*  Dru»a«j  u> 
Seite  ihres  Wirkungskreises,  wonacii  sie  die  Religion  und  was  mit  ihr  '•-"— 
zusanimenhing  im  Staate  vertraten,  erleichterte  es  der  kastenartig  si<h 
zusammenschließenden  Klasse  der  Druiden  bei  den  Kelten  Galliens  zu 
Caesars  Zeit  die  anderen  KUissen  der  literarischen  Welt  so  im  Staate  in 
den  Hintergrund  zu  drängen,  daß,  wenn  wir  nur  Caesars  Bericht  hätten, 
ein  ganz  falsches  BiKl  entstehen  würde.  Ihre  Stellung  machte  die  Druiden 
zur  Seele  des  nationalen  Widerstandes  gegen  die  Römerherrschaft,  und 
davon  mußten  sie  die  Folgen  tragen:  hingemordet  in  Scharen  in  den 
lagen  der  Kaiser  Tiberius,  Claudius  und  Xero  hatten  ihre  Reste  in  den 
Tagen  des  Pomponius  Mela  und  Lucans  sich  in  die  Wälder  zurückgezogen 
und  fristen  in  den  Tagen  von  Plinius  dem  Naturforscher  als  Ärzte,  Vieh- 
doktoren und  Zauberer  ihr  Dasein.  Nach  Vespasian  (79  n.  Chr.)  redet 
kein  Schriftsteller  m(;hr  von  ihnen  als  Zeitgenossen:  sie  gehörten  der 
Geschichte  an. 

Um  dieselbe  Zeit  war  es  auch  mit  dem  Druidentum  in  Britannien  zu  !>■«  i>nudeti  ■> 
Ende,  Ihretwegen  unternahm  Paidlinus  im  Jahre  01  n.  Chr.  den  Zug  »"»*»"»««• 
nach  Anglesey  (Mona),  und  was  danach  von  Druiden  noch  übrigblieb, 
fiel  in  der  von  ihnen  angefachten  nationalen  Insurrektion  der  Inselkelten, 
die  mit  dem  Namen  der  Icenerkönigin  Boudica  verknüpft  ist.  Die  \'er- 
nichtung  war  so  gründUch,  daß  ihrer  in  der  Zeit  der  Römerherrschaft  in 
Britannien  nicht  mehr  gedacht  wird,  ja  daß  bei  den  mittelalterlichen  Nach- 
kommen der  britischen  Kelten  (in  Wales,  Cornwall  und  der  Bretagne) 
nicht  einmal  der  Name  bewahrt  ist.  Das  moderne  Druidentum  im 
heutigen  Wales  ist  eine  junge  Erfindung  und  durch  kein  Band  an  das 
Druidentum  der  Briten  zu  Caesars  und  Neros  Zeit  geknüpft  Es  ist  eine 
bei  Plinius  dem  Alteren  auftretende  und  in  der  Folge  verbreitete,  aber 
haltlose  Etymologie,  daß  das  altkeltische  druidfs  —  der  Xom.  Sing,  würde 
drui!;  lauten  —  von  dem  griechischen  Worte  bpOi;  in  der  Bedeutung 
'Eiche'  abstamme;  als  man  im  christlichen  Britannien  im  frühen  Mittel- 
alter anfing,  an  der  Hand  der  uns  erhaltenen  antiken  (Juellen  die  Vorzeit 
antiquarisch  zu  erforschen,  da  bildete  man  in  Anlehnung  an  jene  Etymo- 
logie von  dem  gewöhnUchen  keltischen  Wort  für  'Eiche'  (altir.  daur  Genit 
daro,  mittelkymr.  dar  und  dtnvy  kom.  dar  und  d<ro-i\  bret  derv  und  d^-ros 


aS      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

eine  Ableitung  ^altbret.  darguid^  mittel-  und  neukymr.  derwydd),  um  eben 
ein  einheimisches  Wort  zu  haben,  wenn  man  in  einheimischer  Rede  über 
die  alten  Dinge  sprach,  dichtete  oder  schrieb.  Noch  jünger  ist  das  neu- 
kymrische  Druidentum  selbst.  In  den  zahlreichen  Denkmälern  in  lateinischer 
und  kymrischer  Sprache  über  Wales  und  seine  Zustände  von  den  Tagen 
des  Gildas  (erste  Hälfte  des  6.  Jahrhunderts)  über  die  kymrischen  Gesetze 
des  Hywel  dda  (lo.  Jahrhundert)  bis  auf  Giraldus  Cambrensis  (Ende  des 
12.  Jahrhunderts)  findet  sich  keine  Spur  einer  Andeutung  von  übrig- 
gebliebenem Druidentum.  Es  hat  das  neuwelsche  Druidentum  seine  An- 
fange in  der  Zeit,  in  welche  man  vielfach  die  Anfange  des  Freimaurertums 
verlegt:  kabbalistische  Ideen  fanden  im  1 5.  Jahrhundert  in  Südwales  Eingang; 
sie  wurden  nationalisiert  und  in  Anlehnung  an  die  aus  klassischen 
Schriftstellern  geschöpften  Nachrichten  über  das  antiquarische  alte  Druiden- 
tum Galliens  dann  im  16.  und  17.  Jahrhundert  in  Südwales  in  ein  System 
gebracht.  Es  ist  hauptsächlich  das  Verdienst  eines  Südwelschen  um  die 
Wende  des  18.  und  ig.  Jahrhunderts  —  Edward  Williams  hieß  er  und  Jolo 
Morganwg  war  sein  Deckname  — ,  diesem  neukymrischen  Druidentum 
zuerst  unter  Schulmeistern  und  halbgebildeten  nonkonformistischen  Predigern 
Eingang  verschafft  zu  haben;  mit  dem  zweiten  Drittel  des  1 9.  Jahrhunderts 
fand  es  dann  Aufnahme  in  die  mit  vielen  Unterbrechungen  bis  ins  12.  Jahr- 
hundert zurück  verfolgbaren  nationalen  Sänger-  und  Musikfeste  von  Wales: 
es  bildet  heute  in  den  Augen  vieler  deren  Mittelpunkt  und  gilt  in  weiten 
Kreisen  als  ein  Erbe  der  Vorzeit,  älter  als  Christentum  und  römische 
Kultur  in  Britannien.  Wenn  jedoch  heutigentags  beim  nationalen  Fest 
der  Kymren  der  Erzdruide  mit  seinem  Gefolge  auszieht,  dann  hat  dies 
mit  altkeltischer  Druidensitzung  im  Carnutengebiet  nichts  gemein;  es  hat 
aber  eine  Parallele  in  dem  Zug  des  Prinzen  Carneval  und  seines  närrischen 
Gefolges  am  Rosenmontag  in  Köln,  und  der  'Bundesstein'  [maeti  log) 
innerhalb  des  geheiligten  Kreises,  auf  den  die  modernen  Druiden  zum 
Aufsagen  ihres  Sprüchleins  treten  bei  den  Versammlungen,  hat  sein  voll- 
ständiges Seitenstück  in  der  'Butt'  bei  den  närrischen  Sitzungen  in  Köln. 
'  Die  Wahrheit  der  Welt  zum  Trotz '  (i'  gwir  yn  erbyn  y  byd)  ist  der  gewiß 
verwegene  Wahlspruch  dieses  neukymrischen  Druidentums.  Es  ist  in  jeder 
Richtung  im  Vorschreiten  begriffen;  infolge  der  den  heutigen  Kelten  in 
hohem  Grade  eigenen  Neigung  für  Schaustellungen  droht  das  neukymrische 
Druidentum  sich  zu  einem  neukeltischen  auszuwachsen:  1901  erschien  der 
'Erzdruide'  von  Wales  mit  Gefolge  in  Dublin  auf  dem  ersten  Pankeltisten- 
kongreß,  um  dort  eine  feierliche  Sitzung  abzuhalten,  und  im  folgenden 
Jahre  führten  einige  begeisterte  bretonische  Pankeltisten,  die  in  Wales  die 
Weihen  erhalten  hatten,  mit  Zustimmung  desselben  Erzdruiden  das  Druiden- 
tum in  die  Niederbretagne  ein. 
Die  Druiden  in  Anderer    Art    als    in    Gallien    und  Britannien    war    das  Ende   des  alt- 

keltischen Druidentums  in  Irland.    Das  Christentum,  das  von  Keltisch  reden- 
den  christlichen  Briten   im    4.  Jahrhundert   dorthin   gebracht   wurde,    fand 


Irland. 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     I.   Der  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen.        40 

ungebrochenes  Keltentum  und  un^^ebrochene.s  Heidentum  vor.  Die  chri.st- 
liche  Kirche  Irlands  hat  keine  Märtyrer;  das  Christentum  hat  also  ohne 
besonderen  Widerstand  Eingang  gefunden.  Dies  war  nur  möglich,  wenn 
der  mächtige  nationale  Priesterstand,  die  Druiden,  ihm  keinen  andauernden 
Widerstand  entgegensetzten,  sondern  das  Christentum  des  4.  Jahrhunderts, 
in  dem  die  klassische  Bildung  jener  Zeit  eine  bedeutendere  Rolle  spielte 
als  100  oder  150  Jahre  später,  annahmen  und  forderten.  Mir  scheint, 
der  hohe  Stand  christlich-antiker  Bildung  in  Irland  vom  6.  bis  g.  Jahr- 
hundert ist  nur  recht  verständlich,  wenn  man  den  Boden  mit  in  Betracht 
zieht,  den  ein  fester  Priesterstand  wie  die  Druiden  mit  Unterricht  und 
Schulen  in  Irland  zubereitet  hatte,  und  wenn  die  Druiden  zu  nicht  unbe- 
deutendem Teil  in  dem  neuen  Mönchtum  aufgingen.  Die  beiseite  Stehen- 
den sanken  in  dem  christlich  gewordenen  Irland  bald  zu  'Zauberern' 
herab,  und  so  leben  sie,  wie  auch  anderswo  die  heidnischen  Priester  der 
Vorzeit,  wesentlich  in  der  Erinnerung.  Das  Wort  'Druide',  das  durch  die 
ganze  gälische  Literatur  bis  heute  vorkommt  in  den  Formen,  die  ein  alt- 
keltisches Wort  in  ununterbrochener  Entwickelung  zeigen  muß  —  altir. 
Nom.  Sing.  </r///,  Nom.  Plur.  druidy  neuir.  und  schottisch  gälisch  draoi  — , 
wird  in  einer  irischen  Erklärung  des  g.  Jahrhunderts  auf  die  äg^-ptischen 
Zauberer  Jamnes  und  Mambres  angewendet:  'zwei  äg^'ptische  Druiden,  die 
mit  Moses  gestritten  hatten.'  In  kirchlichen  Texten  Irlands  in  lateinischer 
Sprache,  wie  wir  sie  vom  7.  Jahrhundert  ab  in  Heiligenleben  besitzen, 
wird  niagus  verwendet  und  alles,  was  von  Zauberei  im  Alten  und  Neuen 
Testament  vorkommt  oder  aus  klassischer  Literatur  bekannt  geworden  war, 
mehr  oder  weniger  auf  sie  übertragen,  wie  umgekehrt  in  irischen  Texten 
drui  für  mdi^m:  der  Vorlagen  eintritt:  so  werden  sowohl  die  drei  Weisen 
aus  dem  Morgenlande  als  die  Brahmanen  Indiens  'Druiden'  genannt. 
Heutigentags  bedeutet  draoi  im  Gälischen  Irlands  wie  Schottlands  einfach 
*Zauberer',  und  in  diesem  Sinne  verwandten  es  auch  die  irischen  Glaubens- 
boten, die  von  6,3  —  664  die  Angeln  Xorthumberlands  christianisierten, 
wie  das  von  ihnen  ins  Angelsächsische  aufgenommene  dr\  'Zauberer'  be- 
weist In  den  altirischen  Sagentexten  haben  wir  jedoch  genügende 
Erinnerung,  daß  die  Klasse  der  Druiden  in  der  Vorzeit  des  ungebrochenen 
Heidentums  in  Irland  eine  angesehene  Stellung  müssen  eingenomnirn  hahm, 
richterliche  Funktionen  indessen  nicht  ausübten. 

Auf  die  mittelalterliche  Literatur  der  Inselkelten  ist  die  vornehmste 
Klasse  der  literari.schen  Welt  der  Kelten  im  Altertum  ohne  Einfluß  dem- 
nach, soweit  nicht  das  keltische  Mönchtum  Irlands  im  Mittelalter  als  die 
geistigen  Erben  und  teilweisen  Nachfolger  der  Druiden  in  Irland  in  die- 
selbe eingegriffen  hat  Ganz  anders  ist  die  Bedeutung  der  beiden  anderen 
Klassen  der  literarischen  Welt  für  die  Literatur  der  Inselkelten. 

2.  Die  Zeugnisse  der  Alten  über  die  Barden  der  kontinentalen  Kelten  rn*  lUr^M  »n 
sind  älter  als  die  über  die  Druiden  und  lassen   über  ihre  Stellung  keinen       g»u.«^ 
Zweifel  aufkommen;   in   allen   tritt   immer   die  Doppelheit  Musiker-Sänger 

L>iB  Rn.Tvii  Dis  GaonrwAKT.    Lii.  1.  4 


^O      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

und  lyrischer  Dichter  zur  Einheit  verbunden  zutage :  zu  Instrumenten  ähnlich 
der  Lyra  der  Alten  —  in  Irland  und  Wales  ist  es  in  historischer  Zeit  die 
Harfe,  die  chrotta  Britannica  bei  Venantius  Fortunatus  —  trugen  sie  ihre 
Lieder  vor,  und  diese  waren  nach  dem  Zeugnisse  Diodors  Preislieder  auf 
Personen  und  Ereignisse  oder  Spottlieder;  nirgends  findet  sich  eine 
Spur,  daß  die  altkeltischen  Barden  Träger  des  Epos  waren  oder  etwas 
damit  überhaupt  zu  tun  hatten.  Posidonius  meldet  uns  bei  Athenaeus,  daß 
Lovernios,  der  König  der  Arverner  (um  140  v.  Chr.),  ein  großes  Fest  her- 
richtete, daß  aber  der  Dichter  zu  spät  kam  und  nun  neben  dem  Wagen 
des  Königs  herlaufend  die  Gewalt  des  Königs  gepriesen  und  sein  eigenes 
Mißgeschick  beklagt  habe;  darauf  warf  ihm  der  König  einen  Beutel  Gold 
zu,  welchen  der  Barde  aufrafft  und  aufs  neue  in  den  Preis  ausbricht,  daß 
die  Wagenspur  des  Königs  den  Menschen  Gold  und  Wohltaten  bringe. 
Als  der  Sohn  jenes  Lovernios,  Bituitus,  eine  Gesandtschaft  an  den  römischen 
Prokonsul  schickte,  befand  sich  dabei  ein  |Liou(yiKÖ(;  dvrip,  der  unter  Bar- 
barenmusik zuerst  den  König  Bituitus,  dann  die  Allobroger,  dann  den  Ge- 
sandten sowohl  hinsichtlich  der  Abstammung  als  der  Tapferkeit  und  des 
Reichtums  pries.  Noch  ein  so  junger  Zeuge  wie  Ammianus  Marcellinus 
sagt,  die  Barden  besängen  in  Versen  unter  Begleitung  süßer  Melodien  die 
tapferen  Taten  berühmter  Männer. 
Die  Barden  in  In  all  dieseu  Funktionen  —  als  musizierende  Sänger,  als  Dichter  von 

Irland.  Preisliedem  und  als  Verfasser  von  Schimpfliedern  —  treten  uns  in  Irland 
die  Barden  (Xom.  Sing,  bard.,  Plur.  baird)  in  ältester  Zeit  entgegen.  In 
einem  aus  erster  Hälfte  des  9.  Jahrhunderts  stammenden  Loblied  auf  ein 
Leinsterköniglein  Aed  heißt  es  zum  Schluß  'melodiöse  Bardenkompositionen 
{bairtni  bindi)  verherrlichen  unter  Musik  bei  Trinkgelagen  den  Namen  Aeds'. 
Aus  der  festen  Hofstellung  wurden  die  Angehörigen  der  Bardenklasse 
vielfach  durch  die  in  Irland  fili  genannten  Vertreter  der  Vatenklasse  ver- 
drängt, weil  diese  die  offizielle  Gelegenheitsdichtung  (Schlachtgesänge, 
Schwert-  und  Schildlieder,  Totenklagen)  übernahmen;  hierdurch  fanden 
die  zum  Wandern  gezwungenen  Barden  mehr  Veranlassung,  die  unfreund- 
liche Seite  ihres  Berufs  hervorzukehren,  und  dem  entspricht,  daß  der 
Grundton  der  Stimmung  gegenüber  den  Barden  in  Irland  oft  die  Furcht,  das 
Unbehagen  vor  ihren  Spottgedichten  ist.  Weit  war  der  Glaube  verbreitet, 
daß  ein  Schmähgedicht  —  d.  h.  der  Ärger  infolge  eines  solchen  —  auf  dem 
Gesicht  des  Geschmähten  Flecken  und  Ausschlag  hervorrufe,  ja  daß  es  einen 
Mann,  infolge  des  Ärgers  über  die  Schmach  und  Schande,  innerhalb  neun 
Tagen  töten  könne.  Wir  haben  mehr  als  ein  Zeugnis  in  der  älteren  irischen 
Heldensage,  daß  Fürsten  und  berühmte  Helden  es  lieber  vorzogen,  in  den 
Tod  zu  gehen,  als  einem  Barden  Veranlassung  zu  einem  Spottgedicht  zu 
geben.  Die  erwähnten  natürlichen  Wirkungen  der  Spottgedichte  — 
Folgen  des  Ärgers  —  schrieb  man  in  der  Folge  den  übernatürlichen 
Kräften  der  Barden  zu,  wodurch  der  irische  Barde  im  Verlauf  zum 
Teil     eine    eigentümliche     Umwandlung     durchmachte.       Zwei     Beispiele 


H.   Die  keltischen  Literaturen.     I.  Der  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen.        ^  i 

mögen  dies  erläutern.  Als  im  Jahre  14 14  ein  mißliebiger  englischer 
Vizekönig  nach  Irland  kam,  da  machten,  wie  uns  die  Annalen  der 
vier  Meister  berichten,  die  O'Higgins,  eine  Bardenfamilie  von  Ulsterland, 
ein  Spottgedicht,  infolgedessen  im  Verlauf  von  fünf  Wochen  der  neue 
Statthalter  'an  dem  Gift  der  Pasquillen  starb'.  Die  nur  in  einer  jungen 
Umgestaltung  erhaltene  Erzählung  'Die  Wanderung  der  lästigen  Schar' 
enthält  ein  Gedicht,  in  dem  aus  den  Anschauungen  des  14.  und  1 5.  Jahr- 
hunderts heraus  dem  im  7.  Jahrhundert  lebenden  Senchan  Torpeist  ein 
Gedicht  in  den  Mund  gelegt  wird,  in  dem  er  die  ihm  unbequemen  Ratten 
oder  Mäuse  zu  Tode  singt.  Von  der  Misere,  welche  das  Reformations- 
zeitalter mit  seinen  Folgen  über  das  Keltentum  Irlands  brachte,  vor  allen 
Dingen  von  der  mit  den  Landkonfiskationen  verbundenen  allgemeinen  Ver- 
armung wurden  die  auf  Geschenke  der  Gönner  angewiesenen  Barden 
schwer  betroffen.  Wenn  auch  noch  einzelne  hervorragendere  Gestalten, 
wie  der  unter  dem  Namen  des  'letzten  Barden'  Irlands  bekannte  Turlogh 
O'Carolan  (1670 — 1737),  in  die  Zeit  der  Penalgesetze  hineinragen,  viele 
Barden  scheinen  in  jenen  Zeiten  in  Irland  zur  Erlangung  des  täglichen 
Brotes  sich  der  Tätigkeit,  Ratten  und  Mäuse  durch  Spottgedichte  zu  Tode 
zu  ärgern,  zugewendet  zu  haben.  Schon  Shakespeare  hat  davon  Kunde 
(As  you  like  it,  Akt  ,s  Scene  2),  und  Schriftsteller  aus  den  Tagen  der 
Elisabeth  und  aus  dem  folgenden  Jahrhundert  liefern  zahlreiche  Zeugnisse 
für  die  'rhyming  rats  to  death'  genannte  Tätigkeit  irischer  Barden.  —  In 
Schottland  kamen  gerade  zu  dieser  Zeit  die  Barden  zeitweilig  in  an- 
gesehenere Stellung.  Wie  bei  anderer  Gelegenheit  bemerkt,  begannen  die 
hochschottischen  Clanhäuptlinge  nach  der  Personalunion  zwischen  England 
und  Schottland  (1603)  fern  von  dem  anglisierenden  Einfluß  der  in  London 
sitzenden  Zentralgewalt  in  der  gälischen  Umgebung  sich  wieder  mehr  zu 
nationalisieren.  Hierdurch  kamen  die  Barden  im  17.  und  18.  Jahrhundert 
im  schottisch -gälischen  Sprachgebiet  annähernd  in  eine  Stellung,  wie  wir 
sie  bei  den  Barden  in  Wales  in  den  Zeiten  der  welschen  Unabhängigkeit 
werden  kennen  lernen. 

Wenden  wir  uns  zu  den  keltischen  Briten.  Das  in  Wales  bis  in  den  Die  iurdeo  in 
Beginn  der  Tudorzeit  geltende  nationale  Recht,  also  die  aus  dem 
10.  Jahrhundert  stammenden  altwelschen  Gesetze  kennen  unter  den  Per- 
sonen am  Hofe  des  Fürsten  den  'Haus-  und  Hofbarden'  (bard  tculu). 
Unter  den  24  Personen,  die  den  Hofstaat  eines  welschen  Fürsten  bilden,  nimmt 
er  in  Nordwales  die  8.,  in  Westwales  die  11.  Stelle  ein:  er  sitzt  bei  den 
Festen  neben  dem  Vorsteher  des  Hofstaates,  der  ihm  die  Harfe  in  die 
Hand  zu  geben  hat.  An  den  drei  großen  Festen  des  Jahres  nimmt  neben 
dem  Hausbarden  des  Fürsten  auch  der  bard  kadeyryauc  'der  den  Stuhl  inne- 
habende Barde',  d.  h.  der  Vorsteher  der  Bardenklasse  in  Wales  teil.  Wie 
der  Priester  beim  Beginn  der  Mahlzeit  das  Pater  zu  sagen  hat,  so  muß 
der  bard kadryryauc  anheben,  wenn  ein  Lied  begehrt  wird:  der  erste  Gesang 
gilt  Gott;  der  zweite  dem    Fürsten,    in    dessen    Palast    man    sich    befindet, 


Wale* 


C2      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.Sprache  u. Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

oder,  wenn  kein  Fürst  da  ist,  einem  anderen  König.  Dann  hat  der  Haus- 
barde drei  Gesänge  zu  singen  über  verschiedene  Dinge.  Wenn  die  Fürstin 
ein  Lied  zu  hören  wünscht,  so  muß  der  Hausbarde  zu  ihr  gehen  und  ihr, 
solange  sie  es  wünscht,  singen,  aber  mit  gedämpfter  Stimme,  daß  das  übrige 
Treiben  in  der  Halle  nicht  dadurch  gestört  wird.  Beim  Einfall  eines  Clans 
in  ein  Nachbargebiet  bekommt  der  König  von  der  Beute  vorweg  ein 
Drittel;  das  übrige  wird  unter  die  Teilnehmer  des  Zuges  geteilt,  wobei 
der  fürstliche  Hausbarde  die  Nationalhymne  singen  muß  und  dafür  eine 
Kuh  und  einen  Ochsen  von  der  Beute  erhält.  Nach  der  Redaktion  der 
Gesetze  für  Südwestwales  hat  der  Barde  die  Nationalhymne  während 
der  Vorbereitungen  zum  Kampfe  zu  singen;  er  erhält  dort,  wenn  er  sein 
Amt  antritt,  vom  König  eine  Harfe  und  von  der  Königin  einen  Goldring. 

In  diesen  Angaben  der  altwelschen  Gesetze  tritt  uns  der  Barde  durch- 
weg als  lyrischer  Dichter,  der  zur  Harfe  singt,  entgegen.  Hierzu 
stimmt,  daß  dasjenige,  was  uns  in  verschiedenen  Handschriften  als  Dich- 
tungen der  sogenannten  ^ Alten  Barden'  (Cynfeirdd)  wie  Taliessin,  Aneurin, 
Llywarch  Hen  und  anderer  überliefert  wird,  den  Charakter  lyrischer 
Poesie  an  sich  trägt.  Dasselbe  gilt  von  den  zahlreichen  Dichtungen  der 
mittelalterlichen  Barden  vom  Jahr  1120  ab:  'Der  Inhalt  ihrer  Dichtungen 
sind',  wie  Walter  im  Alten  Wales  sagt,  'Oden  und  Elegien  auf  ihre  Fürsten 
und  Helden,  Schlachtgesänge,  Lieder  auf  besondere  Vorfälle,  religiöse 
Hymnen,  Preis  der  Naturschönheiten,  Trinklieder,  kurze  Gedichte  epigram- 
matischer Art'.  Daß  die  welschen  Barden  im  12.  Jahrhundert  auch  die 
unliebenswürdige  Seite  ihres  Berufs  hervorkehrten,  dafür  haben  wir  bei 
Giraldus  Cambrensis  ein  Zeugnis,  der  uns  erzählt,  daß  bei  Gelegenheit 
eines  großen  Festes,  das  Llewelyn  von  Nordwales  abhielt,  am  Ende  des 
Mahles  vir  qiiidam  linguae  dicacis,  cujusmodi  lingua  hritannica  sicut  et 
latina  bardi  dicuntiir  in  den  Saal  trat.  Neben  den  in  Amt  und  Stellung 
befindlichen  Mitgliedern  der  Bardenklasse,  also  neben  dem  bard  kadeyryauc 
und  den  zahlreichen  Hausbarden,  gab  es  noch  eine  dritte  Gruppe,  die 
herumziehenden  Barden,  die  für  ihren  Unterhalt  auf  zufällige  Geschenke 
angewiesen  waren,  bis  sie  irgendwo  bei  einem  Häuptling  Stellung  fanden, 
falls  sie  nicht  das  fahrende  Dasein  vorzogen.  Diese  vagabundierenden  Barden 
{der,  clerwr,  clerddyn)  wurden  über  die  Achsel  angesehen,  und  in  einer 
Satyre  des  13.  Jahrhunderts  werden  sie  demgemäß  beschrieben.  Dem 
Herrscher  Gruffydd  ap  Cynan  (1080 — 1137)  wird  nachgesagt,  eine  Art 
offizielle  Einteilung  der  Barden  in  drei  Gruppen  eingeführt  zu  haben. 

Die  Blütezeit  des  welschen  Bardentums  ist  die  Zeit  vom  7.  bis  Ende 
des  15.  Jahrhunderts,  von  den  Tagen,  in  denen  die  Briten  unter  Cadwallon 
die  'Krone  Britanniens'  an  Angeln  und  Sachsen  verloren,  bis  zum  Besteigen 
des  englischen  Thrones  durch  den  ersten  Tudor.  In  diesem  langen  Zeit- 
raum fiel  den  kymrischen  Barden  die  Rolle  zu,  welche  die  Druiden  zu  Caesars 
Zeit  in  GalUen  und  in  den  Tagen  der  Boudica  in  Britannien  hatten:  sie 
waren   die   Träger   des   nationalen  Hasses,   der   die  Welschen   vom  7.  bis 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     I.  Der  keltische  Ltteratenstand  und  seine  Klassen.        ci 

I  I.Jahrhundert  ebenso  gegen  Angeln  und  Sachsen,  wie  später  gegen  Anglo- 
normannen  und  Engländer  erfüllte.  Das  wurde  anders,  als  Heinrich  Tudor 
1485  den  englischen  Thron  bestieg.  Angesehene  welsche  Barden  jener 
Zeit  wie  Llewis  Glyn  Cothi,  Dafydd  Llwyd  hatten  schon  vorher  für  diesen 
Mann  von  kymrischem  Blut  Stininumg  gemacht,  und  die  Schlacht  bei 
Bosworth,  die  dem  von  den  Kymren  verlassenen  Richard  III.  Krone  und 
Leben  kostete,  ward  als  Sieg  der  Kymren  über  die  Engländer  gefaßt 
Die  Barden  dichteten  nun  Gratulationsoden,  in  denen  sie  frohlockten^ 
daß  wieder  ein  'Stier  vom  Blute  Arthurs'  auf  dem  Throne  von  Britannien 
sitzt:  in  Heinrich  VIT  ist  die  dem  Keltentum  Britanniens  durch  Cadwaladr 
(um  ö6o)  scheinbar  endgültig  verlorene  Herrschaft  wiedergewonnen,  rühmt 
Llewis  Glyn  Cothi,  Die  Folgen  des  Ereignisses  für  das  Bardentum  von 
Wales  waren  jedoch  andere,  als  die  Barden  jener  Zeit  sich  träumen  ließen. 
Durch  das  in  der  Tudorzeit  (1485  — 1603)  eintretende  friedliche  Einleben 
der  Welschen  in  englische  Verhältnisse  wurden  den  kymrischen  Barden 
die  wirklich  nationalen  Töne  von  den  Saiten  der  Harfen  genommen:  gegen 
den  Seis  war  nicht  mehr  zu  singen.  Anderseits  lösten  sich  allmählich  die 
Beziehungen  der  Barden  zum  kymrischen  Adel,  als  dieser,  wie  die  Tudors 
selbst,  sich  anglisierte.  Dadurch  verloren  die  Barden,  die  wie  die  Masse 
des  Volkes  an  der  nationalen  Sprache  festhielten,  auch  die  Brotgeber. 
Mit  dem  Ende  der  Tudorzeit  ist  der  Stand  der  'Hausbarden'  im  Aus- 
sterben. Zum  Teil  sinken  sie  zu  vagabundierenden  Barden  herab,  deren 
Zahl  sich  schon  im  16.  Jahrhundert  unerträglich  vermehrte:  um  einen 
Schluck  Bier  und  einen  Heller  war  schon  ihr  Lob  zu  erreichen  nach 
dem  Zeugnis  eines  Zeitgenossen.  Ein  anderer  Teil  wandte  sich  bürger- 
lichen Berufen  zu  und  dichtete  in  freien  Stunden  in  den  überkommenen 
24  gebundenen  Metren    {mcsurau   caethiuu).     Bardendichtung  wurde   so   im 

17.  und  18.  Jahrhundert  eine  Nebenbeschäftigung  für  Handwerker,  wie  der 
Meistersang  in  Deutschland  200  Jahre  früher;  die  geistige  Ode  des  Inhalts 
vieler  Bardengedichte  fing  an  mit  den  schnörkelhaftesten  Künsteleien  der 
Metrik  in  Wettstreit  zu  treten.  Hand  in  Hand  mit  dem  Verfall  in  der 
Bardenklasse  ging  das  allmähliche  Verschwinden  der  großen  nationalen 
Musik-  und  Sängerfeste,  die,  wie  schon  bemerkt,  in  den  Festlichkeiten, 
die  nord-  und  südwelsche  Fürsten  im  12.  Jahrhundert  abhielten,  wurzeln. 
Noch  1523  wurde  ein  solches  unter  königlichem  Patronat  Heinrichs  VIII. 
und  1 568  unter  dem  der  Elisabeth  abgehalten.  Seit  der  nationalen  Eisteddfod 
von  1568  fand  keine  allgemeine  für  ganz  Wales  bis  181 9  mehr  statt; 
auch  die  landschaftlichen  und  lokalen  Versammlungen  der  Art  in  Nord- 
und  Südwales  sanken  zu  immer  größerer  Bedeutungslosigkeit  herab. 

Neues  Leben  kam  wieder   in   das   scheinbar   im  Absterben    begriffene 
welsche  Bardentum  mit  dem  auf  das  religiöse  Erwachen  im  zweiten  Viertel  des 

18.  Jahrhunderts  folgenden  Aufschwung  des  geistigen  Lebens  in  Wales 
und  dem  literarischen  Erwachen.  Schon  die  Mitte  und  das  dritte  Viertel  des 
18.  Jahrhunderts  sah  in  Goronwy  Owen    wieder   einen    wirklichen   Barden, 


c^      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

der  auch  Dichter  war.  Die  meiste  Förderung  erfuhr  das  Bardentum  aber 
durch  die  im  letzten  Viertel  des  i8.  Jahrhunderts  einsetzende  Bewegung 
für  Wiederbelebung  der  nationalen  Dichter-  und  Sängerfeste  und  durch 
das  in  Person  des  Jolo  Morganwg  mit  dieser  Bewegung  in  Verbindung 
gebrachte  neukymrische  Druidentum.  Das  neubelebte  Bardentum  wurde 
die  Krücke,  an  der  das  schwindelhafte  neukymrische  Druidentum  seinen 
Einzug  in  das  welsche  Nationalfest  und  die  Phantasie  der  welschen  Massen 
hielt.  Die  Druiden  und  Barden  wurden  in  ein  System  unter  den  sogenannten 
'Erzdruiden'  gebracht,  eine  zunftmäßige  Rangordnung  eingeführt.  An- 
spruch auf  den  offiziellen  Titel  eines  Barden  hat  nur,  wer  im  Privat- 
unterricht bei  einem  Barden  oder  an  der  Hand  eines  Lehrbuches  wie  'Die 
Bardenschule '  ( Yr  ysgol  farddol  gan  Dafydd  Morganwg)  die  Regeln  zum 
Dichten  sich  angeeignet  hat,  so  daß  er  vor  einer  Kommission  durch  ein 
Examen,  wie  es  alljährlich  an  verschiedenen  Punkten  von  Wales  abgehalten 
wird,  die  Beherrschung  der  24  alliterierenden  und  assonierenden  Metren 
nachweisen  kann.  Zu  den  Schmieden,  Schustern  und  Schneidern,  die  im 
18.  Jahrhundert  vorwiegend  Bardendichtung  im  Nebenberuf  trieben,  hat 
das  19.  Jahrhundert  hauptsächlich  Schulmeister  gefügt  und  Geistliche  der 
verschiedenen  nonkonformistischen  Sekten,  die  ja  lange  Zeit  selten  mehr 
als  eine  gewisse  Halbbildung  in  ihrer  Mehrheit  besaßen.  Für  das  all- 
jährlich abzuhaltende  Nationalfest  werden  ein  Jahr  vorher  den  Barden 
Themata  aller  Art  gestellt:  erster  Preis  ist  ein  wertvoller,  geschnitzter 
Eichenstuhl,  den  der  Sieger  am  Nationalfest  erhält;  er  ist  so  auf  ein  Jahr 
bardd  cadeiriog  'Stuhlinhabender  Barde'  von  Wales.  Nach  dem  Muster 
pflegen  die  allerorten  in  Wales  im  Laufe  des  Jahres  stattfindenden 
kleineren  Dichter-  und  Sängerfeste  weniger  kostbare,  aus  Eichenholz 
geschnitzte  Lehnstühle  als  Preise  auszusetzen,  und  manch  ein  welscher 
Schulmeister  oder  nonkonformistischer  Geistlicher  unserer  Tage  hat  so 
seine  ganze  Wohnung  mit  Eichensesseln  allmählich  möbliert,  indem  er  an 
Winterabenden  Verse  verfertigte  über  vorgeschriebene  Themata,  die  ent- 
weder abgedroschene  Gemeinplätze  sind,  oder  über  seinem  geistigen 
Horizont  liegen  oder  zu  wirklich  dichterischer  Behandlung  sich  nicht 
eignen.  'Drei  Seelen  hat  die  Bardendichtkunst'  nach  einem  modernen 
Leitfaden:  'Metrik,  Sinn  und  Harmonie',  wobei  mit  letzterem  die  durch 
die  verschiedenen  Metren  vorgeschriebene  richtige  Anwendung  von  Allite- 
ration, Assonanz  und  Reim  gemeint  ist.  In  der  typischen  modernen 
Bardenpoesie  sind  'Metrum'  und  'Harmonie',  also  die  Form,  oft  fast  alles, 
der  'Sinn'  nebensächlich.  Es  beruht  daher  auch  der  Wert  der  neu- 
kymrischen  Poesie  nicht  auf  der  umfangreichen  Bardendichtung,  sondern 
liegt  in  der  seit  300  Jahren  sich  immer  reicher  entfaltenden  Lyrik  in  den 
sogenannten  'freien  Metren', 
Die  Barden  Wcder  dic   cbcu  betrachtete   Bedeutung  noch   die  Lebensdauer  kann 

in  der  Bretagne.  ^^^  altkeltlschc  Bardeutum   in  der  britischen  Kolonie  in  der  aremorikani- 
schen  Halbinsel   aufweisen.     Es  fehlten   eben   die    in  Wales    vorhandenen 


l\.  Die  keltischen  Literaturen.     I.  Der  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen.        cc 

günstigen  Entwickelungsbedingiingen.  Die  dünngesäte  romanische  Be- 
völkerung der  areniorikanischen  Halbinsel  bot  den  vordringenden  Bretonen 
nur  schwachen  Widerstand,  so  daß  ein  für  Bardendichtung  günstiges 
Heldenzeitalter,  wie  es  Wales  aufweist,  bis  ins  9.  Jahrhundert  in  der  Bre- 
tagne fehlte.  Noch  ehe  eine  nennenswerte  Literatur  in  der  Volkssprache 
hier  vorhanden  war,  romanisierte  sich  von  Mitte  des  10.  Jahrhunderts  an 
das  bretonische  Herrscherhaus,  und  der  östliche  Teil  des  Bretonengebietes 
selbst  verfiel  der  Romanisierung.  Der  Adel  in  dem  reinbretonischen 
Gebiet  der  Niederbretagne  war  durch  seine  Beziehung  zum  Herrscherhaus 
mindestens  doppelsprachig.  Es  traten  also  für  die  Bretagne  schon  fürs 
IG.  Jahrhundert  analoge  Zustände  für  die  Literatur  ein,  wie  sie  die  Tudor- 
zeit  Englands  für  W^ales  brachte.  Zeugnisse  haben  wir  aber  noch 
dafür,  daß  in  Saint  Paul  de  Leon,  also  im  bretonischen  Teil  des  breto- 
nischen Sprachgebietes,  am  Namensfeste  des  Heiligen  vor  den  zusammen- 
geströmten Massen  dichterische  Vorträge  unter  Begleitung  von  Harfe  und 
Violine  stattfanden:  Abenteuer,  besonders  Liebesgeschichten,  bildeten  den 
Inhalt,  aber  es  waren  nicht  epische  Lieder,  nicht  die  Erzählung  des 
Ereignisses  war  der  Zweck  der  Gedichte,  sondern  die  begleitende  Musik 
spielte  die  Hauptrolle.  Es  waren  also  Bardenerzeugnisse,  und  die  Sprache 
kann  nur  die  bretonische  gewesen  sein.  Wir  wissen  ferner,  daß  der  aus 
der  Niederb retagne  stammende  Bretonenherzog  Hoel  (1066 — 1084)  an 
seinem  Hof  in  den  Erblanden  in  Quimper  einen  citharista  mit  dem  breto- 
nischen Namen  Cadiou  hatte,  und  wenn  er  in  Nantes  weilte,  einen  joculator 
namens  Pontellus:  er  hatte  also  je  nach  seinem  Aufenthalt  in  bretonischem  oder 
französischem  Sprachgebiet  einen  Barden  in  bretonischer  oder  romanischer 
Zunge.  Die  Erzeugnisse  der  Barden  bretonischer  Zunge  sind,  da  für  sie 
naturgemäß  nur  Hörer  vorhanden  waren,  nicht  zur  Aufzeichnung  gekommen, 
während  die  der  bretonischen  Barden  französischerZunge  nach  Nordfrankreich 
und  der  Normandie  wanderten,  von  wo  sie,  ihres  vorwiegend  musikalischen 
Charakters  entkleidet,  als  lais  bretotn  bearbeitet  auf  uns  gekommen  sind. 
Mit  der  völligen  Romanisierung  aller  derer,  die  auf  Besitz  und  Bildung  im 
Bretonenstaat  Anspruch  machten,  und  nach  Vereinigung  desselben  mit 
Frankreich  war  es  um  die  Barden  der  Bretagne  als  Klasse  endgültig  ge- 
schehen. Selbst  das  Wort  verschwindet  vollständig  aus  der  bretonischen 
Sprache:  ein  Wörterbuch  des  15.  Jahrhunderts  hat  es  noch  (Parz)  mit  der 
Bedeutung  franz.  mcncstrier^  lat  mimus^  und  unter  mima  ein  bret.  barses. 
Erhalten  ist  es  nur  in  den  bretonischen  Eigennamen  liarzy  Lc  Barz  und 
liarzik.  Die  heutigen  bretonischen  Wörter  barz  'Dichter'  und  alle  Ab- 
leitungen sind  gelehrte  Auffrischungen  des   i<).  Jahrhunderts. 

3.  Am  wenigsten  genau  und  klar  sind  wir  bei  den  kontinentalen  Kelten  Di»  Vbim  ta 
über    die    dritte    Klasse    unterrichtet,    die    Strabo    mit    ihrem   keltischen 
Namen  OüaitK;,   Diodor  mit   dem    sinnentsprechenden  griechischen  *Seher, 
Prophet'   (^avTlO   und   der  junge   Ammian   mit   einem   Produkt  mehrfacher 
Entstellung   in   griechischen    Handschriften   cuhagcs   nennt     Es   mag  wohl 


^6      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

einen  doppelten  Grund  haben,  daß  die  Vaten  der  kontinentalen  Kelten 
bei  den  alten  Schriftstellern  so  stiefmütterlich  behandelt  werden:  einmal, 
daß  ihre  Funktionen  zum  Teil  von  der  Klasse  der  Druiden  in  Gallien 
weggenommen  waren,  und  sodann,  daß  ihre  Stellung  im  Volkstum  eine 
derartige  war,  daß  sie  dem  fremden  Beobachter  nicht  so  in  die  Augen 
fielen  wie  die  an  den  Thron  sich  heranwerfenden  Bettelbarden.  Nach  den 
Angaben  der  Alten  studierten  die  Vaten  die  Zusammenhänge  und  erhabenen 
Geheimnisse  der  Natur  und  hatten  mit  Weissagungen  aus  dem  Flug  der 
Vögel  und  der  Opfertiere  zu  tun,  welcher  letztere  Punkt  —  auch  Menschen- 
opfer kamen  in  Betracht  —  wohl  der  Ausgang  für  das  Übergreifen  der 
Druiden  in  die  Sphäre  der  Vaten  wurde.  Ihr  Name  (Nom.  Sing,  würde 
altkeit,  vätis  lauten)  ist  urverwandt  mit  lat.  vates  und  erscheint  in  genauer 
Entsprechung  in  dX\xr.  fäith,  das  wesentlich  auf  die  kirchliche  Sprache  ein- 
geschränkt ist  und  hier  die  Propheten  des  alten  Bundes  bezeichnet,  die  ja 
auch  im  Judentum  neben  den  offiziellen  Vertretern  des  jüdischen  Religions- 
wesens standen  wie  die  Vaten  neben  den  Druiden  bei  den  Kelten.  Es 
findet  sich  jedoch  vereinzelt  fäith  auch  in  der  Sagenliteratur  in  der  Be- 
deutung 'Seher',  wofür  eine  charakteristische  Stelle  im  Eingang  der  ältesten 
Rezension  des  größten  altirischen  Epos  vorliegt.  Hier  im  'Rinderraub  von 
Cualnge'  wird  erzählt,  daß  das  versammelte  Heer  der  Männer  Irlands 
nicht  aufbrechen  konnte:  'nicht  ließen  ihre  Vaten  und  Druiden  sie  weg 
in  Erwartung  eines  Omens';  im  altir.  Text  stehen  fäthi  und  drüid,  also 
genau  die  altgall.  Oüaren;  und  Apuibeq  entsprechenden  Wörter. 
Die  Vaten  in  Dcr  in   der  altirischen  Profanliteratur  für  den  Stand   der  altkeltischen 

Vaten  gebräuchliche  Ausdruck  lautet  Nom,  Sing,  ßli  (Genit.  filed);  er  ist 
offenkundig  ein  Synonym,  das  auch  bei  den  kontinentalen  Kelten  zur  Be- 
zeichnung der  Vaten  vorkam  und  uns  nur  direkt  nicht  überliefert  ist.  Es 
ist  nämlich  altir.  ßli^  Genit.  ßled^  ein  altkeltisches  velis  (aus  älterem  velesy 
veleds),  Genit.  veledos^  das  als  reguläre  Bildung  zu  einem  keltischen  Verb 
gehört,  das  in  kymr.  gweled,  bret.  gwelet  noch  heute  das  gewöhnliche  Wort 
für  'sehen'  ist;  es  bedeutet  also:  'der  Seher'.  Zu  diesem  velis,  Genit.  vele- 
dos,  würde  das  reguläre  Femininum  altkeltisches  veleda  sein,  wie  bekanntlich 
die  in  Tacitus'  Historien  aus  dem  Bataveraufstand  erwähnte  germanische 
'virgo  fatidica'  heißt.  Kelten  im  römischen  Heer  haben  demnach  die  den  Ger- 
manen eigentümliche,  aber  den  Kelten  fremde  Erscheinung  Orakel  gebender 
Frauen  für  die  Römer  aus  ihren  eigenen  Anschauungen  heraus  bezeichnet 
Nimmt  man  noch  hinzu,  daß  die  durch  altir.  fäith  wirklich  als  altkeltisch 
ausgewiesene  Bezeichnimg  vätis  für  die  dritte  Klasse  der  keltischen  Lite- 
raten uns  nur  in  der  einen  Stelle  bei  Strabo  überliefert  ist,  ferner  daß  die 
Iren  die  altkeltischen  Bezeichnungen  für  die  beiden  anderen  Klassen  in 
drui  (Plur.  druid)  und  bard  (Plur.  baird)  treu  bewahrt  haben,  dann  wächst 
die  Wahrscheinlichkeit,  daß  in  einem  durch  altir.  fili  (^hxr. ßlid)  repräsen- 
tierten altkeit,  vells  (Plur.  veledes)  die  eigentliche  Bezeichnung  der  in  Rede 
stehenden  Klasse   vorliegt,   wofür    auf  dem   Kontinent  —  ebenso   wie   im 


IrUnd. 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     I.  Der  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen. 


57 


altkeltischen  Irland  —  auch  väiis  vorkam,  das  den  'Seher'  nach  seiner 
weiteren  Tätig-keit  als  'Verkündicfer'  (Prophet)  des  Geschauten  bezeichnete. 

Die  etyniolog"ische  Bedeutung  des  irischen  Wortes  ßli,  die  durch  die 
spärlichen  Mitteilungen  der  Alten  über  die  Tätigkeit  der  gallischen  Vaten 
gestützt  wird,  ist  nur  noch  sehr  wenig  passend  auf  die  Rolle  der  fili  im 
christlichen  Irland,  wie  ja  ganz  natürlich  ist,  da  die  bei  den  heidnischen 
Galliern  für  den  fremden  Beobachter  besonders  hervortretende  Tätigkeit 
der  Vaten  in  dem  christianisierten  Irland  keinen  Raum  hat.  Immerhin  hat 
die  ältere  irische  Literatur  genügend  Spuren  erhalten  davon,  daß  auch  im 
heidnischen  Irland  das  Voraussagen  und  Orakelgeben  eine  Seite  der  Tätigkeit 
des  fili  war.  Die  weiteren  Seiten,  wie  wir  sie  aus  der  älteren  Sagenliteratur 
kennen,  waren  folgende:  der  ////  ist  Rechtsfinder  und  Kenner  der  Genea- 
logien und  der  Topographie  Irlands;  je  nachdem  die  eine  oder  die  andere 
Seite  bei  ihm  mehr  hervortritt,  heißt  er  altir.  brif/ienij  Genit  briihcman  *der 
Mann,  der  sich  mit  dem  Urteilfinden  {brcth)  befaßt',  oder  altir.  sencha^  Genit 
senchad  'der  sich  mit  den  Altertümern  befaßt'.  Weiter  ist  der  fili  in  engem 
Zusammenhang  mit  den  beiden  genannten  Funktionen  der  Bewahrer  der 
historisch -sagenhaften  Überlieferungen,  also  der  Träger  der  epischen  Lite- 
ratur der  Iren,  als  welcher  er  den  speziellen  Titel  scelidi\,  'der  Mann,  der 
sich  mit  den  Geschichten  {sül)  befaßt',  hat;  endlich  ist  er  'Dichter',  und 
dieses  ist  in  der  gewöhnlichen  altirischen  Sprache  die  spezielle  Bedeutung 
des  Wortes  filt. 

Die  Klasse  der  fili  umfaßte  also  im  alten  Irland  den  Gelehrten- 
stand unter  den  Laien  gegenüber  dem  das  altheidnische  Druidentum  im 
christlichen  Irland  fortsetzenden  Stand  der  Kleriker  (des  Mönchtums);  sie 
waren  die  Träger  der  Profanliteratur  in  weitem  Umfang.  Dem  entsprach 
ihre  Stellung  im  Staatswesen,  die  in  Irland  ebenso  angesehen  war  wie  die 
des  Bardentums  in  W^ales.  Jeder  Clanhäuptling,  deren  es  zuzeiten  184 
in  Irland  gab,  hatte  einen  ylrV«;  am  Hofe  der  Teilkönige  gab  es  oft  mehrere 
je  nach  ihrer  Tätigkeit  als  Richter  oder  Antiquar  oder  epischer  Dichter; 
ebenso  gab  es  in  Irland  einen  ardfili  'Oberfili'  wie  einen  ardrl  'Ober- 
könig'. Die  fili  hatten  zahlreiche  Privilegien.  Nur  durch  längeres  Studium 
konnte  man  die  verschiedenen  Grade  erlangen,  deren  es  sieben  gab;  der 
Angehörige  des  obersten  Grades  hieß  ollam^  womit  man  seit  Ende  des 
Mittelalters  im  keltischen  Irland  den  Titel  'Doktor'  übersetzt.  Die  Grund- 
lage für  die  Gradeinteilung  ist  die  Summe  des  Wissens,  die  der  einzelne  sich 
erwarb,  die  bei  dem  fili,  der  sich  hauptsächlich  /um  Träger  der  epischen 
Literatur  ausbildete,  nach  der  Zahl  der  Geschichten  bemessen  wurde,  die  ein 
solcher  auf  seinem  Repertoire  hatte.  Zur  Erlangung  der  f//</w- Würde  als 
Sagener/.ähler  (scitlidc)  gehörte  angeblich  Kenntnis  von  350  Geschichten. 
Die  Zahl  scheint  nicht  zu  arg  übertrieben,  wenn  man  bedenkt,  daß  in  einem 
Text  des  10.  Jahrhunderts  uns  ein  Katalog  von  161  Geschichten  als 
Repertoire  des  zuzeiten  des  Oberkönigs  Domnall  niac  Muirchertaig 
(956 — 979)  lebenden  yiVx  Urard  mac  Coise  erhalten  ist,  und  daß  nach  einem 


^8      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

anderen  Text  des  lo.  Jahrhunderts  ein ßli  namens  Forgoll  dem  im  Jahre  624 
gefallenen  Ulsterköniglein  Mongan  jeden  Abend  eine  Geschichte  erzählte 
vom  I.  November  bis  i.  Mai,  also  während  des  keltischen  Winterhalb- 
jahres. Bestimmte  Geschichtenreihen  sind  für  bestimmte  Grade  reserviert, 
wie  auch  bestimmte  Kompositionen  der  Dichtkunst  fest  bestimmten  Graden 
der  fili  gehören.  Bei  dieser  Stellung  der  y?//- Klasse  im  alten  Irland  ist 
es  begreiflich,  daß  sie  ihr  Gebiet  auf  Kosten  der  Bardenklasse  erweiterten. 
Öfters  kommt  in  den  Sagenerzählungen  der  erzürnte  ßli  als  Anfertiger 
satyrischer  Gedichte  auf  den  Beleidiger  vor,  wie  denn  in  Abhandlungen 
und  Erzählungen  zuweilen  die  Barden  als  Teil  der  yf/e-Klasse  erscheinen, 
aber  so,  daß  man  sieht,  daß  dies  jüngere  Entwickelung  ist  oder  unberech- 
tigte Theorie:  der  Barde  gilt  nämlich  dann  als  gradloser  y^/z,  als  ein  Mann, 
der  'keine  Verpflichtung  zum  Lernen  (Studieren)  hat,  sondern  auf  seine 
angeborenen  Fähigkeiten  angewiesen  ist'. 
Die  Vaten  in  WcsentHch  audcrs  als    in  Irland    liegen  bei  den   britischen  Kelten  im 

\\aies.  Mittelalter  (also  in  Wales  und  der  Bretagne)  die  Dinge  für  die  in  Rede 
stehende  Klasse  der  literarischen  Welt  der  Kelten.  Hier  existiert  weder 
das  dem  altgallischen  vätis  altir.  fäith  noch  das  dem  irischen  ßli  ent- 
sprechende Wort;  es  ist  auch  kein  sicherer  Hinweis  vorhanden,  daß  neben 
der  hier  besonders  hoch  angesehenen  Bardenklasse  eine  weitere  besondere 
Klasse  der  literarischen  Welt  bestand.  Die  altkeltischen  Briten  standen, 
wie  sie  sicher  in  manchen  anderen  Dingen  (z.  B.  der  Sprache)  den  kon- 
tinentalen Kelten  des  gegenüberliegenden  Festlandes  in  Gallia  belgica 
verwandter  waren  als  den  altkeltischen  Iren,  auch  in  bezug  auf  das 
Druidentum  nach  den  bestimmten  Ang^aben  Caesars  nahe  zu  Gallien.  Es 
ist  daher  möglich  und  wahrscheinlich,  daß  in  Britannien  wie  in  Gallien 
die  Druidenklasse  die  Rolle  der  Vaten  in  wesentlichen  Punkten  über- 
nommen hatte,  und  daß  daher  die  Klasse  der  Vaten  in  Britannien  in  das 
Schicksal  des  britischen  Druidentums  mit  verwickelt  wurde:  sie  verschwand 
als  Klasse  im  dritten  Viertel  des  i.  Jahrhunderts  ebenso  wie  die  Druiden, 
ihr  Name  ebenso  wie  der  der  Druiden.  Anderseits  ist  es  natürlich,  daß  die 
im  christlichen  Wales  mächtig  werdende  Klasse  der  Barden  ihrerseits 
Übergriffe  machte:  naheliegend  war  es,  daß  sie  das  Gesamtgebiet  der 
Poesie  mit  Beschlag  belegten;  sie  übernahmen  ferner  infolge  ihrer  Stellung 
am  Hofe  die  wichtigen  Genealogien,  so  daß  noch  König  Heinrich  VII. 
von  England  nach  seiner  Thronbesteigung  sich  von  dem  welschen  Barden 
Gutyn  Owen  den  Stammbaum  seines  Großvaters  Owen  ap  Meredydd  ap  Tudor 
anfertigen  ließ.  Es  bleiben  von  den  P'unktionen  des  irischen  ^ä  also  noch 
die  als  Rechtsprecher  und  als  Träger  der  epischen  Stoffe. 

Der  Richter  (altkymr.  brawdwr,  egnaf)  ist  in  dem  während  der  Zeit  der 
Unabhängigkeit  nur  einheimisches  Recht  in  kymrischer  Sprache  besitzen- 
den Wales  eine  wichtige  Persönlichkeit;  er  nimmt  am  Hofe  in  Nordwales 
die  fünfte  Stelle  unter  den  Hofbeamten  ein  und  gehört  nach  den  Gesetzen 
zu  den  drei  für  den  Fürsten  unentbehrlichen  Personen;  er  prüft  die  übrigen 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     I.  Drr  keltische  Literatenstand  und  seine  Klassen.        eg 

Richter  des  Gebietes  und  g-enießt  gfroße  Privileg-ien.  In  dem  Richterstand 
im  alten  Wales  ist  also  ein  würdig^er  Vertreter  von  einer  Seite  der  alt- 
irischen  ////-Klasse  erhalten. 

Weniger  glänzend  steht  es  aber  mit  den  Trägern  der  epischen  Stoffe, 
also  der  Seite  des  irischen  yf/i,  die  seine  glänzendste  und  für  die  ältere 
irische  Literatur  bodoutond.stc  i.st.  Sagonliebend  waren  die  britischen 
Kelten  wohl  nicht  weniger  als  die  iri.schen.  Aus  dem  lateinisch  schreibenden 
süd welschen  Historiker  Xennius  können  wir  lernen,  daß  die  mannigfachsten 
Erzählungen  über  Arthur,  den  Träger  der  nationalen  Heldensage,  am  Ende 
des  (S.  Jahrhunderts  in  Südwajes  umliefen;  tatsächlich  ist  uns  eine  solche 
Erzählung,  auf  die  auch  schon  Nennius  anspielt,  aus  dem  12.  Jahrhundert 
erhalten  in  dem  Text  von  'Arthurs  Eberjagd';  vier  Erzählungen  eines 
ganz  anderen,  älteren  Sagenkreises,  die  sogenannten  Mabinogion,  legen 
weiteres  Zeugnis  ab.  Den  Namen  eines  bekannten  Sagenerzählers  aus 
dem  1 2.  Jahrhundert,  des  Tabulator  Bledhericus,  erwähnt  Giraldus  Cam- 
brensis  gelegentlich.  Im  geschichtlichen  Wales  des  Mittelalters  aber 
hat  der  Träger  der  Sagenstoffe  keine  Stellung  am  Hofe  und  beim  Adel: 
er  ist  in  den  welschen  Gesetzen  als  Person  unbekannt,  und  auch  von  seiner 
Tätigkeit  ist  in  ihnen  keine  Rede.  Die  Angehörigen  der  Bardenklasse 
haben  die  Gunst  des  obersten  Standes,  der  Fürsten  und  Adligen,  denen 
sie  durch  ihre  Loblieder  schmeicheln,  und  deren  Interesse  sie  mit  den 
Kriegsliedem  befördern.  Diese  Barden,  zugleich  die  Genealogen  der 
Fürsten  und  damit  sich  als  Historiker  und  Antiquare  betrachtend,  schauten 
verächtlich  auf  die  Sagenerzähler  herab  als  Verbreiter  und  Fort- 
pflanzer von  lügenhaftem  Zeug,  was  ja  nicht  wahr  sein  kann:  diese  Ammen- 
märchen verdienten  nach  Ansicht  der  Barden  im  Vergleich  mit  den  von 
ihnen  im  Lied  gefeierten  geschichtlichen  Ereignissen,  den  Tatsachen,  keine 
Überlieferung.  Lehrreicher  als  Zeugnisse  hierfür  ist  folgende  Tatsache:  die 
vier  Erzählungen  des  Mabinogionsagenkreises  sind  uns  nur  in  zwei  älteren, 
aus  gemeinsamer  Quelle  abgeschriebenen  Handschriften  erhalten,  während 
die  kymrische  Übersetzung  der  aus  Sagen  und  eigener  Erfindung  be- 
stehenden, aber  sich  als  wahrhaftige  Geschichte  geberdenden  Historia 
regum  Britanniae  in  nicht  weniger  als  28  Handschriften,  darunter  20  über 
das   16.  Jahrhundert  hinau.sgehend,  vorliegt. 

Direkte  Zeugnisse  für  die  in  der  angeführten  Tatsache  zum  Ausdruck 
kommende  Gesinnung  der  Bardenklasse  und  ihrer  Gönner  zu  den  Sagen- 
erzähleni  liegen  zum  Überfluß  vor,  namentlich  wie  verächtlich  man  auf 
die  Erzählungen  {clmudUu , ysforiau)  von  Arthur  und  seinen  Kriegern  herab- 
schaute. Die  Sagenerzähler  standen  demnach  im  mittelalterlichen  Wales 
wohl  auf  derselben  Stufe  wie  die  vagabundierenden  Barden,  die,  von  den 
Fürstenhöfen  und  Häusern  der  Besitzenden  ausgeschlossen,  bei  dem  Volk 
im  Umherziehen  das  Brot  verdienten.  So  rechnet  denn  Llewis  Cilyn  Cothi 
in  zweiter  Hälfle  des  15.  Jahrhunderts  in  seiner  Klassifizierung  der  Barden 
den   Sagenerzähler  (ystorawr)  als    dritte    Klasse   der    Barden,    identifiziert 


öo      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u. Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

ihn  also  mit  dem  vagabondierenden  Barden.  Zum  Schluß  der  wohl  aus 
dem  13.  Jahrhundert  stammenden  Erzählung  von  'Rhonabwys  Traum' 
werden  Barde  (bard)  und  Sagenerzähler  (cyfanvyJ)  als  getrennte  Personen, 
aber  beide  als  Träger  der  genannten  Erzählung  betrachtet,  während  in 
dem  dem  Mabinogionkreis  angehörigen  Text  'Math  der  Sohn  von  Ma- 
thonwy'  direkt  berichtet  wird,  daß  Gilvaethwy  und  Gwydyon  in  der  Ge- 
stalt von  Barden  an  den  Hof  Prj^deris  gingen  und  Gwydyon  in  dieser 
Gestalt  den  Pryderi  als  Geschichtenerzähler  (cyfarwyd)  mit  einer  Geschichte 
am  Abend  unterhielt.  Sieht  man  also  davon  ab,  daß  der  Richter  es  in 
Wales  zu  einer  geachteten  selbständigen  Stellung  gebracht  hat,  so  sind 
alle  übrigen  Seiten  der  in  Irland  von  der  y^Y^-Klasse  ausgeübten  Tätigkeit 
in  Wales  entweder  direkt  von  der  Bardenklasse  mit  Beschlag  belegt 
worden  oder  in  eine  ihr  untergeordnete  Stellung  gedrückt. 
Die  Vatenidasse  Aucli  in   der    aremorikanischcn  Bretagne  stand  neben    den    zur  Harfe 

in  der  Bretagne  ^j^^.^  Li^dcr  Vortragenden  Barden  eine  Gruppe  von  Literaten,  die  wir  als 
die  bretonischen  Vertreter  der  altirischen  ßli  wenigstens  nach  einer  Seite 
hin  betrachten  müssen.  Es  sind  die  bei  Wace  als  'conteurs'  und  'fableurs' 
auftretenden  Bretonen.  Sie  erscheinen  im  12.  und  bis  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts an  den  Höfen  der  Fürsten  und  Edlen  in  Nordfrankreich,  der  Nor- 
mandie  und  des  anglonormannischen  Englands  und  ergötzten  in  Abwechs- 
lung mit  den  musizierenden  bretonischen  Sängern  durch  Erzählungen  ihr 
Publikum.  Sie  waren  die  Träger  und  Verbreiter  der  bretonischen  Sagenliteratur. 
Wie  die  in  die  romanische  Welt  wandernden  bretonischen  Barden  mit 
ihren  zur  Harfe  gesungenen  Liedern  den  Romanen  die  Stoffe  zu  den  lais 
bretons  lieferten,  so  sind  die  bretonischen  Sagenerzähler,  wie  schon  früher 
bemerkt,  die  Träger  und  Verbreiter  der  Erzählungen  aus  dem  Arthur- 
sagenkreise in  der  romanischen  Welt  geworden;  hier  und  dort  auf- 
gezeichnet lieferten  diese  Prosaerzählungen,  direkt  oder  durch  weitere 
Bearbeitungen  vermittelt,  das  Rohmaterial  zu  den  gedankenreichen  und 
kunstvollendeten  Epen  Christians  von  Troyes. 
Die  Gründe  der  Die  ganz  Verschiedenartige  Entwicklung,  die  nach  dem  Verschwinden 

verschieden-     ^^^  Druidcntums  bei  den   beiden  Zweisren   der  Inselkelten   die   beiden  an- 

artigen  "J 

EntWickelung    deren  Klassen  der  literarischen  Welt,   Vaten   und   Barden,    durchgemacht 
bei  irischen     j^^^gj^    wird  wohl  zum  Teil  in  den  verschiedenen  politischen  Verhältnissen 

und  britischen  '  •■■ 

Kelten.  in  Wales  und  Irland  vom  5.  bis  g.  Jahrhundert  seine  Erklärung  finden. 
Aus  den  entgegengesetzten  Teilen  des  alten  Britengebietes  strömten  vom 
5.  Jahrhundert  ab  keltische  Briten  in  die  Berge  von  Wales,  die  sie  zum 
Teil  von  den  über  die  See  eingedrungenen  Iren  säubern  mußten,  ehe  sie 
Sitze  fanden.  Zeit  zu  behaglichem  Stilleben  gab  es  aber  auch  dann  noch 
nicht:  griffen  nicht  Angeln  und  Sachsen  an,  so  zog  man  von  selbst  in  die 
Ebene,  um  alte  Scharten  auszuwetzen.  Tapfere  Tat  forderte  und  fand 
nach  der  Heimkehr  ihr  Lied;  zu  neuer  beuteversprechender  Tat  reizte  der 
Sänger  in  der  Halle.  So  gelangte  das  Bardentum  in  Wales  zu  seiner 
Bedeutung.     Anders    lagen    die    Dinge    in    Irland    in  jenen  Jahrhunderten. 


B.  Die  kellischen  Literaturen.     II.  Die  epische  Form  und  der  epische  Stil.  6l 

Irlands  krieg-erische  Betätigfung-  nach  außen  im  .^  und  4.  Jahrhundert,  die 
Iren  nach  Nordbritannien  sowohl  wie  nach  Nordwales  und  die  Striche  um 
die  Severnbucht  führte,  hatte  im  5.  Jahrhundert  mit  der  Zurücktreibun^r 
der  Iren  aus  Wales  ein  Ende  gefunden.  Rein  gar  nichts  ging  in  den 
folgenden  400  Jahren  im  politischen  Leben  des  irischen  Volkes  vor,  was 
zum  Preislied  anreizen  konnte.  Wie  die  Klosterleute  unter  Anführung  von 
Mönchen  in  das  Gebiet  des  benachbarten  Klosters  einfielen  und  nach 
blutig  geschlagenen  Köpfen  mit  einigen  Kühen  heimkehrten,  so  machten 
die  Clanhäuptlinge  mit  der  jungen  Mannschaft  Einfalle  in  Gebiete  anderer 
Clane,  um  Herden  heimzutreiben.  Wenn  dann  von  einem  solchen  Zuge 
noch  der  eine  mit  abgehauener  Hand,  ein  anderer  mit  ausgeschlagenem 
Auge,  ein  dritter  mit  abgeschlagener  Ferse,  ein  vierter  mit  durchbohrten 
Hoden  heimkehrte,  wie  die  Sagentexte  melden,  so  waren  dies  und  selbst 
ein  mitgebrachter  Kopf  eines  erschlagenen  Feindes  doch  nicht  Ereig-nisse, 
die  Stoff  zu  Preisliedern  für  die  lange  Zeit  vom  1.  November  bis 
1.  Mai  in  der  Halle  des  Königs  oder  Häuptlings  abgeben  konnten.  Das 
war  die  Zeit  zum  Erzählen  und  zum  Hören  von  Erzählungen,  und  so 
kam  die  Klasse  der  fili  vor  allem  in  der  Person  des  Trägers  der  Sagen, 
des  scilidt',  im  alten  Irland  zu  Ansehen  und  Würde. 

Was  Könige  und  Häuptlinge   in   erster  Linie    interessierte,    das   kam  ihe  fo1«m 


zur   Aufzeichnung    in    der  Profanliteratur,    das    wurde    durch    Abschriften  )"^**'. 

'^  '  für  die  Utvrmtar. 

weiter  verpflanzt  und  daher  Literatur  im  eigentlichen  Sinne.  Dement- 
sprechend ist  in  Wales  eine  große  ältere  lyrische  Literatur  vorhanden, 
neben  der  die  eigentlich  epische  Literatur  keinen  Vergleich  aushalten  kann; 
in  Irland  hingegen  finden  wir  eine  epische  Literatur  von  unglaublicher 
Fülle  in  älterer  Zeit  und  verhältnismäßig  geringe  Profanlyrik:  das  Rückgrat 
der  älteren  irischen  Literatur  ist  die  epische,  das  Rückgrat  der  kymrischen 
Literatur  ist  zu  allen  Zeiten  die  Lyrik.  Das  hat  einen  weiteren  scharfen 
Unterschied  hinsichtlich  der  äußeren  Form  zur  Folge:  während  die  Masse 
der  kymrischen  Literatur  in  gebundener  Rede  in  kunstvollen  Metren  vor- 
liegt, ist  Prosa  die  äußere  Form  der  älteren  volkstümlichen  irischen 
Literatur,  weil  Prosa  die  keltische  Form  der  Epik  ist, 

IL    Die    epische    Form     und    der    epische    Stil.      Die    gemein-  Pro«»inHiit 

ist  Ib^ 

germanische  Form  der  epischen  Erzählung  ist  das  Heldenlied,  das,  im,,^„aKrw» 
Gegensatz  zum  Preislied  auf  einen  Helden  oder  eine  Begebenheit,  den  »icofÄ^ib» Form. 
Zweck  hat,  die  Ereignisse  und  die  Momente  der  Handlung  vorzuführen 
und  mitzuteilen.  Der  epische  Sänger  ist  bei  den  Gennanen  der  Träger 
der  Heldensage.  Aus  solchen  epischen  Liedern  entstand  bei  oberdeutschen 
Stämmen  und  Angelsachsen  das  Epos.  Demgegenüber  muß  als  Tatsache 
festgestellt  werden,  die  nicht  stark  genug  betont  werden  kann,  daß  die 
gemeinkeltische  P'orm  der  epischen  Dichtung  die  Erzählung  in  Prosa  ist 
Am  klarsten  und  greifbarsten  liegen  die  Verhältnisse  in  Irland.  In  großen 
Sammelhandschriften    vom    11.  bis    15.  Jahrhundert    liegen    uns    Texte    der 


62      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

irischen  Heldensage  und  anderer  Art  Sagen  in  großer  Menge  vor,  die 
durch  ihre  Sprache  die  Gewähr  bieten,  daß  sie  im  9.  Jahrhundert  ihre 
Form  und  Aufzeichnung  gefunden  hatten.  Die  äußere  Form  bei  allen 
diesen  Texten,  sowohl  denen  der  alten  nordirischen  Heldensage  (Cuchulinn- 
sage)  als  den  übrigen  Sagentexten  (SchifFersagen  u.  a.),  ist  die  Prosa- 
erzählung: an  Stellen,  wo  die  erzählte  Handlung  sich  dramatisch  steigert, 
also  im  Dialog,  tritt  öfters  —  nicht  immer  oder  auch  nur  besonders  häufig 

—  Rede  und  Gegenrede  in  gebundener  Rede  auf,  daß  sich  Strophe  um 
Strophe  oder  kleine  Gedichte  aus  mehreren  Strophen  entsprechen.  Das- 
selbe ist  auch  der  Fall,  wo  in  der  Erzählimg  lyrische  Elemente  vorhanden 
sind,  also  z.  B.  der  Held  über  dem  gefallenen  tapferen  Gegner  oder  Freund 
eine  Totenklage  anstimmt,  die  sowohl  in  einer  den  Rahmen  der  gewöhnlichen 
Prosa  überschreitenden  Prosa  mit  rh5rthmischer  Gliederung  als  in  gebun- 
dener Rede  erscheinen.  Jeder  Gedanke,  daß  diese  Prosaerzählungen 
größeren  oder  geringeren  Umfanges  Auflösungen  älterer  poetischer  Dar- 
stellungen sind,  muß  für  den,  der  diese  Texte  im  Original  zu  lesen  ver- 
mag, ganz  ausgeschlossen  erscheinen.  Dem  epischen  Sänger  der  Germanen 
entspricht  demgemäß  im  alten  Irland  der  ^ Sagenerzähler'  {scelid  von  scel 
'Erzählimg,  Geschichte,  Nachricht'  gleich  kymr.  chwedl  '^Geschichte,  Fabel'), 
der  an  die  Höfe  der  Königlein  zieht  und  ein  Repertoire  von  solchen 
Prosaerzählungen  vorrätig  hat.  Prinzipiell  gleichartig  lagen  die  Dinge  im 
alten  Wales,  nur  daß,  wie  schon  ausgeführt,  hier  die  Heldensage  nicht  zu 
der  literarischen  Bedeutung  kam  wie  in  Irland.  Aber  Zeugnisse  sind  in 
welscher  Literatur  genug  dafür  vorhanden,  daß  die  Welschen  die  bei  den 
Iren  nachgewiesene  Form  der  epischen  Erzählung  haben  und  nur  diese. 
Alle  aus  der  ältesten  britischen  Heldensage,  dem  Mabinogionsagenkreis, 
auf  uns  gekommenen  kymrischen  Texte  —  Pwyll,  Prinz  von  Dyfed;  Branwen, 
Tochter  des  Llyr;  Manau^ddan,  Sohn  des  Llyr;  Math,  Sohn  des  Mathonwy 

—  sind  Prosaerzählungen;  desgleichen,  was  von  welscher  Form  der  Arthur- 
sage und  anderen  Stoffen  zufällig  Aufzeichnung  fand,  wie  'Arthurs  Eber- 
jagd' (Kulhwch  und  Olwen)  oder  'Rhonabwys  Traum'.  Auch  in  ihnen 
liegen  die  Spuren  der  altirischen  Eigenheit  vor,  daß  im  Momente  dramatischer 
Steigerung  der  Handlung  vorübergehend  gebundene  Rede  eintritt. 

In  Prosa-  Nicht  minder  lehrreich  für  die  keltische  Form  der  epischen  Dichtung 

erra  ungen     -^^  ^^^  Übereinstimmung  der  Iren  und  Kymren  untereinander  in  der  Be- 
in acnen  '-^  ■' 

Iren  und  Kymrea  handlung  fremder,  zu  ihnen  kommender  Stoffe,  und  der   Gegensatz,   in 
sich  fremde     ^^^  ^^^  Iren  Und  Kymren  hierbei  zu  germanischen  Völkern  (Engländern  und 

Stoffe  zu  eigen.  -^  '-'  \         o 

Deutschen)  oder  zu  Normannen  und  Nordfranzosen  traten,  die  erklärlicher- 
weise die  epische  Form  der  Germanen  haben.  Die  Stoffe  der  Trojaner- 
und Alexandersage  kommen  zu  Kelten,  Franzosen  und  Deutschen:  die 
Iren  bearbeiten  (nicht  übersetzen)  und  machen  sie  heimisch  in  der  ihnen 
eigenen  epischen  Form,  in  Prosaerzählungen,  die  Deutschen  und  Franzosen 
in  der  gebundenen  Rede  ihrer  epischen  Form.  Oder:  Galfrieds  von  Mon- 
mouth  Aufsehen  erregender  historischer  Roman,  genannt  'Historia   regum 


H.  Die   keltischen   Litcr;iluren.      11     1 'ir  epis(  he   Korin   und  tlrr  episriir   mm 

Hritanniap',  wird  von  dem  Normannen  Wac»;  im  'Roman  de  Hrut'  in  Vitm  n 
bearbeitet,  von  einem  Welschen  aber  in  Prosa,  Oder:  die  französischen 
Arthurepen  Christians  von  Troyes  werden  Deutschen  und  Welschen  bekannt; 
die  ersteren  machen  sie  in  poetischer  Form  heimisch  (Iwein,  Erec,  Parzival), 
die  Welschen  j»^jeßen  sie  in  Prosaerzählunjjen  um  (Jarlles  y  Ffynnawn, 
Geraint  ab  Erbin,  Pereilur  ab  Mfrawo.  Oder:  die  französischen  Kpen 
Bovon  de  Hanstone  und  Guy  de  Warwick  kommen  zu  Engländern,  Welsch<n 
und  Iren;  die  Eni^länder  ahmen  sie  in  gebundener  Rede  nach,  aber  Iren 
und  Kymren  geben  ihnen  die  heimische  Form  der  epischen  Erzählung, 
die  Prosaform.  Es  bricht  also  bei  Iren  und  Kymren,  wenn  sie  fremde 
Stoffe  bei  sich  heimisch  machen,  immer  die  keltische  F'orm  der  epischen 
F>zählunpf  durch. 

Ebenso  bezeichnend  endlich  für  die  nachgewiesene  keltische  Eigenart  s»chaiuBaa(  d«r 
ist    eine    weitere  Tatsache    aus    der    Entwickelung    der    irischen    Literatur.         '^  ' . 
Um  die  Mitte  des   lo.  Jahrhunderts  hatte  die  seit  Ende  des  8.  Jahrhunderts  Pom  d««  Epo« 
andauernde    Vikingerdrangsal    für    irisches  Volkstum    und    irische    Bildung  '*^ 

ihre  Verderblichkeit  verloren.  Die  zahlreichen  kleineren  Vikingerkolonien 
in  allen  Teilen  Irlands  hatten  sich  seit  letztem  Viertel  des  g.  Jahrhunderts 
allmählich  irisiert,  und  durch  den  Übertritt  des  Herrschers  des  Dubliner 
Vikingerstaates  im  Jahre  043  zum  Christentum  wurde  das  stärkste  Hindernis 
für  die  raschere  Angleichung  dieser  vorläufig  noch  politisch  unabhängigen 
Vikingerkolonie  an  das  keltische  Volkstum  Irlands  beseitigt  Damit  gehen 
in  der  Literatur  zwei  Ereignisse  Hand  in  Hand:  eine  neue  Form  der 
epischen  Erzählung  beginnt  sich  neben  der  bisher  allein  herrschenden  ge- 
meinkeltischen auszubilden,  und  eine  neue  Heldensage  kommt  langsam  auf 
neben  der  fortlebenden  Cuchulinnsage.  Die  neue  Form  der  epischen  Er- 
zählung ist  das  germanische  Heldenlied,  das  sich  neben  die  keltische  Prosa- 
erzählung einer  Sagenepisode  stellt  Es  hat  dies  irische  Heldenlied  nicht 
die  Form,  wie  wir  sie  aus  Homer  kennen,  wie  sie  das  Hildebrandslied 
aufweist,  und  wie  sie  Heliand  und  Beowulf  fürs  niedersächsische  und  angel- 
sächsische Heldenlied  voraussetzen;  es  reiht  sich  also  nicht  wie  in  den 
genannten  Vertretern  epischer  Dichtungen  Vers  an  Vers,  bis  ein  episches 
Lied,  ein  Ebenbild  zur  alten  epischen  Prosaerzählung  der  Iren  vorhanden 
ist,  es  hat  vielmehr  das  neue  irische  epische  Lied  die  strophische  Form, 
wie  sie  in  den  Liedern  der  Xibelungensage  im  Norden  vorliegt  Diese 
Strophenform  an  sich  ist  echt  irisch,  wie  sie  sich  auch  in  der  poetischen 
Rede  und  Gegenrede  findet,  die  in  die  alten  epischen  Prosaerzählungen 
eingestreut  sind;  aber  die  strophische  Ballade  im  Umfang  von  20  bis 
50  Strophen,  also  80  bis  200  siebensilbigen  Zeilen,  als  F'orm  der  epischen 
Erzählung  für  und  neben  der  alten  Prosaer/ählung  ist  etwas  Neues  in 
der  epischen  Literatur.  In  diesen  irischen  Balladen  herrscht  im  Verhältnis 
zu  den  alten  Prosaerzählungen  nichts  von  epischer  Breite,  vielmehr  ein 
unverkennbares  Streben  nach  Kürze;  daher  ist  auch  nichts  oder  wenig 
von    <l»r  T  ••>i«ndigkeit   der  Schilderung,    dl«-  in   don   Pro-va.r/rililuTiven    des 


64      Heinrich  Zi\lmer;  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

altirischen  Epos  sich  findet,  in  den  strophischen  Balladen  zu  bemerken: 
wie  Memorialverse  für  eine  ausführliche  Prosaerzählung  muten  sie  uns  an, 
deutlich  verratend,  daß  eine  für  gelehrte,  didaktische  Dichtung  geeignete 
Form  aus  Nachahmung  fremder  Art  auf  die  epische  Erzählung  Anwendung 
findet.  Am  bezeichnendsten  dafür,  daß  mit  der  Verw^endung  der  strophischen 
Ballade  für  die  epische  Erzählung  in  der  irischen  Literatur  es  sich  um 
etwas  Neues  handelt,  sind  zwei  Momente:  die  Stoffe  der  alten  Heldensage 
der  Iren,  also  die  Erzählungen  des  Cuchulinnsagenkreises,  sind  noch  auf 
viele  Jahrhunderte  so  gut  wie  vollständig  tabu  für  die  neue  epische  Form; 
anderseits  ist  charakteristisch,  daß  das  Hauptgebiet  der  strophischen  Ballade 
als  Form  der  epischen  Erzählung"  die  im  Vikingerzeitalter  sich  heraus- 
bildende neue  Heldensage  der  Iren,  die  Finnsage  —  gewöhnlich  Ossian- 
sage genannt  —  ist:  hier  hat  die  neue  Form  der  epischen  Erzählung  volles 
Bürgerrecht  bis  in  die  Neuzeit  neben  der  altkeltischen  Form  der  Prosa- 
erzählung, Einzel episoden  der  Finnsage  in  Prosaerzählung  und  strophische 
Balladen  kommen  als  gleichberechtigte  Formen  seit  dem  11.  und  12.  Jahr- 
hundert vor.  Als  man  aber  im  13.  und  14,  Jahrhundert  dazu  überging,  an 
Stelle  der  episodenartigen  Einzelerzählungen  in  Prosa  oder  Ballade  auch  in 
der  Finnsage  größere  epische  Ganze  zu  gestalten,  da  ging  man  nicht  zum 
Epos  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes,  also  etwa  zu  einem  mehr  oder 
minder  festgebundenen  Balladenzyklus  über,  sondern  fiel  in  die  alt- 
keltische Form  der  Prosaerzählung  zurück.  Im  entscheidenden 
Momente,  als  in  der  Finnsage  der  Schritt  zum  Höchsten  in  der  Epik  ge- 
schehen sollte,  brach  also  die  keltische  Eigenart  wieder  durch.  Zeitlich 
fällt  dies  ziemlich  zusammen  mit  den  erwähnten  Bearbeitung^en  umfang- 
reicher antiker  und  mittelalterlicher  Texte,  die  zu  den  Iren  in  dem  Ge- 
w^ande  der  epischen  Form  der  Germanen  und  Romanen  kamen,  aber  in 
der  irisch -keltischen  Form  des  Prosaromans  heimisch  gemacht  wurden. 
Einfluß  der  Gemcinkeltische  Form  der   epischen  Dichtung  ist  also   die   Erzählung 

epischen  Form  ^^  Prosa,  dcr  Prosaromau.     An  zwei  Punkten  des  keltischen  Sprachgebietes 

der  Kelten  auf  '  ^  ® 

die  mitteiaiter-  hat  sie  Schule  gcmacht.  Die  isländische  Literatur  kennt  seit  dem  11.  Jähr- 
liche Literatur,  j^y^j^gj-j-  gjj^g  eigene,  den  übrigen  Germanen,  selbst  Schweden  und  Dänen 
fremde  Literaturgattung,  die  der  Sagas.  Ein  Sohn  kann  dem  Vater  bis 
in  kleine  Züge  nicht  ähnlicher  sehen  als  die  isländischen  Sagas  des  12.  Jahr- 
hunderts in  der  äußeren  Form  den  altirischen  epischen  Prosaerzählungen 
des  9.  und  10.  Jahrhunderts;  es  ist  die  gemeinkeltische  Form  der  epischen 
Dichtung,  die  uns  in  Island  entgegentritt,  und  daß  sie  eine  Errungenschaft 
der  engen  Berührung  der  Norweger  mit  den  Iren  auf  Irlands  Boden  im 
Q.  und   10.  Jahrhundert  ist,  wird  kaum  mehr  bestritten. 

Von  viel  weittragenderer  Bedeutung  und  wenig  beachtet  ist  die  wahr- 
scheinliche Einwirkung  der  in  Rede  stehenden  keltischen  Eigenart  an  einem 
anderen  Punkte  des  keltischen  Gebietes.  Wir  haben  allen  Grund  zu  der 
Annahme,  daß  die  bei  Iren  und  Kymren  herrschende  keltische  Form  der 
epischen  Erzählung  auch  in   der  Bretagne  im  Mittelalter  bestand,   sowohl 


H.  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  epische  Fonn  und  der  c|)ib»  iic  mu.  (jc 

bei  lien  lirt-toni.sch  redeiidon  als  den  y^eniischt.sprachij^en  liretonen  des 
Ostens.  Dies  ist  die  Fomi,  in  der  das  Rohmaterial  zu  den  französischen 
Arthurepen  nach  Nordfrankreich,  zu  Normannen  und  Franzosen  kam,  wo 
es  in  die  epische  Form  der  Romanen  umj^ej^ifossen  wurde;  es  müssen  aLso 
hier  im  1 2.  Jahrhundert  prosaische  und  poetische  Uarstellung-en  desselben 
Stoft'es  in  französischer  Sprache  nebeneinander  gelegen  haben.  In  Nord- 
frankreich vollzog  sich  dann  vom  1 3.  Jahrhundert  ab  der  Übergang  des 
Romans  in  der  poetischen  Form  zur  prosaischen,  also  der  Übergang  von 
der  Form  der  epischen  Erzählung  der  Germanen  und  Romanen  zu  der- 
jenigen der  Kelten:  in  N'ersen  bearbeitete  Stoffe  tauchen  nun  hier  in  Prosa- 
romanen auf,  namentlich  auch  die  Stoffe  des  Arthursagenkreises,  und  von 
hier  aus  drang  dann  der  Prosaroman  allmählich  in  alle  anderen  Literaturen. 
Bei  diesem  Stand  der  Dinge  muß  doch  das  Land  (Xordfrankreich),  wo  zuerst 
mittelalterliche  Prosaromane  in  der  Landessprache  erscheinen,  und  die 
Zeit,  in  der  sie  ihren  Ausgang  nehmen,  darauf  hinweisen,  daß  bei  Ent- 
stehung dieser  der  Literatur  der  Germanen  und  Romanen  bis  dahin  fremden 
Gattung  der  prosaischen  Romane  das  Bretonentum  mit  seiner  gemein- 
keltischen Eigenart  der  Form  der  epischen  Dichtung  nicht  ohne  Einfluß 
gewesen  ist. 

Nicht  allzu  umfangreiche  Erzählungen  in  Prosa,  die  ein  Ereignis  ch»nkmr  dm 
oder  mehrere  eng  zusammenhängende  aus  dem  Leben  eines  Helden  oder  ^'*"' 
irgendeine  keltischen  Hörerkreis  interessierende  Begebenheit  zur  Dar- 
stellung bringen,  bilden  also  die  erste  Stufe  der  keltischen  Epik.  Eine 
geradezu  hervorragende  Kunst  des  Erzählens  zeigt  sich  in  ihnen,  und  zwar 
nicht  nur  in  zahlreichen  Erzeugnissen  der  älteren  irischen  Sagenliteratur, 
sondern  auch  in  den  spärlicheren  Proben  volkstümlicher  Erzählung,  wie 
sie  uns  die  vier  Texte  des  Alabinogionsagenkreises  für  Wales  autljewahrt 
haben.  Man  nehme  einen  irischen  Text,  wie  'die  Geschichte  vom  Schwein 
des  Mac  Dathö':  die  dem  Iren  noch  heutigentags  im  Leben  eigene  Schlag- 
fertigkeit der  Rede  und  sein  damit  verbundener  Witz  kommen  in  den 
kurzen  Rt'den  und  Gegenreden  der  Connachthelden  und  Ulsterkrieger 
meisterhaft  zur  Darstellung;  in  dem  Verhalten  des  Mac  Dathö  selbst  vor 
und  nach  dem  Wortstreit,  sowie  in  der  Forderung  Ferlogas  an  Conchobar 
ebenso  der  Humor;  der  Aufbau  des  Ganzen  ist  geschickt,  die  Steigerung 
hält  den  Hörer  in  Spannung,  und  der  dramatische  Höhepunkt,  wo  der  von 
den  Llsterkriegern  schon  nicht  mehr  erwartete  Genosse  Conall  Cemach 
plötzlich  in  den  Saal  springt,  nach  kurzer  poetischer  Rede  und  Gegenrede, 
wie  sie  sich  unter  Helden  ziemt,  den  abgeschnittenen  Kopf  des  Anluan 
aus  seinem  Gürtel  zieht  und  ihn  dem  Connachthelden  Cot  mac  Matach, 
der  seinen  abwesenden  Genossen  Anluan  eben  als  den  größten  Helden 
gerühmt  hatte,  auf  die  Brust  schleudert,  daß  ihm  ein  Blutstrom  über  die 
Lippen  bricht,  ist  grausig  schön.  An  Umfang  übersteigen  diese  keltischen 
Einzelerzählungen  in  der  Regel  nicht  das,  was  ein  Erzähler  seinem  Hörer- 
kreis in  ein  bis  drei  Abendstunden  vortragen  konnte. 

l>ii  Ki7i.rvB  Dsm  OsoBirwAaT.    L  ii.   i.  5 


56      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Mangelnde  Wie    bci    den    Germanen    die    Nordländer    nicht    über    die    Stufe    des 

Fähigkeit  der   jjgi^jejiliedes  hinauskamen,  so  sind  die  britischen  Kelten,   soweit   aus    der 

Kelten  zu  großen 

epischen  Ganzen.  spärUchen  epischcn  Literatur  der  Kymren  Schlüsse  können  gezogen  werden, 
nicht  über  die  Einzelerzählung  in  Prosa  hinausgekommen.  Anders  die 
Iren,  die  hierin  Angelsachsen  oder  Oberdeutschen  vergleichbar  sind. 
Solche  umfassende  Erzählungen  aus  dem  Cuchulinnsagenkreis  wie  'Fest 
des  Bricriu'  {Fled  Bricretid)  und  'Rinderraub  von  Cualnge'  [Täin  bö  Cua- 
Inge)  oder  'Schlacht  von  Finnträig'  {Cath  Fhiträgä)  aus  dem  jüngeren  Sagen- 
kreis wird  man  unbedingt  als  epische  Dichtungen  bezeichnen  müssen;  auch 
viele  andere  noch.  So  vollendet  gewöhnlich  auch  —  namentlich  in  Texten 
der  älteren  irischen  Heldensage  —  die  Erzählung  innerhalb  der  einzelnen 
Teile  des  größeren  Ganzen  ist,  ebenso  mangelhaft,  oft  ganz  unkünstlerisch 
ist  die  Komposition  als  Ganzes;  viele  Episoden  sind  oft  nur  lose  aneinander 
gereiht;  Anläufe  zur  Durchführung  einer  Idee  werden  gemacht,  aber  durch 
das  rein  Stoffliche  zurückgedrängt,  so  daß  der  jeweilige  Träger  der  Hand- 
lung als  das  einzig  Zusammenhaltende  der  Erzählung  erscheint.  Kurz, 
wenn  auch  an  Umfang  Epen  (Prosaromane),  sind  doch  die  altirischen  Prosa- 
epen als  Ganze  keine  Kunstwerke:  sie  verraten  ein  auffallendes 
künstlerisches  Unvermögen. 
Derselbe  Mangel  Wer  den  Lebeusäußerungen  des  Keltentums  zu   verschiedenen  Zeiten 

auch  anderswo  ^^^  ^^£  Verschiedenen  Gebieten  nachgeht,  wird  immer  wieder  auf  solches 

bei  den   Kelten.  , 

Unvermögen  für  Arbeiten  stoßen,  die  einen  längeren  Atem  erfordern.  Weitab 
von  den  altirischen  Versuchen,  aus  epischen  Einzelerzählungen  ein  eigent- 
liches Epos  zu  schaffen,  liegen  die  Arbeiten  des  1895  gestorbenen  welschen 
Novellisten  und  Romanschriftstellers  Daniel  Owen,  und  doch  wie  ähnlich 
sind  seine  Romane  Y  Dreflan,  Rhys  Lewis,  Enoc  Huws  und  Gwen  Tomos 
den  altirischen  Epen  in  mancher  Hinsicht:  die  Einzelepisoden  in  ihnen 
sind  von  einer  Anschaulichkeit  und  Naturtreue,  daß  man  sich  als  mit- 
beteiligter Zuschauer  fühlt,  aber  als  Ganzes  können  genannte  umfangreiche 
Werke  nicht  gut  den  größeren  Kunstwerken  der  erzählenden  Gattung 
zugerechnet  werden,  da  der  Plan  des  Ganzen  und  seine  Ausführung  sehr 
schwach  ist.  —  Cymru  län  nior  0  gän  'das  herrliche  Wales  ein  Meer  von 
Gesang  und  Musik'  ruft  der  Welsche  stolz  aus.  In  der  Tat,  wo  findet 
man  eine  solche  Fülle  schöner  Melodien,  als  bei  den  heutigen  Kelten 
in  Irland,  Wales  oder  der  Bretagne?  Darüber  hinaus  dasselbe  künstlerische 
Unvermögen  zur  Schaffung  von  musikalischen  Kunstwerken,  die  sich  nicht 
improvisieren  lassen,  das  wir  beim  altirischen  Epos  und  neukymrischen 
Roman  feststellten.  Seit  18 19  bestehen  wieder  die  großen  nationalen 
Musik-  und  Sängerfeste  in  Wales,  bei  denen  die  Aufführung  größerer 
Chorwerke  im  Wettgesang  von  Chören  einen  Hauptbestandteil  ausmacht, 
der  Teil,  an  dem  die  welschen  Masßen  am  lebhaftesten  Anteil  nehmen. 
Oft  schon  hat  man  durch  ausgesetzte  Preise  gesucht,  nationale  Musik  zum 
Nationalfest  hervorzurufen:  große  Kompositionen  wurden  geliefert,  gekrönt, 
aufgeführt  mit  dem  Erfolg,  daß,  wenn  Cymru  län  niör  0  gän  am  National- 


B.   Die  keltischen   Literaturen.      11.   I  >ic  epische   tiniu   und  der  epiM.hc  btil.  (yj 

fest  an  eiiu-ni  ^üßeri'n  Chorwork  .sein  tiefes  Bedürfnis  befriedij^en  will, 
man  immer  wieder  zu  Händel,  llaydn,  Mendel.s.sohn,  vereinzelt  Schumann 
gereift.  —  Und  steht  es  mit  den  'Werken'  der  Kelten  im  V'ölkerleben  anders? 
Man  spricht  ihnen  darum  die  Staaten  bildende  Kraft  ab.  Aber  ist  das 
nicht  im  Grunde  da.sselhe  Unvermöijen,  was  schon  hervorj»'ehoben  wurde? 
Virtuosen  in  der  Kleinkunst,  in  allem,  was  sich  improvisieren  läßt,  ^eht 
den  Kelten  überall  -  in  Literatur,  Kunst  und  Völkerleben  —  die  Fähig- 
keit ab  zu  Schr)pfunv(en,  die  ein  läut^'^eres  Vorausbedenken,  Knotenschürzen 
und  fest  bei  der  Stande  Bleiben  erfordern ;  wo  sie  in  Nachahmunj^  oder  in 
Antrieb  fremder  Vorbilder  solches  versuchen,  fallen  die  Versuche  mangel- 
haft aus.  An  den  Vorbildern  Ilias  und  Aeneis  —  jene  in  den  Darstellungen 
aus  dem  späten  Altertum,  die  unter  den  Namen  von  Dares  Phryj^us  und 
Dictys  Cretensis  auf  uns  g^ekommen  sind,  diese  im  Original  bekannt  — 
ist  den  irischen  Sagenerzähleni  der  Begriff  des  Epos  im  Gegensatz  zur 
Episode  aufgegangen;  das,  was  bei  den  Iren  bei  der  Nachahmung  heraus- 
gekommen ist,  zeigen  uns  die  umfangreichen  altirischen  Sagentexte:  *A 
Kymro  has  imagination  enough  for  fifty  poets  without  judgement  enough 
for  one'  ist  eine  Art  Sprichwort,  das  auch  seine  Richtigkeit  behält,  wenn 
man  Ire  oder  Kelte  für  'Kymro'  einsetzt  Liest  man  eins  der  größeren  epischen 
Werke  der  irischen  Literatur,  dann  hat  man  den  Eindruck,  daß,  wenn  auch 
nicht  so,  so  doch  eine  Anzahl  Dichter,  die  im  Verfasser  wohnten,  der 
Reihe  nach  das  Wort  nehmen,  ohne  daß  das  zu  stetiger  Ausbildung  eines 
umfassenden  Planes  nötige  'judgement'  zu  gebührender  Geltung  kommt. 
Die  Einzelerzählungen,  namentlich  aus  dem  Kreise  der  Cuchulinnsage, 
.sind,  wie  schon  bemerkt  wurde,  kleine  Kunstwerke  der  epischen  Erzählung  .-^üund  ir^hoik 
und  verraten  Stil  und  Technik,  wie  sie  nur  bei  längerem  Bestehen  der  ^^^"^j*" 
ganzen  Literaturgattung,  sowie  bei  berufsmäßiger  Pflege  und  .Schulung 
der  Träger  sich  herausbilden  können.  Rasch,  manchmal  fast  knapp,  wird 
der  Gang  der  Handlung  vorgeführt;  breit  und  ausführlich  wird  der  Er- 
zähler, wenn  er  auf  Gegenständliches  kommt:  so  wird  bei  der  von  Bricriu 
nach  dem  Vorbild  des  Königspalastes  in  Emain  Macha  erbauten  Festhalle 
nicht  nur  gesagt,  daß  sie  sich  'vor  allen  ähnlichen  Häu.sern  jener  Zeit 
ausgezeichnet'  habe,  sondern  der  Erzähler  zeigt  einzelne  Teile  gewisser- 
maßen vor  durch  den  Zusatz  'sowohl  Material  als  kunstvolle  Arbeit,  so- 
wohl Kostbarkeit  als  Architektur,  sowohl  Säulen  als  Frontstücke,  sowohl 
Glanz  als  .Stattlichkeit,  sowohl  Pracht  als  Eigenart,  sowohl  .Schnitzwerk 
aLs  Türverzierung',  wobei  zu  beachten  ist,  daß  im  Irischen  immer  je 
zwei  Substantive  durch  Alliteration  verbunden  sind  (c/rr  aäbur  ochs  ela/hmn^ 
eter  chaimi  ocus  chumtachtcu ,  eter  üatni  ocus  airinigiy  eter  ligraJ  ocus  log- 
mairi,  tter  sochraidf  ocus  sQachfiiJc ,  ctcr  irscartini  ocus  imdorus).  Peine 
Detailmalerei  geht  bei  den  Erzählern  Hand  in  Hand  mit  feststehenden 
Wendungen  und  Redensarten;  überall  treffen  wir  stehende  Beiwörter  für 
Helden,  Waffen,  Pferde,  so  daß  Wörter  und  Formeln,  die  in  verschiedenen 
Texten  in  zahlreichen  Handschriften   vorkommen,    uns  in    ihrer   wirklichen 


68      Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

Bedeutung-  oft  ziemlich  unklar  bleiben,  wenn  ihre  Etymologie  dunkel  ist 
und  die  moderne  Sprache  ihre  Hilfe  versagt.  Erreicht  die  Handlung  einen 
Höhepunkt,  dann  werden  die  Substantive  gehäuft,  und  die  Beiwörter  werden 
gehäuft,  in  parallelen  Sätzen  wird  dasselbe  zweimal  gesagt;  die  Alliteration 
tritt,  wie  schon  aus  dem  eben  gegebenen  Beispiel  ersichtlich  war,  als 
weiterer  Schmuck  hinzu:  *ich  breche  Schlachten  allein'  drückt  Medb  im 
'Rinderraub  von  Cualng-e'  aus  brissimsea  catha  actis  comlenga  acus  congala 
vioenur  und  'ich  war  besser  im  Kampf  mit  hamsa  ferr  imchath  acus  coffirac 
acus  comlund,  wo  also  für  'Schlacht'  oder  'Kampf  drei  alliterierende  Syn- 
onyme zur  Verfügung  des  Erzählers  stehen;  Cathbad,  Conchobars  Druide, 
'weinte  fiutengroße,  sehr  rote  Tränen  des  Blutes,  so  daß  Busen  und  Brust 
ihm  feucht  war'  {ciis  dera  folcniara  forruada  fola  corbo  fliuch  blae  acus 
brunni  dö\  als  er  seinen  König  elend  und  bekümmert  sah.  Besonders  die 
Vorbereitungen  zum  Kampf,  die  Reden,  die  gehalten  werden,  und  der 
Kampf  selbst  sind  Momente,  in  denen  der  irische  Sagenerzähler  alle 
Register  zieht,  die  ihm  zu  Gebote  stehen. 

In  jüngerer  Zeit  entwickeln  sich  diese  Eigenheiten  immer  mehr  zur 
Manier.  Es  läßt  sich  der  Fortschritt  hierin  besonders  gut  beobachten,  wenn 
ältere  Sagentexte  auch  in  jüngeren  Umarbeitungen  vorliegen,  die  gelegent- 
lich wesentlich  darin  bestehen,  daß  überall  statt  eines  schmückenden  Bei- 
wortes drei  alliterierende  treten.  Man  betrachte  die  Erzählung  von  'Ailill 
Angubas  Siechbett',  auch  'das  Werben  um  Etain'  genannt,  wie  sie  in  der 
ältesten  irischen  Sagenhandschrift  des  1 1 .  Jahrhunderts  als  Erbe  des  Q.Jahr- 
hunderts vorliegt,  mit  der  sogenannten  ausführlichen  Version  einer  viel 
jüngeren  Handschrift;  noch  lehrreicher  ist,  wenn  man  den  größten  Text  der 
jüngeren  Heldensage  'die  Unterhaltung  der  Alten'  in  älteren  und  jüngeren 
Handschriften  vergleicht.  Die  epische  Ruhe,  die  in  den  alten  Sagentexten 
bei  aller  Lebhaftigkeit  im  einzelnen  doch  im  ganzen  und  großen  herrscht, 
ist  völlig  dahin;  aus  gemessenen,  alten  Sagenerzählem,  die  in  gebildeten 
Kreisen  zu  verkehren  wußten,  sind  gestikulierende  Marktschreier  geworden. 
Es  mag  diese  Verrohung  des  epischen  Stiles,  wie  sie  bei  Vergleich  von 
Texten  des  g.  und  ro.  Jahrhunderts  mit  solchen  des  13.  und  14.  Jahr- 
hunderts sich  stark  zeigt,  mit  den  veränderten  politischen  Verhältnissen 
Irlands  zusammenhängen.  Aus  dem  Phäakenleben  von  Mitte  des  5.  bis 
Ende  des  8.  Jahrhunderts  wurden  die  Iren  durch  die  Vikingereinfälle  auf- 
geschreckt und  200  Jahre  in  Atem  gehalten;  Verschiebungen  der  Besitz- 
verhältnisse fingen  in  dieser  Zeit  an  und  setzten  sich  nach  der  Anglo- 
normanneneroberung  Irlands  fort;  das  Bildungsniveau  der  irischen  Gelehrten 
in  den  Klöstern  sank  vom  i o.  Jahrhundert  ab  ganz  bedeutend,  was  nicht 
ohne  Einfluß  auf  die  Allgemeinbildung  der  berufsmäßigen  Sagenerzähler  und 
ihrer  Hörer  bleiben  konnte.  Alles  Momente,  von  denen  jedes  zur  offen- 
kundigen Verrohung  des  epischen  Stiles  beitrug. 

Was  nun  die  älteren  Sagentexte,  also  vornehmlich  die  der  Cuchulinn- 
sage,  anlangt,  so  stehen  dem  Sagenerzähler  nicht  nur  feste  Beiwörter  und 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     Schlußbetrachtung.  ^q 

feste  Formeln  zu  Gebote;  auch  kürzere  oder  längere  Heschreibungen  von 
Gegenstäiiden  oder  Situationen  finden  sich  in  den  verschiedensten  Texten 
der  alten  Heldensagfe  ziemlich  wörtlich  wieder.  Von  Gegenständen  seien 
genannt  die  Beschreibung  von  Cuchulinns  Pferden,  seines  Streitwagens; 
Anlegen  der  Waffen  durch  den  Helden  vor  dem  Kampf,  Auszug  eines 
Heeres,  Ankunft  einer  feindlichen  Schar,  feindlicher  Angriff,  Dämpfung 
der  Wut  Cuchulinns  durch  das  Entgegengehen  von  Frauen  sind  nur  einige 
der  Situationen,  die  in  den  verschiedensten  Texten  ziemlich  ähnlich,  in 
manchen  Kinzellieiten  gleich  erzählt  werden.  Ja  selbst  bei  weitgehenden 
Abweichungen  in  Einzelheiten  zeigt  sich  oft  in  den  verschiedenartigsten 
Texten  dieselbe  Technik  bei  Einführung  und  Darstellung  gleicher  oder 
verwandter  Situationen:  in  unverkennbarer  Nachahmung  der  homerischen 
Teichoskopie  bietet  'das  Fest  des  Hricriu'  ein  farbenprächtiges,  in  jedem 
einzelnen  Strich  echt  irisch  gehaltenes  Bild,  auf  dem  Findabair  und  Medb 
bei  einer  Mauerschau  vom  'Söller  auf  dem  V^ortor  des  Burgwalles*  von 
Cruachan  die  drei  Helden  Loegaire,  Conall  und  Cuchulinn  in  dem  in  der 
Ebene  von  Ai  zahllos  erscheinenden  Ulsterheer  zeigen;  drei  in  den  Epen 
'Trunkenheit  der  Ulsterleute',  'Rinderraub  von  Cualnge',  'Zerstörung  von 
Da  Dergas  Palast'  einen  großen  Raum  einnehmende  Episoden  sind  zwar 
nach  Rahmen,  Figuren  und  Situation  sowohl  unter  sich  als  vom  'Fest  des 
Bricriu'  verschiedene  Bilder,  verraten  aber  alle  dieselbe  erborgte  Technik 
wie  letzteres. 

Es  sind  die  Texte  der  älteren  irischen  Heldensage,  des  Cuchulinn- 
sagenkreises,  die  bei  den  flüchtigen  Bemerkungen  über  Stil  und  Technik 
das  Material  lieferten,  da  die  älteren  kymrischen  Ouellen  spärlich  fließen. 
In  dieser  alten  irischen  Heldensage  kommt  zwar  nicht,  wie  zeitweilig  ge- 
glaubt wurde,  unbeeinflußtes,  aber  doch  das  ungebrochene  Keltentum  Ir- 
lands zu  Wort,  so  daß  wir,  bei  den  nachgewiesenen  weitgehenden  Über- 
einstimmungen zwischen  Iren  und  Welschen  in  der  Form  der  epischen 
Dichtung,  allen  Grund  haben,  uns  hierin  an  die  ältere  irische  Sagenliteratur 
zu  halten,  um  keltische  Eigenart  zu  erkennen. 

Schlußbetrachtung.  Das  letzte  Viertel  des  i^.  Jahrhunderts  hat  in  i>w  b^wjc» 
all  den  Strichen,  wo  Nachkommen  der  Inselkelten  in  größeren  Massen  ihre 
keltischen  Idiome  und  dadurch  sich  selbst  vor  dem  völligen  Aufgehen  in 
der  sie  umgebenden  germanischen  und  romanischen  Welt  bewahrt  haben, 
eine  starke  Bewegung  entstehen  oder  wachsen  gesehen,  die  auf  eine 
Wiedergeburt  des  keltischen  Volkstums  abzielt  Sie  bezweckt  in  den  Ge- 
bieten, wo  die  keltischen  Idiome  im  I-aufe  des  19.  Jahrhunderts  mehr  oder 
minder  deutlich  ein  hippokratisches  Gesicht  zu  zeigen  begannen,  in  erster 
Linie  Wiederbelebung  der  betreffenden  keltischen  Sprachen  und  des 
weiteren  überall  Wiedereinsetzung  in  ihre  Stellung  als  Literatursprachen, 
die  auch  dem  Bedürfnis  des  Gebildeten  Genüge  leisten  können;  endlich 
arbeitet    die    Bewegung    darauf    hin,    den    heutigen    keltischen    Sprachen 


yo      Heinrich  Zimmer:  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

in  möglichst  weitem  Umfang  die  allmählich  verloren  gegangene  Position 
als  Sprachen  nationalen  Lebens  überhaupt  wiederzugewinnen,  sie  also  zu 
herrschenden  Sprachen  in  Kirche  und  Schule,  zu  möglichst  gleichberechtigten 
Sprachen  mit  Englisch  oder  Französisch  im  öffentlichen  Verkehr,  in  Gerichts- 
höfen imd  Verwaltung  in  den  in  Frage  kommenden  Gebieten  zu  machen: 
also  "Wiederherstellung  des  im  Mittelalter  in  Irland,  den  schottischen 
Hochlanden,  in  Wales  und  teilweise  in  der  Bretagne  bestehenden  Zu- 
standes,  soweit  es  nur  die  Zugehörigkeit  zu  anderssprachigen  Staatswesen 
und  die  Bedürfnisse  der  Neuzeit  gestatten.  Hand  in  Hand  mit  dieser 
sprachlich-literarischen  Bewegung  geht  überall  das  Bestreben,  alles  Yolks- 
tümliche,  den  betreffenden  keltischen  Strichen  Eigenartige  in  Sitte  und 
Brauch,  Tracht  und  Einrichtungen  zu  erhalten,  zu  beleben  und  geradezu 
wieder  neu  ins  Leben  zu  rufen,  also  z.  B.  die  nationale  Musik  auf  den 
nationalen  Musikinstrumenten  und  die  nationalen  Spiele.  Man  ist  z.  B.  in 
tland  und  Wales  um  so  eifriger  bei  der  Sache,  je  mehr  es  sich  um 
Bräuche  und  Einrichtungen  handelt,  die  möglichst  weit  von  der  umgebenden 
englischen  Kultur  abweichen,  wobei  das  Bestreben  hervortritt,  zu  zeigen: 
wir  K}Tiiren,  Iren,  Hochschotten,  Bretonen  sind  Individuen  mit  ausgeprägter 
Eigenart  neben  dem  Engländer  oder  Franzosen,  und  so  sind  auch  die 
Kymren,  Iren,  Hochschotten,  Bretonen  nicht  mit  konstituierender  Teil  eines 
anderen  Körpers,  also  Englands  oder  Frankreichs,  sondern  Körper  für  sich, 
wie  ein  kymrischer  Schriftsteller  sich  ausdrückt.  Anderseits  betont  man: 
unbeschadet  des  Umstandes,  daß  Kymren,  Iren,  Hochschotten,  Bretonen 
einzelne,  wenn  auch  kleine  Nationen  sind,  haben  die  genannten  Nationen 
doch  gemeinsame  Züge  im  Gegensatz  zum  englischen  oder  französischen 
Volk,  sie  sind  Kelten  im  Gegensatz  zu  den  germanischen  und  romanischen 
Völkern. 

Diese  Bewegung  für  eine  literarische  und  nationale  Wiedergeburt  des 
Keltentums  hat  am  frühesten  in  Wales  begonnen.  Hier  ist  sie,  wie  auch 
in  den  schottischen  Hochlanden,  ein  natürliches  Gewächs;  sie  ist,  wie  in  der 
Geschichte  der  Sprache  des  Kymrischen  kurz  gezeigt  wurde,  allmählich 
erwachsen  aus  der  Rolle,  die  bei  einem  vertieften,  innerlichen  Protestan- 
tismus die  Volkssprache  durch  Bibel,  Predigt,  Kirchenlied  und  Erbauungs- 
literatur im  geistigen  Leben  der  Völker  zu  spielen  berufen  ist.  Anders 
ist  es  in  der  Bretagne  und  Irland.  In  beiden,  wo  die  Bewegung  zur 
Wiederbelebung  der  keltischen  Sprachen  als  Nationalsprachen  ein  Kind  des 
letzten  Viertels  des  19.  Jahrhunderts  ist,  erscheint  sie  ganz  deutlich  als  Aus- 
fluß einer  vorhandenen  nationalpolitischen  Strömung,  hervorgegangen 
aus  der  Erkenntnis,  daß  eine  gesonderte  nationale  Sprache  das  stärkste 
und  auf  die  Dauer  allein  haltbare  Bollwerk  eines  gesonderten  Volkstums 
ist.  Die  Stellung,  die  die  kymrische  Sprache  seit  gut  150  Jahren  errungen 
hat  und  im  Leben  des  welschen  Volkes  heutigentags  einnimmt,  ist  das 
erste  Ziel,  das  den  sprachlich -literarischen  Bestrebungen  in  Irland  und  der 
Bretagne    vorschwebt.     Nach    Wales    als    dem    Musterlande    schauen   die 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     SchlußbetrachtunK.  ^1 

Führor  in  den  übrijifen  Keltenstrichcn.  In  Wales  findet  die  sprachlich- 
litcrarischf  Ik-we^unj»'  seit  beinahe  loo  Jahren  ihreti  Ausdruck  in  dem 
alljährlicli  stalttindenden,  eine  Woche  dauernden  großen  Nalionalfest,  ge- 
nannt  Eistt'iU/od  genedlacthol^  auf  dem  Wettbewerb  der  Musiker,  Sänger, 
Dichter  und  Literaten  st.attfindet.  In  Nachahmung  dessen  veranstalten  die 
1  lochschotten  seit  iHq2  ein  literarisch-musikalisches  Fest,  genannt  MuJ^ 
die  Iren  seit  1897  ein  gleiches,  genannt  in  ihrer  Sprache  Oireachto'i^  und 
die  Bretonen  seit  1898  ihren  Ktndalch'.  die  heutigen  Eigenarten  der  vier 
keltischen  'Nationen'  kommen  in  diesen  der  kymrischen  Eisteddfod  nach- 
gebildeten Festen  vollauf  zur  Geltung,  so  daß  z.  B.  bei  dem  irischen  und 
bretonischen  Fest  theatralischen  Aufführungen  ein  großer  Raum  gewährt 
wird,  die  bei  dem  Fest  der  Welschen  und  Hochschotten  ganz  fehlen. 

Eine  mächtige  Anregung  zieht  diese  auf  Wiedergeburt  des  keltischen 
Volkstums  abzielende  Bewegung  unstreitig  aus  dem  der  keltischen  Sprach- 
und  Altertumsforschung  seit  zweiter  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  zugxite 
kommenden  Aufschwung  der  historischen  Wissenschaften.  Schon  allein 
der  Umstand,  daß  seit  einigen  Dezennien  Gelehrte  germanischer  und  ro- 
manischer Zunge  nach  den  Keltenlanden  gehen,  im  Leben  die  Sprache 
und  in  Bibliotheken  die  Literatur  studieren,  daß  im  Verlauf  an  abend- 
ländischen Bildungszentren  keltische  »Sprachen  und  ihre  Literaturen  im 
Lehrplan  erscheinen,  erhebt  den  vom  Engländer  und  Franzosen  lange  über 
die  Achsel  angesehenen  Kelten  nicht  wenig;  die  Anerkennung,  die  infolge 
dieser  Forschung  einzelnen  Lebensäußerungen  des  Keltentums  im  Verlauf 
seiner  langen  Geschichte  geworden  ist,  steigert  das  Selbstbewußtsein  des 
mit  lebhafter  Phantasie  begabten  Kelten  stark.  In  Schriften  und  in  Reden 
auf  den  Festversammlungen  wird  aus  solchen  Kömchen  Edelmetall  unter 
Zusatz  von  viel  Blech  blanke  Scheidemünze  geschlagen,  um  die  keltischen 
Massen  damit  für  die  Bewegung  zu  gewinnen. 

Die  Anschauung,  daß  die  Keltisch  redenden  Iren,  Hochschotten,  t»«  »»cebach« 
Welschen,  Bretonen  gemeinsame  Züge  im  Gegensatz  zu  den  sie  um- 
gebenden romanischen  und  germanischen  Völkern  aufweisen,  mußte  zu 
näherer  Berührung  zwischen  den  Bewegungen  in  den  einzelnen  keltischen 
Strichen  führen.  Zuerst  erschienen  Deputationen  der  einzelnen  keltischen 
'Nationen'  zu  den  Nationalfesten  der  anderen  mit  Glückwunschadressen, 
bis  auf  dem  welschen  Nationalfest  in  Cardiff  im  Jahre  1899  der  Beschluß 
gefaßt  wurde,  ein  von  den  einzelnen  Nationalfesten  unabhängiges,  alle 
drei  Jahre  wiederkehrendes  pankeltisches  Nationalfest  abzuhalten,  wo 
'die  Seele  der  alten  keltischen  Rasse'  sich  ungezwungen  offenbaren  sollte. 
Im  Jahre  1901  wurde  in  Dublin  ein  solches  Fest  der  'keltischen  Nationen' 
veranstaltet,  dem  ein  zweites  1904  in  Camarvon  folgfte.  Über  die  innere 
Hohlheit  dieser  Versammlungen  kann  nur  Feststiiiinumg  und  ungewöhnliche 
Kritiklosigkeit  hinwegtäuschen.  Eine  politische  Einheit  der  'keltischen 
Nationen'  ist  weniger  als  je  vorhanden  und  liegt  selbst  außerhalb  des 
Reiches  der  Träume.     Die  sprachliche  Einheit,  die   im   Altertum   unter 


BtoMt  4m 


7  2       Heinrich  Zimmer  :  Die  keltischen  Literaturen.    I.  Sprache  u.  Literatur  d.  Kelten  im  allgem. 

dem  Keltentum  bestand,  ist  auch  geschwunden.  Iren  und  Hochschotten 
können  sich  zur  Not  verständigen,  Kymren  und  Bretonen  nur  mit  Hinzu- 
nahme der  Gebärdensprache;  beide  Gruppen  stehen  sich  praktisch  genom- 
men gegenüber  wie  Angehörige  fremder  Sprachstämme.  Da  nun  auch 
keine  der  vier  modernen  keltischen  Sprachen  in  dem  Sinne  eine  Kultur- 
sprache ist,  daß  ein  Erlernen  derselben  von  seiten  der  anderen  Brüder  aus 
praktischen  Gründen  in  Betracht  kommen  kann,  muß  ^die  Seele  der  alten 
keltischen  Rasse'  schon  zu  einer  nichtkeltischen  Sprache  Zuflucht  nehmen, 
um  sich  allen  verständlich  auszudrücken,  und  auch  das  macht  noch 
Schwierigkeiten:  die  Kelten  des  vereinigten  Königreiches  verstehen  meist 
nur  noch  Englisch  und  die  der  Bretagne  Französisch,  so  daß  auf  dem 
ersten  Feste  der  keltischen  Rasse  in  Dublin  keltische  Sprachen  fast  gar 
nicht  gehört  wurden,  dafür  aber  um  so  mehr  Englisch  oder  Französisch 
mit  Verdolmetschung  ins  Englische.  Endlich  kann  bei  den  heutigen 
'keltischen  Nationen'  weder  von  jener  Einheit  die  Rede  sein,  die  eine 
gemeinsam  verlebte  Geschichte  hervorruft,  noch  von  einer  geistigen  Ein- 
heit, wie  sie  im  keltischen  Altertum  durch  die  allen  Kelten  gemeinsamen 
Klassen  des  Literatenstandes  hergestellt  wurde.  Gerade  auf  geistigem 
Gebiete  ist  die  Kluft  größer  als  sonstwo:  Iren  und  Bretonen  sind  katholische 
Kelten,  Welsche  und  Hochschotten  sind  protestantische  Kelten;  aber  noch 
mehr,  die  Iren  und  Bretonen  vertreten  den  römischen  Katholizismus  ebenso 
in  Reinkultur  wie  Welsche  und  Hochschotten  den  den  Papst  als  Antichrist 
betrachtenden  kalvinistischen  Protestantismus.  So  sind  zudem  gerade  die 
keltischen  Völker  auseinander  gerissen,  bei  denen  ein  sprachlicher  Zu- 
sammenschluß nicht  aus  dem  Bereich  der  Möglichkeit  läge. 
Die  sogenannte  Für   die   Fcste    der   keltischen  Rasse   bleiben    also   außer   Beratungen 

des  Keuintums  ^^^^  Orgauisationsfragen  in  fremder  Sprache  und  nationalen  Schaustellungen, 
bei  denen  auch  ein  Wort  in  einer  keltischen  Sprache  fallen  kann,  das  aber 
drei  Viertel  der  anwesenden  Kelten  oft  unverständlich  ist,  wesentlich  zwei 
Dinge  übrig:  Reden  in  nichtkeltischen  Sprachen  über  die  idealisierte  Ver- 
gangenheit und  Träumen  von  einer  den  Kelten  noch  bevorstehenden 
besseren  Zukunft,  das  heißt  von  der  Mission  des  Keltentums  im  20.  Jahr- 
hundert. Ein  ausgeprägter  visionärer  Zug  kommt  in  der  mittelalterlichen 
Literatur  der  Kelten  zum  Ausdruck.  In  der  kirchlichen  Literatur  Irlands 
spielen  'Visionen'  sowohl  in  irischer  als  lateinischer  Sprache  eine  große 
Rolle  und  sind  auf  dem  Kontinent  —  Visio  Fursaei,  Visio  Tnudgali,  Pur- 
gatorium  Patricii  —  Vorbilder  für  eine  kirchliche  Visionenliteratur.  Ebenso 
gehörten  zum  Repertoire  eines  irischen  Sagenerzählers  für  die  Höfe  der 
Fürsten  im  10.  Jahrhundert  nach  Ausweis  der  erhaltenen  Sachkataloge 
'Visionen'  und  'Träume'  f/is,  daiie,  aislinge)^  und  die  verhältnismäßig 
geringfügige  ältere  kymrische  Prosaliteratur  kennt  drei  Texte  derselben 
Gattung  (breudwyt).  Ein  so  wichtiges  Ereignis  wie  die  Wahl  eines  Ober- 
königs wurde  nach  zwei  Texten  der  älteren  irischen  Heldensage  —  'Siech- 
bett des  Cuchulinn'  und  'Zerstörung   des    Palastes    des  Da  Derga'  —  im 


B.  Die  keltischen  Literaturen.     Srhlußbclrac:htunj{.  ~  ^ 

heidnischen  Irland  öfters  durch  Träume  vollzogen:  vor  den  versammelten 
vier  Teilkönij^en  wurde  ein  weißer  Stier  geschlachtet,  und  ein  Mann  mußte 
von  dessen  Fleisch  und  Hrühe  sich  voll  essen;  über  den  infolge  der 
Sättigung  Eingeschlafenen  sangen  vier  Druiden  das  'Gold  der  Wahrheit', 
und  aus  der  Schilderung,  die  er  nach  Erwachen  von  dem  Manne  machte, 
den  er  im  Traume  gesehen  hatte,  wurde  auf  die  Person  des  künftigen 
Oberkönigs  geschlossen. 

Nach  alledem  wird  man  in  den  pankeltischen  Träumereien  über  die 
Mission  des  modernen  Keltentums  einen  echt  keltischen  Zug  sehen  müssen. 
Schwer  ist  es  allerdings  oft,  der  dunklen  Reden  Sinn  zu  fassen.  Her\'or- 
leuchtet,  daß  die  heutigen  Pankelten  dieselbe  kindliche  Einschätzung  des 
Keltentums  beherrscht,  die  die  irischen  Sagenerzähler  seit  looo  Jahren 
charakterisiert:  im  c).  und  lo.  Jahrhundert  ließen  diese  den  Haujithelden 
der  älteren  irischen  Heldensage,  den  Cuchulinn,  zu  ihrer  und  ihrer  Hörer 
Befriedigung  nicht  nur  den  Herkules,  sondern  auch  den  Sagenhelden  der 
siegreich  auf  Irlands  Boden  weilenden  Vikinger,  den  Nibelung  (Fer  Diad^, 
besiegen;  500  Jahre  später  bewältigt  ein  Held  der  jüngeren  irischen  Helden- 
sage, Oscar  mac  Oisin,  den  gefeiertsten  europäischen  Sagenhelden  des 
Mittelalters,  den  König  Arthur;  in  einer  irischen  Erzählung  unserer  Tage 
überwindet  der  irische  Held  sogar  'den  Sohn  des  Königs  von  Preußen'. 
In  ähnlicher  Selbsteinschätzung  sieht  man  dem  heutigen  Keltcntum  unter 
den  großen  Kulturvölkern  die  Rolle  zugewiesen,  die  das  politisch  eroberte 
kleine  Griechenland  in  dem  römischen  Weltreich  spielte;  man  glaubt  zu 
ahnen,  daß  der  geistige  Einfluß  der  Kelten,  die  man  als  die  Rasse  an- 
sieht, 'die  am  meisten  mit  geistigen  Schätzen  begabt  ist',  unter  den  beiden 
Kulturvölkern  Westeuropas,  dem  anglokeltischen  und  frankokeltischen,  im 
20.  Jahrhundert  immer  mehr  zum  Durchbruch  koinmen  und  Westeuropa 
endgültig  'keltisch'  niarhcn   winl. 


Lite  ratur. 

Spät,  erst  in  der  Mitte  des  abgelaufenen  Jahrhunderts ,  wurde  die  keltische  Sprach-  und 
Altertumsforschung  durch  ein  grundlegendes  Werk  des  Bamberger  Lyzealprofessors  KaSPAr 
Zeuss  (Grammatica  Celtica.  E  monumentis  vetustis  tarn  Hibemicae  ling^ae  quam  Britannicae 
dialecti  Cambricae  Comicae  Armoricae  nee  non  e  Gallicae  priscae  reliquiis  construxit 
J.  C.  Zeuss.  Lipsiae  1853)  in  den  Stand  gesetzt,  an  dem  auf  anderen  Gebieten  schon  ein 
Menschenalter  früher  eingetretenen  Aufschwung  der  historischen  Wissenschaften  teilzunehmen. 
Auch  von  da  ab  war  die  Zahl  der  ernsten  Forscher  auf  diesem  Gebiete  längere  Zeit  nur 
gering;  nach  des  Meisters  frühem  Tode  (1856)  stand  diese  Forschung  fast  für  zwei  Dezennien, 
wenn  auch  nicht  ausschließhch ,  so  doch  vornehmlich  auf  vier  Augen:  es  waren  der  1875 
früh  dahingeraffte  Hernl\nn  Ebel  in  Deutschland  und  der  noch  lebende  Engländer  Whitley 
Stokes,  die  das  Erbe  von  Zeuss  antraten.  Mit  der  Begründung  der  'Revue  Celtique' 
(Paris  1S70)  durch  Henri  Gaidoz  bahnt  sich  hierin  eine  neue  Periode  an:  seit  g^t  drei  De- 
zennien beteihgt  sich  ein  allmählich  immer  größer  werdender  Kreis  von  Forschern  deutscher, 
englischer,  französischer,  italienischer  und  skandinavischer  Zunge  am  Ausbau  der  keltischen 
Sprach-  und  Altertumskunde,  und  die  Mitarbeit  von  Männern,  deren  Muttersprache  heutige 
keltische  Idiome  sind,  nimmt  zu.  Immerhin  ist  aber  der  Kreis  der  Forscher  noch  klein 
schon  in  Anbetracht  des  zeithchen  Umfanges  (6.  Jahrhundert  v.  Chr.  bis  20.  Jahrhundert 
n.  Chr.)  des  vernachlässigten  Forschungsgebietes,  noch  mehr  aber  im  Vergleich  mit  der 
Zahl  der  Gelehrten,  die  sich  berufsmäßig  mit  anderen  Gebieten  historischer  Forschung 
beschäftigen,  die  — wie  z.  B.  das  indische  oder  arabische  Altertum  —  für  die  Entwickelung 
der  kulturtragenden  Völker  unserer  Zeit,  der  Romanen  und  Germanen,  nicht  in  dem  Maße 
in  Betracht  kommen  wie  die  Kelten. 

Die  Tätigkeit  der  Nachfolger  von  KaSPAR  Zeuss  war  zunächst  naturgemäß  auf  ein 
Fortbauen  und  Ausbauen  der  vom  Meister  gelegten  Fundamente  gerichtet,  sie  erstreckte  sich 
also  wesentlich  auf  die  Grammatik  der  älteren  Perioden  des  Irisch -Gälischen  und  Britischen 
in  drei  Richtungen:  Heranziehen  neuer  und  weitere  Ausbeutung  der  von  Zeuss  benutzten 
Quellen,  stärkere  Verknüpfung  der  so  festgestellten  Spracherscheinungen  der  älteren  Perioden 
des  Inselkeltischen  mit  den  Ergebnissen  indogermanischer  Sprachforschung  und  anderseits 
weiteres  Herabsteigen  bis  in  die  modernen  keltischen  Sprachen,  um  von  hier  aus  Aufschlüsse 
für  ältere  Zeit  zu  holen.  Dieser  allmählich  sich  vollziehende  Ausbau  der  Grammatica  Celtica 
zu  einer  historischen  Grammatik  des  Keltischen  von  den  ältesten  Zeiten  bis  in  die  heutigen 
keltischen  Sprachen  und  deren  Dialekte  kam  auch  in  hervorragendem  Maße  den  Arbeiten 
für  wissenschaftliche  Wörterbücher  der  älteren  Perioden  des  irisch -gälischen  und  britischen 
Zweiges  des  Inselkeltischen  zugute.  Von  der  Herausgabe  keltischer  Sprachdenkmäler  aus 
grammatischen  Rücksichten  und  zu  grammatischen  Zwecken  ist  man  seit  30  Jahren  allgemach 
zur  Veröffentlichung  von  Denkmälern  aus  literargeschichtlichen  Interessen,  namentlich  auf 
den  Gebieten  des  Mittelirischen  und  älteren  Kymrischen  übergegangen.  Hier  lagen  —  in 
Wales  bis  ins  Ende  des  18.  Jahrhunderts,  in  Irland  bis  Mitte  des  19.  Jahrhunderts  zurück- 
gehend —  umfangreiche  und  zum  Teil  höchst  verdienstliche  Arbeiten  einheimischer  Gelehrten 
vor.  StrengAvissenschaftlichen  Anforderungen  entsprechen  allerdings  nur  wenige  dieser  Ver- 
öffentlichungen, und  derselbe  Vorwurf  kann  auch  den  meisten  Ausgaben  älterer  Texte  der 
Forscher  nicht  erspart  werden,  die  mit  erweiterten  grammatischen  Kenntnissen  die  Arbeiten 
der  älteren  einheimischen  Gelehrten  wieder  aufgenommen  haben.  Ganz  gewiß  hat  hier  der 
Umstand,  daß  nicht  reiner  Tisch  vorlag,  verhängnisvoll  mitgewirkt,  daß  man  sich  weniger 
als  wünschenswert  und  erforderUch  die  Vorbilder  vorhielt,  die  ältere  Schwesterdisziplinen 
wie  klassische ,  deutsche  oder  romanische  Philologie  bieten;  zur  Entschuldigung  muß  ander- 


Heinrich  Zimmer:  Literatur.  je 

scits  anjjcfiihrt  werden,  daß,  solange  Herausgeber  zu  nnjjen  haben,  um  Cirammatik,  Wörter- 
buch und  Roh  Verständnis  der  Texte  festzustellen,  Kritik,  sowohl  höhere  als  niedere,  etwas 
zurückstehen  muß.  Es  gehört  keine  große  Kühnheit  dazu  zu  behaupten,  daß  keiner  der 
lebenden  Keltologen  beispielsweise  von  dem  wichtigsten  altirisrhen  .Sagenlcxt  'Der  Rinder 
raub  von  Cualngc'  oder  dem  alten  kymrischcn  Poem  }'  GoJodin  mit  allen  vorhandenen 
Hilfsmitteln  ein  solches  fortlaufendes  \'crständnis  des  Inhalte  hat,  wie  von  einem  guten 
Gymnasialabiturienten  hinsichtlich  der  homerischen  C»edichtc  ohne  jegliches  Hilfsmittel  vor 
gut  30  Jahren  in  Deutschland  verlangt  wurde.  Wichtige  ältere  Literaturdenkmäler  beider 
Zweige  des  Inselkcltischen  sind  nur  in  Abdruck  einer  Handschrift  veröffentlicht,  andere  noch 
gar  nicht:  hier  muß  eigenes  Handschriftenstudium  eintreten  oder  die  von  1870  — 1896  von 
der  Royal  Irish  .Acadciny  in  Dublin  veröflTentlirhtcn  fünf  Faksimiles  von  fünf  großen  und 
wichtigen  Sammelhandschriften  Irlands  aus  Ende  des  11.  bis  Anfang  des  1 5.  Jahrhunderts 
aushelfen. 

Bei  diesem  aus  der  Kürze  der  Zeit  seit  der  Neugestaltung  der  keltischen  Studien,  dem 
großen  Umfange  des  Forschungsgebietes  und  der  geringen  Zahl  der  auf  ihm  ausschließlich 
oder  vorwiegend  t.itigen  Celchrten  wohl  verständlichen  heutigen  Stand  der  keltischen  Philologie 
ist  es  begreiflich,  daß  die  eigentliche  ernste  literarhistorische  Forschung  noch  in  den  Kinder- 
schuhen steckt.  Sie  liegt  noch  in  zu  weitem  Umfang  in  den  Händen  solcher,  die  ausschließ- 
lich oder  fast  ausschließlich  auf  Übersetzungen  keltischer  Denkmäler  ins  Deutsche,  Englische 
oder  Französische  angewiesen  sind,  da  ihnen  selbsterworbene  Kenntnis  der  keltischen  Sprachen, 
namentlich  der  älteren  Phasen  der  beiden  Zweige  des  Inselkeltischen  abgeht.  Soweit  Forscher, 
die  diese  .-Kusstellung  nicht  tritit,  im  letzten  Vierteljahrhundert  Uterr.rhistorische  Untersuchungen 
veröffentlicht  haben,  ist  teilweise  der  Anstoß  hierzu  nicht  aus  der  keltischen  Forschung 
selbst,  sondern  von  außen  gekommen,  indem  Vertreter  anderer  Gebiete  Probleme,  die  ins 
Keltische  hineinragen,  in  einer  Weise  lösten,  die  den  Widerspruch  herausforderten  und 
Keltologen  zwangen,  Stellung  zu  nehmen.  Keine  der  gleich  aufzuführenden  Darstellungen  der 
einzelnen  keltischen  Literaturen  oder  einzelner  Literaturperioden  entspricht  daher  auch  nur  an- 
nähernd billigen  .A-nforderungen ,  am  nächsten  kam  solchen  für  die  Zeit  des  Erscheinens  (1849) 
das  Werk  des  W'elschen  Thomas  Stephens.  Sonst  wird  der  Leser  bald  mit  nackten  Titeln 
bedient,  bald  gibt's  Inhaltsangaben  ohne  Kritik,  bald  Gerede  über  Literaturdenkmäler,  die 
dem  \'erfasser  des  betreffenden  Werkes  aus  eigener  Lektüre  gar  nicht  bekannt  sind. 

Literaturgeschichtliche  Werke.  Allgemein:  E.  WiNDISCH,  Keltische  Sprachen, 
in  Ersch.  u.  Gruber,  Enzyklopädie  II.  Sekt.  Band  35,  S.  132 —  180.  Magnus  Maclean,  The  litera- 
ture  of  the  Celts  (Glasgow  1902).  Mathew  Arnold,  The  Study  of  Celtic  Literature.  Populär 
edition   'London   1900). 

Irisch-Gälisch:  Edw.\rd  O'Reiu.Y,  A  chronological  account  of  nearly  four  hundred 
Irish  writers  (Dublin  1820).  H.  D'.-\RBOIS  DE  Jubainville,  Essai  dun  Catalogue  de  la  litterature 
epique  de  l'Irlande  (Paris  1883).  Douglas  Hyde,  The  story  of  early  Gaehc  literature 
(London  1895^.  DOUGLAS  Hyde,  A  literar>'  Histor)'  of  Irland  from  earliest  times  to  the 
present  day  iLondon  189')).  G.  DOTIIN,  La  litt»?rature  gaclique  de  l'Irlande  ^Paris  1901  in 
Revue  de  S\Tithese  historique  III,  60  —  97).  —  Heute  noch  unentbehrlich  sind  die  aus  den 
Quellen  schöpfenden  Werke  von  EUGEN  O'CURRY,  Lecturcs  on  the  manuscripts  matcrials 
of  ancient  Irish  history  (Dublin  1861)  und  On  the  manners  and  customs  of  the  ancicnt  Irish. 
Vol.  II.  1—178  (London  1873). 

Schottisch- Gälisch:  Thos.  Mac  Lauchlan,  Celtic  gleanings  Edinburgh  1857  . 
John  Stuart  Bi.ackik,  The  language  and  literature  of  the  Scottish  Highlands  E<lmliurgh 
1876;.  Nigel  Mac  Neill,  The  literature  of  the  Highlandcrs  (^Invemeß  1892  .  Mk<.NUS 
M.VCLEAN.  The  literature  of  the  Highlands  (Glasgow  1004).  G.  DomN .  La  litt«?raturc 
gaclique  de  TEcosse  (Paris   IQ04  in  Revue  de  SjTithöse  historique  VIII,  78  —  9'- 

Manx-Gälisch:  Henry  Jenner,  The  Manx  language;  its  grammar.  Uteraturc  and 
present  State  (Philological  Society's  Transactions  1875I.  A.W.  Moc)RK,  A  Histon-  of  ihc 
Isle  of  Man  I,  20—23  London  1900).  G.  DOTlIN  in  Revue  de  Synthese  historique  VIII,  qi 
(Paris  1904). 


•j(t  Heinrich  Zimmer:  Literatur. 

Kymrisch:  THOMAS  Stephens,  The  literature  of  the  Kymry  during  the  XII.  and  two 
succeeding  centuries.  2.  Auflage  (London  1876),  dessen  erste  Auflage  (1849)  in  deutscher 
Übersetzung  vorliegt  durch  San-Marte,  Geschichte  der  wälschen  Litteratur  vom  12.  bis  zum 
14.  Jahrhundert  (Halle  i8t>4).  Charles  Wilkins,  The  history  of  the  Literature  of  Wales 
from  1300  to  1650  (Cardiff  1884).  Hanes  llenyddiaeth  Gymreig  o'r  fiwyddyn  1300  hyd  y 
tlwyddyn  1650  (London  1884).  Charles  Ashton,  Hanes  llenyddiaeth  Gymreig  o  1651  hyd 
1850  (London  1891).  T.  M.Jones  (Gwenallt),  Llenyddiaeth  ty  ngwlad  (Trefifynnon  1894). 
Watcyn  Wyn,  Llenyddiaeth  Gymreig  (Gwrecsam  1900).  G.  Dottin,  La  litterature  Galloise 
(Paris  1903  in  Revue  de  Synth,  hist.  VI,  317  —  362).  —  J.  Gwenogvryn  Evans,  Report  on 
Manuscripts  in  the  Welsh  language  (I  London  1898.  1899;  II  London  1902).  Edward  Owen, 
A  Catalogxie  of  the  Manuscripts  relating  to  Wales  in  the  British  Museum  (London  1900).  William 
Rowland,  Cambrian  Bibliography,  von  1546  — 1800  (Llanidloes  1869).  Ballinger  and  Jones, 
Catalogue  of  printed  literature  in  the  Welsh  Department,  Cardiff  Free  hbraries  (Cardiff  1898). 

Kornisch:  R.  Polwhele,  The  language,  Uterature  and  hterary  Characters  of  Corn- 
wall  (London  1806).  W.  P.  Jago,  The  remains  of  Comish  literature  (London  1887  in  An 
English  Comish  Dictionary  S.  VII — XV).  Henry  Jenner,  A  handbook  of  the  Comish  language 
S.  24  —  46  (London  1904).  G.  DOTTIN,  La  Htt^rature  Comique  (Paris  1904  in  Revue  de  Synth, 
hist.  VIII,  91—93). 

Bretonisch:  Th.  Hersart  DE  LA  Villemarqu£  in  le  Gonidec,  Dictionaire  frangais- 
breton  8. XXII  — LH  (Saint-Brieuc  1847).  J.  Loth,  Chrestomathie  Bretonne  I  (Paris  1890). 
Taldir,  Les  Poemes  de,  S.  413— 415  (Paris  1903).  G.DOTTIN,  La  litterature  bretonne  armori- 
caine  (Paris  1904  in  Revue  de  Synth,  hist.  VIII,  93  — 104). 

S.  3 — II.  Im  Anschluß  an  H.  Zimmer,  Über  die  Bedeutung  des  irischen  Elements  für 
die  mittelalterliche  Kultur  in  Preußische  Jahrbücher  LIX,  S.  27  —  59  (1887).  Hierzu  noch 
Walther  Schulze,  Die  Bedeutung  der  iro- schottischen  Mönche  für  die  Erhaltung  und 
Fortpflanzung  der  mittelalterlichen  Wissenschaft  (1889),  und  Ludwig  Traube,  O  Roma  nobilis 
(München  1891),  S.  36  —  77. 

S.  12.  Über  die  bretonische  Herkunft  der  romantischen  Arthursage  zusammenfassend 
bei  W.  FOERSTER,  Der  Karrenritter  und  das  Wilhelmsleben  von  Christian  von  Troyes 
(HaUe  1899)  S.XCIX  — CLII. 

S.  16.  Kaspar  Zeuss,  Die  Deutschen  und  die  Nachbarstämme  ,  S.  i6ofif.;  Karl  Müllen- 
hoff,  Deutsche  Altertumskunde  2,  104  —  321;  Leopold  Contzen,  Die  Wanderungen  der 
Kelten  (Leipzig  1861). 

S.  17.  Al.  Budinszky,  Die  Ausbreitung  der  lateinischen  Sprache  über  Italien  und  die 
Provinzen  des  römischen  Reichs ;  JUL.  Jung  ,  Die  romanischen  Landschaften  des  römischen 
Reichs;  MOMMSEN  ,  Römische  Geschichte.    Band  5. 

S.  18.    J.  Rhys,  Celtic  Britain,     London  1904. 

S.  34ff.  H.  D'Arbois  de  Jubainville,  Les  premiers  habitants  de  l'Europe  (Paris 
1889).      See.  ed.    II,  254ff 

S.  35.    Über  den  keltischen  Eid  H.  D'Arbois  in  der  Revue  Archeologique  XVIII,  346. 

S.  37.  Alfred  Holder,  Altkeltischer  Sprachschatz,  Leipzig  1896,  2  Bände;  die  alt- 
keltischen Inschriften  gesammelt  von  Stokes  in  den  Beiträgen  zur  Kunde  der  indogerm. 
Sprachen,  herausg.  von  A.  Bezzenberger ,  XI,   112  — 143  (1886). 

S.  39,  26.   J.  Rhys,  Celtae  and  Galli  in  den  Proceedings  of  the  British  Academy  II  (1905). 

S.  42,  1—5.    H.Bradshaw,  CoUected  papers  (Cambridge  1889),  S.  452  — 488. 

S.  46.  Gemeinsame  Sagenelemente:  siehe  Zimmer  in  den  Gott.  Gel.  Anzeigen  1890, 
S.  516  —  521. 

S  43 ff.  H.  D'Arbois  de  Jubainville,  Introduction  ä  l'etude  de  la  htterature  celtique, 
Paris  1883. 

S.  48.  Das  neuwelsche  Druidentum  durchleuchtet  die  Artikelserie  von  J.  MORRIS  Jones 
in  der  Zeitschrift  Y  Cymru,  dan  Olygiaeth  Owen  M.  Edwards  X,  21.  133.  153.  198.  293 
(Caemarfon  1896)   ohne    erkennenswerten   Einfluß. 


Hrinrich  Zimmer:  Literatur. 


77 


S.  69.  'Ratten  zu  Tode  sinken':  s. Todd  in  ticn  l'rocccdinKS  of  tlie  Koy.il  Irish  Acadcmy  5 
(1853),  S.  3f;5  —  366;  über  Hardcn  noch  in  den  Transactiuns  of  tl>c  ()»sianic  Society  for 
the  year  1857,  vol.  V  S.  XIV— XXII,   tzff.,  jbff. 

S.  7oflr.    F.  Waltkr.  Das  alte  Wales  (Bonn  1859),  S.  254  — 3«4- 

S.  78.  \Wt  ßli  {Gen. yi/fif)  zu  kymr. /fav/c*/  'sehen'  ^«'»"rt.  so  va/is  zu  kymr.  gv;edyd 
•saKcn',  besonders  im  Koinposiluni  r/y-T/rra^v/ '  ansa^jen ,  sagen',  dessen  altes  Perfekt  dywau't 
denselben  Ablaut  aufweist  wie  altkeit,  vdtis ,  altir. /«i/M,  tlieser  Ablaut  liegt  auch  in  dem 
kymrischen  Substantiv  ^<au<d  vor,  das  in  der  alteren  Sprache  sowohl  'Lob,  Lobgedicht' 
als  'Spott*  bezeichnete,  heute  nur  mehr  'Spott'  (x^vaivdiaith  Sarkasmus;.  Altir. /<l/M,  alt- 
kclt.  vaiis  und  kymr.  gicawd  verhalten  sich  als  Nomen  agcntis  und  Nomen  actionis  von  der- 
selben Wurzel  wie  g^riech.  (popö<;  zu  q)6po(;  (q)6pa;. 

S.  84ff.  E.  Windisch,  Verhandlungen  der  33.  Philologenversammlung  S.  26;  H  ZiMMKk. 
Gott.  Gel.  Anzeigen  1891',  S.  806  —  So>>. 

S.  94bff.  H.  Zimmer,  Der  Pankeltismus  in  Großbritannien  und  Irland  (Preußische  Jahrb. 
XCII,  426  —  494;  XCIII ,  59 — 93.  i«»4  — 334);  die  keltische  IJcwegung  in  der  Bretajfne 
(ebd.  IC,  454  —  497)- 

S.  94  g.  Recht  bezeichnend  für  die  Ursprünglichkeit  keltischen  Denkens  ist  der  Umstand, 
daß  die  Idee  von  der  Mission  des  heutigen  Keltentums  ihnen  vor  40  Jahren  von  einem 
Engländer  geliefert  wurde.  Der  Dichter  und  Schriftsteller  Maithew  ARNOLD  war  von 
1857  —  1807  Professor  der  Poesie  in  Oxford  und  hielt  als  solcher  vier  Vorträge  'on  the  study 
of  Celtic  litterature',  obwohl  er  —  oder  vielleicht  weil  er  —  von  keltischen  Sprachen  und 
Literaturen  gar  nichts  verstand.  Dieses  Gemisch  von  großem  Wohlwollen  für  Kcltcntum, 
vollständiger  Sachunkenntnis  und  blendenden  geistreichen  Bemerkungen  wurde  zuerst  in 
'Comhill  .Magazine'  gedruckt  und  dann  in  Buchform  (London  1867;  mit  einer  Vorrede,  die 
einen  im  Jahre  vorher  in  den  Zeitungen  veröffentlichten  Brief  Arnolds  an  einen  Welschen 
enthielt,  in  dem  der  Abschluß  einer  schiefen  Gedankenreihe  lautet:  'In  a  certain  measure 
the  children  of  Taliesin  and  Ossian  have  now  an  opportunity  for  renewing  the  famous  feat 
of  the  Greeks,  and  conquering  their  conquerors'  (^Populär  edition  S.  X).  Die  \'orlesungen 
Arnolds  haben  nur  Unheil  in  kellischen  Köpfen  angerichtet,  und  die  hingeworfene  Idee  ist 
im  Verlauf  der  Jahre  zum  Glaubensartikel  keltischer  Schriftsteller  geworden.  Der  allerjüngste 
Beleg  sei  wenigstens  angeführt.  Der  kymrische  Dichter  ElKlON  Wyn  hat  in  seiner  'Feld- 
und  Meerlyrik'  ElFION  Wyn,  Telytuffion  mcus  a  mor.  Camarvon  1906)  S.  99  ein  Gedicht 
betitelt  'Die  herrliche  Pforte';  an  der  Eingangspforte  zum  :o.  Jahrhundert  stehen,  als  Wales 
einzieht,  drei  Personen,  die  es  begrüßen:  der  Dichter  \bardd,  der  Lehrer  »^Professor,  athraw) 
und  der  geistliche  Führer  (^Prophet,  proßwyd),  also  nach  modernen  Verhältnissen  die  Ver- 
treter derselben  drei  Klassen,  die  bei  den  alten  Kelten  mit  Barden,  Vaten,  Druiden  be- 
zeichnet wurden.     Die  zweite  Strophe  lautet: 

Ger  y  porth  mae'th  Athraw  'n  galw:  't)  fy  nghenedl,  canlyn  ti; 
Vng  nghymanfa  y  cenhcdloedd  cedwir  heddyw  le  i  ti; 
Golch  dy  lygad  ä  goleuni :  Eiddot  y  meddylfyd  mawr ; 
Bydd  yn  Rocg  y  ganrif  newydd,  wlad  marchogion  Arthur  fawr.' 
'An  der  Pforte  ruft  dein  Lehrer:   o  mein  Volk,  folge  mir;  in   der  Versammlung  der  Völker 
ist  ein  Platz  für  dich    aufgehoben;    wasch    dein   .Auge    mit  Licht:    dein    Eigentum    (dir  zu 
eigen  überwiesen^   ist    die    große    Gedankenwelt,    es    wird    das    neue  Jahrhundert 
griechisch   sein,    o  Land  der  Ritter  Arthurs  des  tiroßen.' 


II.  DIE  EINZELNEN  KELTISCHEN  LITERATUREN. 
A.  DIE  IRISCH- GÄLISCHE  LITERATUR. 

Von 
KuNO  Meyer. 

Einleitung.  Bei  dem  heutigen  Stande  der  keltischen  Philologie  ist 
es  ein  in  mancher  Beziehung  verfrühtes  Unternehmen,  einen  Abriß  der 
Geschichte  der  irischen  Literatur  zu  schreiben.  Auch  eine  eingehende 
Behandlung  würde  heute  noch  sehr  unbefriedigend,  lückenhaft  und  ungenau 
ausfallen.  Nicht  nur  fehlt  es  dazu  auf  fast  allen  Gebieten  an  den  nötigen 
Vorarbeiten;  auch  die  Literatur  selbst  schlummert  noch  zum  großen, 
vielleicht  zum  größten  Teil  ungelesen  in  Hunderten  von  Handschriften. 
Ganze  Gattungen  der  Prosa  und  Poesie,  ganze  Perioden  der  Entwickelung, 
der  Blüte,  des  Verfalls  sind  kaum  durch  die  eine  oder  die  andere  Ver- 
öffentlichung bekannt  geworden;  manche  bedeutende  Dichter,  deren  Werke 
sich  erhalten  haben,  sind  nur  dem  Namen  nach  bekannt.  Die  bisher  ver- 
anstalteten Ausgaben  und  Übersetzungen  aus  dem  weiten  Bereiche  der 
älteren  irischen  Literatur  gehen  oft  nicht  über  die  erste  Roharbeit  hinaus 
und  befriedigen  kaum  je  die  einfachsten  Fragen  des  Lesers  nach  Herkunft, 
Alter  und  Heimat.  Denn  auch  die  Geschichte  der  Sprache  ist  noch  so 
wenig  erforscht,  daß  sich  über  diese  Dinge  meist  nur  ganz  allgemein  und 
vorsichtig  urteilen  läßt.  So  darf  man  wohl  sagen,  daß  unsere  Kenntnis 
der  irischen  Literatur  heutzutage  etwa  auf  dem  Standpunkte  angelangt  ist, 
den  die  germanische  Philologie  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  einnahm, 
da  man  allmählich  dazu  schritt,  die  Werke  der  älteren  deutschen  Literatur 
in  Erstausgaben  zugänglich  zu  machen. 

Zwar  wenn  wir  unter  der  Bezeichnung  altirische  Literatur  nur  das- 
jenige begreifen  dürften,  was  uns  aus  der  altirischen  Sprachperiode,  der 
Zeit  vor  dem  Jahre  1000,  handschriftlich  überliefert  ist,  so  wäre  unsere 
Aufgabe  eine  leichte,  freilich  auch  eine  wenig  lohnende.  Denn  die  hand- 
schriftlichen Überreste  aus  dieser  Zeit  sind  so  spärlich,  daß  sie  gedruckt 
nur  ein  mäßiges  Bändchen  füllen  würden,  und  ihr  Inhalt  ist  wenig  geeignet, 
weiteres  Interesse  zu  erregen.  Keine  einzige  Sage,  kaum  ein  Lied  findet 
sich  darunter.  Wie  es  geschah,  daß  uns  von  der  großartigen  schrift- 
stellerischen Tätigkeit  der  Geistlichen  und  Gelehrten  aus  der  Blütezeit 
irischer  Kultur  nur  so  wenig  erhalten  wurde,  ist  oben  dargelegt  worden. 
Wenn  wir  trotzdem  von  einer  umfangreichen  und  bedeutenden  altirischen 
Nationalliteratur  reden  können,  so  liegt  das  an  der  eigentümlichen  Weiter- 


A.  Die  irisch  gälischc  Literatur.    I.  Die  handschriftl.  vor  dem  1 1.  Jahrh.  erhaltene  Literatur.    70 

••ntwick('lun>r  des  Schrifttums.  Um  das  Jahr  1  100  setztMi  die  j^roßi-n 
Sammi'lhandschritten  ein,  in  denen  uns  in  immer  neuen  Abschritten  und 
Redaktionen  ursprünjjlich  in  altirischer  Zeit  aufgezeichnete  Texte  vorliegen. 
Diese  Schreibertätigkeit  hat  sich  bis  in  den  Anfang  des  ly.  Jahrhunderts 
fortgesetzt,  wo  arme  Schullehrer  sich  aus  allen  erreichbaren  älteren  Hand- 
schriften solche  bibliutheaic  zu  eigenem  Gebrauch  anlegten.  So  geschieht 
es  wohl,  daß  Texte,  die  in  ununterbrochener  Linie  auf  Vorlagen  des  8. 
oder  y.  Jahrhunderts  zurückgehen,  erst  in  Abschriften  aus  dem  17.  Jalir- 
hundert  oder  noch  späteren  Zeiten  auf  uns  gekommen  sind.  Wenn 
auch  unter  den  Händen  so  vieler  Generationen  von  Abschreibern 
Sprache  und  Text  oft  arg  verwahrlost  sind,  so  können  wir  doch,  nament- 
lich bei  Gedichten,  noch  die  ursprüngliche  Form  herausschälen.  Auch 
trifft  es  sich  manchmal,  daß  eine  späte  Abschrift  die  Gestalt  des  Textes 
besser  bewahrt  hat,  als  eine  Handschrift,  die  uns  zunächst  durch  ihr  Alter 
besticht  Hier  handelt  es  sich  darum,  die  l'berlieferung  scharf  zu  prüfen; 
Neues  von  Altem  zu  scheiden  und  die  echten  Fassungen  wieder  herzustellen. 
Aber  bei  der  noch  herrschenden  mangelhaften  Kenntnis  der  Grammatik 
und  des  Wortschatzes  hat  bisher  kaum  ein  Herausgeber  eine  solche  Auf- 
gabe systematisch  durchzuführen  gewagt. 

So  kann  es  sich  also  im  folgenden  nur  darum  handeln,  dem  Leser 
zunächst  einen  Begriff  von  dem  Umfang  und  allgemeinen  Inhalt  dieser 
noch  zu  wenig  bekannten,  in  mancher  Hinsicht  einzigartigen  Literatur 
zu  bringen,  im  übrigen  aber  die  sich  an  ihren  Ursprung  und  Verlauf 
knüpfenden  Probleme  nur  anzudeuten,  auf  das  zu  ihrer  Lösung  etwa  schon 
Geschehene  hinzuweisen  oder  die  Richtung  anzugeben,  in  welcher  die 
Lösung  zu  suchen  ist.  Dazu  empfiehlt  es  sich,  zuerst  von  der  uns  hand- 
schriftlich vor  dem  Jahre  1000  erhaltenen  Literatur  zu  reden,  dann  aber 
mit  Verzicht  auf  chronologische  Einteilung  Prosa  und  Dichtung  nach 
Gattungen  geordnet  vorzuführen. 

L  Die  handschriftlich  vor  dem  11.  Jahrhundert  erhaltene 
Literatur.  Die  ältesten  Aufzeichnungen  in  zusammenhängender  irischer 
Rede  sind  uns  in  lateinischen  Handschriften  des  8.  und  9.  Jahrhunderts 
erhalten,  von  denen  die  meisten  sich  in  Bibliotheken  des  Kontinents 
befinden  i^in  Würzburg,  St  Gallen,  Karlsruhe,  Mailand,  Turin,  St  Paul  in 
Kärnthen,  Cambray\  Teils  stammen  sie  aus  Irland,  von  wo  sie  durch 
Pilger  schon  früh  nach  dem  Kontinent  gebracht  sind,  teils  sind  sie  in 
irischen  Klöstern  der  Schweiz,  Deutschlands,  Frankreichs  und  Italiens 
geschrieben.  In  Irland  sind  aus  so  alter  Zeit  nur  drei  Handschriften 
erhalten,  in  denen  sich  längere  Aufzeichnungen  in  irischer  Sprache  finden: 
Das  aus  dem  <j.  Jahrhundtrt  stammende  Buch  von  Armagh,  das  von  ver- 
schiedenen Händen  zwischen  900  und  i  100  geschriebene  sogenannte  StoToe 
Missal  und  der  in  zwei  Handschriften  aus  dem  11.  Jahrhundert  erhaltene 
J.ihtr   II\muorttiu. 


8o     KUNO  Meyer:  Die  keltischen  Literaturen.    II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

Die  in  diesen  Büchern  vorliegende  irische  Literatur  ist  fast  aus- 
schUeßHch  aus  geistlichen  Kreisen  hervorgegangen  und  dient  dem  Zwecke 
des  Unterrichts,  des  Gottesdienstes  und  der  Erbauung.  In  die  erste  Kate- 
gorie gehören  Tausende  von  erklärenden  oder  kritischen  Glossen,  die  auf  den 
Rand  oder  zwischen  die  Zeilen  der  Handschriften  eingetragen  sind.  Unter 
den  auf  solche  Weise  kommentierten  Werken  ist  die  Theologie  durch  Kommen- 
tare zu  den  Psalmen,  den  Pauliner  Briefen,  dem  Matthäusevangelium  und 
den  Süliloqnia  des  Augustinus  vertreten;  die  Profanliteratur  durch  die 
Grammatiker  Priscian  und  Eutychius,  durch  Bedas  De  Temporuni  Ratione 
und  die  Vergilscholien  des  Servius.  Der  Inhalt  dieser  Glossen  verrät  eine 
tiefgehende  theologische  und  grammatische  Schulung  und  Bildung,  die 
auf  einer  umfassenden  Belesenheit  beruht.  So  werden  Cicero,  Vergil, 
Orosius,  Boethius,  Isidor,  Hieronymus,  Lactantius  u.  a.  zitiert,  daneben 
einigemal  auch  einheimische  Grammatiker.  Auf  die  in  den  irischen 
Schulen  gelehrte  Theologie  wirft  der  Umstand  ein  interessantes  Licht,  daß 
für  den  Glossator  des  Pauluskommentars  Pelagius  die  Hauptautorität  ist.  Was 
die  Sprache  der  Glossen  betrifft,  so  ist  zunächst  zu  bemerken,  daß  ganze 
Schichten  derselben,  wie  altertümliche  Schreibungen  und  Formen  zeigen, 
aus  Vorlagen  geflossen  sind,  die  dem  7.  Jahrhundert  angehören.  Sprache 
und  Stil  stehen  im  Gegensatz  zu  den  althochdeutschen  Glossen  auf  einer 
hohen  Stufe  der  Entwickelung.  Wir  finden  hier  eine  vollständig  aus- 
gebildete gelehrte  Prosa,  die  selbst  die  feinsten  Gedankenschattierungen 
leicht  und  genau  auszudrücken  vermag.  Dies  läßt  auf  eine  lange  Pflege 
und  Übung  schließen,  die  mindestens  in  den  Anfang  des  6.  Jahrhunderts 
zurückgeht,  dieselbe  Zeit,  in  welche  wir  auch  die  Fixierung  der  irischen 
Schrift  mit  lateinischen  Buchstaben  zu  setzen  haben.  Die  bildsame,  wort- 
und  formenreiche  Sprache,  seit  vielen  Jahrhunderten  durch  Sagenerzähler 
und  Barden  gepflegt  und  ausgebildet,  ist  im  Dienste  der  klassischen  Ge- 
lehrsamkeit und  christlichen  Theologie  durch  zahlreiche  neue  Ausdrücke 
bereichert  worden,  die  dem  Lateinischen  teils  entlehnt,  teils  aus  heimischen 
Worten  nachgebildet  sind. 

Von  Erbauungsschriften  besitzen  wir  eine  ins  7.  Jahrhundert  zurück- 
gehende Homilie  über  den  Text  Si  quis  vult  post  7ne  venire,  sowie 
einen  Traktat  über  die  Messe.  Von  sonstiger  Prosa  sind  nur  noch  die 
Vorreden  zu  den  gleich  zu  erwähnenden  Hymnen  zu  nennen,  sowie  einige 
Heil-  und  Zaubersprüche  gegen  Kopfweh,  Harnleiden  und  andere  Krank- 
heiten, die,  soweit  sie  verständlich  sind,  ein  eigentümliches  Gemisch  heid- 
nischer und  christlicher  Vorstellungen  aufweisen.  So  wird  in  einem  von 
ihnen  neben  Christus  der  mythische  Schmied  des  sagenhaften  Volkes  der 
Tüatha  De  Donann ^  Goibniu  mit  Namen,  erwähnt,  in  einem  anderen  der 
mythische  Arzt  Diancecht. 

Von  den  aus  dieser  Periode  auf  uns  gekommenen  Gedichten  haben 
die  meisten  gleichfalls  Geistliche  zu  Verfassern.  In  dem  Liber  Hymnorum 
finden  sich  neben  lateinischen  Kirchenliedern,  die  zum  größten  Teil  eben- 


A.  Die  irisch -gälische  Literatur.    I.  Die  handschriftl.  vor  dem  ii.Jahrh.  erhaltene  Literatur,    gl 

falls  irischen  Ursprung.s  sind,  sieben  Gebete  und  Hymnen  in  irischer 
Sprache,  deren  Eiitstehunj»"  vor  das  Jahr  looo  zu  setzen  ist;  ferner  eine 
Anrufung  des  heilii»-en  (ieistes,  die  dem  im  Jahre  1086  gestorbenen  Dichter 
Mael-Isu  hQa  Brolchain  zugeschrieben  wird,  von  dem  spätere  Handschriften 
noch  manche  geistliche  Lieder  bewahren.  Fast  sämtliche  Hymnen  und 
weiterhin  zu  erwähnenden  Gedichte  weisen  gereimte  Versmaße  auf,  die  aus 
der  lateinischen  Kirchenpoesie  des  5.  und  6.  Jahrhunderts  herübergenommen 
und  weiterentwickelt  worden  sind.  Silbenzählung  ist  das  Hauptprinzip 
dieser  Metrik,  die  keine  geregelte  Versbetonung  (Rhythmus)  kennt  und 
in  gewissen  Metren  selbst  im  Schlußreim  (^Assonanz)  nicht  rhythmisch  zu 
verlaufen  braucht.  Im  Laufe  der  Zeit  treten  nach  bestimmten  Regeln 
Alliteration  und  Binnenreim  hinzu. 

Unter  den  dreizehn  erhaltenen  profanen  Gedichten  und  N'ersen  be- 
ansprucht das  einzige  Bardenlied,  welches  aus  dieser  Zeit  überliefert  i.st, 
die  erste  Stelle.  Es  sind  nur  acht  Strophen,  in  denen  der  ungenannte 
Dichter  einen  König  Aed  von  Leinster  feiert,  dessen  Datum  sich  leider 
bis  jetzt  in  den  Annalen  noch  nicht  gefunden  hat.  Der  Barde  preist  darin 
die  Freigebigkeit,  Tapferkeit  und  andere  Tugenden  seines  Herrn  und 
schließt: 

„Beim  Hicre  werden  Lieder  gesungen,  schöngefiigie  Leitern  der  Kunst  erklommen: 
liebliche  IJardcnweisen  feiern  bei  Strömen  Gerstensafts  den  Xamen  .Aeds." 

Eine  Reihe  anderer  Gedichte  und  Verse  führen  uns  ins  Kloster.  So 
schildert  ein  Mönch  in  humorvoller  Weise  das  Zusammenleben  mit  seinem 
weißen  Kater,  der  ebenso  eifrig  dem  Mäusefang  obliegt  wie  er  seinen 
Studien: 

„Da  zappelt  wohl,  durch  kühne  Tat  gefangen,  in  seinem  Krallennelze  cme  Maus; 
derweilen  fallt  mir  in  das  eigne  Netz  gewichtig  Wort  voll  tiefen  Sinnes." 

Die  Liebe  zur  Natur,  welche  in  der  Literatur  der  Kelten  früher  Aus- 
druck gefunden  hat  als  bei  anderen  Völkern,  spiegeln  folgende  \'erse  eines 
in  seiner  Zelle  schreibenden  Mönches  wider: 

,, Rings  umschließt  mich  Waldeshag,  der  Amsel  Lied  schallt  zu  mir  her;  bei  meinem 
Pergament,  dem  linienreichen,  klingt  mir  der  Vögel  trillernder  Gesang. 

Von  liaumcswipfeln  ruft  mit  heller  Stimme  im  grauen  M.intel  mir  der  Kuckuck  zu. 
Fürwahr!  —  es  schütze  mich  der  Herr  —  schön  schreibt  sich's  unter  dem  Waldesdach ! " 

Der  folgende  Vers,  der  sich  wie  die  eben  angeführten  nach  irischer 
Schreiberart  auf  eine  leere  Stelle  der  St  Galler  Handschrift  eingetragen 
findet,  muß  zur  Zeit  der  Vikingereinfälle  im  q.  Jahrhundert  irgendwo  an 
der  Ostküste  Irlands  entstanden  sein: 

,,Es  rast  der  Sturmwind  «lurch  die  Nacht,  er  zaust  des  .Meeres  weiße  .Mahne,  drum 
fürchte  ich  nicht  grimmer  Recken  Fahrt  aus  nordschem  Lande  über  Irl.inds  Meer." 

Schließlich  seien  noch  zwei  zum  Teil  mangelhaft  überlieferte  und 
schwer  verständliche  Gedichte  erwähnt,  deren  eines  ein  wunderbares  Haus, 
das  andere  eine  Mißgeburt  zum  Gegenstande  hat. 

DtB  KuLTii»  Mt«  Gboixwamt.    L  II.  I.  0 


82        KuNO  Meyer:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

n.  Die  epische  Literatur.  Prosa  ist,  wie  schon  ausgeführt  wurde, 
die  älteste  epische  Form  der  Kelten,  neben  die  in  und  nach  der  Vikinger- 
zeit  bei  dem  jüngsten  Sagenkreis,  der  Finnsage,  die  strophische  Ballade 
trat.  Die  Pflege  und  der  Vortrag  der  Sagen  lag  einer  der  oben  ausführlich 
betrachteten  Klassen  des  keltischen  Literatenstandes,  den  filid,  ob,  d.  h.  ge- 
schulten Erzählern  und  Dichtern,  die  sich  in  zwölfjähriger  Lehrzeit  in 
Schulen  auf  ihren  Beruf  vorzubereiten  hatten.  Hier  lernten  sie  im  achten 
Jahre  des  Kursus  die  Hauptsagen  Irlands  auswendig,  ^um  sie  den  Fürsten, 
Häuptlingen  und  Adligen  vorzutragen',  wie  es  in  einem  aus  dem  lo.  Jahr- 
hundert stammenden  Lehrbuche  über  Metrik  heißt.  Im  ganzen  soll  es 
damals  350  Sagen  gegeben  haben,  die  in  250  Haupt-  und  100  Nebensagen 
eingeteilt  waren.  Aus  demselben  Jahrhundert  sind  uns  Listen  mit  ungefähr 
180  Titeln  von  Sagen  erhalten,  dem  Inhalt  nach  geordnet  in  ^Belagerungen, 
Überfälle,  Kriegszüge,  Schlachten,  Rinderraubzüge,  Meerfahrten,  Ent- 
führungen, Liebeswerbungen,  Festgelage,  Visionen'  usw.  Unsere  Über- 
lieferung beginnt  aber  erst  im  11.  Jahrhundert  mit  dem  ältesten  großen 
Sammelband  des  Lebor  na  Huidre  (Buch  der  bunten  Kuh),  der  leider  nur 
mit  starken  Lücken  auf  uns  gekommen  ist,  aber  noch  134  Folioseiten  zählt. 
Aus  dem  nächsten  Jahrhundert  besitzen  wir  in  dem  Buch  von  Feinster 
(410  Seiten  Folio)  die  Zweitälteste  Sagenquelle;  danach  werden  die  Hand- 
schriften zu  zahlreich,  um  sie  einzeln  zu  erwähnen.  Fast  sämtliche  der  so 
erhaltenen  Sagen  gehen  auf  ältere  Vorlagen  zurück.  Manche  von  ihnen 
mögen  schon  im  7.  Jahrhundert  zuerst  von  mönchischen  Schreibern  auf- 
gezeichnet sein.  Denn  im  Gegensatz  zu  dem  Verhalten  der  festländischen 
Geistlichkeit  ließen  sich  die  irischen  Mönche  schon  früh  die  Erhaltung  und 
Überlieferung  der  nationalen  Literatur  angelegen  sein,  ebenso  wie  sie  neben 
der  lateinischen  die  Muttersprache  nicht  nur  zu  Zwecken  des  Unterrichts^ 
sondern  auch  des  Gottesdienstes  und  der  Erbauung  pflegten. 

Daß  Stoff  lind  Stil  dieser  Sagen  jahrhundertelang  mündlich  fort- 
gepflanzt worden,  ehe  sie  zur  Aufzeichnung  gelangten,  geht  u.  a.  daraus 
hervor,  daß  sie  fast  durchweg  in  mehreren  Versionen  auf  uns  gekommen 
sind.  Trotzdem  aber  liegt  uns  wohl  kaum  eine  einzige  so  vor,  wie  sie 
von  den  geschulten  Erzählern  vorgetragen  wurde;  denn  überall  stoßen  wir 
auf  Widersprüche,  Auslassungen,  Interpolationen,  Vermengimg  verschiedener 
Versionen,  Versuche,  dieselben  in  Einklang  zu  setzen  usw.  Wo  wir  jedoch 
eine  leidliche  Überlieferung  haben,  da  zeigt  sich  innerhalb  der  Einzel- 
episode und  in  Sagen  kleineren  Umfangs  eine  hervorragende  Erzählerkunst, 
die  überall  die  berufsmäßige  Schulung  und  Tradition  erkennen  läßt.  Wie 
schon  aus  den  oben  angeführten  Titeln  hervorgeht,  sind  die  Stoffe  fast 
ausnahmslos  tragischer  Natur. 

Die  große  Masse  dieser  Sagen,  soweit  sie  einheimisch  sind,  zerlegt 
sich  nun  in  eine  Anzahl  bestimmter  Gruppen,  die  nicht  nur  inhaltlich, 
sondern  auch  der  Zeit  ihrer  Entstehung  nach  verschieden  sind.  Noch  in 
gemeinkeltische   Zeiten    und    Überlieferung   führt    uns    zunächst    in    seinen 


A.  Die  iris(  hgalischc  Literatur.     11.   bic  cjiisciie   Literatur.  ^■t 

ältesten  Bestandteilen  der  mytholoirische  Sagenkrei.s  zurück.  Derselbe 
befaßt  sich  mit  einer  Welt  von  überirdischen  Wesen,  Göttern  und  Göttinnen, 
mythischen  Völkergeschlechtern,  die  einander  befehden,  wie  die  Toatha 
De  Donann  und  Fomori,  Riesen,  Phantomen  aller  Art  und  einem  unter  der 
Erde  in  den  Hügeln  wohnenden  Feenvolk,  dem  dis  slde.  Es  tut  sich  ein 
irischer  Olymp  vor  uns  auf,  voller  Einzelgestalten,  deren  Xamen  sich  oft 
ohne  Schwierigkeit  an  gallische  und  altbritannische  Überlieferung  anknüpfen 
lassen.  Leider  sind  uns  aus  diesem  Kreise  keine  Aufzeichnungen  in  ur- 
sprünglicher Form  erhalten.  Schon  im  8.  Jahrhundert  hatte  sich  die  christ- 
liche und  klassische  Gelehrsamkeit  dieser  alten  Stammsagen  bemächtigt, 
um  ihren  Inhalt  mit  alttestamentlicher  und  klassischer  Tradition  in  Ein- 
klang zu  bringen.  Das  führte  zu  einer  Überarbeitung,  die  im  Sinne  ihrer  Zeit 
wi.ssenschaftlich  verfuhr.  Der  ganze  mythische  Sagenkomplex  wurde  nach 
Eusebius-Hieronymus  chronologisch  eingerenkt,  an  Japhet,  den  Turmbau 
zu  Babel,  die  Sündflut,  den  Exodus  usw.  angeknüpft;  eponyme  Stammes- 
väter wie  Fenius  der  Alte,  Göidel  der  Junge  u.  a.  wurden  frei  erfunden 
und  schließlich  die  mythischen  und  sagenhaften  Geschlechter  in  wandernde 
Völkerstämme  umgewandelt,  die  sich  einer  nach  dem  anderen  in  Irland  an- 
siedeln. Dies  ungefähr  ist  der  Inhalt  des  sogenannten  Lcbor  Gabäla  oder 
Liber  Capturarum .,  das  schon  im  8.  Jahrhundert  von  dem  welschen  Ge- 
schichtschreiber Nennius  benutzt  wurde.  Es  hat  noch  lange  historisches 
Ansehen  genossen.  GeofFrey  Keating  (f  1650)  legte  es  seiner  Geschichte 
Irlands  zugrunde  und  noch  heute  steht  die  irische  Geschichtschreibung 
zum  Teil  unter  dem  Einfluß  dieser  gelehrten  Fabeleien.  Dagegen  hat  sich 
die  volkstümliche  Überlieferung  länger  davon  freigehalten,  und  wir  ge- 
winnen z.  B.  ein  unverfälschteres  Bild  von  den  heidnischen  Vorstellungen 
und  Bräuchen  der  alten  Iren  aus  den  Erzählungen  des  sogenannten  iJind- 
senchaSj  einer  Sammlung  von  Sagen,  die  sich  an  die  Ortsnamen  Irlands 
knüpfen,  oder  aus  einer  erst  in  einer  Handschrift  des  16.  Jahrhunderts 
überlieferten  Sage  von  einer  Schlacht  zwischen  den  Toatha  De  Donann 
und  den  Fomori.  Hier  läßt  die  Darstellung  an  primitiver  und  naiver  An- 
schauung und  Schilderung  nichts  zu  wünschen  übrig.  Wir  lesen  da  von 
Göttern,  die  sich  höchst  menschlich  benehmen,  von  Menschenopfern,  um 
die  Erdgeister  zu  versöhnen,  von  mancherlei  Zauber,  den  die  Druiden  an- 
w^enden  und  dergleichen.  Auch  die  Heldensage  hat  eine  Menge  heid- 
nischer und  mythischer  Elemente  bewahrt;  Metamorphose  und  Wieder- 
geburt, der  Glaube  an  ein  Elysium,  an  Inseln  der  Seligen,  auf  denen  ein 
Menschengeschlecht  wohnt,  das  weder  Krankheit  noch  Tod  kennt,  spielen 
darin  eine  Hauptrolle,  während  der  Glaube  an  die  Feen,  die  dem  Menschen 
bald  feindselig  sind,  bald  Bündnisse  und  Ehen  mit  ihm  eingehen,  .sich  be- 
kanntlich bis  auf  unsere  Zeit  erhalten  hat.  Eine  besondere  schon  alte 
Gattung  dieser  Feensagen  bilden  die  Echtra  genannten  Erzählungen,  in 
denen  der  Sterbliche  durch  die  Liebe  einer  Fee  Eintritt  in  ihr  unter- 
irdisches Reich  erlangt. 


84        KUN'O  Mever:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

Die  zweite  Hauptgruppe  bildet  die  Heldensage.  Eine  gemeinkeltische 
Heldensage  gibt  es  nicht.  Was  sich  von  gleichen  oder  ähnlichen  Motiven 
und  Zügen  in  der  kymrischen  Heldensage  findet,  beruht  auf  Entlehnung. 
Eine  ganze  Reihe  irischer  Sagenkreise  von  zeitlich  und  landschaftlich  ver- 
schiedener Entstehung  lassen  sich  unterscheiden.  Der  älteste  knüpft  sich 
an  Personen,  die  nach  der  irischen  Chronologie  um  die  Zeit  der  Geburt 
Christi  gelebt  haben,  und  hat  die  Kämpfe  um  Vorherrschaft  zwischen  der 
Provinz  Ulster  und  den  übrigen  Provinzen,  besonders  Connacht,  zum  Hinter- 
grund. In  Emain  Macha,  der  Residenz  des  Königs  Conchobur,  sehen  wir 
die  Haupthelden  Ulsters  wie  zu  einer  Tafelrunde  vereint:  vor  allem  den 
jugendlichen  Cuchulinn,  den  Achilles  der  irischen  Sage,  seinen  Pflege- 
bruder Conall  Cernach,  Löiguire  den  Siegreichen,  den  Druiden  Cathbad, 
den  Richter  Sencha  und  viele  andere  Männer  und  Frauen.  Ihre  Aben- 
teuer, Wettkämpfe,  Liebschaften,  ihr  Untergang  bilden  den  Gegenstand 
zahlreicher  Einzelsagen,  -während  die  Erzählung  von  dem  großen  Kriege 
zwischen  Ulster  und  Connacht  unter  dem  Titel  Täin  Bö  Cüalngi  oder 
'Der  Rinderraub  von  Cüalnge'  eine  Reihe  von  Episoden  zu  einem  Ganzen 
vereinigt  hat,  das  sich  in  mancher  Beziehung  mit  der  Ilias  vergleichen 
läßt.  Die  in  all  diesen  Sagen  zutage  tretenden  Kulturzustände  zeigen  uns 
Einrichtungen  und  Sitten  der  vorchristlichen  Zeit,  die  im  großen  wie  in 
vielen  Einzelheiten  der  altkeltischen  Kultur  des  Kontinents  entsprechen. 
Im  Laufe  der  Überlieferung  hat  die  Cuchulinnsage  dann  freilich  manches 
fremde  Element  in  sich  aufgenommen,  Niederschläge  aus  christlicher  An- 
schauung, klassischer  Literatur  und  den  Erlebnissen  der  Vikingerzeit. 

Während  der  Sagenkreis  von  Ulster  unverkennbar  auf  historischen 
Ereignissen  beruht,  ist  der  Ursprung  eines  zweiten  jüngeren  Sagenkreises 
in  Dunkel  gehüllt.  Dies  ist  die  Finnsage  oder  der  ossianische  Kreis,  ein 
Komplex  von  Erzählungen  und  Gedichten,  die  sich  mit  Finn  mac  Cumaill, 
seinem  Sohne  Ossin  (Ossian),  seinem  Enkel  Oscar  und  der  fiann  (Plur. 
flannd)  genannten  Kriegerschar  beschäftigen,  deren  Oberhaupt  Finn  ist. 
Die  Entstehung  dieser  Sage  weist  nach  Südirland,  Munster  und  Leinster. 
Obgleich  Finn  mit  dem  Oberkönige  von  Irland  Cormac  mac  Airt  zusammen- 
gebracht w'ird,  der  im  3.  Jahrhundert  lebte,  in  dessen  Diensten  er  als 
Söldnerführer  gestanden  haben  soll,  um  Irland  gegen  feindliche  Einfälle 
zu  verteidigen,  so  befinden  wir  uns  hier  doch  nicht  auf  historischem  Boden. 
Die  Geschichte  weiß  nichts  von  solchen  Söldnerscharen  oder  von  feind- 
lichen Einfällen  zu  dieser  Zeit.  Wir  erkennen  hier  Sagenbildung,  die  auf 
den  Erlebnissen  der  Vikingerzeit  im  9.  und  10.  Jahrhundert  beruht,  und  in 
diese  Zeit  mögen  auch  die  ältesten  uns  überlieferten  Texte  der  Sage 
zurückgehen.  Manche  Einzelsagen  dieses  Kreises  sind  unverkennbar  der 
älteren  Heldensage  nachgebildet  worden,  die  im  Laufe  der  Zeit  durch  die 
jüngere  Nebenbuhlerin  verdrängt  worden  ist.  Aus  solcher  Nachbildung 
ist  auch  eines  der  Hauptmotive  der  späteren  Finnsage  hervorgegangen, 
das  Zusammentreffen  Finns  im  höchsten  Greisenalter  mit  Patrick,   dem  er 


A.  Die  irisch  gälische  Literatur.     III.  Die  historische  Literatur.  gc 

und  die  Seinigen  ihre  Abenteuer  erzählen.  Daraus  ist  die  g^oße  Rahmen- 
erzählung dieses  Kreises,  die  Agalltniih  na  Scnörach  oder  'das  Gespräch 
der  Alten'  entstanden,  nach  der  Tain  lio  Cualngi  das  umfanj^reichste 
Denkmal  irischer  Sage. 

Ks  gibt  nun  noch  eine  große  Menge  kleinerer  Sagenkreise,  die  sich 
um  geschichtliche  Persönlichkeiten  aller  Zeiten  gebildet  haben.  Hier  sind 
der  Rahmen,  der  Hintergrund,  die  Daten  oft  historisch,  während  Anekdoten 
oder  romantische  Erzählung  den  Inhalt  bilden. 

Schließlich  sei  noch  die  Behandlung  fremder  Sagenstoffe  kurz  berührt 
Schon  im  lo.  Jahrhundert  werden  'Die  Zerstörung  Troja.s'  und  'Die  Ge- 
schichte von  Alexander  mac  Pilip'  als  Titel  von  Erzählungen  in  der  oben- 
erwähnten Li.ste  aufgeführt.  Beide  Texte  sind  uns  aus  diesem  und  den 
folgenden  Jahrhunderten  in  mehr  als  einer  Version  erhalten;  femer  eine 
Prosaübersetzung  der  Aeneis;  ein  seltsam  entstellter  und  mit  mittelalter- 
lichen Anekdoten  durchsetzter  Auszug  der  Odyssee;  aus  dem  14.  und 
15.  Jahrhundert  eine  Prosaauflösung  von  Lucans  Hillnm  Civile,  eine  Über- 
setzung von  Heliodors  Aethiopica,  endlich  Übertragungen  einer  ganzen 
Reihe  von  Artusepen,  der  chanson  de  geste  Fierabras,  der  englischen 
Romanzen  von  Bevis  of  Hampton,  Guy  of  Warwick  usw. 

III.  Die  historische  Literatur.  Wenn  auch  die  Heldensage  einen 
historischen  Boden  hat  und  die  Erzähler  in  ihr  Geschichte  zu  überliefern 
meinten,  so  überwiegt  doch  durchaus  das  sagenhafte  Element  Dagegen 
besitzen  wir  erstens  eine  große  Masse  halbhistorischer  Literatur  in  den 
Geschichten  einzelner  Völkerschaften  und  Stämme,  Aufzählungen  berühmter 
Männer  und  Frauen,  Schilderungen  von  Schlachten,  Grabstätten  usw., 
Gegenstände,  die  auch  oft  von  Barden  und  Gelehrten  in  Gedichten  be- 
handelt wurden,  sowie  zweitens  rein  historische  Aufzeichnungen  in  den 
Annalen,  ausführlichen  Darstellungen  einzelner  Perioden  irischer  Geschichte, 
den  Stammbäumen  zahlreicher  Geschlechter,  Familien  und  einzelner  be- 
rühmter Persönlichkeiten,  besonders  Heiliger,  endlich  Urkunden  der  ver- 
schiedensten Art. 

Die  ältesten  Annalen  sind  uns  leider  nicht  erhalten.  Doch  wissen  wir 
aus  häufigen  Zitaten  älterer  Quellen  in  den  auf  uns  gekommenen  Annalen, 
daß  schon  im  7.  Jahrhundert  Chroniken  in  den  Klöstern  geführt  wurden. 
Die  erste  große  Zusammenstellung  solcher  Aufzeichnungen  verdanken  wir 
dem  1088  gestorbenen  Tigernach,  .\bt  von  Clonmacnois,  von  dessen  Werke 
uns  umfangreiche  Bruchstücke  erhalten  sind.  Nach  einer  aus  Hieronymu.s, 
Josephus,  Orosius,  Beda  u.  a.  geschöpften  lateinisch  geschriebenen  Ein- 
leitung, die  mit  der  Gründung  Roms  anhebt,  beginnen  sporadische  Notizen 
aus  der  irischen  Geschichte  mit  der  Erwähnung  des  Königs  Cimbäed  von 
Ulster,  einem  Zeitgenossen  des  Ptolemäus  zu  Ausgang  des  4.  Jahrhunderts 
V.  Chr.,  mit  der  Bemerkung  'omnia  monimenta  Scottorum  usque  Cimbaed 
incerta  erant\     Erst  mit  dem  4.  Jahrhundert  n.  Chr.  werden   die  Aufzeich- 


86       KuNO  Meyer:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

nungen  irischer  Begebenheiten  zahlreicher  und  ausführlicher,  Sie  werden 
lange  Zeit  lateinisch  oder  in  einem  Gemisch  von  lateinisch  und  irisch  ge- 
macht, bis  endlich  das  Irische  durchdringt.  Leider  hat  wohl  schon  Tiger- 
nach selbst  die  von  ihm  benutzten  altirischen  Quellen  in  die  Sprache 
seiner  Zeit  umgeschrieben,  so  daß  wir  eines  wichtigen  Kriteriums  für 
ihren  Ursprung  beraubt  sind.  Die  Sprache  der  alten  Vorlagen  beibehalten 
zu  haben  ist  der  Vorzug  der  zweiten  großen  Annalensammlung,  die  im 
15.  Jahrhundert  von  Cathal  Oc  mac  Magnusa  gemacht  wurde,  Sie  ist 
unter  dem  Namen  'Annalen  von  Ulster'  bekannt.  Hier  zeigt  die  Sprache, 
die  sich  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert  verändert,  daß  wir  es  mit  Auf- 
zeichnungen zu  tun  haben,  die  mit  den  Ereignissen  gleichzeitig  waren. 
Cathal  fängt  mit  A.  D.  431  an,  als  dem  Jahre  der  Mission  des  Palladius. 
Nach  seinem  Tode  ist  sein  Werk  dann  bis  zum  Jahre  1541  weitergeführt. 
Es  mögen  außerdem  noch  die  im  13.  Jahrhundert  geschriebenen  Annalen 
von  Boyle  (A.  D.  420 — 1245),  die  von  Innisfallen  (von  der  Schöpfung 
bis  13 19)  und  die  von  Clonmacnois  erwähnt  werden;  die  letzteren  sind  uns 
nur  in  einer  englischen  Übersetzung  erhalten.  Am  ausführlichsten  und 
mit  zahlreichen  Anekdoten  ausgeschmückt  sind  drei  Fragmente  von 
Annalen,  welche  die  Jahre  573 — 735,  662 — 704  und  851 — 913  umfassen. 
In  dem  letzten  Bruchstück  ist  namentlich  die  Vikingerzeit  höchst  lebendig 
dargestellt.  Endlich  wurde  im  17.  Jahrhundert  aus  einigen  der  erwähnten 
und  anderen  seitdem  verlorenen  Annalen  von  dem  Franziskaner  Michael 
O'Clery  mit  drei  Gehilfen  eine  umfassende  Chronik  zusammengestellt, 
die  bis  auf  das  Jahr  16 16  geht.  Während  die  Verfasser  diesem  Werke 
den  Titel  'Annalen  des  Königreichs  Irland'  gaben,  ist  es  bekannter  unter 
dem  Namen  'Annalen  der  vier  Meister'. 

Von  ausführlichen  Darstellungen  einzelner  Perioden  irischer  Geschichte 
besitzen  wir  u,  a.  aus  dem  11.  Jahrhundert  die  sogenannte  Böroma,  d.  h. 
die  Geschichte  des  Tributs,  den  die  Oberkönige  Irlands  seit  dem  2.  Jahr- 
hundert von  der  Provinz  Leinster  erheischten,  ferner  zwei  wertvolle  Schil- 
derungen der  Kämpfe  mit  den  Vikingern.  Die  eine,  unter  dem  Titel 
'Kampf  der  Galen  gegen  die  Nordleute'  besteht  aus  Annalenfragmenten, 
einer  Biographie  des  Königs  Brian  von  Boroma  (941  — 1014)  und  einer 
detaillierten  Schilderung  der  Schlacht  von  Clontarf  (10 14),  die  offenbar 
auf  Berichten  von  Augenzeugen  beruht;  die  andere  schildert  die  Kämpfe 
des  Königs  Cellachän  von  Cashel  (7  954)  gegen  die  in  Munster,  Ulster 
und  Dublin  ansässigen  Vikinger, 

Unter  den  zahlreich  erhaltenen  Stammesgeschichten  sei  eine  der 
ältesten  angeführt,  die  aus  dem  8.  Jahrhundert  stammt  und  von  den 
Schicksalen  des  Clans  der  Dessi  im  3.  Jahrhundert  unserer  Zeitrechnung 
berichtet.  Aus  ihren  ursprünglichen  Wohnsitzen  in  Meath  vertrieben,  siedeln 
sie  sich  im  Süden  von  Irland  an,  während  ein  Teil  von  ihnen  an  der 
Westküste  von  Britannien  eine  neue  Heimat  sucht.  Von  diesen  für  die 
ältere  Geschichte  Irlands  und  Britanniens  wichtigen  Dokumenten  ist  bisher 


A.  Die  irisch  malische  Literatur.     IV.  iJic  Rcchtslitf^ gj 

noch  wtriij^  vcröfFontlicht.  Hier  venlient  noch  eine  IjcsoiKi.rc  l.inralur- 
j^attimj^  Kr\vähnun)4^,  die  soj^cnannten  UiiiU  '  Ver/.ückunj^en, \'i.sionen',  welche 
in  der  Fomi  von  Prophezeiungen  viel  \vertvolle.s  Material  für  die  ältere  Gre- 
schichtc  Irlanils  enthalten.  So  zählt  ein«?  derselben,  die  Jiaili'  in  »SV<;i7 'Vi.sion 
des  Phantoms'  mehr  als  50  Uberkönig^e  Irlands  auf,  von  Conn  dem  Hundert- 
schlachtigen  an  (A.D.  123 — 157)  bis  ins  i  i.  Jahrhundert,  und  erwähnt  ihre  Taten 
und  Schlachten,  die  Umstände  ihres  Todes   und  viele  andere  liinzelheiten. 

I\'.  Die  Rechtsliteratur.  Eine  stattliche  Reihe  von  Texten  aus 
der  irischen  Rechtsliteratur  liegt  gedruckt  und  übersetzt  in  fünf  Bänden 
vor,  tienen  die  Herausgeber  den  Titel  'Ancient  Laws  of  Ireland'  gegeben 
haben.  Nach  dem  irischen  Worte  für  'Richter'  brithcm  (Plur.  brithcmain) 
ist  die  Sammlung  auch  unter  dem  Namen  'lirehon  Laws'  bekannt  Diese 
Bezeichnungen  sind  indessen  geeignet,  irre  zu  führen.  In  der  älteren  Zeit 
wurde  die  richterliche  Funktion  von  den  ////</  ausgeübt,  aus  deren  Klasse 
sich  erst  allmählich  der  Stand  lies  britlum  entwickelt  hat.  Ferner  bilden 
die  gedruckten  Texte  weder  sachlich  noch  ihrer  Entstehung  nach  eine 
Einheit  und  können  nicht  etwa  als  ein  Gesetzbuch  bezeichnet  werden. 
)is>  ist  vielmehr  eine  Sammlung  sehr  gemischten  Inhalts,  worin  sich  neben 
eingehenden  Erörterungen  richterlicher  Aussprüche  gelehrte  juristische 
Abhandlungen,  sagenhafte  und  historische  Anekdoten  und  eine  Reihe  von 
Lehrbüchern  mit  Fragen  und  Antworten  finden,  wie  sie  in  den  Rechts- 
schulen Irlands  in  Gebrauch  waren.  Diese  Texte  erschöpfen  nun  keines- 
wegs alles,  was  von  juristischer  Literatur  auf  uns  gekommen  ist  Eine 
große  Anzahl  wichtiger  Werke  aus  älterer  und  neuerer  Zeit,  darunter  auch 
Lehrgedichte,  die  ganze  Kapitel  der  Rechtslehre  in  Memorialverse  gebracht 
haben,  harren  noch  der  Veröffentlichung. 

Das  einheimische  Recht  ist  erst  allmählich  und  spät  durch  das  englische 
verdrängt  worden.  In  manchen  Teilen  Irlands  hat  es  noch  bis  in  die  Zeit 
der  Elisabetii  und  später  gegolten.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  die  Haupt- 
masse unserer  Handschriften  erst  aus  dieser  Zeit  (i'>.  Jahrhundert)  stammt 
Wir  verdanken  sie  den  Rechtsschulen,  die  an  vereinzelten  Orten  des 
Westens  und  Nordens  noch  bis  ins  i  7.  Jahrhundert  fortbestanden.  Indessen 
gehen  manche  dieser  Aufzeichnungen,  wie  die  Sprache  zeigt,  der  Über- 
lieferung nach  in  sehr  frühe  Zeiten  zurück.  Während  in  einigen  Stücken 
sowohl  1  ext  als  Kommentar  mindestens  aus  dem  S.  Jahrhundert  stammen, 
ist  in  anderen  der  Text  zwar  alt,  der  Kommentar  aber  bedeutend  jüngj'r. 
Hier  bedarf  noch  alles  eingehender  Untersuchung. 

Das  in  dieser  Literatur  niedergelegte  Recht  ist  durchaus  aus  den 
eigentümlichen  irischen  Einrichtungen  des  Clansystems  und  der  Kloster- 
verfassung hervorgegangen.  Von  römischem  oder  kanonischem  Recht 
findet  sich  nirgends  eine  Spur,  Im  Gegensatz  zum  kymrischcn  Rechte  ist 
nie  von  besonderen  Gebräuchen  der  verschiedenen  Stämme  oder  einzelner 
Provinzen  die  Rede.     Alles  bezieht  sich  auf  ganz  Irland. 


88        KUNO  Meyer:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

In  den  zugrunde  liegenden  Begriffen  von  Recht  und  Rechtsquellen 
herrscht  wenig  System.  Es  wird  zwar  bald  'das  Recht  der  Natur',  bald 
'das  Recht  des  Buchstabens',  d.  h.  das  mosaische  Gesetz,  erwähnt,  bald 
die  neue  Ordnung,  die  durch  das  Christentum  in  die  Welt  gekommen  ist; 
aber  was  wir  tatsächlich  dargestellt  finden,  ist  das  einheimische  Gewohnheits- 
recht, wie  es  zu  verschiedenen  Zeiten  von  den  filid  und  hrithejjiain  inter- 
pretiert und  formuliert  worden  ist.  Erlasse  von  Königen  oder  Beschlüsse 
von  Versammlungen  finden  sich  nur  ganz  ausnahmsweise  erwähnt,  obgleich 
einzelne  Oberkönige  von  Zeit  zu  Zeit  den  Versuch  gemacht  zu  haben 
scheinen,  eine  feste  Rechtsgrundlage  zu  schaffen  und  die  Macht  und  Will- 
kür des  Richterstandes  zu  brechen,  dessen  Aussprüche  in  archaische  dem 
gemeinen  Mann  unverständliche  Sprache  und  kurze,  dunkle,  formelhafte 
Wendungen  gekleidet  waren.  Eine  ganze  Reihe  teils  fabelhafter,  teils 
historischer  Autoritäten  werden  in  den  Texten  namentlich  aufgeführt,  dar- 
vmter  auch  Frauen.  Manchen  unter  diesen  werden  auch  Rechtsbücher 
zugeschrieben,  von  denen  sich  einige  erhalten  haben,  so  die  dem  Caratnia 
beigelegten  'Falschen  Urteile',  so  genannt,  weil  sie  zu  dem  üblichen  Rechte 
nicht  stimmten,  wenn  sie  auch  durch  besondere  Umstände  gerechtfertigt 
waren,  ferner  ein  'Die  fünf  Pfade  des  Urteils'  genanntes  Werk,  welches 
von  dem  fili  Cermna  (8.  Jahrhundert)  herrühren  soll. 

Wie  weit  die  einzelnen  Bestimmungen  überall  der  Praxis  entsprochen 
haben  mögen,  bleibt  zweifelhaft.  Oft  haben  wir  es  deutlich  nur  mit  Theo- 
rien oder  logischen  Spitzfindigkeiten  zu  tun.  Zur  Erleichterung  des  Ge- 
dächtnisses sind  einzelne  Abschnitte  sowie  ganze  Bücher  in  der  Form  von 
Triaden,  Pentaden  und  Heptaden  abgefaßt. 

Neben  diesen  und  ähnlichen  Texten  besitzen  wir  noch  eine  Anzahl 
Traktate  und  Kompilationen  anderer  Art.  So  vor  allem  eine  Reihe  von 
Einzelgesetzen  meist  kirchlichen  Ursprungs,  die  sogenannten  cäiia  (Sing. 
cäin  'Abgabe,  Gesetz'),  darunter  die  Cäin  Adamnäin  aus  dem  8.  Jahr- 
hundert, ein  Traktat  über  die  von  Adamnan,  dem  bekannten  Abte  von 
lona,  erlassene  und  im  Jahre  697  auf  einer  Synode  von  Königen,  Äbten 
imd  Bischöfen  durchgesetzte  Bestimmung,  wonach  weder  Frauen  noch 
Unerwachsene  am  Kriege  teilnehmen  sollen;  femer  aus  dem  9.  Jahrhundert 
eine  ausführliche  Abhandlung  über  die  Sonntagsheiligung  [Cäin  Doinnaig\ 
die  auf  der  bekannten  Sonntagsepistel  beruht,  w^elche  um  diese  Zeit  vom 
Kontinent  herüberkam.  Schließlich  sei  noch  eine  im  11.  Jahrhundert  ver- 
faßte Zusammenstellung  der  Gerechtsame  und  Pflichten  des  Oberkönigs 
und  der  Provinzialkönige  erwähnt,  das  sogenannte  'Buch  der  Rechte', 
sowie  ein  um  dieselbe  Zeit  geschriebener  Traktat  über  zwölf  Arten  von 
Gottesurteilen,  in  denen  glühendes  Eisen,  kochendes  Wasser,  Losziehen 
u.  dgl.  neben  alten  heidnischen  Gebräuchen  aufgezählt  werden. 

V.  Die  geistliche  Literatur.  Es  ist  wohl  kaum  ein  anderes  Volk 
so    schnell  vom   Christentum    erfaßt  und   in   seinem   ganzen  Leben   durch- 


A.  Die  irisch  galischc  Literatur.     V.  l>ic  geistliche  Literatur.  go 

drunpen  worden  wie  da.s  irische.  Davon  geben  Sprache  und  Literatur 
nicht  weniger  beredtes  Zeugnis  als  die  Geschichte.  Wer  es  z.  H.  unter- 
nähme, die  Einwirkung  des  Christentums  auf  die  altirische  Sprache  zu 
schildern,  der  würde  eine  ungleich  größere  und  bedeutendere  Liste  von 
entlehnten  Wörtern  und  Bogriffen  aufzustellen  haben  als  Rudolf  von  Raumer 
im  Althochiloutsclicn.  Manciie  Ausdrücke  der  lateinischen  Kirchensprache 
bürgerten  sich  so  rasch  und  tief  unter  dem  Volke  ein,  daß  sie  schon  im 
Altirischen  eine  Begriffserweiterung  erfahren  hatten.  So  bedeutet  laich 
aus  laicus  schon  im  ältesten  Irisch  'Krieger',  motitar  aus  monastcrium 
'Familie*,  aracul  aus  oracitlum  jedes  kleinere  allein.stehende  Gebäude, 
und  föc  aus  pac-  (pax)  verdrängte  in  der  Bedeutung  'Kuß'  das  heimische 
Wort  tnimniy  das  fortan  nur  noch  im  obszönen  Sinne  galt  Daß  ander- 
seits das  Irische  selb.st  früh  in  den  Dien.st  der  Kirche  trat,  ist  schon  er- 
wähnt worden.  Allmählich  wurde  es  die  Sprache  des  gesamten  religiösen 
Lebens.  So  verdrängte  es  im  Gegensatz  zu  dem  Gebrauche  aller  anderen 
christlichen  Völker  mit  Ausnahme  der  Angeln  und  Skandinaven  da.s  Latei- 
nische sogar  aus  den  Grabinschriften,  die  etwa  seit  dem  8.  Jahrhundert 
nur  mehr  noch  irisch  abgefaßt  sind.  In  der  religiösen  Literatur  herrschte 
in  den  ersten  Jahrhunderten  des  Chri.stentums  in  Prosa  wie  in  Poesie 
wohl  ausschließlich  die  lateinische  Sprache.  Patrick  bediente  sich  ihrer  in 
seinen  Schriften,  die  ältesten  Bußordnungen  sowohl  als  H)Tnnen  sind  in 
ihr  abgefaßt,  und  bis  ins  7.  Jahrhundert  auch  die  Leben  der  Heiligen, 
sowie  theologische  und  andere  gelehrte  Werke.  Aber  schon  um  die  Mitte 
des  8.  Jahrhunderts  schrieb  ColgTi  von  Clonmacnois  (f  796),  bei  dem  ein 
Alcuin  sich  den  letzten  Schliff  der  Gelehrsamkeit  geholt  hatte,  seine  große 
Scitap  Chrdbitid  ('Scopa  Devotionis')  genannte  Litanei  in  der  Mutter- 
sprache. So  mag  es  sich  erklären,  daß  von  den  Werken  der  großen  irischen 
Gelehrten  des  8.  Jahrhunderts,  zu  denen  Schüler  aus  ganz  Europa  strömten, 
so  wenig  auf  uns  gekommen  ist.  Ihre  irischen  Schriften  sind  meist  ver- 
loren gegangen  und  lateinisch  scheinen  sie  wenig  geschrieben  zu  haben, 
während  sich  die  Iren  im  Auslande,  wie  Sedulius,  Dicuil  u.  a.  natürlich 
nur  des  Lateinischen  in  ihren  Werken  bedienten,  von  denen  sich  dann 
wieder  mehr  erhalten  hat. 

Die  in  irischer  Sprache  überlieferte  theologische  und  geistliche  Literatur 
vom  s.  bis  1 2.  Jahrhundert  ist  nun  so  umfangreich  und  mannigfaltig,  daß 
sie  hier  nur  ihrem  Hauptinhalt  nach  kurz  aufgeführt  werden  kann.  An 
Prosa  besitzen  wir  zahlreiche  Predigten,  Homilien  und  Traktate,  .so  über 
die  Auferstehung,  das  jüngste  Gericht,  die  Haupttugenden,  die  Todsünden, 
heimliche  Sünden  usw.,  Passionsgeschichten,  Legenden  aller  Art,  KJostcr- 
regeln,  Bußordnungen,  sogenannte  'Alphabete',  d.  h.  Grundregeln  der 
Frömmigkeit,  meist  mit  lateinischen  Titeln,  z.  B.  De  his  quae  debet  homo 
discere,  De  peritia  veritatis.  De  virtutibus  animae  usw.;  femer  Bibel- 
kommentare, darunter  das  Bruchstück  eines  weitschichtig  "n 
Psalmenkommentars,  Darstellungen  'i-wiMir   \i.v,  imiTf..  <!(  r  Hnli;,    .  :-   ..rift 


go        KUNO  Meyer:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

und  Geschichte,  z.  B.  die  Schöpfung,  die  Geschichte  des  Volkes  Israel, 
die  Kindheit  Jesu,  die  Zerstörung  Jerusalems  unter  dem  Titel  'Die  Rache 
für  Christi  Blut';  eine  Schilderung  der  Welt,  des  Himmels  und  der  Hölle 
unter  dem  Titel  'Die  ewig  neue  Zunge',  vom  Geiste  des  Apostels  Philipp 
geofifenbart;  Gebete,  geistliche  Unterweisungen,  oft  in  Frage  und  Antwort 
gekleidet,  u.  dgl.  Manches  hiervon  ist  unverkennbar  aus  lateinischen, 
oft  freilich  unauffindbaren  Originalen  übersetzt  oder  bearbeitet,  anderes  ist 
selbständig  aus  den  eigentümlichen  Einrichtungen  der  irischen  Kirche 
entsprungen. 

Zwei  große  Gebiete  der  religiösen  Prosa  verdienen  besondere  Er- 
wähnung, da  manches  aus  ihnen  in  die  Literatur  des  Kontinents  gedrungen 
ist,  die  Visionen  und  die  Hagiologie.  Von  den  ersteren  sind  die  älteste 
und  eine  der  spätesten  durch  Zufall  zunächst  lateinisch  aufgezeichnet,  die 
aus  Beda  bekannte  Vzsio  Fursac  {-j-  650),  von  der  aber  eine  der  oben  er- 
wähnten Sagenlisten  auch  eine  irische  Version  (Fls  Fursa)  aufführt,  und  die 
Visio  Tnugdali,  1149  "^'o^i  ^^m  südirischen  Mönche  Marcus  in  Regens- 
burg niedergeschrieben.  Dazwischen  liegt  eine  Reihe  in  irischer  Sprache 
verfaßter  Visionen,  die  eben  deshalb  nicht  im  Ausland  bekannt  geworden 
sind.  In  Irland  selbst  war  diese  Literatur  so  populär,  daß  sie  zu  Parodien 
Anlaß  gab,  unter  denen  die  aus  dem  12.  Jahrhundert  stammende  'Vision 
des  Mac  Conglinne'  die  bedeutendste  ist. 

Die  Masse  der  auf  irische  Heilige  bezüglichen  Literatur,  von  einzelnen 
Anekdoten  und  Legenden  bis  zu  umfangreichen  Biographien,  ist  ungemein 
groß  und  reichhaltig.  Daß  noch  viel  mehr  als  heute  erhalten  ist  in  irischer 
Sprache  existiert  hat,  beweisen  die  auf  verlorenen  irischen  Originalen  be- 
ruhenden lateinischen  Vitae  mancher  Heiligen  Irlands.  So  hat  sich  auch 
die  Legende  von  der  Meerfahrt  Brendans,  ursprünglich  eine  Episode  in 
der  Lebensgeschichte  dieses  Heiligen,  durch  eine  lateinische  Version  über 
ganz  Europa  verbreitet. 

Die  geistliche  Dichtung  läßt  sich  in  zwei  Hauptgruppen  zerlegen, 
eine  gelehrte,  lehrhafte  und  eine  rein  lyrische.  Zu  ersterer  gehören  die 
großen  gereimten  Festologien  (felire),  von  denen  die  älteste,  um  800 
von  Oingus  verfaßt,  über  tausend  irische  und  ausländische  Heilige  auf- 
zählt. Sie  wurde  schon  früh  mit  einem  ausführlichen  sachlichen  Kom- 
mentar versehen. 

Der  gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts  verfaßte  Saltair  na  Rann 
('Strophenpsalter')  erzählt  in  150  Gedichten  Episoden  aus  der  Geschichte 
des  Alten  und  Xeuen  Testaments  und  darf  sich,  was  Stil  und  Behandlung 
betrifft,  wohl  Otfrids  Werk  an  die  Seite  stellen.  Aber  auch  manch  spröder 
Stoff  wurde  in  Verse  gebracht.  So  haben  wir  gereimte  Mönchsregeln, 
die  den  Gründern  von  Klöstern  wie  Ailbe  (7  541),  Comgall  (-|-  602),  Mochutu 
(7  636),  Manchm  (-  665)  zugeschrieben  werden,  aber  alle  erst  aus  dem 
8.  oder  g.  Jahrhundert  stammen;  femer  allerlei  Lehrgedichte  des  Airbertach 
mac  Gösse,   eines  Lektors  (fer  legind)    an    der   Klosterschule    von    Ross 


A.  Die  irisch  yalischc  Literatur.     \'l.   Die  gelehrte  Literatur.  qi 

Ailithre  in  der  zweiten  Hälfte  des   lo.  Jahrhunderts,   so  über  die  Psalnu-n, 
Babylon,  die  Midianiterschlacht  usw. 

Das  Gebiet  der  geistlichen  Lyrik  ist  noch  nicht  zu  übersehen,  da  erst 
wenig-  gedruckt  vorliegt  Inhalt  und  Form  sind  gleich  mannigfaltig.  Kurze 
Reimsprüche,  Gebote,  Sevrenssprüche,  Hymnen  an  die  Gottheit  oder  auf 
Heilige,  Ennahnungen,  Gedichte  moralisierenden  oder  reflektierenden  In- 
halts, seit  dem  i.'.  Jahrhundert  auch  viel  christlich  Mythologisches,  femer 
Marienlieder,  Krcuzlicder  usw.  finden  sich  in  großer  Zahl.  Viele  von  ihnen 
werden,  zum  großen  Teil  gewiß  mit  Recht,  bekannten  und  historisch  be- 
glaubigten Dichtern  zugeschrieben,  von  denen  die  folgenden  hier  genannt 
seien:  aus  dem  9.  Jahrhundert  Fothad  mit  dem  Beinamen  na  Canöine 
(der  Kanoniker)  und  Cormac  mac  Cuilennain,  König  von  Munster  und 
Bischof  von  Cashel  [■-  908);  aus  dem  1 1.  Jahrhundert  der  oben  schon  erwähnte 
Mael-isu  hoa  Brolchain  (-}•  1086),  aus  dem  12.  Jahrhundert  Mael-Muire  hoa 
Moirin,  aus  dem  13.  Jahrhundert  Domnach  Mör  0  Dalaig  (7  1244)  und 
Mael-Muire  ö  Lennain,  aus  dem  14.  Jahrhundert  Gilla  Brigde  mac  Conmide. 
Viele  andere  geistliche  Sprüche,  Lieder  und  Gedichte  werden  wohl- 
bekannten Heiligen,  so  schon  Patrick  und  Brigitta,  zugeschrieben,  obgleich 
sie  wohl  nur  in  den  seltensten  Fällen  von  ihnen  herrühren.  Besonders 
zahlreich  sind  die  dem  heiligen  Columba  ^Colum  Cille)  beigelegten  Ge- 
dichte, die  in  der  Mehrzahl  erst  aus  dem  13.  Jahrhundert  stammen.  Auch 
in  den  Viten  werden  bei  jeder  Gelegenheit  den  Heiligen  Verse  in  den 
Mund  gelegt,  in  denen  sich  oft  der  Charakter  ihrer  Persönlichkeit  treffend 
und  launig  offenbart.  So  wird  die  Schlagfertigkeit  und  der  Witz  des 
heiligen  Moling  (|  650)  durch  manchen  Vers  charakterisiert,  wie  wenn  er 
in  der  Klosterschule  von  sich  sagt: 

„Bin  ich  unter  den  Weisen,  den  Alten,    Nimmt  mich  der  Älteste  selber  für  voll; 

Mit  den  Jungen  dann  wieder  treib  ich's  so  toll,     Daß  sie  mich  für  den  Jüngsten  halten. " 

In  vielen  Gedichten  treten  die  Besonderheiten  des  irischen  religiösen  Lebens 
hervor,  das  Zusammenleben  von  Männern  und  Frauen  im  Bezirk  des 
Klosters,  der  Drang  nach  Pilgerfahrten,  die  Freude  an  der  Schreibkunst 
Eine  besonders  interessante  Gruppe  bilden  die  Lieder,  welche  das  Leben 
und  die  Gefühle  der  Einsiedler  schildern,  die  sich  allein  oder  mit  zwölf 
Gefährten  aus  den  großen  geräuschvollen  Klöstern  in  Waldeinsamkeit  oder 
auf  abgelegene  Inseln  zurückzogen.  Sie  sind  oft  reich  an  ausführlichen 
Naturschilderungen. 

VI.  Die  gelehrte  Literatur.  Es  ist  als  ein  großer  Verlust  zu  be- 
klagen, daß  sich  aus  der  Blütezeit  irischer  Gelehrsamkeit  keine  wissen- 
schaftlichen Schriften  in  irischer  Sprache  erhalten  haben.  Von  all  den 
Dutzenden  von  Gelehrten,  welche  die  Annalen  vom  7.  Jahrhundert  an  mit 
Ehrentiteln  wie  *vir  sapiens',  Mector  bonus',  'religionis  doctor',  'magister 
bonus  evangelii'  auffuhren,  besitzen  wir  nichts  der  Art  Und  doch  dürfen 
wir  aus  allerhand  Zeugnissen,   erhaltenen   Titeln,  den  Hinw<i><rn    späterer 


Q2        KUXO  MeveR:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 

Bearbeitungen  wohl  schließen,  daß  schon  im  8.  Jahrhundert  eine  bedeutende 
Literatur  an  Lehrbüchern  und  wissenschaftlichen  Abhandlungen  in  manchen 
mittelalterlichen  Disziplinen  in  irischer  Sprache  bestand.  Was  auf  uns  ge- 
kommen ist,  davon  geht  nichts  über  das  9.  und  10.  Jahrhundert  zurück,  ist 
meist  noch  jünger  und  trägt  den  Charakter  einer  Epigonentätigkeit.  Da 
erst  wenig  davon  herausgegeben  ist,  so  läßt  sich  auch  hier  nur  eine  all- 
gemeine und  kurze  Übersicht  geben. 

In  der  Grammatik  haben  wir  verschiedene,  zum  Teil  umfangreiche 
Abhandlungen  über  das  lateinisch -irische  Alphabet,  die  Ogamschrift,  Dekli- 
nation, Konjugation  und  andere  Abschnitte  der  Formenlehre,  alles  auf  der 
Basis  von  lateinischen  Lehrbüchern.  Besonders  wurde  die  Etymologie 
nach  dem  Muster  des  Isidor  eifrig  gepflegt,  jedes  irische  Wort  aus 
dem  Lateinischen,  Griechischen  oder  Hebräischen  hergeleitet  oder  aus  dem 
Irischen  selbst  erklärt  und  in  seine  Bestandteile  zerlegt.  Auch  das  Kym- 
rische  und  Nordische  finden  sich  manchmal  herbeigezogen.  Seltene  und 
veraltete  Wörter  wurden  in  Glossare  vereinigt,  unter  denen  das  dem  Cormac 
mac  Cuilennäin  (j  908)  zugeschriebene  und  ein  unter  dem  Namen  O'Mulconry 
bekanntes  die  ältesten  und  wichtigsten  sind.  Zum  Zwecke  des  Memorierens 
gab  es  auch  gereimte  Glossare. 

Über  irische  Metrik  liegt  eine  Anzahl  Traktate  mit  zahlreichen  Bei- 
spielen von  Versen  aus  dem  10.  Jahrhundert  vor;  sie  enthalten  den  Lehr- 
stoff, der  dem  Unterricht  in  den  Bardenschulen  zugrunde  lag.  Daß  es 
Bearbeitungen  älterer  Werke  sind,  wird  ausdrücklich  erwähnt.  Im  ganzen 
werden  338  Metren  besprochen  und  durch  Beispiele  erläutert. 

Aus  dem  Gebiete  der  Geographie  sind  nur  einige  Lehrgedichte  aus 
dem  10,  Jahrhundert  auf  uns  gekommen,  die  auf  lateinische  Quellen  zurück- 
gehen; so  eine  Schulgeographie  der  drei  Weltteile  von  dem  oben  erwähnten 
Airbertach  mac  Cosse-dobräin, 

Astronomische  Abhandlungen  finden  sich  nur  in  geringer  Zahl  und 
erst  aus  dem  13.  und  14.  Jahrhundert.  Aus  derselben  Zeit  stammen  auch  die 
ältesten  medizinischen  Handschriften,  die  sich  in  größerer  Anzahl  erhalten 
haben.  Sie  scheinen  alle  auf  bekannten  lateinischen  Werken  (Avicenna, 
Serapion,  Dioscorides  usw.)  zu  beruhen,  die  sie  übersetzen  und  kommentieren. 

Mathematisches  und  Philosophisches  findet  sich  nicht  in  der  irischen 
Literatur,  obgleich  wir  wissen,  daß  die  Iren  sich  gerade  diesen  Studien 
mit  Vorliebe  zuwandten  und  Hervorragendes  darin  geleistet  haben. 

VII.  Die  gnomische  Literatur.  Die  Vorliebe  der  Kelten  für 
prägnanten  Ausdruck,  für  das  glücklich  gewählte  Wort,  in  dem  sich  Witz 
mit  Weisheit  paart,  das  ^argute  loqui'  Cäsars,  tritt  in  vielen  sprichwörtlich 
gewordenen  Redensarten  zutage,  die  sich  durch  die  ganze  irische  Literatur 
zerstreut  finden.  Manche  von  diesen  wurden  schon  in  altirischer  Zeit  zu 
Sammlungen  vereinigt,  wodurch  eine  nicht  unbeträchtliche  gnomische  und 
didaktische    Literatur    entstand.     Sie    zerfällt    im    großen    und    ganzen    in 


A.  Die  iribch  galischc  Literatur.    \  11.  l-»ic  ^'nomischc  Literatur.    \lll.  l>ic  weltliche  Lyrik,    ni 

ethische  Maximen  und  Rftlfktionen,  C'haraktcrschilderunj^en  und  Lebens- 
regeln allgemeiner  Natur  und  solche  für  besondere  Stände.  Unter  den 
ersteren  sind  die  Triaden  am  merkwürdigsten,  die  nach  Art  der  hebräischen 
Zahlensprüche  jeden  Aus.spruch  durch  drei  Beispiele  belegen,  die  so  ge- 
ordnet sind,  daß  sie  eine  Steigerung  enthalten,  auch  wohl  mit  einem  Anti- 
klimax  endigen.  Solcher  Triaden  sind  im  yt.  Jahrhundert  über  zweihundert 
gesammelt  (darunter  auch  einige  Duaden  und  Tetraden)  und  dem  Inhalte 
nach  geordnet  worden.  Hier  finden  wir  geographische  Triaden,  wie  'Die 
drei  (Haupt iströme  Irlands:  der  Shannon,  der  Boyne  und  der  Bann'; 
Rechtstriaden,  wie  'Drei  Dinge,  welche  die  Gerechtigkeit  erheischt:  Urteil, 
Maß,  Gewissen',  und  andere  sehr  gemischten  Inhalts,  z.  B.  'Drei  Leuchten, 
welche  jede  Dunkelheit  erhellen:  Wahrheit,  Natur  und  Wissenschaft',  oder 
'Drei  Funken,  welche  Liebe  entzünden:  ein  Antlitz,  Benehmen,  Rede'. 

Die  Lebensregeln  und  Maximen  für  besondere  Stände  knüpfen  sich 
in  der  Überlieferung  an  bekannte  historische  oder  sagenhafte  Persönlich- 
keiten. Es  sind  Belehrungen  und  Ermahnungen  von  Königen  an  ihre 
Nachfolger,  von  \'ätem  an  ihre  Söhne  und  von  Lehrern  an  ihre  Zöglinge. 
Die  ältesten  sind  unter  dem  Titel  'Das  Testament  des  Morann  mac  Möin 
(i.  Jahrhundert  n.  Chr.)  an  seinen  Sohn  Feradach'  bekannt,  woraus  wir 
schon  in  Texten  des  8.  Jahrhunderts  Zitate  finden;  ferner  die  Unter- 
weisungen Cuchulinns  an  seinen  Pflegesohn  Lugaid,  als  dieser  zum  Könige 
von  Irland  gewählt  wurde,  die  eine  Episode  in  der  Sage  'das  Kranken- 
lager Cuchulinns'  bilden.  Die  umfangreichste  und  bunteste  Sammlung 
der  Art  ist  unter  dem  Titel  Tccosca  Curmaic  überliefert  und  enthält  Be- 
lehrungen des  Königs  Cormac  mac  Airt  (3.  Jahrhundert)  an  seinen  Sohn 
Carpre.  Hier  wird  von  den  Tugenden  eines  Königs  gehandelt,  seinen 
Rechten  und  Pflichten  gegenüber  dem  Volke,  von  der  Wahl  einer  Gattin, 
wie  man  sich  in  der  Jugend  und  im  Alter  und  in  den  verschiedensten 
Lebenslagen  zu  benehmen  hat,  schließlich  auch  von  Wetterregeln.  Neben 
manchen  anderen  derartigen  Prosastücken  aus  früher  und  späterer  Zeit 
finden  wir  auch  einiges  in  Verse  gebracht,  darunter  Rätselfrageo,  teils 
mit,  teils  ohne  Antwort. 

VIII.  Die  weltliche  Lyrik.  Die  große  Masse  der  lyrischen  Poesie 
Irlands,  von  der  geistlichen  abgesehen,  zerlegt  sich  ihrem  Ursprung  und 
Inhalt  nach  in  höfische  Bardenpoesie  und  offizielle  GelegenheiLsdichtung; 
in  die  Lieder,  welche  sich,  wie  oben  erwähnt,  in  den  Sagen  eingestreut 
finden;  und  in  Dichtungen,  welche  zwar  auch  aus  dem  Kreise  der  Barden 
und  filid  hervorgegangen  sind,  aber  keine  Beschränkung  in  der  Wahl 
und  Behandlung  des  Stoffes  zeigen.  Dazu  kommt  ferner  noch  die  Volk.s- 
dichtung,  von  der  uns  aber  aus  alter  Zeit  kaum   etwas  erhalten  ist. 

Dem  Stande  der  Barden  und  der  filid ^  die  bei  den  Königen,  Häupt- 
lingen und  Adelsgeschlechtem  Irlands  das  Amt  von  Hofdichteni  bekleideten, 
lag  es  ob,   die    fröhlichen    ""-'    traurigen    Ereignisse    der   Herrscherfamilie 


94 


KuNO  Me\'ER:  Die  keltischen  Literaturen.     II.  Die  einzelnen  keltischen  Literaturen. 


von  der  Wiege  bis  zum  Grabe  mit  Gesang  und  Dichtung  zu  begleiten, 
die  Tug'enden,  besonders  die  Tapferkeit  und  Freigebigkeit  ihrer  Herren 
zu  preisen,  sie  zu  kühnen  Taten  und  Unternehmungen  anzuspornen  und 
das  Gedächtnis  ihrer  Ahnen  im  Liede  lebendig  zu  erhalten.  Unter  den 
uns  erhaltenen  Bardenliedern  kommen  alle  diese  Funktionen  der  höfischen 
Dichter  zum  Ausdruck.  Da  finden  wir  Festlieder,  wie  das  oben  erwähnte 
auf  den  König  Aed,  Loblieder,  Trauerlieder,  Totenklag'en,  Grabgesänge, 
Trostlieder,  jNIahnrufe,  Triumph-  und  Siegeslieder,  Schlachtgesänge,  Schwert- 
und  Schildlieder.  Auch  an  Schmäh-  und  Rügeliedern  fehlt  es  nicht,  in 
denen  der  von  Hof  zu  Hof  ziehende  Barde  seinen  Groll  über  schlechte 
Behandlung  und  karge  Belohnung  ausläßt.  Da  die  Dichter  mit  der 
heimischen  Geschichte  und  Sage  wohl  vertraut  waren,  so  behandelten  sie 
auch  ältere  Stoffe  in  Bardenweise.  So  entstanden  Gedichte,  die  bekannten 
älteren  Dichtern  in  den  Mund  gelegt  werden.  Ein  solches  ist  z.  B.  die 
Totenklage  um  den  König  Niall  (f  405),  die  in  der  Form  eines  Dialogs 
zwischen  seinem  Hofbarden  Torna  und  dessen  Sohn,  dem  Pflegebruder 
Xialls,  abgefaßt  ist.  Aber  die  große  Mehrzahl  der  auf  uns  gekommenen 
Bardenlieder  wird  gewiß  mit  Recht  Dichtern  zugeschrieben,  deren  Namen 
und  Daten  uns  aus  den  Annalen  bekannt  sind.  Ihre  Echtheit  läßt  sich 
teils  aus  Sprache  und  Metrum,  teils  aus  der  Art,  in  welcher  historische 
Ereignisse  erwähnt  werden,  feststellen.  Obgleich  unendlich  viel  verloren 
gegangen  ist  —  so  zählt  z.  B.  ein  metrischer  Traktat  die  Anfangsstrophen 
von  350  Liedern  auf,  von  denen  nur  zwei  oder  drei  vollständig  in  Hand- 
schriften erhalten  sind  — ,  so  besitzen  wir  doch  seit  dem  9.  Jahrhundert 
in  immer  wachsender  Anzahl  viele  hunderte  von  authentischen  Barden- 
liedem,  von  denen  indessen  erst  wenige  veröffentlicht  worden  sind.  Von 
dem  berühmtesten  Dichter  des  alten  Irlands,  Ruman  mac  Colmäin  (f  747), 
den  irische  Tradition  Homer  und  Vergil  an  die  Seite  stellt,  haben  sich 
leider  nur  zwei  Strophen  erhalten.  Dagegen  besitzen  wir  ein  aus  70  Strophen 
bestehendes  Schmählied  des  Fingen  mac  Flainn  (ca.  850),  in  welchem  er 
den  Clan  der  Fir  Ardda,  deren  Häuptling  ihm  den  gebührenden  Preis  für 
ein  Gedicht  verweigert  hatte,  zuerst  Spott  und  Hohn  fühlen  läßt,  zum 
Schlüsse  aber  wieder  gütlich  einlenkt.  Ein  anderer  typischer  Barde  des 
9. —  IG.  Jahrhunderts  ist  Dallän  mac  Möre,  von  dem  uns  zwei  Lieder  er- 
halten sind,  ein  Schwertlied  und  eine  Aufzählung  von  vierzig  Schlachten, 
an  denen  sein  Herr,  König  Cerball  von  Leinster  (f  909)  teilgenommen  hat. 
Aus  dem  11.  Jahrhundert  sei  Mac  Liac  erwähnt,  der  Barde  des  Häupt- 
lings Tadg  Mör  hüa  Cellaig  (O'Kelly),  Verfasser  eines  Schildlieds  und 
einer  Totenklage  um  seinen  Herrn,  der  10 14  in  der  Schlacht  bei  Clontarf 
fiel.  Von  dieser  Zeit  an  bis  ins  16.  Jahrhundert  ist  die  uns  überlieferte  Menge 
echter  Bardenlieder  so  zahlreich  und  mannigfach,  daß  sich  aus  ihnen  allein 
die  Geschichte  Irlands  schreiben  ließe. 

Die  Anzahl  der  in  den  Sagen  eingeschalteten  Lieder  ist  zu  groß,  ihr 
Inhalt  zu  bunt,   als   daß   sie   sich   im   allgemeinen   charakterisieren   ließen. 


A.  Die  irisch -gälische  Literatur.     VIII.  Die  weltliche  Lyrik.  ^c 

Mauche  Sa^enstoffe  eigiicn  .sich  mehr  als  andere  zu  lyri.scher  Behandlung, 
so  daß  einige  Sagen,  wie  der  'Rinderraub  von  Coalnge'  und  da.s  'Gespräch 
der  Alten*  be.sonders  reich  an  Gedichten  sind,  während  z.  B.  die  'Schlacht 
von  Finntraig"  (Ventry)  nur  ein  einziges  enthält.  In  anderen  Erzählungen 
überwiegt  die  Lyrik  .so  sehr,  daß  die  Prosa  ganz  ilagegen  zurücktritt,  wie 
z.  B.  in  der  Liebesgeschichte  von  Liadain  und  ("urithir.  Während  die 
einzelnen  eingestreuten  Gedichte  in  der  Regel  von  geringem  Umfange 
sind,  finden  sich  in  der  kurzen  Sage  von  der  Meerfahrt  Brans  nicht 
weniger  als  zweimal  28  vStrophen.  Manchmal  begegnen  diese  Gedichte 
aus  der  Sage  losgelöst  in  den  Handschriften.  Auch  kommt  es  vor,  daß 
dieselben  Gedichte  in  verschiedene  Erzählungen  eingefügt  werden.  Das 
ist  z.B.  mit  einigen  hübschen  Xaturgedichten  der  Fall,  die  Schilderungen 
von  Sommer  und  Winter  enthalten. 

Unabhängig  von  den  Sagen  sind  lyrische  Gedichte  nur  in  geringer 
Anzahl  erhalten.  Von  dem  wenigen,  was  bis  jetzt  davon  veröffentlicht 
ist,  sei  das  Lied  einer  alten  Hetäre  aus  dem  10.  Jahrhundert  erwähnt,  die 
nach  Art  der  Belle  Heaulmiere  von  Villon  um  die  entschwundene  Schön- 
heit und  Jugendlust  trauert;  femer  aus  dem  11.  Jahrhundert  eine  in  kunst- 
reichem Versmaße  verfaßte  Schilderung  des  .sturmbewegten  Meeres. 

Das  irische  Volkslied  läßt  sich  am  besten  aus  modernen  Sammlungen 
kennen  lernen,  unter  denen  Douglas  Hydes  'Lovcsongs  of  Connacht*  die 
erste  Stelle  einnehmen. 


Literatur. 

Einleitung,  üouglas  Hvde,  a  Literary  History  of  Ireland  from  ancient  times  to 
the  present  day,  London  1899.  —  Eugene  O'Curry,  Lectures  on  the  Manuscript  materials 
of  ancient  Irish  history,   Dublin  1878. 

Zu  I.     Wh.  Stokes  und  J.  Strachan,  Thesaurus  Palaeohibemicus,  Cambridge  1901—03. 

Zu  II.  H.  d'ARBOlS  DE  JUBAINVILLE,  Catalogue  de  la  litterature  equipe  de  l'Irlande, 
Paris  1883  (vgl.  H.  Zimmer,  Gott.  Gel.  Anz.  1887,  S.  153).  —  Derselbe,  Le  cycle  mytho- 
logique  irlandais  et  la  m^thologie  celtique,  Paris  1884.  —  Wh.  Stokes,  The  Rennes 
Dindsenchas  (Revue  Celtique  XV,  S.  277).  —  Derselbe,  The  second  battle  of  Moytura, 
Revue  Celtique  XII,  S.  52.  —  H.  Zimmer,  Germanen,  germanische  Lehnwörter  und  germa- 
nische Sagenelemente  in  der  ältesten  Überlieferung  der  irischen  Heldensage,  Zeitschr.  f.  deutsch. 
Altert.  XXXII,  S.  196.  —  R.  Thurneysen,  Sagen  aus  dem  alten  Irland,  Berlin  1901.  — 
Standish  H.  O'Grady,  Silva  Gadehca,  London  1892.  —  E.  Windisch,  Die  altirische  Helden- 
sage Täin  B6  CüaLnge,  Leipzig  1905.  —  L.  Winifred  Faraday,  The  Cattle-raid  of  Cualnge, 
London  1904.  —  Wh.  Stokes,  The  Destruction  of  Da  Derga's  Hostel,  Paris  1902.  — 
W.  M.  Hennessy,  Mesca  Ulad,  Dublin  1884.  —  G.  Henderson,  Bricriu's  Feast,  Irish  Texts 
Societ}'  II,  London  1899.  —  K.  Me-ver,  Death-tales  of  the  Ulster  Heroes,  Dubhn  1906.  — 
H.  Zimmer,  Ursprung  und  Entwickelung  der  Finn(Ossian)-Sage;  die  Vikinger  Irlands  in  Sage, 
Geschichte  und  Recht  der  Iren,  Zeitschr.  f.  deutsch.  Altert.  XXXV,  S.  i.  —  L.  C.  Stern,  Die 
ossianischen  HeldenHeder,  Zeitschr.  f.  vgl.  Lit.  Gesch.  N.  F.  VIII,  S.  51.  —  Wh.  Stokes, 
AcaUamh  na  Senörach,  Leipzig  1900.  —  K.  Meyer,  The  Battle  of  Ventr>',  Oxford  1885.  — 
Wh.  Stokes,  Togail  Troi,  The  Destruction  of  Troy,  Calcutta  1882  und  Irische  Texte  lU, 
S.  I.  —  K.  Meyer,  Die  irische  Alexandersage,  Irische  Texte  IP,  S.  i.  —  Derselbe,  Meru- 
gud  Uilix,  The  Irish  Odyssey,  London  1886.  —  Wh.  Stokes,  The  Gaelic  Abridgement  of 
the  Book  of  Ser  Marco  Polo,  Celt.  Zeitschr.  I,  S.  245.  —  Derselbe,  The  GaeHc  Maunde- 
ville,  ebda.  III,  S.  i.  —  F.  N.  Robinson,  Two  fragments  of  an  Irish  romance  of  the  Holy  Grail, 
ebda.  IV,  S.  381.  —  Derselbe,  The  Irish  Life  of  Guy  of  Warwick,  ebda.  VI. 

Zu  III.  The  Annais  of  Tigernach ,  herausgeg.  v.  Wh.  Stokes  ,  Rev.  Celt.  XVII.  —  The 
Annais  of  Ulster,  herausgeg.  v.  W.  M.  Hennessy  and  B.  Mac  Carthy,  Dublin  1887— 1901.  — 
Chronicon  Scotorum,  herausgeg.  v.  W.  M.  Hennessy,  Dublin  1866.  —  The  Annais  of  the 
Kingdom  of  Ireland,  herausgeg.  v.J.  O'Donovan,  Dublin  1848—51.  —  Three  Fragments  of 
Irish  Annais,  herausgeg.  v.  J.  O'Donovan,  Dublin  1860.  —  The  Annais  of  Clonmacnoise, 
herausgeg.  v.  D.  Murphy,  Dublin  1896.  —  Wh.  Stokes,  The  Boroma,  Rev.  Celt.  XIII,  S.  32.  — 
The  War  of  the  Gaedhil  with  the  Gaill,  herausgeg.  v.  J.  H.  TODD,  London  1867.  —  Alex. 
Bugge,  Caithreim  CeUachäin  Caisil,  The  Victorious  Career  of  Cellachan,  Christiania  1905.  — 
K.  Meyer,  The  Expulsion  of  the  Dessi,  Y  Cymmrodor  XIV,  S.  loi. 

Zu  IV.  Ancient  Laws  of  Ireland,  Dublin  1865 — 1901.  —  H.  D'Arbois  de  Jubain\tlle, 
Etudes  sur  le  droit  celtique,  Paris  1895.  —  The  Book  of  Rights,  herausgeg.  v.  J.  O'DONOVAN, 
Dublin  1847.  —  The  Law  of  Adamnan,  herausgeg.  v.  K.  Meyer,  Oxford  1905.  —  The  Law 
of  Sunday,  herausgeg.  v.  J.  G.  O'Keeffe,  Eriu  II,  S.  189.  —  Wh.  Stokes,  The  Irish  Ordeals, 
Irische  Texte  III,  S.  183. 

Zu  V.  Colgu's  Scüap  Chräbuid,  herausgeg.  v.  K.  Meyer,  Otia  Merseiana  II,  S.  92.  — 
The  Ever-new  Tongue,  herausgeg.  v.  Wh.  Stokes,  Eriu  II.  —  R.  Atkinson,  The  Passions 
and  Homilies  from  Leabhar  Breac,  Dublin  1887.  —  H.  Zimmer,  Brendans  Meerfahrt,  Zeitschr. 
f.  deutsch.  Altert.  XXXIII,  S.  129  u.  257.  —  Wh.  Stokes,  The  Tripartite  Life  of  Patrick, 
London  1887.    —    Derselbe,    Lives    of  Saints  from  the  Book   of  Lismore,    Oxford  1890.    — 


Kl'NO  Meyer:  Literatur.  ,-j 

K.  Mkykr.    An  Old  Insh  trcatisc  on  tlie  Psalter  fHibemica  Minora_ ,    nviorn   i-.';4.  her 

selbe.    The  \'ision  of  Mac  Conglinnc,    London   i8«»2.    —    \Vn.  Stokes.   The  Martyrolo|fy  of 
Ocnjfus  thc  CuUlec.  London  1905.   —    Derselbe.  The  Martyrolojjy  ofdorman,  London  i»95. 
K.  Meyer,    King   and    Hcrmit,    London   1901.    —     Derselbe,    Thc    llennit's    Song    fEriu  M. 
S.  55).  —  D.  HVDE,  Thc  Rcligious  Songs  of  Connacht,  Dublin  I9«J7- 

Zu  VL  Connac's  Glossar>',  herausgeg.  v.  Wh.  Stokes,  Caicutl.i  1  •.,-,.  —  R.  Thlr- 
NEYSEN,  Irische  Verslehren,  Irische  Texte  III.  —  Th.  Olden,  On  the  Ckrography  of  Ros 
Ailithir,  Proc.  R.  Ir.  Acad.  Vol.  II.  ser.  IL 

Zu  VII.  K.  Mkyer.  Thc  Triads  of  Ircland,  Dublin  1906.  —  E.  HULL,  Thc  Instruction 
of  CuchuIIin  to  a  Princc,  Thc  Cuchullin  Saga,  London  i8<>8,  S.  220. 

Zu  VIII.  K.  Mkyer,  TotcnkUigc  um  Niall,  in  der  Festschrift  für  Wh.  Stokes,  Leipzig 
1900.  —  Thc  Voyagc  of  Bran,  herausgeg.  v.  K.  Meyer,  London  1895.  —  K.  Meyer,  The 
Song  of  Cerballs  sword  Rcv.  Celt.  XX,  S.  7).  —  Standi.sh  M.  OGrady,  Cataloguc  of  Irish 
Mss.  in  thc  British  Museum.  —  K.  Mkyer,  Liadain  and  Curithir,  London  1902.  —  Der- 
selbe. Song  of  thc  Sca,  Otia  Mcrseiana  II,  S.  76.  —  Derselbe,  The  Song  of  the  old  Woman 
of  Beare.  ebda.  I,  S.  iio.  —  Derselbe,  Four  Songs  of  Summer  and  Winter,  London  1003.  — 
DoucL.\s  Hyde.  Lovesongs  of  Connacht,  Dublin  1893. 


Dra    Kl-ITVK    DC«    OlOKMWAaT.      I.  II.    I. 


B.  DIE  SCHOTTISCH- GÄLISCHE  UND  DIE  MANX- LITERATUR. 

Von 
Ludwig  Christian  Sterx. 

I.  Die  schottisch -gälische  Literatur. 

In  irischer  L  Die  Literatur  vor  der  sprachlichen  Trennung  vom  Irischen. 

Sprache.  j)jg  Einheit  der  Sprache,  die  die  Scottia  minor  mit  der  Scottia  maior  verband, 
hat  bei  den  Galen  der  schottischen  Hochlande  und  der  westlichen  Inseln,  den 
Albanern,  wie  sie  sich  selbst  nennen,  das  ganze  Mittelalter  hindurch  eine 
selbständige  Literatur  nicht  entstehen  lassen.  Auch  an  der  Entwickelung  der 
irischen  haben  sie,  abseits  vom  Mutterlande  sitzend,  einen  wesentlichen  Anteil 
nicht  gehabt.  Als  das  älteste  Denkmal  des  Schottisch -Gälischen  betrachtet 
man  ein  lateinisches  Evangeliarium  des  9.  Jahrhunderts.  Darin  finden  sich 
sechs  Eintragungen  in  gälischer  Sprache  über  Landschenkungen  an  das 
Columbanische  Kloster  Deer  in  Aberdeenshire  aus  dem  11.  und  12.  Jahr- 
hundert, die  mit  dem  damaligen  Irischen  verglichen  eine  gewisse,  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  in  dem  albanischen  Volksdialekte  der  Zeit  be- 
gründete, Unregelmäßigkeit  der  Aussprache  zeigen.  Im  übrigen  aber  sind 
die  alten  gälischen  Handschriften,  die  in  Schottland  erhalten  geblieben 
sind,  nach  Schrift  und  Sprache  irisch;  auch  eine  Erzählung  vom  tragischen 
Tode  der  Söhne  Uisnechs  und  der  schönen  Deirdre  (Darthula),  die 
zweifellos  schottischen  Ursprungs  ist,  gehört  der  irischen  Literatur  an.  Die 
berufsmäßigen  Barden  der  albanischen  Edelleute  pflegten  in  alter  Zeit 
nach  Irland  zu  gehen,  um  die  gälische  Poetik  zu  lernen  und  ihre  Gedichte 
sind  irisch,  wenn  sie  auch  gelegentlich  dialektische  Eigentümlichkeiten 
haben.  Namentlich  auf  den  Inseln  scheint  sich  irische  Sprache  und  Schrift 
lange  erhalten  zu  haben,  so  auch  in  dem  Roten  und  Schwarzen  Buche 
der  Macvurichs,  der  Hausbarden  der  Macdonalds  im  16.  und  17.  Jahrhundert, 
die  außer  Oden  und  Elegieen  die  Geschichte  ihrer  Patrone  und  die  Kriege 
des  Grafen  Montrose  enthalten.  So  wenig  war  man  sich  in  Schottland 
einer  eigenen  Schriftsprache  bewußt,  daß  John  Carswell,  der  Bischof  der 
Inseln,  1567  für  seine  Landsleute  John  Knox'  Liturgie  ins  rein  Irische 
übersetzte.  Einen  Fortschritt  zeigte  '  dieser  erste  gälische  Druck  insofern, 
als  er  für  die  bis  auf  den  heutigen  Tag  in  Irland  gebräuchlichen  alter- 
tümlichen Schriftzeichen  die  lateinische  Type  einführte,  die  auch  der 
gälische  Katechismus  Calvins  von  1631  und  alle  folgenden  schottisch- 
gälischen  Drucke  beibehielten. 


I.  Die  schottisch -gälischc  Literatur.     II.  Ossian  und  F:n^al.  ng 

Den  Cberyi^ang-  der  schottischen  Sprache  vom  Irischen  zum  Alba-  ih.  r>«M'« 
nischen  läßt  in  gewisser  Weise  die  Sammlung  gälischer  Gedichte  erkennen,  '*****'^ 
die  zwischen  15 12  und  1542  James  Macgrogor,  der  Dechant  von  Lismore, 
einer  kleinen  Insel  in  Argyllshire,  machte.  Das  ist  das  kostbare  Dean's 
Book,  jetzt  in  Advocates'  Librarj'  in  Edinburg,  das  älteste  eigentlich 
albanische  Buch,  das  erhalten  ist.  Es  ist  in  kursiven  Zügen  geschrieben, 
nicht  in  der  gewohnten  historisch -etymiologischen  Weise,  sondern,  recht 
unbeholfen  und  ungleich,  nach  der  damaligen  Aussprache  phonetisch;  seine 
Sprache  ist  irisch,  aber  ohne  Zweifel  sind  in  ihrer  Wiedergabe  wichtige 
Eigenheiten  des  albanischen  Dialekts  überliefert.  Auch  der  Inhalt  dieses 
Duanaire  oder  Liederbuchs  gehört  vorwaltend  zu  Schottland,  und  neben 
irischen  treten  hier  zum  erstenmal  schottische  Barden  auf,  die  sich  den 
Forderungen  der  alten  gälischen  Verskunst  gewachsen  zeigen.  Da  sind 
außer  mehreren  religiösen  Stücken,  um  einige  Beispiele  anzuführen,  Lob- 
gedichte auf  gälische  Häuptlinge,  ein  Gedicht  voll  Haß  gegen  die  'Sachsen* 
oder  Engländer,  ein  anderes  von  Seaan  von  Knoidart  auf  den  Mörder  des 
Königs  von  Islay  1490,  und  neben  derben  Satiren  auf  die  Frauen  einige 
zarte  Verse  der  Gräfin  Isabel  von  Argyll  über  die  verborgene  Liebe. 
Der  hervorragendste  unter  den  namhaft  gemachten  Dichtern  ist  vielleicht 
der  1525  gestorbene  Finlay  mac  Xab  von  Boquhan,  der  auf  einer  Insel 
des  Loch  Tay  zu  Hause  war  und  Barde  der  Macgregors  gewesen  zu  sein 
scheint.  Das  Buch  des  Dechanten  hat  dadurch  noch  besondere  Wichtig- 
keit, daß  es  eine  Anzahl  ossianischer  Gedichte  enthält  Volkslieder  der  Art 
sind  das  erste  gewesen,  was  von  keltischer  Literatur  überhaupt  über  deren 
Grenzen  hinausgedrungen  ist  und  ihre  Existenz  weithin  bekannt  gemacht  hat 

II.  Ossian  und  Fingal.  Im  Jahre  1756  veröffentlichte  Jerome  Stone,  Macph«rsooa 
ein  Schulmeister  in  Dunkeid,  im  Scots  Magazine  ein  Gedicht  'Albin  and  the  ^•»*»- 
daughter  of  May',  das  er  als  eine  Übersetzung  aus  dem  Gälischen  bezeichnete. 
In  der  Tat  liegt  ihm  die  gälische  Ballade  von  Fraoch,  der  von  einem  Drachen 
getötet  und  von  seiner  Geliebten  betrauert  wird,  zugrunde.  Einen  großen  Ein- 
druck konnte  das  Gedicht  mit  seinen  zwanzig  zehnzeiligen  Strophen  nicht 
machen,  aber  es  zeigt,  daß  man  unter  Übersetzung  in  jener  Zeit  schon  eine 
Nachdichtung  verstand,  in  der  die  Form  und  die  Ausdrucksweise  des  Originals 
und  selbst  die  Namen  willkürlich  geändert  waren.  Mehr  Aufsehen  erregften 
zwei  Lieder  in  poetischer  Prosa,  die  vier  Jahre  später  im  Edinburger 
Gentlemans  Magazine  erschienen:  das  eine  'Autumn  is  dark  on  the  moun- 
tains'  und  das  andere  'The  wind  and  the  rain  are  over'  beginnend.  Und 
in  demselben  Jahre  folgten  16  Fragmente  ähnlicher  Naturschilderungen 
mit  epischer  Beimischung  'translated  from  the  Galic  or  Erse  language*, 
und  als  der  Übersetzer  gab  sich  James  Macpherson  (1738— 1796),  ein 
junger  Theolog  aus  der  Gegend  von  Invemess,  zu  erkennen.  Noch  hatte 
sich  die  Aufregung  über  diese  merkwürdigen  Bruchstücke  alter  Poesie 
nicht   gelegt,   als    von    demselben   Macphersor      -'  '    ein    episches  Gedicht 


loo        Ludwig  Christian  Stern:  Die  schottisch -gälische  und  die  Manx- Literatur. 

Tingal'  in  sechs  Büchern,  mit  einer  Anzahl  kleinerer,  und  1763  ein  Epos 
'Temora'  in  acht  Büchern,  wieder  mit  kurzen  Beigaben,  aus  dem  Gälischen 
übersetzt  und  reichlich  mit  Anmerkungen  versehen,  in  London  erschienen. 
Jetzt  wurde  als  Dichter  der  Originale  Ossian  der  Sohn  Fingais  eines 
gälischen  Königs  von  'Morven'  im  3,  Jahrhundert  genannt.  Eine  wie 
lebhafte  Teilnahme  diese  Gedichte  in  der  ganzen  Welt  fanden,  beweisen 
die  zahlreichen  Ausgaben,  die  Übersetzungen  in  die  gebildeten  Sprachen 
{Goethe,  Herder,  Bürger  sind  unter  den  Übersetzern),  die  Kommentare,  die 
man  dazu  geschrieben,  und  der  Streit,  den  man  mehr  als  hundert  Jahre 
über  ihre  Echtheit  geführt  hat.  Die  sanfte  Schwermut  ('the  joy  of  grief), 
die  auf  dieser  Poesie  ruht,  gewann  dem  unvergleichlichen  Dichter  in  einem 
zum  Sentimentalen  geneigten  Zeitalter  immer  wieder  Bew^underer  und  Freunde. 
'Thy  song  is  lovely,  o  Malvina,  it  is  lovely,  but  it  melts  the  souL'  Der  Nebel, 
in  den  in  Ossians  Gedichten  alles  gehüllt  ist,  verleiht  ihnen  etwas  Geheimnis- 
volles,  das  fesselt,  wenn  auch  das  einzelne  undeutlich  darin  verschwimmt. 

'Aus  dem  Gälischen  übersetzt'  —  diese  Kette  mußte  Macpherson  zeit- 
lebens tragen,  da  er  den  ungestümen  Drängem  die  Originale,  die  seinen 
Übersetzungen  ungefähr  entsprochen  hätten,  etwa  wie  die  Stones,  mochten 
sie  nun  aus  Handschriften  oder  aus  mündlicher  Überlieferung  genommen 
sein,  nicht  vorzeigen  konnte.  So  ward  er  auf  den  Abweg  geführt,  den 
er  schon  1763  mit  dem  siebenten  Buche  des  'Temora'  betreten  hatte, 
indem  er  verschwiegene  Freunde,  die  etwas  mehr  von  der  Sprache  ver- 
standen, ins  Vertrauen  zog  und  mit  ihrer  Hilfe  etwa  zwei  Drittel  seiner 
Jugendpoesie en  wörtlich  ins  Gälische  übersetzt  hinterließ.  Diese  gemachten, 
von  Th.  Ross  durchgesehenen  Originale  erschienen  1807  und  viele  glaubten 
daran.  Aber  die  Sprache  hat  kein  Alter,  die  Poesie  keine  Form,  und 
selbst  als  modernes  Gälisch  hält  die  stümperhafte  Arbeit  eine  Prüfung 
nicht  aus.  Die  Iren  verlachten  sie  und  die  Bergschotten,  unter  die  man 
eine  Ausgabe  der  'Dana  Oisein'  gratis  verteilte,  lasen  sie  nicht,  weil  sie  von 
aller  Poesie,  die  sie  kannten,  zu  verschieden  und  ihnen  unverständlich  waren. 
Das  liegt  heute  alles  klar  vor  uns  und  ein  Zweifel  ist  nicht  mehr  gestattet. 

Trotzdem  hatten  so  viele  Männer  aus  dem  Volke  bezeugt,  ja  be- 
schworen, daß  ihnen  die  gälischen  Gedichte  Ossians  von  Jugend  auf  be- 
kannt seien  und  daß  sie  im  Munde  vieler  noch  fortlebten.  Macpherson 
kannte  die  anspruchslosen  Balladen,  die  gemeint  waren,  sehr  wohl,  aber 
er  schämte  sich  ihrer.  Ganz  mit  Unrecht,  denn  sie  sind  wenigstens  in 
unverfälschter  Sprache  alt  überliefert,  sie  haben  eine  poetische  Form,  sie 
verwirren  die  Sagen  nicht,  sie  haben  keine  sinnlosen  Namen  und  keine 
Anklänge  an  die  Bibel  und  die  KUassiker,  und  wenn  sie  nicht  so  hochtrabend 
im  Ausdrucke  sind,  so  kranken  sie  auch  nicht  an  Empfindsamkeit.  Dies 
waren  die  wirklichen  Originale  Macphersons,  denen  er  hier  und  dort  etwas 
von  der  Erzählung  und  in  seltenen  Fällen  ein  paar  Verse  in  seinem  eng- 
lischen Ossian  entnommen  hat,  dessen  gälischen  Wortlaut  er  aber  ver- 
gessen hatte,  als  er  es  ins  Gälische  zurückübersetzte. 


I.  Die  schottisch  -  galjschc  Literatur.     II.  Ossian  und  Kingal.  lOi 

Schon  die  erwähnte  Hand.schrift  des  Üechanten  von  Llsmore  enthält  o.ria«i»ch« 
dreißig  ossianische  Balladen,  und  nach  dem  Zeugnisse  des  Bischofs  Cars-  "•"•"*'^- 
well  stand  diese  Poesie  in  Schottland  in  der  Mitte  des  i6.  Jahrhunderts 
in  der  Blüte.  Das  meiste  davon  hatte  sich  in  ungeschriebener  Über- 
lieferung- bis  ins  i8.  Jahrhundert  erhalten.  Und  das  ist  der  Hauptnutzen, 
den  Macphersons  Fiktion  gestiftet  hat,  daß  man  jenes  alte  Buch  wieder 
zu  Ehren  brachte  und  eifrig-  nach  gälischen  Volk.sliedem  forschte,  weniger 
zwar  in  Irland,  wo  man  den  Betrug  nie  bezweifelt  hat,  als  in  Schottland, 
wo  man  den  Betrüger  glaubte  rechtfertigen  zu  können.  Aus  neuen  Hand- 
schriften, die  in  den  Hochlanden  hier  und  dort  auftauchten,  und  aus  dem 
mündlichen  Vortrage  der  einheimischen  Rhapsoden  hat  man  in  der  zweiten 
Hälfte  des  i8.  Jahrhunderts  wohl  alles,  was  an  ossianischer  Poesie  noch 
aufzutreiben  war,  gesammelt:  außer  einer  Anzahl  des  Gälischen  kundiger 
Bergschotten  haben  sich  auch  die  Engländer  Th.  Hill  und  der  Bischof 
Young  darum  verdient  gemacht.  Manches  wurde  schon  damals  veröffent- 
licht, aber  erst  hundert  Jahre  später  wurden  die  Sammlungen  durch 
J.  F.  Campbell,  der  gegen  60000  Zeilen  (das  sind  etwa  100  verschiedene 
Balladen)  drucken  ließ,  und  durch  AI.  Cameron  allen  zugänglich. 

Die  ossianische  Balladendichtung  läßt  sich  bis  ins  1 2.  Jahrhundert 
zurückverfolgen  und  ihre  Entwickelung  hat  mit  der  Sprache  gleichen 
Schritt  gehalten.  Die  mittelirische  Ballade  wurde  durch  die  neuirische 
ersetzt  (das  wertvollste  Denkmal  dieser  ist  das  'Duanaire  Fhinn'  von  1627), 
und  die  neuirische  Ballade  wurde  dem  Verständnis  der  schottischen  Galen 
angepaßt,  umgestaltet,  gekürzt,  erweitert.  Der  Dechant  von  Lismore  hält 
Ossian  für  den  Verfasser  der  meisten  von  ihm  aufgenommenen  Lieder, 
aber  von  einigen  kannte  er  auch  die  wirklichen  schottischen  Dichter,  Alan 
mac  Ruaraidh,  Gilla  Caluim  mac  an  ÜUaimh,  Caoch  Ü'Cluain.  Noch  im 
17.  und  1 8.  Jahrhundert  sind  ossianische  Balladen  in  den  schottischen  Hoch- 
landen entstanden,  obschon  hier  die  Kenntnis  der  alten  irischen  Sagen, 
auf  die  sie  Bezug  nehmen,  und  das  Verständnis  der  irischen  Topographie, 
die  ihren  Hintergrund  bildet,  mehr  und  mehr  schwanden.  Die  Pflege  des 
Heldenliedes  lag  hier  meist  in  der  Hand  ungelehrter  Rhapsoden  und 
daraus  erklärt  sich,  daß  die  irischen  Fassungen  den  albanischen  wie  durch 
Reichtum,  Kraft  und  Korrektheit  der  Sprache,  so  vielfach  auch  durch 
poetischen  Gehalt  überlegen  sind.  Auch  die  metrische  Form  der  sieben- 
silbigen  Verse  hat  in  der  schottischen  Überlieferung  gelitten.  Die  Texte 
verschlechtern  sich  mit  der  Zeit  zusehends,  sie  erhalten  im  18.  Jahrhundert 
macphersonsche  Zutaten,  und  die  letzten  Aufzeichnungen,  die  man  hat, 
lassen  keinen  Zweifel,  daß  der  Baum  dieser  eigenartigen  Poesie,  Laub 
und  Stamm,  längst  welk  und  verdorrt  ist. 

Einige  der  schottisch-gälischen  Balladen  betreffen  die  alten  Sagen 
von  Ulster:  die  Helden  um  König  Conchobar,  der  angeblich  am  Anfange 
unserer  Zeitrechnung  lebte,  Cüchulinn,  Fraoch,  Deirdre,  deren  Geschichte 
teilweise  in  Schottland  spielt.     Aber  bei  weitem  die  meisten  gehören  dem 


I02        Ludwig  Christian  Stern:  Die  schottisch -gälische  und  die  Manx- Literatur. 

jüngeren  Sagenkreise  des  Finn  mac  Cumaill  an,  der  als  der  Häuptling 
der  bevorrechteten  Kriegerkaste  der  Fianna  im  3.  Jahrhundert  unter  dem 
irischen  Oberkönige  Cormac  gelebt  haben  soll.  In  seiner,  wenn  man  so 
sagen  darf,  historischen  Gestalt  finden  sich  mythologische  Züge,  die  dem 
Finn  mac  Nuadha  eigentümlich  zu  sein  scheinen  —  jenem  Gw^nn  ab  Nudd, 
der  bei  den  Walisern  der  König  der  Elfen  ist.  Finns  Sohn  Oisin  oder 
Oisean  (Ossian)  wurde  von  der  Sage  als  der  Dichter  erkoren,  der  die 
Taten  seines  Stammes  gefeiert  und  seinen  Untergang  beklagt  haben  soll. 
Er  soll  femer  so  hohe  Jahre  erreicht  haben,  daß  er  noch  die  Ankunft  des 
heiligen  Patricius,  des  Apostels  der  Iren,  erlebte  und  mit  Widerstreben 
den  Glauben  annahm.  Daher  haben  viele  Gedichte  die  Form  des  Zwie- 
gesprächs zwischen  Ossian  und  Patrick.  Der  König  Finn  oder  Fingal 
(diese  Form  des  Namens  prägte  man  in  Schottland  aus  Fionn  Gaidheal 
'Finn  der  Gäle')  tritt  in  den  Gedichten  seltener  hervor,  obschon  er  der 
Mittelpunkt  ist,  um  den  sich  die  Helden  scharen;  er  heißt  mitunter  der 
von  Albain  'Schottland',  was  aus  Almhain,  seiner  Burg  in  Irland,  entstellt 
ist.  Die  Gegenstände  der  schottisch-gälischen  Balladen  sind  kühne  ICriegs- 
züge,  blutige  Zweikämpfe,  verfolgte  Jungfrauen,  Jagdabenteuer,  Zauberer 
und  Hexen,  das  tragische  Ende  der  einzelnen  Helden  und  Ossians  Klagen. 
Häufiger  als  in  Irland  werden  Feinde  aus  Lochlan  oder  Skandinavien 
eingeführt,  und  berühmt  ist  der  Kampf  Fingais  mit  König  Magnus  Barbein. 
Die  Balladensprache  hat  noch  nicht  durchaus  den  irischen  Charakter  ver- 
loren. Aber  gleichwohl  war  Ossian  wirklich  der  Homer  der  schottischen 
Galen.  Alle  waren  vertraut  mit  seinen  Helden,  mit  dem  honigmundigen 
Sänger  Fergus  seinem  Bruder,  seinem  tapferen  Sohne  Oscar,  dem  starken 
Recken  Goll,  dem  raschfüßigen  Cailte  und  Conan  mit  der  bösen  Zunge. 
Cothrom  na  Feinne  'das  Fiannenrecht'  galt  ihnen  als  Richtschnur  der 
Billigkeit,  und  Oisean  an  deigh  na  Feinne  'Ossian,  der  die  Fianna  über- 
lebt', ist  ihr  Gleichnis  für  traurige  Verlassenheit:  'einsam,  wie  der  Baum 
auf  dem  Hügel,  wie  der  Fels  in  der  Brandung,  wie  die  Nuß  in  ihrer  Hülse 
ohne  eine  Nuß  daneben,  lebte  er  nur  noch,  um  zu  sterben.'  Es  waren 
echt  keltische  Gestalten,  die  ihnen  kein  Fälscher  verdrängen  oder  ersetzen 
konnte,  nicht  'der  Wunsch  des  alten  Barden'  1776,  nicht  die  'alten 
Lieder'  {Seandäna)  von  J.  Smith  1787  und  nicht  die  noch  plumperen  kale- 
donischen  Bardengesänge  des  Clark   1778. 

Die  altern  III.  Die  Blütczcit  der  schottisch-gälischen  Poesie.    Die  eigent- 

Barden.  ^^^^  schottische  odcr  albanogälische  Sprache  hat  sich  allmählich  aus  der 
Volkssprache  entwickelt,  und  ihr  schriftlicher  Gebrauch  reicht  kaum 
über  die  zweite  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  zurück.  Ihre  Orthographie 
bleibt  noch  altertümlich,  etymologisch,  aber  die  Formen  haben  sich 
vom  Irischen  entfernt,  wie  sie  denn  z.  B.  den  nur  den  alten  Nasal- 
stämmen zukommenden  Plural  auf  an  zu  einer  fast  allgemeinen  Plural- 
endung ausgebildet  hat  und  die  irische  Eklipse  verliert;   auch  zeigen  sich 


I.   Die  schottisch -gälischc  Literatur.     III.  Die  Blütexeit  der  schottisch- gälischen  Poesie,      joi 

Unterschiede  in  der  Bedeutung^  der  Wörter,  wie  z.  B.  gaol  im  Irischen 
*  Verwandtschaft',  im  Albanischen  aber  'Liebe'  bedeutet  Diese  Sprache, 
die  nun  nicht  läng-er  ein  Dialekt  des  Irischen  heißen  kann,  herrscht  in  den 
schottischen  Hochlanden  (garbh  chrioch  na  Ilalban)  und  auf  den  Hebriden^ 
in  deren  Kette  Lewis,  Skye,  Mull  und  Islay  die  wichtij^-eren  Glieder  .sind. 
Sie  heißen  Innsc  Gall  'Die  Inseln  der  Fremden',  d.  i.  der  Skandinavier,  die 
hier  am  längsten  saßen,  sich  mit  den  Kelten  vermischten  und  in  Personen- 
und  Ortsnamen  überall  ihre  Spuren  hinterlassen  haben.  Die  Aussprache 
des  Albanogälischen  läßt  viele  Dialekte  erkennen,  im  allgemeinen  sondert 
sich  der  nördliche  von  dem  südlichen. 

Wie  in  der  Sprache  haben  sich  die  schottischen  Galen  von  den 
irischen  auch  in  der  Form  der  Poesie  getrennt,  indem  sie  die  silbenzählen- 
den Metra  des  schwierigen  Dan  dircc/i,  die  ihre  veränderte  Aussprache 
nicht  mehr  durchfühlen  ließ,  in  der  Mitte  des  i6.  Jahrhunderts  aufgaben 
und  unter  dem  Einflüsse  der  niederschottischen  Poesie  Strophen  von  akzen- 
tuierenden Versen  annahmen.  Die  Menge  und  Mannigfaltigkeit  der  Reime 
(oder  richtiger  Assonanzen)  und  der  Binnenreim  mit  wirkungsvollen  Allite- 
rationen verleihen  den  Versen  der  schottischen  Barden  immer  noch  großen 
vokalischen  Reiz.  Aber  indem  sie  sich  der  Zucht  der  irischen  Metrik  ent- 
zogen, verlernten  sie  sich  zusammenzuraffen  und  zerdehnten  dem  Gesänge 
zuliebe  ihren  Gehalt  in  endlose  Strophen,  Diese  Längen  sind  einer  ihrer 
Fehler.  Ein  anderer,  den  sie  von  den  Iren  übernommen  haben,  besteht 
in  der  Häufung  der  Eigenschaftswörter,  worin  sie  ihre  Künste  in  der 
Alliteration  zeigen. 

Obwohl  sich  die  schottisch -gälische  Sprache  im  17.  Jahrhundert  schon 
durchaus  befestigt  hatte,  so  sind  doch  nur  wenige  Handschriften  aus  ihrer 
frühesten  Zeit  erhalten  geblieben.  Eine  der  ältesten  ist  die  Anthologie 
des  Duncan  Macrae  von  Inverinate,  die  am  Ende  des  17.  Jahrhunderts 
entstand.  Dieses  sog.  Feraaig- Manuskript,  das  erbauliche  und  politische 
Gedichte  im  Dialekt  von  Kintail  enthält,  ist  wie  das  Dean's  Book  phonetisch 
geschrieben,  doch  weniger  kraus  und  schwierig.  Eine  andere  bemerkens- 
werte Sammlung  der  gälischen  Poesie  Schottlands  und  der  Hebriden  ver- 
dankt man  Hector  Maclcan  (ca.  1768),  in  dessen  Hause  auf  der  Insel  Mull 
Samuel  Johnson,  wie  er  erzählt,  einige  zuverlässige  Nachrichten  über  diese 
Literatur  empfangen  hat  Die  Galen  Schottlands  haben  eine  viel  regere 
Drucktätigkeit  entfaltet  als  die  Irlands.  Ihre  Anthologieen  von  der  Ranald 
Macdonalds  1776  bis  zu  der  A.  Maclean  Sinclairs  von  igoo,  viele  Sonder- 
ausgaben und  zahllose  in  die  Zeitschriften  verstreute  Gedichte  haben  uns 
sowohl  mit  den  Barden  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  als  mit  den  Dichtem 
des   18.  Jahrhunderts  bekannt  gemacht 

Im  lö.  bis  in  den  Anfang  des  i8.  Jahrhunderts  bestand  im  gälischen 
Schottland  noch  die  patriarchalische  Clanverfassung,  in  deren  Rangordnung 
{sreat/i)  den  Barden  {aosdana)  der  Platz  vor  dem  Arzte  gebührte.  Uralte 
Bräuche  scheinen  sich  unter  ihnen  bis  in  späte  Zeiten   erhalten  zu   haben; 


lOA       Ludwig  Christian  Stern:  Die  schottisch -gälische  und  die  Manx- Literatur. 

wenigstens  erinnert,  was  M.  Martin  1703  von  den  westlichen  Inseln  über 
die  Barden  erzählt,  daß  sie  bei  geschlossenen  Türen  und  Fenstern,  auf 
dem  Rücken  liegend,  mit  einem  Steine  auf  dem  Bauche  und  mit  verhülltem 
Kopfe,  ihre  Inspirationen  empfingen,  an  jenes  irische  Inibas  forosna,  von 
dem  der  Lexikograph  Cormac  berichtet.  Die  Hauptaufgabe  der  Barden 
war  die  Genealogie  der  Clan  und  den  Ruhm  des  Häuptlings  zu  pflegen. 
Sie  waren  die  Gelegenheitsdichter,  die  sich  bei  Geburten,  wichtigen  Ereig- 
nissen und  Todesfällen  in  der  Familie  mit  einem  Gedichte  einstellten.  Sie 
preisen  die  Häuptlinge  vom  'Stamme  des  Miles  von  Spanien',  'die  auch 
in  Irland  berühmt  sind',  als  'die  Pfeiler  in  der  Schlacht',  als  'die  Frieden- 
bringer  der  Inseln';  gedenken  ihrer  Großmut  und  Gastfreiheit;  erwähnen 
ihre  Kleidung,  ihre  Waffen,  ihre  Jagden  in  Wald  und  Fluß,  bald  auf  das 
Reh,  die  Wildgans,  den  Birkhahn  und  bald  auf  den  Lachs  und  die  Robbe, 
und  nehmen  teil  an  ihren  Festen  und  Freuden  in  ihren  Schlössern.  'Leier 
und  Harfe  und  schönbusige  Frauen',  sagt  lain  Lom  in  seinem  Gedichte 
an  Domhnall  Gorm,  'sind  in  dem  Turme,  wo  man  Schach  spielt;  da  sind 
Pfeifen  und  gestimmte  Instrumente  und  hochgefüllte  Becher,  und  Wachs- 
lichter erhellen  die  Nacht,  wenn  man  dem  Wettgesang  der  Barden  lauscht.' 
Vor  allem  ergötzte  man  sich  an  den  Mären  von  den  Lianna  [uirsgeul 
na  Fei7ine).  Die  friedlichen  Weisen  wurden  aber  oft  durch  schmetternde 
Kriegsgesänge  unterbrochen,  in  denen  die  Barden  die  häufigen  Fehden 
der  Clans  untereinander  und  die  langen  Kämpfe  um  das  Recht  des  Hauses 
Stuart  behandeln  —  die  Schlachten  von  Inverlochy  1645  und  Inverkeithing 
1651,  den  Mord  der  Macdonalds  von  Keppoch  1663,  die  Schlacht  von 
Killikrankie  1689,  das  Massaker  von  Glencoe  1692,  die  Schlacht  von 
Sheriffmuir  17 15  und  das  Ende  der  jacobitischen  Hoffnung  bei  Culloden 
1745.  Obwohl  die  Bardengedichte  großenteils  historisch  sind,  so  bringen 
sie  doch  keine  wichtigen  Nachrichten  über  die  Ereignisse  der  Zeit.  Denn 
die  Männer,  denen  die  Pflege  der  Poesie  oblag,  konnten  vielfach  weder 
lesen  noch  schreiben  und  lebten  in  engen  Kreisen,  aus  denen  sie  keinen 
Überblick  über  das  Ganze  haben  konnten.  Ihre  für  den  Gesang  verfaßten 
Lieder  auf  ihre  Lairds  geben  wohl  biographisches  Material,  aber  sie  leiden 
an  Unbestimmtheit  des  Ausdrucks  und  lassen  in  ihrer  Gleichförmigkeit 
Originalität  vermissen.  Auch  ihre  Elegieen,  die  wie  die  Leichpredigten 
disponiert  sind,  waren  wie  die  'Keenings'  der  irischen  Klageweiber  be- 
stimmt, bei  den  Leichenfeiern  ('wakes',  ^dX.  faire)  vorgetragen  und  gesungen 
zu  werden.     Und  das  Gewohnheitsmäßige  ist  der  Tod  aller  Poesie. 

Die  Zahl  der  albanischen  Dichter  und  Dichterinnen  des  16.  und  17.  Jahr- 
hunderts ist  sehr  groß,  doch  treten  nur  wenige  aus  der  Menge  hervor. 
Durch  natürliche  Anmut  der  schottisch -gälischen  Sprache  ist  Mary  Macleod 
ausgezeichnet,  die  Amme  der  Macleods  auf  Skye,  die  über  hundertjährig 
1674  starb.  Der  bedeutendste  aber  unter  den  Barden  ist  lain  Lom  Mantach 
oder  John  Macdonald,  der  jacobitische  Dichter  von  Lochaber,  der,  durch 
seine  politischen  Gedichte  von  Einfluß,  sich  der  Gunst  Karls  11.  erfreut  haben 


I.  Die  schotlisch  gälischc  Literatur.     I\'.  Uic  neuere  Poesie.  105 

soll  und  hochbetagt  1709  starb.  Zu  nennen  .sind  auch  Roderick  Morison 
an  Clarsair  dall^  der  letzte  Harfner  (geb.  1646),  John  Mackay  an  Ftuhaire 
doli  {^vh.  1666),  der  seine  Zuhörer  auf  der  Sackpfeife  entzückte,  und  John 
Roy  Stuart,  der  unerschrockene  Kriegsmann,  der  bei  CuUoden  dabei  war. 

1\'.  Die  neuere  Poesie.  Nach  der  Vereinigung  Schottlands  mit  ling-  Aimadrr 
land  und  vollends  nach  der  Bewältigung  der  jacobitischen  Aufstände  brach  '  '^'*°"^'* 
für  die  albanischen  Galen  eine  neue  Zeit  an.  Der  Sieger  wollte  alles 
Nationale  ausrotten,  um  den  engen  Zusammenschluß  der  Galen  'Schulter 
an  Schulter'  für  immer  zu  verhindern.  Das  Clansystem  wurde  aufgehoben 
und  die  erbliche  Gerichtsbarkeit  ihnen  genommen.  Sie  wurden  entwaffnet 
und  1747  mußten  sie  ihre  für  Reise,  Jagd  und  Krieg  .so  geeignete 
Tracht,  das  l'artanplaid  {hreacan)  und  das  piktische  Kilt  {Jeilc)^  ablegen 
und  die  verhaßten  Hosen  anziehen,  die  beim  Ersteigen  der  Berge  unbequem 
sind,  mit  denen  man  einen  Fluß  nicht  durchwaten  kann.  Jahrzehnte  dauerte 
dieses  Gesetz.  Nun  war  es  mit  den  Barden  freilich  zu  Ende,  aber  die  Poesie 
lebte  fort,  denn  die  Sprache  war  noch  nicht  erschöpft,  und  bald  hörte  man 
von   der  'Auferstehung  des  alten  albanischen  Gesanges'. 

Im  Anfange  des  18.  Jahrhunderts  wurde  der  genialste  Dichter  geboren, 
der  in  schottisch -gälischer  Sprache  gedichtet  hat,  Alexander  Macdonald 
Mac  Mhaighstir  Alasdair  von  Ardnamurchan.  Er  erhielt  als  Sohn  eines 
protestantischen  Geistlichen  eine  gelehrte  Bildung  und  hatte  neben  einer 
tiefen  Kenntnis  seiner  Muttersprache  (er  hat  1741  ein  gälisch- englisches 
Vokabular  veröffentlicht)  einen  entschiedenen  Beruf  zum  Dichter.  Er  hat 
ein  wechselvolles  Leben  geführt,  war  ein  eifriger  Anhänger  der  Jacobiten, 
ward  Katholik  und  soll  im  Elend  verkommen  sein.  Eine  kleine  Samm- 
lung seiner  Gedichte  ließ  er  1751  drucken;  viele  seiner  Poesieen  sind  ver- 
loren gegangen,  und  seine  Landsleute,  die  ihm  unter  den  gedruckten  die 
'Lästerung  Morags'  und  die  'Elegie  der  Aigennach'  sehr  verdachten,  haben 
nichts  getan,  sie  zu  erhalten.  Macdonald  war  gewissermaßen  der  Tyrtäus  im 
Heere  des  Prinzen  Karl  Eduard  'vom  Stamme  Banquos',  de.ssen  Getreue  er 
in  einer  'Arche'  vereinigen  möchte,  um  alle  seine  Widersacher  durch  eine 
Sintflut  verschlingen  zu  lassen.  Seine  politischen  Gedichte  sind  kühn  und 
scharf;  wie  hoch  er  die  Clan  Macdonald,  die  den  'Löwen'  im  Wappen 
fuhrt,  preist,  so  bitter  ist  seine  Satire  auf  die  Seaforths,  deren  Wappen  das 
'Hirschgeweih'  {cabar-/tHd/i)  ist  Er  besingt  die  gälische  Sprache,  die  allen 
Sprachen  überlegen  ist  und  die  im  Paradiese  gesprochen  wurde,  die 
Kleidung  der  Bergschotten,  die  kriegerische  Sackpfeife  und  den  Whi.skey, 
den  man  aus  der  Kammuschel  {slige-chreachain)  trinkt,  dessen  Rieseln  aus 
der  Flasche  wie  Musik  ist.  Auch  im  Liebeslied  ist  er  vorzüglich.  Er  hat 
seiner  Frau  Jane  ein  schönes  Denkmal  gesetzt,  aber  glühender  sind  seine 
Verse  auf  Morag,  die  als  ein  'pibroch'  {p)obaircachd)  den  verschiedenen 
Tönen  der  Sackpfeife  angepaßt  sind.  Anmutend  .sind  .seine  Schilderungen 
der  schottischen  Berglandschaft  in  ihrer  Sommerschönheit,  aber  unvergleich- 


io6       Ludwig  Christian  Stern:  Die  schottisch -gälische  und  die  Manx- Literatur. 

lieh  ist  er  als  Dichter  des  Meeres.  Man  hat  von  ihm  ein  Ruderlied  [iorram 
cuain)  und  ein  längeres  Gedicht  (ca.  600  Verse)  über  die  Meerfahrt  der 
Barke  Clanranalds,  des  Herrn  der  Insel  Canna  [Birlinii  Clainn  Ranald).  Es 
ist  in  wechselnden  Versmaßen  abgefaßt,  wie  alle  Gedichte  für  den  Gesang 
geeignet  und  wohl  gegliedert.  '^  Segne  Gott  das  Schiff  Clan-Ranalds!' 
und  nach  dem  SchiflFssegen  kommt  der  Segen  der  Kleider  und  der  Waffen 
mit  der  Ermahnung,  allen  Gefahren  beherzt  entgegenzugehen.  Dann  rudert 
man  zum  Segelplatze  zur  ersten  Ausfahrt,  wobei  der  dicke  Calum  am  ersten 
Ruder  das  Ruderlied  anstimmt.  Am  Segelplatze  inUist  Won  den  Wildgänsen' 
werden  nun  vom  Schiffsherrn  den  1 6  Personen  der  Bemannung  ihre  Posten  an- 
gewiesen. Am  St.  Brigittenfeste  (am  i.  Februar)  bei  Sonnenaufgang  bricht 
man  von  Loch  Ainneart  in  Süd-Uist  auf.  Aber  der  Himmel  wird  bald  bedroh- 
lich und  zeigt  jede  Farbe,  die  im  Tartan  ist.  Das  Meer  zieht  seinen  rauhen 
zottigen  Mantel  an  und  sperrt  brüllend  seinen  Rachen  auf  In  der  Be- 
schreibung des  Unwetters,  das  losbricht,  läßt  der  Dichter  seiner  Phantasie 
freien  Lauf,  aber  man  merkt,  daß  er  den  wilden  Kampf  der  Elemente 
in  Sturm  und  Gewitter  erlebt  hat.  Das  Fahrzeug  wird  arg  mitgenommen; 
aber  als  sich  der  Wind  beim  Kreuz  an  Islays  Sunde  endlich  legt,  kann 
man  den  letzten  Teil  der  Reise  mit  den  Rudern  zurücklegen  und  auf  der 
Reede  vor  Carrickfergus  vor  Anker  gehen.  Die  Birlinn  Clan-Ranalds  ist 
das  längste  und  beste  Gedicht  in  schottisch -gälischer  Sprache,  wenn  auch 
manche  Verse  die  Feile  vermissen  lassen.  Macdonald  hat  Kraft  und  Ori- 
ginalität, wohl  ist  er  mitunter  nachlässig,  aber  niemals  schwächlich. 
Dichter  des  Nach  Macdouald  sind  noch  einige  andere  namhafte  Dichter  des  18.  Jahr- 

'^■~'^-^^^'"  hunderts  zu  nennen.     John  Maccodrum,  der  Barde  des  Sir  John  Macdonald 

hunderts.  •'  '  •' 

auf  Nord-Uist,  war  der  letzte  Barde,  auf  den  der  Name  paßt,  seinem  Herrn 
ergeben  und  von  Liebe  für  seine  Heimat,  die  waldlose  Insel  mit  ihrer  eigen- 
artigen Schönheit,  erfüllt.  Maccodrum  kannte  die  gälische  Sprache,  die  er 
allein  verstand,  gründlich,  wie  seine  Gedichte  über  die  Jugend  und  das  Alter, 
über  das  Nationalgetränk  u.  a.  m.  beweisen.  Er  hatte  eine  satirische  Ader 
und  war  im  Wortspiele  stark,  wie  einst  James  Macpherson  erfahren  mußte. 
Niemand  wäre  so  befähigt  gewesen,  ihm  die  gesuchten  Originale  zu  liefern 
als  Maccodrum,  der  ossianische  Gedichte  stundenlang  rezitieren  konnte. 

Ein  beschreibender  Dichter  von  vorzüglicher  Sprachbeherrschung  ist 
Duncan  Macintyre  oder  Donnchadh  Bän  nan  öran  (1724 — 1812),  den  manche 
noch  über  Macdonald  stellen.  Er  war  ein  Weidmann,  der  mit  der  Flinte 
und  der  Angelrute  besser  Bescheid  wußte  als  mit  der  Feder:  die  erste 
Ausgabe  seiner  Gedichte  wurde  1764  nach  dem  Diktat  gemacht.  Seine 
Sprache  ist  einfach,  gefällig,  angemessen,  keusch.  So  beschreibt  er  die 
waldigen  Höhen  von  Ben  Dorain  mit  ihren  Hirschen  und  Rehen  und  ihren 
Vögeln,  groß  und  klein,  und  die  Schlucht  von  Corrie  Ceathach  mit  ihrem 
üppigen  Grün  und  ihrem  Sommersegen,  und  den  Lachs  in  ihrem  Bache. 
Sein  Herz  war  im  Hochlande  und  er  machte  große  Augen,  als  er  nach 
Edinburg  kam;  noch  in  hohem  Alter  denkt  er  in  empfundenen  Versen  an 


I.  Die  schottisch  galjschc  Literatur.     \'.  Märchen,  Sprichwörter  und  Trusavcrsuchc.      107 

die  glücklichen  Tage  in  seiner  Heimat  zurück.  Er  preist  die  gälische 
Sprache  und  die  Sackpfeife,  und  sein  schönes  Gedicht  an  seine  Frau  Mary  ist 
sanft  und  liebreich.  Aber  ihm  stand  auch  die  Satire  {aoir)  zur  Verfügung, 
wie  denn  mehrere  Personen  seinen  Zorn  über  sich  ergehen  lassen  mußten. 

Doch  den  Ruhm  des  gälischen  Satirikers  hat  ein  anderer  ungelehrt<-r 
Dichter,  Robert  Mackay  oder  Rob  Donn  (1714 — 1778),  der  in  Suthcrlaud- 
shire  (Reay's  country)  Viehaufseher  war.  Seines  Wertes  sich  bewußt,  war 
er  ein  strenger  Sittenrichter  ohne  Ansehen  der  Person  und  wegen  seiner 
bösen  Verse  weit  und  breit  im  Lande  gefürchtet;  doch  ist  er  in  seinen 
Angriffen  nicht  selten  kleinUch.  Im  Liebeslied  i.st  er  weniger  hervorragend  als 
in  der  Elegie  und  in  der  ethischen  Betrachtung,  wie  in  'dem  Traume'  iam 
bntadnr)^  wo  er,  an  Addison  im  vSpectator  erinnernd,  die  Zufriedenheit 
predigt.  Es  fehlt  ihm  an  Wärme  und  Phantasie,  aber  für  den  Dialekt  seiner 
Heimat,  die  er  nie  verlassen  hat,  sind  seine  Gedichte  sehr  bemerkenswert. 

Ein  liebenswürdiger  Dichter  der  Natur  und  der  Liebe  ist  William  Ross 
(1762 — 1790);  auch  er  ist  gelegentlich  satirisch,  doch  nicht  so  sehr  wie 
Ailean  Dali  (7  1829)  —  und  viele  Poeten  des  19.  Jahrhunderts  wären 
zu  nennen.  Denn  zu  keiner  Zeit  hat  es  an  gälischen  Dichtem  gefehlt, 
und  noch  in  unseren  Tagen  ernteten  die  Inselgälen  Neil  Macleod,  Mary 
Macpherson  und  John  Macphadyen  Beifall. 

Außer  den  Sammlungen  der  bekannten  Dichter  gibt  es  viele  Volks- 
lieder namenloser  Poeten.  Die  Galen  lieben  den  Gesang  und  verschönen 
ihre  Geselligkeit  {ccilidli)  damit  Selbst  auf  jener  weltverlassenen  Insel 
Hirta  oder  St  Kilda  singt  das  Mädchen  von  dem  Geliebten,  der  sich  in 
allen  Gefahren  des  Erwerbs  zwischen  den  schrofifen  Felsen  bewährt,  und 
die  Frau  beklagt  im  Liede  den  Mann,  der  in  dem  mühseligen  Berufe 
des  Vogelfanges  den  Tod  gefunden  hat  Der  Bergschotte  liebt  dieses  so 
wenig  fruchtbare  Land  der  Bens,  der  Glens  und  der  Clans  und  hat  es  in 
vielen  patriotischen  Gedichten  verherrlicht.  Man  kennt  die  Poesie  der 
Sommerweiden  und  Sennhütten  ('sheiling',  gäl.  airidh)\  die  Walklieder  {pran 
luaidJi),  nach  denen  die  Frauen  und  Mädchen  auf  der  Wäsche  tanzen;  und 
die  Ruderlieder  {iorram)^  nach  deren  Takte  die  Matrosen  die  Fluten  durch- 
messen. Am  zahlreichsten  sind  die  Liebeslieder  —  wie  manche  'Highland 
Mary'  wird  da  gefeiert!  Ihre  Zähne  sind  wie  der  Kalk  und  ihr  Busen  so 
weiß  wie  das  canach  oder  Baumwollengras  des  Gebirges;  ihre  Wangen 
sind  rot  wie  die  Vogelbeeren  und  ihr  Haar  gelb  wie  die  Abend  wölken 
oder  schwarz  wie  der  Fittich  des  Raben.  Die  gälischen  Lieder  sind  für 
den  Gesang  gedichtet  und  viele  haben  einen  Chorus  {luinneag).  Die 
Melodieen,  den  irischen  verwandt,  sind  berühmt,  seit  sie  Patrick  Macdonald 
1784  bekannt  gemacht  hat 

V.  Märchen,  Sprichwörter  und  i'rosaversuche.     Ein  Besitz,  den  Mirxb«. 
die   schottischen  Galen   sich  seit  alter  Zeit  durch  mündliche  Überlieferung 
erhalten    haben,    .sind    die    Märchen   l^sgeulacluf)^    von    denen   sie   eine  gute 
Menge  haben.     Sie   bildeten  die   Hauptunterhaltung,  womit  sie  die  Winter- 


io8       Ludwig  Christian  Stern:  Die  schottisch -gälische  und  die  Manx- Literatur. 

abende  am  Torffeuer  zu  verkürzen  pflegten,  und  haben  eine  längere  Dauer 
gehabt  als  die  ossianischen  Balladen,  die  mit  der  Zeit  veralteten  und  un- 
verständlich wurden,  Sie  reden  die  Sprache  des  Volkes,  der  nach  alter 
Gewohnheit  gelegentlich  Stücke  in  gewähltem,  poetischem  Stile  eingefügt 
sind.  In  einigen  werden  die  Sagen  von  denFianna  erzählt,  einfacher  als  in  den 
Balladen;  manche  beruhen  auf  künstlichen  Bardenerzählungen,  die  bei  den 
Iren  handschriftlich  verbreitet  sind.  Ein  großer  Teil  aber  ist  dem  Märchen- 
schatze entnommen,  zu  dem  alle  Völker  des  Ostens  und  Westens  bei- 
getragen haben.  Unter  den  rein  keltischen  sind  Proben  der  ausschweifenden 
Phantasie,  die  Freude  am  Wunderbaren  hat  und  sich  gern  das  Unmögliche 
als  möglich  denkt.  Das  Hauptverdienst  um  die  Sammlung  der  albano- 
gälischen  Märchen  hat  der  schon  genannte  J.  F.  Campbell  von  Islay;  aber 
so  groß  ist  der  Vorrat,  daß  man  kaum  eine  keltische  Zeitschrift  findet,  die 
nicht  etwas  hinzugefügt  hätte. 
Sprichwörter.  Ein  andcres  Stück  der  ungeschriebenen  albanischen  Volksliteratur  sind 

die  Sprichwörter,  in  denen  Lebenserfahrung  oft  eigenartig  und  poetisch, 
seltener  satirisch,  niedergelegt  ist.  Auch  diese  haben  sie  mit  den  Iren 
gemein,  aber  einige  sind  zweifellos  schottischen  Ursprungs.  Die  Berg- 
schotten teilen  mit  jenen  auch  die  Vorliebe,  Sätze  der  Lebensweisheit  in 
poetische  Formen  zu  fassen,  und  schon  das  Dean's  Book  liefert  Beispiele 
dazu.  Einen  Gegensatz  bildet  die  Poesie  des  Aberglaubens,  der  seit  Ur- 
zeiten im  Volke  wurzelt.  Dazu  gehören  allerlei  Anrufungen,  Verse  über 
die  Jahreszeiten  und  die  Feste  sowie  Zaubersprüche  [uibc)  gegen  alle  mög- 
lichen Übel,  wie  sie  in  langen  Jahren  AI.  Carmichael  auf  den  westlichen 
Inseln  gesammelt  hat.  Manches  davon  wird  noch  auf  den  Heiligen  von  Hi 
oder  lona  Calum-Cille  (Columba)  zurückgeführt.  Schottland  ist  das  klassische 
Land  des  'second  sight'  [taibhsearacht),  und  die  wunderbaren  Prophezeiungen 
des  Sehers  von  Brahan,  Coinneach  Odhar,  der  in  der  zweiten  Hälfte  des 
17.  Jahrhunderts  auf  der  Insel  Skye  lebte,  wurden  von  Geschlecht  zu 
Geschlecht  überliefert. 
Neuere  Vcrsuche,    die    man    gemacht    hat,    die    gälische    Literatur    auf  nicht 

keltischem  Gebiete  anzubauen,  haben  nur  eine  sekundäre  Bedeutung  und 
haben  keinen  rechten  Erfolg  gehabt.  Bemerkenswert  ist  die  Übertragung 
der  sieben  ersten  Gesänge  der  Ilias  durch  Ewen  Maclachlan  (1776 — 1822), 
da  sie  wenigstens  eine  Form  haben,  wie  sie  die  gälische  Poesie  erheischt. 
Aber  der  gälische  'blank  verse',  wie  er  in  den  Gedichten  Ossians,  in 
den  Epen  J.  Smiths,  D.  Macleods,  Maccallums  von  Arisaig  und  in  den  er- 
zählenden Dichtungen  W.  Livingstones,  des  Poeten  von  Islay  (-j-  1870), 
erscheint,  ist  keine  gälische  Poesie.  Und  welchem  Kenner  des  Deutschen 
und  des  Gälischen  kann  der  "^Wilhelm  Teil'  im  gälischen  Gewände  ge- 
fallen? Für  die  Gedanken,  die  sich  aus  der  modernen  Geisteskultur  ein- 
drängen, ist  diese  Sprache  nicht  das  richtige  Gefäß. 

Es  haben  sich  verschiedene  bemüht   eine  gälische  Prosa  zu  schaffen. 
Es   gibt   eine   Jacobitische   Geschichte  von  J.  Mackenzie,   eine   schottische 


literarische 
Versuche. 


I.  Die  schotlisch  yaliichc  Literatur.     \1.   Bibel  unU  rchyiobc  IJuchcr.  loi^ 

von  Anjfus  Mackenzic,  und  sogar  die  Tagebücher  der  Königin  Victoria 
hat  man  übersetzt.  Schon  früher  wurden  von  Geistlichen  einige  gäUsche 
Zeitschriften  herausgegeben,  wie  An  teachdaire  gaelach  i82<>ff.,  Cuairtear 
nan  gleann  1840,  Fear  tathaich  nam  lieann  1K4H;  aber  so  wohlgemeint  sie 
waren  und  so  sehr  sich  Norman  Macleod  'der  Freund  der  Galen'  {Carnid 
nan  GaiJhttil)  durch  den  Stil  auszeichnete,  sie  hatten  keinen  liestand  und 
mußten  Zeitschriften  in  gemischter  oder  in  rein  englischer  Sprache  Platz 
machen:  An  Gaidheal  1872 — iSjg,  Celtic  Magazine  1H75 — 1888,  Highland 
Monthly  iS8<) — 18()3  und  Transactions  of  the  Gaelic  Society  of  Inverness 
1871fr. 

VI.  Bibel  und  religiöse  Bücher.  Neben  dem  irisch-albanischen  H.b«i 
Stile  der  Balladen  und  dem  rein-albanischen  der  Barden  und  Dichter  ""'*  '■-'''■""°« 
bildet  einen  dritten  Stil  des  Schottisch -gälischen  der  der  biblischen  und 
reformiert  kirchlichen  Literatur,  die  einen  sehr  großen  Raum  einnimmt. 
Die  schottische  Geistlichkeit  hat  seit  der  Mitte  des  j8.  Jahrhunderts 
eifrig  gewirkt  den  gälischen  Gemeinden  die  Bibel  zugänglich  zu 
machen.  Schon  1059  beginnen  die  Ausgaben  der  Psalmen,  17O7  die 
des  Neuen  und  i783fF.  die  des  Alten  und  Neuen  Testaments.  Von 
den  Übersetzern  sind  vor  allen  James  Stewart  von  Killin  und  sein  Sohn 
John  Stewart  von  Luss  zu  nennen.  Man  hatte  es,  wie  es  scheint,  von 
Anfang  an  darin  versehen,  daß  man  sich  zu  sehr  nach  der  irischen  Bibel 
von  i<)0.5  und  1680  richtete;  es  fehlte  der  Übersetzung  daher  vielfach 
der  eigentliche  albanische  Charakter  und  über  die  Trishisms',  die  durch 
fortwährende  Verbesserungen  nicht  völlig  zu  beseitigen  waren,  ist  viel 
Unzufriedenheit  und  Streit  gewesen.  Indessen  wurde  die  Bibel  gelesen 
und  es  schlössen  sich  ihr  an  Katechismen,  Glaubensbekenntnisse,  Gebet- 
bücher, Traktätlein,  Predigten  und  Gesangbücher  in  großer  Zahl;  dazu 
kommen  Übersetzungen  der  Bücher  der  Baxter  und  Bunyan.  Auf  die  1753 
zuerst  erschienenen  Paraphrasen  der  Psalmen  {/<7oii///c\  die  man  in  den  Kirchen 
singt,  folgte  eine  Reihe  geistlicher  Dichter  von  David  Mackellar  bis  auf 
den  pietistischen  Schmied  John  Morison  auf  der  Insel  Harris  (1791  — 1852), 
dessen  Werke  i8cH)  gedruckt  wurden.  Alle  Hymnendichter  aber  überragt 
Dugald  Buchanan  (I7i() — 17<'8),  der  sich  quälte  und  grübelte,  bis  er  in 
Ergebung  und  Entsagnng  seinen  Frieden  fand.  Wer  sich  selbst  besieg^ 
ist  ein  größerer  Held  als  Alexander  oder  Cäsar;  nichts  ist  so  wichtig  als 
das  Ende  zu  bedenken.  Buchanans  düstere  Themata  sind  'Der  Winter', 
'Der  Schädel'  und  'Das  jüngste  Gericht'.  Die  Poesie  ist  ihm,  der  die 
Bibel  und  Shakespeare  kannte,  eine  Magd  der  Religion,  aber  er  ist  kein 
geringer  Dichter.  Er  ist  ein  vollendeter  M«Mster  der  schottisch -gälischen 
Sprache,  und  kein  Buch  wird  in  den  Hochlanden  so  viel  gelesen  wie 
seine  phantasiereichen  geistlichen  Lieder,  deren  erste  Ausgabe  1767  er- 
schienen ist 


iio       Ludwig  Christian  Stern:  Die  schottisch -gälische  und  die  Manx- Literatur. 

II.  Die  Manx- Literatur. 
Das  Mittelalter.  I.  Chfistliche   Lehre   und   Bibel.      Die  Insel   Man   in   der   irischen 

See,  die,  ehe  sie  an  England  fiel,  zu  dem  Regnum  insularum  und  dann  zu 
Schottland  gehörte,  hat  von  den  Skandinaviern  und  albanischen  Galen  mehr 
empfangen  und  bewahrt  als  von  Irland.  Auch  die  Sprache  der  Mannica 
gens,  das  Manks  (d,  i.,  wie  Scots  'schottisch',  eigentlich  ein  Plural  von 
manninagh)  ist  auf  dem  Wege  der  Vereinfachung  der  Formen  ebenso  weit 
vorgeschritten  wie  das  Albanogälische  und  hat  das  Schiboleth  dieser 
Mundart,  die  Pluralendung  yn,  ist  aber  weit  mehr  mit  Englischem  durch- 
setzt; im  Norden  spricht  man,  heißt  es  1690,  ein  'tieferes'  Manx  als  im 
Süden  der  Insel.  Die  keltische  Bevölkerung  hat  keine  alte  Kultur  mit 
Barden  und  Klöstern,  und  aus  dem  Mittelalter,  wo  es  nur  fremde  Herren 
und  einheimische  Hörige  gab,  ist  kein  gälischer  Buchstabe  auf  der  Insel 
und  selbst  nicht  aus  dem  1 6,  Jahrhundert.  Aus  dem  Zustande  der  geistigen 
Finsternis  war  die  Reformation,  die  aus  England  kam,  eine  Erlösung.  Aber 
die  Kirchendisziplin  der  Barrow  und  Wilson  und  die  nachfolgenden  metho- 
distischen Fanatiker  haben  den  Geist  niedergehalten  und  mit  dem  Unkraute 
das  Kraut  ausg^erissen. 
Bibel  Zum    erstenmal    wurde    die    mannische    Sprache    von     dem    Bischof 

""schriSr'^  von  Sodor  und  Man  J.  Philipps  (i  1633)  geschrieben,  der  16 10  das  Book 
of  Common  Prayer  mit  den  Psalmen  übersetzte.  Dieses  neuerdings  heraus- 
gegebene Gebetbuch  ist  für  das  grammatische  Studium  der  Sprache  von 
Wichtigkeit.  Der  erste  Druck  in  der  Manx -Sprache  waren  'die  Prinzipien 
und  Pflichten  des  Christen'  vom  Bischof  Th.  Wilson  1707,  auf  die  manche 
andere  Bücher  zur  christlichen  Lehre  und  Erbauung  folgten.  Unter  den 
Auspizien  des  Bischofs  Hildesley  wurde  die  Übersetzung  der  Bibel  1748 
mit  dem  Neuen  Testamente  begonnen,  worauf  das  Alte  Testament  1772 f. 
und  eine  vollständige  Ausgabe  1775  erschienen.  Einen  hervorragenden 
Anteil  an  der  Arbeit  hatte  J.  Kelly  (1750  —  i8og).  Der  Text,  der  in  der 
ersten  Ausgabe  auch  die  Weisheit  Salomos  und  Jesus  Sirach  enthält,  hat 
verschiedene  Revisionen  erfahren  und  ist  im  allgemeinen  von  der  irischen 
Übersetzung  unabhängig  und  besser  geraten  als  der  schottisch- gälische. 
Auch  eine  Auswahl  Psalmen  in  Versen  (singing  psalms)  wurde  1762  ge- 
druckt, und  andere  Hymnenbücher  folgten.  Im  Volke  aber  reifte  eine 
Frucht  der  geistlichen  Dressur  in  den  Carols  oder  Weihnachtsliedern,  von 
denen  man  viele  aus  dem  18.  Jahrhundert  hat.  Sie  behandeln  nicht  nur 
die  Geburt  des  Heilandes,  sondern  auch  die  Passion,  und  andere  sind  er- 
bauliche Rhapsodieen,  die  sich  besonders  in  der  Schilderung  der  Hölle  und 
des  himmlischen  Jerusalem  gefallen. 

Weltliche  11.  Weltliche    Poesie.       Die    spärlichen    Reste    der    nichtreligiösen 

Poesie.    pQgsie,   deren  Musik  geschätzt   wird,   haben  in  ihrer  Form  von   der  echt- 

gälischen    nichts    bewahrt.      Das    mannische    Lied    {arratie)    kennt    weder 

siebensilbige   Verse    noch    Alliteration  noch  Binnenreime   und  kaum   noch 


II.  Die  Manx- Literatur.     1.  Christliche  Lehre  und  Bibel.     II.  Weltliche  i'ocic.       i  i  i 

den  eigentlich  güli.schen  Keim,  der  nur  die  Gleichheit  der  betonten  Vokale 
fordert,  .sondern  die  Verse  sind  gänzlich  nach  engli.scher  Weise  geformt 
Ältere  Balladen  und  Lieder  als  aus  dem  i H.Jahrhundert  sind  nicht  vorhanden. 

Es  ist  zwar  glaublich,  daß  die  Manner  ossianische  Halladen  gehabt 
haben.  Aber  ein  vereinzeltes  Gedicht  aus  diesem  Sagenkreise,  von  dem 
H.  Jenner  zuerst  Nachricht  gab,  ist  eine  Nachdichtung  in  'Couplets'  aus  der 
Mitte  des  18.  Jahrhunderts.  Es  erzählt,  wie  die  zugrunde  liegende  irisch- 
schottische  Ballade,  die  Verbrennung  des  Hauses  der  Fianna  mit  ihren 
Frauen  durch  den  argen  alten  Garadh,  den  der  Manxpoet  Ürrce  Beg 
nennt  Sehr  viel  älter  ist  auch  nicht  eine  Ballade  von  56  Strophen  über 
die  frühere  Geschichte  der  Insel  Man,  nach  der  der  heilige  Patricius  ihren 
heidnischen  Schutzpatron  Manannan  mac  Lir  verbannt  und  ihr  das  Christen- 
tum gebracht  habe;  diese  wurde  mit  gereimter  englischer  Übersetzung 
W78  gedruckt  Aus  dem  Jahre  1760  hat  man  noch  ein  anderes  Gedicht 
über  die  Insel  und  eins  über  ein  Seetreffen  zwischen  dem  Engländer  EUiot 
und  dem  Franzosen  Thurot  Aus  dem  i^i.  Jahrhundert  stammt  auch  ohne 
Zweifel  die  Elegie  auf  den  1662  hingerichteten  Patrioten  William  Donn 
Christian,  ebenso  einige  nautische  Gedichte.  Ks  fehlt  dieser  mannischen 
Poesie  an  Schwung:  die  Teuerung  des  Tabaks,  die  Kartoffeln  und  der 
Hering  werden  besungen,  und  zu  einem  Trinkliede  aus  älterer  Zeit  ge- 
sellen sich  neuerdings  Temperenzlerlieder.  Auch  die  Hochzeitsgedichte, 
die  Erörterungen  zwischen  Vater  oder  Mutter  und  Tochter,  oder  zwischen 
dem  jungen  Manne  und  dem  Mädchen,  sind  hausbacken  genug.  Aber  die 
Not  des  Lebens  gestattet  diesem  'lieben  kleinen  Man'  {Mannin  veg  vecn) 
keinen  hohen  Flug  der  Phantasie.  Auch  die  Liebeslieder,  unter  denen  es 
anstößige  geben  soll,  sind  selten  der  Ausdruck  des  Glückes;  doch  mögen 
viele  verloren  gegangen  sein,  denn  das  hübscheste  cc  ny  fuidleryn  wurde 
erst  vor  einem  Dezennium  vom  Untergange  gerettet  Der  Dichter  beklagt 
sich  darin  bitter  über  ein  Mädchen,  das  ihm  ein.st  Treue  geschworen  hat; 
aber  er  hat  keinen  Zeugen  als  nur  den  Walnußbaum,  unter  dem  sie  saßen. 

Die  Literatur  zu  bereichem  hat  man  einiges  aus  dem  Englischen 
übersetzt,  so  ein  Ungenannter  im  18.  Jahrhundert  mehrere  auf  die 
In.sel  bezügliche  Gedichte  des  Archidiakonus  Rutter  (zwischen  1041  und  1650) 
und   Th.  Ciiri.stian   171)6    einzelne   Teile   aus  Miltons  Verlorenem  Paradiese. 

Die  Manxmen  haben  ihren  Anteil  an  den  Märchen  des  gälischen  Koikior« 
Stammes,  doch  sind  sie  in  der  Ursprache  nicht  gesammelt  und  es  ist  ihnen 
mehr  Skandinavisches  und  Englisches  beigemischt  als  bei  den  Iren  oder 
Schotten.  Von  den  Sprichwörtern,  die  man  im  Manx  hat,  sind  wohl 
einige  auf  der  Insel  selbst  gefunden.  Die  Einfalt  und  Armut  der  manni- 
schen Bevölkerung  lieferte  einen  vorzüglichen  Boden,  in  dem  die  Geister 
und  Gespenster,  Heilige  und  Dämonen,  Feen  und  Kobolde,  Riesen,  Zauberer 
und  Hexen  und  der  Aberglaube  jeder  Art  Wurzel  fassen  und  gedeihen 
konnten.  Der  Phynnoddaree  und  der  Glashtin  sind  mannische  Schöpfungen; 
indes  sind  die  (Quellen  des  Folklore  hier  getrübter  als  anderswo. 


Literatur. 

I.    Die  schottisch-gälische  Literatur. 

S.  98.  J.  Stuart,  The  Book  of  Deer,  Edinburgh  1869  (Spalding  Club  25);  vgl. 
Wh.  Stokes,  Goidelica  p.  io6ff.;  Al.  Macbain  in  den  Transactions  of  the  Gaelic  society 
of  Inverness  XI.  1S85,  p.  I37ff.  —  Al.  Cameron,  Reliquiae  celticae,  Texts,  papers,  and 
studies  ed.  by  Al.  Macbain  and  J.  Kennedy,  Vol.  II.  Inverness  1894.  —  J.  Carswell,  The 
Book  of  Common  Order  ed.  by  Th.  Maclauchlan,  Edinburgh  1873. 

S.  99.  The  Dean  of  Lismore's  Book,  a  selection  of  ancient  Gaelic  Poetry  from  a 
Ms.  collection  made  by  Sir  James  Macgregor,  ed.  by  Th.  Macl.\uchlan,  Edinburgh  1862. 
Dazu  Reliquiae  celticae.  Vol.  I.  2 — 109.     Vgl.  Zeitschrift  für  celtische  Philologie  I.  294  ff. 

S.  99.  The  Poems  of  Ossian,  in  the  original  Gaelic,  with  a  literal  translation  into 
Latin  by  R.  AL\.CFARLAN,  together  with  a  dissertation  on  the  authenticity  of  the  poems  by 
Sir  John  Sinclair  (Highland  Society's  edition),  London  1807,  3  voll.  Die  zweite  Ausgabe 
von  E.  Maclauchlan  1818,  die  dritte  von  Th.  Maclauchlan  1859,  die  vierte  in  zwei 
Bänden  mit  englischer  Übersetzung  von  A.  CLERK  1871.  —  Report  of  the  Committee  of  the 
Highland  Society  of  Scotland  appointed  to  inquire  into  the  nature  and  authenticity  of  the 
Poems  of  Ossian.     Drawn  up  by  H.  Mackenzie,  Edinburgh  1805. 

S.  loi.  J.  F.  Campbell,  Leabhar  na  Feinne  Heroic  Gaelic  ballads,  London  1872. 
Dazu  Reliquiae  celticae,  Vol.  I  1892;  Transactions  of  Inverness  XIII.  269  ff.,  XIV.  314  ff.; 
L.  C.  Stern,  Die  ossianischen  Heldenlieder  in  der  Zeitschrift  für  vergl.  Literaturgeschichte 
N.  F.  VIII.  1895  P-  51  ff-  143  ff-  (Transactions  of  Inverness  XXII.  257  ff. ,  Zeitschrift  für  cel- 
tische Philologie  V.  550  ff.) 

S.  103.  The  Fernaig  Manuscript  in  den  Reliquiae  celticae.  Vol.  II  i  — 137  (1894); 
teilweise  transkribiert  von  G.  Henderson,  Leabhar  nan  Gleann,  Inverness  1898;  vgl.  Trans- 
actions of  Inverness  XI.  30  ff.,  Zeitschr.  f.  celt.  Philol.  II.  566  ff.  —  R.  Macdonald,  Comh- 
chruinneachidh  orannaigh  Gaidhealach,  Edinburgh  1776  (Glasgow  1809);  J.  GiLLlES,  A  collection 
of  ancient  and  modern  Gaelic  poems  and  songs,  Perth  1786;  A.  and  D.  Stewart,  A  choice 
collection  of  the  works  of  the  Highlands  Bards,  Edinburgh  1804;  P.  Turner,  Comhchruinn- 
eachadh  do  dh'orain  taghta  ghaidhealach ,  Edinburgh  1813;  J.  Mackenzie,  The  Beauties  of 
Gaelic  Poetry,  Glasgow  1841  (Hauptwerk);  D.  Macpherson,  An  Duanaire,  Edinburgh  1868; 
A.  Menzie,  Comhchruinneacha  do  dh'orain  thaghta  Ghaidhealach,  Glascho  1870;  Arch. 
Sinclair,  The  Gaelic  Songster,  Glasgow  1879;  A.  Maglean  Sinclair,  Clarsach  na  coille, 
Glasgow  1S81;  Derselbe,  The  Glenbard  Collection  of  Gaelic  poetry,  Charlottetown  1890; 
The  Gaelic  Bards  from  141 1  to  1715,  ibid.  1890;  from  1715  to  1765,  ibid.  1898;  The  Maclean 
Bards,  ibid.  1898.  1900,  2  voll.  (vgl.  Transactions  of  Inverness  XXIV.  259  ff.);  A.  Macdonald, 
The  Uist  collection,  Glasgow  1894. 

S.  104.     Gaelic  historical  songs  (Scottish  Review  XVIII.  301 — 341),  1891. 

S.  105.  Alastair  Mac  Dhonuill,  Ais-eiridh  na  sean  chanoin  albannaich,  Edin- 
burgh 1751.  —  Von  den  Gedichten  Al.  Macdon.\lds,  R.  Donns,  D.  Macintyres,  Will. 
Ross'  u.  a.  sind  in  Edinburg  häufiger  Sonderausgaben  erschienen.  Übersetzungen  bieten 
Th.  Pattison'S  Selections  from  the  Gaelic  Bards,  Glasgow  1866  (zweite  Ausgabe  1890). 

S.  107.  Orain  le  ROB.  DONN.  Songs  and  poems  in  the  Gaelic  language,  Edinburgh  1829, 
von  dem  Lexikographen  Macintosh  Mackay  (f  1873)  herausgegeben  (vgl.  Quarterly  Review 
XLV.  1831  p.  359  ff.,  J.  G.  Lockhart's  Anzeige);  2.  Auflage,  Edinburgh  1871;   3.  vermehrte 


Ludwig  Christian  Stern  :  Literatur.  , , » 

Ausgabe  von  M.  Morrison.  Edinburgh  is-ig;  4.  weniger  vollständige  Ausgabe,  mit  Melodiecn. 
von  A.  (;iNN  und  M.  Mackarlane,  1899. 

S.  108.  J.  F.  Campbell,  Populär  tales  of  the  West -Highlands  orally  collected,  wiili 
a  translation.  London  1860,  1862,  4  voll,  zweite  Ausgabe,  Psiisley  1890— 189 Vi.  —  Waifs 
and  Strays  of  Ccltic  Tradition.     Arg^'Ilshire  Scrics,  London  1889 — 1895,   5  voll. 

S.  108.  D.  Mackini OSM,  A  roUection  of  (iaelic  proverbs,  and  familiär  phraiics,  Edin- 
burgh 1785,  der  viclvcrmchrtcn  Bearbeitung  von  Al.  NicOLSON,  Edinburgh  1881,  zugrunde 
liegend.  —  Al.  Carmichael,  Carmina  gadelica,  Edinburgh  1900,  2  voll. 

S.  109.  Caraid  nan  (laidhcal;  aircamh  taghta  de  sgriobhaidhncan  Tormoid  Macleoid 
(ed.  Arch.  Clerk)  ,  Glasgow    1867). 

S.  io<).  J.  Reii),  Hibliotheca  Scoto-ccltica;  or,  an  account  of  all  the  books  which 
have  been  printed  in  the  Gaelic  language,  Glasgow  1832. 


II.  Die  .ManxLitcratur. 

S.  110.  The  Manx  Societ/s  Publications,  Vol.  I— XXXI.  1859  ff.,  wovon  namentlich 
Bd.  16.  20.  21  Texte  in  der  Manx  Sprache  enthalten. 

S.  MO.  The  Book  of  Common  Praycr  in  Manx  Gaelic  edited  by  A.  W.  MoORE, 
assistcd  by  J.  Rhys,  London  1895,  2  voll.  Eine  neue  Übersetzung  mit  neuer  Orthographie 
erschien  1705  spätere  Ausgaben  1806.  1842),  während  eine  irische  1712  gedruckt  wurde.  — 
Manx  Carols,  translated  into  English,  Isle  of  Man  1891  (von  A.  W.  MoORE  herausgegeben). 

S.  III.  Ch.  ValIw\NCEY,  A  vindication  of  the  ancient  history  of  Ireland,  Dublin  1789, 
p.  510.  s^Q  ff.  —  A.  W.  Moore,  Manx  Ballads  and  .Music,  Douglas  1896.  —  E.  F.\RQL'H.\R, 
Skeealy  .-Vesop,  Douglas  1901. 

S.  112.     A.  W.  MooRE,  The  Folklore  of  the  Isle  of  Man,  Douglas  1891. 


Dra  KoLTVK  o«m  Gbocvwabt. 


C.  DIE  KYMRISCHE  (WALISISCHE)  LITERATUR. 

Von 
Ludwig  Christian  Stern. 

QueUen  I.  Die  Quellen  der  Literatur,     Die  Literatur  der  Cambrer  (Cymry) 

und  Studium.  Q^jgj.  Waliser  (Walen)  ist  im  allgemeinen  nicht  so  alt,  wie  die  irische. 
Denn  von  der  altcambrischen  Sprache  sind  fast  nur  Glossen  zu  latei- 
nischen Werken  erhalten;  und  so  große  Pergamentcodices  aus  dem  Mittel- 
alter wie  die  irischen  aus  dem  ii.  bis  1 5.  Jahrhundert  besitzen  die  Waliser 
fast  gar  nicht.  Trotzdem  ist  ihre  Literatur,  von  der  vieles  gedruckt  ist 
und  mehr  noch  in  den  Handschriften  liegt,  so  umfangreich,  daß  in  dieser 
Skizze  ihr  Gang  nur  im  allgemeinen  verfolgt,  die  Hauptnamen,  die  ihre 
Epochen  bezeichnen,  genannt  und  die  fremden  Einflüsse,  die  gewirkt 
haben,  hervorgehoben  werden  können. 

Wohl  die  wertvollsten  Schätze  der  walisischen  Literatur  sammelte  im 
17,  Jahrhundert  der  Antiquar  Robert  Vaughan  auf  Hengw^rt  bei  Dolgelly 
(1592 — 1666);  es  sind  dieselben,  die  sich  jetzt  im  Besitze  der  Familie 
Wynne  in  Peniarth  befinden.  Andere  Handschriftensammlungen  sind  im 
Britischen  Museum,  in  Oxford,  Mostyn  Hall,  CardifF,  Lianstephan  und  an 
anderen  Orten.  Die  ältesten  und  wichtigsten  Codices  sind  das  Schwarze 
Buch  von  Carmarthen,  eine  Gedichtsammlung  aus  dem  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts; das  Buch  Aneurins  aus  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts;  das 
Buch  Taliessins  aus  dem  Ende  des  13.  Jahrhunderts;  das  Weiße  Buch  des 
Rhydderch  in  Peniarth  aus  dem  14.,  teilweise  13.  Jahrhundert;  das  Rote 
Buch  von  Hergest,  Prosa  und  Poesie  enthaltend,  jetzt  in  Oxford,  aus  dem 
14.  Jahrhundert  und  das  Buch  des  Anachoreten  von  Llandewivrewi  von  1346 
ebendaselbst. 

Die  erste  Anregung  zum  Studium  der  walisischen  Literatur  ging 
wiederum  von  Macpherson  aus,  dessen  ossianischen  Gedichten  Evan  Evans 
gen.  leuan  Brj^dydd  Hir  (1730 — 1789)  einige  authentische  Stücke  der  älteren 
walisischen  Barden  gegenüberstellte.  Dieser  Gelehrte  hat  auch  der 
Herausgabe  eines  Corpus  der  walisischen  Literatur,  wie  es  1801  unter 
dem   Titel   Myyyrian  Archaiology   erschien,   gewissermaßen  vorgearbeitet. 

Die  ältesten  IE.  Die    ältcstcn    Denkmäler    der   Literatur.      Es    ist    von    kym- 

Gedichte.    j-jsci^gj.  Literatur  nichts  älteres  erhalten  als  die  Gedichte,  die  den  Barden 

des   6.  Jahrhunderts  Aneurin,  Taliessin   und  Llywarch  Hen  zugeschrieben 

werden.      Das    sind    vor    allem    Schlachtgesänge    mit   Beziehung    auf    die 


II.  Die  ältesten  Denkmäler  der  Literatur.  ,  ,  , 

Geschichte  des  6.  bis  7.  Jahrhunderts,  mit  vielen  Namen  von  Personen 
und  Örtlichkeiten.  In  einij^^en  wird  der  Fürst  Cunedda  erwähnt,  in 
anderen  der  Fürst  Arthur,  der  über  die  Sachsen  in  zwölf  Schlachten 
siegte  und  in  der  Schlacht  von  Camlan  gegen  Medraut  fiel,  und 
häutiger  noch  Urien  Reged,  der  Fürst  des  Nordens.  Aber  diese  Sagen- 
helden treten  uns  in  fragwürdiger  Gestalt  entgegen,  denn  der  Stil 
der  Bardenlieder  ist  dunkel  und  orakelhaft,  wie  denn  auch  wirkliche 
Prophezeiungen  nach  den  Ereignissen  daruntergemischt  sind.  Das  alter- 
tümlichste Gedicht  ist  das  viel  besprochene,  Gododin  betitelte  des  Aneurin 
in  dem  jedoch  keine  rechte  Einheit  ist.  Der  früheste  Teil  würde  sich 
nach  W.  J.  Skene  auf  die  achttägige  Schlacht  zwischen  Gododin  und 
Catraeth  am  Firth  of  Forth  beziehen,  wo  die  Briten  und  Scoten  unter 
Aidan  dem  Könige  von  Dalriada  gegen  die  heidnischen  Sachsen  und 
Pikten  kämpften  (das  'bellum  Miathorum'  Adamnans).  Ein  anderer  Teil 
wurde  erst  nach  642  hinzugefugt,  und  ob  mehrere  gorchan  betitelte  Stücke 
überhaupt  zu  Aneurins  Gedicht  gehören,  bleibt  zweifelhaft.  Taliessin  war 
der  Barde  des  Urien  Reged:  „Möge  ich  niemals  wieder  lächeln,  wenn  ich 
Urien  Reged  nicht  preise",  war  sein  Wort.  Ihm  werden  die  meisten  Ge- 
dichte beigelegt,  außer  panegj'rischen  auch  religiöse  und  mystische,  ein 
Gedicht  über  den  Wind  und  eins  über  den  Met,  ferner  über  die  zehn 
ägyptischen  Plagen,  über  Alexander  den  Großen  und  andere  Betrachtungen. 
Um  1600  entstand  eine  'Geschichte  Taliessins'  {Hanes  Taliessin) ,  in  der 
man  eine  Anzahl  dieser  Gedichte  dem  Verständnis  näher  zu  bringen  suchte 
und  andere  unter  seinem  Namen  beifügte.  Llywarch  Hen  tritt  von  den 
drei  Dichtem  am  deutlichsten  hervor:  er  ist  melancholisch  und  sententiös. 
Von  Husten  und  Alter,  Krankheit  und  Gram  gedrückt,  betrauert  er  seine 
Söhne,  die  in  der  Schlacht  gefallen  sind;  er  beschreibt  die  Öde  des 
Winters,  und  auch  der  Sommer  stimmt  ihn  nicht  froh,  wenn  er  seine 
Krücke  betrachtet.  Viele  Gedichte,  namentlich  im  Schwarzen  Buche,  sind 
religiös,  Lobpreisungen  Gottes,  der  Dreieinigkeit,  Christi;  auch  ein  Ge- 
spräch zwischen  Seele  und  Körper  kommt  vor. 

Es  ist  ausgeschlossen,  daß  diese  Gedichte  in  der  überlieferten  Form 
dem  6.  Jahrhundert  entstammen.  Ihre  Sprache  ist  jünger,  als  die  zweier 
kleiner  Poeme  aus  dem  g.  Jahrhundert,  die  in  einen  lateinischen  Codex 
des  Juvencus  in  Cambridge  eingeschrieben  sind.  Abgesehen  von  den  Be- 
ziehungen auf  viel  spätere  Ereignisse  in  einzelnen  Gedichten,  finden  sich 
in  anderen  gelehrte  Anspielungen,  z.  B.  auf  Beda,  die  Distichen  Catos, 
allerlei  Theologica  wie  die  vier  Evangelisten  als  die  Stützen  der  Welt  u.  .1. 
Ein  Gedicht  betrifft  eine  irische  Sage,  die  Totenklage  auf  Cüröi  mac 
D4ire.  Viele  Gedichte  sind  zwar  in  der  ältesten  walisischen  Strophe,  der 
Terzine  {triban  oder  etiglyn  mihcr),  abgefaßt,  mehr  aber  in  den  späteren 
Bardenmetren  und  auch  die  irische  Rannaigecht  kommt  vor.  Die  ältesten 
Gedichte  von  Wales  führen  uns  in  eine  Zeit,  wo  das  Bardentum  bereits 
völlig   ausgebildet  war:   es   wird   'die  Gewohnheit   der   britischen  Barden* 


ii6  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

{gnawt  bcird  o  Vrython)  erwähnt  und  ihre  Abweichung  vom  guten  Ge- 
schmacke  getadelt.  Man  muß  sich  daher  der  Meinung  anschUeßen,  wonach 
diese  ältesten  Poesieen  dem  12.  Jahrhundert  näherstehen,  als  dem  6.,  und 
daß  sie  vielleicht  dem  10.,  11.  und  12.  Jahrhundert  angehören.  Ein  Zwie- 
gespräch zwischen  Taliessin  und  Myrddin  ist  weder  von  dem  einen,  noch 
von  dem  anderen  verfaßt,  und  daraus  folgt,  daß  jene  alten  Dichter,  wie 
bei  den  Iren  z.  B.  Columcille  und  später  Oisin,  poetische  Figuren  geworden 
sind,  unter  deren  Namen  die  Barden  und  Genealogen  der  späteren  Jahr- 
hunderte ihre  Gedichte  gestellt  haben.  Was  insbesondere  Myrddin  oder 
Merlinus  betrifft,  den  die  Historia  Brittonum  noch  nicht  kennt,  so  ist  er 
eine  durchaus  fabelhafte  Person,  die  bald  mit  dem  wahrsagenden  KJnaben 
Ambrosius  verwechselt  wird  und  bald  als  Merlinus  Silvester  (Myrddin 
Wyllt  ab  Morvryn)  halb  Krieger  halb  Dichter  ist.  In  der  Mitte  des 
12.  Jahrhunderts  wurde  es  üblich,  diesem  ^homo  fatuus'  politische  Gedichte 
von  gesuchter  Dunkelheit  beizulegen,  zur  Zeit  als  Johannes  Cornubiensis 
eine  kornische  Prophezeiung  der  Art  in  lateinische  Hexameter  übertrug 
und  als  Giraldus  Cambrensis  den  Spuren  solcher  Fiktionen  eifrig  nachging. 
Dergleichen  sind  Avellen  feren  'Lieblicher  Apfelbaum',  Oidn  a  parchellan 
'Eiapopeia  mein  Schweinchen',  die  Synchronismen  {Cyvoesi)  Myrddins 
und  seiner  Zwillingsschwester  Gwendydd,  seine  Stimmen  aus  dem  Grabe 
und  solch  'skimble-skamble'  Zeug  mehr,  an  dem  man  einige  Jahrhunderte 
Wohlgefallen  fand,  so  daß  es  noch  den  Unwillen  eines  großen  Dichters 
erregte. 
Die  Gesetze.  Ein    höchst    bedeutendes    Denkmal    der    alten    Kultur    der    Waliser 

sind  die  Gesetze,  die  der  König  Hywel  Dda  (907  —  948),  mit  Benutzung 
älterer  von  dem  sagenhaften  Dyvnwal  ab  Moelmud,  durch  eine  Anzahl 
der  fähigsten  Männer  des  Landes,  unter  Mitwirkung  der  Geistlichkeit,  im 
Weißen  Hause  am  Täv  beraten  und  ausarbeiten  und,  nach  weniger  glaub- 
licher Nachricht,  durch  den  Papst  sanktionieren  ließ.  Der  ursprüngliche 
Codex  ist  nicht  erhalten  geblieben,  aber  es  beruhen  darauf  drei  Gesetz- 
bücher des  II.  und  12.  Jahrhunderts,  die  für  die  drei  Teile  des  Landes 
aufgestellt  sind:  der  Codex  Venedotianus  für  Nordwales,  der  Demetianus 
für  Südostwales  und  der  Gwentianus  für  Südwestwales.  Der  erste,  der 
dem  lorwerth  ab  Madog  zugeschrieben  wird,  ist  in  einer  der  ältesten 
walisischen  Handschriften,  dem  Schwarzen  Buche  von  Chirk  (ca.  1200), 
überliefert,  kann  aber  erst  nach  der  Zeit  des  darin  erwähnten  Bleddin  ab 
Cynvyn  (f  1073)  verfaßt  sein.  Der  Demetianus  weist  auf  die  Zeit  des 
Fürsten  Rhys  ab  Gruffydd  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts 
zurück.  Der  Gwentianus  nennt  Cyvnerth  und  seinen  Vater  Morgenau  als 
seine  Urheber.  Es  gibt  auch  noch  sehr  alte  lateinische  Fassungen  der 
Gesetze.  Einen  apokryphen  Charakter  haben  die  Gesetzsammlungen  aus 
späterer  Zeit,  namentlich  aus  dem  15.  Jahrhundert,  als  das  einheimische 
Recht  längst  außer  Kraft  und  seit  Eduard  L  1284  durch  die  Statuta  de 
Rothelan  ersetzt  war.     Die  Gesetzbücher  zerfallen  in  drei  Teile:  das  Recht 


II.  Die  ältesten  Denkmäler  der  Literatur.  Iiy 

des  Königs,  das  Landrecht  und  das  von  lorwcrth  hin/uijcfügto  Prüfungs- 
buch  {lly-i'yr  pniv).  VVonn  sie  auch  vielleicht  nicht  ohne  Einfluß  der  angel- 
sächsischen Gesetze  entstanden  sind,  so  geben  sie  doch  durch  ihre  genaue 
Abgrenzung  der  Rechte  und  Pflichten  von  dem  praktischen  Verstände  der 
Gesetzgeber  einen  hohen  HogrifF, 

Die  ältesten  Mären  der  Cymry  bieten  in  der  Form,  in  der  sie  in  i>.«m»i 
das  14.  Jahrhundert  gelangt  sind,  die  allbekannten  Mabinogion.  Man  hat 
sich  gewöhnt,  damit  elf  Erzählungen  zusammenzufassen,  die  in  dem  Roten 
Buche  von  Hergest  und  in  dem  Weißen  des  Rhydderch  vorkommen  und 
nach  dem  ersteren  ediert  sind.  Aber  der  Titel  maHnogi  'disciplina*  gebührt 
eigentlich  nur  den  vier  ersten  dieser  Erzählungen,  die  einem  mabinog  oder 
Bardenschüler  zu  kennen  niUig  waren.  Diese  vier  Erzählungen  (die  einzelne 
wird  caiiic  'Zweig'  genannt)  mit  ihren  Helden  Pwyll,  Hranwen,  Mana- 
wyddan  und  Math,  sind  echt  kymrisch  und  aus  lokalen  Legenden  zusammen- 
gefügt. Sie  haben  viel  Wunderbares,  aber  lassen  auch  ein  eigenes  Ge- 
schick der  Erzählungskunst  erkennen.  Nicht  so  urwüchsig  wie  das  Mabinogi 
erscheinen  der  Traum  des  ALixen  Wledig,  Llud  und  Llevelys  mit  den  drei 
Plagen  Britanniens  und  der  Traum  des  Rhonabwy.  Die  letztgenannte 
Erzählung,  eine  artige  bardische  Erfindung,  die  kein  Mensch  'ohne  Buch' 
vortragen  kann,  ist  nicht  vor  der  zweiten  Hälfte  des  \i.  Jahrhunderts  ent- 
standen, da  Madog  von  Powys,  der  Verbündete  Heinrichs  IL  1158,  darin 
erwähnt  wird.  Sehr  merkwürdig  ist  weiter  die  Erzählung  von  Kulhwchs 
Werbung  um  Olwen,  da  sie  aus  der  alten  Sagenfülle  der  Cambrer  und 
Galen  so  vieles  zusammenträgt,  in  einigem  bestens  zur  Historia  Brittonum 
.stimmend,  in  anderem  darüber  hinausgehend.  Man  ist  erstaunt,  hier 
Arthur,  den  'dux  bcllorum'  des  6.  Jahrhunderts,  wiederzufinden  als  einen 
König,  der  in  Caerlleon  ar  Wysc  Hof  hält,  mit  der  Königin  Gwenhwyvar, 
.seinem  Bischof,  seinem  Pförtner,  dem  Haudegen  Kai  und  den  anderen 
Helden  der  nachmaligen  komischen  Tafelrunde.  Frau  Aventiure  ist  un- 
ablä.ssig  geschäftig  gewesen,  die  Gestalt  Arthurs  auszubilden,  und  wahr- 
scheinlich haben  alle  drei  britanni.schen  Stämme  einen  Anteil  daran;  denn 
noch  zu  Giraldus'  Zeiten  konnten  sie  sich  unschwer  miteinander  verstän- 
digen. Wieviel  jedem  Lande  von  der  'matiöre  de  Bretagne'  gehört,  wird 
sich  nicht  entscheiden  lassen;  aber  daß  die  Franzosen  sie  von  den  Bre- 
tonen  empfangen  haben,  ist  schon  aus  den  Eigennamen  über  jeden  Zweifel 
festgestellt.  Und  dann  ist  der  ritterlich  romantische  Geist,  womit  .sie  ein 
Christian  von  Troyes  verschönt  hat,  mit  den  Anglonormannen  wieder  zu 
den  Walisern  gedrungen,  die  sich  so  die  Romane  von  Owain  mit  dem 
Löwen,  Peredur  oder  Parzival  und  Geraint  oder  Erec  in  vollendeterer 
Form  angeeignet  haben,  kun.stvoller  und  in  der  Charakterisierung  feiner, 
so  daß  man  Personen  wie  Kai  oder  Arthurs  Pförtner,  die  schon  in  den 
ältesten  Gedichten  vorkommen,  kaum  wiedererkennt 

Die    mythologische    Deutung,     die     einige     der    ältesten     wali.si.schen 
Sagen  erfahren  haben,  müssen  auf  virh  bmihf-n,  und  in  die  v-r».,  lihingenen 


ii8  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

Wege  des  Folklore  können  wir  sie  nicht  verfolgen.  Aber  die  alten  Ver- 
bindungen, die  die  walisische  Epik  mit  der  irischen  gehabt  hat,  drängen 
sich  immerfort  auf.  Die  Erzählung  von  Branwen  spielt  nach  Irland  hinüber 
und  das  darin  vorkommende  eiserne  Haus  findet  sich  schon  in  der  irischen 
Sage  Mesca  Ulad.  Manawyddan  ist  der  alte  irische  Zauberer  Manandän, 
und  an  Arthurs  Hofe  erscheint  Conchobar  mac  Nessa.  Arthurs  Schwert 
Caledvwlch  ist  der  caladbolg  des  Iren  Fergus,  und  das  Geschoß  mit  Wider- 
haken im  Kulhwch  der  gac  bolga  Cüchulinns.  Das  ebendort  erwähnte 
Gebot,  daß  der  Fremde  ins  Haus,  das  er  betritt,  eine  Kunst  mitbringen 
müsse,  ist  so  g"ut  irisch  wie  Mas  Mahl  für  fünfzig',  das  ihm  vorgesetzt 
wird.  Die  drei  Farben  der  Geliebten  Peredurs  (rabenschwarz,  blutrot 
und  schneeweiß)  sind  uns  aus  der  irischen  Sage  von  Nöisi  und  Deirdre 
bekannt.  Das  walisische  tynghet  ist  das  irische  geis,  das  Tabu,  das  in 
den  gälischen  Märchen  eine  so  große  Rolle  spielt  Die  walisische  Erzählung 
kennt  die  fünf  Provinzen  Irlands  {^pump  rann  Iwerdon),  in  denen  die  Runde 
gemacht  wird  (wal.  cylchaiü  =  ir,  cuartugud),  aber  auch  den  Shannon 
(Llinon),  Garselut  (Geir  selut),  Sescenn  Uairbheoil  (Esgeir  Oervel),  sowie 
im  Rhonabwy  die  weißen  Lochlanner  oder  Norweger  (ir.  Findgenti)  und 
die  schwarzen  Dänen  (ir.  Dubgenti).  So  mancher  Zug  in  der  normannischen 
und  romanischen  Sagenüberlieferung  trägt  noch  die  Marke  des  irischen 
Ursprungs.  Die  Sage  vom  Mantel,  die  den  Walisern  verloren  gegangen 
ist  und  nach  ihrer  Wanderung  durch  Europa  im  15.  Jahrhundert  nach 
Irland  kam,  ist  dahin  zurückgekehrt,  von  wo  sie  ausgegangen  war,  wenn 
sie  nämlich  nichts  anderes  ist,  als  die  von  Moranns  Halsband.  Das  Glas- 
haus oder  ^urbs  vitrea',  in  das  Melwas  die  g-eraubte  Guennuwar  brachte,  oder 
das  ty  gztydr,  in  das  der  Zauberer  Myrddin  seine  Buhle  steckte,  ist  der  grianan 
mit  Glasfenstem,  den  das  irische  Märchen  von  Etäin  kennt;  es  kommt 
auch  in  Tristans  Geschichte  vor,  ebenso  wie  die  Botschaft  durch  ein  Holz- 
stück, das  den  Bach  hinunterschwimmt;  dieses  gebraucht  schon  Oisin  in 
einer  Erzählung  des  Dinnshenchas.  Sir  Gawains  Abenteuer  mit  dem 
grünen  Ritter  ist  ganz  ähnlich  dem  letzten  Teile  der  Fled  Bricrend  und 
seine  Heirat  mit  der  verwandelten  Hexe  findet  sich  im  Cöir  anmann.  Im 
Lancelot  du  Lac  durchsticht  König  Arthur  den  Medraut  durch  und  durch, 
so  daß  man  das  Loch  sogar  in  seinem  Schatten  sieht  (was  Dante  erwähnt) 
—  das  ist  eine  irische  Hyperbel,  die  bei  den  Senchaid  häufig  wieder- 
kehrt. 

Manche  arthurische  Legenden,  die  die  Barden  wohl  kannten,  sind  als 
Erzählungen  nicht  erhalten  geblieben;  dazu  gehören  Arthurs  oder  Kais 
Kampf  mit  dem  Seeungeheuer  Paluc,  die  Geschichte  von  Creirwy  und 
Garwy  u.  m.  a.  Auch  Tristan  und  Isolde  findet  sich  nur  unvollständig 
in  zwei  Cardiffer  Handschriften,  von  denen  die  ältere  erst  aus  dem 
16.  Jahrhundert  stammt.  Von  dem  normannischen  'Roman  du  Quete  du 
Saint  Greal'  des  Walter  Mapes  und  von  dem  Perceval  le  Gallois  besitzt 
man  eine  alte  walisische  Übersetzung. 


Hl.   Die  altere  llartlcnj)ocsic  und  Ir^     v  j  iq 

III.  Die  ältere  Hardenpocsie  und  Prosa.  Dm  lilütezoit  der  iho  luxdr« 
Bardenpoesie  fällt  unter  die  Reg-ierung  der  einheimischen  Fürsten  des  "«»•••*•» 
12.  und  13.  Jahrhunderts.  Ihr  gelten  Aneurin  und  Talicssin  als  die 
großen  Vorbilder  und  der  Kes.sel  der  Ceridwen  ist  ihr  cast^dlscher 
Quell  (fxiir  <ru'in).  Aber  Arthur  und  die  Helden  und  .Schönen  des 
romantischen  Sagenkreises  haben  bestimmtere  Formen  angenomm«*n.  Die 
Barden  lebten  an  den  Höfen  der  Könige  und  Fürsten  von  Wales  und 
ihre  Gesänge  sind  daher  für  die  Cieschichte  von  Owain  Gwynedd  (1137 
bis  ii'>9)  bis  zu  Llcwelyn  ab  Gruffydd,  unter  dem  da-s  Land  seine  Selb- 
ständigkeit verlor,  von  einiger  Bedeutung.  Eulogieen  und  Elegieen  bilden 
den  größten  Teil  dieser  Poesie.  Sie  berichten  von  inneren  und  äußeren 
Kämpfen  und  von  Schlachten,  die  die  Flüsse  färben  und  die  Raben  froh 
machen;  sie  feiern  die  Tapferkeit,  Gastlichkeit  und  Freigebigkeit  der  fürst- 
lichen Gönner;  auch  der  F^sttrunk  wird  besungen,  und  bekannt  ist  eine 
Ode  über  das  Trinkhorn  Ilirlas,  worin  der  Fürst  von  Powys  Owain  Cyveiliog 
selbst  (t  11^7)  seiner  Getreuen  gedenkt  Von  den  Lobrednern  des  Owain 
GwjTjedd  sind  Cynddelw  *der  große  Dichter'  und  Gwalchmai  die  be- 
rühmtesten. Hervorragend  sind  auch  Llywarch  ab  Llywelyn  gen.  Prydydd 
y  Möch,  der  Barde  Llywelyns  des  Großen  (11Q4 — 1240),  und  Davydd 
Benvras.  Gruffydd  ab  yr  Ynad  Cöch  ist  der  Dichter  einer  bewunderten 
Elegie  auf  den  letzten  F'ürsten  Llewelyn;  ein  Gesang  der  Klage  sind  auch 
'die  Monate'  von  Gwilym  Ddu.  Den  Gedichten  ist  ein  Zug  der  Frömmig- 
keit eigen,  indem  sie  meist  mit  der  Anrufung  Gottes  anheben  und  mit 
einem  Gebet  um  die  ewige  Seligkeit  schließen.  Auch  sind  religiöse  und 
erbauliche  nicht  wenige  darunter,  und  Elidr  Sais  zeichnet  sich  in  der 
Gattung  aus.  Der  Stil  dieser  Barden,  den  Th.  Grey  geschickt  nachgeahmt 
hat,  ist  erhaben,  nicht  mehr  so  dunkel  wie  der  der  ältesten,  aber  doch 
mit  dem  schweren  Tritt  ihrer  Metra  nicht  leicht  und  natürlich.  Terzinen 
werden  nur  noch  selten  gedichtet,  aber  die  langen  Strophen  mit  den  durch- 
gehenden Endreimen  und  ihren  Alliterationen  und  Binnenreimen  sind  in 
diesen  pindarischen  Gesängen  für  den  freien  Ausdruck  des  Gedankens 
immer  noch  eine  Fessel. 

Keiner  der  alten  Barden  ist  so  leicht  und  gefällig  wii-  Hywel,  der 
Sohn  des  Owain  Gwynedd.  Er  sagt,  was  er  liebt  und  haßt  Er  haßt 
England  mit  seinen  Listen.  Er  liebt  seine  Heimat  mit  ihren  Küsten, 
Bergen  und  Tälern,  ihren  F'eldern  und  Wäldern;  er  liebt  ihre  Burgen. 
Krieger  und  Rosse,  ihre  Jagden  und  schönen  Frauen.  Einmal  klagt  er 
über  eine  'Schwester'  mit  holdem  Lächeln  und  reinem  K>'mrisch,  deren 
schlanke  Glieder  durch  den  blauen  Schleier  schimmern,  weil  ihre 
Sprödigkeit  ihm  das  Herz  bricht  Ein  andermal  rühmt  er  sich  .seiner  Er- 
folge bei  den  Gwenlliant,  Gwervyl,  Lleucu,  Xi-st,  Hynydd  —  er  halt 
in  seiner  Aufzählung  inne:  „es  ist  gut,  daß  die  Zähne  die  Zunge  ein- 
schließen«* (j'j  da  diiiit  rac  Un'orvf).  Hier  ist  in  die  walisische  Poesie- 
ein   Element    eingedrungen,    das    die    Alten    ni'-^^'    V nititcn.    i!.-i>    Liebes- 


I20  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

lied,    das    weder    in  Wales   noch   in   einem   anderen   keltischen  Lande    er- 
funden ist 
Mittelwalisische  Je   mehr   die  Waliser   im    13.  und   14.  Jahrhundert  mit  dem  Auslande 

Prosa.  -j^  Berührung  traten,  desto  mehr  steigerte  sich  das  Bedürfnis,  den  Gesichts- 
kreis zu  erweitem  und  die  Literatur  mit  Werken  der  Belehrung  und  Unter- 
haltung zu  bereichem.  In  der  Theologie  hatte  man  das  Hagiologische 
gepflegt,  wovon  eine  Anzahl  lateinischer  Acta  Sanctorum  zeugen.  Aber 
die  Heiligen  {Sciiif)  sind  den  Walisern  ein  weiter  Begriff:  man  verstand 
darunter  vornehme  Männer  christlichen  Glaubens,  auf  deren  Genealogie 
man  \4el  Sorgfalt  verwendete,  denen  man  wohl  übernatürliche  Kräfte  bei- 
legte, die  aber  selten  Märtyrer  sind.  Sie  stammen  vorwaltend  aus  Süd- 
wales, und  Frauen  sind  wenige  darunter.  Die  ältesten  kymrischen  Vitae 
sind  das  Leben  des  heiligen  David  (Dewi),  des  Schutzpatrons  der  Waliser, 
das  auf  dem  von  Ricemarchus  verfaßten  lateinischen  beruht,  und  das  des 
Beuno;  aus  späterer  Zeit  ist  das  Leben  der  heiligen  Gwenvrewi,  übersetzt 
finden  sich  die  Vitae  der  heiligen  Catharina,  der  heiligen  Margareta  u.  a. 
Das  'Buch  des  Teilo'  über  die  Bischöfe  von  Llandäv  und  ihre  Schenkungen 
an  ihre  Kirche  ist  lateinisch,  enthält  aber  bemerkenswerte  Eintragungen 
in  der  kymrischen  Sprache  des  12.  Jahrhunderts.  Die  Waliser  besitzen 
alte  Übersetzungen  der  wichtigsten  theologischen  Schriften,  die  im  Mittel- 
alter allgemein  gelesen  wurden,  namentlich  die  Legende  von  Adam  und 
Eva,  die  Evangelien  des  Pseudomatthäus  und  des  Nicodemus,  das  Leben 
und  den  Hintritt  der  Jungfrau  Maria,  die  Geschichte  des  Pontius  Pilatus, 
den  Traum  des  Apostels  Paulus,  das  Fegefeuer  Patricks  von  H[enry?]  von 
Saltrey,  den  Brief  des  Priesters  Johannes,  und  Adrian  und  Ipotis,  dessen 
lateinisches  Original  nicht  erhalten  ist. 

Geschichte.  Auch  die  Geschichtschreibung  der  Waliser  ist   ursprünglich  lateinisch. 

Sie  nennen  eine  Geschichte  Brut  (Historia  Bruti)  von  ihrem  angeblichen 
Stammvater  Brutus,  dem  Urenkel  des  Trojaners  Aeneas,  und  daher  stellen 
sie  die  Übersetzung  des  Dares  Phrygius  an  den  Anfang  ihrer  Historien. 
Mit  ihrer  '^Geschichte  der  Könige  Britanniens'  treten  sie  den  Iren  an  die 
Seite,  die  ihre  Königsreihen  über  tausend  Jahre  vor  den  Anfang  der 
christlichen  Zeitrechnung  zurückverfolgen.  Die  kymrische  Übersetzung 
dieses  Werkes  des  Gottfried  von  Monmouth  oder  Gruffydd  ab  Arthur 
(f  1155)  ist  in  vielen  Handschriften  erhalten,  die  in  Einzelheiten  verschieden 
sind  (die  älteste  Hegt  in  Mostyn  Hall);  ein  Auszug  daraus  ist  das  sogenannte 
Brut  Tysilio.  Zwei  andere  Bruts,  die  gelegentlich  dem  Caradog  von 
Llangarvan  (ca.  1157)  beigelegt  werden,  sind  die  'Geschichte  der  walisischen 
Fürsten'  von  660 — 1282  und  die  'der  Sachsen'  oder  Engländer  von  800 — 1382. 
Bemerkenswert  ist  auch  das  Leben  des  Fürsten  Gruffydd  ab  Cynan,  von 
dem  man  einen  Text  aus  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  und  eine  alte 
lateinische  Übersetzung  hat. 
Medizin.  Schou  in  früher  Zeit  haben  sich   die  Briten  mit    der  Medizin  beschäf- 

tigt, wie  das  Fragment  eines   lateinischen  Buches    der  Heilkunde  aus  dem 


1\  .  Die  neuere  Bardenpocsic.  I2i 

().  Jahrhundert  in  Leiden  lehrt;  es  finden  sich  nicht  wenig-e  altbrotonische 
Baum-  und  l^flanzennamen  darin.  In  Wales  waren  in  der  Mitte  des  i  3.  Jahr- 
hunderts Rhiwallon  und  seine  drei  Söhne  in  Myddvai  (in  Carmarthenshire) 
als  Ärzte  berühmt,  und  ein  ihnen  zugeschriebenes  Büchlein  über  Heilmittel 
und  Vorschriften  der  Hyj^ione  steht  im  Roten  Buche  von  Hergest.  Die 
Kunst  soll  sich  in  dem  Geschlechte  vererbt  haben,  und  einem  Abkömm- 
ling, dem  Hywel  Veddyg  ab  Rhys,  der  wohl  im  17.  Jahrhundert  lebte, 
verdankt  man  ein  umfangreicheres  Werk  der  Art.  Diesen  und  anderen 
Sammlungen  von  Hausmitteln  ist  reichlich  Aberglaube  beigemischt. 

Außer  den  arthurischen  Sagen  wurden  manche  andere  Unterhaltungs-UDterhAUaoc. 
bücher  übersetzt;  dazu  gehören  die  sieben  Weisen  von  Rom,  Karl  der 
Große  und  Roland  (die  sogenannte  Kompilation  des  14.  Jahrhunderts), 
Amis  und  Amiles,  Bown  von  Hamtoun,  die  Iniago  mundi  des  Henry  von 
Huntingdon,  die  Peregrinatio  des  Odoricus  u.  a.  Es  gibt  auch  mehrere 
kleinere  walisische  Erzählungen  {areif Ji)^  und  ein  walisischer  Äsop  scheint 
schon  im   14.  Jahrhundert  entstanden  zu  sein. 

IV.  Die  neuere  Bardenpoesie,     Während  sich  die  Waliser  aus  der  Die  ttaieni 
lateinischen  und  der  normannischen  Literatur  manches  aneigneten,  erschloß  *^ 

sich  ihnen  mehr  und  mehr  der  romanische  Geist.  Der  hundertjährige 
Krieg  Englands  mit  Frankreich,  der  die  Völker  in  nahe  ßeriihrung 
brachte,  machte  sie  nicht  nur  mit  der  französischen,  sondern  auch  mit  der 
provenzalischen  Literatur  bekannt.  So  ward  das  dürre  Feld  des  Barden- 
tums  mit  bedeutenden  Anregungen  getränkt,  und  die  belebenden  Strahlen 
der  südlichen  Sonne  haben  im  14.  Jahrhundert  eine  neue  Blüte  ihrer  Poesie 
entstehen  lassen. 

Die  Wiedergeburt  bezog  sich  nicht  nur  auf  die  Mannigfaltigkeit  der 
Stoffe,  auch  eine  neue  Form  wurde  geschaffen.  Unter  der  Regierung 
Eduards  IIL,  so  wird  berichtet,  verbanden  sich  die  Barden  von  Nord-  und 
Süd  Wales  zu  einer  dreimaligen  'Eisteddvod  dadeni',  um  die  Kunst  neu  zu 
beleben  und  ihre  Regeln  aufzustellen.  Man  soll  sich  namentlich  über  die 
Annahme  eines  siebensilbigen  Metrums  in  einem  gereimten  Doppelverse 
geeinigt  haben,  indem  man  sich  vermutlich  das  irische  Dthidc  zum  Vor- 
bilde nahm  und  die  Binnenreime  und  die  Alhteration  (die  Cytighancdd) 
auf  Grund  der  alten  Bardenpoesie  regelte.  Das  so  geschaffene*  Cyspy<üi 
(Uu  air  hirion  wird  nun  die  Hauptform  der  walisischen  Poesie  des  14.  bis 
16.  Jahrhunderts,  die  dadurch  in  vieler  Beziehung  gewonnen  hat. 

Wenn  nicht  der  Urheber  dieser  Umgestaltung,  so  doch  der  her\or-  i>ar^  «b 
ragendste  Vertreter  der  wiedergeborenen  walisischen  Poesie  ist  der  Minne-  '* 
sänger  Davydd  ab  Gwilym,  der  im  Anfange  des  14.  Jahrhunderts  geboren 
ist,  1346  auf  der  Höhe  stand  und  i;^68  gestorben  ist.  Von  seinem  Leben, 
das  die  Späteren  zu  einem  Roman  ausgearbeitet  haben,  weiß  man  nichts 
sicheres.  Er  war  von  südwalisischer  Herkunft  und  erfreute  sich  der  Gönner- 
schaft des  freigebigen  Ivor  H     '      ''      Hf>rrn  von  Maesaleg  in  Glamorgan, 


122  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

SO  daß  er  sich  scherzhaft  seinen  viacr  oder  Steward  nennt.  Seine  Gönner 
waren  auch  sein  Oheim,  der  Dichter  Llewelyn  ab  Gwilym  Vychan  in  Emlyn 
in  Cardiganshire,  der  1329  starb,  und  Hywel  ab  Tudur,  der  seit  1359 
Dechant  von  Bangor  war.  Den  Kreis  seiner  Freunde  bildeten  andere  Bar- 
den der  Zeit,  unter  ihnen  namenthch  Madog  Benvras  (f  1370),  Gruffydd 
ab  Addav,  der  1344  ermordet  wurde,  lolo  Goch  und  Gruffydd  Gryg,  ein 
nordwaUsischer  Dichter,  die  ihn  beide  überlebt  haben.  Es  ist  eine  Reihe 
von  Gedichten  erhalten,  in  denen  sich  der  letztgenannte  und  Davydd  be- 
fehden, ein  wenig  im  Ernst,  wie  es  scheint,  aber  mehr  zum  Schein  nach 
der  Bardensitte,  die  bis  in  das  16.  Jahrhundert  andauert.  Sie  ist  aber  ohne 
Zweifel  romanischen  Ursprungs,  wie  denn  die  Tenzone  in  Sonetten  zwischen 
Dante  und  Bicci  Forese  Donati  der  zwischen  Davydd  und  Gruffydd  Gryg 
ganz  ähnlich  ist. 

Davydd  ist  der  Dichter  der  Liebe  und  so  fruchtbar  in  diesem  Fache 
wie  irgendein  romanischer  oder  deutscher  Dichter  seiner  Zeit.  Man  darf 
nicht  hoffen,  aus  diesen  Gedichten  Aufschluß  über  sein  Leben  zu  erhalten, 
so  lang  auch  die  Liste  der  von  ihm  besungenen  Schönen  ist  —  von  der 
zärtlich  geliebten  Dyddgu  und  der  keuschen  Nonne  bis  zu  Elen,  der  Eng- 
länderin in  Bro  Eithindan,  die  ihm  Strümpfe  verkaufte,  und  der  Schuster- 
frau Madrydd.  Sie  alle  werden  überstrahlt  von  Morvudd,  der  schönen 
Blondine,  der  er  zwei,  nein  achtzehn  Jahre  gehuldigt  und  hundertundein 
Lied  gewidmet  hat  —  bald  schmeichelnd,  bald  flehend,  einmal  himmel- 
anjauchzend und  das  andere  Mal  zu  Tode  betrübt.  Über  ihre  Verhältnisse 
ist  nichts  festzustellen.  Ob  sie  in  Nord-  oder  in  Südwales  lebte,  ob  er 
wirklich  des  Glückes  vertrauter  Stunden  bald  im  Hause  der  Geliebten  und 
bald  im  verborgenen  Haine  teilhaftig  geworden  ist,  ob  sie  ihn  ausgeschlagen 
hat  zugunsten  eines  häßlichen  alten  Eifersüchtigen,  der  einst  im  Kriege 
den  kleinen  Bogen  {y  Biüa  back)  geführt  hatte,  ob  er  die  Frau  entführt 
und  sein  Unrecht  mit  dem  Verluste  seines  Vermögens  schwer  gebüßt 
hat  —  in  alledem  läßt  sich  die  Wahrheit  nicht  von  der  Dichtung  scheiden. 
Wahrscheinlich  ist,  daß  Morvudd  ein  Kind  der  Phantasie  ist  und  nicht 
einmal  die  gleiche  Wirklichkeit  gehabt  hat  wie  Beatrice  oder  Laura.  Der 
Süden  ist  die  Heimat  dieses  Minnedienstes,  dieser  ars  amandi  in  allen 
ihren  Einzelheiten. 

Da  ist  der  Liebesbote  {llaftai),  als  welchen  der  Dichter  artig  genug 
allerlei  Tiere  verwendet  —  den  Rehbock,  den  Adler,  die  Waldschnepfe, 
die  Nachtigall,  die  Lerche,  die  Schwalbe,  die  Drossel,  die  Amsel,  den 
Kuckuck,  die  Elster,  den  Birkhahn,  den  Schwan,  die  Möwe,  den  Lachs, 
die  Forelle;  oder  er  vertraut  auch  seine  Klage  dem  Winde,  um  sie  an 
Morvudds  Bett  zu  bringen.  Das  ist  der  mcssatge  der  Provenzalen,  dessen 
Rolle  Marcabru  dem  Staren,  Peire  von  Auvergne  der  Nachtigall  und  ein 
anderer  der  Schwalbe  überträgt.  In  Wales  hatte  Davydd  in  der  Llatteiaeth 
keinen  Vorgänger,  denn  die  bekannten  Gedichte  des  Rhys  Goch  ab  Rhiccerd 
sind  pseudepigraph  und  um  zwei  Jahrhunderte  jünger.  Weiter  werden  in  dem 


I\'.  Die  neuere  llardcnpoesic.  I2» 

walisischen  Minnedienst  Zeichen  [iinoyddion)  vereinbart,  so  wie  im  pro- 
venzalischcn  die  tnsinlui  oder  cntrcsinha.  Das  oed  oder  die  Zusammen- 
kunft oder  das  Stelldichein  ist  es,  worum  der  Dichter  unablässijr  bittet,  und 
es  findet  in  der  Regel  in  einem  Laubversteck  im  Walde  statt,  seltener 
im  ^Inldhüsy  wo  man  Wein  trinkt,  oder  in  der  Behausunj^.  Doch  klafft 
der  Dichter  oft  genug  vor  dem  Fenster  der  Geliebten  in  Regen  und  Kälte 
und  würde  kühn  verwegen  eintreten,  wenn  nicht  die  knarrende  Tür,  der  bissige 
Hund  und  die  schlaflose  Alte  ihn  verrieten.  Unter  den  Gedichten  Davydds 
finden  sich  zwei  'Taglieder',  wie  sie  aus  unseren  eigenen  alten  Dichtem 
wohlbekannt  sind;  der  Provenzale  nennt  sie  Alba  d.  h,  'Morgendämmerung'. 
Da  ist  vor  allem  der  Eiddii^^  der  Eifersüchtige,  dem  Davydd  eine  so 
komische  Rolle  zuerteilt;  er  kommt  aber  schon  in  einem  Gedichte  des 
viel  älteren  Cynddelw  vor  und  entspricht  dem  oft  verhöhnten  Gilos 
der  Trobadores.  Davydd  gibt  seinem  Nebenbuhler  auf  den  Weg  nach 
Frankreich  den  unchristlichen  Wunsch  mit,  er  möge  niemals  wiederkehren 
und  entweder  über  Bord  geworfen  oder  von  einem  guten  Schützen  nieder- 
gestreckt werden.  Ähnliches  wünscht  Guillem  Adhamar  etwa  130  Jahre 
früher  seinem  verhaßten  Rivalen  im  Kriege  gegen  die  Sarazenen. 

Wie  weit  Davydds  Kenntnis  der  fremden  Sprachen  reichte,  läßt  sich 
nicht  sagen;  daß  er  Petrarca  und  Boccazz  gekannt  habe,  ist  nicht  wahr- 
scheinlich, lolo  Goch  nennt  ihn  einen  'Baumeister  der  Sprachen'  {pensiur 
yr  iciDwedd)  und  Madog  Benvras  nennt  ihn  einen  'berühmten  Gelehrten' 
{docfor  clöif).  Des  Englischen  scheint  er  mächtig  gewesen  zu  sein  und  er 
wendet  viele  Wörter  der  Sprache  an,  weshalb  ihn  Goronwy  Owen,  mit 
Unrecht,  wie  mir  scheint,  tadelt  Aber  er  selbst  sagt,  daß  er  kein  Sterbens- 
wörtchen Latein  auf  einem  würdigen  Pergamen  verstehe,  was  man  viel- 
leicht nicht  allzu  genau  nehmen  darf. 

Davydd  war  in  der  Literatur  seines  Landes  wohlbewandert  und  stand 
in  der  Beherrschung  der  Sprache  den  alten  Barden,  wie  seine  Lob-  und 
Trauergedichte  zeigen,  nicht  nach;  auch  in  der  Satire  war  er  so  scharf, 
wie  jemals  Madog  Dwygraig  gewesen,  seinen  Widersacher  Rhys  Meigen 
traf  er  tödlich  damit  Die  düstere  Lehre  der  Dominikaner  war  seiner 
heiteren  Lebensauffassung  zuwider,  wogegen  verschiedene  erbauliche  Ge- 
dichte seine  aufrichtige  Frömmigkeit  bezeugen.  Dazu  war  er  ein  Meister 
der  Tonkunst  {ardJ  dannnu\^  und  seine  Lieder  wurden  im  Norden  und 
Süden  gesungen. 

Davydd  ist  unter  den  walisischen  Barden  der  mannigfaltigste.  Er 
wendet  sich  gegen  die  Putzsucht  der  Damen,  er  besingt  dius  Schwert,  die 
Schlaguhr,  den  Spiegel,  seinen  Schatten,  das  Echo.  Am  größten  er- 
scheint er  jedoch  als  d«'r  Dichter  der  Natur.  Wo  er  die  Offen'  -n  des 
Unendlichen,  die  Wunder  des  Weltalls,  die  Erscheinungen  ;nmels, 
das  Tierleben,  die  Pflanzen  und  Bäume  betrachtet,  setzt  er  durch  die  Fülle 
und  Genauigkeit  seiner  Beobachtungen  in  Erstaunen.  Hier  entfaltet  er 
auch  den  ganzen  Reichtum  seiner  Phantasie  und  weiß  a11">-  '"   ^'  tn..m  ho. 


124  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

sonderen  Zustande  in  nahe  Beziehungen  zu  bringen.  Man  hat  250  —  300 
Gedichte  von  diesem  bedeutenden  Manne,  die  freiüch  in  beklagenswertem 
Zustande  auf  uns  gekommen  sind,  durch  Interpolation  imd  Unverstand  über 
die  Maßen  entstellt.  Die  Arbeit  von  Jahrzehnten  wird  nötig  sein,  um  mit 
seinem  Texte  einigermaßen  ins  reine  zu  kommen. 
Seine  Den    patriotischen    Gesang    belebten    am    Anfange    des    15.  Jahrhun- 

Nachfoiger.  ^q^^^  (jjg  Taten  des  berühmten  Owen  Glendower.  Vor  allen  des  Lobes 
würdig  ist  das  Gedicht  auf  den  walisischen  Kriegshelden  von  seinem 
Hausbarden  Gruffydd  Llwyd  ab  Davydd  ab  Einion,  Seiner  Gunst  erfreute 
sich  auch  lolo  Goch,  der  von  den  zahlreichen  Barden  nach  Davydd  ab 
Gwih'm  vielleicht  der  bedeutendste  ist.  Er  hat  nicht  nur  Owen  und  sein 
Schloß  Sycharth,  wo  er  wohl  aufgenommen  wurde,  besungen,  sondern  auch 
Eduard  III.,  mehrere  walisische  Kriegsmänner  und  Edelleute,  und  hat 
außer  Lob-  auch  Rügelieder  gedichtet.  In  einigen  historischen  Stücken 
gebraucht  er  nach  dem  Geschmack  der  Zeit  dunkle  Andeutungen  und 
Gleichnisse.  Er  hat  auch  ein  Gedicht  über  das  Schiff  und  eins  über  den 
Landmann.  Als  seinen  Lehrer  nennt  er  Llywelyn  Goch  ab  Meurig  H§n, 
der  durch  seine  schöne  Elegie  auf  Lleucu  Llwyd  bekannt  ist,  hat  sich 
aber  im  Liebeslied  wenig  versucht.  Dagegen  zeichnet  er  sich  im  reli- 
giösen Gedicht  aus,  wo  lateinische  Hymnen  seine  Vorbilder  waren.  Auch 
eine  Bearbeitung  der  Visio  Fulberti,  das  Gespräch  zwischen  Seele  und 
Körper,  soll  ihm  gehören.  Zwei  jüngere  Zeitgenossen  sind  der  Theolog 
wiklefianischer  Richtung  Sion  Kent,  der  nicht  von  der  Zunft  der  Barden 
war,  und  Rhys  Goch  Eryri,  der  durch  die  Sprache  hervorragt. 

Von  den  Dichtern  des  15.  Jahrhunderts  darf  man  nicht  übergehen 
Davydd  Nanmor  in  Beddgelert  (-j-  1463);  Davydd  ab  Edmund  (f  1490),  der 
sich  im  Liebeslied  hervortat  und  ein  System  der  24  Metra  aufstellte;  Robin 
Ddu  von  der  Insel  Anglesey;  ferner  Gutto  y  Glyn  (-}-  1490),  der  bei  dem 
Abte  von  Valle  Crucis  gute  Tage  sah;  Guttyn  Owain  (f  1499),  den  Histo- 
riker und  Genealogen;  und  Lewis  Glyn  Cothi,  der  bis  i486  dichtete.  Er 
lobt  den  Herrn  und  die  Herrin,  von  denen  er  Gastfreundschaft  und  Ge- 
schenke empfing,  fertigt  Hochzeitsgedichte  an,  preist  die  Freuden  der  Tafel, 
und  wie  er  den  Haß  gegen  die  'Sachsen'  und  den  Krieg  predigt,  so  be- 
grüßt er  die  Thronbesteigung  Heinrichs  VII.  Tudur. 

Unter  den  Barden  des  16.  Jahrhunderts  steht  voran  Tudur  Aled,  ein 
Franziskaner  (-|-  1530),  der  wie  Guttyn  Owain  von  Davydd  ab  Edmund  ge- 
bildet war.  Er  war  der  Lehrer  des  Gruffydd  Hiraethog  (7  1564),  der  vier 
namhafte  Schüler  hatte :  William  Lleyn  (-j-  1584?),  einen  talentvollen  Dichter, 
der  mit  Owain  Gwynedd  (f  1587?)  stritt;  William  Cynwal  (f  1588),  der  im 
Wettgesange  gegen  den  Theologen  Edmund  Price  (•]-  1624)  unterlag;  Sion 
Tudur  {7  1602),  der  einsichtig  genug-  war,  die  Fehler  der  Barden  zu  er- 
kennen; und  Simwnt  Vychan  den  Prosodisten  (-j-  1606).  Thomas  Price 
(1589  — 1634)  gehört  mit  seinen  pointierten  Gedichten,  obwohl  noch  im 
Cywydd  dichtend,  bereits  einer  neuen  Zeit  an. 


V.  Die  spätere  Literatur.  12« 

Dio  walisischen  Barden  waren  in  dieser  zweiten  Blüte  ganz  ähnlich 
wie  die  provenzalischen  Dichter  i.,'-eordnet  Der  bardd  oder  pryJydd  'der 
Dichter'  möchte  dem  trubairc  und  der  clerwr  'der  fahrende  Sänger'  dem 
provenzalischen y'ö^/rtr  entsprechen.  Je  mehr  der  'Hausbarde'  außer  Dienst 
gestellt  wurde  (aus  dem  17.  Jahrhundert  werden  die  letzten  erwähnt),  desto 
häufiger  wurde  der  Barde  zu  einem  fahrenden  Sänger,  Es  mehren  sich 
mit  der  Zeit  die  Gedichte,  in  denen  die  Barden  um  ein  Geschenk  bitten 
oder  dafür  danken,  und  im  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  berechnet  einer 
von  ihnen,  Rhys  Cain,  seine  Jahreseinnahme  aus  seinem  acrs  clcra  auf 
etwa  30  Pfund.  Schon  der  königliche  Erlaß  von  1586  klagt  über  'die 
unerträgliche  Menge'  der  Barden,  und  um  dieselbe  Zeit  hatte  Grniffydd 
Roberts  eine  sehr  geringe  Meinung  von  ihnen:  mit  einem  Töpfchen  Bier 
und  einem  Penny,  sagt  er,  könne  man  sich  ihr  Wohlwollen  leicht  erkaufen. 

Daß  die  Barden,  zu  deren  Ausbildung  in  den  drei  cuv  oder  Ge-  Crmmmatik 
dächtnisgegenständen  außer  der  Geschichte  und  der  Genealogie  die  Kennt- 
nis jedes  Wortes  und  jeder  Wortsilbe  gehörte,  ihre  Sprache  gründlich  ver- 
standen, zeigt  die  Kunst  ihrer  Verse,  die  in  aller  keltischen  Poesie  ebenso 
wesentlich  wie  der  Inhalt  ist.  In  ihrer  Grammatik  oder  ihrem  Donat 
{d-oned)  ist  der  erste  Teil,  die  Formenlehre,  auf  einem  elementaren  Stand- 
punkte geblieben,  da  der  zweite,  die  Prosodie  {ccrdd  tavaivd)  für  sie  wich- 
tiger war.  Es  ist  eine  Legende,  daß  Geraint  Vardd  Glas,  der  unter  Alfred 
dem  Großen  gelebt  haben  soll,  die  Grammatik  begründet,  und  daß  Gruffydd 
ab  Cynan  (f  1137)  zu  Caerwys  die  Regeln  der  Prosodie  aufgestellt  habe; 
der  Nationalgrammatiker  ist  vielmehr  Edeyrn  der  Goldzungige  [tava^vd 
our)  im  i  2.  Jahrhundert.  Das  'Dosparth  Edeyrn',  sein  System  der  24  Metra, 
findet  sich  im  Roten  Buche  von  Hergest,  und  das  1451  von  Davydd  ab 
Edmund  aufgestellte  weicht  nur  in  zwei  Metren  davon  ab.  Dieses  'Dos- 
parth Caervyrddin'  hatte  namentlich  in  Xordwales  Geltung,  und  nicht  er- 
heblich verschieden  ist  das  des  Simwnt  Vychan,  der  sich  auf  Davydd  Ddu 
stützt.  Erst  1681  trat  Edward  Davydd  mit  einer  südwalisischen  Metrik 
(Dosparth  Morganwg)  hervor,  die  Edw.  Williams  als  das  Cyvritiach  hcirdd 
ynys  Prydain  (den  l*itel  hatte  Guttyn  Owain  1455  für  seine  Grammatik 
gefunden)  1829  ediert  hat.  Zu  diesen  nützlichen  Sprach-  und  Verslehren 
haben  die  Barden  des  10.  und  17.  Jahrhunderts  allerlei  phantastisches  Bei- 
werk in  endlosen  Triaden  ersonnen,  das  in  dem  'Barddas'  des  Llywelyn 
Siön  seine  Darstellung  gefunden  hat.  Zu  jenen  närrischen  Erfindungen 
gehört  auch  das  berühmte  Coclbren  y  beirdd.,  eine  altbritische  Schrift,  die 
auf  Holzstäbe  eingeschnitten  wurde,  und  dieser  Bardismus  und  Druidismus 
hat  viele  Köpfe  verwirrt.  Abseits  von  den  Barden  arbeitete  Gruffydd 
Roberts  seinen  Katechismus  der  kymrischen  Sprach-  und  Verslehre,  den 
er   1567  in  Mailand  bei  Vicenzo  Girardini  drucken  ließ. 

\'.    Die    spätere    Literatur.      Zu    der    Zeit,    als    in    verschiedenen  n«M««r. 
Städten  Englands  die  Mysterien  und  Mirakelspiele  in  Blüte  standen,  haben 


126  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

auch  die  Waliser  die  Anfange  eines  Volkstheaters  gehabt.  Llitd  a  lledrith 
'Zauberei  und  Erscheinung'  soll  es  geheißen  haben  und  die  Bühne  mit 
dem  Worte  twnipath  'Hügel'  bezeichnet  sein.  Der  Hauptgegenstand  der 
Spiele  war  Ymdaith  Crist  'der  Lebenslauf  Christi',  von  dem  zwei  Teile, 
'Herodes  und  die  drei  Könige'  und  'die  Passion'  bekannt  geworden 
sind.  Das  erstere  wird  dem  lolo  Goch  (ca.  1400),  das  andere  dem  lorwerth 
Vynglwyd  (j  15 16)  zugeschrieben.  Es  sind  aber  deutlich  Bearbeitungen 
eines  englischen  Originals  und  vermutlich  aus  dem  16.  Jahrhundert.  Aus 
den  Mysterien  entwickelten  sich  dann  im  16.  und  17.  Jahrhundert  Inter- 
ludi,  dramatische  Szenen,  in  denen  auch  nichtkirchliche  Gegenstände 
behandelt  wurden.  Eines  der  ältesten  Spiele  der  Art  ist  '  der  Priester 
und  der  Mächtige'  (1543),  ein  anderes  'der  verlorene  Sohn'.  Dann 
wagte  man  sich  an  größere  Aufgaben,  wie  Troilus  und  Cressida,  König 
Lear,  Philipp  und  Mary  u.  a.  Das  Komische  ward  ein  wichtiges  Element 
in  den  Aufführungen,  und  die  letzten  Schwanke,  die  mitunter  in  niedrige 
Sprache  verfallen,  sind  die  zahlreichen  Interludes  von  Thomas  Edwards, 
genannt  Twm  o'r  Nant  (1738 — 18 10). 
Die  Dichter  der  Im    17.  Jahrhundert    erfahrt    die   walisische    Poesie    eine    Veränderung 

Nenzen.  ^^^  Form,  indem  man  für  die  alten  silbenzählenden  Versmaße  [y  mesuraii 
caethion)  die  freien  {y  viesurau  rhyddion)  einführt,  die,  wie  die  neuen 
gälischen,  akzentuierende  sind.  Das  ist  ihr  Merkmal,  denn  sie  bewahren 
noch  eine  Fülle  der  Reime  und  Binnenreime  und  haben  auch  Alliteration. 
Einer  der  ersten  Dichter  der  neuen  Form  ist  Richard  Hughes  (um  1600), 
unter  dessen  Carolau  jedoch  auch  einige  in  der  irischen  Rannaigecht  sind 
(in  der  'alten  Liederweise'  lien  ganiad,  wie  sie  jetzt  genannt  wird);  und 
der  hervorragendste  ist  Hugh  Morris  (1622 — 1709),  der  Royalist,  der 
sich  in  leichter  und  ernster  Lyrik  auszeichnet.  Die  Form  des  Cywydd 
mit  der  Cynghanedd  ist  aber  niemals  ganz  vergessen  und  verloren  ge- 
gangen. 

Unter  den  hundert  Dichtem  der  neuen  Zeit  ist  der  bedeutendste 
Goronwy  Owen,  der  1723  auf  der  Insel  Anglesey  geboren  wurde  und  nach 
einem  verfehlten  Leben  kaum  50  Jahre  alt  in  Amerika  starb.  Er  hatte 
eine  gelehrte  Bildung,  verstand  das  Kymrische  in  seiner  Feinheit  (er 
rühmt  seine  Mutter,  die  ihm  von  früh  auf  jeden  Sprachfehler  verbessert 
habe)  und  ward  nicht  müde  die  Kunst  zu  lernen.  Von  seinen  wenig  zahl- 
reichen Gedichten  ist  seine  Ode  auf  das  jüngste  Gericht  am  bekanntesten. 
Er  ist  ein  Dichter  voll  Gemüt,  ob  er  nun,  vom  Heimweh  erfaßt,  seine 
Klage  aus  der  Feme  nach  Mon  richtet  oder  die  Gestalten  des  Neides  und 
der  Armut  zeichnet  oder  von  der  Dachstube  dem  Treiben  der  Welt  zu- 
schaut oder  den  Freund  aufs  Land  einlädt.  Seine  Verse  haben  einen 
eigenen  Zauber,  er  ist  der  Liebling  seiner  Landsleute  geworden.  Von 
der  Aufzählung  anderer  Dichter  des  18.  und  19.  Jahrhunderts  müssen  wir 
leider  absehen,  dürfen  aber  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  die  Waliser  aus 
fremden   Sprachen  manche   Dichtung   übersetzt  haben.     Es   gibt  ein  kym- 


V.  Die  spätere  Literatur.  12^ 

risches  Verlorenes  Paradies  von  William  Owen  Pughe  und  sogar  eine  Gött- 
liche  Komödie  von  Daniel  Rees. 

Neben  der  Poesie  der  Barden  und  der  fahrenden  Sänger  haben  skoUen. 
die  Waliser  seit  alter  Zeit  die  Hauspoesie  gepflegt.  Wenn  man  sich  der 
Geselligkeit  hingab,  wenn  Harfe,  Pfeife  und  Viola  {cnvth)  ertönten,  dann 
stimmte  man  auch  wohl  einen  Rundgesang  an,  in  dem  jeder  das  Beste 
brachte,  was  er  aus  dem  Gedächtnisse  oder  dem  Stegreife  darbieten  konnte. 
Man  sang  um  die  Wette,  den  Text  den  wechselnden  Melodieen  der  Harfe 
anpassend.  Diese  pcnnil/ion,  Einzelstrophen  oder  Skolia,  über  alle  mög- 
lichen Gegenstände  sind  in  der  Regel  epigrammatisch,  oft  scherzhaft, 
mitunter  satirischen,  am  häufigsten  aber  verliebten  Inhalts.  Sie  sind  nicht 
nur  in  freien  Metren,  sondern  auch  in  der  schwierigen  Form  des  Englyn 
üblich.     Man  hat  sie  zu  vielen  Hunderten  gesammelt. 

Ihr  Reichtum  an  Spruchweisheit  zeichnet  die  Waliser  vor  vielen  Spruchw««heit 
Völkern  aus.  Es  handelt  sich  nicht  nur  um  Sprichwörter,  deren  sie  eine 
große  Zahl  besitzen;  die  Sammlung  des  Gruffydd  Hiraethog  erschien  schon 
1546  und  ist  neben  der  Prime  des  Sir  John  Prj's  der  erste  Druck  in  der 
Sprache.  Viel  zahlreicher  sind  ihre  Triaden  {friocdd),  Sätze  der  Erfahrung 
und  Belehrung,  in  denen  beständig  eine  Dreiheit  als  eine  Einheit  zu- 
sammengefaßt wird.  Sie  handeln  über  das  Haus  und  die  Familie,  den 
Staat  und  die  Welt,  die  Cymry  und  die  Sachsen,  die  Geschichte  und  die 
Theologie,  die  Gesetze  und  die  Moral,  die  Poetik  und  die  Barden.  Die 
verschiedenen  Triadensammlungen  werden  alten  Weisen  beigelegt,  nament- 
lich dem  weisen  Catoc,  der  wohl  mit  dem  Cato  der  Distichen  verwechselt 
wurde.  Aber  in  Wahrheit  sind  die  Urheber  die  Barden  bis  ins  1 6.  und  1 7.  Jahr- 
hundert Aus  früherer  Zeit  gibt  es  verhältnismäßig  wenige,  und  diese 
sind  historisch  oder  mythologisch.  Da  nun  die  Triadensammlung-  der  Iren 
ein  höheres  Alter  hat,  nach  der  Sprache  zu  urteilen  etwa  aus  der  zweiten 
Hälfte  des  <;.  Jahrhunderts  stammt,  so  ist  es  wahrscheinlich,  daß  sie  die 
Gattung,  die  wohl  in  der  biblischen  Sprache  und  in  dem  Begriffe  der 
Trinität  ihren  Ursprung  gehabt  hat,  früher  ausgebildet,  aber  nicht  ebenso 
ausgedehnt  haben. 

Die  neuwalisische  Sprache  wird  mehr  geschrieben,  als  irgendeine  Neuere  Ptoml 
andere  unter  den  keltischen  Sprachen,  auch  der  Tagespresse  dient  sie  in 
großem  Umfange.  Aber  nur  wenige  Prosawerke  von  dauerndem  Werte 
sind  geschafften.  Eine  Geschichte  Englands  von  Wilhelm  dem  Eroberer 
bis  zu  Eduard  VI.  von  Elis  Gruff"ydd  liegt  noch  im  Manuskript  Ein  mittel- 
mäßiges Werk  über  die  alten  Briten  Drych  y  prifocsocdd ,  zuerst  1716  er- 
schienen, lieferte  Theoph.  Evans  (1693 — 1769).  Die  beste  Geschichte  von 
Wales  {Hancs  Cymru)  veröffentlichte  Thomas  Price,  genannt  Carnhuanawc 
('7^3 — 1848),  im  Jahre  1842.  Geschätzt  werden  die  Schriften  des  Mystikers 
Morgan  Llwyd  (-}-  1659),  von  denen  das  Gespräch  der  drei  Vögel  (Adler, 
Rabe  und  Taube)  von  161 3  die  bedeutendste  ist  Leichterer  Art  ist  eine 
südwalisische  Übersetzung    von  Jean    de    Cartignys   'Irrendem    Ritter'   {Y 


128  Ludwig  Christian  Stern:  Die  kymrische  (walisische)  Literatur. 

marchog  cnvydrad),  wovon  man  in  Llanwrin  eine  Handschrift  von  ca.  1600 
hat.  Vielleicht  das  beste  Prosawerk  sind  'Die  Gesichte  des  Schlaf barden' 
{Gweledigaetheu  y  Bardd  Cwsc)  von  Ellis  Wynne  (167 1 — 1734);  es  ist  eine 
Satire  auf  die  Torheiten  der  Welt,  nach  dem  Vorbilde  der  Suenos  des 
Francisco  de  Quevedo  Villegas,  aber  durchaus  auf  die  walisischen  Ver- 
hältnisse übertragen.  Das  Volksmärchen  ist  in  Wales  weniger  gepflegt 
worden,  doch  hat  man  eine  Anzahl  Elfenmärchen  in  kymrischer  Sprache 
gesammelt,  und  der  ausgezeichnete  Silvan  Evans  hat  in  seinem  'Ysten 
Sioned'  hübsche  Beiträge  zum  Folklore  des  Landes  geliefert. 
Bibel  Das    Hauptbuch    der    Waliser    ist    die    Bibel,    deren    erste    Ausgabe 

"°LitI!ato^^  von  dem  Bischof  William  Morgan  (1547 — 1604)  1588  erschien.  Sie  wurde 
aber  durchgehends  überarbeitet  von  Rieh.  Parry  (1566 — 1623),  dem  bei 
der  ersten  Ausgabe  von  1620  der  Grammatiker  John  Davies  (1570 — 1644) 
zur  Seite  stand.  Auf  dieser  beruhen  die  späteren  Drucke.  Das  schon  1567 
herausgegebene  Neue  Testament  von  William  Salesbury  und  R.  Davies 
ist  in  Vergessenheit  geraten,  da  es  in  sprachlicher  Hinsicht  anfechtbar 
war.  Die  kirchliche  und  religiöse  Literatur  der  Waliser  ist  umfangreich 
imd  wird  fortdauernd  vermehrt.  Auch  die  religiöse  Poesie  ist  unter  der 
Herrschaft  des  Methodismus  sehr  angewachsen,  und  auf  die  Singpsalmen 
von  Edmimd  Price  sind  zahlreiche  Hymnenbücher  gefolgt,  unter  denen 
die  Gedichte  von  William  Williams  von  Pantycelyn  aus  der  Grafschaft 
Carmarthen  (1717 — 1791)  am  höchsten  gestellt  werden.  Allbekannt  ist  auch 
'Die  Leuchte  der  Waliser'  {Can'wyll  y  Cymry)  von  Rhys  Prichard,  dem 
Vikar  von  Llandovery,  gleichfalls  in  Carmarthenshire  (1579 — 1644);  es  ist 
eine  Sammlung  erbaulicher  Gedichte  in  der  Sprache  des  Volkes,  'leicht  zu 
lernen  und  leicht  zu  behalten',  worin  er  viel  ins  Menschenleben  hinein- 
greift und  unablässig  zum  Guten  mahnt. 


Literatur, 

S.  114.  Enw.  Lhuyd,  Archaeologia  Britannica,  Oxford  1707;  J.  G.  Evans,  die  er- 
wähnten Kataloge  kymrischer  Handschriften;  W.  ROWLAND,  die  erwähnte  kyrnrische  BibUo- 
graphie  (mit  Nachträgen  in  der  Revue  celtique  I.  376  ff.  III.  30  ff.  346  ff.).  —  The  M>'v>Tian 
Archaiology  of  Wales  coUected  out  of  ancient  manuscripts,  London  1801  — 1807,  3  voll. 
(Neudruck  Denbigh  1870  in  einem  Bande);  der  Titel  bezieht  sich  auf  Glyn  y  MyvyT  in  Denbigh- 
shire,  den  Geburtsort  des  Kürschners  Owen  JONES  (1741  — 1814),  der  die  Kosten  der  Publi- 
kation trug;  seine  Gehilfen  bei  der  Herausgabe  waren  Will.  Owen  (Pughe)  und  Enw. 
WiLLLXMS  (lolo  Morganwg);  lolo  Manuscripts.  ed.  by  Taliesin  Williams,  Llandovery  1848 
(Neudruck  Liverpool  1888),  wie  alles  von  Edw.  Williams  Ausgehende  nur  mit  Vorsicht 
zu  benutzen.  —  Femer  die  obengenannten  Literaturgeschichten  von  Th.  Stephens,  Th.  Wilkins, 
ROB.  lOAN  Prys  und  Ch.  .Xshton.  —  Zeitschriften:  The  Cambrian  Register  1796— 1 8x8,  3  voll.; 

Y  Greal  1805  —  1807;  Seren  Gomer  1814  ff;  The  Cambro-Briton  1820—1822,  3  voll.;  Trans- 
actions  of  the  Cymmrodorion  1822 — 1843,  2  voll.;  The  Cambrian  Quarterly  1830 — 1835,  5  voll. 

Y  Traethodydd  1845  ^-i  Archaeologia  Cambrensis  1846  ff.  bis  zurzeit;  The  Cambrian  Journal 
1854—1864,  II  voll.;  Y  Brython  1858— 1863,  5  voll.;  Y  Cymmrodor  1877—1905,  18  voll.; 
Transactions  of  the  Cymmrodorion   1892 — 1904,  11  voll. 

S.  114.  W.  F.  Skene,  The  Four  ancient  Books  of  Wales  containing  the  Cymric  poems 
attributed  to  the  Bards  of  the  si.xth  Century,  Edinburgh  1008,  2  voll.  Von  den  vier  Codices 
ist  der  älteste,  das  Schwarze  Buch  von  CARi\L\RTHEN ,  von  J.  G.  Evans  in  Faksimile  heraus- 
gegeben, Oxford  1888.  —  Th.  Stephens,  The  Gododin  of  Aneurin  Gwawdr\T)D  ed. 
Th.  PowEL,  London  ib88. 

S.  116.  Cyfreithyeu  Hywel  Dda  ac  ereill,  seu  Leges  Wallicae  ecclesiasticae  et  civiles, 
ed.  Gu.  WOTTON,  Londini  1736;  Ancient  laws  and  institutes  of  Wales,  ed.  An'EURIN  Owen, 
184 1,  fol.  und  okt;  F.  Walter,  Das  alte  Wales,  Bonn  1859;  J.  Rhvs  and  J.  Brynmor -Jones, 
The  Welsh  people,  London  1900. 

S.  117.  The  Text  of  the  Mabinogion  and  other  Welsh  Tales  from  the  Red  Book  of 
Hergest,  ed.  J.  Rhvs  and  J.  G.  Ev.\NS,  Oxford  1887.  Die  erste  .Ausgabe  mit  englischer 
Übersetzung  von  Lady  Charl.  Guest  1838  —  1849;  die  zweite  mit  neuwalisischer  Übersetzung 
von  I.  Foulkes,  Liverpool  1880;  deutsche  Übersetzung  in  den  Schriften  San-Martes, 
französische  von  J.  Loth,  Paris  1889.  —  über  die  vielerörterte  Frage  der  'matit^re  de 
Bretagne'  vergl.  die  abschließenden  Bemerkungen  H.  Zimmers  in  W.  Försters  Ausgabe 
der  Werke  Christians  von  Troves  Bd.  IV  p.  CIX  ff. 

S.  110.  Ev.  Evans,  Some  specimens  of  the  poetry  of  the  antient  Welsh  bards, 
London  1764;  Edw.  Jones,  Musical  and  poetical  Relicks  of  the  Welsh  Bards,  London  1784 
(1794).  i8o2,  2  voll. 

S.  120.  W.  J.  Rees,  Lives  of  the  Cambro- British  Saints,  Llandovery  1853;  The  Text 
of  the  Book  of  LIan  Dav  reproduced  from  the  Gwysaney  Manuscript  by  J.  G.  Evans,  Oxford 
1S94  (erste  .Ausgabe  von  W.  J.  Rees  1840);  R.  Willia.ms,  Sclcctions  from  the  Hcng^^•rt  .Mss. 
London  1876.  1892,  2  voll.;  J.  MORRIS  JONES  and  J.  Rhvs,  The  Elucidarium  and  other  tracts 
from  Llyvyr  agk>T  Llandewivrewi  A.  D.  1346,  Oxford  1894;  The  Text  of  the  Bruts  from  the 
Red  Book  of  Hergest,  ed.  J.  Rhvs  and  J.  G.  Evans.  Oxford  i8f)o;  The  life  of  Griffith  ap 
Cynan  (Archaeologia  Cambrensis  lll.  XII.  .?off.,  ihöo).  —  The  physicians  of  Myddvai,  trans- 
lated  by  J.  Pughe  and  cd.  by  J.  Williams  ab  Ithel,  Llandovery  it6i.  —  Amis  and  Amiles, 
cd.  H.  Gaidoz  (Revue  Celtique  IV.  201  ff.). 

Di«  Kolivk  dcs  Giohtwart.    L  h.  t.  9 


130  Ludwig  Christian  Stern:  Literatur. 

S.  121.  Barddoniaeth  Dafydd  ab  Gwilvm.  O  gr}'ngoad  Owen  Jones  a  William 
Owen,  Llundain  1789;  die  zweite  Ausgabe  mit  unbedeutenden  Zusätzen  und  zahllosen  Druck- 
fehlem von  ROB.  Ellis  (Cynddelw),  Liverpool  1873;  eine  Auswahl  von  Owen  M.  Edwards 
(Ab  Onven),  Llanuwchllyn  (1901).  Vgl.  Prof.  Cow^ll,  Y  Cymmrodor  II.  loiff.;  Annales  de 
Bretagne  IV.  387  ff. 

S.  124.  Gorchestion  beirdd  Cymru,  o  gasgliad  Rhys  JONES,  Amw'>'thig  1773  (zweite 
Ausgabe  von  C\'NDDELW,  Caernarfon  [1864]  und  eine  dritte);  O.  JONES,  Ceinion  Llenyddiaeth 
Gymraeg,  London  s.  a.  (1876),  2  voll.;  J.  Fisher,  The  Cefn  Goch  Mss.:  two  mss.  of  Welsh 
poetry,  written  principally  during  the  XVII th  Century,  Liverpool  1899  (vielfach  gekürzt,  ne 
contra  bonos  mores);  Gweithiau  lolo  Goch,  ed.  Gh.  Ashton,  Croesoswallt  1893  (vgl.  Zeit- 
schrift für  celt.  Philol.  II  i62ff.);  The  poetical  works  of  Lewis  GhYS  Cothi,  Oxford  1837. 

S.  125.  Dosparth  Ede\'RN  Davod  aur;  or  the  ancient  Welsh  grammar,  ed.  J.  WIL- 
LIAMS ab  Ithel,  Llandovery  1856;  Griffith  Roberts,  A  Welsh  grammar  and  other  tracts, 
Milan  1567,  a  facsimile  reprint ,  Paris  1883.  —  J.  Loth,  La  metrique  galloise,  Paris  1900 — 1902, 
3  voll.  (vgl.  J.  Morris  Jones  in  der  Zeitschrift  f.  celt.  Philol.  IV.   106  ff.). 

S.  125.  Caniadeu  Cymru  yn  y  mesurau  rhyddion,  gyda  rhagymadrodd  ar  godiad 
a  datblygiad  barddoniaeth  rydd  yn  y  Gymraeg,  Caerdydd  1905.  —  W.  Lewis  Jones, 
Caniadau  Cymru,  Bangor  1897.  —  GorONWY  Owen,  The  poetical  works,  with  his  life  and 
correspondence,  ed.  RoB.  JONES,  London  1876,  2  voll.  (Auch  Ausgaben  in  Liverpool  und  in 
Llanuwchlyn.) 

S.  127.  J.  Jones,  An  essay  on  Pennillion  singing,  London  1895;  vgl.  Annales  de 
Bretagne  IX.  6iiff. ;  Jenkyn  Thomas,  PeniUion  telyn,  Caernarfon  1894;  Transactions  of  the 
Society  of  Cymmrodorion  1899 — 1900,  p.  io6ff.  —  H.  H.  Vaughan,  Welsh  proverbs  with 
English  translation,  London  1889;  Extraits  des  dictons  du  sage  Cadoc  (Revue  celtique  III. 
419  —  442). 

S.  128.  Ellis  Wynne,  Gweledigaetheu  y  Bardd  Cwsc,  dan  olygiaeth  J.  Morris  JONES, 
Bangor  1898  (vgl.  Zeitschrift  f.  celt.  Philol.  III.  165 ff.);  Y  marchog  crwydrad  steht  in  y  Brython, 
vol.  V.  —  J.  Rhy'S,  Celtic  Folklore,  Welsh  and  Manx,  Oxford  1901  (vgl.  Zeitschrift  f.  celt. 
Philol.  III.  605  ff.). 

S.  128.     Über  die  Ausgaben  der  Canwyll  y  Cymry  s.  Y  Cymmrodor  XIII.  iff. 


D.  DIE  KORNISCHE  UND  DIE  BRETONISCHE  LITERATUR. 

Von 
Ludwig  Christian  Stkkn. 

I.  Die  kornische  Literatur. 

L  Die  ältesten  Denkmäler  der  Sprache.  Comwall,  das  schon  Äitette 
seit  dem  lo.  Jahrhundert  zum  eng^lischen  Könii^reiche  gehört,  hat  seine  '-''*^*"'- 
keltische  Eigenart  am  frühesten  verloren  und  konnte  sich  dem  Einflüsse 
der  herrschenden  Bevölkerung  am  wenigsten  entziehen.  Hier  gab  es 
keine  Barden  an  den  Sitzen  der  Fürsten  und  Edelmänner,  und  so  sind  die 
Bergleute  und  Fischer  des  rauhen  Gebirgslandes  geistig  arm  geblieben. 
Indes  hat  man  einige  Zeugnisse  dafür,  daß  die  Literatur  der  Cymry  auch 
nach  diesen  sprachverwandtesten  Nachbarn  eine  Wirkung  ausgeübt  hat  und 
daß  sie  im  Mittelalter  nicht  ohne  alle  Kultur  gewesen  sind.  Von  den  nur 
sprachlich  bemerkenswerten  Aufzeichnungen  sehen  wir  ab,  aber  Edw.Llwyd 
hörte  im  Lande  noch  einen  Vers  in  der  alten  Form  des  'Englyn  milwr', 
und  R.  Carew  erwähnt  in  seinem  Survey  of  Comwall  1602  das  mit  solchen 
Terzinen  vielleicht  zusammenhängende  'three  man's  song,  cunningly  con- 
trived  for  the  ditty,  and  pleasantly  for  the  note'.  Wir  haben  noch  einzelne 
Worte  aus  einer  komischen  'Prophetia  Ambrosii  Merlini  de  Septem  regibus*, 
die  Johannes  Cornubiensis  auf  den  Wunsch  des  Bischofs  Robert  von  Ox- 
ford um  II 70  'juxta  nostrum  britannicum'  in  lateinische  Hexameter  über- 
trug und  kommentierte.  Diese  aus  einer  vatikanischen  Handschrift  von 
Greith  edierte  Weissagnng  betrifft  die  Zeitgeschichte  unter  Wilhelm  dem 
Eroberer,  seinen  vier  Söhnen,  König  Stephan  und  Heinrich  II.  Die 
kornischen  Schriften  aus  der  späteren  Zeit  sind  der  armorischen  Literatur 
näher  als  der  kymrischen  verwandt  und  fast  ausschließlich  religiös. 

Die  Korner  haben  im  Ausgange  des  Mittelalters,  noch  früher  als  Thcawr. 
die  Waliser,  die  Mysterien  gepflegt,  und  man  zeigt  im  Lande  noch  die 
Rounds,  die  als  Spielplätze  [plan  an  gwarc)  oder  Amphitheater  gedient 
haben  mögen.  Einige  Dramen  der  Art,  zu  denen  die  Anregung  vielleicht 
von  der  Bretagne  ausgegangen  ist,  sind  uns  erhalten.  Dem  i  5.  Jahrhundert 
gehört  eine  Mysterien -Trilogie  an,  deren  erstes  Stück  die  ErschatTung  der 
Welt  bis  zu  König  Salomo,  das  zweite  die  Passion  und  das  dritte  die 
Auferstehung  des  Herrn  behandelt.  Die  biblischen  Stoffe  haben  manche 
Zusätze  aus  den  aprokryphen  Schriften  und  aus  den  Acta  Sanclorum  er- 
halten; man  nennt  die  Schauspiele  ihrem  Ursprünge  aus  der  kirchlichen 
Liturgie  gemäß  Ordinalia,  weil  sie  wie  die  Zeremonie  der  Messe  geordnet 

9* 


132 


Ludwig  Christian  Stern:  Die  kornische  und  die  bretonische  Literatur. 


sind.  Die  Bearbeiter  halten  sich  streng  an  ihre  lateinischen  Quellen,  sie 
lassen  das  Triviale  und  Phantastische  zu,  aber  es  fehlt  Geist  und  Leben 
und  jenes  komische  Element,  wodurch  die  englischen  Mysterien  aus- 
gezeichnet sind.  Die  Bühnenanweisungen  sind  lateinisch,  und  die  Verse 
und  Strophen  haben  nur  noch  zum  Teil  die  Merkmale  der  keltischen  Poesie. 
Einen  hohen  Begriff  von  der  kornischen  Kunst  gibt  auch  das  Leben  und 
der  Tod  des  heiligen  Meriadek  nicht,  ein  in  Peniarth  aufbewahrtes  Drama, 
das  1504  der  Dominus  Nad.  ton  (?)  zur  Aufführung  in  der  Stadt  Camborne 
verfaßt  hat.  Der  Held  ist  der  Bischof  Meriadek,  der  als  der  Sohn  des 
bretonischen  Herzogs  Conan  758  geboren  wurde,  mit  dessen  Ge- 
schichte aber  die  des  Papstes  Silvester  und  des  Kaisers  Konstantin  sowie 
die  Legende  von  der  Mutter,  die  das  Jesuskind  aus  den  Armen  Marias 
nimmt,  um  ihr  eigenes  zu  erhalten,  verwoben  sind.  Noch  jünger  ist  ein 
zum  Teil  nach  dem  älteren  gearbeitetes  Mysterium  von  der  Erschaffung 
der  Welt  bis  zur  Sintflut,  in  das  Lucifers  Fall,  Kains  Tod,  Henochs  Ent- 
rückung und  Seths  Weissagung  aufgenommen  sind.  Man  besitzt  es  in 
einem  Texte,  den  Will.  Jordan  von  Halston  im  Jahre  1611  geschrieben 
hat,  und  dazu  eine  Übersetzung  des  Korners  J.  Keigwyn. 
Andere  Au    dicsc    religiösen    Stücke    schließt    sich    ein    erzählendes    Gedicht 

"^stü^kr  über  die  Passion  in  259  achtzeiligen  Strophen,  das  gleichfalls  aus  dem 
15.  Jahrhundert  stammt.  Es  hat  mit  der  Erzählung  der  Evangelien  einige 
apokr}^phische  Zusätze  verbunden.  Das  Kornische  hat  keine  Bibelüber- 
setzung, und  schon  1534  war  das  Interesse  für  die  Sprache  im  Lande  so 
gering,  daß  man  es  ablehnte,  die  protestantische  Liturgie  zu  übersetzen. 
Es  finden  sich  jedoch  in  kornischer  Sprache  das  Pater,  das  Credo,  die 
zehn  Gebote  und  einige  Kapitel  des  Alten  und  Neuen  Testaments. 

weitüche  n.    Reste    sonstiger    Literatur.       Nur    wenig    ist    von    sonstiger 

kornischer  Literatur  erhalten,  und  die  Bruchstücke  zeigen,  daß  sie  nicht 
bedeutend  war.  Ein  Fragment  eines  Dialogs,  vielleicht  aus  einem  Drama, 
fand  H.  Jenner  auf  der  Rückseite  einer  Urkunde  aus  dem  Anfange  des 
15.  Jahrhunderts.  Unter  sonstigen  Gedichten  befindet  sich  ein  Liebeslied 
an  eine  gelbhaarige  Schöne,  ein  Gedicht  über  den  Ehestand  von  James 
Jenkins  von  Alv ertön  (f  17 10)  und  eins  über  das  Einpökeln  von  Heringen. 
Eine  der  letzten  kornischen  Poesieen  ist  die  Elegie  E.  Llwyds  auf  Wilhelm 
von  Oranien  von  1702.  Man  hat  noch  eine  Anzahl  einzelner  Strophen, 
Maximen  und  Sprichwörter,  die  die  Neigung  zu  moralisieren  bezeugen. 


II.  Die  bretonisclie  Literatur. 

Die  älteste  I-  Die  ältesten  Denkmäler   der  Sprache.     Mehrere  Jahrhunderte, 

Literatur,    nachdcm  der  Auszug  der  Britannier  von  Dumnonia  im  5.  und  6.  Jahrhundert 

stattgefunden  hatte,  unterschied  sich    die   Sprache   der  Armorikaner  oder 

Letewiccion,  d.h.  der  Bewohner  von  Litavia  ^Küstenland'  (^semitacentes'  die 

undeutlich  sprechenden  ist  eine  alte  kymrische  Deutung  des  Namens),  nicht 


bretoniicbe 
Uenkmiler. 


II,  Die  bretonische  Literatur.     I.  Die  ältesten  Denkmäler  der  Sprache.  j^i 

erheblich  von  der  komischen  und  walisischen.  Obwohl  eine  alte  Literatur 
der  Bretonen,  aus  der  noch  der  Bardenprophet  Guinj^lan  und  der  ebenso 
mythische  Satiriker  Riwal  genannt  werden,  nicht  erhalten  g^eblieben  ist, 
so  ist  es  doch  nicht  zweifelhaft,  daß  es  eine  gegeben  hat  und  daß  sie  den 
Franzosen  die  arthurischen  Sagen  in  der  ihr  eignen  Fortbildung  vermittelt 
hat.  Die  anglonormannische  Dichterin  des  12.  Jahrhunderts,  Marie  de  France, 
sagt  zu  ihren  epischen  Gedichten  immer  wieder:  'Li  Bretun  en  firent  un 
lai.'  Auch  aus  der  poetischen  Form  der  erhaltenen  älteren  bretonischen 
Stücke  mit  den  charakteri.stischen  Binnenreimen  der  mittelkymrischen 
Poesie  (die  Penultima  reimt  mit  der  Cäsur  oder  mit  zwei  Cäsuren  des 
Verses)  ist  zu  schließen,  daß  die  alte  Metrik  den  Bretonen  niemals  ganz 
verloren  gegangen  ist.  Indessen  ist  aus  dem  Mittelalter  außer  Namen 
und  Glossen  nichts  übrig  geblieben;  die  bretonischen  Verse  in  Maistre 
Pathelin  gehören  zu  dem  ältesten,  was  es  in  der  Sprache  gibt,  und  das  Catho- 
licon  des  Jehan  Lagadeuc  von  1464  ist  der  erste  Druck  aus  dem  Jahre  149g. 
Man  bezeichnet  die  Sprache  des  16.  und  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahr- 
hunderts als  mittelbretonisch,  weil  1659  durch  den  Jesuiten  Julien  Maunoir 
eine  neue  der  Aussprache  näher  stehende  Orthographie  eingeführt 
wurde. 

Die  mittelbretonische  Literatur  behandelt  nur  religiöse  Stoffe  und  MitteJ- 
hat  nichts  eigentlich  Keltisches  an  sich.  Auch  hier  pflegte  man  wie  in 
Comwall  die  Mysterien,  von  denen  einige  in  alten  Drucken  erhalten  sind. 
Das  Leben  der  heiligen  Nonn,  der  Mutter  des  walisischen  Heiligen  Dewi, 
ist  vielleicht  das  älteste  dieser  Dramen,  da  es  ganz  nach  der  lateinischen 
Vita  gearbeitet  ist.  Das  Mysterium  von  der  Passion  und  der  Auferstehung, 
das  1530  erschien,  ist  nach  einem  französischen  Original  verfaßt,  und  das- 
selbe ist  von  dem  Mysterium  der  heiligen  Barbara  zu  sagen,  von  dem 
man  einen  Druck  von  1557  hat.  Hieran  schließt  sich  ein  Leben  der  heiligen 
Katharina  von  1576,  eine  Übersetzung  aus  der  Legenda  aurea.  Die  Dramen 
kennen  wie  die  kornischen  keinerlei  Einheit  und  halten  sich  streng  an  ihre 
Vorlagen,  nur  kleinere  Rollen  von  Handwerkern  und  Knechten  werden 
gelegentlich  eingelegt.  Die  Kunst  der  Komposition  ist  gering  und  z.  B. 
in  der  heiligen  Barbara  ohne  Konsequenz.  Von  der  Roheit  des  Zeit- 
alters zeugt  es,  wenn  der  heiligen  Nonn  vom  Könige  auf  offener  Bühne 
Gewalt  angetan  wird. 

•Man  hat  aus  älterer  Zeit  eine  Übersetzung  der  Hören,  ein  Gedicht 
über  den  Transitus  der  Jungfrau  Maria,  ihre  15  Freuden  und  das  Buluz 
mabdcn^  die  1575  erschienen;  ferner  den  'Spiegel  des  Todes'  von  1509, 
der  1575  gedruckt  wurde;  den  'Spiegel  der  Beichte'  von  162 1,  der  ebenso 
wie  'die  christliche  Lehre'  von  1622  aus  dem  Französischen  genommen 
ist  Dazu  kommen  die  geistlichen  Gedichte  des  Doctrinal  ar  Christienian 
von  1628  und  eine  Sammlung  von  Weihnachtsliedern  von  1650.  Die 
religiösen  Meditationen  des  J.  Cadec  über  die  Messe  von  1651  sind  wohl 
die  letzte  Poesie  in  der  alten  Versform. 


134 


LuD\viG  Christian  Stern:  Die  kornische  und  die  bretonische  Literatur. 


Das  neuere  II.  Das  11  eub T 6 tonis ch 6  Theater.    Aus  den  alten  Mysterienspielen, 

Theater.  (jgj.gjj  Aufführung  in  Frankreich  schon  in  der  Mitte  des  i6.  Jahrhunderts 
aufhörte,  ist  die  eigentliche  neubretonische  Unterhaltungsliteratur  des 
i8.  bis  19.  Jahrhunderts  hervorgegangen;  aus  dem  17.  Jahrhundert  stammt 
nur  das  Leben  des  heiligen  Antonius.  Es  war  die  Blüte  des  bretonischen 
Theaters,  an  der  namentlich  die  dem  französischen  benachbarten  Gebiete 
der  Bistümer  Vannes,  Tr^guier  und  Saint  Brieuc  teilhatten.  Das  Drama 
{myster,  buhcs,  ystoar  und  zuletzt  trajedi  genannt)  hatte  4  bis  8  Akte  und 
wurde  in  2  bis  3  Tagen  aufgeführt,  besonders  zu  Weihnachten,  in  den 
letzten  Tagen  des  Karnevals,  zu  Ostern  und  auf  den  Jahrmärkten.  Den 
kirchlichen  Charakter  bewahrte  man  noch  dadurch,  daß  man  es  mit  dem 
Gesänge  des    Veni  creator  einleitete. 

Die  Stoffe  der  Stücke,  von  denen  nur  wenige  gedruckt,  aber  über 
hundert  in  abgenutzten  Manuskripten  erhalten,  sind  zunächst  biblische 
Alten  und  Neuen  Testaments,  wie  die  Erschaffung  der  Welt  bis  zum  Tode 
Noahs,  das  Leben  Jakobs,  Moses,  Sauls  und  Davids;  das  Leben  der  heiligen 
Anna,  Johannes  des  Täufers,  die  Passion  und  Auferstehung,  Peter  und 
Paul  und  der  Antichrist  mit  dem  Streite  zwischen  Seele  und  Körper. 
Zahlreicher  noch  sind  die  Vitae  der  Heiligen,  wie  Antonius,  Alexis,  Dio- 
nysius,  Wilhelm  Graf  von  Poitou,  Laurentius  und  des  keltischen  Heiligen 
Gwennole;  auch  das  Fegefeuer  des  heiligen  Patricius  (Louis  Ennius)  ist 
darunter.  Eine  dritte  Gattung  ist  mehr  romantisch,  wie  Genoveva  von 
Brabant,  Helena  von  Konstantinopel,  die  vier  Haimonskinder,  Karl  der 
Große  und  seine  Paladine,  Orson  und  Valentin  und  Huon  von  Bordeaux. 
Diese  Dramen  sind  ausschließlich  nach  französischen  Vorbildern  verfaßt, 
selbst  wenn  sie  keltische  Helden  wie  Arthur  behandeln;  die  Verfasser  waren 
meist  cloer.)  d.  h.  ehemalige  Studierende  der  Theologie  und  Schulmeister. 
Es  fehlt  ihnen  nicht  an  Handlung,  sie  sind  spannend,  reich  an  Abenteuern 
und  Kämpfen;  auch  die  Liebe  spielt  darin  eine  Rolle,  um  über  die  Tri- 
vialitäten und  Längen  hinwegzuhelfen.  Niedere  Personen  in  den  Episoden 
(wie  Diener,  Henker,  Bettler,  Handwerker)  haben  komische  Rollen;  aber 
die  Grandiloquenz  mit  Maximen  und  Sprichwörtern  herrscht  vor,  und  zu 
ihr  paßt  der  Alexandriner,  der  den  Stücken  eigen  ist  und  nur  mitunter 
durch  achtsilbige  Verse  abgelöst  wird.  Ihr  sprachlicher  Wert  ist  bei  ihrer 
Vorliebe  für  französische  Wörter  nicht  groß;  aber  als  die  letzten  Schöpfungen 
des  mittelalterlichen  Theaters,  das  bei  uns  nur  in  Oberammergau  noch 
künstlich  am  Leben  erhalten  wird,  sind  sie  merkwürdig  genug. 

De  la  viiie-  HI.  Balladen  und  Lieder.    Man  wußte  außerhalb  der  Niederbretagne 

°^d^chte^^  nichts  von  einer  bretonischen  Literatur,  bis  1839  der  Vicomte  Th.  H.  de  la 
Villemarque  (1815 — 1895)  ^i^^  Sammlung  bretonischer  Gedichte  mit  franzö- 
sischer Übersetzung  herausgab,  die,  obwohl  aus  mündlicher  Überlieferung  auf- 
genommen und  mit  ihren  Melodieen  versehen,  aus  sehr  alter  Zeit  stammen 
sollten.    Es  sind  außer  lyrischen  und  einigen  religiösen  Poesieen  namentlich 


II.  Die  bretonische  Literatur.     II.  Das  neubrcton.  Theater.     III.  Balladen  und  Lieder.      135 

Balladrn  über  Stoffe  der  früheren  bretonischen  Geschichte,  die  bis  auf  die 
Zeit  der  Kreuzzüge,  auf  Abälard  und  Heloise,  auf  Nom«^no^,  die  Cber- 
schwemmung  der  Stadt  Is,  ja  bis  auf  Arthur,  den  Träumer  Merlin  und  das 
Druidentum  zurückgehen.  Aber  die  Gedichte  des  Barzaz-Breiz  mit  ihren 
'rimes  plates'  lassen  keine  ältere  Kunst  erkennen  und  sind  im  Stile  modern. 
Gründliche  Kenner  des  bretonischen  Volksgesanges  wie  G.  Lejean  und 
¥.  M.  Luzel  konnten  auch  leicht  nachweisen,  daß  die  Gedichte  de  la  Ville- 
marques  in  der  gegebenen  Form  den  Bretonen  unbekannt  sind,  daß  einzelne 
Verse,  auch  wohl  hier  und  dort  ein  Couplet  in  seinen  Balladen,  aber  niemals 
das  ganze  Stück  echt  sind.  Man  braucht  nur  z.  B.  die  Belagerung  von 
Guingamp  oder  die  Pest  von  Elliant  mit  den  später  bekannt  gewordenen 
authentischen  Fassungen  zu  vergleichen.  Es  sind  Gedichte  des  Herausgebers, 
der  mitunter  eine  Anregung  aus  dem  Volksliede  empfangen,  häufiger  aber 
aus  Büchern  geschöpft  oder  frei  erfunden  hat.  Zur  Aufklärung  des  peinlichen 
Verhältnisses  ist  schließlich  bekannt  geworden,  daß  er  mit  vorzüglichen 
Kennern  des  Bretonischen,  wie  dem  Abbe  Henr}'  und  dem  Abbe  Gueguen, 
zusammengearbeitet  hat.  Sein  Beispiel  hat  andere  verleitet,  und  J.  de 
Penguem  in  Lannion,  der  nach  ihm  mit  vollkommener  bona  fides  sammelte, 
hat  sich  von  weniger  gewissenhaften  Helfern  täuschen  lassen.  Von  diesen 
leichten  Versuchen  ist  indes  eine  Anregung  zu  ernsteren  Leistungen  aus- 
gegangen wie  ehemals  in  Schottland  in  einem  ähnlichen  Falle. 

Erst  der  verdiente  F.  M.  Luzel  (1821  — 1895)  veranstaltete  eine  zu-  voikiUcder. 
verlässige  Sammlung  der  bretonischen  Volkslieder,  wovon  er  1868  die 
Balladen  {gwcrzioit)  und  1890 ff.  mit  Unterstützung  A.  Le  Braz'  die  lyrischen 
Gedichte  {sonioic)  veröffentlichte.  Erschöpft  wurde  der  Reichtum  damit 
nicht,  andere  Sammler  haben  sich  angeschlossen,  und  vieles  verdankt  man 
den  Druckereien  in  Morlaix.  Das  Volkslied  wird  namentlich  in  Tn^guier 
und  Goi'lo  gepflegt;  aus  Vannes  ist  bisher  weniger  veröffentlicht  und  die 
anderen  Gebiete  der  Bretagne  sind  ärmer  daran.  Die  Dichter  waren  vor 
allen  wieder  die  dorr  von  geistlicher  Bildung,  aber  auch  Müller,  Weber, 
Seiler,  Holzschuhmacher  und  Schneider. 

Diese  Poesie  ist  nicht  alt.  Wohl  gibt  sie  ein  getreues  Bild  von  den 
dcrmaligen  Zuständen  des  bretonischen  Volkes,  aber  sie  ist  mehr  französisch 
als  keltisch,  und  von  den  Wörtern  der  Sprache  sind  zwei  Fünftel  franzö- 
sisch. Die  Gwcrziou  oder  Balladen  (complaintes)  haben  selten  historische 
Stoffe,  es  sind  Dorfgeschichten  mit  rohen  Leidenschaften,  Verbrechen  und 
Gewalttaten  jeder  Art,  und  ihre  Sühne,  tödliche  Zweikämpfe,  Entführung 
und  Verführung,  Kindesmord,  Heiligenlegendcn  und  Wunder,  Erscheinungen, 
der  Teufel  und  die  Schrecken  der  Hölle,  Beichten  und  Wallfahrten,  Bar- 
barei und  Aberglauben.  Es  i.st  nicht  alles  in  der  Bretagne  erdacht,  vieles 
.stammt  aus  Frankreich,  anderes  aus  Spanien,  auch  dekameronische  Stoffe 
werden  behandelt.  Ein  freundlicheres  Aussehen  haben  die  Sonioii  oder 
lyri.schen  Gedichte;  unter  diesen  sind  Liebes-  und  Ehelieder,  Handwerker-, 
Soldaten-    und    Matrosenlieder,   und    neben    satirischen    auch    Kinderlieder, 


136         Ludwig  Christian  Stern:  Die  komische  und  die  bretonische  Literatur, 

Weihnachts-  und  andere  erbauliche  Lieder.  Die  poetische  Form  ist  von 
der  französischen  nicht  verschieden;  in  der  vierzeiligen  Strophe  ist  die 
Wiederholung  eines  Verses  häufig.  Die  Bretonen  lieben  den  Tanz  und 
die  Musik;  die  nationalen  Instrumente  sind  der  biniou  und  die  bo^nbarde. 

Folklore.  IV.  NeucTe    Literatur.      Umfangreich    ist    die    Literatur    der    bre- 

tonischen Märchen,  die  nach  E.  Souvestre,  Dulaurens  de  la  Barre  und 
Troude  namentlich  F.  M.  Luzel  und  A,  Le  Braz,  meist  in  französischer 
Sprache,  nacherzählt  haben.  Besonders  zahlreich  sind  die  Legenden  über 
die  Heiligen  und  Thaumaturgen,  deren  Andenken  über  das  ganze  Land 
zerstreut  ist.  Auch  Seegeschichten  sind  häufig.  Die  bretonischen  Sprich- 
wörter bilden  eine  stattliche  Sammlung.  Beschwörungen  und  Zauber- 
sprüche sind  bei  ihnen  weit  verbreitet.  Zu  diesen  und  anderen  Gegen- 
ständen des  Folklore  liefern  die  Melusine  von  H.  Gaidoz  1876  — 1901  und 
die  Annales  de  Bretagne   1886  ff.  wertvolle  Beiträge. 

Neuere  Dichter.  Wie    in    dcn    anderen    keltischen    Ländern,    so    wurde    im    19.   Jahr- 

hundert die  Teilnahme  für  die  angestammte  Sprache  auch  in  der  Bretagne 
neu  belebt.  Eine  einheitliche  Schriftsprache  zu  schaffen,  ist  aber  noch 
nicht  gelungen;  denn  die  Reformation  des  Grammatikers  und  Lexiko- 
graphen P.  Legonidec  (1775 — 1838)  hat  eine  Kunstsprache  aufgestellt,  deren 
Purismus  die  volkstümliche  Entwickelung  der  bretonischen  Dialekte  wider- 
strebt. Indes  traten  einzelne  Dichter  hervor,  wie  Brizeux,  Prosper  Proux, 
N.  Quellien,  F.  M.  Luzel  u.  a.  Es  wurde  auch  einiges  übersetzt,  wie  die 
Georgica  Virgils  durch  den  Abbe  Guillome  und  die  Fabeln  Lafontaines 
von  Milin.  Die  neuen  Dichter  haben  eigentlich  bretonische  Themata  be- 
handelt, die  erhabene  Natur,  die  harte  Landarbeit,  die  gefahrenvolle  See- 
fahrt und  vor  allem  die  Heimat;  auch  fehlt  es  nicht  an  Liebesliedern. 
Der  Charakter  der  bretonischen  Kunstpoesie  ist  mehr  ernst  als  heiter, 
er  ist  häufig  melancholisch.  Unter  den  Neueren  zeichnet  sich  der  talent- 
volle F.  Jaffrennou  (Taldir)  aus. 
Bibel  Nirgends    scheint    die    Kirche    größere    Macht  über   die    Bevölkerung 

und  ReUgioses.  ^^  haben  als  in  der  Bretagne.  So  eifrig  und  allgemein  ist  der  Kultus 
der  Heiligen,  so  zahlreich  sind  die  Sanktuarien,  Oratorien  und  Wallfahrten 
ipardons).  Im  katholischen  Lande  nimmt  die  Frömmigkeit  andere  Formen 
an  als  im  protestantischen.  Legonidec  hat  seine  Landsleute  mit  einer 
Übersetzung  der  Bibel  in  seinen  Dialekt  von  Leon  beschenkt,  die  von 
Troude  und  Milin  revidiert  wurde;  das  Neue  Testament  erschien  1827, 
das  Alte  1866.  Einzelne  Teile  des  Neuen  Testaments  hat  A.  Torrien  in 
andere  Dialekte  übertragen  und  eine  Bibel  im  Dialekt  von  Treguier,  von 
dem  Kalvinisten  Le  Coat  übersetzt,  ist  1897  in  London  gedruckt.  Aber 
Leser  werden  diese  Bücher  wenige  gefunden  haben.  Denn  die  ganze 
Bibliothek  des  Bretonen  besteht,  wie  man  sagt,  in  dem  Leben  der 
Heiligen,  den  Hören  und  dem  Almanach  des  Nostradamus. 


Literatur. 

I.  Die  kornische  Literatur. 

S.  131.     C.  Greith,  Spicilcgium  \'aticanum,  Frauenfeld   i8;,8. 

S.  131.  The  ancient  Comish  drama,  ed.  Edw.  Norris,  O.xford  1859,  2  voll.;  The 
life  of  Saint  Meriasek,  ed.  Wh.  Stokes,  London  1872:  The  creation  of  the  world,  a  Comish 
mystery,  ed.  Wh.  Stokes,  London  1864  (die  erste  Ausgabe  von  D.  Gilbert  1827). 

S.  132.  Pascon  agan  arluth.  The  passion  of  our  Lord,  ed.  W.  S. ,  Berlin  1862  (die 
erste  Ausgabe  von  D.  Gilbert  182O). 

S.  132.     W.  Pryce,  Archaeologia  CornuBritannica,  Sherbome  1790. 


II.  Die  bretonische  Literatur. 

S.  133.  Über  das  Bretonische  in  der  Farce  von  Maistre  Pathelin  s.  Revue  cel- 
tique  IV.  450.  V.  225.  XVI.  192 ff. 

S.  133.  Sionnett  et  Legonidec,  Bxihez  Santez  N<ynn,  Paris  1837  (Neuausgabe  von 
E.  Ernal'LT,  Revue  celtique  VIII.  280 ff.  405; ff.);  H.  DE  LA  ViLLEMARQUt,  Le  grand  myst^re 
de  Jesus,  Paris  1805;  E.  Ern.\ult,  Le  mystöre  de  Sainte  Barbe,  Paris  1S88;  Wh.  Stores, 
Middle  Breton  Hours  etc.,  Calcutta  1876;  H.  DE  LA  Villem.\rqu£  ,  Pommes  bretons  du  moyen 
äge,  Paris  1879;  Anciens  nocls  bretons,  in  der  Revue  celtique  X — XII  wieder  abgedruckt; 
Les  cantiques  bretons  du  Doctrinal,  im  Archiv  f.  celt.  Philol.  I.  213.  360.  556;  J.  Cadec  in 
der  Revue  celtique  XX.  56  ff. 

S.  134.  A.  Le  Br.\z,  Le  theätre  celtique,  Paris  1905;  vgl.  Revue  celtique  V\  314— 332; 
—  Sainte  Trj-phine  et  le  roi  Arthur,  ed.  F.  M.  LuzEL,  Quimperle  1863  (der  Text  ist  vom 
Abb^  Henr>- vielfach  geändert);  La  vie  de  Saint  Gwennole,  ed.  F.  M.  LuzEL,  Quimper  1889 
(über  eine  andere  Bearbeitung  s.  P.  DE  Nestour,  Revue  celtique  XV.  248 ff.;  auch  kennt 
man  eine  mittelbretonische  von  1580);  La  creation  du  monde,  ed.  E.  Bernard,  in  der  Revue 
celtique  IX.  149.  322.  X.  192.  416.  XI  254;  Cognomerus  et  Sainte  Trefine,  ed.  A.  Le  Braz, 
Paris  1904;  Saint  Crepin  et  Saint  Crdpinien,  ed.  V.  TOURNEUR  (Revue  celtique  XXV).  In 
Vannes  wurde  1745  ^'^  Dreikönigespiel  und  neuerdings  ein  Passionspiel  von  1787  gedruckt. 

S.  134.  Th.  de  LA  Villemarqu^,  Barzas-Breiz,  Chants  populaires  de  la  Bretagne 
recueillis  et  pubüds,  Paris  1839,  2  voll.;  vermehrte  Ausgaben  1845.  1867. 

S.  135.  Giverziou  Breiz-Izel,  Chants  populaires  de  la  Basse  -  Bretagne  recueillis  et 
traduits  par  F.  M.  LuzEL,  Lorient  1868.  1874,  2  voll. ;  Soniou  Breiz-Izel,  Chansons  popu- 
laires de  la  Basse  -  Bretagne  recueillies  et  traduites  par  F.  M.  LuzEL  avec  la  collaboration 
de  A.  Le  Br.\z,  Paris  1890,  2  voll.;  N.  Quellien,  Chansons  et  danses  des  Bretons,  Paris  18JS9. 

S.  130.  F.  M.  LuZEL,  Contes  bretons  recueillis  et  traduits,  Quimperlti  1870;  Legendes 
chrdtiennes  de  la  Basse -Bretagne,  Paris  1881,  2  voll.;  Contes  populaires  de  la  Basse-Bretagne, 
Paris  1887,  3  voll;  A.  Le  Br.\z,  Vieilles  histoires  du  pays  breton,  Paris  1897,  —  Brizeux, 
Fumtz  Breiz,  Sagesse  de  Bretagne,  Lorient  1855;  F.  L.  Sauv^,  Proverbes  et  dictons  de  la 
Basse-Bretagne,  Paris  1878.  Vgl.  die  bretonische  Bibliographie  von  H.  Gaidoz  und  P.  StBiLi.OT 
(Revue  celtique  V.  277—338). 

S.  136.  Barzaz  Taldir  ab  Herninn.  Les  po^mes  de  Taldir,  Texte  breton  et  traduction 
fran^aise,  Paris  1903. 


DIE  ROMANISCHEN  LITERATUREN. 

Von 
Heinrich  Morf. 

Die  Entstehung  Einleitung.    Das  römische  Reich  war  mit  Kaiser  Septimius  Severus 

der  Romania.  ^j.  ^u^j  auf  der  Höhc  scincr  territorialen  Entwickelung  angelangt.  Die 
Reichssprache,  das  Latein,  erklang  von  Schottland  bis  Nordafrika  und 
Ägypten;  von  Portugal  bis  an  die  Küsten  des  Schwarzen  Meeres  und 
Mesopotamien.  Rhein  und  Donau  bildeten  längst  nicht  mehr  die  Grenze 
gegen  Germanien  und  Sarmatien.  Der  römische  Limes  durchquerte  von 
Neuwied  bis  Regensburg  germanisches  Land  und  an  der  unteren  Donau 
dehnte  seit  107  sich  weithin  nach  Norden  die  Provinz  Dacia. 

Die  römische  Kultur  führte  auf  diesem  ganzen  weiten  Gebiete  die 
lateinische  Gemeinsprache  dem  Siege  über  die  bunten  einheimischen  Idiome 
entgegen.  Nur  wo  sie  mit  dem  Hellenentum  zusammentraf,  lag  ihr  die 
Anerkennung  der  alten  Überlegenheit  griechischer  Bildung  und  Sprache 
im  Blute.  Auf  der  Balkanhalbinsel  schieden  sich  die  beiden  Sprachen: 
in  Makedonien  und  südlich  des  Hämus  überwog  griechisches  Wesen.  Nur 
langsam  latinisierte  sich  das  Land  zwischen  Donau,  Adria  und  Alpen. 
Doch  aus  Spanien,  Afrika,  Gallien  blühte  im  2.  Jahrhundert  lateinisches 
literarisches  Leben,  dessen  Schöpfungen  sich  mit  den  zeitgenössischen  in 
Italien  messen  konnten.  Es  bereitete  sich  in  diesen  Ländern  ein  eigenes 
römisches  Volkstum  vor. 

Septimius'  Nachfolger  Caracalla  erteilte  das  römische  Bürgerrecht  an 
alle  freien  Provinzialen  (212).  Er  gab  dadurch  dem  Völkerchaos  des 
Reiches  eine  künstliche  Einheit  und  grenzte  den  zivilisierten  Erdenrund 
gegen  die  Barbaren  ab.  An  Stelle  der  Urbs  trat  der  Orbis  und  neben 
dem  Römer  erhob  sich  der  Romane.  Caracallas  Edikt  inauguriert  die 
Auflösung  Roms  im  Völkerkonglomerat  der  Romanitas.  Die  Fortschritte 
des  Christentums  begünstigten,  sein  Triumph  besiegelte  die  Auflösung  des 
nationalen  Staates  in  ein  chaotisches  Weltreich  und  schuf  provinzielle 
lateinische  Literaturen. 

Über  dem  Kampf  mit  inneren  vSchwierigkeiten  und  der  Abwehr  der 
äußeren  Feinde  bereitet  sich  das  Auseinanderbrechen  des  Länderkolosses 
in  eine  griechische  Pai)Liavia  und  eine  lateinische  Romania  vor.  Längst 
warfen  die  vom  Osten  und  Norden  andrängenden  Barbaren  ihre  Völker- 
wellen über  die  Grenzen  des  Reiches.    Dacien  ging  schon  unter  Aurelian 


Einleitung.  I^g 

(274)  der  römischen  Kultur  verloren.  Andere  periphere  Gebiete  folgten. 
Das  Gebäude  der  Romania  erzitterte  in  seinen  Grundfesten,  wankte  und 
stürzte  im  5.  Jahrhundert  unter  den  Streichen  jener  Germanen  zusammen, 
die  Augustinus  illos  Romaniae  eversores  nennt 

Diese  Eroberer,  Stammesindividualisten,  waren  sich  der  Einheitlichkeit 
ihres  Volkstums  nicht  bewußt.  Sie  nannten  sich  nach  ihren  Stämmen 
Goten,  Franken,  Langobarden  usw.,  und  nur  der  feindliche  Romane  faßte 
sie  unter  dem  weiteren  Namen  der  Barbaren,  d.  i.  Fremden,  zusammen. 
Sie  aber  bezeichneten  den  Romanen  mit  einem  keltischen  Lehnwort  als 
Welschen  (Walha). 

Die  Barbaren   beschnitten   und   zerstückten   das   Reich   der  Welscheru 

Britannien  blieb  den  Kelten  und  Angelsachsen  überlassen  und  büßte 
seine  römische  Kultur  ein.  Versprengte  Inselsekten  kamen  über  den 
Kanal  und  besetzten  die  gallische  Armorika,  wo  ihr  Keltentum  sich  bis 
heute  erhalten  hat  (La  Bretagne).  Auf  der  ganzen  Donaulinie,  von  Rätien 
bis  nach  Illyrien  und  Mösien  wich  der  Römer  vor  dem  Ansturm  der 
Barbaren  zurück. 

Über  die  Balkanhalbinsel  ergoß  sich  ums  Jahr  600  eine  slawische 
Völkerflut,  die  das  illyrische  Romanentum  zerriß  und  verschwemmte  und 
damit  auch  das  Band  zwischen  der  westlichen  und  östlichen  Romania  zer- 
störte. Aus  dem  Kernland  dieses  östlichen  Römertums,  aus  Sirmium  und 
Moesia  Superior  (Serbien)  wanderte  später  die  Bevölkerung  nordöstlich  über 
die  Donau  ins  alte  Dacien:  die  heutigen  Welschen  Rumäniens,  Sieben- 
bürgens und  Bessarabicns.  Andere  zersprengte  Reste  dieses  Balkanroma- 
nischen (Rumänischen)  finden  sich  noch  in  Makedonien,  Albanien,  Griechen- 
land und  Lstrien.  Stetig  ist  im  Lauf  der  Jahrhunderte  vor  dem  Slawen- 
und  dem  Germanentum  das  Romanische  Dalmatiens  und  Rätiens  zurück- 
gegangen und  vor  unseren  Augen  vollzieht  sich  jetzt  sein  Untergang  an 
der  Adria  und  in  den  Tälern  Graubündens  und  Tirols.  Literarisch  haben 
diese  Trümmer  der  östlichen  Romania  wenig  Bedeutung. 

Die  literarische  Bedeutung  des  Welschtums  beruht  ganz  auf  We st- 
röm an  ia,  wo  sich  in  Italien,  Gallien,  Spanien,  Afrika  selbständige 
Germanenreiche  erhoben.  Das  afrikanische  der  V^andalen  fiel  freilich  nach 
kurzer  Zeit  dem  griechischen  Ostrom  zur  Beute  und  um  650  fegte  der 
Sturm  der  muselmännischen  Eroberung  afrikanisches  Romanentum  und 
Christentum  gleichzeitig  weg.  Die  übrigen  germanischen  Sieger,  Häretiker 
oder  Heiden,  fielen  dem  orthodoxen  Bekenntnis  zu:  zuerst  die  heidnischen 
Franken  (um  500),  dann  100  Jahre  später  die  arianischen  Langobarden 
und  Westgoten.  Erst  diese  konfessionelle  Assimilierung  ermöglichte  und 
sie  beschleunigte  auch  die  Auflösung  des  germanischen  Volkstums  in  der 
romanischen  Völkerflut  der  drei  Länder  jenseits  des  Rhein.s,  der  Alpen 
und  der  Pyrenäen.  Nur  am  entvölkerten  linken  Rheinufer  und  im  mittleren 
Helvetien  war  die  römische  Kultur  nicht  stark  genug,  um  siegreich  zu 
sein.     Der  Rhein  ward  germanisch. 


140 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


So  blieb  das  zerstückte  Gewebe  der  westlichen  Romania  lateinisch 
und  katholisch,  trotz  des  g'ermanischen  Einschlags.  An  die  Stelle  des 
politischen  Verbandes  der  Romania  trat  der  ideelle  Verband  der  Civitas 
Dei,  an  deren  Spitze  wieder  Rom  stand,  Rom  mit  seinem  Bischof,  die 
heilige  Stadt  Diese  Romania  hat,  wie  die  alte,  ihren  Schwerpunkt  im 
südlichen  Europa:  das  Welschland  ist  eine  südliche  Welt,  der  Germanien 
als  das  Land  des  Nordens  erscheint. 

Die  Empfindungen,  welche  die  ersten  Berührungen  bei  Welschen  und 
Germanen  weckten,  haben  die  Jahrhunderte  überdauert.  Der  Germane 
erschien  jenem  als  der  rauhe  gierige  Sohn  eines  unwirtlichen  Landes,  als 
ungebildet  und  von  schwerfalligem  Ernste.  Der  Name  Barbar  schallt  ihm 
aus  der  welschen  Literatur  eines  Jahrtausends  entgegen.  Schiller  und 
Goethe  sind  für  den  Franzosen  des  ho-nimes  du  nord;  von  Lavater  sagt 
Mirabeau,  daß  er  „im  eisigen  Norden  die  Phantasie  eines  Südländers" 
besitze  und  V.  Hugo  begrüßt  1838  den  Rhein  als  „den  großen  Graben, 
der  den  Süden  vom  Norden  scheidet".  Andererseits  empfand  der  Germane 
am  Romanen  einen  Mangel  an  Ernst  und  Tiefe  und  warf  ihm  schon  damals 
Frivolität  und  Sittenlosigkeit  vor.  „Toren  sind  die  Welschen"  heißt  es  in 
einem  bayrischen  Schulbuche  des  9.  Jahrhunderts,  und  der  Langobarde 
Liutprand  erklärt  wenig  später,  daß  die  Germanen  das  Wort:  Welscher! 
als   Schimpfwort  brauchen,  das   alle   sittliche  Entrüstung  in  sich  schließe. 

Seit  die  Herrschaft  der  Langobarden  in  Italien,  die  der  Westgoten  in 
Hispanien,  die  der  Franken  in  Gallien  sich  dauernd  befestigt;  seit  die 
Sieger  ihr  Recht  (Leges  Barbarorum)  in  einem  Latein  kodifiziert  haben, 
das  auch  seinerseits  den  Untergang  der  hochlateinischen  Tradition  bezeugt; 
seit  hochstehende  Romanen  die  Interessen  der  rechtgläubigen  Barbaren- 
fürsten vertreten  und  das  römische  Nationalgefühl  mit  der  antiken  Bildung 
geschwunden  —  seit  dieser  Zeit,  dem  Übergang  vom  6.  zum  7.  Jahrhundert, 
darf  man  von  neuen  romanischen  Völkergebilden,  Italienern,  Franzosen, 
Spaniern,  sprechen,  obwohl  die  Namen  erst  viel  später  ihren  heutigen  natio- 
nalen Inhalt  bekommen.  In  dieser  neuen  Verbindung  weicht  allmählich 
das  germanische  Wort  der  Übermacht  der  einheimischen  romanischen 
Rede;  nirgends  hat  es  nachweislich  das  Jahr  900  überdauert.  Die  Krieger 
Karls  des  Kahlen  verstanden  842  nur  noch  französisch. 
Nordfrankreich.  Am   nachhaltigsten  war  die  Wirkung   des  germanischen  Ferments   in 

Nordgallien,  dem  merowingischen  Neustrien  zwischen  Maas  und  Loire,  dem 
Sitz  jener  Frankenherrschaft  (Francia),  die  unter  den  Karolingern  die 
führende  Macht  des  christlichen  Abendlandes  ward  und  die  Ungläubigen 
(Sarazenen),  die  Heiden  (Sachsen)  und  die  antipäpstlichen  Langobarden 
überwand.  Hier  entwickelten  sich  am  frühesten  und  kräftigsten  Feudalismus 
und  Rittertum.  Dieses  Neustrien  erfuhr  im  Anfang  des  10.  Jahrhunderts 
eine  neue  stürmische  Germanisierung  durch  die  Normannen,  die  sich  in- 
dessen rasch  französierten  und  dann  mit  kraftvoller  Hand  England  und 
Süditalien  (seit  1060)   sich   eroberten   und   so   das  von   den  Römern    einst 


Einleitun{(.  i«! 

aufjjfegobeno  Hritannion  von  neuem  romanisierten  und  Süditalicn  von  d«*n 
ByzantintTn  und  Arabern  tlir  iVw  Roniania  /.urückpo\vann«'n.  Diese  Nor- 
mannen wurden  die  kühnsten  und  märhtij^-sten  Agenten  des  Welschtums 
und  ihre  wunderbaren  Siegeszüge  reihten  sich  an  die  glorreichen  Heer- 
fahrten der  Franken.  Francia  war  die  politische  Vormacht  der  Romania. 
Sie  inaugurierte  auch  jene  große  politische  Manifestation  der  Civitas  Dei: 
die   Kreuz/üge. 

In  Südgallien  haben  Hurgunder  und  Westgoten  weniger  Spuren  des  Südfr»»kniich. 
Germanentums  zurückgelassen  als  die  Franken  im  Norden,  Im  I^ande  der 
Provinciales  —  so  wurde  um  iioo  einerseits  im  engeren  Sinne  das  Gebiet 
zwischen  Alpen  und  Rhone  {/a  Provence)^  andererseits  aber  der  ganze 
Süden  genannt  —  mit  seiner  älteren  und  tieferen  römischen  Kultur  war  der 
Germane  widerstandsloser  als  im  Lande  der  Francigena».  Die  kriegerische 
Seite  des  Feudalismus  bildete  sich  weniger  aus.  Das  römische  Erbrecht 
blieb  bestehen  und  sicherte  den  Frauen  Lehensbesitz  und  Herrschaftsrechte : 
an  der  vSpitze  provenzalischer  Fürstenhöfe  stehen  frühe  auch  Frauen,  Ein 
großer  Teil  dieses  welschen  Kemlandes,  von  der  Rhonemündung  bis  über 
den  Jura  hinaus,  gehörte  als  Königreich  Burgund  jahrhundertelang 
(ii. — 14.  Jahrhundert)  zum  deutschen  Imperium  und  bildete  eine  breite 
Brücke,  die  aus  dem  Herzen  der  Romania  in  deutsche  Lande  führte.  Die 
Entwickelung  dieses  Südens  ist  überhaupt  weniger  einheitlich  und  weist 
kräftige  munizipale  und  partikularistische  Züge  auf  (die  Ketzerei  der  Albi- 
genser\  die  ihn  politisch  schwächten  und  zur  Beute  des  Nordens  machten. 

Auch  in  Italien  drang  der  germanische  Einfluß  nur  in  geringe  Tiefe,  itah«.. 
In  Süditalien  herrschte  ohnedies  Griechen-  und  Sarazenentum,  Wohl 
wurde  „Lombardo"  zur  Bezeichnung  des  Italieners;  wohl  rief's  wie  ein 
Echo  der  Zeit  der  Völkerwanderung  germanische  Könige  nach  Italien  — 
an  der  starken  wenn  auch  latenten  römischen  Tradition  dieses  I^indes, 
dessen  Baudenkmäler  sein  Römertum  jedem  Auge  dokumentierten,  scheiterte 
das  germanische  Wesen.  Die  Kultur  des  Feudalstaates  vermochte  sich 
nicht  durchzusetzen;  die  Feudalmonarchie  des  Südens  war  dekorativer 
Import  der  französischen  Normannen,  Dazu  verlegten  die  Herrschafts- 
ansprüche  des  Papstes  und  das  Phantom  des  römischen  Kaisertums  den 
Weg  zur  Entwickelung  eines  starken  nationalen  Staatswesens  mit  gemein- 
samen großen  Gedanken  und  drängten  das  Land  in  die  Bahnen  städtischer 
Kultur.  In  den  Städten  aber  entwickelte  sich  der  moderne  Geist  An 
ihrem  rationalistischen  Laientum  fand  der  Enthusiasmus  für  die  CiviUus  Dei 
eine  Schranke.  An  den  Kreuzzügen  beteiligten  sich  die  Italiener  als 
rechnende  Handelsherren.  Ihre  Ablehnung  feudaler  Lebensführung  fiel 
dem  Nordländer  auf  und  trug  ihnen  Schimpf  und  Spott  als  Krämer  und 
Feiglinge  ein.  So  nahmen  sie  am  Kulturleben  des  Mittelalters  verhältni.s- 
mäßig  geringen  Anteil  und  machten  Frankreich  die  Führerrolle  nicht  streitig. 

Ebensowenig  tat  dies  Hi-spanien,  wo  die  Araber  schon  im  Anfang  des 
8.  Jahrhunderts  der  morschen  Gotenherrschaft  ein  jähes  Ende  bereiteten  und 


112  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen- 

im  Sturme  das  ganze  Reich  bis  an  den  Fuß  der  asturischen  Berge  unter- 
warfen. Die  Rückeroberung  {la  Rcconquista)  erfüllt  sieben  Jahrhunderte 
der  spanischen  Geschichte  und  erfolgte  unter  lebhafter  militärischer  und 
kultureller  Beteiligung  Frankreichs  in  parallelen  Vorstößen  von  der  ganzen 
nördlichen  Basis  des  Landes  aus.  Von  hier  aus  entstanden  jene  König- 
reiche von  Galizien,  Leon  und  Kastilien,  von  Navarra  und  Aragon.  Das 
letztere  verwuchs  mit  jener  spanischen  Mark  (Grafschaft  von  Barcelona), 
die  mit  Kolonisten  aus  dem  angrenzenden  einst  gotischen  Frankreich 
(Septimanien)  gebildet  worden  war  und  sprachlich  und  kulturell  eine  Ver- 
längerung Südfrankreichs  auf  hispanischem  Boden  darstellt  (Katalonien  und 
Valencia).  So  entstand  in  Spanien  im  Ringen  mit  dem  sarazenischen 
Gegner,  eine  eigenartige  vom  Glaubenseifer  geführte  romanische  Kultur, 
in  der  die  Erinnerung  an  das  alte  Gotentum  lebendiger  blieb  als  in  der 
übrigen  Romania:  der  Spanier  will  von  gotischem  Adel  sein.  Die  geo- 
graphische Lage  des  Landes  wie  seine  Bodengestaltung  begünstigten  die 
kulturelle  Isolierung. 

Von  Byzanz  und  den  Arabern  im  Süden  ernstlich  gefährdet,  war  die 
Romania  im  8.  Jahrhundert  auf  ihrem  territorialen  Tiefstand  angekommen: 
nur  Frankreich  war  noch  intakt.  Unter  der  Führung  der  Francia  erhob 
sie  sich  wieder  und  wuchs  sogar  über  ihre  alten  Grenzen  hinaus.  Das 
neu  erworbene  England  (Anglonormannien)  vermochte  sie  aber  nur 
während  zwei,  allerdings  fruchtbaren  Jahrhunderten  zu  behaupten. 
Die  heuHge  Seit   dem  Verluste   Englands  und    der  Wiedereroberung   Spaniens   ist 

Romania.  ^^  Wclschlaud  innerhalb  seiner  alten  Marken  geblieben.  Rheinwärts  hat 
sich  seine  Ostgrenze  nur  unwesentlich  verschoben,  wobei  Einbuße  und 
Gewinn,  von  Flandern  bis  hinauf  zur  Schweiz,  sich  die  Wage  halten. 
Gegenwärtig  aber  wird  das  einst  römische  Nordafrika  wieder  romanisiert 
und  entwickelt  sich  das  Mittelmeer  zur  welschen  Binnensee.  Der  gewaltige 
Länderzuwachs,  den  die  Romania  im  neuen  Kontinent,  von  Kanada  bis 
Argentinien  erfahren,  hat  vorläufig  mehr  ihren  literarischen  Markt  erweitert 
als  ihre  literarische  Bedeutung  erhöht.  — 
Die  romanischen  Lange    kleideten    sich    die    romanischen    Sprachen,    die    sich    aus    der 

Sprachen,  lateinischen  Reichs  Verkehrssprache  in  Frankreich,  ItaHen  und  Spanien  auf 
der  Basis  der  verschiedenen  ethnischen  Substrate  (Akzente)  entwickelt 
hatten,  ins  Schriftgewand  des  Hochlatein.  Fast  vierhundert  Jahre  vergehen 
nach  dem  Sturz  des  Reiches,  bis  wir  dem  ersten  bescheidenen  Versuch 
begegnen,  zusammenhängende  romanische  Rede  als  solche  lautgerecht  auf- 
zuzeichnen: dem  französischen  Texte  der  Eide,  den  zwei  Söhne  Ludwigs 
des  Frommen  842  sich  zu  Straßburg  schworen.  Es  ist  wohl  nicht  bloß  der 
Zufall  der  ÜberHeferung,  der  uns  hier  wieder  Frankreich,  und  zwar  mit 
einem  politischen  Dokument,  an  der  Spitze  der  Romania  zeigt,  der  Italien 
dann  mit  einer  Privaturkunde  (960)  folgen  läßt  und  erst  nochmals  zwei- 
hundert  Jahre  später  Spanien  mit  einem  asturischen  Stadtrecht  {Fuero) 
anschließt. 


A.  Krankreich  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.  I^t 

In  dieser  Reihenfolge  treten  die  drei  Länder  auch  in  die  Literatur 
ein:  Frankreich  führt  Hterarisch  die  Romania  an  und  beherrscht  ihr  mittel, 
alterliches  Schrifttum.  Dann  erhebt  sich  mitten  aus  politischer  Kmiedrigunj^ 
Italiens  frondierender  Geist  zur  Hegemonie  der  Renaissance.  Und  in- 
zwischen gedeiht  Spaniens  literarische  Eigenart  zu  köstlicher  Reife. 


A.  Frankreich  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts. 

Auch  literarisch  scheidet  sich  das  mittelalterliche  Frankreich  in  Nord 
und  Süd,  Francia  und  Provincia.  Innerhalb  des  Nordens  ist  es  wieder  das 
Gebiet  des  alten  merowingischen  Xeustrien  (d.h.  die  Landschaften  Picardie, 
Champagne,  Ile-de-France  und  Xormandie),  das  die  führende  Rolle  spielt 
Und  im  Süden  dominiert  das  Gebiet  der  alten  Provincia  romana  (Rhonetal 
und  Languedoc).  Diese  beiden  literarischen  Kemlandschaften  Frankreichs 
entsprechen  die  eine  dem  ältesten  Sitze  der  römischen  Kultur,  die  andere 
der  Zone  der  stärksten  germanischen  Invasion.  Diese  beiden  physischen 
und  geistigen  Extreme  des  Landes  sind  die  Brennpunkte  seines  literarischen 
Lebens  geworden:  Nord  und  Süd!  Aus  der  ungleichen  Erde  und  dem  un- 
gleichen Volkstum  der  beiden  Gebiete  erwuchs  ungleiches  Schrifttum,  ein 
episches  dort,  ein  lyrisches  hier  —  zwei  verschiedene,  aber  stolze  Bäume, 
deren  vereinigte  üppige  Kronen  das  Abendland  beschatten  und  mit  Blüten 
und  Früchten  überschütten. 

Was  nach  dem  Sturm  der  Völkerwanderung,  in  vorliterarischer  Zeit  r>ir  Voik«. 
in  Frankreich  gesungen  wurde,  ist  unaufgezeichnet  verklungen.  Daß  das  •j»"'»'- 
Volk  auch  damals  nicht  stumm  war,  ist  gewiß.  Es  sang  bei  eintöniger 
Arbeit  und  bei  der  Erholung;  es  erzählte  und  ließ  sich  vorspielen.  Wir 
haben  dafür  zeitgenössische  —  lobende  oder  tadelnde  —  Zeugnisse,  und 
wir  sehen  seit  dem  11.  Jahrhundert  in  Frankreich  eine  Kunstdichtung  uns 
entgegentreten,  die  auf  volkstümlicher  Basis  erwachsen  ist  Denn  zwischen 
Volkslied  und  Kunstlyrik  besteht  ein  unabliussiges  Hin  und  Her:  bald  dient 
der  Kunstdichtung  eine  bescheidene  populäre  \'orlage  zum  Ausgangspunkt 
verfeinernder  oder  spöttischer  Variationen;  bald  findet  das  aristokratische 
Gedicht  beim  Volke  Anklang  und  wird  in  seinem  Munde  zersungen. 

Ein  alter  Chronist  überliefert  uns  in  lateinischer  Umschrift  Anfang  und 
Schluß  eines  romanischen  Geschichtsliedes  {Chanson  dltistoirc)  aus  dem 
7.  Jahrhundert,  das  eine  Episode  eines  sagenhaften  Sachsenkrieges  feiert, 
und  das,  wie  er  sagt,  die  Weiber  zum  Tanze  sangen  (Faro-Lied).  Solche 
historische  Lieder  in  romanhafter  Gestaltung,  mit  welchen  die  Frauen 
Arbeit  und  Tanz  begleiteten,  sind  uns  sonst  erst  aus  dem  \z.  Jahrhundert 
erhalten.  Sie  sind  nach  Form  und  Geist  von  den  Romanzen,  die  da.s  Volk 
heute  singt,  nicht  unerheblich  verschieden. 

Der  Tanz  scheint  im  alten  Frankreich  ursprünglich  ausschließlich  ein 
1* rauen vergnügen  gewesen  zu  sein;  ein  Frauenreigen,  der  zu  Liedern  auf- 


144 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


geführt  wurde.  Erst  in  den  späteren  höfischen  Kreisen,  welche  diesen 
Liederreigen  als  gesellige  Unterhaltung  aufnahmen,  nahm  auch  der  Mann 
daran  teil.  Ein  Zentrum  dieses  volkstümlichen  Reigens  bildete  das  alte 
Maifest,  dessen  Freiheit  in  jenen  ausgelassenen,  vielfach  gattenfeindlichen 
Frauentanzliedem  sich  aussprach,  die  den  Tadel  der  Kirche  erregten.  Ihr 
traditionelles  Thema,  Frühling  und  Liebe,  ging  später  auch  in  die  höfische 
Dichtung  über:  in  die  elegante  Chanson  und  in  die  scherzende  Pastourelle 
von  der  spröden  oder  gefälligen  Dorfschönen. 

Spottverse  erklangen  auch  damals,  und  das  Berufslied  des  Soldaten, 
mit  welchem  schon  der  römische  Legionär  dem  Cäsar  Preis  und  Spott  sang 
lebte  weiter  im  Lied  des  mittelalterlichen  Kriegsknechtes  {provenz.  Sirven) 
und  trat  als  ungebundener  Sirventes  (Rügelied)  in  die  Literatur  ein.  Nach 
dem  Berufslied  des  Nachtwächters  wurde  das  höfische  Taglied  {A/da),  das 
die  Liebenden  mahnt,  gebildet. 

Nicht  verstummte  seit  den  Tagen  der  Kirchenväter  die  geistliche  In- 
vektive  gegen  den  Mimus,  den  Maitre  de  plaisir  der  alten  Welt,  der  sich 
mit  den  Trümmern  seiner  antiken  Schaubühne  in  die  romanische  Welt 
herübergerettet  hatte.  Nachdem  mit  dem  politischen  und  wirtschaftlichen 
Zusammenbruch  des  römischen  Reiches  die  wohlhabende  Gesellschaft  und 
die  mächtigen  Kulturzentren  verschwunden  waren,  die  das  große  realistische 
Drama  mit  seinen  Schauspielertruppen  trugen  und  ernährten,  verfiel  auch 
das  römische  Schauspielhaus,  verschwand  das  Drama,  und  die  Truppen 
zerbröckelten  und  zersplitterten  sich.  Der  bisher  vergesellschaftete  Mimus 
zog  wieder  allein  oder  von  seiner  Mima  begleitet  durch  die  barbarisch 
gewordene  Welt  als  ein  Fahrender,  der  durch  alle  weltlichen  Künste, 
Musik,  Gesang,  Schwank  und  Gaukelspiel,  Kurzweil  schaffte.  Der  Nähr- 
boden für  seine  kostspielige  Vergesellschaftung  war  geschwunden,  und  da- 
mit machte  der  dramatische  Großbetrieb  wieder  dem  Einzelbetrieb  mit 
seiner  Unsicherheit  und  seinem  Kleinkram,  und  der  Name  Mimus  der  Be- 
nenmmg  Joculator  {Jongleur)  Platz.  Als  Joculator  scenicus  ist  er  der 
Träger  jenes  komischen  Theaters,  das,  obwohl  ungeschrieben,  in  der 
Romania  durch  all  die  Jahrhunderte  bestanden  hat.  Es  scheint  sich 
wesentlich  mit  Einzelspiel  begnügt  zu  haben,  ein  „Solisten "-Theater  ge- 
wesen zu  sein.  Aus  den  Streitreden  {Rioies,  Debats)  dieser  Jongleurbühne, 
denen  Kleriker  Schulreminiszenzen  aus  der  antiken  Literatur  zuführten,  hat 
sich  das  höfische  Streitgedicht  (prov.  Tenso)  entwickelt,  das  dann  in  die 
bestimmte  Form  eines  literarischen  Kampfspiels  (Turnier)  gegossen  wurde 
und  dessen  Namen  {Jeu  parti)  bekam. 

L  Frankreichs  Hegemonie  (ii. — 13.  Jahrhundert).  Von  einem 
mächtigen  nordfranzösischen  Grafen  des  12.  Jahrhunderts,  Baudouin  de 
Guines,  der  freilich  weder  lesen  noch  schreiben  konnte,  trotzdem  aber 
lebhafte  geistige  Interessen  hatte  und  ein  Mittelpunkt  kirchlichen  und  pro- 
fanen Lebens  war,  berichtet  ein  zeitgenössischer  Chronist,   daß   er   es   den 


, LAam, 


A.  Frankreich  bis  xum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     I.  Frankreichs  Hegemonie.      145 

besten  Spielleuten  gleichtat  in  den  cantilenis  gestatoriis  {Chansons  de  gesU), 
den  oventuri-s  nobilium  [Romdns  (favenfurfs)  und  den  fabelli.s  ignobilium 
{Fabliiiu.x).  Das  sind  die  drei  Hauptformen  der  franzü.si.schen  erzählenden 
Profandichtung:  das  Heldenepos,  der  Abenteuer-  und  Minneroman  und  der 
Schwank. 

I.  Das  Heidonepos.  Das  französische  Heldenepos  ist  historisch  und 
aus  christlicher  Zeit.  Es  beruht  auf  der  nationalen  Geschichte  eines  halben 
Jahrtausends,  von  der  Gründung  der  fränkischen  Monarchie  bis  auf  Hugo  r"/'A 
Capet:  Merowingerzeit,  Glanz  und  Verfall  der  karolingischen  Epoche.  Es 
erhob  sich  aus  und  neben  den  historischen  Volksliedern,  welche  rasch  am 
Wege  entstehen  und  auch  rasch  welken,  wenn  der  Zug  der  Ereignisse 
vorüber  ist  Dieses  Epos  ist  uns  in  reichen,  wenn  auch  späteren  Über- 
resten erhalten  geblieben  und  läuft  der  geschriebenen  Chronik  {Gtsfc)  und 
der  späteren  lateinischen  Dichtung  parallel,  mit  welchen  es  mannigfache 
Wechselbeziehungen  verknüpfen.  Mythische  Züge  finden  sich  in  dieser 
Epik  wenig.  Fremde  ältere  SagenstofFe  haben  sich  darin  dem  forschenden 
Auge  erst  spärlich  enthüllt.  Was  an  erkennbaren  Resten  von  Merowinger- 
erinnerungen  sich  darin  erhalten  hat,  ist  gering.  Und  da  von  den  drei 
Jahrhunderten  karolingischer  Herrschaft  die  Zeit  Karls  des  Grroßen  die 
glänzendste  war,  so  wird  sie  ins  Zentrum  der  epischen  Überlieferung  ge- 
rückt. Auf  Kosten  der  geschichtlichen  Wahrheit,  der  Chronologie  und 
der  Topographie  wird  eine  künstliche  Einheit  in  der  Person  des  großen 
Kaisers  geschaffen  und  das  französische  Heldenepos  zum  Karlsepos 
gebildet. 

Das  germanisch  gebliebene  Austrasien  hat  eine  Karlsepik  nicht  her- 
vorgebracht Das  Christentum  hatte  schon  ihre  Grundlage,  die  heidnisch- 
germanische Epik,  zum  voraus  lädiert.  Dasselbe  Christentum  hat  im  ro- 
manischen Xeustrien  das  französische  Epos  hervorgerufen.  Die  Xormannen- 
schlacht  von  Saucourt  (881)  führte  zu  einem  französischen  Epos  (vom  Recken 
Isembart);  im  deutschen  blieb  es  beim  historischen  Lied  (Ludwigslied). 

Die  Entstehung  dieses  Epos  entzieht  sich  unserem  Blick.  Wir  können 
nicht  mehr  erkennen,  wie  und  wann  sich  aus  Lied  und  Sage  dies  Epos 
gelöst  hat,  das  uns  erst  in  der  Form  entgegentritt,  welche  die  Diaskeuasten 
des  II. — 13.  Jahrhunderts  ihm  gaben.  Doch  scheint  seine  eigentliche 
Bildungszeit  das  g.  und  das  10.  Jahrhundert  zu  sein,  die  mit  dem 
Verfall  der  Karolingermacht  den  Feudalismus  gezeitigt  haben.  Und  es 
scheint,  als  erhöbe  sich  das  französische  Epos  auf  den  Trümmern  der  ver- 
stummenden germanischen  Dichtung.  Das  jedenfalls  sehen  wir,  daß  der 
Anstoß  zur  romanischen  Epenbildung  von  den  Germanen  kam:  der  epische 
Geist  des  jugendlichen  Volkes,  unter  dessen  Führung  die  neue  Völker- 
gemeinschaft stand,  schuf  sie.  Germanisch,  feudalistisch  sind  die  In.stitutionen, 
ist  Recht  und  Sitte:  germanisch  sind  die  Xamen  der  schwergerüsteten 
Helden  (Barone)  dieses  romanischen  Epos.  Aus  dem  Geiste  dieser  adeligen 
Kriegerkaste  (Ritter)  ist  es  geboren,  als  ein  ständisches  Lied,  ob  nun  der 

Pn  Kn.Tvm  om  Gbockwart.    Lii.  t.  10 


14.6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Poet,  den  dieser  Geist  getrieben,  selbst  ein  Baron  oder  ein  kriegerischer 
Clerc  (d.  h.  Akademiker)  gewesen. 

Die  Chansons  de  geste  sind  eine  aristokratische  Poesie,  für  den  Krieger 
verfaßt  und  gesungen.  Die  Rolle  des  Weibes  ist  bescheiden,  ob  zart  oder 
roh.  Gelegentlich  ist  es  ein  Streitobjekt,  so  gut  wie  ein  Lehen  oder  ein 
Pferd.  Frauendienst  fehlt.  Der  Held  minnt  nicht,  aber  weibliches  Ver- 
langen giert  oft  nach  seiner  hohen  Gestalt.  Im  Heldenepos  herrscht  der  Mann. 

Dieser  Mann  ist  ein  Glaubensstreiter.  Die  Kriege  des  Epos  sind  Re- 
ligionskriege. Wohl  werden  auch  Kämpfe  besungen,  die  um  verweigerten 
Vasallengehorsam  oder  um  bestrittene  Lehen  mit  dem  kaiserlichen  Herrn  (die 
Haimonskinder  mit  Renaut  de  Montauban;  Ogier;  Huon;  Girart  de  Vienne) 
oder  zwischen  einzelnen  feudalen  Familien  (Lothringerepos)  geführt  werden 
—  aber  der  Hauptkampf,  um  den  sich  die  übrigen  gruppieren  und  in  wel- 
chen sie  meist  ausmünden,  ist  der  gemeinsame  Kampf  um  das  große  Lehen, 
das  der  Kaiser  und  König  Karl  von  Gott  verliehen  bekommen  hat:  um 
die  do7ice  Fraticc,  die  von  Sarazenen,  Wickingern,  Sachsen,  Slawen  be- 
droht ist.  Das  Epos  feiert  diesen  jahrhundertelangen  Kampf,  den  das  christ- 
liche Abendland  unter  fränkischer  Hegemonie  gegen  Ungläubige  und  Heiden 
stritt,  als  einen  nationalen  französischen  Krieg,  den  der  französische  Kaiser 
Karl  mit  Hilfe  Gottes  und  seiner  Frangais  de  France  zu  siegreichem  Ende 
bringt.  Das  Stoßgebet  des  sterbenden  Roland:  Vater  im  Himmel,  laß  über 
Frankreich  keine  Schande  kommen!  ist  das  Motto.  Zu  Hunderttausenden 
werden  die  Feinde  erschlagen  oder  getauft,  und  die  Seele  der  gefallenen 
französischen  Helden  nehmen  die  Engel  des  Himmels  in  Empfang.  Fromm 
ist  alles  Ende,  auch  das  des  rebellischen  Vasalls:  der  Recke  Renaut  stirbt 
als  simpler  Steinträger  beim  Bau  des  Kölner  Doms.  So  bildet  die  kirch- 
liche Idee  einen  integrierenden  Bestandteil  der  nationalen. 

Die  Form  dieser  Gedichte  ist  einfach.  Die  Verse  sind  durch  Gleich- 
klang des  Zeilenschlusses  zu  ungleich  großen  einreimigen  Gruppen  {Laisse) 
verbunden  und  schreiten  in  wuchtigem  Takte  daher.  Die  versweise  sich 
wiederholende  einfache  Melodie  und  der  rezitative  Vortrag  mit  Begleitung 
eines  Saiteninstrumentes  entspricht  der  schlichten  Kunstlosigkeit  dieses 
Baues.     Von  Kehrreim  {Refrain)  finden  sich  nur  Spuren. 

Dieses  kriegerische  Epos,  das  vom  Leben  des  Friedens  nichts  weiß  und 
dessen  arbeitsames  Volk  {Vilains  und  Bourgeois)  mißachtet,  trat  auf  den 
Lippen  des  berufsmäßigen  Sängers  aus  dem  Königshof  oder  der  Ritter- 
burg vor  ein  bürgerliches  Publikum  und  ward  Gemeingut.  Der  Jongleur 
pflegt  die  Chanson  de  geste,  fahrend  oder  in  fester  Stellung  {Menestrel)^ 
ein  unwissender  Laie  oder  ein  entgleister  Kleriker.  In  seinem  Vortrag 
oder  unter  seiner  Feder  entwickelte  sie  sich  weiter,  bald  in  glücklicher 
Erhaltung  der  alten  Form  und  des  alten  Geistes,  bald  sich  stärker  umge- 
staltend und  dem  neuen  Milieu  sich  anpassend. 
Das RoiandsUed.  Als  im  August  778  Karl  von  einem  kurzen  Feldzug  aus  der  spanischen 

Mark  zurückkehrte,  wurde  in  den  Pyrenäen,  bei  Ronceval,  seine  Nachhut 


A.  Frankreich  bis  lum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     I.  Frankreich»  Hegemonie,      j.y 

von  räuberischen  Basken  vernichtet  und  dabei  fiel,  wie  die  Chronik  be- 
richtet, der  Höflinj»-  Hruotlandus,  Graf  der  bretonischen  Mark.  Dieses  un- 
bedeutende Ereignis  liej^  dem  hervorragendsten  der  Epen,  dem  Rolands- 
liede,  zugrunde,  das  uns  in  der  Form  erhalten  ist  (4000  Verse  in  293 
Laissi's),  die  ihm  ein  normannischer  Überarbeiter,  Turoldus,  gegen  1100 
gegeben  hat:  das  Lied  vom  christlichen  Achill,  seiner  Hybris,  seinem  und 
seiner  Waffenbrüder  Tod  durch  Ganelons  Verrat.  Trotz  ihrer  rauhen  Form 
und  ungelenken  Stilisierung  ergreift  die  wilde  Tragik  der  einfachen  Er- 
zählung und  wenn  das  aristokratische  Rolandslied  an  künstlerischer  Voll- 
endung und  an  menschlichem  Gehalt  weit  hinter  der  Ilias  zurücksteht,  so 
ist  es  ihr  in  der  Ausprägung  niitionalen  Empfindens  ebenbürtig,  während 
die  Nibelungen  inhaltlich  zu  sehr  verwittert  und  durch  späte  höfische  Über- 
arbeitung zu  romanhaft  geworden  sind,  um  noch  als  nationales  Epos  zu 
gelten. 

Zu    der   nämlichen    Zeit    da  Turold    den    alten  Roland  pietätvoll  über-    d»«-  w«trre 
arbeitete,  verfaßte   ein   anderer  Kleriker  für  das  Jahrmarktspublikum    von  *'-••*•''"'"»« 
Saint -Denis   das   Lied    von  Kaiser  Karls  Pilgerfahrt,    in   welchem   er  den 
Inhalt  älterer  Epen  mit  Schwank  und  Märchenstoffen  zu   einem   unterhalt- 
samen Ganzen  an-  und  ineinanderfügte. 

Im  allgemeinen  wuchs  und  dehnte  sich  das  alte  Epos  unter  der  Arbeit 
der  Diaskeuasten.  Das  eine  streckte  seine  Arme  nach  dem  anderen  aus, 
und  schließlich  wurden  die  Helden  in  drei  großen  kinderreichen  epischen 
Häusern  untergebracht:  das  Haus  des  Königs,  das  Haus  der  Mainzer  (die 
rebellischen  Vasallen,  nach  ihrem  Anherrn,  Doon  de  Mayence,  benannt) 
und  das  südfranzösische  Haus  Montglane,  in  dessen  Mittelpunkt  der  sagen- 
hafte Wilhelm  von  Orange  steht.  Auch  diese  letzteren  Epen,  in  welchen 
fränkische  Barone  der  Provincia  gleichsam  ihren  Anteil  am  poetischen 
Ruhm  der  Sarazenenkriege  geltend  machen,  sind  französisch  verfaßt,  d.  h.  in 
der  Sprache  der  nördlichen  Heimat,  die  allein  in  der  weiten  Romania  ein 
Heldenepos  her\'orgebracht  hat.  Das  Französische  galt  denn  auch  bis  nach 
Italien  hin  als  die  Sprache  der  Epik. 

Den  hervorragendsten  Anteil  an  der  zyklischen  Entwickelung  hat  der 
Kleriker  Bertrand  de  Bar,  der  um  1200  mit  „Girart  de  Vienne**  und  mit 
„Aimeri  de  Xarbonne"  poesievoll  erneute  Überarbeitungen  geliefert  hat 
Eine  moderne  Prosaversion  zweier  Episoden  daraus  hat  V.  Hugo  Stoff  und 
Wort  für  „Le  mariage  de  Roland*'  und  „Aymerillot"  seiner  „L«'*gende  des 
Si^cles"  geliefert 

Die  Eroberung  Englands  brachte  spärliche  Anfänge  eines  anglo-  tn-  A«rii«fw 
normannischen  Epos  (Bovon  von  Southampton).  Das  letzte  Ereignis  der  fran-  '*"  ^i»»«»«  «• 
zösischen  Geschichte,  das  ein  kurzes  Aufflackern  epischer  Inspiration  her- 
vorrief, ist  der  erste  Kreuzzug  mit  Gottfried  von  Bouillon.  Das  Kreuzzugs- 
epos ist  in  die  Form  der  Chansons  de  geste  gegossen,  doch  ist  es  mehr 
chronistischen  als  epischen  Geistes.  In  ihm  tritt  als  Ursprungssage  des 
Hauses  Bouillon  der  wohl   keltische  Mythus  des  Ritters  mit  dem  Schwan 


Minneroman. 


148  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

zum  erstenmal  in  literarische  Erscheinung.  Hier  fand  Wolfram  den,  den 
er  unter  dem  Namen  Lothringer  Garin  (Lohengrin)  so  stolzen  poetischen 
Geschicken  entgegenführen  sollte. 

Allmählich  verfiel  das  Heldenepos.  Gemeinplätze  und  Formeln  zerstörten 
gleich  Parasiten  sein  Mark.  Es  ward  zum  Bänkelsängerlied  und  mit  dem 
14.  Jahrhundert  kam  die  Zeit,  da  diese  sterbende  Poesie  von  ihrem  Leiden 
erlöst  und  in  Prosa  umgesetzt  wurde.  Heute  vertreibt  der  Kolporteur  in 
den  Hütten  der  Armen  als  Volksbuch  das,  was  einst  das  Entzücken  der 
Königsburg  gewesen. 

Früh  drang  die  Chanson  de  geste  über  die  Grenzen  des  Landes.  Deutsch- 
land—  mit  den  Niederlanden  —  übertrug  sie:  es  hat  ein  Rolandslied  und  einen 
Willehalm.  Die  Gegend  am  Niederrhein  insbesondere  ist  eine  Stätte  lite- 
rarischen Austausches.  Skandinavien  hat  die  Chanson  de  geste  als  Karla- 
magnus-Saga in  naiver  Treue  übertragen.  Englische  und  keltische  Über- 
setzungen sind  vorhanden.  Mit  Wallfahrern  und  Kriegern  kam  sie  nach 
Spanien  und  gab  Beispiel  und  Stoff  für  den  Cantar  de  gesta.  Auf  den 
Pilgerstraßen  ist  diese  Materia  di  Francia  nach  Italien  gezogen  einer  glän- 
zenden Auferstehung  entgegen. 
Der  Abenteuer-  2.  Der  Abcnteucr-  Und  Minneroman.     In  der  kriegerischen  Kaste  der 

■^^  ^^  feudalen  Ritter  entwickelte  sich  mit  dem  ii.  Jahrhundert  eine  Gesellig- 
keit, deren  Mittelpunkt  die  Frau  war.  Es  entstand  die  Societe  courtoise 
mit  ihrem  Frauendienst,  dessen  Abbild  im  Kultus  der  Mariendienst  ist.  Der 
französische  Süden  mit  seiner  friedlicheren  Geschichte  ging  voran.  Der 
Norden  folgte  und  schuf  sich  zum  Teil  eigene  Formen,  wie  das  Turnier. 
Erst  Jahrzehnte  später  holte  Deutschland  unter  Frankreichs  Einfluß  diese 
Entwicklung  nach,  wobei  Flandern  die  Brücke  bildete.  Hier  fanden  die 
ersten  deutschen  Turniere  statt. 

Das   nämliche    ii.  Jahrhundert    brachte   die  Eroberung  Englands  und 
Süditaliens  und  reifte  die  Kreuzzüge:  ein  gewaltsames  Aufrühren  der  kel- 
tisch-angelsächsischen, der  griechisch-maurischen  und  der  orientalischen  Welt. 
Der  keltische  Im  eigenen  Lande  wohnten  die  Franzosen  längst  mit  den  sagen-  und 

Einschlag,  üederreichen  Armorikanem  zusammen.  Bretonische  Harfner  hatten  ihnen 
das  keltische  Lied  i^Lai)  gebracht,  dem  eine  in  Prosa  gehaltene  Erzählung 
{rAventure)  vorausging,  meist  eine  romantische,  märchenhafte  Herzens- 
geschichte, die  nun  literarischer  Gestaltung  harrte.  Der  Hof  des  sagen- 
haften Königs  Artur  mit  seiner  Tafelrunde  bildete  oft  den  geheimnisvollen 
Hintergrund.  Alte  Wikingersagen  skandinavisch -britischer  Herkunft  spielten 
herein.  Diese  schlummernde  Welt  des  Abenteuers  und  der  Liebe  wurde 
durch  die  Eroberung  Englands  gleichsam  aufgestört,  und  ihre  Ge- 
stalten traten  im  anglonormannischen  Königreich,  das  mit  Heinrich  II. 
(Plantagenet)  die  literarische  Führung, übernimmt,  in  Chronik  und  Dichtung 
ans  Licht.  In  strahlender  Offenbarung  zogen  Tristan  und  Iseut  um  die 
Mitte  des  12.  Jahrhunderts  auf.  In  Lais  (Novellen),  in  Romanen,  von  denen 
uns  aber  nur  Fragmente   erhalten  sind,   und  in  Prosabüchem  wurde   ihre 


A.  Frankreich  bis  zum  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts.     I.  Frankreichs  Hegemonie.      140 

schicksalsmüchtige  Leidenschaft  verkündet,  die  alle  Schranken  von  Gesetz 
und  Sitte  durchbricht.  I' rankreich  gab  diesem  hohen  Lied  der  Leidenschaft, 
das  Fiktrn  und  Kymren  einst  angestimmt  und  dem  wir  noch  heute  lauschen, 
zuerst  literarische  Gestalt.  Hervorragenden  Anteil  an  der  poetischen  Lr- 
schließung  der  keltischen  Fabelwelt  und  ihres  Eros  hat  eine  am  Londoner 
Hofe  lebende  PVanzösin,  Marie  de  France. 

Ein  wesentliches  konstituierendes  Element  lieferte  zu  dieser  neuen  Lite-  i  ». 
raiur  das  Altertum,  besonders  die  Sage  von  Theben,  von  Troja,  von  Aeneas 
und  die  „Liebeskunst"  Ovids,  In  der  poetischen  Erschließung  und  Travestie- 
rung dieses  Altertums  ist  Frankreich  vorangegangen.  Von  den  thebanischen 
Sagen  weiß  das  Mittelalter  durch  die  Thebais  des  Statius.  Den  Trojaner- 
krieg kennt  es  nicht  aus  Homer,  sondern  aus  lateinischen  Fälschungen  christ- 
licher Zeit  Es  ist  trojanisch  gesinnt;  die  Fürsten  der  Romania  leiten  ihre 
Herkunft  von  den  versprengten  Söhnen  des  Priamus  ab.  Im  Kampf  um 
Theben,  in  der  Geschichte  Trojas  und  in  der  Aeneis  Vergils  ist  von  Liebe 
und  Frauenschicksal  die  Rede.  Im  anonj-men  „Roman  de  Thebes"  (gegen 
1 150),  im  „Roman  de  Troie"  den  ein  Benoit  aus  der  Touraine  der  Königin 
von  England,  Alienor  von  Poitiers,  widmete  und  im  „Roman  d'Eneas"  seines 
unbekannten  Landes-  und  Zeitgenossen  (um  1 160)  werden  aus  zum  Teil  ganz 
unscheinbaren  Anfängen  die  Liebesschicksale  einer  Ismene  und  Antigone, 
einer  Briseis,  Dido,  Lavinia  entwickelt.  Briseis  ist  die  wankelmütige  Tochter 
des  trojanischen  „Bischofs"  Calcas,  die  aus  den  Armen  des  Ritters  Troilus 
in  die  des  Ritters  Diomede  übergeht  Im  Aeneas-Roman  ist  fast  ein  Drittel 
der  eleganten  Verse  der  Schilderung  der  Liebe  des  Helden  und  der  La- 
vinia gewidmet,  mit  deren  höfischer  Hochzeit  das  Gedicht  schließt  In 
langen  Monologen  und  Dialogen,  die  vorbildlich  wirkten,  werden  die  Liebes- 
empfindungen subtil  und  mit  preziösen  antithetischen  Wendungen  zergliedert: 
die  Liebe  heißt  bereits  eine  bittere  Süßigkeit  Geist  und  Ursprungsort 
dieser  Romane  weist  auf  südfranzösischen  Einfluß. 

Ovids  Ars  amandi,  die  ein  beliebtes  Schulbuch  war,  lehrte  den  auto- 
ritätsgläubigen Leser  die  Liebe  als  eine  nach  bestimmten  Regeln  zu  führende 
Kunst  verstehen  und  förderte  die  Neigung  zu  formalistischer  Auffassung 
und  förmlicher  Kodifizierung. 

Über  Byzanz,  dem  erschlossenen  Tore  des  Orients,  drangen  die  wunder-  n« 
baren  Stoffe  des  spätgriechischen  Liebesromans  mit  syrischen,  persischen, 
indischen  Erfindungen  herein.  Das  ganze,  allen  Völkern  gemeinsame  Erbe 
an  Erzählungsstoffen  stieg  aus  der  Tiefe  der  dunkeln  mündlichen  Über- 
lieferung ans  Tageslicht  Eine  unübersehbare  Fabulierarbeit  begann  mit 
der  Mitte  des  1 2.  Jahrhunderts  in  Frankreich  und  gab  zum  erstenmal  im 
Abendland  jenen  Fiktionen  literarische  F"orm,  von  denen  lUnge  Jahrhunderte 
zehren  sollten  und  die  heute  noch  in  der  alten  oder  einer  neuen  Gestaltung 
ihren  Zauber  haben:  ApoUonius,  Cleomades,  die  sieben  weisen  Meister, 
FloLre  et  Blanchefleur,  Aucassin  und  Xicolette,  die  Chätelaine  von  Vergy, 
\  eilchenroman,   Herzmäre   usw.     Liebesschicksal   ist  der   Gegenstand   und 


150 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


zumeist   sind    es  Verlobte   oder   Gatten,   die    abenteuerliche   Trennungsnot 
glücklich  überwinden. 
Die  Minne.  In  dicscn  Romanen  greift  nun  jene  Auffassung  Platz,  die  in  der  Minne 

eine  feudale  Lebensform  sieht  und  die  wesentlich  ein  Produkt  des  franzö- 
sischen Südens,  der  Troubadourpoesie  ist.  Sie  weisen  zunächst  nach  den 
glänzenden  Höfen  von  Blois  und  Troyes,  deren  Gräfinnen  Alix  und  Marie 
Töchter  der  Königin  Alienor  von  Poitiers  waren.  Vornehme  Damen  sind 
die  Förderinnen  dieser  Romanliteratur,  die  für  Frauen  von  Frauen  handelt 
und  an  der  die  elegante  Gesellschaft  die  neue  Kunst  des  Lesens  übt,  wie 
Francesca  und  Paolo.  „Partenopeu  de  Blois"  und  „Ille  et  Galeron"  sind  zwei 
typische  Beispiele  der  sechziger  Jahre.  Im  „Partenopeu"  wird  unter  Ab- 
lehnung der  alten  Sarazenengeschichten  das  neue  Rittertum  und  seine  Minne 
gefeiert.  Der  unbekannte  Dichter  hat  von  „Amor  und  Psyche"  gehört, 
und  fast  scheint  es,  als  sei  aus  Apuleius  etwas  von  den  neuplatonischen 
Minnelehren  in  seine  Verse  geflossen.  Im  zweiten  Roman  bearbeitet  der 
pikardische Verfasser,  Gautier  von  Arras,  der  sich  bemüht,  zentralfranzösisch 
zu  schreiben,  den  Inhalt  eines  bretonischen  Lai  im  Sinne  der  neuen  höfi- 
schen Respectability  und  lehrt,  daß  die  Dame  mit  dem  Lieb  es  wort  zurück- 
zuhalten, und  der  Bewerber  erst  lange  en  son  service  zu  verharren  habe  — 
wie  später  in  der  preziösen  Gesellschaft  des  17.  Jahrhunderts.  Edle  Liebe 
aber  mache  den  Mann  tüchtig.  Und  dieses  Brevier  höfischer  Sitte  widmet 
Gautier  der  „Empereris  de  Rome",  der  deutschen  Kaiserin  Beatrix  von 
Burgund,  zu  ihrer  Hochzeit  mit  Friedrich  Barbarossa  (1167). 
Chretien.  Chr^ticn,  der  zu  Troyes  am  Hofe  der  Gräfin  Marie  dichtete,  verkörpert 

diese  literarische  Entwickelung.  Er  begann  um  11 65  damit,  keltische  Sagen 
in  Novellen  {Lais)  und  einem  größeren  Conte  d'aventure  {Erec)  zu  behandeln, 
sowie  Ovid  zu  übertragen.  Dann  bearbeitete  er  unter  Verwendung  der 
neugewonnenen  Minnekenntnis  einen  byzantinischen  Stoff  {Cliges)  und 
machte  aus  ihm  unter  Ausfällen  auf  die  undisziplinierte  Leidenschaft  Iseuts 
ein  höfisches  Gegenstück  zum  Tristanroman:  er  disziplinierte  gleichsam  den 
Tristan  zu  höfischer  Lebensart.  In  der  Abenteuerreihe  des  „Lancelot" 
schuf  er  nach  Anleitung  der  Gräfin  Marie,  das  Idealbild  des  feudalen 
Frauendieners.  Im  märchenhaften  „Ivain"  kehrte  er  zu  einer  einfacheren 
Darstellung  von  Abenteuer  und  Minne  zurück  und  im  unvollendeten  und 
imdurchsichtigen  „Perceval"  spielt  neben  dem  keltischen  Torenmärchen 
und  der  geheimnisvollen  Legende  von  der  Abendmahlschüssel  (Graal)  die 
Minne  keine  entscheidende  Rolle  mehr.  In  allen  diesen  Romanen  laufen 
die  Fäden  der  Handlung  an  der  Tafelrunde  des  Königs  Artur  zusammen. 
Chretien  ist  ein  anmutiger,  eleganter  Erzähler  des  Details,  allzu  künstlich  frei- 
lich in  der  Führuhg  des  Ganzen,  und  ein  seelenkundiger  Liebesschilderer. 
An  der  Minnedichtung  entwickelte  sich  seit  der  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts auf  zentralfranzösischer  (franzischer)  Basis  die  Schriftsprache  der 
höfischen  Kreise,  die  am  Hofe  Heinrichs  IL  einige  normannische,  am  Hofe 
zu  Troyes  einige  champagnische  Züge  zeigt. 


A.  Frankreich  bis  lum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     1.  Frankreichs  Hegemonie.      151 

Eine  Kluft  scheidet  die  Romane  von  den  Chansons  de  geste,  formell 
und  inhaltlich.  Die  kurzen  Verse  der  Romane  .sind  paarweise  zierlich  po- 
reimt.  An  Stelle  der  patriotischen  Errejrung'  tritt  das  Interesse  an  aben- 
teuerlichen wunderlichen  Schicksalen  fabelhafter  Liebespaare,  in  welchen 
die  etikettenreiche  Lebensform  der  eleganten  Welt  und  besonders  ihre 
Galanterie  idealisiert  wurde.  Reli^^iüse  Stimmung  fehlt  völlig.  Die  I-rau^ 
die  Liebe  ist  Veranlasserin  aller  hohen  Taten,  Ursprung  und  linde 
jeglicher  Handlung.  Der  Roman  ist  von  Anfang  an  das  Buch  der  Frau 
gewesen.  Die  Prosaform,  die  der  gereimten  früh  zur  Seite  trat,  löste, 
wie   beim  Heldenepos,  diese  schließlich  ab. 

Einzelne  Versuche,  die  nationale  Welt  der  Chan.son  de  gcste  mit  dem 
Geiste  des  Romans  zu  erfüllen,  haben  nicht  zu  organischen  Schöpfungen 
geführt.  Andererseits  war  die  Form  des  Romans  so  mächtig,  daß  die 
Taten  eines  Königs  oder  die  Kämpfe  eines  rebellischen  Vasallen,  die 
vordem  in  breitbeschwingten  epischen  Laissen  besungen  worden  wären, 
nun  vom  Mcnestrel  in  modischen  Kurzversen  romanhaft  erzählt  werden: 
so  Richard  Löwenherz'  Kreuzfahrt  (iiQo),  so  die  Not  und  Versöhnung  des 
anglonomiannischen  Barons  Fulko.  Es  entsteht  schließlich  die  romantische 
Gestalt  des  verbannten  Vasallen  {Bandit)^  der  zum  Abenteurer  und  Räuber 
wird  (Eustache,  genannt  le  MoitiA. 

Die  nämliche  Erzählungstechnik  wie  die  Romane  und  Novellen  zeigen  Di»  Omtat 
die  Heiligenleben  und  Legenden  {Contcs  devot s).  Die  Wechselfalle  des  '^''^^ 
Menschenschicksals  sind  hier  in  den  Dienst  eines  frommen  und  naiven  Wunder- 
glaubens gestellt.  Es  entsteht  eine  große  Heiligen-  und  Märtyrer-Epopöe, 
deren  Stoffe,  aus  Okzident  und  Orient,  aus  Altertum  und  Gegenwart, 
französische  Kleriker  in  die  Vulgärliteratur  einführten.  Wenige  Jahre  nach 
der  Ermordung  Thomas  Beckets  (i  170)  trug  an  seinem  Grabe  in  der 
Kathedrale  zu  Canterbury  ein  Fahrender  den  Pilgerscharen  das  Leben  des 
Heiligen  in  kraftvollen  Versen  vor,  die  freilich  mehr  an  die  Chanson  de 
geste  als  an  den  Roman  erinnern.  Unter  den  kleinen  Novellen  finden  sich 
Erzählungen  von  unvergänglicher  Lebenskraft  (Engel  und  Einsiedler,  die 
drei  Ringe,  der  Ritter  mit  dem  Fäßchen). 

Die  zentrale  Figur  dieser  ganzen  Epopöe  ist  die  Königin  aller  Frauen, 
Maria.  Der  Conte  d(^vot  wird  zum  Marien  wunder;  es  ent'^teht  ein  lite- 
rarischer Mariendienst,  dessen  umfangreiche  Denkmäler  neben  viel  ge- 
künstelter und  platter  Reimerei  wahre  Schmuckstücke  der  Erzählerkunst 
enthalten. 

Nach  den  französischen  Abenteuerromanen  irdi.scher  und  himmlischer  dpt  Komin  im 
Minne  griff  ganz  Europa,  das  romanische  und  das  germani.sche.  Das 
Abendland  besang  Troja  nach  dem  Muster  des  Franzosen  BenoiL  Spanien 
zahlte  sein  französisch -bretonisches  Anleihen  später  mit  seinem  „Amadis** 
und  „Don  Quijote"  heim.  Italien  führte  die  Matcria  dt  lirftagna  des 
Minneromans  ins  früher  entlehnte  Epos  über  und  schuf  so  das  romantische 
Heldengedicht      Und    wie    wurde    Deutschland    vom    literarischen    Geist 


152 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Frankreichs  ergriffen!  Noch  1043  scheuchte  Heinrich  III.  aus  der  Ingel- 
heimer Pfalz  unter  dem  Beifall  der  Geistlichkeit  die  welschen  Spielleute, 
die  literarischen  Träger  südfranzösischer  Kultur,  weg,  die  seine  Hochzeit 
mit  Agnes  von  Poitiers  angezogen  hatte.  Aber  11 84  hielt  Kaiser  Friedrich  I. 
mit  seiner  burgundischen  Gattin  Beatrix  am  nämlichen  Rhein  jenes  be- 
rühmte Hoffest,  auf  welches  die  Flut  welschen  Wesens  mächtig  herein- 
bricht und  an  dessen  Tor  wie  ein  literarischer  Herold  Heinrich  von  Veldeke 
steht.  Herbot  von  Fritzlar  und  Konrad  von  Würzburg,  Hartmann  von  Aue, 
Gottfried  von  Straßburg,  Wolfram,  Rudolf  von  Ems  folgen  welschen 
Vorbildern,  die  einen  als  bloße  Übersetzer,  andere  wie  Gottfried  und 
Wolfram  als  künstlerische  und  sittliche  Persönlichkeiten. 

Wie  einst  die  Germanen  den  epischen  Geist  nach  Francia  brachten, 
so  weckte  jetzt  das  französische  Beispiel  in  Deutschland,  besonders  am 
Rhein,  die  Lust  nach  den  Trümmern  des  nationalen  Epos  (Nibelungen  und 
Gudrun)  zu  greifen  und  sie  mit  höfischem  Geiste  neu  zu  beleben.  Auf 
die  Germanisierung  Frankreichs  folgt  die  Romanisierung  Deutschlands. 
Schwank  3.  Schwauk  Und  Tierepos.   Frankreich  ist  es  auch,  das  zuerst  aus  dem 

und  Tierepos,  j-gj^j^gj^  Schatze  der  mündlichen  Scherzgeschichten  geschöpft  und  das  Bei- 
spiel literarischer  Behandlung  des  Schwankes  {Fabliau)  gegeben  hat.  Seit 
dem  12.  Jahrhundert  fing  man  solche  Anekdoten  zu  reimen  an;  im  13.  blühte 
die  Fabliaux-Literatur,  um  dann  im  14.  mit  den  Spielleuten  zu  verschwinden. 
Es  sind  uns  150  Stücke  dieser  gereimten  Schwanke  erhalten.  Der  Versuch, 
einzelne  um  eine  bestimmte  komische  Person  (Trubert)  zu  gruppieren  und 
so  zu  einer  Eulenspiegel-Epopöe  zusammenzuschließen,  ist  in  den  Anfängen 
stecken  geblieben  und  von  einer  Dirnen-  und  Kuppler-Epopöe  (Richeut 
und  ihr  Sohn)  ist  nur  ein  Fragment  erhalten. 

Eine  kräftige  realistische  Kunst  ist  hier  an  oft  unsauberen  Stoffen  ge- 
übt. Das  kleine  Volk  der  Bauern,  Bürger,  Ministerialen,  Priester  und 
Mönche  und  besonders  die  Weiber  tragen  die  Kosten  des  ausgelassenen 
Lachens,  das  der  Spielmann  mit  dem  Vortrag  dieser  Spaße  in  Schloß  und 
Stadt  erregte.  Einzelne  dieser  Erzählungen  sind  von  ganz  dramatischem 
Bau  und  weisen  deutlich  auf  die  primitive  weltliche  Bühne  des  Mittel- 
alters, auf  welcher  ein  einzelner  Jongleur  den  Dialog  dieser  Schwanke 
mit  heiterem  Stimmwechsel  {modulatione  vocis)  agierte.  Die  Fabliaux  sind 
im  wesentlichen  eine  Form  der  dramatischen  Literatur  der  Zeit  und 
Truberts  Name  kehrt  in  der  Farce  wieder. 

Die  Stoffe  sind  teils  dem  unmittelbaren  Alltagsleben  entnommen,  teils 
stammen  sie  aus  jenen  uralten  Geschichten,  deren  Ursprung  und  mündliche 
Ausbreitung  sich  in  der  Vorzeit  der  wandernden  Völker  verbirgt.  Un- 
bestreitbar hat  Indien  an  ihrer  literarischen  Verbreitung  erheblichen  Anteil. 

Das  Tierepos  {Roman  de  Renard)  ist  gegen  1200  unter  dem  doppelten, 
wenn  auch  ungleichen  Einfluß  der  mündlichen  und  der  literarischen  Über- 
lieferung verfaßt  worden.  Jene,  die  kräftigere,  ist  vorzugsweise  ein- 
heimisch (Tiermärchen),  diese  wesentlich  antik  (Fabel). 


A.  Frankreich  bis  rum  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts.     I.  Frankreichs  Hegemonie.      |ci 

Tiermärchen  (Tierschwänke)  sind  unter  den  Menschen  überall  ent- 
standen. In  ihnen  fanden  Lebensweise  und  Aussehen  der  Tiere  ver- 
menschlichende Deutung  (z.  H.  die  Tierhoch/eiten).  Die  älteste  literarische 
Gestaltung  des  Tiermärchens,  die  äsopische  Fabel  mit  der  exotischen 
Figur  des  Löwen,  lebte  in  der  Form,  die  ihr  die  römische  Welt  gegeben, 
in  den  mittelalterlichen  Schulen.  Diese  von  den  Klerikern  durch  weitere 
Schwanke  vermehrten  lateinischen  Fabelsammlungen  wirkten  ihrerseits  auf 
die  mündliche  Überlieferung.  Sie  wurden  auch  wiederholt  in  französische 
Verse  übertragen,  zuerst  am  Hofe  Heinrichs  IL  von  Marie  de  France. 
Diese  altfranzösischen  Fabeln  erzählen  in  kunstloser  Behaglichkeit  eine 
Tierszene,  um  daraus  eine  Lebenslehre  {exemplc)  zu  gewinnen. 

In  den  Tiermärchen  der  verschiedensten  Völker  zeigt  sich  eine  zykli- 
sche Tendenz.  Die  Erzählungen,  in  welchen  ein  Fuchs  oder  ein  Wolf 
eine  Rolle  spielten,  werden  dem  Fuchs  und  dem  Wolf  zugeschrieben,  die 
als  Individuen  auch  menschliche  Namen  erhalten.  So  entsteht  die  Tier- 
sage mit  bestimmt  charakterisierten  Helden,  Die  Sage,  welche  den  Fuchs 
Reinhard,  den  Wolf  und  die  Wölfin  Isengrin  und  Hersent  nennt,  scheint  eine 
germanische  Schöpfung  zu  sein.  Vieles  weist  auf  die  Länder  am  Rhein. 
Von  hier  kam  sie  nach  Frankreich,  wo  sie  sich  mit  weiteren  Personi- 
fizierungen und  romanischer  Xamengebung  bereicherte.  Kleriker  des 
französischen  Xordostens  bauten  sie  zuerst  in  französischen  und  lateinischen 
Versen  aus.  Einzelne  Schwanke  wurden  zu  kleinen  Reihen  {Dranches)  zu- 
sammengefügt, in  denen  Schärfe  der  Beobachtung  und  Frische  der  Dar- 
stellung sich  zu  einer  humorvollen  Parodie  des  Menschlichen  vereinen. 
Später  gelangt  die  satirische  Tendenz,  die  der  Tiersage  ursprünglich 
fremd  ist,  zu  verdrießlicher  Aufdringlichkeit.  Unter  der  Führung  jener 
Branche,  welche  den  Hoftag  des  Königs  erzählt  —  ihr  Kern  ist  die  äso- 
pische Fabel  vom  kranken  Löwen  —  werden  sechsundzwanzig  Abenteuer 
als  „Roman  de  Renard"  aneinandergereiht.  Auch  diese  epische  Arbeit 
Frankreichs  hat  Deutschland  Anregung  und  Beispiel  gegeben;  die  deutschen 
und  flämischen  Vorgänger  von  Goethes  Reineke  Fuchs  folgen  den  franzö- 
sischen Klerikern,  welche  zuerst  die  Geschichten  dieser  „unheiligen  Welt- 
bibel" erzählten. 

4.  Der  Minnesang.  Aus  dem  Volkslied  erwuchs  die  Kunstlyrik  der  d» 
höfischen  Gesellschaft  des  Südens.  Der  Entwickelungsprozeß  entzieht  sich 
unserer  Kenntnis;  wir  wissen  insbesondere  nicht,  inwiefern  das  Vorbild  der 
arabischen  Kunstpoesie  mitgewirkt  hat  Mit  dem  ältesten  Troubadour, 
Wilhelm,  Grafen  von  Poitiers  und  Herzog  von  Aquitanien,  tritt  uns  der 
provenzalische  Minnesang  gegen  1 100  schon  in  charakteristischer  Ausbildung 
entgegen.  Der  ausgelassene  Ton,  der  einfache  Vers  deuten  zwar  noch 
auf  die  Nähe  der  Volkspoesie;  aber  Form  und  Geist  des  höfischen  .Sanges 
ist  in  seinen  vier  Minncliedem  da.  Auch  hat  er  bereits  eine  Schriftsprache 
zur  Verfügung,  die  jenseits  der  Grenze  seines  Landes,  an  den  Höfen  des 
I^anguedoc  und  der  Provence  erwachsen  war:    Das  Provenzalische. 


154 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


So  tritt  diese  Dichtung,  in  welcher  zum  erstenmal  in  der  Romania 
ein  persönliches  Lied  an  unser  Ohr  klingt,  und  die  berufen  war,  sich  die 
romanische  und  germanische  Welt,  Könige  und  Bürger,  zu  erobern,  in 
der  Person  eines  mächtigen  eleganten  aber  sittenlosen  Fürsten  entgegen, 
dessen  Mutter  eine  französische  Königstochter  und  dessen  Schwester  Agnes 
eine  deutsche  Kaiserin  war.  Wilhelms  Enkelin,  Alienor  von  Poitiers, 
heiratete  1137  den  König  Ludwig  VI.  von  Frankreich  und  wurde  später 
die  Gattin  des  Normannenherzogs,  Henri  d'Anjou,  der  als  Heinrich  IL  sie 
auf  den  Thron  von  England  führte  (1054)  und  dem  sie  den  ganzen  Süd- 
westen Frankreichs  zubrachte.  Ludwig  VI.  hatte  keine  künstlerischen 
Interessen  und  die  fünfzehnjährige  Anwesenheit  Alienors  hat  in  Paris  keine 
direkte  literarische  Spur  hinterlassen.  Aber  König  Heinrichs  II.  überragende 
Gestalt  schuf  aus  dem  englischen  Hof  eine  Stätte  reicher  Kultur.  Sein 
Name  ist  mit  den  bedeutendsten  Schöpfungen  der  französischen  Literatur 
der  Zeit  verbunden.  Unter  dem  Einfluß  der  Alienor  wird  sein  Hof  auch 
dem  Minnesang  erschlossen.  Bernarts  von  Ventadour  Kunst  vertritt  ihn. 
Alienors  Tochter  Marie  führt  diesseits  in  der  Champagne  das  literarische 
Zepter,  und  auch  ihre  übrigen  Kinder,  Richard  Löwenherz  an  der  Spitze, 
leihen  der  Dichtung  Tat  und  Wort.  An  der  Geschichte  dieses  poitevinischen 
Grafenhauses  ließe  sich  die  Geschichte  der  Literatur  Nord-  und  Südfrank- 
reichs im  12.  Jahrhundert  erzählen. 
Die  Provenzalische  Troubadours  kennen  wir  mit  Namen  ein  halbes  Tausend, 

danmter  etwa  zwanzig  Frauen.  Fürsten  eröffnen  den  Reigen;  Leute 
niederer  Lebensstellung  bilden  den  Zug.  Dreitausend  Gedichte  mögen  uns 
von  ihnen  erhalten  sein,  doch  nur  selten  mit  der  Melodie,  ohne  deren 
Flügel  es  damals  kein  Lied  gab:  Tanz-  und  Taglieder,  Streit-  und  Kampf- 
spielgedichte, Pastorelas  mit  bäuerlichem  Liebesabenteuer,  und  vor  allem 
Kanzonen,  deren  kunstvolle  Strophen  ein  Geleite  schließt.  Über  hundert 
dieser  Troubadours  sind  uns  angebliche  Lebensnachrichten  zum  Teil  in 
Form  kleiner  Novellen  überliefert,  bisweilen  mit  einem  Sachkommentar 
{Razö)  zu  einzelnen  Gedichten.  Die  ältesten  Versuche  biographischer  Kunst 
liegen  in  diesen  Fabeleien  vor. 

Der  ehefeindliche  Charakter  der  volkstümlichen  Maifestlieder  erhielt 
sich  in  dieser  Minnedichtung  um  so  eher,  als  auch  Ovids  freie  Liebeslehren 
gegen  Ehe  und  Gatten  wiesen.  Daher  der  Preis  der  Heimlichkeit,  die 
Verstecknamen,  das  Verwünschen  der  Schleicher  und  Spione.  Ist  der 
Ausdruck  dezent,  so  ist  der  Geist  doch  durchaus  nicht  platonisch.  Dabei 
prägt  sich  die  Huldigung  an  die  hochstehende  Frau  der  Gesellschaft  in 
die  Formen  des  feudalen  Verkehrs:  sie  ist  der  Lehensherr  —  oft  genug 
wird  sie  als  „mein  Herr"  angeredet  —  und  der  Sänger  ist  der  Vasall,  der 
in  ihrem  Dienst  zu  stehen  wünscht,  der  ihr  treu  und  verschwiegen  dient, 
dafür  Huld  und  Lohn  von  ihr  erwartet,  wenn  das  Dienstverhältnis  Bestand 
haben  soll.  Das  Konventionelle  dieser  lehensrechtlichen,  allegorischen 
Minnesprache  erschwert  uns  die  Kenntnisse  der  realen  Verhältnisse.     Oft 


Troubadours. 


A.  Frankreich  bis  lum  Ende  des  i  v  Jahrhunderts.     I.  Frankreichs  Hegemonie,      fcc 

mag  wahre  Liebe  sich  in  den  Liedern  au.s.sprechen;  zumeist  handelt  es 
sich  nur  um  höfische  Huldij^uns^  und  Galanterie  und  erscheinen  die  Süng^er 
wirkhch  als  die  Vasallen  vornehmer  Lrauen,  die  um  diis  Lehen  des  täg- 
lichen Hrotes  poetischen  Dienst  verrichten  als  höfische  Herufspoeten.  Die 
Fragen  dieses  galanten  Verkehrs  werden  mit  verteilten  Rollen  in  Gedichten 
um  die  Wette  erörtert  Diese  Galanterie  gilt  als  die  große  Angelegenheit 
des  Dasein.s.  Hei  allen  Handlungen  richtet  der  Mann  seinen  Blick  auf 
die  hohe  Minne.  Sie  macht  ihn  tüchtig;  sie  allein  g-ibt  ihm  Wert  Es  ist 
ein  weltfrcudiges,  unkirchliciies  Leben.sideal.  Diese  Minne  des  Herzens 
oder  der  Lippen  besingen  Jaufre  Rudel,  dessen  sagenhaftes  Schicksal 
Heine  und  Uhland  gefeiert  haben,  der  abenteuerliche  Peire  Vidal,  der 
anmutige  und  innige  IJernart  von  Ventadour,  der  dem  glänzenden  Hofstaate 
Alienors  nach  dem  Norden  folgte,  der  kunstreiche  Peire  von  Auvergne, 
der  ernste  Meister  Giraut  von  Borneil,  der  stünnische  Bertran  von  Born, 
der  zarte  Guillem   von  Cabestaing. 

Es  i.st  die  älteste  literarische  Kun.st  des  Abendlande.s.  Ihre  Leinheit 
und  ihr  Reichtum  erwecken  Bewunderung.  Strenge  !•  ormenge.setze  bildeten 
sich  aus.  Jedes  Gedicht  wurde  zu  einer  .strophischen  Erfindung  mit  eigener 
Melodie,  nach  der  Vorschrift  der  Dreiteilung.  Der  poetische  Ausdruck 
wurde  formelhaft:  das  Bild  der  Geliebten  als  Herrin,  der  Preis  ihres  Auges 
und  ihres  blonden  Haares,  des  Frühlings  und  der  Nachtigall,  die  Klage 
über  ihre  Härte,  über  Amor  mit  seinen  Pfeilen,  Ketten  und  Netzen,  die 
Vergleiche  mit  Sonne,  Rose,  Schnee,  Gold  und  Edelstein,  Phönix  und 
Salamander,  das  alles  kehrte  in  den  kunstvollen  Reimen  immer  wieder. 
Es  entstand  eine  poetische  Rhetorik,  die  zur  Preziosität,  zur  Hyperbel,  zum 
Wortspiel,  zur  Antithese  von  der  süßen  Bitternis  und  dem  eiskalten  Feuer 
und  zur  Allegorie  drängte.  Man  fing  das  „dunkle  Dichten"  an,  und  sein 
Meister  Arnaut  Daniel  erfand  die  Sestine.  In  den  Streitgedichten  über 
die  Berechtigung  dieses  „trobar  clus"  hören  wir  gegen  1 200  zum  erstenmal 
die  Stimme  litcrari.scher  Kritik,  und  in  der  nämlichen  Zeit  begegnen  wir  zum 
erstenmal  einer  literarischen  Gesellschaft  (in  Le  Puy-Notre-Dame  im  Velay), 
die  unter  dem  Vorsitz  eines  Troubadours  einen  Dichterwettstreit  {Cor/)  zum 
Preis  der  Gottesmutter  abhielt    Der  Mariendienst  schuf  den  Sängerwettstreit 

Für  ausländische  Liebhaber  wurden  im  13.  Jahrhundert  Anweisungen 
zum  Gebrauch  dieser  Dichtersprache  verfaßt:  die  ersten  Lehrbücher  ciiirr 
modernen  Sprache. 

Glucklirherwei.se  hat  sich  die  Troubadourpoesie  nicht  in  Minneliedeni 
erschöpft  Mit  seinen  Sirventesen  mischt  sich  der  Sänger  in  den  Streit 
der  Welt  Bertrans  von  Boni  leiden.schaftliche  Lieder  begleiten  die  Kriege 
von  1181 — 97.  Ein  streitbarer  Journalist  sendet  er  seine  Kriegsgesänge 
durch  seinen  Spielmann  an  die  Könige  von  Frankreich,  Fngland  und 
Aragon.  Im  Kampf  zwischen  Kaiser  und  Papst,  zwi.schen  Krtzer  und 
Rom  steht  der  Sirventes  gegen  die  Kirche.  Wie  preist  Guillem  Figueira 
den  Kaiser  Friedrich  IL! 


156  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Die  volkstümliche  Melodie,  die    den  Sirventes  trug,  diente  auch  für 
das  religiöse  Lied.     Das  Mittelalter  hat,   wie  Altertum  und  Neuzeit,  dem 
frommen  Vers   in  und  außer  der  Liturgie  gerne  die  Flügel  des  weltlichen 
Gesanges  gegeben. 
Die  Trouveres.  Um  1 1 50  wurdc  diese  südliche  Kunstpoesie,  besonders  durch  die  Lieder 

Bernarts  und  Jaufres,  nach  Nordfrankreich  verpflanzt.  Dort  begann  der 
Trouvere  den  Troubadour  nachzuahmen.  Die  französische  Kunstlyrik  ist 
einerseits  aristokratischer  und  künstlicher  als  die  provenzalische;  anderer- 
seits hat  sie  manch  frischen  volkstümlichen  Zug  bewahrt,  der  ihr  besonderen 
Reiz  verleiht.  Die  Vagantenlieder  sind  das  lateinische  Echo  dieser  Poesie. 
Der  champagnische  Hof  war  ihr  Zentrum.  Chr^tien  schrieb  neben  den 
Romanen  Minnelieder,  Unter  der  Führung  der  Gräfin  Marie  wurden 
mündlich  und  brieflich  jene  subtilen  Erörterungen  von  ehefeindlichen 
Liebesfragen  gepflogen,  die  zu  förmlichen  Protokollen  führten  und  die 
falsche  Vorstellung  von  Liebesgerichtshöfen  veranlaßten,  während  es  sich 
nur  um  den  eleganten  Müßiggang  preziöser  Salons  handelt.  Die  pedan- 
tische Immoralität  dieser  neuen  Artes  amandi  bewog  die  Kirche,  sie  auf 
den  Lidex  zu  setzen. 

Maries  Enkel,  der  Graf  Thibaut  IV.,  König  von  Navarra  (-j-  1253) 
wurde  für  die  Nachwelt  zum  typischen  Vertreter  des  nordfranzösischen 
Minnesangs.  Anmut  und  Innigkeit,  aber  auch  allegorische  Subtilität 
zeichnen  seine  Lieder  aus.  Auch  seine  schwankende  Politik  war  die  eines 
Poeten. 
Die  Städte.  Unter  dem  Schutze  bürgerlicher  Mäcene    und   im  Kreise  literarischer 

Gesellschaften  {Puys)  und  Innungen  {Confreries)  wurde  auch  in  den  auf- 
strebenden turbulenten  Städten  des  Nordostens  die  Kunstpoesie  gepflegt. 
So  zeigt  die  Stadt  Arras  im  13.  Jahrhundert  ein  kräftiges  literarisches  Leben, 
und  wenn  ihre  Dichter  die  höfische  Technik  pflegen,  so  haben  sie  daneben 
fesselnde  Eigenart  und  Heimatkunst,  wie  Jean  Bodel  und  Adam  derSchöfi"e. 

In  diesen  bürgerlichen  Puys  liegt  der  Keim  einer  neuen  Entwickelung. 
Auf  dem  Boden  bürgerlichen  Lebens  der  Hauptstadt  Paris,  die  damals  noch 
keine  führende  Rolle  spielt,  erwächst  seit  1250  die  Gestalt  Rutebeufs,  des 
Pariser  Boheme.  In  eindrucksvollen  Versen  weiß  er  die  Not  seines  Lebens, 
die  Trauer  um  einen  verlorenen  Freund  und  die  politische  Invektive  zu 
gestalten.  Leidenschaftlich  kämpft  er  gegen  das  Eindringen  der  Kongre- 
gationen in  den  Universitätsunterricht. 
Das  Ausland.  Provcnzalische  Sänger  durchzogen  schon  im  12.  Jahrhundert  das  ganze 

Gebiet  der  Romania.  Sie  kamen  an  die  Fürstenhöfe  Oberitaliens  und 
mischten  sich  mit  ihren  Sirventesen  in  den  politischen  Kampf.  Ihr  Beispiel 
weckte  norditalienische  und  toskanische  Troubadours,  welche  provenzalisch 
dichteten.  Auch  Dante  schreibt  provenzalische  Verse.  Die  meisten  pro- 
venzalischen  Liederbücher,  die  erhalten  geblieben  sind,  rühren  von  italieni- 
schen Schreibern  her.  In  italienischer  Sprache  erstand  der  Minnesang 
zuerst  am  Hofe  Friedrichs  IL  zu  Palermo,  und  von  dort  aus  verbreitete  er 


A.  Frankreich  bis  zum  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts.     I.  Frankreichs  Hegemonie.      157 

sich  im  1 3.  Jahrhundert  über  das  ganze  Land.  So  vollzog  .sich  die  literari.sche 
Eroberung  Italiens  durch  Krankreich  zugleich  vom  Norden  und  vom 
Süden  aus. 

vSpanien  hatte  zunäch.st  durch  Katalonien  unmittelbaren  Anteil  an  der 
Troubadourpoesie,  und  bald  beugte  sich  unter  Portugals  Vortritt  das  ganze 
Land  vor  ihrer  überlegenen  Kunst 

Nach  Deutschland  drang  sie  zugleich  mit  dem  französischen  Minne- 
roman. Früher  und  stärker  beeinflußte  sie  den  deutschen  Westen  mit  seinem 
„curteis  povol"  als  den  (^sten.  Je  tiefer  dieser  Einfluß  in  Gedanken,  Sprache, 
Rhythmik  und  Musik  sich  heute  der  Forschung  ofl"enbart,  um  so  siegreicher 
erhebt  sich  darüber  der  eine  Walter  von  der  Vogelweide. 

Während  sich  die  Troubadourpoesie  .so  die  Welt  eroberte,  wurde  sie  D»t  EmS« 
in  der  eigenen  Heimat  durch  jenen  Kreuzzug  gegen  die  Albigenser  zer- 
stört, in  dessen  Heiligkeit  sich  die  Herrschgier  nordfranzösischer  Streber 
kleidete.  Die  selbständige  kulturelle  und  politische  Entwickelung  der  „Süd- 
staaten" wurde  dauernd  gebrochen  und  die  völlige  Herrschaft  des  Nordens 
vorbereitet 

Der  Meistersang  löste  den  Minnesang  ab.  Er  trat  in  den  Dienst  der 
Kirche.  Bürger  von  Toulouse  begründeten  1343  eine  „Companhia"  zur 
Pflege  der  geistlich  gewordenen  Dichtkunst  {Gay  Sadi'r),  aus  welcher  ein 
umfangreiches  poetisches  Gesetzbuch  (Liys  d\lmors)  und  fromme  Dichter- 
wettstreite hervorgingen.  Ihre  kunstvollen  Blumenpreise  trugen  der  In- 
stitution den  Namen  der  Jeux  floraux  ein.  Die  „Companhia"  entwickelte  .sich 
zur  wohlbestallten  Academia  und  ward  zum  Vorbild  für  jene  Akademien, 
die  zur  Pflege  der  Sprache  in  Barcelona,  Florenz  und  Paris  entstanden. 

An  der  Toulousaner  Akademie  ersetzte  das  französische  Lied  seit  1694 
völlig  das  provenzalische.  So  verstummte  schließlich  die  Troubadoursprache 
vor  dem  französischen  Kla.ssizismus. 

5.  Der  Rosenroman.  V^on  Anfang  an  wandte  sich  die  muttersprachliche  i>«  Ro«« 
Kunstübung  gern  lehrreichen  Stoff'en  zu,  um  den  I^ien  Erbauung  und 
Wi.ssenschaft  zu  vermitteln.  Predigten,  Sprüche  und  ständische  Satire,  Ka- 
lender, Tier-  und  Steinbücher  gehören  zu  den  ältesten  französischen  Reime- 
reien, Tode.sbetrachtungen  zu  den  eindrucksvollsten  Schöpfungen,  und  die 
„Frauenfrage"  zu  den  beliebtesten  \'orwürfen.  Die  mittelalterliche  Frauen- 
frage  hat  der  Kleriker  formuliert:  ihm  ist  die  Frau  die  begehrliche,  listige 
V^ersucherin,  durch  die  einst  die  Sünde  in  die  Welt  gekommen:  aber  mit 
Maria  ist  ihr  Geschlecht  hoch  über  den  Mann  erhoben  worden.  Verächter 
und  Lobredner  der  Frau  berufen  sich  so  auf  die  heilige  Schrift  Beide  geben 
ihr  in  em.sten  oder  spöttischen  Lehrgedichten  gute  Räte.  Die  anglonorm.in- 
nische  Gesellschaft  zeigt  sich  be.sonders  lernbegierig.  Im  13.  Jahrhundert 
.schwillt  die  didaktische  Literatur  mächtig  an.  Sie  bildet  gleichsam  den 
profanen  Hofstaat  der  Pariser  Universität,  die  jetzt  das  Zentnim  der  mittel- 
alterlichen allegorischen  Wissenschaft  darstellt  Das  ganze  .\bendland 
strömt  ihr  zu. 


1^8  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Zu  diesem  Hofstaat  gehört  der  Rosenroman.  Ein  schwärmerischer 
Jüngling  begann  ihn  zu  Orleans  gegen  1230  (4000  Verse);  ein  skeptischer 
Student  der  Pariser  Universität  schrieb  40  Jahre  später  eine  Fortsetzung 
von  1 5  000  Versen  dazu.  Jener  verherrlicht  die  Minne  in  einem  Mainachts- 
traum, der  ihm  die  Vision  Amors  bringt  und  ihn  in  einen  Rosengarten  zu 
der  Geliebten  (Rose)  führt.  Mit  wirklicher  Anmut  und  Ursprünglichkeit 
gestaltet  Guillaume  de  Lorris  die  überlieferten  Formen  der  Vision  und  der 
Allegorie  zu  einem  Minnebild,  auf  welchem  sich  Amors  Liebesregeln  und 
„Dame  Raisons"  Widerspruch  wirkungsvoll  abheben.  Diese  verwirft  die 
Minne  als  Ausfluß  des  Müßiggangs  und  Feindin  der  Tüchtigkeit.  Nach 
Guillaumes  Absicht  war  „Dame  Raison"  zu  unterliegen  bestimmt.  Der  Fort- 
setzer, Jean  de  Meun,  aber  ist  anderen  Sinnes,  obwohl  er  schalkhaft  ver- 
sichert, daß  er  im  Geiste  Guillaumes  weiterdichte.  Auch  ist  er  nicht  Poet, 
sondern  Dialektiker.  Die  Handlung  stockt;  nur  die  endlosen  digressionen- 
reichen  Debatten  gehen  weiter.  In  diesen  wird  Amor  gründlich  widerlegt 
und  der  ganze  duftige  Bau  des  ersten  Teiles  aus  den  Fugen  gehoben  und 
zertreten.  Traumdeutung  und  Minne,  Aberglauben,  Bettelorden,  Askese 
werden  von  Jean  auf  Grund  antikisierender  naturphilosophischer  Ent- 
wickelungen  bekämpft,  lebendig,  geistreich,  keck,  aber  auch  zynisch.  Die 
Minne  wird  vor  seiner  naturalistischen  Betrachtung  zum  Fortpflanzungstrieb. 
Sein  Gedicht  wird  zu  einer  Enzyklopädie  aufklärerischer  Gedanken,  für  die 
er  Dutzende  von  antiken  und  neueren  Autoren  in  Kontribution  setzt,  zu 
einem  Pamphlet  gegen  die  Weiber.  Mit  schamlosem  Realismus  gestaltet 
er  die  Rolle  der  Kupplerin,  die  von  Ovid,  dem  Roman  und  dem  Fabliau 
gelieferten  Züge  zusammenfassend. 

Dieses  widerspruchsvolle  Werk,  das  in  seinem  ersten  Teil  ein  leuch- 
tendes Denkmal  der  Minnepoesie  ist  und  im  zweiten  Teil  gegen  poetische 
Verklärung  die  satirische  Darstellung  der  gemeinen  Wirklichkeit  und  gegen 
transzendentale  Lebenseinrichtungen  naturalistische  Lebenslehren  ins  Feld 
führt,  ist  ein  Bild  der  Stimmungen  des  mittelalterlichen  Schrifttums.  Dort 
träumt  der  Geist  der  Poesie;  hier  spöttelt  der  Esprit  gaulois.  Nicht  eine 
kunstvolle  Synthese  ist  erreicht;  den  einfacheren  Ansprüchen  der  Zeit  ge- 
nügte das  kunstlose  Nebeneinander. 

Ausland  und  Nachwelt  haben  im  Rosenroman  das  Hauptwerk  der 
französischen  Literatur  des  Mittelalters  gesehen.  Li  Deutschland  scheint 
er  sich  nicht  verbreitet  zu  haben. 

Der  Rosenroman  beherrschte  das  Schrifttum  Frankreichs  für  lange 
Zeit.  Er  zwang  ihm  den  Rahmen  der  Vision  und  die  Form  der  Allegorie  auf 
und  förderte  den  literarischen  Ausdruck  des  poesiefeindlichen  Esprit  gaulois. 
Die  Prosa.  6.  Die  Prosa.     Die  Rolle  der  ungebundenen  Rede  ist  im  mittelalter- 

lichen Schrifttum  überhaupt  eine  bescheidene.  Die  Sprache  der  Prosa  ist 
das  Latein. 

Die  französische  Prosa  ist  eine  Schöpfung  des  12.  Jahrhunderts.  Vom 
Mißtrauen    der    orthodoxen    Kirche    begleitet,    übt   sie   sich  an  der  Über- 


A.  Frankreich  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     I    Frankreichs  Hegemonie,      i  cq 

trag^ung  der  Bibfl,  zuerst  in  lingland,  dann  besonders  in  Metz.  Erbauungs- 
schriften, Chroniken  folgen;  doch  läßt  sich  der  Vers  nur  lang.sam  ver- 
drängen. Prosaversionen  von  Arlurromanen  zeigen  die  erste  orig^inale 
Verwendung  ungebundener  Rede.  Erst  das  13.  Jahrhundert  weist  einige 
Vertreter  der  Prosanovellen  auf.  Hat  der  erste  Kreuzzug  die  letzten  Epen 
gebracht,  so  bringt  der  vierte  die  erste  historische  Originalprosa,  die  noch 
die  Stilisierung  der  Chanson  de  geste  verrät  und  der  sechste  den  lebens- 
vollen Hericht  des  Seneschalls  Joinville  (1272/73),  das  erste  Memoiren- 
werk der  glorreichen  französischen  Memoirenliteratur. 

Das  13.  Jahrhundert  trägt  den  Ruhm  der  französischen  Prosa  ins  Aus- 
land. Engländer  und  Italiener  —  unter  ihnen  Dante  —  rühmen  ihre  leichte 
und  anmutige  Gemeinverständlichkeit.  Der  Florentiner  Brunetto  Latini, 
Dantes  Freund,  schreibt  sein  Lehrbuch  des  Lebens  französisch,  und 
französisch  ist  die  berühmte  Reisebeschreibung  des  Venezianers  Marco 
Polo  (1298). 

Die  Verwendung  der  französischen  Prosa  im  öffentlichen  und  privaten 
Verkehr  überdauerte  in  England  den  Untergang  der  blühenden  anglo- 
normannischen  Literatur  (nach  1 300).  Die  königliche  Kanzlei  und  die  Juristen 
fuhren  fort  französisch  zu  schreiben,  und  sogar  Cromwells  patriotisches 
Verbot  wirkte  nicht  unmittelbar. 

In  Xorditalien  wich  die  französische  Prosa  vor  der  toskanischen  erst 
gegen  1500;  in  Piemont,  der  Wiege  der  poUtischen  Einheit  Italiens,  war 
sie  noch  im  16.  Jahrhundert  die  Sprache  der  Administration  und  noch  im 
18.  herrschte  sie  am  Hofe  und  in  der  Akademie  zu  Turin. 

Der  direkte  Anteil,  den  England  und  Italien  an  der  Literatur  Frank- 
reichs vom  12. — 14.  Jahrhundert  genommen  haben,  hat  auch  die  glückliche 
Folge  gehabt,  daß  englische  und  norditalienische  Kopisten  uns  Werke 
erhalten  haben  —  Epen,  Romane,  Liederbücher  und  Prosaschriften  —  die  in 
ihrem  Heimatlande  untergegangen  sind.  Ohne  sie  hätten  wir  nur  Trümmer 
des  Rolandsliedes.  — 

So  ist  Frankreich  die  Führerin  des  Abendlandes  auf  dem  Wege  zur  / 
literarischen  Kunst  geworden.  In  seinem  Süden  hat  es  das  erste  persön-  '* 
liehe  Lied  angestimmt;  in  seinem  Norden  hat  es  germanischem  Geiste  in 
der  Helden-  und  Tiersage  romanische  l'onn  gegeben,  die  Schätze  der 
keltischen  und  der  antiken  Sage,  die  Fabeleien  des  Orients,  die  Legende 
und  das  Erbe  volkstümlicher  Contes  der  neuen  Welt  erschlossen  und  eine 
universelle  Prosa  geschaffen.  Auch  in  der  Entwickelung  der  Lebensformen 
ist  Frankreich  vorangegangen  und  seine  Wissenschaft,  insbesondere  seine 
Theologie,  war  maßgebend.  So  konnte  Chretien  von  Troyes  stolz  sagen: 
zuerst  waren  Gelehrsamkeit  {Clergic)  und  höfische  Bildung  (Chevaierit)  in 
Griechenland  heimisch;  von  da  kamen  sie  nach  Rom,  und  nun  ^;     '  in 

I*  rankreich  zu  Hause.    Ein  deutscher  Zeitgenosse  hat  ihm  das  nt-idlo^  'gt. 

Dieses  selbe  Nordfrankreich  ist  auch  die  Heimat  der  Gotik.  Es  hat 
im    1 2.  Jahrhundert  der  Civitas  Dei  das   Gotteshaus  geschaffen.     England, 


jijr 


i6o  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Italien,  Spanien,  Deutschland,  Skandinavien  haben  es  ihm  nachgebaut.  Die 
Schüler  seiner  Literatur  sind  auch  die  Schüler  seiner  Kunst. 

So  war  es  denn  wirklich  wie  ein  alter  Chronist  sagt:  Francia,  domina 
multarum  natiomun. 

n.  Frankreichs  Niedergang  (14.  und  15.  Jahrhundert).  Im  14.  Jahr- 
hundert vollzieht  sich  ein  rascher  Verfall.  Es  ist  eine  lernbegierige  aber 
keine  kunstsinnige  Zeit,  wenigstens  nicht  literarisch.  Die  Musik  freilich 
zeigt  frisches  Leben,  und  in  der  führenden  Pariser  Malerschule  von  1400 
bereitet  sich  die  neue  Kunst  vor,  die  in  den  Niederlanden  aufgehen  wird. 
Es  ist  als  ob  die  Poesie  erstorben  sei;  die  Didaktik  blüht.  Noch  einmal 
gelingt  es  Frankreich  ein  Thema  vorbildlich  zu  gestalten:  den  sog. 
Totentanz. 

Die  Prosa  gewinnt  die  Oberhand.  Sie  gewinnt  auch  dem  Latein 
Boden  ab.  Die  offiziellen  Königschroniken  im  Kloster  zu  Saint-Denis 
werden  jetzt  französisch  redigiert.  Historiker,  Philosophen  und  Redner  des 
Altertums  werden  aus  dem  Latein  übersetzt.  König  Karl  V.,  der  Weise, 
liebt  und  fördert  diese  Bildungsarbeit,  die  durch  den  Jammer  des  folgenden 
Regiments  unterbrochen  wird.  Der  Latinismus  beginnt  Wortwahl  und 
Satzbau  zu  beeinflussen.  Greift  man  zu  einem  Poeten,  wie  Ovid,  so  werden 
seine  Fabeleien  „moralisiert",  d.  h.  allegorisch  lehrhaft  gedeutet.  Es  ent- 
stehen Werke  über  Politik,  Kriegskunst,  Recht,  Münzwesen,  zum  Teil 
im  Rahmen  von  Visionen,  Der  Roman  schwillt  zum  endlosen  Lehrbuch. 
Die  Chanson  de  geste  verkommt  und  ihre  Umsetzung  in  Prosa  beginnt. 
Die  Tierschwänke  werden  zur  formlosen  Enzyklopädie.  Die  moralisierte 
Fabel  blüht.  Das  Fabliau  verschwindet.  Die  Kunst  der  kurzen  Erzählung 
scheint  verloren. 

Die  älteren  Formen  der  Lyrik  treten  zurück.  Es  sind  nicht  mehr  die 
höfischen  Kreise,  die  den  Ton  angeben,  sondern  die  bürgerlichen  Puys 
der  immer  mächtiger  werdenden  Städte.  Hier  bildet  sich  der  Meistergesang 
aus.  Es  entstehen  Anweisungen  zur  Poeterei.  Wenige  Gedichttypen,  zum 
Teil  zierlicher,  komplizierter  Form  wie  Balladen,  Rondeaux,  Virelay  —  die 
Namen  verraten  das  ursprüngliche  Tanzlied  —  dienen  sowohl  der  Liebe 
wie  dem  Glauben,  der  Politik  und  der  Moral,  der  Fabel  und  der  Satire. 
Originelle  Kompositionen  tragen  sie  bis  nach  Italien.  Die  Ballade  ist  für 
zwei  Jahrhunderte  die  herrschende  Form.  Der  treffliche  Eustache  Des- 
champs  (f  1405)  hat  uns  über  1000  solcher  Balladen  hinterlassen,  die  ein 
buntes  Bild  seiner  und  seiner  Zeit  Geschichte  geben.  Es  sind  die  bösen 
Jahre  des  Krieges  mit  England,  deren  Rittertaten  in  der  Chronik  Frois- 
sarts  eine  zwar  äußerliche,  aber  um  so  farbenreichere  Darstellung  ge- 
funden haben,  die  Walter  Scott  entzückte.  Es  sind  auch  die  Zeiten  tief- 
gehenden Aufruhrs  im  Innern:  Königsmacht  und  Feudalmacht  ringen  um 
die  Herrschaft;  das  erstarkende  Bürgertum  mischt  sich  in  den  Kampf;  die 
Not   zwingt  die   Bauern   zu  verzweiflungsvollen  Aufständen.     Die  Kirche, 


A.  Frankreich  bis  zum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     M.  Frankreichs  Niedergang.      161 

deren  Haupt  in  Avignon  residiert,  treibt  dem  Schisma  entgegen,  das  die 
Gemüter  der  Gläubigen  verwirrt.  Inzwischen  ist  Avignon  ein  Zentrum 
kirchlicher  und  profaner  französisch-italienischer  Kultur.  Die  Päpste  be- 
schäftigen senesische  Maler  und  französische  Architekten  und  Plastiker. 

Jean  de  Meun  ist  die  literarische  Autorität,  der  man  folgt  oder  die 
man  bekämpft  Fromme  Dichter  benutzen  seine  Form,  um  seine  Lehre  zu 
widerlegen.  Die  gelehrte  Christine  von  Pisan  (Pezzano)  stellt  ihm  Dante 
gegenüber,  verteidigt  die  Ebenbürtigkeit  der  Frau  gegen  seine  zynischen 
Angriffe  und  hilft  damit  1401  eine  große  literarische  Debatte  entfachen. 
Die  „Frauenfrage"  erfüllt  die  Literatur  der  Zeit.  Einem  unbekannten  Pariser 
verdanken  wir  das  satirische  Kleinod  „Les  quinze  joies  de  mariage",  ein  un- 
ehrerbietiges Pendant  zu  den  fünfzehn  Freuden  Mariae.  Die  Verteidigung 
der  Frau  gipfelt  in  den  24000  Versen  des  „Champion  des  dames"  von 
Martin  le  Franc  (1442). 

Das   15.  Jahrhundert  bringt  Frankreich  die  schwere  Krise  der  englischen  d«.  fünf««hnt 
Eroberung    und    der   burgundischen    Rivalität     Die  Jungfrau   von  Orleans     J»*'^''"^^"^ 
hilft  jene  überwinden  (1429);  die  Macht  der  burgundischen  Herzöge  brechen 
die  Schweizer  (1477). 

x\uf  den  Reformkonzilien  zu  Konstanz  und  Basel  haben  die  Pariser 
Theologen  die  Führung.  Sie  begründen  die  sog.  gallikanischen  Freiheiten. 
Die  friedenslose  christliche  Gesellschaft  liefert  der  satirischen  Dichtung 
reichen  Stoff.  Spott  und  Zynismus  erfüllen  die  Verse,  aber  das  Schicksal 
der  Jeanne  d'Arc  findet  keinen  Poeten. 

Die  französischen  Könige  der  Zeit  haben  wenig  literarisches  Interesse, 
und  Paris   tritt   nicht  besonders  hervor.     Meister  Alain  Chartier  schafft 
sich  dauernde  Autorität  durch  seine  ernste  poetische  Rede.    In  den  Zeiten, 
da  das  Vaterland    dem  Untergange    nahe    ist,    werden  Alains  anmutig  ge- 
reimte Gemeinplätze    von    der   „Grausamen  Schönen"  (1424,  La  belle  dutne 
Sans  merci),  die  mit  guten  Gründen  den  tränenreichen  Liebhaber  abweist, 
zum    höfischen     Ereignis.      In    Blois    hält    der    Prinz    Karl   von   Orleans 
nach    seiner    Rückkehr    aus    2 5 jähriger    englischer    Gefangenschaft    (1440) 
einen  literarischen  Salon,  in  welchem  ein  zierliches,  erfindungsreiches  Spiel 
mit  Balladen  und  Rondeaux  getrieben  wird,  an  dem  vorübergehend  auch 
der  verkommene  Pariser  Fran(^ois,  genannt  Villon,  teilnahm.    Dieser  Fürst 
und    dieser  Vagabund    sind    die    Poeten    des    15.  Jahrhunderts.     Aber    der 
Vagabund   ist  der  größere  Dichter.     Er  erinnert  an  Verlaine.     Das  Leben 
hat  sein  Inneres  tief  gepflügt  und  aus  den  Furchen  sprießt  eigene  Frucht, 
Die  Lieder   des   verschollenen  Mannes   sind  nicht  zahlreich.     Sie  bewegen 
sich    in    den    überlieferten    Formen    und    verschmähen    nicht   deren    Zierat 
Aber  Villon  hat  der  Ballade,  in  die  er  mit  ergreifender  Aufrichtigkeit  Lust 
und  Klage  seines  zertretenen  Lebens  goß,   für  immer  den  Stempel  seines 
Geistes    aufgedrückt.     Das    Altertum    hat    ihn    nicht    besonders    inspiriert 
Ganz  fremd  ist  es  Philipp  de  Commines,  der  „aucufu  littdraturi^  hat  und 
der  deshalb   ohne    rhetorische  Ambitionen    die    politische  Erfahrung  eines 

Dn   Kltn'K    dkr   Ctmr.cNwMir      I    II.  I  II 


j52  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

35jälirigen  Fürstendienstes  in  schlichter  Prosa  darstellt  als  ein  Vorläufer 
Machiavells.  Die  Freude  an  der  einfachen  Erzählung  regt  sich  wieder 
und  schafft  z,  B.  die  reizende  Prosanovelle  vom  König  „Jean  de  Paris". 

Am  prachtliebenden  Hofe  von  Burgund  herrscht  eine  prunkvolle 
Literatur.  Die  Prosa  seufzt  unter  der  Last  lateinisch  aufgeputzter  Wörter 
und  im  Schnürleib  latinisierender  Konstruktionen.  Die  literarische  Kunst 
wird  zur  pompösen  Rhetorik  und  Rh^toriqueurs  nennen  sich  diese  Schrift- 
steller, die  mit  der  nämlichen  anspruchsvollen  Feierlichkeit  Prosa  und  Verse 
behandeln  und  die  Künstlichkeit  Alain  Chartiers  und  Karls  von  Orleans 
durch  Reimschnörkel  imd  Formverrenkungen  noch  verkünsteln. 

Diese  burgundische  allegorische  Rhetorique  überdauert  den  politischen 
Sturz  und  findet  in  Frankreich  gelehrige  Schüler.  Manch  unbestreitbares 
Talent  erschöpft  sich  im  Latinismus  und  Formengeklingel  dieser  sterbenden 
mittelalterlichen  Dichtung. 

Seit  1400  dringen  neue  Anregungen  aus  Italien  herein.  Italien 
liefert  lateinische  Versionen  griechischer  Originale,  nach  welchen  Originalen 
sich  in  Frankreich  noch  kein  Verlangen  zeigt.  Vom  italienischen  Humanismus 
stammt  die  rhetorische  Eloquenz,  der  latinisierende  Schwulst  und  der  über- 
triebene Kultus  der  antikisierenden  Form,  der  sich  auf  französischem  Boden 
viel  greller  abhebt  als  auf  italienischem.  Dante,  Petrarca,  Boccaccio  werden 
übersetzt.  Des  letzteren  Beispiel  leitet  die  neuerwachte  Erzählimgskunst 
und  bringt  Frankreich  das  Wort  „Xouvelle".  Ein  Unbekannter  vereinigt 
in  den  „Cent  nouvelles  nouvelles"  in  reizvoller  Form  sehr  freie  Geschichten, 
so  sich  in  Frankreich,  England,  Deutschland  und  Brabant  zugetragen  haben: 
es  ist  das  alte  derbe  Schwankgut  der  Fabliaux.  Dann  erschließen  die 
italienischen  Feldzüge  (seit  1494)  Frankreich  das  Renaissanceland  jenseits 
der  Berge.  An  der  Eingangspforte,  zu  Lyon,  bildet  sich  eine  einflußreiche 
italienische  Kolonie.  Italienische  Gelehrte,  Poeten  und  Künstler  werden 
die  Lehrer  der  Franzosen. 

Für  Deutschland  bleibt  Frankreich  im  15.  Jahrhundert  noch  maß- 
gebend. Es  sendet  ihm  seine  Prosaromane  und  vermittelt  italienische  Ent- 
lehnvmgen. 

Die  neue  Kunst  des  Buchdrucks  fand  in  Frankreich  eine  Schrift- 
sprache vor,  die  sich  literarisch  bereits  das  ganze  Land  erobert  hatte  und 
als  literarische  Verkehrssprache  auch  dem  Ausland  diente:  la  plus  com- 
mune par  Funiversel  monde^  wie  Christine  um   1400  sagt. 

Diese  Jahrhunderte  sahen  indessen  neben  der  sich  erschöpfenden  Epik 
und  Lyrik  der  alten  Zeit  eine  zwiefache  literarische  Blüte:  Erstens  schafft 
diese  Epoche  der  künstlichsten  Kunst dichtung  neue  Formen  des  Volks- 
liedes, Grundlage  und  Muster  für  die  folgenden  Zeiten,  und  wieder  ist  es 
Nordfrankreich,  das  an  der  Arbeit  der  volkstümlichen  Romanzendichtimg, 
die  durch  das  ganze  Abendland  pulsiert,  führenden  Anteil  nimmt. 
Das  Theater.  Zwcitcus  läßt  dicsc  Zeit  cinc  neue  Dichtungsform  aus  alten  unschein- 

baren Anfängen  zu  glänzender  Entfaltung  gelangen:  die  dramatische. 


A.  Frankreich  bis  lum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     II.  Frankreicht  Niedergang.      163 

Die  dramatische  Kunst  des  Mittelalters  fließt  vornehmlich  au.s  zwei 
Quellen:  aus  der  uralten  Schwanktradition  de.s  Mimus- Jongleur  und  aus 
dem  Kultu.s.     Dazu  g-esellt  sich  die  Schule. 

Der  Wunsch,  die  zwei  Ileilswahrheiten  (Mysterien),  an  die  es  glauben  soll, 
dem  Volke  vor  Augen  zu  fuhren,  macht  sich  in  der  Kirche  um  so  nachdrück- 
licher geltend,  als  ihr  Latein  diesem  Volke  unverständlich  war.  So  ent- 
stand die  Pantomime  als  Teil  der  Gottesdien^iorilnunvr,  /u  r)st(rn  um  «-in 
Grab  und  zu  Weihnachten  um  eine  Krippe. 

Früh  bildet  sich  in  der  abendländischen  Kirche  der  liturgische  Brauch,  dm«  OttrrWe«. 
am  Karfreitag  vor  dem  Altar  ein  Kreuz  aufzustellen,  es  hierauf  in  einer 
Art  von  Grab  im  Chor  symbolisch  zu  bestatten  und  später  wegzuschaffen, 
um  am  Ostermorgen  das  leere  Grab  zu  zcigin.  Mit  dieser  Pantomime  der 
Kreuzbestattung  verbindet  sich  im  10.  Jahrhundert  einer  jener  Gesänge 
(Tropen),  mit  denen  damals  die  römische  Liturgie  erweitert  wurde.  Dieser 
Tropus  .stammt  aus  St.  Gallen,  wo  man  ihn  in  der  Me.sse  des  Ostermorgens 
vor  dem  Tedeum  einschob.  Er  besteht  aus  einem  Wechselge.sang  der 
zelebrierenden  Geistlichen,  deren  Worte  nach  dem  Texte  der  Evangelien 
von  den  zum  Grabe  wandelnden  drei  Marien  gebildet  war:  „Wen  sucht 
ihr  im  Grabe,  o  Christinnen?"  „Jesum  Xazarenum,  den  Gekreuzigten,  o 
Engel."  „Er  ist  auferstanden,  Halleluja!"  Während  dieses  Gesanges  hält 
ein  weißgekleideter  Geistlicher  als  Engel  Grabes  wacht;  drei  andere  in 
langen  Gewändern  nähern  sich  mit  suchender  Gebärde  als  Marien  und 
jener,  die  Decke  vom  Grabe  wegziehend,  zeigt  ihnen  und  den  Gläubigen 
das  leere  Leichentuch:  surrexit!  Halleluja! 

So  verlief  um  967  die  Osterfeier  in  englischen  Klöstern,  die  sich  dabei 
auf  französisches  Beispiel  berufen.  Es  setzt  sich  dieses  lateinische  litur- 
gische Spiel  aus  einer  Pantomime  und  einem  Wechselgesang  zusammen, 
die  nebeneinander  hergingen.  Die  weitere  Entwicklung  war  eine  doppelte: 
Entweder  blieb  es  bei  dem  Nebeneinander:  das  Spiel  blieb  Pantomime  und 
ward  zu  einem  pnmk vollen  Schaustück,  das  dem  Gesang  oder  dem  Worte 
des  Predigers  entlang  lief  oder  einen  eigentlichen  Erklärer  beschäftigte. 
Oder  der  Wechselgesang  ging  in  den  Mund  der  agieremlen  Figuren,  Engel 
und  Marien  über,  und  es  entstand  dius  feierliche  lateinische  Musikdrama. 

Jetzt  war  die  Freude  am  Spiel  geweckt  Die  Evangelien  bieten  Material 
zu  Erweiterungen:  den  Wettlauf  der  Apostel  Petrus  und  Johannes  zum 
Grabe  (Joh.  20,  2)  —  womit  .schon  ein  Lächeln  sich  zum  feierlichen  Ernst 
gesellt  — ;  die  Frauen  kaufen  unterwegs  Salben  beim  Krämer  (Luk.  23,  56) 
—  womit  eine  komische  Laienfigur  in  die  heilige  Gesell.schaft  tritt  — ; 
Jesu-s  erscheint  der  Maria  Magdalena  (Joh.  20,  11)  —  der  lyri.sche  Dialog 
zwischen  Jesus  und  der  Sünderin  wird  in  rhj-thmischen  Couplets  ausgespomien, 
die  auf  volkstümliche  Melodien  weisen  — ;  Jesus  erscheint  den  klugen  und 
den  törichten  Jungfrauen  —  .seine  Zurückweisung  der  törichten  ruft  die 
Teufel  auf  den  Plan  und  öffnet  die  Hölle.  So  wird  das  liturgische  Sing- 
spiel weiter  und  bunter. 

II* 


l54  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Im  Mittelalter  werden  Epos,  Lyrik  und  Drama  gesungen.  Der  Gesang 
ist  Träger  aller  dichterischen  Arbeit. 

An  der  Entwickelung  dieses  lateinischen  Osterspiels  sehen  wir  haupt- 
sächlich Deutschland  und  Frankreich  beteiligt.  England,  Spanien  und 
Italien  treten  zurück. 

Seit  dem  12.  Jahrhundert  dringt  das  Französische  in  diese  Musikdramen 
ein.  Es  entstehen  zunächst  gemischte  (farcierte)  Formen:  lateinische  Stücke 
mit  französischen  Refrains  am  Strophenschluß,  mit  angefügter  Übersetzung 
einzelner  Hauptstücke,  mit  selbständigen  französischen  Einlagen.  Die 
Vulgärsprache  bringt  einen  etwas  derberen  Ton.  Dem  ersten  ganz  fran- 
zösischen Auferstehungsspiel  begegnen  wir  ums  Jahr  1200.  Es  ist  nicht  mehr 
strophisch,  sondern  in  paarweise  gereimten  Kurzversen  geschrieben;  nicht 
mehr  gesungen,  sondern  gesprochen,  von  der  Liturgie  gelöst,  laisiert. 
Das  Wie    die    Ablösung    sich    vollzog,    zeigen    die   reichen   Überreste    des 

weihnachtsspieL  "^ygij^jj^f^^^s^jj-ajjjas,  das  in  Nachahmung  des  Osterspiels  sich  gebildet  hat: 
hier  zogen  suchende  Hirten  zur  Krippe,  wie  dort  die  Marien  zum  Grabe. 
Doch  lockte  der  biblische  Bericht  zu  weltfreudiger  Ausgestaltung.  Der 
prunkvolle  Zug  der  Könige  trat  hinzu;  der  Elindleinmord  brachte  mit 
ihnen  den  Herodes  zusammen,  in  dem  der  Keim  zum  Theaterbösewicht 
schlummerte.  Eine  Lectio  aus  der  Weihnachtsmesse  führte  dazu,  eine  Reihe 
von  Propheten  Christi  auftreten  zu  lassen,  wie  Jesaja,  Bileam,  die  drei 
Jünglinge,  Daniel.  So  ward  die  Welt  des  Alten  Testaments  erschlossen. 
Bileam  reitet  auf  einem  Esel;  Xebukadnezar  singt  von  seinem  Königs- 
thron aus  den  Befehl,  die  drei  Jünglinge  in  den  feurigen  Ofen  zu  werfen; 
Daniel  kommt  auf  Geheiß  des  Darius  in  die  Löwengrube.  Die  Handlung 
ist  aus  dem  engen  Chor  in  das  breite  Schiff  hinausgerückt,  wo  ein  naives 
Nebeneinander  die  Inszenierungskünste  vereinigt  (Juxtaposition). 

Klosterschüler  bauen  sich  die  Danielepisode  der  Prophetenreihe  als 
selbständiges  buntes  Singspiel  für  ihre  studentische  Weihnachtsfeier  aus: 
so  tritt  die  Schule  in  die  Entwickelung  ein  und  pflückt  die  reifende  Frucht 
vom  Baimie  der  Liturgie. 

Inzwischen  wird  dem  Prophetendefile,  aus  Anlaß  einer  anderen  Lectio 
der  Weihnachtsmesse,  die  Darstellung  des  Sündenfalls  und  des  Bruder- 
mordes vorangestellt  und  damit  der  Anfang  zu  einer  Dramatisierung  des 
Alten  Testaments  in  Biographien  gemacht.  Diese  Form  zeigt  uns  das 
älteste  vollständig  erhaltene  französische  Mystere  {La  rcpresentation 
d'Adai?i)j  das  sich  allerdings  noch  an  der  Krücke  lateinischer  Gesänge 
und  Lektionen  bewegt  und  so  an  die  Kirche  gefesselt  erscheint,  das  aber 
bereits  außerhalb  des  Gotteshauses  im  Vorhof  gespielt  und  dessen  naives 
Französisch  gesprochen  wird. 

Das  lateinische  liturgische  Drama  ist  uns  in  reichen  Proben  erhalten. 
Von  den  französischen  Oster-  und  Weihnachtsmysterien,  die  sich  im  12. 
und  13.  Jahrhundert  daraus  entwickelten,  sind  uns  nur  wenige,  meist  Trümmer, 
überliefert.     Dieses   Wenige    weist  besonders  nach   England.     So    tritt    in 


A.  Frankreich  bis  xum  Ende  des  15.  Jahrhunderts.     II.  Frankreicht  Niedergang-      165 

dieser     Blütezeit     der    Epik     und     der     Lyrik     dif     dramatisch««     Literatur 
zurück. 

Nicht  rt'icher  i.st  die  l'hcrüotcruni^  jener  Mirakelsj)!«-!»-,  mit  welchen  dm 
Laiengesellschaften  ihre  Mcilivif-n  fi-iorten:  kleine  weltliche  Uranien,  deren  ^"' 
bunte  Verwickelung  durch  «in  Wumler  des  mächtij^en  Schutzherm  heilsam 
gelöst  wird.  Sie  sind  unabhänj^ig  von  der  Liturgie  entstanden.  Uie  Spiel- 
freudigkeit der  Klosterschüler,  von  der  wir  manches  hören,  gab  mit  latei- 
nischen Nikolaus-  und  Katharinenmirakeln  da.s  Beispiel.  Dann  folgten 
unter  ihrer  l'ührung  die  Laien.  Für  eine  Arraser  Gesellschaft  drama- 
tisiert Bodel  (Um  1200)  eine  abenteuerliche  Handlung,  zu  der  ein  Wunder 
des  heiligen  Nikolaus  fast  nur  noch  den  Vorwand  bildet  Für  einen  Pari.ser 
Puy  liefert  Rutebeuf  ein  Marienmirakel  („Theophilus"). 

In  diesen  Mirakelspielen  lag  weltlicher  Stoff  für  ein  romanti.sches 
Drama  bereit  Doch  fand  sich  der  Künstler  nicht;  denn  ganz  isoliert 
.stehen  die  zwei  originellen  poetischen  Frühlingsspiele  da,  die  Adam  der 
Schöffe  um  1265  für  den  Puy  zu  Arras  .schrieb:  das  eine  ein  buntes  Jahr- 
marktsbild mit  Narrenszenen  [Soffic),  da-s  andere  eine  dramatisch  aus- 
geführte liederreiche  Pastourelle:  das  erste  Vaudeville.  Das  begabte 
Arras  erscheint  hier  auf  dem  Wege  zu  einer  weltlichen  Kunst  Doch  wird 
er  nicht  weiter  verfolgt.  Die  Geschichte  des  Dramas  ist  reich  an  solchen 
V^erwerfungsspalten. 

\'om  Jongleurtheater  sind   uns   aus   dieser   Zeit   —  außer  den  Fabliaux  Dm  joa^kw 
—   nur   kärgliche  Überre.ste    des  Einzelspiels:   komische  Monologe,   Streit- 
und  Narrenreden  geblieben.     So  scheint   es,    als  hätte  der  fahrende  Spiel- 
mann  erst   spät    und   erst   nach  dem  Beispiel  der  Mysterien-  und  Mirakel- 
bühne gelernt,  Szenen  im  Zusammenspiel  mehrerer  Personen  aufzuführen. 

Seit  dem  13.  Jahrhundert  wird,  im  Gefolge  des  Marienkultus,  dem  Auf-  d»«? 
erstehungs.spiel  die  Klage  der  Mutter  Gottes  am  Kreuz  vorausgeschickt  ^'^^ 
Um  diese  Marienklage  gestaltet  sich  dann  die  ganze  Leidensgeschichte 
Christi.  So  wird  das  Ostermy.sterium  zum  Myst6re  de  la  Passion.  Hierin 
ward  Frankreich  für  Deutschland  und  England  vorbildlich.  Auch  das 
Passion.sspiel  lag  in  den  Händen  bürgerlicher  Gesellschaften.  Die  Pariser 
Confr^rie  de  la  Passion  erlangt  1402  die  königliche  Erlaubnis,  ihr  Spiel 
auch  außerhalb  des  O.sterfestes,  .sonn-  und  feiertäglich,  zu  wiederholen. 
Damit  tritt  das  ursprüngliche  F'estspiel  in  das  Alltag.sleben  hinein.  Es 
entsteht  das  hauptstädtische  Theater,  und  die  Dilettanten  der  Confrerie 
sind  auf  dem  Wege  zum  Berufsschau.spielertum.  Jetzt  erst  begegnen  wir 
dem  Namen  „Mystere". 

Mit  dem  15.  Jahrhundert  nimmt  diese  ganze  Dramatik  einen  gewaltigen  in»  .Wt.ä^j. 
Aufschwung.  Das  Leiden  Chri.sti  wird  mit  weitläufiger  Aufdringlichkeit 
dar^r.stellt  Die  Rolle  Marias  wird  nach  Herzen.slust  ausgedehnt  Da.s  Welt- 
leben wirft  seine  Wellen  in  die  heilige  Handlung  und  kommt  der  Figur 
der  Sünder,  der  Magdalena  und  des  Judas,  zugute.  Überall  aber  kommt 
die  theologische  Gelehrsamkeit  zum  Wort,  in  deren  Büchern  die  Mysterien- 


l66  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

dichter  mit  vollen  Händen  schöpfen.  Die  Pariser  Confreres  erhalten  um  1450 
durch  Arnoul  Greban  ein  solches  Passionsspiel,  das  in  33000  Versen 
das  ganze  Leben  Christi  darstellt,  also  auch  das  Weihnachtsspiel  absorbiert. 
Der  selbe  schreibt  eine  „Apostelgeschichte"  in  62 000 Versen  mit  500  Per- 
sonen, deren  Aufführung  zehn  Spieltage  in  Anspruch  nimmt.  Die  Biographien 
des  Alten  Testaments  werden  zu  einem  riesigen  Mystere  du  Vieux  Testa- 
ment zusammengelegt.  Auf  langgestreckter  und  tiefer  Bühne,  deren  Seiten 
von  Paradies  und  Hölle  gebildet  waren,  und  deren  Mitte  die  Schauplätze 
der  irdischen  Vorgänge  in  anspruchslosem  Nebeneinander  vereinigte,  verlief 
die  wechselvolle  Handlung,  ohne  daß  ein  Vorhang  sie  unterbrach.  Diese 
w^ahrhaft  epische  Szene,  die  keine  örtlichen  noch  zeitlichen  Schranken 
kannte,  bot  eitel  Augenweide,  vom  Anfang  bis  zum  Schluß.  Die  ganze 
Bürgerschaft  einer  Provinzstadt  war  monatelang  mit  den  Vorbereitungen 
eines  solchen  Spieles  beschäftigt.  Die  Städte  rivalisierten  und  Frankreich 
erscheint  als  ein  großes  Schauspielhaus. 

Die  Idee  dieses  Glaubensdramas,  das  vor  Torschluß  des  Mittelalters 
noch  einmal  Hoch  und  Niedrig  zu  gemeinsamem  literarischen  Genuß  ver- 
einigte und  das  durch  viele  lyrische  Einlagen  noch  an  seinen  musikalischen 
Ursprung  erinnerte,  ist  grandios.  Aber  die  Ausführung  ist  mißlungen.  Die 
Schönheiten  des  Details  verschwinden  in  Myriaden  von  platten  Versen. 
Das  organische  Element  des  Komischen  und  Niedrigen,  das  aus  den 
biblischen  Berichten  schon  ins  liturgische  Drama  geflossen  war,  stört  die 
robuste  Gläubigkeit  des  Mittelalters  so  wenig,  daß  man  es  förmlich  hegte 
und  unter  der  Führung  der  Jongleurpossen  ausbaute.  Hirten,  Bettler, 
Narren,  Henker,  Teufel  sind  ihre  Hauptträger,  Prügelszenen  ihr  Höhe- 
punkt. Die  antisemitische  Komik  der  deutschen  Mysterien  fehlt.  Aus  der 
Sitte  dieses  komischen  und  oft  unflätigen  Füllsels  {Farce)  erwuchsen  selb- 
ständige Stücke  und  entstand  für  das  Possenspiel  überhaupt  der  Name 
Farce. 

Das  geschärfte  religiöse  Empfinden  der  späteren  Zeit  ertrug  dieses 
Lachen  nicht  mehr  und  bereitete  dem  naiven  Glaubensdrama  der  Civitas 
Dei  den  Untergang  (1548).  — 

Nach  den  bescheidenen  Mirakelspielen,  die  in  ein  Wunder  des 
Schutzheiligen  ausliefen,  führen  die  bürgerlichen  Vereine  nun  ganze 
große  Heiligenleben  (Mysteres  des  Saints)  mit  viel  Weltlichkeit  auf, 
und  naturgemäß  wandte  sich  die  Spielfreudigkeit  gelegentlich  auch 
ganz  weltlichen  Stoffen  zu.  Die  rührsame  Geschichte  der  Griselidis  wird 
(1393)  gespielt,  der  Jahrestag  der  Entsetzung  von  Orleans  durch  ein  Be- 
lagerungsfestspiel gefeiert  und  der  trojanische  Ursprung  des  franzö- 
sischen Königshauses  durch  die  Tragödie  vom  Untergang  Trojas  ver- 
herrlicht. Doch  ist  von  diesen  weltlichen  Materien  kein  fördernder  Ein- 
fluß ausgegangen. 

Neben  dieser  reich  entwickelten  Dramatik  erhielt  sich  die  Sitte  der 
prunkvollen  pantomimischen  Ausstattungsstücke. 


A.  Frankreich  bis  zum  Ende  des  1 5.  Jahrhunderts.     II.  Frankreiclis  Niedergang.      167 

Aus  den  Disputationsübungen  der  Schulen  gingen  lehrhafte  Rededramen  ih»  Jür*/ur,. 
hen'or  {A/ortj/iUs)^  die  mit  Vorliebe  allegorische  Figuren  in  Szene  setzten 
und  sich  zu  kirchlicher  oder  politischer  Polemik  eigneten. 

Auch  das  ausgelassene  Possenspiel  blüht  inmitten  dieser  üppig  trei-  /-arr,  aa4 
bcnden  Dramatik,  und  die  nämlichen  Studenten  und  Bürgergesellschaften^  ^^''" 
die  den  Tag  ihrer  Heiligen  feierten,  liebten  die  tolle  Lust  des  Jongleur- 
theaters und  pflegten  sie.  So  bildet  sich  ein  dramatisches  Schwankspiel^ 
in  welchem  Laien  und  Kleriker  ihren  Scherz  und  Spott  zum  Ausdruck 
brachten.  Zwischen  den  lateinischen  Schulkomödien  und  dieser  Schwank- 
bühne gehen  die  Einflüsse  hin  und  her.  Es  bildeten  sich  wieder,  wie  ein.st 
in  römischer  Zeit,  föniiliche  Truppen  von  Herufsschauspielern,  die  von 
dieser  „Farcerie**  lebten  uml  ihre  Not  unter  lustigen  Namen  (z.B.  Galants 
Sans  souci)  bargen. 

An  den  kirchlichen  Xarrenfesten  hatten  von  jeher  die  Kleriker  sich 
für  den  kirchlichen  Zwang  des  ganzen  Jahres  ausgelassen  gerächt:  die 
Figur  des  schellentragenden,  langohrigen  Narren  {Sof)  mit  seiner  Rede- 
freiheit ist  früh  von  der  Bühne  benutzt  worden,  und  im  1 5.  Jahrhundert 
wird  die  Sottie,  die  die  Welt  als  ein  Narrenhaus  verspottet,  eifrig  gepflegt 
Die  Beamten  der  Landesgerichte  trieben  mit  der  Justitia  Faschingsscherz 
und  führten  sog.  „Causes  grasses"  auf:  die  köstliche  Farce  vom  Advokaten 
Pathelin  ist  ihr  Denkmal.  Ehestreit  und  Weiberlist,  Prellereien  aller  Art, 
ethologische  Scherze  bilden  den  Gegenstand  der  zumeist  rohen  und  nicht 
selten  unflätigen  Farcen,  deren  Satire  oft  in  verletzender  Weise  persönlich 
ist.  Von  einer  Ausbildung  eigentlicher  komischer  Typen  sind  nur  Ansätze 
vorhanden. 

Das  deutsche  Fastnachtsspiel  ist  von  der  französischen  Farce  un- 
abhängig. Die  norditalienische  Farsa,  der  spanische  Sainete  aber  zeigen 
ihren  Einfluß.  — 

Eine   regelrechte   Theateraufführung  des   1 5.  Jahrhunderts  begann   mit  Zo»««m«i- 
der  Sottie  als  „Lever  de  rideau";  daran  schloß  sich  ein  lustiger  Monolog;     *■•"'« 
dann  folgte  das  ernste  Stück,  und  die  Farce  mit  einem  ausgelassenen  Lied 
bildete  den  Schluß.    So  schritt  man  „in  dem  engen  Bretterhaus  den  ganzen 
Kreis  der  Schöpfung  aus". 

Dieser  bodenständigen  Dramatik  machte  die  Renaissance  ein  Ende. 
Nur  die  Posse  widerstand,  die  ja  in  primitiver  l-'orm  auch  zuvor  schon 
existiert  hatte.  — 

So  erscheint  die  Dramatik  als  die  literarische  Kunst,  die  in  der  Romania 
am  langsamsten  sich  entwickelt  hat  und  am  spätesten  zur  Blüte  gelangt  ist 
Ihren  Kern  bildet  das  seit  dem  10.  Jahrhundert  aus  dem  Kultus  erwachsende 
Theater  des  Mysteriums.  Dieses  religiöse  Festspiel  ward  Veranlassung  und 
Vorbild  für  die  ernsten  und  heiteren  Festspiele  der  Schule  und  der  Korpo- 
rationen und  befruchtete  auch  die  viel  ältere  Bühne  des  Jongleurs.  Es  gab 
der  primitiven  Jongleurposse,  die  bis  dahin  wesentlich  Einzelspiel  gewesen 
war,  mehr  szenische  Form  und  gab  ihr  auch  den  Namen  Farce. 


i68  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Frankreich  ist  in  dieser  Entwickelung  nicht  in  dem  Maße  führend 
gewesen  wie  in  der  Epik  und  der  Lyrik.  Wohl  aber  ist  es  das  Land,  das 
auch  hier  die  reichste  Entwickelung  zeigt. 


B.  Italien  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhunderts. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  unter  den  ältesten  Denkmälern  der  italienischen 
Literatur  das  kirchliche  Element  viel  weniger  stark  ist  als  in  Frankreich. 
Sie  tritt  wesentlich  als  Profanliteratur  auf.  Italien  hat  überhaupt  am  mittel- 
alterlichen Schrifttum  nur  verhältnismäßig  spärlich,  wenig  schöpferisch 
und  zögernd  teilgenommen.  Aber  es  hat  den  einen  Dante  und  hat  allen 
Ländern  voran  seit  dem  14.  Jahrhundert  eine  neue  auf  der  Antike  beruhende 
Weltanschauung  und  Kunst  hervorgebracht,  welche  die  mittelalterlichen 
Stoffe  und  Formen  umschafft  oder  verdrängt. 

Das  Schwergewicht  der  italienischen  Literatur  ruht  im  Festland.  Von 
den  Inseln  hat  nur  Sizilien,  vorübergehend,  eine  Rolle  gespielt.    Sardinien 
gehörte  bis  ins   18.  Jahrhundert  literarisch  zu  Spanien. 
Die  Ein  Heldenepos  hat  Italien  nicht  geschaffen   und  selbst  von   einer 

Volksliteratur.  Hcldensagc  sind  nur  Ansätze  erkennbar.  Wahrscheinlich,  doch  bei  der 
mangelhaften  Überlieferung  nicht  nachzuweisen,  ist  die  Fortdauer  der 
römischen  Possenspiele.  Von  den  Liedern,  die  das  Volk  in  jenen  fernen 
Zeiten  sang,  haben  wir  keine  direkte  Kunde.  Erst  das  13.  Jahrhundert 
hat  uns  einige  Aufzeichnungen  und  einige  höfische  Nachahmungen  er- 
halten. Die  weitere  Entwickelung  und  der  heutige  Stand  der  italienischen 
Volkspoesie  zeigt,  daß  zwischen  dem  Norden  einerseits  und  Mittel-  und 
Süditalien  andererseits  ein  Unterschied  bestanden  hat,  der  auch  im  Sprach- 
charakter wohl  begründet  ist:  hier  haben  wir  paroxytone  Wortform 
[cantdre,  bello),  im  Norden  oxytone  Form  {cantd{r)^  bei),  was  diesen  Norden 
sprachlich  mit  Gallien  verbindet  und  ihn  dem  Import  nord-  und  süd- 
französischer Dichtung  mehr  öffnete. 

Die  Volkspoesie,  die  in  Süditalien  autochthon  ist,  ist  wesentlich  lyrisch, 
subjektiv;  ihre  Form  ist  das  Schnaderhüpfel  {Strambotto ,  tosk.  Rispetto; 
Ritorncllo,  tosk.  Stornello),  kleine  Gebilde  von  zwei  bis  vier  resp.  acht  Zeilen 
zehnsilbiger  Verse,  die  aus  Sizilien  stammen  und  vielleicht  die  Fortsetzung 
der  antiken  Liebeslieder  sind.  Durch  kunstmäßigen  Ausbau  schufen  süd- 
imd  mittelitalienische  Dichter  im  13.  Jahrhundert  aus  diesen  Liederformen 
das  Sonett,  die  Terzine  und  die  Ottava  rima.  Die  Ballata  und  das 
Madrigal  (Hirtenlied)  scheinen  der  Toskana  anzugehören. 

In  Norditalien  herrschte  das  objektive  epische  Volkslied,  die  Romanze. 
Wenig  ist  davon  nach  dem  Süden  gedrungen;  das  meiste  weist  nach  Nord- 
frankreich, dem  romanischen  Herde  epischer  Poesie. 

Dig  I.  Das  Mittelalter.      Nach    Gallien   weist   auch    die    früheste    Kunst- 

Kunstdichtung.  dichtuug  Italiens.     Nur  in  der  religiösen  Poesie  der  Franziskaner  zeigt  sich 


B.  Italien  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhuiulerts.     I.  Dai  Mittelalter.  i5q 

Selbständigkeit,  uiul  machtvoll  tritt  aus  dieser  literarischen  Botniäßiv(keit 
heraus  die  Figur  Dantes. 

Während  Frankreich  im  1  j.  Jahrhundert  in  einem  glänzenden  Schrifttum 
zu  Kuropa  spricht,  ist  Italien  noch  stumm.  Erst  seit  iZ'in  erhebt  es  die 
Stimme,  zunächst  um  Frankreich  seine  Lieder  nachzusingen. 

Dieser  späte  Eintritt  in  die  Vulgärliteratur  beruht  auf  den  namlu  hen 
Ursachen,  die  in  Italien  die  volle  Entfaltung  mittelalterlicher  Kultur  über- 
haupt verhindert  und  aus  ihm  das  Land  der  Renaissance  gemacht  haben: 
der  starken  Nachwirkung  der  antiken,  munizipalen  Kultur  auf  allen  Lebens- 
gebieten, besonders  auch  auf  dem  Gebiete  der  Schule.  Die  weltliche  Schule, 
die  den  nördlichen  Ländern  fi-hlte,  schützte  und  verbreitete  die  weltlichen 
Wissenschaften  der  Grammatik,  Rhetorik,  Medizin  und  Juristerei  und  .schuf 
ein  aufklärerisches  rationalistisches  Laientum.  Dante  wäre  im  Norden  ein 
Kleriker  geworden. 

Durch  den  Jongleur,  der  die  Scharen  der  Pilger  nach  Italien  begleitete, 
kam  das  französische  Karlsepos  zu  den  Norditaliencrn.  Im  Piemont,  in 
Mailand,  Verona,  Bologna  wurde  es  von  Bänkelsängern  gesungen,  und  in 
ihrem  Vortrag  bildete  sich  ein  merkwürdiger  franko-italienischer  Jargon, 
eine  hybride  Epensprache  aus.  Während  das  Volk  sich  an  diesen  Gesängen 
der  „Materia  di  Francia"  ergötzte,  las  und  kopierte  der  Gebildete  die  nord- 
französischen  Prosaromane  von  der  Tafelrunde  (Materia  di  Bretagna)  und 
lauschten  die  Fürstenhöfe  dem  südfranzösischen  Troubadour.  Es  entstand 
von  Ligurien  bis  Venetien  ein  Geschlecht  einheimischer  Trovatori,  die  in 
provenzalischer  Sprache  dichteten.  Daneben  wurden  die  einheimischen 
Mundanen,  das  Genuesische,  Lombardische,  Venedische  usw.  in  kunstloser 
didaktischer  Literatur  verwendet.  So  bietet  Norditalien  im  1 3.  Jahrhundert 
ein  Bild  sprachlicher  Zerfahrenheit,  die  zugleich  seine  literarische  Un- 
selbständigkeit illustriert. 

Das  erste  kunstmäßige  Lied  in  italienischer  Sprache  erklang  im  Süden,  i>»e 

wo  seit  1220  Kaiser  Friedrich  II.  in  Palermo  mit  jener  Constanza  von 
Aragonien  Hof  hielt,  die  aus  einer  fürstlichen  Troubadourfamilie  stammt. 
Um  sie  gruppierten  sich  Männer  —  wir  kennen  etwa  dreißig  —  aus  allen 
Teilen  Italiens  imd  sangen  mit  dem  Kaiser  und  seinen  Söhnen,  Enzo  und 
Manfred,  um  die  Wette  kunstvolle  Kanzonen  nach  provenzalischem  V^orbild. 
Sie  erfinden  das  Sonett.  Das  Italienisch,  dessen  sie  sich  bedienen,  zeigt 
südliche  Ba-sis  mit  mittelitalienischen  Formen,  Latinismen  und  Provenzalismen. 
Die  Dichtung  dieser  „Scuola  siciliana"  ist  konventionellste  Minnelyrik:  jede 
Originalität,  jedes  Echo  jenes  eigenartigen  Lebens  fehlt.  Seine  politischen 
Lieder  dichtet  Pier  delle  Vigne  lateinisch.  Die  Schlacht  von  Benevent 
bringt  Maofred  den  Tod  und  Konradin  wird  1268  gemordet,  ohne  daß  ihnen 
ein  italienisches  Lied  nachweint  So  endet  diese  stautische  Poetenherrlich- 
keit.   Die  folgende  angevinische  Herrschaft  trägt  keine  literarische  Frucht 

Inzwischen  war  diese  Lyrik  nach  .Mittelitalien  gedrungen.  In  Toskana 
nahm  sie  volkstümliche  Elemente  auf  {ßa//a/a);  sie  öffnet  sich  dem  städtischen 


rW  itrtJuns. 


I70 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Leben  und  der  Parteipolitik.  In  Bologna  und  Florenz  mischt  sich  ihr  einst 
feudaler  Minnedienst  mit  philosophischen  Schultheorien  und  religiösen  Vor- 
stellungen. Die  Minne  wird  vollends  übersinnlich;  die  Geliebte  zum  Symbol 
aller  sittlichen  Tüchtigkeit,  aller  Erkenntnis  und  endlich  des  Glaubens: 
Alles  Vergängliche  ist  nur  ein  Gleichnis.  Ein  „süßer  neuer  Stil"  entsteht, 
in  welchem  die  Tradition  des  ritterlichen  Minnedienstes  und  der  Scholastik 
zu  allegorischem,  mystischem  Frauenlob  zusammenfließen. 
Die  Lazuia.  Er  ist  vom  frommen  Geiste  der  Franziskaner  beeinflußt.    Vom  Ober- 

lauf des  Tiber  und  den  Gestaden  des  Trasimenischen  Sees  ergoß  sich  jene 
wunderbare  Glaubensbewegung,  deren  erste  Boten  noch  lateinisch  dichteten 
und  uns  das  „Dies  irae"  und  das  „Stabat  mater"  geschenkt  haben,  während 
die  späteren,  wie  Jacopone  von  Todi,  ihr  Evangelium  als  „joculatores 
Dei"  in  die  populäre  Form  der  Ballaten  kleideten  und  so  an  Stelle  des 
lateinischen  Kirchenliedes  die  italienische  Lau  da  (Loblied)  setzten.  Auch 
sprachlich  demokratisierten  die  Laudesi  des  „armen  Lebens"  die  Kirche. 
Im  Mittelpunkt  dieser  Laudenpoesie  stand  die  Marienklage.  Ihre 
dialogische  Gestaltung  führte  zum  Wechselgesang  und  lockte  zu  drama- 
tischer Darstellung.  Im  Schöße  der  franziskanischen  Geißlerbrüderschaften 
liegen  die  Anfänge  des  italienischen  Dramas  und  nicht,  wie  in  Frankreich, 
im  lateinischen  liturgischen  Schauspiel,  das  in  Italien  über  die  Anfänge 
nicht  hinausgekommen  zu  sein  scheint  und  wesentlich  pantomimische  Schau- 
stellung blieb,  die  sich  zum  Teil  prunkvoll  gestaltete. 

An  Stelle   der  gesungenen  Form   der  dramatischen  Lauda  mit  ihren 
Tanzliedstrophen  trat  im   1 4,  Jahrhundert  die  gesprochene  Rede  der  Ottava 
rima.     Sie   wuchs  in   den  Gottesdienst  hinein  und  gesellte  sich  dort  zur 
Pantomime. 
Florenz.  Immer  mehr  entwickelte  sich  die  reich  gewordene  Handels-  und  Industrie- 

stadt Florenz  zu  einem  künstlerischen  Mittelpunkt.  Neben  den  Liedern 
des  „süßen  neuen  Stils"  kommt  der  kecke  Realismus  der  Humoristen  und 
Satiriker  zum  Wort.  Literarische  Debatten  werden  in  Sonetten  geführt.  In 
eifriger  Übersetzung  lateinischer  und  französischer  Originale  bildet  sich  die 
Prosa.  Chronisten  von  ausgeprägter  Eigenart  (Dino  Compagni,  G.Villani) 
schreiben  die  Geschichte  ihrer  Zeit.  Die  Lust  zu  Fabulieren  schafit  schon 
vor  1300  Sammlungen  kleiner  Novellen,  die  sich  als  „Lebensbeispiele" 
geben,  und  deren  Inspiration  nach  Frankreich  weist.  Cimabue  bereitet  für 
Giotto  den  Weg.  Und  dieses  intensive  geistige  Leben  entfaltet  sich  auf 
dem  Hintergrunde  der  erbittertsten  Parteikämpfe,  in  deren  beschränkten 
Interessen  sich  viel  wahrer  Heroismus  verzehrt.  Die  feudale  Partei  der 
GhibeUinen  unterUegt;  die  fortschrittUche  Partei  der  Autonomisten  (Weifen) 
siegt.  Florenz  ist  weifisch.  Zum  letzten  Male  lodert  der  Gedanke  des  deut- 
schen Kaisertums  mit  der  Italienfahrt  Heinrichs  VII.  auf,  der  1 3 1 3  untergeht. 
Die  drei  Kaisergräber  Friedrichs  11.  zu  Palermo,  Konradins  auf  dem 
Mercato  zu  Neapel  und  Heinrichs  VII.  zu  Pisa  sind  die  Mausoleen  des 
Ghib  ellinismus. 


H.  Italien  bis  lum  Ende  des  17.  Jahrhunderts.     I.  Uas  Mittelalter.  jji 

Im  weifischen  Florenz  bekämpften  sich  die  Partei  der  demokra-  i»*aw 
tischen  Schwarzen  und  der  aristokratischen  antipäpstlichen  Weißen  (Guelfi 
bianchi^.  Dante,  den  Geburt  (1265)  und  Gesinnung  den  letzteren  zuweisen, 
unterliegt  mit  ihnen,  und  aus  dem  rücksichtslosen  Kampf  um  Kirchtums- 
interessen  rettet  er  sich  später  zu  ghibellinischen  Träumen.  Er  diente  der 
Vaterstadt  seit  1288  als  Soldat  und  Beamter,  ward  1302  ein  Opfer  ihrer 
päpstlichen  Politik  (Bonifaz  VIII.)  und  irrte  die  letzten  20  Jahre  seines 
Lebens  als  ein  Verbannter  umher,  ohne  daß  wir  heute  den  Stationen  seines 
Lebensweges,  der  ihn  vielleicht  bis  Paris  führte,  vorzüglich  aber  an  die 
norditalienischen  Fürstenhöfe  fesselte  und  ihm  ein  Grab  in  Ravcnna  (1321) 
vorbehielt,  mit  Sicherlieit  folgen  können. 

In  seinen  Liedern,  Kanzonen,  Ballaten  und  Sonetten  wird  er  der  vor- 
nehmste Vertreter  des  süßen  neuen  Stils.  Einem  gleichaltrigen  Mädchen, 
das  er  —  wir  kennen  es  nicht  —  Beatrice,  die  Beseligerin,  nennt,  gelten 
seine  schwärmerisch  zarten  Jugendgedichte,  erfüllt  von  der  Goetheschen 
Empfindung:  „In  unseres  Busens  Reine  wohnt  ein  Streben  —  Sich  einem 
Höhern,  Reinen,  Unbekannten  —  Aus  Dankbarkeit  freiwillig  hinzugeben 
—  Wir  heißen's:  Fromm  sein  .  .  .  solcher  seligen  Höhe  —  Fühl'  ich  mich 
teilhaft,  wenn  ich  vor  Dir  stehe."  Beim  frühen  Tod  der  Geliebten  (1290) 
vereinigte  er  diese  Minnelieder  mit  einem  erklärenden  Prosatext  zu  einem 
stilisierten  Büchlein  provenzalischer  Inspiration  [l^i/a  ////c^tv/ =  Jugendleben). 
Diese  wundersame  Schrift  ist  der  erste  Versuch  einer  Autobiographie, 
„Dichtung  und  Wahrheit",  in  einer  modernen  Sprache.  Um  einen  Freund 
zu  besänftigen,  der  ihn  in  Zeiten  überschäumenden  Lebensgenusses  der 
Untreue  an  der  Verewigten  zieh,  fügte  er  später  einen  Anhang  von  zwölf 
Kapiteln  hinzu,  worin  er  diesen  Abfall  erklärt  und  berichtet,  wie  sie  aus 
Himmelshöhen  ihn  durch  eine  Vision  zu  sich  zurückgerufen  habe.  Nun 
faßt  er  den  Plan,  Unerhörtes  von  ihr  zu  sagen  —  den  Plan  eines  großen 
Huldigungsgedichtes  an  die  im  Paradiese  Erstrahlende.  Auf  dem  Boden 
der  Minne  erwuchs  ihm  so  der  erste  Gedanke  der  Commedia.  Die 
Bitternis  der  Verbannung  hat  ihn  dann  zur  Reife  gebracht 

Inzwischen  dauerte  noch  die  Zeit  süßen  Lebensgenusses.  Er  wirft  sich 
später  vor,  daß  Mädchen  und  anderer  Tand  ihn  gefesselt  hätten.  Es  folgt 
seine  Verheiratung  mit  Gemma  Donati  und  Jahre  eifrigster  philosophischer 
Studien,  Ihr  Denkmal  ist  das  „Convivio"  (Gastmahl),  eine  unvollendete 
Prosaschrift,  die  ihn  in  den  späteren  Jahren  der  Verbannung  noch  be- 
schäftigte. Von  den  14  inhaltsschweren  Kanzonen,  die  er  darin  zu 
kommentien-n  vorgenommen  hat,  gelangen  nur  drei  —  zwei  Minnelieder 
und  ein  Moralgedicht  —  zur  Erklärung.  Das  „Convivio"  ist  das  erste 
Lehrbuch  der  Philosophie  in  italienischer  Sprache,  und  nicht  zum  wenigsten 
hat  Dante  an  Frauen  als  Leserinnen  gedacht  Boetius  schwebt  ihm  vor. 
Enthusiastische  Worte  findet  er  zum  Preise  der  wissenschaftlichen  Erkenntnis, 
die  zur  Tugend  führe,  unsere  höchste  Vollkommenheit  bedeute  und  unser 
höchstes  irdisches  Glück  sei.     Die  Fragen  des  praktischen  Lebens  fesseln 


T-1- 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


ihn.  Der  Weltentsagung  gegenüber  verteidigt  der  Bürger  einer  Großstadt 
die  Tatkräftigkeit,  die  nicht  von  der  ewigen  Seligkeit  ausschließe,  denn 
„Iddio  HO II  vuolc  rcligioso  di  not,  se  no?i  il  cuore'-'-.  Nicht  gegen  Dogma 
und  Glauben,  sondern  gegen  den  starren  asketischen  Katholizismus  kämpft 
Dante.  In  diesem  Buche  der  Vernunft  hat  auch  seine  Gattin  einen  Platz. 
Sie  erscheint  unter  dem  tiefen  Schleier  der  allegorischen  Figur  der  „Donna 
gentile  e  pietosa",  als  das  Symbol  irdischer  Erkenntnis  und  Lebensarbeit, 
während  die  entschwundene  Beatrice  allmählich  zum  Symbol  des  mystischen 
Glaubens  geworden  ist.  So  verkörpern  sich  in  ihrer  beider  Gestalten  die 
beiden  Pole  der  damaligen  christlichen  Weltanschauung:  thomistische  Er- 
kenntnis und  franziskanische  Mystik.  Ihre  Elemente  liegen  ungetrennt  in 
Dantes  Seele.  Vom  Erkenntnisdurst  der  Philosophie  erfüllt,  die  der  Er- 
leuchtung durch  die  Lehre  Christi  bedürfe,  lenkt  der  Alternde  sein  Lebens- 
schiflFchen  „mit  gesenkten  Segeln"  dem  sommo  Bene  des  Glaubens  zu. 

Auch  die  beiden  lateinischen  Werke  „Von  der  Monarchie"  und  „Von 
der  italienischen  Dichtersprache"  {De  vulgari  eloqiieiitid)  fallen,  sowie  die 
Commedia,  ganz  in  die  Zeit  der  Verbannung.  Jene  beiden  beschäftigen 
sich  mit  der  politischen  und  sprachlichen  Anarchie  des  Vaterlandes.  „De 
Monarchia"  (seit  1302)  ist  ursprünglich  eine  Streitschrift  gegen  die  weltliche 
Anmaßung  des  machtvollen  Papstes  Bonifaz  VIII.  Aber  Dantes  Blick 
erhebt  sich  über  den  Einzelfall  zu  weltgeschichtlicher  Betrachtung  und  einer 
Lehre  der  Völkerverbrüderung.  Er  will  die  moralische,  soziale  und  poli- 
tische Notwendigkeit  der  Universalmonarchie  und  der  Trennung  der  welt- 
lichen von  der  geistlichen  Gewalt  erweisen,  die  beide  von  Gottes  Gnaden 
seien,  und  die  beide  ihren  Sitz  in  Rom  haben  sollen.  Mit  leidenschaftlichem 
Eifer  verteidigt  er  den  weltlichen  Staat  mit  seinen  irdischen  Kulturzielen, 
die  nur  ein  starkes  Kaisertum  mit  seinem  Frieden  schützen  könne:  L'empire 
c'est  la  paix.  Er  schreibt  350  Jahre  vor  Bossuet  einen  „Discours  sur 
l'histoire  universelle",  um  die  Wunder  aufzuweisen,  die  Gott  im  Laufe  der 
Geschichte  —  nicht  für  seine  Kirche,  sondern  für  seine  auserwählte  Monarchie 
getan  hat. 

„De  vulgari  eloquentia"  ist  die  erste  kritische  Abhandlung  über  eine 
romanische  Sprache,  Dantes  modernste  Schrift.  Aus  Mißverständnissen  — 
er  verwechselt  Sprache  und  Stil  — ,  mittelalterlichen  linguistischen  Vor- 
stellungen brechen  moderne  Gedanken  z.  B.  über  die  Individualsprache 
hervor.  Dante  sucht  das  Phantom  der  unverdorbenen  Schriftsprache  {Volgare 
illustre  oder  aulico)  umsonst  unter  den  lebenden  Mundarten  des  Vaterlandes. 
Seine  Lehre,  daß  der  italienische  Dichter  die  vornehme  Gesetzmäßigkeit 
der  lateinischen  „Poetae  reguläres"  erstreben  solle,  verbindet  ihn  mit  der 
Die  göttiiche  Renaissauce.  Inzwischen  hat  er  seine  Hand  an  sein  großes  Werk  gelegt, 
Komo  le.  ^^  ^.^  Komödie,  welche  die  Nachwelt,  Boccaccios  Beispiel  folgend,  die 
göttliche  nennen  wird. 

Dieses  große  Gedicht  benutzt  die  dem  Mittelalter  geläufig'e  Vision  des 
Jenseits;    doch   gehört   das  Detail    der  Architektur  der  jenseitigen  Reiche, 


B.  Italien  bis  xum  Ende  des  17.  Jahrhunderts,     l.  Das  Mittelalter.  1-3 

Hölle,  Pur^atorium  und  Paradies,  Dante  an:  es  ist  von  einem  wunderbaren 
Künstl«'raui»^e  j^e.sihaut.  Die  Roise  durch  diese  Phantasiewelt  i.st  eine 
Allegorie  der  Lebensrcise  des  sündi{j^fn,  sich  reiniy^jenden  Men.schen,  zu 
deren  Deutung  uns  Dante  in  seinen  Prosaschriften  selbst  anleitet;  doch 
bleibt  im  einzelnen  vieles  dunkel.  Die  Reise  wird  vom  Dichter  in  die 
Üsterzeit  des  Jahres  1300  verlegt;  sie  dauert  nach  eintägiger  Wanderung 
bis  zum  HöUontor  67,  Tage.  Nach  einem  einleitenden  Gesang  werden 
jedem  Reiche  33  Gesänge  gewidmet,  so  daß  das  Ganze  100  Canti  in  Ter- 
zinen umfaßt.  Komödie  nennt  sich  das  Gedicht,  weil  es  aus  schreckens- 
vollem Anfang  zu  heiterem  Schlüsse  führt. 

Des  in  Sünde  versunkenen  Dante  erbarmt  sich  die  göttliche  Gnade. 
Sie  sendet  ihm  Vergil,  den  „famoso  saggio"  (die  Vernunft)  —  zu  dem  sich 
Dante  auch  als  Künstler  hingezogen  fühlt  — ,  damit  er  ihm  zu  seinem  Heile 
die  Schrecken  der  Hölle  und  die  Not  des  Purgatoriums  zeige.  Auf  der 
Höhe  des  Purgatoriumsberges,  im  irdischen  Paradies,  erscheint  dem  über- 
wältigten Wanderer  seine  lieatrice  in  sublimer  Vision.  Zu  seinem  Fluge 
durch  die  Sphären  des  Himmelreiches  übernimmt  sie,  die  selige  lieseligerin, 
die  Führung  an  Stelle  der  hier  versagenden  Vernunft  Dante  dringt  bis 
zum  Anblick  der  Dreieinigkeit  vor,  und  von  der  Liebe,  die  Sonne  und 
Sterne  in  Bewegung  setzt,  ergriffen,  flutet  auch  sein  Geist  im  heiligen 
Kreise. 

Durch  diese  Unterweisung,  in  welche  irdische  Vernunft  und  himmlische 
Offenbarung  sich  teilen,  erfolgt  .seine  Errettung;  sie  soll  er  nun  auch  den 
Mitmenschen  zuteil  werden  lassen.  „Wozu  sucht  ich  den  Weg  so  sehn- 
suchtsvoll, wenn  ich  ihn  nicht  den  Brüdern  zeigen  soll?"  Er  schreibt  also 
ein  Lehrgedicht,  gleichsam  den  „Roman  von  der  himmlischen  Rose".  Aber 
sein  künstlerischer  Gestaltungsdrang  durchbricht  diese  Schranke.  Seine 
machtvolle  Persönlichkeit  überwindet  die  Allegorie.  Das  Lehrgedicht  wird 
zum  leidenschaftlichen  Bekenntnis  der  Liebe  und  des  Hasses  des  verbannten 
Florentiners.  Welche  Bilder  von  Natur  und  Leben  weiß  er  zu  gestalten, 
lakonisch  und  doch  scharf  umrissen,  mit  einer  eigenwilligen,  man  möchte 
sagen:  gewalttätigen  Kunst,  die  das  ganze  Geschehen  der  Welt  in  ihren 
Dienst  zieht  und  ihn  sprechen  läßt,  wie  während  eines  Jahrtausends  keiner 
gesprochen  hat  Wie  nahe  steht  er  Hotner,  den  er  doch  nicht  gekannt 
hat  Welche  Bilder  der  Liebe!  Und  sein  Haß!  Dieselbe  Anima  sdegnosa 
schreitet  durch  die  Höllenkreise  und  flieget  durch  den  Himmel;  auch  hier 
vergißt  er  nicht,  „wie  ge.salzen  schmeckt  das  fremde  Brot  und  wie  so  herb 
der  Pfad  ist  —  den  man  auf  fremden  Stiegen  auf  und  ab  steigt".  In 
Worten  von  hinreißender  Schönheit  und  Kraft,  in  Szenen  von  unvergeßlicher 
Plastik  hält  er  Gericht  über  seine  Zeit,  ein  mitleidsloses  Gericht  über  eine 
wilde  Zeit  Während  sein  von  Beatrice  geführter  Blick  bewundernd  sich 
an  den  Sit^  heftet,  der  im  Paradies  des  „hohen  Kaisers"  Heinrich  wartet, 
deuten  Hand  und  Wort  voller  \'erachtung  auf  den  schmachvollen  Höllen- 
platz, der  dem  treulosen  Papste  bestimmt  sei.     Die    Invektive    verstummt 


174 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


auch  angesichts  des  Ewigen  nicht.  Wie  bluten  die  Florentiner  und  das 
Papsttum  unter  seinen  Streichen!  Von  den  80  Personen  des  Inferno  sind 
mehr  als  die  Hälfte  Toskaner,  32  stammen  aus  Florenz.  Florentinern  und 
Päpsten  ist  Dantes  Paradies  sozusagen  verschlossen. 

In  der  Sprache  der  Commedia  hat  Dante  die  fremden  Bestandteile 
(lateinische,  provenzalische ,  süditalienische)  reduziert,  die  engen  Schranken 
der  Kanzonenlyrik  durchbrochen  und  das  Florentinische  zur  Grundlage  ge- 
macht. Dem  Florentinischen,  das  er  im  Zorn  eine  Schandsprache  genannt 
hat,  hat  seine  Kunst  den  Adel  verliehen. 

Dante  steht  ganz  in  der  Weltanschauung  des  Mittelalters,  deren  Elemente 
er  sich  in  stolzer  Eigenart  zurecht  legt,  wobei  sein  scharfes  Auge  manches 
Neue  sieht,  das  erst  Spätere  wieder  gesehen  haben.  Aber  kein  Sehnen 
nach  einer  Neugestaltung  des  Lebens  spricht  aus  seinem  Werk.  Am 
machtvollsten  tritt  uns  seine  Individualität  als  Künstler  entgegen.  Mißt 
man  diesen  an  seiner  Zeit,  so  muß  von  Dante  gelten,  daß  die  Romania 
seinesgleichen  weder  vordem  noch  seither  gehabt  hat.  Von  ihm  ist  das 
Wort,  daß  die  Kvmst  als  Tochter  der  Natur  gleichsam  die  Enkelin  Gottes 
sei:  a  Dio  quasi  nipote. 

Sein  Einfluß  auf  die  bildenden  Künste  beginnt  mit  den  Jenseits- 
darstellungen des  Orcagna  und  Luca  Signorelli,  um  dauernd  die  Figuration 
der  letzten  Dinge  zu  beherrschen  (Michelangelo).  Sein  poetischer  Einfluß 
ist  mächtig  bei  dem  widerstrebenden  Petrarca  und  bei  dem  sich  bewundernd 
gebenden  Boccaccio.  Kleine  Nachahmer  schildern  in  allegorischen  Dich- 
tungen Fragmente  seiner  Welt  ab,  in  Italien,  Spanien,  Frankreich.  Der 
Humanismus  hat  ihn  mit  dem  übrigen  Mittelalter  zurückgedrängt.  Aber 
beim  Erwachen  der  neuen  Literatur  im  18.  Jahrhundert  ersteht  Dante  wieder 
und  nun  auch  in  der  deutschen  und  englischen  Literatur.  Am  spätesten 
und  nur  zögernd  erschließt  sich  ihm  Frankreich. 

n.  Der  Humanismus.  Dantes  Hinneigung  zur  italienischen  Mutter- 
sprache begegnet  bereits  dem  Widerspruch  der  ersten  Humanisten.  Der 
Petrarca,  größte  Teil  vou  Petrarcas  (1304 — 1374)  Werken  ist  lateinisch  geschrieben: 
seine  geschichtlichen,  antiquarischen,  moralphilosophischen  Traktate,  seine 
Briefe,  Reden  und  Pamphlete.  Lateinisch  sein  Epos  „Africa",  seine 
Epistolae,  seine  Eklogen.  Die  Muttersprache  schrieb  er  nur  als  Minne- 
singer und  im  Wettbewerb  mit  der  Commedia:  in  den  Liedern  seines 
„Canzoniere"  und  in  den  Terzinengesängen  seiner  „Trionfi". 

Petrarca  kennt  nicht  nur  die  antike  Literatur  in  weiterem  Umfange 
als  Dante;  er  hat  ein  anderes  Verhältnis  zu  ihr.  Sie  birgt  für  ihn  ein  Land 
der  Sehnsucht,  des  Vorbilds  und  des  Trostes.  Sie  zeigt  ihm  sein  Vater- 
land Italia  geeinigt,  unabhängig,  ja  herrschend  und  weckt  in  ihm,  wie 
in  den  späteren  Humanisten  stolzes  Nationalgefühl.  Er  ist  nicht  sowohl 
toskanischer  Patriot,  als  Italiener  und  wendet  sich  zornig  gegen  den  deutschen 
Barbaren  und  den  Papst.     Als  Bibliophile  geht  er  auf  Entdeckungen  aus. 


H.  Italien  bis  iura  Ende  des  17.  Jahrhunderts.     II.  Der  Humanismus.  1^5 

erwirbt,  pflegt,  kopiert  und  kommentiert  er  antiko  Handschriften.  Er  .schafft 
den  (irundstock  zur  ersten  öfTontlii  hcn  Hibliothfk.  Mit  ("icrro  und  Verg^il 
verkehrt  er  wie  mit  persönlichen  Freunden  und  sclireibt  ihnen  liriefe  „aui. 
der  Welt  der  Lebenden".  Er  baut  sein  Gärtchen  nach  den  Lehren  VergfiU 
und  macht  auch  neue  Versuche,  denn:  placet  experiri  (man  muß  etwas 
probieren).  Livius'  Geschichte  liest  und  bejrleitet  er  mit  leidenschaftlichem 
patriotischem  Interesse.  Er  mustert  ihre  Schauplät/e  in  der  heilijron  Stadt. 
Er  klagt  über  die  Zerstörung  des  antiken  Rena  durch  das  christliche.  Im 
Griechischen  ist  er,  wie  Freund  Hoccaccio,  nicht  über  die  ersten  Kiemente 
hinaus  gekommen:  die  beiden  lassen  sich  Homer  ins  Latein  übertragen. 
Von  Plato  weiß  Petrarca  so  viel,  daß  er  als  sein  erster  Herold  der  Scholastik 
gegenüber  gelten  darf.  Er  sieht  das  gelobte  Land  Hellas  aus  der  Ferne; 
Dante  aber  hat  vom  Griechentum  nur  die  armseligen  mittelalterlichen  Vor- 
stellungen. Petrarca  schreibt  nicht  mehr  barbarisches  Latein,  sondern  ahmt 
Seneca  und  Cicero  nach.  Er  g^ibt  das  erste  Beispiel  humani.stischer  Pflege 
der  lateinischen  Form.  Er  inaugxiriert  den  Kultus  des  Wortes,  die  Eloquenz, 
die  in  gleicher  Weise  TVr)s,-i  und  Pofsic  umfaßt  und  den  I)i(  htrr  /uin 
Orator  macht 

Schmerzlich  empfindet  Petrarca  die  Unvereinbarkeit  der  Leben.s- 
an.sprüche  dieser  ruhmvollen  Welt  mit  der  überlieferten  Lehre.  Er  ist  ein 
kritischer  Kopf.  Der  Glaube  an  Magie  und  Astrologie  hält  seiner  Ver- 
nunft nicht  stand.  Er  ist  stolz  auf  sie  und  klagt  sich  selbst  dieses  Vernunft- 
stolzes  an.  Nach  Augustinus'  Beispiel  schreibt  er  Selbstbekenntnisse 
{Secrctum  vicitm^  I343),  die  in  die  Klage  ausklingen:  ich  bin  nicht  im- 
stande, dem  lockenden  Rufe  dieser  Welt  zu  widerstehen,  und  bitte  den 
Himmel  um  Gnade.  Das  Intim -Persönliche,  die  Verschmelzung  von  antiker 
Weisheit  und  Christentum,  der  unversöhnte  Schluß  geben  dem  Büchlein 
einen  unmittelalterlichen  Charakter.  Aber  diese  innere  Unbefriedigtheit 
treibt  den  Weichen  nicht  zur  Verzweiflung.  Die  Melancholie  hat  ihren 
Reiz,  und  er  spricht  selbst  von  der  „Wonne  der  Wehmut",  die  er  künstlerisch 
gestalten  kann.  Er  ist  eine  durch  und  durch  künstlerische  Xatur,  eines 
jener  subtilen  Gebilde,  die,  wenn  der  Sturmwind  des  Lebens  über  sie 
braust,  wie  eine  Äolsharfe  in  elegischen  Tönen  erklingen.  Dieses  künst- 
lerische Empfinden  spricht  auch  aus  seinen  historischen  Arbeiten  und  bildet 
die  Grundlage  kritischer  Stimmungen  gegenüber  der  Überlieferung,  wie 
sie  das  Mittelalter  nicht  kannte. 

IVtrarca  hat  seine  Bildungszeit  und  seine  besten  Jahre  außerhalb 
Italiens  in  Südfrankreich  (1313--  1353)  verbracht  Auch  .sein  Aufenthalt  in 
Vaucluse  (1337 — 1353),  der  Stätte  seiner  schöpferischen  Arbeit,  war  durch 
häufige  lange  Reisen  unterbrochen.  Seine  Vaterstadt  I-Iorenz  hat  er  nie 
bewohnt  Die  avignone.ser  Frau,  Madonna  I^ura,  die  seinen  Wün.schen 
unnahbar  blieb,  kennen  wir  nicht  Die  Verse,  mit  denen  er  ihr  —  aber 
auch  anderen  —  huldigt,  hat  er  selbst  gesammelt  und  zu  zwei  Gruppen  ver- 
einigt:  Lieder,  die  der  Lebenden  und  irdischen  Interessen  gewidmet  sind. 


iy(t  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

und  Lieder  der  Jenseitsbeziehungen.  In  diesem  „Canzoniere"  hat  er  die 
Klage  seines  Lebens  gesungen:  die  sonnenbeschienene  Erde  mit  ihrem 
Frühlingsmorgen,  mit  ihrem  Abendfrieden,  mit  der  wunderbaren  Licht- 
gestalt des  geliebten  Weibes  erfüllt  ihn  mit  Sehnen  und  stillt  es  doch 
nicht.  Das  wundersame  Buch  ist  voll  tiefer  Empfindung,  lebendigen  Natur- 
gefiihls,  voll  feinster  Seelenanalyse  und  herrlichster  Sprachkunst.  Tiefe 
und  dauernde  Wirkung  mußte  einem  solchen  Kunstwerk  beschieden  sein, 
das  die  Liebespilgerfahrt  eines  Poeten  zwar  zart  und  duftig,  aber  mit  einer 
Fülle  schilderte,  daß  daneben  Dantes  Vita  nuova  nur  wie  ein  Fragment 
sich  ausnimmt.  Der  Canzoniere  wurde  zur  vorbildlichen  Ars  amandi. 
Doch  neben  der  tiefen  Empfindung  findet  sich  viel  Rhetorik,  neben  der 
Sprachkunst  ärgerliche  Künstelei  und  Überfeinerung.  Hat  das  Gewebe 
dieser  Lyrik  auch  einen  hervorragenden  persönlichen  und  einen  fühlbaren 
antiken  Einschlag,  so  stammt  seine  Kunstübung  doch  von  den  Troubadours. 
War  Petrarca  auch  Künstler  genug,  diese  überlieferte  Form  meisterlich  zu 
handhaben,  so  verfiel  er  doch  andererseits  ihrem  Konventionalismus.  Er  hat 
mit  ihren  Metaphern  und  Periphrasen,  ihren  Hyperbeln  und  Antithesen  virtuos 
gespielt.  Er  hat  sie  ausgebaut,  ganze  Gedichte  daraus  zusammenphantasiert 
und  eine  förmliche  poetische  Rhetorik  daraus  gebildet  —  die  Rhetorik 
des  Petrarkismus,  der  für  drei  Jahrhunderte  die  Lyrik  des  Abendlandes 
beherrschen  sollte  und  zu  jener  literarischen  Krankheit  ward,  die  man  als 
Preziosität,    Secentismo,    Culteranismo,    Marinismus,   Euphuism   bezeichnet. 

Als  Erbe  der  Troubadours  faßt  Petrarca  ihre  Lyrik  zusammen  und 
schafft  mit  seinem  Canzoniere  nicht  nur  ein  Denkmal  seiner  Liebe,  sondern 
zugleich  das  Denkmal  des  Minnesanges. 

Das  W^erk  seines  Alters  sind  die  „Trionfi",  die  figuren-  und  bilderreiche 
Schilderung  eines  visionären  Läuterungsganges,  eine  Humanistendichtung, 
die  mit  der  Commedia  nicht  wetteifern  kann.  Ihre  Gestaltenreihe  hat  bis 
ins  1 6.  Jahrhundert  zahllose  Hände  bildender  Künstler  in  Bewegung  gesetzt. 
Aber  Michelangelo  dichtet  zwar  petrarkistische  Lieder,  doch  den  großen 
Maler  inspiriert  Dante. 

Der  Einfluß,  den  Petrarca  auf  die  nächsten  Jahrhunderte  ausgeübt  hat, 
ist  weit  größer  als  der  Dantes.  Dafür  gehört  dieser  Einfluß  auch  längst 
der  Geschichte  an. 

Die  Freundschaft,  die  den  ehrsüchtigen  und  anspruchsvollen  Petrarca 
Boccaccio,  mit  dem  schlichten,  schwankenden  Boccaccio  (1313  — 1375)  verband,  beruht 
auf  ihrer  gemeinsamen  Wißbegierde  gegenüber  dem  Altertum.  Boccaccio 
erfüllt  dieselbe  Bücherliebe,  und  er  mag  belesener  sein  als  der  Freund. 
Aber  angesichts  der  glänzenden  alten  Welt  ist  er  unkritischer  und  ängst- 
licher. Er  ist  abergläubisch.  Eine  mönchische  Prophezeiung  führt  zur 
Bekehrung  des  48jährigen,  In  lateinischen  Sammelwerken,  aus  denen  die 
folgende  Zeit  als  aus  reichen  Magazinen  eifrig  geschöpft  hat,  stellt  er  die 
Schicksale  berühmter  Männer  und  Frauen  moralisierend  dar  und  vereinigt 
er  die  antiken  Göttersagen  zu  einem  Lehrbuch  poetischer  Fiktionen.    Diese 


U.  Italien  bis  xum  Ende  des  17.  Jahrhunderts.     II.  Der  Humanismus.  j-y 

mytholo^schen  Fabeleien  .schrecken  und  rt-i/en  ihn  zugleich:  sie  sind 
Heiden  werk,  aber  des  christlichen  Poeten  unentbehrliches  Rüstzeug.  Denn 
die  Poesie  i.st  für  Hoccaccio  Wi.ssenschaft  im  Kleid«?  allfgr)ris(hfT  Rhetorik. 

Kin  unregelmäßiger  Bildungsgang  führte  den  jugendlichen  lioccaccio 
früh  nach  Neapel  in  die  glänzende  Stadt  König  Roberts,  wo  er  ein  Jahr- 
zehnt verblieb.  Des  Königs  natürliche  Tochter  Maria  d'Aquino  fesselt  ihn. 
Lange  Werbung  um  die  Gunst  dieser  seiner  Fiammetta,  kurzes  Liebes- 
glück, erinnerungsreiche  Klage  und  Hoffnung  auf  Wiedergewinnung  klingen 
aus  Boccaccios  italieni.schen  Jugenddichtungen  entgegen.  Er  erzählt  im 
„Filocolo"  (1338)  die  Geschichte  von  Floire  und  Blanchetleur  mit  auto- 
biographischen Einlagen  und  Szenen  aus  dem  Minnehof  der  Fiammetta, 
die  schon  den  Keim  des  Dekameron  enthalten  und  nach  Xordfrankreich 
weisen.  Er  bringt  die  französische  Erfindung  von  Troilus  und  Briseis  in 
Ottavc  rime  {Fi/os/rei/cA,  die  er  damit  zur  epischen  Versform  erhebt,  und 
schafft  poetische  Bilder  menschlicher  Leidenschaft.  Er  .schreibt  die  ersten 
italienischen  Hirtendichtungen,  deren  zum  Teil  reizende  bukolische  Form 
autobiographischen  Inhalt  birgt.  In  der  „Amoro.sa  Visione"  (1343)  gerät 
ihm  die  Nachahmung  Dantes  zur  liebenswürdigen  Novelle.  Wie  sind  alle 
diese  Werke  bewundert  und  nachgeahmt  worden,  z.  B.  von  Chaucer.  Nach 
der  Pest  von  1348  redigiert  er  (bis  1353)  das  „Decameron".  Im  „Cor- 
baccio"  (1355)  rächt  sich  der  einstige  Frauenlicbling  an  einer  Frau,  witzig 
und  unfein,  aber  unter  viel  Beifall.  Seine  Dantebiographie  ist  arm  an 
tatsächlichen  Angaben  und  reich  an  rhetorischem  Beiwerk.  Vom  tloren- 
tiner  Magistrat  wurde  Boccaccio  1373  auf  den  neugegründeten  Lehr- 
stuhl zur  Erklärung  der  Commedia  berufen.  Krankheit  zwang  ihn  nach 
der  60.  Lektion  im  17.  Gesang  der  Hölle  abzubrechen.  Der  Kommentar 
ist  lehrreich,  aber  er  verrät  das  Alter  und  jene  ängstliche  Orthodoxie,  die 
ihn  auch  sein  Dekameron  bereuen  ließ. 

Schon  im  „Filocolo"  läßt  er  eine  höfische  Gesellschaft  Geschichten  er- 
zählen. Aber  wie  reizvoll  hat  er  im  Dekameron  diesen  Rahmen  nun  auf 
dem  grausen  Hintergrund  des  großen  Sterbens  ausgeführt,  mit  lieblicher 
Naturschilderung,  mit  anmutigen  Gesprächen,  Neckereien  und  Liedern,  mit 
schalkhaftem  Vor-,  Zwi.schen-  und  Schlußwort,  in  welchem  er  humorvoll^ 
aber  entschieden  sein  Buch  in  den  Dienst  irdischer  Lebensfreude  stellt 
Hier  ist  ihm  Gott  noch  der  Dieu  des  bonnes  gens  —  und  an  den  Menschen 
ein  Wohlgefallen.  Zehn  Tage  lang  erzählen  sich  die  sieben  Damen  und 
drei  Herren  Geschichten,  meist  über  ein  zum  voraus  bestimmtes  Thema; 
Boccaccio  aber  .schreibt  sie  auf,  wie  er  .sagt,  „zum  Zeitvertreib  der  Damen". 

Die  tragischen  und  romantischen  Novellen  liegen  ihm  nicht  so  gut 
wie  die  komischen  und  realistischen  aus  der  Alltagswelt  der  Menschlich- 
keiten. Das  i.st  .seine  Welt  Einzelne  wenige  der  hundert  Novellen  mögen 
auf  eigenen  Erlebnissen  beruhen,  alle  übrigen  sind  altes  Erzählungsgut,  das 
schon  in  französischer  Form  gestaltet  war,  in  Fabliaux  und  auch  in  Legenden, 
<leren  manche  Boccaccio  zur  Lebensfreude  gewendet  hat,  wie  .später  Gott- 

Dn  Kcinm  oam  GMwawAaT.    L  11.  1.  12 


lyS  Heinrich  MORF:  Die  romanischen  Literaturen. 

Med  Keller.  Er  ist  ein  Schüler  Frankreichs,  aber  seine  souveräne  Kunst 
hat  die  einzelne  Spur  verwischt  und  die  Novellen  zu  seinem  Eigentum  ge- 
macht. Er  ist  ein  wunderbarer  Erzähler.  Seine  Sprache  zeigt  eine  lachende 
Mischung  von  Lingua  parlata  und  eleganten  latinisierenden  Konstruktionen, 
deren  Beispiel  den  Nachahmern  gefährlich  geworden  ist.  Der  Zauber 
dieser  Kunst  überwindet  die  Indezenz  einzelner  Geschichten:  Ars  omnia 
vincit  Das  Dekameron  ist  nicht  unsittlich.  Aber  die  Prüderie  hat  aus 
dem  Frauenbuch  Boccaccios  ein  Herrenbuch  gemacht. 

Das  Dekameron  krönt  die  mittelalterliche  Schwankliteratur.  Hat  Dante 
in  der  Divina  Commedia  den  Ernst,  so  hat  Boccaccio  den  Scherz  des 
Mittelalters  in  einer  „Commedia  umana"  künstlerisch  verklärt.  Sein  Novellen- 
buch steht  an  der  Spitze  der  modernen  Erzählungsliteratur. 

Die  drei  großen  Florentiner  des  Trecento  sind  die  Konquistadoren  ge- 
worden, mit  denen  Toskana  das  übrige  Italien  und  das  Abendland  seiner 
literarischen  Kunst  untertänig  gemacht  hat. 
Latein  »Der   zuerst   in    italienischer  Sprache    dichtete,   ward   dazu  durch  den 

""■^        Wunsch  bewogen,    seiner  Angebeteten  verständlich    zu  werden,    die   kein 

Humanismus.  _  _ 

Latein  konnte",  sagt  Dante  in  seinem  „Jugendleben".  Die  Vorstellung,  daß 
die  Muttersprache  also  nur  ein  literarischer  Notbehelf  gegenüber  Un- 
gebildeten sei,  hat  Dante  selbst  siegreich  überwunden.  Petrarca  und  Boc- 
caccio aber  blieben  ihr  verfallen.  Die  adelige  Sprache  der  Heimat  ist 
ihnen  das  Lateinische,  in  welchem  der  Ruhm  der  glorreichen  Vorfahren 
sicher  geborgen  und  allem  Sprachwandel  entzogen  ist.  Die  italienische 
Muttersprache  heißt  bezeichnend:  „il  volgare",  und  „le  cose  volgari  non 
possono   fare  un  uomo  letterato",  versichert  Boccaccio. 

Mit  Macht  setzt  sich  nun  diese  Anschauung  durch.  Das  Latein  ist 
die  vornehme  Sprache  der  Literatur,  die  dauernden  Ruhm  verleiht  und 
wahre  Bildung  in  sich  schließt.  Und  „homines  humani"  nennen  sich  nach 
Cicero  die  Vertreter  dieser  Bildung.  Diese  Humanisten  pflegen  die  Form 
nach  dem  Vorgang  Petrarcas  künstlerisch  und  gestalten  sie  nach  dem  Vor- 
bild Ciceros,  Livius'  und  Vergils,  Auf  die  Geringschätzung  der  Form,  die 
dem  Mittelalter  eigen  war,  folgt  ihre  Überschätzung.  Als  Hauptleistung 
der  Geschichtschreibung  gelten  die  Reden,  die  den  Helden  in  den  Mund 
gelegt  werden.  Es  bildet  sich  jene  gefährliche  Vorstellung,  daß  die  Form 
an  und  für  sich  etwas  bedeute,  daß  die  Eloquenz  einen  vom  Inhalt  unab- 
hängigen Wert  habe:  L'art  pour  l'art.  Diese  Trennung  von  Kunst  und 
Inhalt,  von  Rede  und  Leben  ist  griechisch-römisches  Erbteil.  Die  Huma- 
nisten haben  sie  der  Romania  von  neuem  gebracht.  Sie  haben  dabei,  wie 
die  Sophisten,  innerlich  Schaden  genommen  und  ihre  Rhetorik  in  den 
Dienst  des  Scheins  gestellt  und  an  das  Häßliche  verschwendet.  Sie  haben 
auch  in  der  Übersetzung  das  böse  Beispiel  der  rhetorischen  Paraphrase 
gegeben.  „Nur  die  können  behaupten,  gelebt  zu  haben",  sagt  Poggius,  „die 
beredte  und  gelehrte  lateinische  Bücher  verfaßt  und  Griechisch  in  Latein 
übersetzt    haben."      Er    selbst    bückt    sich     nach    volkstümlichen    Stoffen 


H.  Italien  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhunderts.     II.  Der  Humanismus.  i^g 

nur,  um  zu  zei^i'ii,  daß  die  lateini.sche  Form  auch  ihnen  ^..MTerht 
werden  kann. 

Die  Tradition  der  alten  römisclien  Literatur  aufzunehmen  und  in 
lebendijTcm  Schaffen  fortzusetzen,  erscheint  als  die  wahre  nationale  Aufgabe 
des  Modernen.  Der  italienische  Humanismus  wurzelt  im  Xationalgefuhl 
und  fordert  es  in  Zeiten  nationaler  Zersplitterung.  Er  wird  zur  förmlichen 
Leidenschaft.  Man  sucht  und  verehrt  Manuskripte,  wie  man  im  Mittelalter 
Reliquien  suchte  und  verehrte.  Die  irdischen  Lebensinteressen  werden 
gefördert  Gegen  Askese  und  Scholastik  erhebt  sich  antike  Weltanschau- 
ung, Naturalismus  und  Individualismus.  Die  Lehre  des  Epikur,  mit  dessen 
Namen  das  Mittelalter  alle  Gottlosigkeit  bezeichnete,  wird  offen  auf- 
genommen. Ein  neues  Heidentum  entsteht,  und  auch  L.  Valla  (-j-  1457), 
der  es  ablehnt,  bekämpft  noch  viel  leidenschaftlicher  Scholastik  und  As- 
kese. Des  selben  historische  Kritik  wendet  sich  gegen  die  Schenkung 
Konstantins.  Pico  della  Mirandola  ist  der  erste,  der  die  Astrologie 
mit  wissenschaftlichen  Gründen  bekämpft 

Florenz  ist  die  führende  Stadt.  Inmitten  der  kommunalen  Kämpfe 
hatte  der  Humanismus  für  die  beiden  kämpfenden  Mächte  preisende  Worte: 
für  die  unterliegende  Demokratie  und  für  die  sich  erhebende  Tyranni.s, 
für  die  Pazzi  und  für  die  Medici.  Aber  die  Tyrannis  bot  dem  Humanisten 
als  eloquentem  Beamten  und  Hofpoeten,  als  Erzieher  und  als  Gelehrten 
größere  Sicherheit  und  den  Pomp  der  Dichterkrönung. 

In  Florenz  wird  zuerst  öffentlich  Griechisch  gelehrt  (1397)  und  werden 
die  ersten  griechischen  Werke  in  elegantes  Latein  übertragen.  Hier  ent- 
steht im  Landhause,  das  Cosimo  von  Medici  seinem  philosophischen 
Freunde  schenkte,  jene  Akademie,  wo  Ficino  als  „zweiter  Plato"  waltet 
und  unter  Teilnahme  Lorenzos  die  docta  religio  seiner  „Theologia  plato- 
nica"  (1482)  schafft,  in  welcher  die  Religion  der  Liebe  durch  die  Philo- 
sophie der  Liebe  gestützt  wird.  Die  Erfindung  der  Buchdruckerkunst  kam 
eben  zur  rechten  Zeit  (1465),  um  all  diesem  neuen  Denken  Flügel  zu 
leihen.  \'on  Florenz  aus  verbreitet  sich  der  Humanismus  über  Italien 
als  Vorbereitung  und  Grundlage  einer  Nationalliteratur.  Toskanisch  ist 
das  14.  und  zum  guten  Teil  auch  da,s  15.  Jahrhundert;  das  Cinquecento 
wird  italienisch  sein. 

In  Rom,  da-s  sich  von  den  Erschütterungen  des  großen  Schisma  er- 
holte, zog  mit  Pius  II.  (1458)  der  Humanismus  siegreich  ein.  Diesen  Papst 
begleitete  der  Ruhm  des  Poeten.  Er  hatte  seine  genußfreudige  Jugend  in 
lateinische  Dichtungen  gegossen  und  seine  kunstvolle  „Geschichte  vom 
Liebespaar  Eurj'alus  und  Lukretia"  (1444)  wurde,  neben  Boccaccios  Fiam- 
metta,  in  zahllosen  Ausgaben  und  Übersetzungen  zum  einflußreichen  Muster 
der  sentimentalen  und  schlüpfrigen  Liebesnovelle.  Die  Reaktion  unter 
seinem  Nachfolger  Paul  II.  war  empfindhch,  aber  vorübergehend.  Die 
norditalienischen  Höfe  von  Mailand  und  I'errara,  sowie  das  nun  (seit  1450) 
aragonesische    Neapel    wetteiferten    mit    Horenz,    mit    dem    sie    eine    Con- 


l8o  Heinrich  MorF:  Die  romanischen  Literaturen. 

federazione  verband,  die  Italien  vier  Jahrzehnte  ruhiger  Ent Wickelung 
brachte.  Neapel  und  seine  Akademie  können  sich  rühmen,  in  Pon- 
tano  den  größten  Lyriker  des  sinnenfrohen  Humanismus  besessen  zu 
haben. 

Diese  Humanisten  machten  auch  seit  Mussato  und  Petrarca  den  Ver- 
such, die  antiken  Tragödien  und  Komödien  durch  Nachdichtungen  und 
durch  Neuaufführung  der  plautinischen  und  terenzianischen  Originale  wieder 
zu  beleben.  Sie  gaben  so  die  Anregung  zum  klassischen  italienischen 
Theater,  wie  sie  der  Vulgärliteratur  auch  das  Beispiel  der  Prunkrede,  des 
Briefes,  des  Dialogs,  der  Ekloge  und  der  Elegie  gaben. 

Eine  gewaltige  Erschütterung  brachte  dem  medizäischen  Humanismus 
der   glaubensstarke   Dominikaner  Savonarola.     Aber   der  Sturm,   den  er 
gew^eckt,  verschlang  ihn  selbst  und  trübte  den  neuen  Tag  nicht  dauernd. 
Die  Es  fehlte  nicht  an  Humanisten,  die  auch  italienisch  —  in  latinisieren- 

voigäruteratur.  ^^^  g^.j  _  schrieben,  wic  Leon  Battista  Alberti  (f  1472).  Doch  nicht 
sie  geben  der  Vulgärliteratur  des  Quattrocento  zunächst  das  Gepräge.  In 
dieser  herrscht  vielmehr  ein  stark  volkstümlicher  Zug  vor. 

Volkstümüch  ist  jene  religiöse  Literatur,  die  in  Vers  und  Prosa  gegen 
den  Humanismus  Glauben  und  Askese  predigt.  Ein  reicher  Quell  volks- 
tümlicher Liebeslyrik  bricht  auf,  und  begabte  Poeten  dichten  ihre  Kanzo- 
netten,  Strambotti,  Madrigale,  Tanzlieder  {Ballate  und  Frottole)  nach,  die 
auf  reizenden  Melodien  durchs  Land  fliegen.  In  der  rhythmisch  sehr  freien 
Form  der  „Caccia"  wird  das  bewegte  Treiben,  Reden  und  Schreien  der 
Jagd,  des  Marktes,  des  Kampfes  wiedergegeben.  Eine  humoristische  und 
burleske  Dichtung  reimt  die  Alltäglichkeiten  des  städtischen  Lebens  in 
Sonetten  und  Terzinenreihen  {Capitoli)  mit  oft  stark  persönlicher  Satire. 
Im  politischen  Kampfe  erscheint  der  offiziöse  Poet  {rAraldo),  der  in  ge- 
reimten Leitartikeln  die  Politik  der  Regierung  vertritt,  die  ihn  besoldet 
und  der  in  Florenz  auch  die  Aufgabe  hat,  die  Väter  der  Stadt  nach  Er- 
ledigung der  Amtsgeschäfte  poetisch  zu  unterhalten.  Neben  Nachahmungen 
Boccaccios,  in  denen  sein  Stil  zum  Schwulst  wird,  entstehen  Novellen- 
sammlungen, wie  die  Sacchettis,  in  welchen  mit  der  Schlichtheit,  aber 
auch  der  Trivialität  der  Lingua  parlata  heitere  Anekdoten  erzählt  werden. 
Aus  Norditalien  ist  der  Inhalt  der  franko -italienischen  Karlsepik  herüber- 
gedrungen. In  Vers  imd  Prosa  erfreut  sich  diese  „Materia  di  Francia*'  in 
der  Toskana  einer  großen  Popularität.  Zu  einer  Zeit,  da  sie  in  ihrer 
französischen  Heimat  in  schweres  Siechtum  verfallen  war,  gedeiht  sie  hier 
in  üppiger  Fruchtbarkeit.  In  endlosen  Prosabearbeitungen,  deren  eine,  „Die 
Königskinder  von  Frankreich"  (/  Reali  di  Francia)  betitelt,  heute  noch 
das  verbreitetste  Volksbuch  Italiens  ist,  reiht  sich  Heldensage  an  Helden- 
sage. In  Tausenden  von  Ottave  rime  läßt  der  Bänkelsänger  {Canterind) 
des  öffentlichen  Platzes  eine  unübersehbare  Schar  von  edlen  Paladinen 
{Reali)  ^  niederträchtigen  Verrätern  [Maganzesi)  und  mächtigen  Heiden- 
fürsten an  seinen  andächtigen  Zuhörern  vorüberziehen.    Über  8000  Ottave 


n.  Italien  bis  zum  Ende  des   17.  Jahrhunderts.     Ml.  l>ic  Kcnajssancc.  iRj 

rime  umfaßt  /.  H.  der  anonyme  „Orlando"  von  den  Abenteuern  Rolands 
und  seines  riesenhaften  Knappen  Mor^ante. 

Das  Fest  seines  Heilij^en,  San  Giovanni,  feierte  Morenz  von  alters 
her  mit  pomphaften  Schaustellungen.  Aus  Anreg^unj^en,  die  aus  diesen 
Pantomimen  und  aus  den  umbrischen  Passionsspielen  flössen,  scheint  sich 
das  florentinische  religirtse  Drama  des  Ouattrocento,  die  Sacra  Rap- 
presentazione,  entwickelt  /u  haben.  Vielleicht  aber  stammt  es  vom 
g-leichzeitigen  französischen  Mystere  und  Miracle  her,  mit  welchem  viele 
Züge  es  verbinden.  Doch  ist  es  von  weniger  trivialer  Gestaltung,  frei 
von  rohester  Komik,  wenn  auch  die  „Färse"  durchaus  nicht  fehlen,  knapper 
und  verrät  keine  zyklische  Tendenz.  Ihre  Ottava  rima  hat  epische  Quali- 
täten, aber  sie  ist  eine  schwere  Fessel  des  Dialogs. 

Die  Sacra  Rappresentazione  verbreitet  sich  übf-r  Italien,  doch  kam  sie 
nicht  bis  Sizilien.  Öfters  forderte  sie  durch  Entartungen  Widerspruch 
heraus,  und  nirgends  hatte  sie  Zeit,  heimisch  zu  werden. 

Die  italienische  Dichtersprache  war,  trotz  der  illustren  Vertreter  des 
Trecento,  an  Ansehen  gesunken,  seit  die  Gebildeten  die  Hand  von  ihr 
zurückgezogen.  Aber  schon  machen  sich  Anzeichen  bemerkbar,  die  ihre 
Erhebung  ankündigen.  Auf  Veranlassung  von  L.  B.  Alberti  und  Piero 
d'Medici  fand  1441  ein  poetischer  Wettstreit  statt,  der  zwar  kein  bedeuten- 
des italienisches  Lied  schuf,  der  aber  durch  seinen  äußeren  Prunk,  durch 
die  Verwendung  antiker  Versmaße  und  auch  dadurch  symptomatisch  ist, 
daß  er  den  ersten  Versuch  einer  italienischen  Tragödie  {//iempsaf)  im  Ge- 
folge hatte. 

ITI.  Die  Renaissance.  Gegen  Ende  des  Quattrocento  kehrt  man  in 
den  Zentren  des  Humanismus,  in  Florenz,  in  Neapel  und  auch  in  Xord- 
italien  zur  kunstmäßigen  Pflege  der  Muttersprache  zurück. 

An  der  Spitze  dieser  nationalen  Bewegung  erscheint  Lorenz  o  il  nortn». 
Magnifico,  Sohn  des  Piero  de'  Medici  und  Vater  des  späteren  Papstes 
Leo  X.  Er  ist  der  Typus  des  hochgebildeten,  kunstsinnigen,  aber  auch 
amorali.schen  Dynasten.  In  der  Literatur  tritt  er  von  Polizian  und  von 
Pulci  flankiert  auf,  selbst  ein  Künstler,  bald  ernst  und  innig  wie  jener, 
bald  derb  und  satirisch  wie  dieser,  von  einer  Duplizität  des  Wesens,  die 
sogar  Machiavells  Bewunderung  erregte,  und  —  wie  die  Gesellschaft,  die  ihn 
umgab  —  von  jenem  religiösen  IndiflFerentismus,  der  den  Weg  zum  an- 
dächtigen Wort  wie  zum  Spott  findet.  Er  verteidigt  die  Würde  des 
Italienischen.  Die  feine  und  anmutige  Nachahmung  Dantescher  und  Petrarca- 
scher Lyrik  verbindet  er  mit  den  Inspirationen  des  Piatonismus;  aber  er 
parodiert  auch  Plato  und  Dante.  Er  führt  die  Lyrik  zum  Jungbrunnen 
der  volk.stümlichen  Dichtung;  aber  er  macht  diese  Dichtung  auch  /um 
Gegenstand  spöttischer  Kunstübung.  Es  stellt  sein  vielseitiges  Können  in 
den  Dien.st  der  Kommunalpolitik  und  sorgt  für  die  öffentliche  Lu,stbarkeit 
durch  T«»'»''^'  hon   Kamevalsscherz  und  durch  dramatisches  Spiel. 


i82  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Von  ihm  und  seiner  Umgebung  stammt  eine  Reihe  der  über  hundert 
Rappresentazioni,  die  uns  erhalten  sind.  Die  Renaissancegesellschaft 
bemächtigte  sich  dieser  mittelalterlichen  Bühne,  stellte  die  Kunst  ihrer 
Techniker  in  deren  Dienst,  versuchte  es  mit  antiken  Zutaten,  mit  roman- 
tischen Elementen,  schuf  durch  bunte  und  komische  Intermezzi  (Bauern, 
Gastwirte,  Bettler  usw.)  Augenlust  und  Heiterkeit,  aber  es  gelang  ihr 
nicht,  aus  dieser  lyrisch -epischen  Dramatik  ein  Drama  zu  schaffen.  Die 
Sacra  Rappresentazione  schwand  denn  auch  vor  dem  antikisierenden 
Theater. 

Aus  der  Fülle  seines  philologischen  und  künstlerischen  Hellenentums 
folgt  der  Humanist  Polizian  seinem  Freunde  Lorenzo  zur  Ottava  rima,  zur 
Ballata  und  zum  Strambotto  und  schafft  Kunstwerke  lieblichen  Wohllautes, 
edler  Einfachheit  und  zarter  Malerei,  was  diesem  höfischen  Pastiche  den 
unvergänglichen  Wert  einer  originalen  Schöpfung  gibt. 

Griffen  Lorenzo  und  Polizian  zum  volkstümlichen  Lied  und  Drama,  so 
tat  sich  Luigi  Pulci  auch  als  höfischer  Bänkelsänger  auf  und  schnitt  sich 
aus  dem  „Orlando"  und  anderen  Epen  der  Canterini  mit  eigener  grotesker 
Zutat  ein  „Rolandslied"  in  28  Gesängen  zurecht,  dessen  Hauptfiguren  die 
Riesen  Margutte  und  Morgante  sind  (1460  — 1483).  Die  holperigen  und 
eintönigen  Berichte  der  Canterini  von  den  Heldentaten  der  Paladine,  den 
Heidenschlachten  und  Abenteuern,  weiß  er  zu  variieren,  zu  vertiefen  und 
in  feine  elegante  Verse  umzusetzen,  in  welchen  klassischer  Zierat  und 
volkstümliche  Redeweise  auf  das  glücklichste  verbunden  sind.  Er  flicht 
wissenschaftliche  und  dogmatische  Erörterungen  ein.  Er  begleitet  die 
ritterlichen  Abenteuer  mit  den  skeptischen  Reflexionen  eines  aufgeklärten 
Bürgers,  bricht  die  aufsteigende  Andacht  oder  Bewunderung  durch  Tri- 
vialitäten. Pulci  hat  es  auf  den  Spaß  abgesehen,  den  seine  Bänkelsänger- 
attitüde seiner  Gesellschaft  bereiten  wird.  Er  spielt  seine  Rolle  mit  Grazie 
und  Natürlichkeit,  so  daß  noch  heute  darüber  gestritten  wird,  wo  in  seinem 
„Morgante  Maggiore"  der  Ernst  aufhört  und  die  Parodie  anfängt.  Pulci, 
der  kräftig  und  gutmütig  Scherz  und  Ernst  zu  verbinden  weiß,  ist  ein 
Liebling  der  Nation  geblieben. 
Neapel.  Am  Hofe  Ferdinands  I.  zu  Neapel    wenden   sich   die  Humanisten  der 

pontanischen  Akademie  unter  der  Führung  Sannazaros  ebenfalls  der 
italienischen  Dichtung  zu.  In  den  populären  Formen  des  Strambotto  und 
der  Ballata  verwenden  sie  den  Dialekt;  in  Kanzone  und  Sonett  aber  herrscht 
das  Toskanische,  und  schon  wird  die  Nachahmung  Petrarcas  zum  Schwulst 
und  zur  Geziertheit  in  den  höfischen  Huldigungen  des  Cariteo  (f  151 5). 
Auch  hier  führt  der  Versuch,  das  Volkstheater  zu  disziplinieren,  zu  keiner 
wirklichen  Leistung.  In  der  aus  Prosa  und  Lyrik  gemischten  „Arcadia" 
(1502)  stellt  Sannazaro  als  „Sincero"  seine  eigene  Liebesnot  dar  und 
schafft,  auf  der  Spur  Boccaccios  und  der  antiken  Idylle,  ein  ausgeklügeltes 
Werk  ländlicher  Mythologie,  dem  Mit-  und  Nachwelt  bewundernd  hul- 
digten. 


U.  li.iiifii  Ol-,  /um  Ende  «u -.   i ,  .  j.ihrlmnderts.     III.  Die  Renaissance.  183 

Ahnliche  Züi^c*  zeigt  das  literaristho  Lehen  Mailands,  über  welches  Sorditah««. 
sich  in  stolzer  Einsamkeit  die  machtvolle  Persönliclikeit  des  j^roßen  Denkers 
und  Künstlers  Leonardo  da  \'inci  erhebt.  Ähnliche,  aber  charakteristische 
Züge  weist  auch  Ferrara  auf,  wo  petrarkistische  Lyrik  blüht,  wo  Herzog 
Ercole  L  (f  1505)  die  Übersetzung  antiker  Werke  fordert  und  zum  ersten- 
mal (i486)  Plautus  in  italienischer  \'ersion  aufführen  läßt,  worin  die  Gonzoga 
von  Mantua  ihm  folgen. 

An  diesen  gelehrten  dramatischen  VOlgarizzamenti  nahm  eifrigen  i'»froin*Bti»ch.- 
Anteil  der  Graf  von  Scaiidiano,  Hojardo.  Daneben  schreibt  er  reizende  ^^ 
Minnelieder  und  wendet  er  sich,  wie  Pulci,  zum  Karlsepos  —  nicht  mit 
demokratischem  Spott,  sondern  mit  aristokratischer  Herzensneigung.  Er 
zerstört  nicht;  er  schafft  eine  neue  Welt:  eine  Welt  Kaiser  Karls,  in  der 
nicht  mehr  der  alte,  rauhe  Geist  des  Glaubenskampfes  herrscht,  sondern 
in  welcher  die  feine  Sitte  der  Ritterlichkeit,  die  Minne  regiert.  Er  erfüllt 
die  volkstümliche  Materia  tli  Francia  mit  dem  Geiste  der  höfischen  Materia 
di  Bretagna.  Er  schreibt  das  Lied  vom  „Verliebten  Roland"  und  schafft, 
durch  die  harmonische  Vereinigung  der  beiden  Ströme  epischer  Dichtung, 
das  romantische  Epos  mit  neuen  glänzenden  Figuren,  neuen  bunten  Aven- 
tiuren,  die  eine  überreiche  Erfindungsgabe  ihm  bietet,  und  die  er  kunstvoll 
führt  und  verschlingt.  Ein  köstlicher  Humor  durchzieht  das  Ganze.  Bojardo 
treibt  poetische  Kurzweil  mit  all  dem  Minnevolk,  das  er  liebt,  und  mit 
dem  er  lacht  und  klagt.  Er  ist  ein  großer  Dichter;  aber  er  ist  nicht  sorg- 
fältig in  der  Ausgestaltung.  Unaufhörlich  drängt's  ihn  vorwärts.  Seine 
Pinselstriche  sind  flüchtig,  und  über  dem  stofflichen  Reichtum  vernach- 
lässigt er  die  Darstellung  des  inneren  Lebens.  Auch  ist  die  Sprache  des 
ferraresischen  Edelmannes  nicht  von  der  toskanischen  Reinheit,  die  man 
damals  zu  fordern  begann. 

So  hat  Bojardo  einem  Nachfolger  noch  zu  tun  übriggelassen,  der 
seiner  Phantasie  weit  wahres  Leben  einzuflößen  vermöchte,  der,  vielleicht 
von  geringerer  Originalität  in  der  stofflichen  Ertnulung,  ein  größerer 
Künstler  sein  würde:  Lodovico  Ariosto.  l.  Ario«©. 

Als  14Q4  Bojardos  Hand  die  Feder  am  unvollendeten  Werke  ent- 
sank, war  Ariost  20  Jahre  alt.  Damals  schrieb  der  junge  Mann  noch 
lateinische  Verschen  nach  Horaz  und  Catull.  Dann  faßte  ihn  das  Leben 
hart  an  und  zwang  ihn  zum  mühseligen  und  kärglich  gelohnten  Dienst 
des  Hauses  Este.  Die  letzten  Jahre  verlebte  er  als  berühmter  Intendant 
des  Hoftheaters  zu  Ferrara,   der  ersten  stehenden  Bühne  Itiiliens  (7  1532). 

Von  geringem  Kunstwert,  aber  großer  histori.scher  Bedeutung  sind 
die  vier  Verskomödien,  die  er  für  dies  Theater  schrieb.  Die  beiden  ersten 
(1508— 1509) sind  die  ältesten  Renaissance-Lustspiele:  frisch  geschriebene,  aber 
unfreie  Nachahmungen  der  Welt  des  Plautus  und  Terenz,  deren  buhlerisches 
Treiben  ebenso  ausgeklügelt  wie  indezent  ist  Das  Altertum  erweist  sich 
hier  gleich  als  Fessel,  während  es  Ariost  in  seinen  liebenswünligen  Vers- 
episteln   {Ctifyifoli    oder    S,i/irA    auf    das     glücklichste     inspiriert    hat      In 


184  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

ihrem  Humor  spiegelt  sich  das  Leben  dieses  harmlosen  Poeten  der 
Welt  der  Lucrezia  Borgia.  Früh  zog  ihn  der  „Orlando  innamorato"  an,  und, 
den  Faden  der  1494  abgebrochenen  Erzählung  um  1504  aufnehmend,  spinnt 
er  ihn  5000  Oktaven  lang  weiter  und  führt  die  Verliebtheit  des  Paladins 
zur  Raserei.  Es  sind  die  selben  Personen  und  die  nämlichen  Situationen 
wie  bei  Bojardo;  aber  es  ist  ein  feineres,  höheres  Leben:  der  Stoff,  den 
ein  anderer  bereitet,  ist  in  die  Hand  des  wahren  Künstlers  gefallen. 
Ariosts  „Orlando  furioso"  (gedruckt  15 16)  bringt  in  die  reizende  Traumwelt 
das  Maß  von  Realismus,  von  Verständigkeit,  von  Ernst  imd  Pathos,  ja 
von  Tragik,  das  sie  ertrug,  und  verbindet  damit  jenes  Maß  von  Ironie  und 
Schalkhaftigkeit,  das  nötig  ist,  um  das  moderne  Bewußtsein  mit  dem  Ana- 
chronismus dieser  Fabeleien  zu  versöhnen.  Dieses  in  Schönheit  getauchte 
Lied  vom  Roland,  der  über  der  Liebe  zu  der  schönen  Heidenfürstin  Angelika 
den  Verstand  verliert,  ist  das  wahre  Gedicht  der  Renaissance,  die  wahre 
Inkarnation  des  gesunden  L'arte  per  l'arte. 

Ariost,  der  an  die  französische  Epik  von  den  germanischen 
Helden  die  letzte  Hand  gelegt  hat,  tritt  neben  die  drei  großen  Trecentisten. 
Er  ist  der  vierte  in  diesem  unvergleichlichen  Bunde,  dessen  Werke  die 
mittelalterlichen  Schöpfungen  des  entthronten  Frankreich  mit  neuer,  italieni- 
scher Kunst  krönen:  Epik,  Lyrik,  Didaktik.  Ariost  und  Boccaccio  sind 
die  Umbildner  des  epischen  Stoffes;  Petrarca  verklärte  den  Minnesang, 
und  Dante  erhob  die  Didaktik  zu  unvergänglichem  Leben. 

Gewiß  ist  das  Altertum  an  diesen  Schöpfungen  beteiligt:  dieser  Künstler 
Schönheitssinn  entzündete  sich  an  der  Antike,  und  ihre  Phantasie  bereicherte 
sich  an  der  antiken  Dichtung,  obschon  keiner  von  ihnen  Griechisch  gelernt 
hat.  Aber  sie  schufen  in  eigenen,  romanischen  Formen  sich  eigene,  roma- 
nische Welten,  in  welchen  der  Anteil  des  Altertums  romanifiziert  erscheint. 
So  ist  das  Größte,  was  das  dem  Mittelalter  sich  entringende  Italien  ge- 
schaffen hat,  nicht  Nachahmung  der  Antike,  sondern  Heimatkunst  der 
Romania,  und  auch  hier  zeigt  sich,  daß,  was  unvergänglich  sein  soll,  aus 
dem  Eigenen  kommen  muß.  — 

„Schon  umzieht  mich",  singt  Bojardo  in  der  letzten  Strophe  seines 
Orlando,  „der  Feuerschein,  wovon  mein  Land  entglommen  —  Durch  diese 
Franken,  die  so  heldenmütig  —  Ich  weiß  nicht  welchen  Gau  zu  plündern 
kommen."  Er  meint  den  Zug  Karls  VIII.  von  Frankreich  {1494),  mit  welchem 
die  neue  Invasion  der  „Barbaren"  beginnt.  Verheerend  ergießt  sich  ihr 
Strom  durch  die  Renaissanceherrlichkeit  des  von  Zwietracht  gelähmten 
Landes.  Mit  dem  Ringen  zwischen  Frankreich  und  Spanien  beginnt  die 
Zeit  der  Fremdherrschaft.  Noch  blühen  Kunst  und  Literatur,  und  das  unter- 
jochte Italien  beherrscht  in  diesem  Zeitalter,  das  nach  Leo  X.  benannt 
wird,  geistig  seine  Eroberer,  bis  das  Übergewicht  Spaniens  auch  diesen 
Geist  beugt. 

In  diese  Zeit  der  beginnenden  „Barbarenherrschaft,  die  jeden  mit  Ekel 
MachiaTeiii.  erfüllt",  fällt  Machiavclls  vierzehnjährige  politische  Tätigkeit  im  Dienste 


H.  Italien  bis  zum  Ende  des   17.  Jahrhunderts.     III.  Die  Renaissance.  jgc 

der  floreiitini.schen  Republik;  aus  dieser  Barbaronherrschaft,  die  151  2  seinen 
Tatendrang  zur  Tatenlosigkeit  verurteilte,  erwächst  seine  Schriftstellerei: 
„Eine  lange  Erfahrung  der  modernen  und  ein  ununterbrochenes  Studium 
der  alten  Geschehnisse"  haben  ihm  die  „Kenntnis  der  Handlungen  der 
hervorragenden  Menschen"  gebracht.  Die  starke  Individualität  zieht  ihn 
an.    Seine  Geschichtsauffassung  ist  die  heroistische. 

Gewiß  ist  sein  Ideal  die  Republik  —  sein  hi.storisches  Ideal.  Er  ver- 
urteilt Cäsar.  Aber  gegenwärtig  gilt  es  vor  allem,  Italien  ein  Haupt  zu 
schaffen  und  es  von  der  Fremdherrschaft  zu  befreien.  Dieser  „Erlöser" 
muß  ein  Mann  von  rücksichtsloser  Tatkraft  sein,  wie  Cesare  Borgia,  den 
Machiavcll  aus  der  Nähe  gesehen,  den  er  als  Menschen  preisgibt,  dessen 
Tatkraft  er  aber  bewundert,  und  dessen  Scheitern  er  bedauert.  Er  ver- 
urteilt den  alten  Cäsar  in  seinen  „Reden  über  Livius"  und  .stellt  den 
modernen  Cesare  im  „Principe"  als  Beispiel  für  den  hin,  der  ein  neues 
italienisches  Prinzipat  gründen  wilL  Und  romanhaft  schildert  er  diesen 
kommenden  Mann  in  der  Gestalt  des  alten  Lucchesen  Castruccio.  Was 
Italien  fehlt,  ist  ein  Staat,  ein  Staat,  der  sich  auf  ein  Volksheer  stützen 
kann.  Der  Staat  aber  ist  das  Höchste.  Was  ihm  dient,  ist  gut,  weil  es 
nützlich  ist.  Das  Salut  publicjue  ist  das  oberste  Gesetz;  es  steht  über  Moral 
und  Religion.  Denn  Geschichte  und  Erfahrung  lehren,  daß  die  politischen 
Fragen  Machtfragen  und  nicht  Moralfragen  sind.  Mit  schneidender  vSchärfe 
und  rücksichtsloser  Aufrichtigkeit  legt  er  diese  naturalistische  Erkenntnis 
dar,  vor  der  andere  sich  gescheut  oder  verschlossen  hätten.  Er  verweist 
die  tugendreichen  Musterherrscher  ins  Reich  der  Träume.  Moralisches 
Handeln  eines  Staatengründers  sei  erwünscht,  unmoralisches  aber  zumeist  un- 
entbehrlich. Die  Menschen  waren  von  jeher  schlecht;  in  der  Welt  gibt's 
nur  Pöbel  {vulgo).  Wer  sie  zum  Staate  zwingen  will,  muß  Löwe  und 
Fuchs,  muß  ein  schönes  Raubtier  sein  und  zur  rechten  Zeit  {fortuna) 
kommen. 

Aus  Altertum  und  Gegenwart  baut  Machiavell  wie  ein  Künstler  die 
Welt  seines  Staats  nach  rein  irdischen  Gesichtspunkten  auf,  in  stählernen 
Perioden,  die  wie  scharf  geschliffene  Klingen  glänzen.  Die  Antike  — 
auch  er  kann  nicht  Griechisch  —  ist  in  ihm  lebendig,  aber  sie  bindet  ihn 
nicht     Er  ahmt  nicht  nach,  er  schafft. 

Seine    politischen    Lehren    haben    leidenschaftliche  weltliche    und 

kirchliche  —  Verurteilung  gefunden.  Sie  sind  aus  dem  Notstand  jener 
Zeit  zu  erklären.  Die  bedrängte  Vaterlandsliebe  hat  sie  dem  Geiste  der 
Aufklärung  geboren.  Machiavells  Stellung  im  politischen  Leben  war 
nicht  frei  von  Zweideutigkeit,  wie  die  Mirabeaus,  an  den  er  auch  durch 
die  Verbindung  von  Genußsucht  und  edlem  Schaflfungsdrang  erinnert 

Die  realistische  und  pragmatische  Betrachtungsweise  macht  Machiavell 
zum    trefflichen    Historiker.      Da    er  aber   auch    in    der    „Geschichte    von 
Florenz**,  die  er  in  amtlichem  Auftrage  etwas  rhetori.sch  schrieb,  Beispiele  r,i»,co;.rdi<ii 
für    seine    Theorien    suchte,    so    ist    er    nicht    so    verläßlich    wie    sein 


j86  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Freund,  der  Opportunist  Guicciardini,  der  leidenschaftslos,  mit  durch- 
dringendem Blick  die  politische  Katastrophe  seiner  Zeit  in  lebensvollem 
Bild  für  die  Nachwelt  festgehalten  hat,  schonungslos  die  eigene  und 
anderer  Handlungsweise  zergliedernd,  wie  hundert  Jahre  später  La  Roche- 
foucauld. Durch  die  Reden,  die  er  seinen  Helden  in  den  Mund  legt, 
gab    er   freilich  der  rhetorischen  Historiographie  ein  gefährliches  Beispiel. 

Der  durchdringende  Weltverstand  und  die  unerschrockene  Wahr- 
haftigkeit, mit  denen  diese  beiden  großen  Enttäuschten,  Machiavell  und 
Guicciardini,  die  Welt  des  politischen  Kampfes  ihrer  Zeit  darstellten,  hat 
diese  Welt  in  den  Ruf  besonderer  Schlechtigkeit  gebracht.  Sie  haben 
ihrer  Zeit  keine  Toilette  gemacht  und  dafür  hat  sie  in  der  Erinnerung  der 
Nachwelt  büßen  müssen,  denn  auch  auf  die  geschichtlichen  Epochen  läßt 
sich  das  Wort  anwenden,  daß  Klleider  Leute  machen.  Die  politische 
Moral  ist  zur  Zeit  der  Renaissance  kaum  verderbter  gewesen  als  sonst. 
Der  Kampf  um  die  Macht  war  in  den  wilden  Zeiten  von  besonderer 
Brutalität;  die  politische  Unmoral  ist  heute  wenigstens  humaner  geworden. 
CastigUone.  Ein  hervorragcndes  Kunstwerk  dialogischer  Prosa,  in  dem  sich  antike 

Form  zu  modernem  Leben  gestaltet,  ist  der  „Cortigiano"  des  Grafen 
CastigUone  (gedr.  1528).  Er  stellt  den  Principe  und  seinen  Hof  nicht 
—  wie  Machiavell  —  so  dar,  wie  sie  sind,  sondern  wie  sie  sein  sollten. 
Aus  der  eleganten  Welt  des  Hofes  zu  Urbino  heraus,  entwirft  er  ein 
Idealbild  jener  Gesellschaft,  wo  Cortigiani  und  Donne  di  palazzo  in 
universeller  Bildung  und  feinem  Anstand  wetteifern:  ein  graziöses  Spiel 
gegenüber  dem  furchtbaren  Ernst  der  Zeit,  der  aus  Machiavell  spricht. 
Diese  Zeit  spiegelt  sich  hier  nur  in  der  Vertrautheit  mit  französischen  und 
spanischen  Dingen,  in  Reden  von  Franz  L  und  Isabella  von  Castilien, 
von  spanischer  Feierlichkeit  und  französischer  Lebhaftigkeit,  in  den  Hi- 
spanismen  der  eleganten  Sprache.  Frankreich  gilt  dabei  noch  als  das 
Land  des  Rittertums,  das  literarische  Kultur  nicht  schätze.  Der  „Cortigiano" 
ist  das  internationale  Bildungsbuch  der  Romania. 

Stellt  er  die  höfische   italienische   Rede   der  Zeit   dar,   so   lebt  die 
toskanische    Lingua   parlata    in    dem    Buche,    in    welchem    Cellini    den 
Roman  eines  bewegten  Künstlerlebens  erzählt. 
Der  Der  Humanismus  wendet  sich  vom  Latein  immer  mehr  dem  Italienischen 

zu  —  mit  der  Bedingung  jedoch,  daß  die  ungebärdige  Fülle  der  Mutter- 
sprache sich  der  Regel  beuge.  Der  Wortführer  dieses  regelhaften 
Klassizismus  ist  Bembo,  Meister  lateinischer  und  italienischer  Eleganz 
und  aller  Nachahmung:  er  schreibt  nach  Cicero,  liebt  nach  Petrarca, 
plaudert  nach  Boccaccio.  In  den  Liebesdialogen,  die  er  Lucrezia  Borgia 
widmet,  vereinigt  er  Petrarkismus  imd  Piatonismus  in  der  Form  boccaccesker 
Erfindung  und  Sprache,  In  den  berühmten  Gesprächen  über  die  italienische 
Prosa  (gedr.  1525)  stellt  er  das  Toskanische  als  die  attische  Sprache  und 
den  archaischen,  latinisierenden  Ausdruck  Boccaccios  als  Muster  hin 
und    gibt    eine    grammatische    Skizze    des    Trecento.      Nicht    die    lebende 


Klassizismus 
utd  Purismus. 


IJ.  Italien  bis  zum  Ende  des  17.  Juluhumlcrti.     111.  Uic  Kcnaj^sancc 

Lingxja  parlata,  sondern  dit«  vornehme  Sprache  seiner  toten  Khissikcr  ist 
die  Xonn.  Diese  haben  die  itaUenische  Schriftsprache  in  Wortwahl  und 
Formenbau  festgelegt,  wie  einst  die  j»Toßen  Altiker  die  Reinheit  der 
griechischen  Schriftsprache  geschaffen  und  geschützt  haben.  iJembo  be- 
handelt das  Italienische  als  tote  Sprache,  wie  die  Alexandriner  das  ürie- 
clnsche.  Sein  Purismus  ist  alexandrinischen  Geistes.  Die  Dichtung  wird 
für  diesen  italienischen  Boileau  eine  Frage  der  Wohlanständigkeit  der 
Form  —  vor  Bembos  Forum  kann  Dantes  Commedia  nicht  bestehen. 

Der  große  Kampf,  den  Bembos  Lehre  entfachte,  verlief  zunächst  in 
dem  Wortstreit,  ob  die  Schriftsprache  florentinisch  oder  italienisch  zu 
nennen  sei.  Der  Lombarde  Trissino  veröffentlichte  1529  eine  Übersetzung 
des  verschollenen  „De  vulgari  elo(juentia"  Dantes,  dessen  Theorie 
gegen  die  Horentinischen  Ansprüche  geht,  während,  wie  Machiavell  schon 
1514  zeigte,  Dantes  Sprachpraxis  in  Wirklichkeit  florentinisch  war.  Den 
Finger  auf  Dantes  streitbarer  Schrift  fordert  Trissino  die  Italianitä 
(Nationalität)  der  Schriftsprache,  während  andere  sich  enger  an  Dantes 
Wort  vom  „Volgare  aulico"  halten  und  speziell  die  Fürstenhofe,  besonders 
die  Corte  romana,  als  sprachlich  maßgebend  erklären  {Lingua  cortigianä). 
So  wenig  diese  beiden  Theorien  sich  bei  der  Buntheit  ])rovinziellen  Sprach- 
gebrauchs auf  ein  bestimmtes  positives  Progfranmi  einigen  konnten,  so  einig 
waren  sie  im  Kampf  gegen  die  sprachlichen  Herrschaftsansprüche  des 
toskanischen  Dialekts.  Gegenüber  den  Bestrebungen,  die  Schriftsprache 
in  den  Grenzen  einer  städtischen  Mundart  zu  halten,  verlangen  sie  von 
ihr  Universalitä  und  Xobiltä  und  dieser  zentrifugalen  Bewegung  hat  Italien 
den  großen  Formenreichtum  seiner  poetischen  Sprache  zu  verdanken. 
Canteria  neben  cantercbbc  ist  provinziell  —  und  poetisch. 

Zu  den  Sprachregeln  des  Purismus  gesellten  sich  die  Regeln  der 
Poetik,  die  eine  ängstliche  und  spitzfindige  Philologenwissenschaft  aus 
Aristoteles  gewann.  Die  Übersetzung  seiner  Poetik  erschien  1548  zu 
Florenz  und  zum  ersten  Male  fügte  Castelvetro  1570  zur  Forderung  der 
dramatischen  Tageseinheit  die  Vorschrift  der  Einheit  des  Ortes.  Diese 
Theoretiker  kamen  eben  recht,  um  der  Sprachmeisterei  der  entstehenden 
Akademie  ^Crusca)  zu  helfen,  sich  den  Forderungen  einer  lebensvollen 
eigenen  Kunst  zu  verschließen.  Und  so  begab  es  sich,  daß  in  der  näm- 
lichen Zeit,  da  Malerei  und  Skulptur  zu  einer  herrlichen  Offenbarung  der 
Natur  wurden,  die  Dichtung  sich  dieser  Natur  verschloß.  Dort  Rafael  und 
Tizian,   hier  Bembo   und   Trissino.     Die    Philologie    siegte  über  die  Kunst 

Es  herrscht  über  die  reiche  Literatur  der  Folgezeit  das  Trecento 
und  die  Antike.  Spaniens  politische  Herrschaft  führt  freilich  seit  dem 
15.  Jahrhundert  zum  Import  seiner  Sprache,  seiner  Literatur  und  .seiner 
Literaten  nach  Neapel  und  dem  Rom  der  Borgia  und  dann  über  das  ganze 
Land;  doch  waren  bei  dieser  engen  Berührung  die  Spanier  viel  mehr  die 
Empfangenden.  Ihr  Guthaben  beschränkt  sich  auf  die  höfische  Sprache, 
die  sie   mit  Modewörtern   .stark    durchsetzten,   auf  den    Ritterroman,   für 


i88  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

den  sie  mit  ihrem  „Amadis"  auch  den  Italienern  das  Beispiel  gaben, 
und  auf  eine  wortreiche  Moralliteratur.  Rasch  erlosch  das  vom 
Ketzer  Juan  de  Valdes  in  Italien  entzündete  Licht,  das  mit  so  viel 
Jubel  von  den  Besten  begrüßt  worden  war.  Was  Frankreich  im  Cinque- 
cento Italien  bot,  beschränkt  sich  auf  die  Vermittelung  protestantischer 
Gedanken.  — 
Die  NoveUe.  Die    XoveUenbücher,    die  auf  der   Spur  des  Dekameron  entstehen, 

sind  Sitten-  und  quellengeschichtlich  bedeutsam.  Aber  Boccaccios  Kunst 
ist  nicht  in  ihnen,  um  über  die  Anstößigkeit  hinwegzuhelfen  und  sein 
Humor  macht  der  Satire  Platz.  Fabeleien  aus  der  Welt  von  looi  Nacht 
dringen  durch  mündliche  Überlieferung  von  Orientfahrern  in  Strapa- 
rolas  „Lustige  Nächte"  (1550)  und  machen  sie  zum  ältesten  Märchenbuch 
des  Okzidents. 
Die  Lyrik.  In  der  endlosen  Reihe  von  Lyrikern,  die  nach  Petrarca  oder  seinem 

Herold  Bembo  elegante  oder  verkünstelte  Sonette  und  Kanzonen  bauen, 
offenbart  sich  viel  Formtalent.  Man  hört  wohl  die  Botschaft  der  Liebe, 
aber  es  fehlt  dem  Leser  der  Glaube.  Das  Konventionelle  erstickt  zu- 
meist die  Intimität  auch  in  den  Liebesliedern  Tassos.  Doch  finden 
Tansillo  und  Vittoria  Colonna  eigene  Klänge.  Auf  seine  Skizzen- 
blätter schreibt  Michelangelo  Verse,  in  denen  der  große  Gestalter  wie 
ein  Dilettant  sich  müht,  die  Sprachmaterie  zu  meistern  und  Petrarcas 
Form  zu  Danteschen  Gedanken  zu  zwingen.  Petrarca  leitete  auch  die, 
welche  einen  frommen  Gesang  anstimmten  oder  ein  politisches  Lied 
dichteten,  das  wirklich  oft  ein  garstig  Lied  ist,  da  es  sich  meist  vom 
Vaterlande  ab-,  dem  Fremden  zuwendet. 

Auf  dem  Gebiete  mehr  verstandesmäßiger  Dichtung,  wie  der  Epistel 
und  des  ländlichen  Lehrgedichts  fanden  Horaz  und  Vergil  glückliche 
Nachahmer.  Der  Hellenist  Trissino  gibt  Lehre  und  Beispiel  für  Imitation 
der  Griechen.  Er  schreibt  Oden  nach  Pindar,  die  erste  „klassische" 
Epos  Tragödie  (Sophonisbe  15 15)  nach  Euripides  und  Sophokles  und  das  erste 
und  Tragödie,  ^^kiassische"  Epos  (Das  von  den  Goten  befreite  Italien,  1547)  nach  Homer. 
Aber  von  Trissinos  Neuerungen  hat  nur  eine:  der  reimlose  Zehnsilbler,  in 
den  er  den  Rhythmus  des  antiken  Trimeter  gießen  wollte,  Bestand.  Man 
kehrte  zur  billigeren  Nachahmung  der  neu  entdeckten  Anakreonteia,  der 
horazischen  Ode  und  der  Aeneis  zurück,  und  das  Lateinertum  siegt  end- 
gültig über  den  schwächlichen  Hellenismus.  Die  Tragödien  Senecas  mit 
ihren  Schrecklichkeiten  und  ihrer  sentenziösen  Rhetorik  blieben  vorbild- 
lich. Giraldi  füllte  ihren  blutigen  Rahmen  mit  verwickelten  romanhaften 
Intrigen,  welche  die  dramatischen  Einheiten  und  den  Chor  gefährdeten. 
Giraldi  ist  der  Corneille  der  Italiener.  —  Die  lange  Reihe  der  Renaissance- 
tragödien mit  ihren  antiken  oder  modernen  Greueln  und  ihren  moralischen 
Gemeinplätzen  ist  dem  Fluche  der  Nachahmung  erlegen.  Nicht  eine 
Schöpfung  ist  gelungen,  doch  erklingt  gelegentlich  ein  schönes  Chorlied 
(Tasso)    oder   fesselt    eine    Leidenschaftsszene    wie   in   Aretins  Horatiern. 


B.  Italien  bis  zum  fclndc  des   17.  Jahrhunderts.     111.  Die  Renaissance.  jgg 

Einzelne  Stücke  entfes.seln  leidenschaftliche  literarische  Fehden,   in   denen 
beide  Parteien  sich  auf  Aristoteles  berufen. 

Mit  mehr  Kunst  als  Ariost  fügen  andere  das  Leben  des  derben  und  i>io  KomMi«. 
anstößigen  Schwankes  oder  der  romantischen  Novelle  in  den  Rahmen  der 
alten  Intrigenkomüdie  mit  ihren  fuhrenden  Dienerrollen,  mit  ihren  lösen- 
den Hrkennungszenen  an  der  Straßenecke,  und  befreiten  sich  von  der  Fes.sel 
des  Verses,  so  Aretino  und  besonders  Machiavell,  dessen  Wirkhchkeits- 
sinn  in  der  „Mandragola"  (Liebestrank,  gegen  1520)  gei.stliche  und  welt- 
liche Schwankfiguren  zu  individuellen  Charakteren  gestaltet  hat,  wie  es 
keinem  anderen  der  vielen  Nachfolger  mehr  gelang.  Überreich  ist  die 
Zahl  dieser  Renaissancelustspiele,  die  für  die  übrigen  Länder  vorbildlich 
geworden  sind.  Zu  den  ältesten  und  erfolgreichsten  gehört  die  „Komödie 
der  Irrungen",  die  „Ingannati"  (1531)»  ^^^^  ^^^  Nachbildungen  der 
„Menaechmi",  die  auch  an  der  Spitze  des  französischen  (1543),  des  spa- 
nischen (1567)  und  des  englischen  Lustspiels  stehen.  Manche  „Commedie** 
weisen  tragische  Züge  auf  und  beanspruchen  ausdrücklich  das  Recht, 
Tränen  und  Lachen  zu  mischen.  In  prunkhaften  Aufführungen  über- 
wuchern musikalische  und  pantomimische  Intermezzi  die  traditionelle 
Haupthandlung.  Es  entwickeln  sich  nach  dem  Vorgange  der  antiken 
Komödie  gewisse  Typen:  der  Parasit,  der  schulmeisterliche  Pedant,  der 
einfaltige  Rechtsdoktor  und  besonders  der  prahlerische  Offizier  {Capitano) 
—  die  Karikatur  jener  Soldateska,  deren  spanische  Exemplare  dem  Italiener 
am  läng-sten  unbequem  waren. 

Neben    der   Komödie    bestand   die   volkstümliche  Posse   {Farsa).     Die        i-'^r,,, 
Kosten  ihres  Lachens  trug  der  Bauer  {Contadino).  Der  städtische  Charakter  "'',/,;^l'^  *" 
der     italienischen    Kultur    .spricht    sich    eben    auch    darin    aus,     daß    der 
„dumme  Bauer"  mit  der  Mundart  seines  Dorfes  viel  öfter  und  nachdrück- 
licher als  in  Frankreich  Gegenstand  der  dramatischen  Komik   ist  und  der 
Städter  mit  Vorliebe  an  solch  „ländlicher  Farce"  sich  vergnügt 

Es  ist  kaum  zu  verstehen,  daß  diese  städtische  Gesellschaft  während 
des  Mittelalters  kein  weltliches  Theater  gehabt  haben  soll.  Doch  ist  vor 
dem  ausgehenden  15.  Jahrhundert  in  Italien  keine  sichere  Spur  einer  pro- 
fanen Bühne  zu  entdecken,  die  mehr  als  das  Einzelspiel  der  fahrenden 
„Giullari"  geboten  hätte.  Erst  seit  1450  erscheint  die  Farsa  in  Florenz, 
Neapel,  Siena;  sie  erscheint  als  Ableger  der  schwindenden  Sacra  rappre- 
sentazione.  Sie  ist,  wie  in  Frankreich,  die  selbständig  gewordene  Possen- 
einlage der  Mysterienbühne. 

Ihr  vornehmster  Vertreter  ist  der  hochbegabte  Ruzzante  aus  Padua 
(f  1542),  der  erste  italienische  Berufsdramatiker,  zugleich  Leiter  einer  Truppe 
paduanischcr  Schauspieler.  Denn  nun  entsteht  mit  der  Farsa  die  Schau- 
spielertruppe, die  von  Stadt  zu  Stadt  nach  festlichen  Gelegenheiten 
wandert  Es  sieht  der  Rat  von  Venedig  mit  Sorge  ihre  anstößige  Lust- 
barkeit bei  öffentlichen  und  privaten  Festen  einziehen  und  verbietet  solche 
neue  Unterhaltung   1508   —   erfolglos. 


IQO 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Diese  Farsa  fing  an,  literarische  Elemente  aufzunehmen.  Sie  fügte 
in  oberitalienischen  Städten  zu  ihrer  eigenen  typischen  Figur  des  bäuer- 
lichen Lastträgers  Zane  (Johann)  oder  Brighella,  der  den  Dialekt  seiner 
bergamaskischen  Berge  spricht,  die  Typen  der  Renaissancekomödie.  Sie 
formte  den  Zane  nach  den  Dienerfiguren  dieser  Komödie  und  gesellte 
ihm  den  Pedanten,  den  Dottore,  den  Capitano  bei.  So  entstand  in  der 
ersten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  ein  neues,  aus  volkstümlichen  und 
humanistischen  Elementen  gemischtes  Possenspiel.  Jeder  seiner  Schau- 
spieler beschränkte  sich  auf  eine  dieser  typischen  Rollen  und  führte  so 
mit  seinen  Kollegen  berufsmäßig  diese  Schwanke  {Commedia  delV  arte 
=  Berufskomödie)  auf,  für  die  nur  eine  Szenen skizze  {Scenario)  bestand, 
deren  Dialog  und  deren  clownartiges  Spiel  aber  improvisiert  wurden.  Und 
dieser  verachtete  Ableger  ward  die  lebensvollste  Schöpfung  der  Renaissance- 
dramatik. Fahrende  Truppen  dieser  Berufsschauspieler  begründeten  die 
ersten  städtischen  Bühnen,  über  welche  verderbliche  Neuerung  z.  B.  der 
Erzbischof  von  Bologna  schon  1568  klagt,  da  dreimal  in  der  Woche 
öffentlich  „Commedie  de  Zani"  aufgeführt  werden.  Komische  Typen 
anderer  Städte,  wie  Pulcinella  aus  Neapel  (seit  1600)  gesellten  sich  später 
zu  Brighella  und  machten  den  Siegeszug  mit,  der  die  italienischen  Berufs- 
schauspieler mit  ihrer  Stegreifkomödie  vom  16.— 18.  Jahrhundert  durch  das 
römische  und  germanische  Europa  führte. 
Romantisches  Dcu    Versuch,    die    Sacra  rappresentazione    noch    mehr    der    Profan- 

Drama  nnd    (Dramatik  ZU  nahem  und  sie  in  deren  äußere  Form,  mit  Akten  und  Verso 

Pastorale. 

sciolto,  zu  gießen,  unternimmt  der  fruchtbare  Cecchi.  Schließlich  gelangt 
er  zur  Formulierung  eines  zwischen  Tragödie  und  Komödie  liegenden, 
beider  Freiheiten  vereinigenden  romantischen  Schauspiels  (La  Romanesca, 
1585);  doch  fand  er  für  dieses  Unternehmen  der  sog.  Tragikomödie 
keine  Nachfolge. 

Das  weite  Gebiet  des  romantischen  Dramas  war  von  der  Pastorale 
mit  Beschlag  belegt.  Während  die  biblischen  Hirten  in  der  Rappresen- 
tazione mit  der  Zeit  zu  Possenfiguren  {Contadini)  geworden,  ließ  die 
Renaissance  den  heidnischen  Hirten  der  römischen  Eklogen  höfische  Ehren 
zuteil  werden.  Aus  dem  einfachen  Schäferdialog  entwickelte  sich  seit 
1500  das  Schäferdrama.  Die  üblichen  Lustspielintrigen  wurden  darin 
ländlich  zugerüstet  oder  der  Moderoman  lieferte  eine  bimte  Handlung, 
in  der  die  höfische  Welt  ihre  romantischen  Herzensgeschichten  spiegelte. 
Der  elegante  Stoff  führte  zu  feiner  Form;  man  entlehnte  von  der  vor- 
nehmen Tragödie  Chor  und  Zeiteinheit.  Tasso  hat  in  den  fünf  kurzen 
Akten  und  Chören  seiner  Favola  boschereggia  „Aminta"  (1573)  den  Sieg 
Amors  über  eine  widerspenstige  Hirtin  vor  dem  ferrarischen  Hofe  dia- 
logisiert und  ein  lyrisches  Kunstwerk  geschaffen,  dessen  hellenische  An- 
mut in  Sprache  und  Stimmung  kein  anderer  erreicht  hat.  Aber  maß- 
gebend für  die  Folgezeit  blieb  die  reicher  und  üppiger  gestaltete  Tragi- 
commedia  vom  „Pastor  fido"  seines  Nachfolgers  Guarini  (1590),   der   die 


H.  Italien  bis  zum  Kndc  des   17.  Jahrhunderts.     111.  Die  Rcnu.,. ,yj 

halb  hfidnisrhc  und  halb  christliche  Hirtcnwclt  Arkadiens  mit  ihren 
Priestern  und  Satyni,  mit  ihren  Spielen  und  ihr«'m  Echo  kunstreich  dra- 
matisiert und  die  Mischung-  von  1  ra^rik  und  Scher/,  in  «iner  Abhandlung 
„Della  poesia  tragicomica"  als  ein  Recht  freier  Kunst  verteidigt.  Den: 
„Pastor  tido"  hat,  wie  der  „Arcadia"  Sannazaros,  ganz  Europa  gehuldigt. 
Die  Zeit  fand  ein  Gefallen  daran,  aus  der  Kompliziertheit  der  Kultur  in 
Arkadiens  ursprünglichere  Zustände  zu  flüchten,  zu  jenem  freieren  Leben 
des  Herzens  und  der  Sinne,  das  man  sich  wünschte. 

\'on  den  Wegen,  welche  die  Renaissancedrainatik  betrat,  um  neben 
dem  Trauerspiel  und  dem  Lustspiel  ein  modernes  Schauspiel  (Tragikomödie) 
zu  schaffen,  hat  nur  dieser  Erfolg  gehabt.  Im  romantischen  Hirtendrama 
hat  die  Renaissancedramatik  ihr  Kunstvollstes  geschaffen;  ilir  Wirkungs- 
vollstes aber  in  der  Stegreifkomödie. 

Die  korrekte  Eleganz  der  lateinischen  Poe.sie  und  die  höfische  Fein-  i>ie  Buru-k» 
heit  der  italienischen  Dichtung  fand  auch  ihre  Parodie,  Jenes  mit  Wörtern 
und  Wendungen  der  \'ulgärs])rache  durchsetzte  Scherzlatein,  das  in  Italien 
immer  bestanden  hat,  erhält  jetzt  kunstmäßige  Pflege  als  maccheronisches 
d.i.  Schlemmer-I^itein.  Ks  dient  zur  Verspottung  der  Schäferei,  des  Petrar- 
kismus  und  des  romantischen  Epos,  das  Folengo,  als  ein  \'orläufer  des 
Cervantes,  schon  seit  1517  parodierte.  Xeben  der  Etikette  der  modi.schen 
Dichtung  schufen  sich  Viele  Kurzweil  mit  Versen,  in  denen  „nicht  die 
Amsel  Bembo  schwatzt  und  nicht  der  Rabe  Petrarca  krächzt".  Gewandte 
Versemacher  benutzten  deren  Formen  und  Mittel,  um  burlesk  das  Alltäg- 
liche und  Häßliche  zu  besingen:  den  Kilse,  den  Nachttopf,  Pe.st  und  Gicht 
Der  Toskaner  Berni  hat  dieser  humorvollen,  oft  aber  auch  gemeinen 
Dichtung  den  Namen  gegeben  {brrnrscn).  Sein  Nachfolger  Caporali  hat 
sie  mit  mehr  Grazie  gehandhabt  und  mit  seinen  heiteren  Berichten  vom 
Parnaß  eine  Form  geschaffen,  welche  Spanien  und  Frankreich  nachahmten, 
um  den  Dichtern  Huldigung  darzubringen  oder  Spott  nachzurufen. 

Doch  der  bedeutendste  Vertreter  des  Geistes  der  Aufleiinung  gegen  i 
den  Klassizismus  ist  Pietro  Aretino  (7  1556).  Er  verfügt  über  alle  Töne, 
aber  der  bis  zur  Frechheit  ungebundene  liegt  ihm  am  besten.  Er  huldigt 
Bembo  und  Trissino  und  verwirft  doch  jede  Autorität;  er  verhöhnt  die 
Poesia  bemesca  und  ahmt  sie  doch  nach.  Er  tadelt  die  parfümierten  Wort- 
spielereien und  ist  ihr  Virtuos.  „Die  Fröhlichkeit",  so  schreibt  er  zum 
Beispiel,  „hielt  glanzvoll  Hof  im  Saale  seiner  Brust,  und  sein  Herz  tanzte 
auf  der  Hochzeit,  die  sein  Glaube  mit  meiner  Lüge  feierte."  Er  bildet 
den  vollendeten  Gegensatz  zu  allem,  was  regelhaft  ist  und  imponieren 
will.  Nieder  mit  dem  Respekt!  ist  gleichsam  seine  Devise.  Der  Srhuster- 
sohn  von  Arezzo  sendet  unter  dem  Schutze  der  Republik  von  San  Marco 
seine  Leitartikel  (Briefe,  gedr.  1537 — 1557)  an  die  Mächtigsten  der  Erde  ala 
der  erste  Journalist.  In  dieser  Welt  der  philologi.schen  Vielwi.sser  gründet 
er,  der  Ignorant,  sich  einen  Prinzipat  mit  den  Mitteln  des  machiavellischen 
Principe:  den  Prinzipat  des  Genies.     Göttlich  nennt  er  sich  selbst  in  seinem 


192 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Übermut  und  bestialisch  seine  Arbeitskraft.  Zwischen  divino  und  bestiale 
schwankt  sein  Wesen  und  seine  Scliriftstellerei.  Er  ist  als  Schmeichler 
wie  als  Verleumder  gemein;  aber  er  hat  ein  wunderbares  Gefühl  für  alle 
natürliche  und  freie  Schönheit  und  eine  Sprache  von  überreicher  Fülle, 
um  es  auszusprechen.  Mit  der  Phantasie  des  Pomographen  verleumdet  er 
Michelangelo,  und  eine  Lebensfreundschaft  verbindet  ihn  mit  Tizian.  Wie 
die  Romantiker  nimmt  er  die  Fachausdrücke  des  Atelier  in  die  literarische 
Kritik  herüber  und  verlangt  er  vom  literarischen  Kunstwerk  malerische 
Qualitäten.  Gegen  das  Grundübel  der  Renaissanceliteratur,  gegen  die  Nach- 
ahmung, kämpft  er  als  „Sekretär  der  Natur",  mit  Worten,  die  kein  Moderner 
besser  gefunden  hat.  Er  vertritt  die  Lehre  von  der  Freiheit  und  vom  Fort- 
schritt: W'ir  seien  künstlerisch  weiter  als  die  Antike.  Griechisch-  und 
Lateinsprechen  sei  überhaupt  kein  Requisit  der  Bildung.  Er  spricht  wie 
ein  Parvenü.  Aber  das  große  freie  Werk  der  Poesie,  das  er  zu  schaffen 
träumte,  blieb  ungeschaffen,  da  seine  Kraft  am  Frondienste  des  Wohllebens 
in  journalistischer  Kleinarbeit  hängen  blieb.  Auf  der  Höhe  selbsterworbener 
Machtstellung  rühmt  er  sich,  der  Erlöser  der  Literaten  zu  sein,  die  er  aus 
der  Hölle  höfischer  Knechtschaft  befreit  habe. 

Lidem  die  Renaissance  sich  zum  Klassizismus  wandte,  ward  sie  dem 
Grundsatz  der  individuellen  Freiheit  untreu ;  da  entstand  ihr  in  der  genialischen 
Individualität  des  Aretin  ein  romantischer  Gegner.  Aber  die  Zeit  des 
Tridentiner  Konzils  w^ar  nicht  dazu  angetan,  die  Freiheit  des  Dichters  zu 
schützen;  das  zeigt  das  Schicksal  Tassos. 
T.Tasso.  Tasso,  der  epische,  lyrische  und  dramatische  Werke  geschrieben  hat, 

ist  weder  ein  Epiker,  noch  ein  Dramatiker,  sondern  ein  großer  Lyriker, 
und  sein  wunderbares  Formtalent  macht  ihn  auch  zum  eleganten  Prosaiker. 
Die  Geisteskrankheit  (Verfolgungswahn)  hat  bei  ihm,  so  wenig  wie  bei 
Rousseau,  die  künstlerische  Ausdrucksfähigkeit  vernichtet.  Er  ist  auch  im 
Irrenhause  Poet  und  feinsinniger  Essayist.  Sein  Schönstes,  „Aminta"  und 
„Gerusalemme"  (1565 — 1575),  gehört  freilich  der  gesunden  Zeit  an,  doch 
hat  er  später  ergreifende  „Rime"  für  sein  Unglück  gefunden.  Auch 
posthume  Tragik  verfolgt  ihn:  an  Stelle  des  von  den  Poeten  idealisierten 
Tasso  der  Legende  hat  die  Forschung  einen  kleinen  charakterlosen  Menschen 
gestellt,  dessen  Schwachheiten  die  psychische  Entartung  entschuldigen  mag. 
Früh  gaben  ihm  Zeitläufte  und  Erziehung  den  Gedanken  ein,  die  ruhm- 
reiche Geschichte  des  ersten  Kreuzzuges  in  einem  Epos  zu  besingen.  Auf 
Trissino  sich  stützend  und  mit  Ariost  wetteifernd,  unternahm  er  es,  den 
universalgeschichtlichen  Stoff  mit  der  Poesie  der  Fabelwelt  zu  verklären 
und  in  diese  Kombination  von  Wahrheit  und  Dichtung  die  strenge  Ein- 
heit des  klassischen  Heldengedichts  zu  bringen,  Vergil  noch  eifriger 
folgend  als  Homer.  Auf  diese  Weise  ist  ein  Gedicht  entstanden,  das  nicht 
durch  große  und  freie  epische  Kunst,  sondern  durch  lyrische  Eigenschaften 
glänzt,  dessen  Helden  aus  elegischen  und  idyllischen  Episoden  ihr  Leben 
ziehen,    und   dessen  Stanzen    auch    da   noch   wunderbar   klingen,    wo   ihre 


H.   Italien  bis  zum   Kndc  des   17.  Jahrliundcrts.     l\  .  luhciis  Niederyang,  jg« 

antithetische  Ziererei  unleidlich  ist.  Auf  die  poetische  Hilfe  der  heid- 
nischen Mythologie  verzichtet  Tasso.  In  diesem  einen  Punkte  weicht  er 
als  Christ  von  der  Poetik  des  Aristoteles  ab,  zu  der  er  sich  in  seinen 
„Discorsi"  weitläufig  bekennt 

Als  das  Epos  im  Manuskript  vollciulet  war,  da  verband  sich  der  (ieist 
der  Crusca  mit  dem  Geiste  der  Cicgenreformation,  um  den  kranken  Dichter 
zu  rastlosen  Änderungen  zu  drängen,  die  der  Allegorie,  der  Regelhaftig- 
keit  und  der  Geziertheit  zustatten  kamen  und  die  „Gerusalemme  liberata" 
in  unsicherem  Flusse  erhielten,  bis  sie  endlich  in  der  klassischen,  d.  h- 
korrekteren  „Gerusalemme  conquistata"  (159.?)  erstarrte.  So  quälte  das 
kranke  Land  seinen  kranken  Dichter.  Der  griff  zu  der  Schöpfungswoche 
des  Franzosen  Dubartas  und  schrieb  nach  ihr  „II  mondo  creato". 

Seit  zwei  Jahrhunderten  hatte  Italien  sich  von  Frankreich  literarisch 
emanzipiert,  und  nun  sollte  das  glanzvolle  Cinquecento  nicht  zu  Ende 
gehen,  ohne  daß  der  letzte  Große  wieder  seine  Hand  nach  einem  franzö- 
sischen Vorbilde  ausstreckte,  gleichsam  zum  Zeichen,  daß  Italiens  Zeit  vor- 
über sei  und  Frankreichs  Stunde  wieder  nahe.  — 

Die  individualistische  Renaissance  endete  im  autoritären  Klassizismus. 

Zu  der  nämlichen  Zeit,  da  die  Herrschaft  der  Logik  des  Aristoteles 
gestürzt  wurde,  bestieg  seine  Poetik  den  Thron.  Zur  griechischen  Theorie 
gesellte  sich  die  römische  mit  Horazens  „Ars  poetica"  und  auch  die 
römische  Praxis  mit  Cicero,  Vergil  und  Seneca.  Ihr  Schönstes  hat  die 
Renaissance  gegeben,  ehe  sie  in  diese  Fesseln  geschlagen  war  und  ehe  die 
Autorität  des  Trecento  Italien  jene  archaische  Buchsprache  aufgezwungen 
hatte,  die  vor  allem  dazu  beitragen  sollte,  den  Bruch,  den  der  Humanismus 
der  nationalen  Bildung  gebracht,  zu  besiegeln  und  die  Literatur  auf  Jahr- 
hunderte vom  Volke  zu  trennen.  „Unsere  Sprache",  wird  Foscolo  einst  im 
Unmute  sagen,  „unsere  Sprache  ist  nie  wirklich  gesprochen  worden." 

Damit  lebte  der  sprachliche  Munizipalismus  wieder  auf.  Es  ent- 
wickelte sich  eine  kräftige  mundartliche  Literatur.  D:us  Land  der  Renais- 
sance ist  bis  heute  auch  das  Land  der  lebendigen  Dialektpoesie  geblieben. 

IV.  Italiens  Niedergang.  Die  Zersplitterung  der  Kräfte,  welche 
munizipale  Selbständigkeit  und  intensive  städtische  Kultur  Italien  gebracht 
hatten,  machten  das  ungeeinte  Land  zur  Beute  der  P'remden.  Aus  den 
italienischen  Feldzügen  der  Deutschen,  Franzosen  und  Spanier  gingen  um 
die  Mitte  des  16.  Jahrhunderts  die  Spanier  als  Sieger  hervor.  Mailand 
und  Neapel,  Sizilien  und  Sardinien  blieben  ihnen  verfallen:  sie  waren,  wie 
Tassoni  sagt,  von  fremdem  Hochmut  zertreten  und  verbarbart  {imlnirbariti). 
Durch  zahllose  politische  Traktate  und  Lieder  „AH'  Italia"  schallt  die 
Klage  über  iberische  Anmaßung  und  Gier  und  ertönt  d«'r  Ruf  nach  der 
kraftvollen  Hand  eines  einheimischen  Fürsten. 

Zur  |X)litischen  Knechtung  gesellte  sich  der  geistige  Zwang  im  Ge- 
folge des  Tridentiner  Konzils    und   der  Gegenrefommtion.     Der   freie   Ge- 

Dw  KctTtn  on  GaoDnrA«T.    Li».  1.  |j 


194 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


danke  wird  verfolgt  und  unterdrückt;  die  Schöpfungen  der  Renaissance 
auf  den  neuen  Index  gesetzt  oder  von  geistlicher  Hand  gestutzt,  und  kirch- 
liche Rücksichten  vielmehr  als  sittliche  leiteten  diese  in  ihrer  Planlosigkeit 
klägliche  Arbeit. 

Es  blühen  die  Akademien  und  die  von  ihnen  kodifizierte  literarische 
Nachahmung.  Besonders  ist  es  die  Akademie  der  Crusca  zu  Florenz,  die 
den  Geist  der  Unfreiheit  vertritt  und  über  den  Regeln  des  Klassizismus 
imd  der  sprachlichen  Tradition  des  Trecento  wacht.  Der  akademische 
Purismus  fördert  die  Verarmung  der  Schriftsprache  und  trägt  dazu  bei, 
daß  der  Dichter  für  den  begrenzten  Wortbestand  immer  neue  Mätzchen 
metaphorischer  und  antithetischer  Verwendung  sucht  und  so  der  Petrarkis- 
mus  zur  unerträglichen  Künstelei  gesteigert  wird.  Die  akademische  Gering- 
schätzung Dantes,  der  der  Barbarei  geziehen  wird,  ist  die  Begleiterin  dieser 
Ziererei  des  „Secento"  („Secentismo"). 
Epos.  Ein  Schulbild   dieser  Entwickelung   bietet   das  Epos.     In   zahlreichen 

Heldengedichten  ahmt  man  Tasso  nach  —  man  richtet  sich  nach  den 
Theorien  seiner  „Discorsi"  und  der  Praxis  seiner  „ Gerusalemme ".  Mal- 
miginati  besingt  Heinrich  IV.  von  Frankreich  („Enrico",  1623)  für  dessen 
Sohn  Ludwig  XIII.  und  wird  nur  noch  deswegen  genannt,  weil  hundert  Jahre 
später  der  Dichter  der  Henriade  vielleicht  aus  ihm  schöpfte.  Der  phantasie- 
Marini.  vollste  uud  begabteste  dieser  Verskünstler  ist  Marini,  ein  höfischer  Aben- 
teurer aus  Neapel,  den  literarische  Wanderjahre  über  Rom  und  Turin 
nach  Paris  (161 5)  führten,  wo  er  am  Hofe  der  Maria  von  Medici  den 
klingenden  Lohn  für  langjährige  poetische  Schmeichelei  erntete.  Er  hat 
indessen  keine  Beziehung  zum  Hotel  Rambouillet.  In  Paris  vollendete 
und  druckte  er  die  20  Gesänge  seines  „Adone"  (1623),  in  denen  er  um 
die  „magere  Geschichte"  von  Venus  und  Adonis  eine  FüUe  von  Episoden 
gruppierte  und  so  ein  Gebilde  schuf,  das  eine  Art  mythologischen  Romans 
in  Oktaven  ist,  und  das  er  selbst  nicht  schlechthin  ein  Heldengedicht  zu 
nennen  wagte.  Es  sollte  etwas  Neues  sein,  wobei  ihn  üppige  Vorbilder 
aus  alexandrinischer  Zeit  leiteten.  Marini  stellt  es  selbst  als  das  Ziel  des 
guten  Dichters  hin,  Staunen  zu  erregen.  Im  Streben,  mit  etwas  Neuem 
zu  verblüffen,  nimmt  er  es  mit  den  Regeln  der  Alten  leicht,  „die  man  zur 
rechten  Zeit  verletzen"  darf  Er  fürchtet  die  Kritik  der  Akademiker,  aber 
er  verlangt  nach  der  Gunst  des  Publikums.  Dieses  zum  Staunen  zu  zwingen, 
zwingt  er  seine  Muse  zur  Grimasse.  Der  elegante  Verskünstler  wird  im 
„Adonis"  zum  Virtuosen  der  Metapher,  der  Hyperbel,  der  x\ntithese,  des 
Wortspiels,  die  er  maßlos  häuft.  In  der  Form-  und  Gedankenspielerei 
dieser  „Concetti",  unter  deren  Flittergold  das  Dichterische  verschwindet, 
ist  er  unerreicht.  Im  „Adonis"  sind  alle  Künsteleien  des  italienischen 
Petrarkismus  zusammengeflossen.  An  ihn  denkt,  wer  von  der  unerträg- 
lichen Manieriertheit  des  „Secentismo"  spricht.  Er  verkörpert  sie  so  sehr, 
daß  sie  wohl  auch  nach  seinem  Verfasser  benannt  wird  (Marinismo),  was 
dazu   geführt   hat,   daß  man  Marinis  Bedeutung   überschätzte.     Marini  hat 


D.  Italien  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrhunderts      IV.  Italiens  Niedergang.  ige 

nichts   geschaffen;    er   hat    nur   nachgeahmt  —  sogar   die  Kün.steleien  des 
Marinismo. 

Natürlich  fehlt  in  dieser  Zeit  der  epischen  Überproduktion  nicht  der 
Schalk,  der  mit  komischem  Ernst  oder  mit  offenem  Spott  die  Welt  des 
antiken  und  modernen  Epos  parodiert  oder  travestiert  und  so  dem  Lachen 
des  Lesers  überliefert.  Tassoni  besingt  den  „memorando  sdegno",  der 
zwischen  Bologna  und  Modena  nicht  um  einer  geraubten  Helena,  sondern 
um  eines  geraubten  Eimers  willen  entbrannte  {Secchia  rapita,  Paris,  1622), 
und  an  dem  sich  die  Götter  Homers  in  burle.sker  Haltung  beteiligten. 
Andere  nehmen  diese  Götterwelt  noch  schärfer  vor  oder  travestieren  die 
Aneis. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  die  beiden  t^^Dischen  Werke  des  Marinismus 
und  der  Burleske  „Adone"  und  „Secchia  rapita"  zu  Paris  erschienen.  Nach 
Paris  und  seinen  preziösen  Kreisen  richten  sich  Italiens  Blicke. 

In  der  Lyrik  blieb  der  Petrarkismus  herrschend  trotz  des  Wider-  Lyrik. 
Spruchs  und  des  Spottes  zeitgenössischer  Kritiker  und  trotz  der  Versuche 
Chiabreras  und  anderer,  nach  dem  Beispiel  der  französischen  Plejade 
der  Form  und  dem  Gedankengang  der  griechischen  Lyrik  zu  folgen.  Xur 
die  patriotische  Klage  über  die  Schmach  des  Vaterlandes  bringt  tiefe 
eigene  Töne  und  zeigt  freieren  Flug.  Auch  das  Geplauder  satirischer 
Episteln  mag  erfreuen. 

Typisch  für  Stimmung  und  Kunst  der  Gegenreformation  sind  die 
15  Gesänge  Tansillos  (f  1586)  von  den  „Tränen  des  heiligen  Petrus«: 
eine  endlose,  gezierte  Amplifikation  des  schlichten  „er  ging  hinaus  und 
weinete  bitterlich".  Italien  trauert  gleichsam  über  die  Sünden  der  Renais- 
sance mit  der  Pose  dieses  wortreichen  Petrus,  und  Frankreich  und  Spanien 
hörten  bewundernd  zu  und  nahmen  Wort  und  Weise  auf 

Das  17.  Jahrhundert  sollte  Spanien  und  Frankreich  inmitten  einer  i>ramaok. 
reichen  literarischen  Blüte  auch  die  volle  Entfaltung  reifer  dramatischer 
Kunst  mit  unvergänglichen  Meisterwerken  der  Bühne  bringen.  Solcher 
Meisterwerke  entbehrt  das  gleichzeitige  Italien.  Als  nach  1600  die  Reife- 
zeit der  romanischen  Dramatik  gekommen  war,  schienen  die  Kräfte  des 
Landes  erschöpft  zu  sein.  Die  Kunst  der  antikisierenden  Tragödie  und 
Komödie  versagt  gänzlich.  Stofflich  wird  die  dramatische  Arbeit  stark 
von  Spanien,  besonders  von  Lope,  abhängig. 

Zwei  sekundäre  Formen  der  Renaissancedramatik  dominieren  in  Italien 
und  setzen  ihren  Siegeszug  durch  Europa  fort:  die  Stegreifposse  und 
das  Hirtendrama. 

Dieses  Hirtendrama,  das  sich  in  der  Nachahmung  Tassos  und  Guarinis 
erschöpfte,  zeigt  außer  seiner  mythologischen  Maschinerie  mannigfache 
antike  Züge.  Aus  der  Ekloge  war  es  entsprungen;  es  vereinigte  Elemente 
der  Komödie  und  der  Tragödie  (Chöre).  So  kam  das  Studium,  das  man 
der  musikalischen  Seite  des  antiken  Chores  widmete,  auch  ihm  zugute. 
In  die  prunkvollen  Einlagen  seiner  Zwischenakte  {Intermezzi)  waren  längest 


iq6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Musik  und  Gesang  eingedrungen.  Bereits  wurden  kleine  dialogische 
Eklogen  ganz  in  Musik  gesetzt.  So  war  das  Hirtendrama  gleichsam  von 
der  Musik  umlauert.  Siegreich  drang  sie  schließlich  darin  ein  und  unter- 
warf sich  seinen  ganzen  Dialog.  Und  so  erwuchs  zu  Florenz  am  Ende 
des  i6.  Jahrhunderts  die  Oper  aus  dem  Schäferstück  (die  „Dafne"  des 
Rinuccini,   1594). 

Ein  merkwürdiges  Schicksal!  Voll  der  stolzesten  Hoffnungen  hatte 
die  Renaissance  zu  Anfang  des  Jahrhunderts  sich  der  antiken  Formen  der 
Komödie  und  Tragödie  bemächtigt.  Sie  versagten.  Aber  aus  der  un- 
scheinbaren Ekloge  erwuchs  eine  neue  Form  dramatischen  Spieles,  die  den 
Ruhm  Italiens  in  alle  Länder  trug,  als  Hirtendrama  während  hundert  Jahren 
das  Abendland  entzückte  und  als  Oper  nun  längst  überall  ihre  eigenen 
Paläste  neben  bescheideneren  Schauspielhäusern  hat. 
Die  Prosa.  Auch    in    die    Prosa,    besonders    in    den    Roman,    den   Brief  und    die 

Predigt,  drang  der  gezierte  Ausdruck  (der  Secentismo)  ein.  Die  Wortführer 
der  Gegenreformation  bedienten  sich  bei  ihrem  Bekehrungswerk  mit  Vor- 
liebe des  in  Ornamenten  schwelgenden,  modischen  Stiles,  dem  der  nach 
den  Jesuiten  benannte  Stil  der  zeitgenössischen  Baukunst  entspricht.  Ihre 
Schriften  gleichen  ihren  Kirchen  mit  der  überladenen  Innendekoration,  in 
der  der  Schnörkel  die  Klarheit  der  Form  zerstört.  Die  nämliche  schwel- 
gerische Art  zeigt  die  Malerei  in  Sujet,  Zeichnung  und  Farbe  und  die 
Skulptur  in  ihren  schreienden  Gebärden. 

Anders  die  wissenschaftliche  Prosa.  Der  Geist  der  freien  Forschung 
lebte  noch  fort,  obwohl  die  ganze  Romania  sich  in  seine  Verfolgung  teilte : 
von  den  Erneuerern  der  Naturphilosophie,  die  für  Lukrez  und  gegen  Ari- 
stoteles kämpften,  verfiel  G.  Bruno  dem  italienischen  und  Vannini  dem 
französischen  Henker.  Galilei  wurde  vor  das  Inquisitionstribunal  gezogen 
(1633),  und  sein  Schicksal  schüchterte  den  jüngeren  Descartes  ein.  Der 
kräftige  Geist  dieser  Wissenschaft  bewahrte  ihre  Sprache  vor  dem  Miß- 
brauch der  Ziererei:  Galilei  und  Descartes  schreiben  als  große  ernste 
Forscher  einen  lichtvollen  Stil  und  verschmähen  auch  dann  den  modischen 
Zierat,  wenn  sie  sich  als  treffliche  Vulgarisatoren  an  das  große  Publikum 
wenden,  um  es  mit  den  Resultaten  ihrer  Forschungen  bekannt  zu  machen, 
ihm  die  neue  empirische  Methode  darzulegen  oder  über  das  Verhältnis 
von  Wissenschaft  und  Glauben  mit  ihm  zu  sprechen. 

So    schafft    die    Naturforschung    in    Zeiten    allgemeinen    Niederganges 
sprachliche  Kunstwerke.     Ihr  frisches  Leben  erneut  die  sprachliche  Form. 
Tassoni.  Literarisch    spiegelt    sich    diese   Zeit   am    besten    in    den   ernsten    und 

heiteren  Werken  Tassonis.  Er  hat  ausgesprochenes  naturwissenschaft- 
liches Interesse.  Als  Patriot  bekämpft  er  die  Spanier.  Er  ist  rebellisch 
gegen  jede  Autorität,  doch  ist  er  vorsichtig  und  es  ist  schwer  zu  sagen, 
wieweit  sein  Katholizismus  erschüttert  war.  Er  preist  als  ein  Modemer 
die  Gegenwart,  die  nach  dem  Gesetze  des  Fortschritts  in  Wissenschaft 
und  Kunst  der  Vergangenheit  überlegen  sei:   „si  perfezionano  le  arti  con 


b.  Italien  bis  zum  Kndc  des   17.  Jahrhunderts.     I\'.  Italiens  Niederrang.  igy 

lunv^ho/za  die  fatica  e  di  studio."  Er  lehnt  nicht  nur  das  Altertum  ab  und 
macht  Homer  den  Prozeß,  sondern  lehnt  auch  die  Vorbildlichkeit  desTrecento 
ab,  das  die  Muttersprache  bloß  gestammelt  habe,  und  die  poetische  Autorität 
des  Petrarca.  Maßgebend  soll  das  lebende  Italienisch  der  Corte  romana  sein. 
Er  bekämpft  den  alten  Petrarkismus  und  Chiabreras  Rückkehr  zum  Griechen- 
tum; aber  mit  nichten  bekämpft  er  den  modernen  Secentismo.  Die  zeit- 
genössische Lyrik  ist  ihm  vielmehr  eine  wunderbare  Sammlung  von  Schön- 
heiten, und  sein  Stil  ist  denn  auch  von  Paradoxen  und  Concetti  nicht  frei. 
Er  stellt  Proben  alter  und  moderner  Autoren  einander  gegenüber,  und  aus 
diesen  Parallelen  wird  der  Franzose  Perrault  lernen.  Er  glaubt  an  die 
Kunstregeln,  die  aber  nicht  aus  Aristoteles,  sondern  aus  Vernunft  und  Er- 
fahrung gewonnen  werden. 

Mit  seinem  Hauptwerk,  den  zehn  Büchern  seiner  „Pensieri  diversi" 
(1620)  hat  Tassoni  einen  tiefen  Einfluß  auch  auf  Frankreich  ausgeübt 
Darin  unterstützt  ihn  sein  Vorgänger  Boccalini,  der  schon  161 2  als  stil- 
gewandter „Reporter  des  Parnasses"  in  seinen  „Parnassischen  Nachrichten" 
eine  Parodie  des  Apollinischen  Hofstaates  gegeben,  wo  unter  dem  Vor- 
sit2e  des  Gottes  die  größten  W^eisen  und  Künstler  über  die  Welt  Gericht 
halten,  und  wo  Aristoteles  in  Fesseln  geschlagen  wird.  Dieser  Kampf 
gegen  das  —  heidnische  —  Altertum  findet  Unterstützung  in  dem  ge- 
schärften kirchlichen  Empfinden  der  Gegenreformation. 

Das  Geschlecht  der  „Modernen",  das  in  Italien  —  wie  auch  in  Frank- Dw  s«seot  1 
reich  —  auf  die  Renaissance  folgt,  ist  eigenwillig  und  rebellisch  gegen 
jede  literarische  Tradition.  Es  hat  romantische  Allüren.  Aber  seine  Auf- 
lehnung erschöpft  sich  in  einem  Virtuosentum,  das  eben  doch  keine  wirk- 
liche Freiheit  bedeutet,  sondern  das  sich  wieder  neue  Regeln  und  Fesseln 
der  Mode  schuf,  die  von  den  bisherigen  nicht  sehr  verschieden  waren. 
Wie  oft  deklamieren  diese  Dichter  des  Secento  gegen  Petrarca,  aber  im 
Grunde  schreiten  sie  nur  auf  der  Bahn  weiter,  die  er,  der  letzte  Minne- 
sänger, gewiesen,  wenn  sie  sich  nicht  geradezu  begnügen,  seine  Bilder 
und  Formen  zu  wiederholen.  Sie  werden  zu  akademischen  Meister- 
singern. 

Diese  universelle  Künstelei  hindert  niclit,  daß  gelegentlicli  auch  ein- 
fache Klänge,  die  von  Herzen  kommen  und  zu  Herzen  gehen,  ertönen.  Sie 
schließt  auch  den  Widerspruch  natürlicher  empfindender  Menschen  nicht 
aus.  Einzelne,  wie  der  kecke  Xapoletaner  Salvatore  Rosa  (f  1673^ 
spotten  der  Ziererei  in  der  Musik,  der  Malerei  und  der  Dichtung,  mit  der 
diese  „modemi  Orfei"  ihre  Damen  feierten  und  sich  bemühten,  das  Reper- 
torium  des  Petrarkischen  Stiles  zu  erneuem:  Sie  kämen  schließlich  so  weit, 
Sonne  und  Seele  in  Metaphern  zu  ersticken,  indem  sie  von  der  unsterb- 
lichen Seele  sagten,  „sie  sei  ein  Reittier,  das  der  Himmel,  wenn  es  .seinen 
Reiter  abgeworfen,  im  Stemenstall  mit  Ewigkeitshaber  füttere",  und  aus 
der  leuchtenden  Sonne  „einen  Henker  machen,  der  mit  der  Strahlenaxt 
den  Schatten  köpft". 


igg  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Der  Stil  wird  zur  Renommisterei,  zum  beständigen  Radschlagen.  Und 
diese  renommistische  Rhetorik  wird  durch  den  Einfluß  Spaniens  unterstützt: 
sie  wird  sozusagen  zur  literarischen  Form  der  spanischen  Fremdherrschaft. 
Der  Einfluß  spanischer  Kultur,  der  im  15.  Jahrhundert  auf  Neapel  be- 
schränkt geblieben  war,  hatte  sich  im  1 6.  Jahrhundert  über  das  ganze  Land 
ausgebreitet.  Spanisch  blieb  im  17.  Jahrhundert  die  Sprache  der  Herrschen- 
den und  der  Mode.  Spanische  Bücher  wurden  im  ganzen  Lande  gedruckt. 
Italienische  Dichter  schrieben  spanische  Verse,  auch  die,  wie  Tassoni, 
Spanien  haßten.  Hochtrabende  Titel  und  zeremonielle  Umgangsformen 
Hispaniens  wurden  trotz  allen  Widerspruchs  herrschend.  „Don''  zwar  ver- 
mag sich  nicht  dauernd  festzusetzen,  wohl  aber  das  neue  j,Sig7tore",  gegen 
das  als  „häßliche  spanische  Schmeichelei"  schon  Ariost  protestiert  hatte. 
Vossignoria  verdrängt  in  der  Anrede  das  gute  alte  V^oi  und  bereitet  mit 
seinen  Ella,  Lei,  Le,  Suo  den  Patrioten  und  —  den  Grammatikern  Schmerzen. 
Lei,  Signore  ist  das  sprachliche  Denkmal  der  spanischen  Herrschaft  und 
des  Secentismo,  und  etwas  Gespreiztes  und  Anspruchsvolles  wohnt  ihm 
noch  lange  inne.  Wie  ist  Giusti  erfreut,  als  Manzoni  (1845)  ihn  statt  mit 
Lei  mit    Voi  anredet! 

Das  Virtuosentum  dieses  Secentismo,  das  nach  Marinis  Wort  es  darauf 
abgesehen  hat,  zu  überraschen,  zu  verblüffen,  begünstigt  auch  die  Steg- 
reifdichtung. Italien  hat  zu  jeder  Zeit  sich  durch  Improvisatoren  aus- 
gezeichnet. Die  Renaissance  hat  die  Stegreifposse  hoffähig  gemacht.  Jetzt 
wird  das  improvisierte  Lied  akademisch. 

Auch  während  der  Zeit  dieses  Niederganges  behielt  Italien  noch  die 
literarische  Vorherrschaft  in  Europa.  Das  Schrifttum,  in  welchem  nach 
1 600  die  Kunst  der  Renaissance  in  Italien  agonisierte,  blieb  für  die  anderen 
Länder  maßgebend,  bis  seit  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  Frank- 
reich wieder  an  die  erste  Stelle  trat.  — 
Zusammen-  Füuf  Jahrhundcrtc  italienischer  Literatur  sind  an  uns  vorübergezogen, 

fassung.     ^^  deren  Verlauf  Italien  die  Führung,  die  im  14.  Jahrhundert  der  ermatten- 
den Hand  Frankreichs  entglitten  war,  aufgenommen  hat. 

Itahen  hat  die  mittelalterliche  Kultur,  an  der  es  vorher  wenig  selb- 
ständigen Anteil  genommen,  in  der  überragenden  Persönlichkeit  Dantes 
wie  in  einer  machtvollen  Synthese  zusammengefaßt.  Dann  hat  das  Land, 
in  dessen  städtischer  Laienkultur  die  antike  Tradition  nie  so  völlig  wie  im 
Norden  unterbrochen  war,  in  dem  neu  erwachenden  Geiste  der  Antike 
das  literarische  Erbe  Frankreichs  (Minnesang,  Novelle,  Epos)  umgeschaffen 
und  mit  Heimatkunst  erfüllt.  Es  entstanden  die  herrlichen  freien  Kunst- 
werke  des  Humanismus   und   der  Renaissance.     Nur  das  Drama  versagte. 

Aus  der  toskanischen  Literatur  entstand  die  italienische.  Mit  der  neu 
erworbenen  Kenntnis  des  Altertums  schmiedete  die  Gelehrsamkeit  rasch 
philologische  Fesseln.  An  Stelle  der  Schöpfung  trat  die  Nachahmung;  an 
Stelle  des  freien  Hellenentums  das  gradlinige  Römertum:  der  Klassizis- 
mus.   Das  übermächtige  Beispiel  Petrarcas  verführte  zur  Ziererei  und  zum 


C.  Die  kastilischc  u.  portugics.  Literat,  bis  zum  Ende  des  i7.Jahrh.    I.  His  zum  I5.jalirh.      igg 

Schwulst  des  Petrarkismus,  der  sich  frei  und  modern  jrebärdete  und  doch 
so  gebunden  war. 

Klassizismus  und  Petrarkismus  sind  die  beiden  Fesseln,  die  nach  so 
hohen  und  freien  Werken  Italiens  stolze  literarische  Herrschaft  Europa 
hinterließ.  Und  an  Stelle  der  versagenden  großen  dramatischen  Kunst  gab  es 
Europa  das  Beispiel  dramatischer  Kleinkunst  in  der  Stegreifposse  und  die 
Pastorale,  in  deren  grüner  Laube  die  Oper  schlummerte. 


C.  Die  kastilische  und  portugiesische  Literatur  bis  zum  Ende 
des  17,  Jahrhunderts. 

Die  spanische  Halbinsel  zerfallt  literarisch  in  drei  Teile:  vom  eigent- 
lichen spanischen  (kastilischen)  Land  sind  zwei  Küstenstreifen,  ein  östlicher 
und  ein  westlicher,  zu  scheiden:  Katalonien  und  Portugal. 

Katalonien  gehört  sprachlich,  und  im  Mittelalter  auch  literarisch,  zu 
Südfrankreich.  Seine  Troubadours  dichten  provenzalisch.  Die  Meister- 
singer des  14.  Jahrhunderts  ziehen  dann  ihre  katalanische  Muttersprache 
zu  Ehren,  deren  sich  die  Prosa  von  Anfang  an  bediente.  Die  wunder- 
lichen und  tiefen  Werke  des  abenteuerlichen  Franziskaners  Ramon  Lull 
(i  1315)»  die  trefflichen  Chroniken  jener  Zeit  und  der  erfolgreiche  Ritter- 
roman „Tirant  lo  blanch"  (1490)  gehören  dazu.  Mit  dem  16.  Jahrhundert 
beginnt  die  unbestrittene  Herrschaft  des  Kastilischen.  Seit  etwa  70  Jahren 
ist  der  Gedanke  der  sprachlichen  Autonomie  wieder  mächtiger  geworden 
und  hat  im  Anschluß  an  die  südfranzösische  Bewegung  zu  einer  kata- 
lanischen „Renaxensa"  mit  ihren  Jochs  florals  geführt. 

Portugal,  das  seit  Ende  des  11.  Jahrhunderts  ein  selbständiger  Staat 
ist,  hat  aus  dem  galizischen  Dialekt  {Gallego) ^  der  sich  vom  Kastilischen 
von  Anfang  an  im  Vokalismus  stark  unterschied,  auch  eine  eigene  Schrift- 
sprache entwickelt.  Ihre  Literatur  ist  stark  von  der  kastilischen  abhängfig, 
doch  nicht  ohne  Eigenart,  wie  auch  der  Charakter  des  geschmeidigen 
Portugiesen  von  dem  des  herben  Kastiliers  sich  unterscheidet.  Portugal 
hat  gleich  die  peninsulare  Führung  im  Minnesang  übernommen,  ist  aber 
in  der  epischen  Dichtung  (Romanze)  und  im  Drama  unter  die  Hegemonie 
Kastiliens  getreten.  Im  Mittelalter  erscheint  Portugiesisch  als  die  Gattungs- 
sprache der  lyrischen  (strophischen)  Kunstdichtung  und  Kastilisch  als  die 
der  epischen  (unstrophischen)  Poesie. 

I.  Bis  zum  15.  Jahrhundert.  Das  ist  die  Zeit  der  Reconquista,  an 
deren  Schluß  die  Vernichtung  der  maurischen  Macht  (1492)  steht.  Durch 
die  Vemiählung  Isabellas  von  Kastilien  mit  Ferdinand  von  Aragon  (1469) 
waren  die  beiden  Hauptländer  unter  dem  „katholischen  Königspaar"  ver- 
einigt worden,  und  im  nämlichen  Jahr,  da  der  Fall  Granadas  ihnen  ein 
christliches  Spanien   schenkte,    erschloß  Kolumbus   den    erstaunten  Augen 


200  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

der  Reyes  catölicos  die  Neue  Welt.    In  der  Alten  wurden  inzwischen  die 
Juden  vertrieben  und  die  Inquisition  ausgestaltet.    Spanien  betrat  den  Weg 
der   unduldsamen   Weltmachts-   und  Glaubenspolitik,    und  Portugal    folgte 
ihm  darin. 
Die  Von    alten   Volksliedern   ist  außer    einigen   Trümmern    des    13.   Jahr- 

voiksdichtung.  jj^uj^gj-^s  und  höfischen  Nachahmungen  nichts  erhalten.  Es  zeugen  von 
ihnen  auch  zwei  trochäische  Versmaße,  die  sich  in  der  volkstümlichen 
Dichtung  erhalten  haben:  der  Zehnsilbler  mit  Zäsur  nach  der  fünften  {Ar^e 
mayor)  und  der  Vierzehnsilbler  mit  Zäsur  nach  der  siebenten  Silbe  (Ro- 
manzenvers), uralte  romanische  Weisen,  für  die  aber  Spanien  eine  be- 
sondere Vorliebe  und  eigenartige  Behandlung  hat.  Diese  Volkslyrik  muß 
sehr  formenreich  gewesen  sein,  Einfluß  der  arabischen  Poesie  ist  nicht 
erwiesen.  Die  Frauentanzlieder,  die  Hirtenlieder  {Villancicos,  Serranillas) 
weisen  nach  Frankreich.  Diese  strophische  Refraindichtung  tritt  seit  dem 
15.  Jahrhundert  zurück  und  macht  der  unstrophischen  Poesie  der  Schnader- 
hüpfel  {Coplas  usw.)  und  der  Romanzen  Platz,  die  heute  fast  ausschließlich 
herrscht.  Dabei  scheinen  die  Schnaderhüpfel  sich  aus  dem  Süden  (Anda- 
lusien) herzuschreiben,  die  Romanzen  aber  Kastilien  zu  entstammen,  so 
daß  die  spanische  Halbinsel  wie  Gallien  und  Italien  sich  in  einen  mehr 
episch  veranlagten  Norden  und  einen  mehr  lyrisch  dichtenden  Süden  teilt. 

Die  Literatur.  Spaniens  älteste  Kunstliteratur  steht  unter  dem  doppelten  Einfluß  des 

maurischen  Gegners  und  des  französischen  Nachbars,  Kampfgenossen  und 
Kolonisten.  Die  orientalische  Weisheit  in  Form  von  Spruch,  Erzählung 
imd  Traktat  wird  seit  dem  12.  Jahrhundert  nachgeahmt.  Durch  einen 
spanischen  Juden  lernt  das  Abendland  das  erste  Beispiel  einer  morgen- 
ländischen   NoveUensammlung   mit   Rahmenerzählung    kennen    {Disciplina 

clericalis). 

Französischer  Geist  reformiert  im  1 1 .  Jahrhundert  Klöster  und  Liturgie. 
Er  weckte  die  lateinische  Historiographie  in  Prosa  und  Vers.  Das  Grab 
des  Apostels  Jacobus,  Santiago,  in  Compostella  zog  Scharen  französischer 
Pilger  an,  die  der  Weg  durch  das  Tal  von  Roncevaux  führte.  Sie  brachten 
das  Rolandslied  mit,  und  ein  Geistlicher  von  Santiago  verw^ob  es  in  die 
Chronik  seines  Heihgtums  (1140).  Doch  fanden  Karl  und  Roland  wenig 
Gnade  vor  den  Spaniern,  deren  Chronisten  eigene  Sarazenenbezwinger 
schufen:  König  Alfonso,  seinen  Neffen  und  Bemardo  del  Carpio,  denen 
schließlich  auch  die  Vernichtung  des  Frankenheeres  in  Roncevaux  an- 
gedichtet wurde. 
Das  Heldenepos  Ereiguisse  des  10.  und  II.  Jahrhunderts  bilden  die  historische  Grund- 

icaniardegesta).^^^^  des  kastilischcn  Heldenepos.  Die  französischen  Chansons  de  geste 
dienen  als  Vorbild:  sie  haben  im  12.  Jahrhundert  die  „Cantares  de  gesta" 
überhaupt  erst  ins  Leben  gerufen.  Der  Franzose  nahm  die  geringere 
schöpferische  Kraft  des  spanischen  Epikers  ins  Schlepptau,  ohne  daß 
dieser  seine  nationale  Eigenart  einbüßte.  Es  ist  für  diese  spanische 
Epopöe  charakteristisch,  daß  sie  den  Ereignissen  noch  näher  steht  und  so 


C.  Die  kastilischc  u.  portugies.  Literat,  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrh.    I.  His  zum  is.Jahrh.     201 

der  höheren  geschichtlichen  Perspektive  entbehrt-  Es  ist  weniger  das 
nationale  Ringen,  das  sie  schildert,  als  die  sagenhafte  Geschichte  einzelner 
Geschlechter  auf  dem  Hintergründe  der  Maurenkriege:  wie  der  Cid 
(f  1099)  seine  Töchter  verheiratet,  wie  die  Familie  Lara  vom  Schwager  • 
ins  Verderben  gestürzt  wird  usw.  Sie  erinnert  an  das  französische  Loth- 
ringerepos viel  mehr  als  an  das  Rolandslied.  Ein  starkes  heimisches 
Leben  pulsiert  in  ihrer  ungelenken  realistischen  Kunst  Dem  Helden 
werden  später  auch  Jugendtaten  angedichtet:  Jung  Cid  erschlug  einst  den 
Vater  der  Jimena  und  ward  zur  Vermeidung  von  Blutrache  mit  dem 
Mädchen  verbunden.  Von  dieser  Epik  sind  uns  nur  Trümmer  zweier 
Cid-Cantares  erhalten.  Andere  Lieder,  wie  den  grandiosen  Cantar  der 
Lara,  können  wir  aus  der  „Crönica  general"  erschließen,  die  Alfons  X., 
der  Gelehrte,  um  1280  verfassen  ließ,  und  die  seine  Nachfolger  weiter 
führten.  In  der  poetischen  Prosa  dieser  Königschroniken  brechen  die 
alten  epischen  Verse  der  Cantares,  die  von  den  Chroniken  benutzt  wurden, 
noch  deutlich  durch.  Diese  wunderbaren  Chroniken  sind  zum  Herbar  der 
epischen  Blumen  des  alten  Kastilien  geworden. 

Inzwischen  geriet  die  rauhe  Kunst  dieser  langen  Gesänge  in  Ver-  lh« 
gessenheit  (gegen  1400).  Nur  einzelne  besonders  fesselnde  Szenen,  ^"^ 
namentlich  dialogische,  nur  einzelne  Höhepunkte  des  epischen  Berichts 
erhielten  sich  im  Munde  des  Volkes  und  lebten  als  Fragmente  weiter: 
das  sind  die  volkstümlichen,  alten  Romanzen.  Die  Romanzen  sind  Bruch- 
stücke verwitterter  „zersungener"  Epen;  ihr  Vers  ist  der  des  alten  Cantar: 
der  assonierende  Vierzehnsilbler.  Die  spanische  Romanzenpoesie  ist  also 
ein  episches  Trümmerfeld.  Das  Dunkle,  Sprunghafte,  das  manche  alte 
Romanzen  haben  und  das  oft  ihren  geheimnisvollen  Reiz  erhöht,  schreibt 
sich  eben  davon  her,  daß  sie  aus  einem  weiteren  Zusammenhang  gelöste 
Lieder  sind.  Sie  gesellten  sich  nun  befruchtend  zu  den  übrigen  romanzen- 
formigen  Volksliedern,  die  von  älteren  oder  neueren  romantischen  Taten 
scherzend  oder  klagend  sangen  und  insbesondere  den  Grenzkrieg  mit  den 
Mauren  begleiteten  {Romancfs  frontcrizos). 

Nordfrankreich  lieferte  auch  das  Beispiel  der  erzählenden  und  PrmuMKiMr 
lehrhaften  Kunstdichtung.  Es  gab  auch  den  Vers  dazu,  den  Alexandriner-  ^^^"^ 
quatrain,  den  der  Spanier  als  „nueva  maestria"  preist  und  die  paarweise 
gebundenen  Kurzverse:  jambische  Maße.  Heiligenleben,  Marien  wunder 
werden  eintönig  gereimt  und  einige  Versuche  im  Kunstepos  antiken  und 
nationalen  Inhalts  gemacht.  Hoch  erhebt  sich  dariiber  das  aus  bunter 
Sprachkunst  gebaute  „Liederbuch"  {Libro  dt-  btun  nmor)  des  Erzpriesters 
Juan  Ruiz  (gegen  1350),  eine  Ars  amandi  in  autobiographischem  Rahmen, 
in  deren  persönlichen  Bekenntnissen  sich  Ausgelassenheit  und  (iläubig- 
keit  paaren.  Dieses  eigenartige  realistische  Lebensbild  hat  in  der  mittel- 
alterlichen  Literatur  nicht  seinesgleichen.  Es  ist  echt  spanisch,  obwohl 
die  Inspiration  nach  Frankreich  weist  Echt  spanisch  auch  das  ernste 
Gegenstück    dazu,    die    Lebensbeichte    des    Kanzlers    Lopez    de    Ayala 


202  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

(um  1380).     Dann   verschwindet   mit   dem   französischen   Einfluß   auch    der 
Alexandriner. 
Der  Provenzalische  Troubadours  waren  seit  dem   12.  Jahrhundert  auch  an 

provenzaUsche  ^^^   spanischen    Höfen    arern    sresehene    Gäste  und   in  Kastihen  und  Leon 

Minnesang.  •■■  o  o 

erklang  manch  südfranzösisches  Lied,  Aber  zum  einheimischen  Minne- 
sang kam  es  nur  in  Portugal,  wo  die  Maneira  de  provengal  unter  König 
Diniz  um  1300  ihren  Höhepunkt  erreichte.  Drei  Liederbücher  [Cancioneiros) 
haben  uns  diese  „Cantigas"  erhalten,  deren  importierte  Kunst  oft  glück- 
lich mit  einheimischer  Art  durchsetzt  ist  und  dem  volksmäßigen  Frauen- 
lied {Cantiga  de  amigd)  großen  Raum  gewährt.  Zum  weltlichen  Minnelied 
fügt  Alfons  X.  fromme  Marienlieder.  Für  diesen  kastilischen  König,  dem 
die  spanische  Prosa  so  viel  verdankt,  war  das  Portug^iesische  die  Sprache 
seiner  Jugendzeit,  also  auch  seiner  Lieder.  Er  ist  mit  König  Diniz 
Hispaniens  Troubadour. 
Die  Prosa.  Aus  der  Sprachc  seiner  Kanzlei  entwickelte  sich  seit  1250  die  Kunst- 

prosa, die  er,  von  zahlreichen  Mitarbeitern  unterstützt,  in  den  Dienst  ge- 
lehrter Kompilationen  und  Übersetzungen,  einer  umfassenden  Gesetz- 
gebung und  einer  stolzen  Historiographie  {Crönica  general)  stellte.  Seine 
Nachfolger  behielten  gleich  ihm  ein  Stück  literarischer  Führung.  Portugal 
übertrug  kastilische  Prosawerke.  Französische  Ritterbücher  regten  zu 
Neuschöpfungen  an.  Es  entsteht  auf  der  Spur  des  Lancelot  und  Tristan 
der  anonyme  „Amadis  de  Gaula"  von  besonders  feiner,  anmutiger  Art  und 
glücklichem  Aufbau,  der  den  Ruhm  kastilischer  Ritterromane  über  die 
Welt  verbreiten  und  sogar  in  Cervantes'  Augen  Gnade  finden  wird. 

Der  hervorragendste  Prosaiker  nach  Alfons  X.  ist  sein  Enkel  Don 
Juan  Manuel  (f  1348).  Nationalgeschichte,  Jagd  und  Kriegswesen, 
Fragen  der  Lebensführung  behandelt  der  tatkräftige  Grande  in  schlichter 
und  doch  selbstbewußter  Art  mit  jener  Vorliebe  für  stilisierte,  praktische 
Lebensweisheit,  die  damals  dem  spanischen  Schrifttum  aus  orientalischen 
El  conde  Quellen  so  reich  zufloß.  Im  Rahmen  eines  Gesprächs,  das  der  Graf 
Lucanor.  L^canor  mit  seinem  Rat  Patronio  führt,  erzählt  Don  Juan  Manuel  fünfzig 
Geschichten,  ein  halbes  Dekameron,  doch  von  anderem  Geist.  Es  ist 
nicht  die  heitere  Kunst  des  Italieners,  der  das  Leben  lachend  genießt, 
sondern  die  herbe  Lehrhaftigkeit  des  Spaniers,  der  sich  das  Leben  nach- 
denklich zurechtlegt,  der  nicht  fabuliert,  sondern  unterweist,  was  ihn  nicht 
hindert  ein  trefflicher  Erzähler  zu  sein.  Übersetzungen  haben  den  „Conde 
Lucanor"  zum  bekanntesten  der  altspanischen  Bücher  gemacht. 

So  hatte  Kastilien  von  Anfang  an  die  Führung  auf  dem  Gebiete  der 
Prosa.     Nun  übernimmt  es  sie  (gegen  1400)  auch  in   der  Poesie,  während 
Der  Einfluß  an  die  Stelle  des  sinkenden  Einflusses  Frankreichs   derjenige  Italiens  tritt, 
Italiens,     ^^g  ^^^^  Spanien  durch  Aragon  politisch  verbunden  ist. 

Diese  neue  höfische  Dichtung  ist  uns  in  den  Liederbüchern  erhalten, 
die  seit  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  von  Sammlern  oder  Dichtern  an- 
gelegt werden  und  dann  nach  1500  in  den  spanischen  „Cancionero  general" 


C.  Die  kastil.  u.  portugics.  Literat,  bis  zum  Kndc  des  1 7.  Jahrli.    II.  Die  Zeit  d.  Habsburger.     203 

und  den  poituvfie.sischen  „Cancioneiro  geral",  der  ganz  ka.stilischen  Geistes 
und  auch  voll  kastili.scher  Sprache  i.st,  zusammenfließen.  In  dieser  kunst- 
reichen Lyrik  regt  .sich  schon  Petrarcas  und  auch  Dantes  Heispiel.  In 
glücklichen  Tönen  und  I-Omien  lebt  N'olkstümliches  weiter.  Didaktik,  das 
religiöse  Lied  und  besonders  die  politische  Satire  finden  kräftigen  Aus- 
druck. Der  Marques  von  Santillana  schickt  seinen  Gedichten,  in  denen 
anmutige  Refrainliedchen  sich  zur  schüchternen  Nachahmung  italienischer 
Versmaße  (Sonett)  und  horazischer  Vorbilder  gesellen,  den  ersten  Versuch 
einer  romanischen  Literaturgeschichte  voraus  (1441^). 

Der  lilick  richtet  sich  immer  nachdrücklicher  auf  Italien  und  Alter- 
tum. Nach  italienischem  Muster  werden  Griechen  und  Römer  übersetzt 
Der  Stil  antiker  Historiker  dringt  in  die  Chronik  und  die  latinisierende 
Schreibweise  italienischer  Humanisten  findet  Nachahmer.  Aber  der 
humanistische  Gedanke  wendet  sich  auch  der  Muttersprache  zu,  um  durch 
grammatische  Fürsorge  ihren  Bestand  zu  sichern  ^Nebrija,   1492). 

IL  Die  Zeit  der  Habsburger  (16.  und  17.  Jahrhundert).  Die  zwei 
Jahrhunderte  der  habsburgischen  Herrschaft  bilden  den  Höhepunkt 
spanischer  Geschichte:  erst  der  Glanz  der  Weltmacht  und  dann,  während 
dieser  seit  Philipp  IL  verblaßt  und  der  wirtschaftliche  Verfall  eintritt, 
eine  herrliche  Blüte  der  Literatur  und  Kunst.  Die  Habsburger  waren 
kunstsinnige  Despoten.  Die  Bourbonen  traten  1700  ein  völlig  erschöpftes 
Land  an  und  begannen  mit  der  politischen  und  ökonomischen  Reform. 

Das  Schicksal  des  mächtigen  Landes  ist  die  Tragödie  des  Na- 
tionalismus. Als  nach  dem  vielhundertjährigen  siegreichen  Kampf 
gegen  die  Ungläubigen  die  stolzen  Weltmachtscrfolge  sich  einstellten  und 
Spanien  das  führende  Land  des  Erdenrunds  wurde,  da  bildete  sich  in  der 
Nation  die  Vorstellung,  daß  sie  das  auserwählte  Volk  Gottes  sei.  In  un- 
duldsamer Selbstüberhebung  verschleuderte  sie  ihre  Kräfte,  beförderte  sie 
den  ruinösen  Absolutismus  ihrer  Könige,  schuf  sie  die  Inquisition,  drängte 
zur  Vertreibung  der  Juden  und  der  Morisken.  Nachdem  Spanien  durch 
die  Entdeckung  der  Neuen  Welt  eine  neue  Menschheitsepoche  inauguriert 
hatte,  verfiel  es  inmitten  von  Glanz  und  Wohlfahrt  einem  Hochmut,  der 
es  den  übrigen  Völkern  Europas  entfremdete.  Es  lebte  diesem  gereizten, 
prahlerischen  Nationalismus,  sah  mit  verständnisloser  Einbildung,  ein  Don 
Quijote,  auf  den  Lauf  der  Welt,  der  die  anderen  Nationen  emporführte 
und  —  blieb  dauernd  zurück. 

Portugal  teilte  Spaniens  Schicksal.  Auf  einen  kurzen  Weltmachts- 
traum folgten  seit  1550  Niedergang  und  Demütigung.  Vorübergehende 
Vereinigung  mit  Spanien  unter  den  „drei  Felipes"  (1580  —  1640)  schlugen 
das  Land  vollends  in  den  Bann  des  mächtigen  Nachbars. 

Die    kastilische    Lyrik    entfaltet    sich    unter    dem    steigenden    Einfluß  d«.  Lyrik 
Italiens,  das  den  Sinn   für  Feinheit   der  Form  und  des  Gedankens  schult 
Wie  im   13.  Jahrhundert  Frankreich,  so  leiht  jetzt  Italien  dem  spanischen 


204 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Kunstdichter  Vers  und  Strophe.  Neben  die  kunstloseren  einheimischen 
Gebilde  tritt  der  italienische  Endecasillabo  mit  Sonett,  Oktave,  Kanzone  usw. 
Boscän  eröffnet  diese  Phase  des  Petrarkismus;  der  anmutige  Garcilaso 
folgt  mit  der  glücklichen  Gabe  eines  originellen  Nachahmers.  Die  Neue- 
rungen blieben  nicht  ohne  Gegner.  So  fanden  die  alten  nationalen  Formen 
einen  witzigen  und  liebenswürdigen  Verteidiger  in  Castillejo.  Aber  von 
Wien  aus,  wo  er  lebte  und  starb  (1556),  erklang  sein  anmutiges  Lied  nicht 
stark  genug.  Eine  lange  Reihe  zum  Teil  hochbegabter  Lyriker  schließt 
sich  an  Boscän  und  Garcilaso.  Es  lassen  sich  regionale  Gruppen  unter- 
scheiden: die  Sevillaner,  die  Salmantiner,  die  Portugiesen.  Die  ersteren 
führt  Herrera  (f  1597),  der  so  schwungvoll  den  Sieg  von  Lepanto  besang. 
Zu  den  Salmantinem  gehört  der  Mystiker  Luis  de  Leon  {j  1591),  dessen 
fromme  Lieder  von  ergreifender  Innigkeit  sind.  Man  hat  diesen  Augustiner- 
mönch den  größten  Lyriker  seines  Landes  genannt.  Aus  dem  reichen 
Dichterchor  der  Zeit  löst  sich  seine  kunst-  und  klangvolle  Stimme  in  herr- 
licher Eigenart.  Er  ist  ein  „Klassiker",  in  dem,  wie  in  Polizian  die  antike 
Dichtung  neues  Leben  gewinnt  und  dessen  Hand  „aus  dem  Marmor  des 
Pentelikon  christliche  Statuen"  gestaltet.  In  dieser  Durchdringung  des  edeln 
hellenischen   Materials   mit   christlicher  Poesie  hat  er  nicht  seinesgleichen. 

Die  Portugiesen  erscheinen  mit  Sä  de  Mir  an  da  als  Anführer  und 
Luis  de  C am 5 es  (7  1580)  als  reichstem  Sänger  der  Liebe,  den  die  Halb- 
insel kennt.  Über  Camöes'  lyrischem  Werk  hat  ein  Unstern  gewaltet.  Was 
der  Dichter  in  Heimat  und  Fremde,  unbeständig  wie  das  Meer,  in  Sonetten, 
Redondilhen,  Elegien,  Kanzonen  gesungen,  das  hat  erst  die  Nachwelt  der 
Camonistas  dauernd  zu  vereinigen  vermocht.  Es  sichert  ihm  aber  durch  die 
Fülle  seiner  Poesie  einen  Platz  unter  den  ersten  Lyrikern  aller  Zeiten. 

Nicht  ohne  Widerspruch  also,  doch  ohne  eigentlichen  Kampf  vollzog 
sich  diese  Italienisierung,  die  übrigens  Sinn  und  Neigung  für  die  leichten 
nationalen  Formen  nicht  zerstört. 
Die  neuen  Insbcsondcre  blühte  die  Romanzendichtung.    Die  schlichte  Form  der 

Romanze  wird  jeder  Art  poetischer  Inspiration  dienstbar  gemacht:  sie 
betet,  liebt,  spottet  und  klagt,  vor  allem  aber  erzählt  sie.  Um  die  Mitte 
des  Jahrhunderts  wird  die  alte  „Crönica  general"  gedruckt  und  ihr  Schatz 
an  nationaler  Überlieferung  allgemein  zugänglich.  Kunstdichter,  wie 
Sepülveda  (1550),  schöpfen  daraus  mit  dem  willkommenen  epischen  Stoff 
auch  eine  altertümliche  Sprachkunst,  ohne  zu  ahnen,  daß  die  poetische 
Prosa  dieser  Königschroniken  aus  alten  Epenversen  gebildet  ist.  Sie 
schaffen  neben  viel  Verkünsteltem  neue  Romanzen  von  wahrer  Schönheit. 
Es  entstehen  Sammlungen  {Romanceros),  in  welchen  uraltes  volkstümliches 
Gut  naiv  neben  diese  „Romances  nuevos"  gereiht  erscheint.  Es  kommt 
zum  Ausbau  förmlicher  Zyklen  [Roviancero  del  Cid),  so  daß  die  nationale 
Epopöe  aus  Trümmern  wieder  ersteht:  eine  epische  Wiedergeburt,  die 
Gegenwart  und  Vergangenheit  unlöslich  verbindet,  wie  dies  kein  anderes 
Land  kennt. 


Romanzen. 


oad 


C.  Die  kastil.  u.  portugies.  Literat,  bis  rum  Ende  des  17.  Jahrh.    11.  Die  Zeit  d.  Habsburi;er.      20S 

Im  Romancero  liegt  die  unversehrte  Einheit  der  spanischen  National- 
poesie.    Aus   ihm  sprießt   nach  Form  und  Inhalt  das  Drama. 

Die  Spanier  sind  von  allen  Schülern  der  italienischen  Lyrik  die  eigen-  CoImtmImo 
artig"sten,    auch    in    den    Gebrechen,    die    sich    seit   1600   entwickeln:    dem 
C'ulteranismo    und    dem    Conceptismo,    den    beiden    Formen    der    spa- 
nischen   Preziosität     Inzwischen    wird    Madrid     allmählich    zum    geistigen 
Zentrum  des  Landes. 

Göngora  (f  1627)  erhebt  durch  die  Virtuosität  seiner  metaphorischen, 
antithetischen  und  hyperbolischen  Künsteleien  den  „demonio  culterano" 
zur  literarischen  Herrschaft.  Diese  hispanische  Art  petrarkistischer  Ziererei 
(Gongorismo)  ist  noch  durch  jene  gelehrte  {cuUa)  Latinisierung  in  Wort- 
wahl und  Wortstellung  charakterisiert,  die  Frankreich  damals  längst 
überwunden  hatte,  und  die  ihr  etwas  altmodisch  Schwülstiges  und  Ge- 
schraubtes gibt  —  „por  la  de  la  buena  fama  gloria".  Aber  über  dem 
„Gongorismo"  seiner  späteren  Dichtungen  ist  jener  Göngora  nicht  zu 
vergessen,  der  als  einer  der  größten  Poeten  Spaniens  so  wundervolle 
Sonette  und  Romanzen  verfaßt  hat  In  lustiger  Übertreibung  seiner 
eigenen  Manier  ist  er,  wie  so  viele  Vertreter  der  modischen  Ziererei,  auch 
zu  einem  Meister  der  burlesken  Poesie  geworden.  Als  solchen  haupt- 
sächlich haben  ihn  die  Franzosen  gekannt  und  nachgeahmt 

Der  Conceptismo  strebt  im  Gegensatz  zu  Wortgeklingel  und  Am- 
plifikation  nach  gedankenschwerer  Kürze  des  Ausdrucks.  Er  ist  etwas 
spezifisch  Spanisches,  stammt  aus  der  Literatur  der  Mystiker,  deren  ge- 
heimnisvollen Symbolismus  er  liebt  Er  ist  die  Preziosität  der  rehgiösen 
und  profanen  Didaktik  und  eignet  mehr  der  Prosa.  Die  Neigung  zu 
Metapher,  Antithese  und  Wortspiel  teilt  er  mit  dem  Culteranismo,  in  den 
er  oft  genug  übergeht 

Während  der  Culteranismo  seinem  Wesen  nach  die  allgemeine  abend- 
ländische Erscheinung  des  Petrarkismus  darstellt,  bedeutet  der  Concep- 
tismo etwas  wesentlich  Autochthones.  Ihre  \'erbindung  ergibt  einen  eigen- 
artigen literarischen  Barockstil,  dem  alle  Schriftsteller  der  Zeit  mehr  oder 
weniger  verfielen,  auch  die  ihn  direkt  verspotteten,  wie  Lope  de  Vega, 
Cervantes  und  Quevedo. 

Neigung  zum  Redeprunk  und  zur  Spitzfindigkeit  zeigen  schon  die  Spanier 
der  Römerzeit,  Seneca  und  Lukan,  und  so  hat  man  wohl  im  Culteranismo  und 
Conceptismo  eine  alte  Anlage  des  spanischen  Geistes  wieder  erkennen  wollen. 

Quevedo  (f  1645)  ist  ein  großer  Satiriker  von  echter  Hodenständig- 
keit,  der  die  Kunst  antiker  und  italienischer  Vorbilder  mit  grimmem  spa- 
nischen Humor  erfüllt  und  dabei  das  beschränkte  Gebiet  der  heimischen 
Kultur  mit  phantastischen  Kreuz-  und  Querzügen  durchmißt  in  Vers  und 
Prosa,  deren  seltene  Kraft  und  Tiefe  leider  oft  durch  Spiufindigkeit  und 
Ziererei  zu  Schaden  kommen. 

In  Culteranismo  und  Conceptismo  erstickt  schließlich  die  Lyrik.  .Nur 
die  Inbnmst  des  Gläubigen  und  der  Haß  des  Satirikers,  die  sich  beide  gerne 


2o6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

in  naiven  Formen  aussprechen,  schaffen  noch  Hervorragendes  in  frommen 
Gesängen  und  bitteren  Spottliedern.  Die  Übertreibung  der  Ziererei  und 
des  Schwulstes  führen  zu  burlesker  Haltung  imd  Sprache:  die  burleske 
Poesie    begleitet    denn   auch,    wie   bei    Göngora    selbst,    den    Gongorismo. 

Im  17.  Jahrhundert  wird  die  Lyrik  auf  der  Iberischen  Halbinsel  — 
wie  in  Italien  und  Frankreich  —  ein  Gegenstand  modischer  Spielerei, 
ein  Luxus  der  vornehmen  und  der  gebildeten  Kreise.  Diese  Elreise 
schließen  sich  zu  Salons  {Tertulias)  zusammen,  und  aus  diesen  freien 
Kränzchen  gehen  schließlich  geschlossene  etikettenreiche  Meistersinger- 
Akademien  hervor.  Besonders  in  Portugal  —  auch  in  Brasilien  —  blühen 
diese  Akademien  der  Seiscentistas,  und  ihre  Mitglieder  sind  nicht  selten 
auch  bei  italienischen  Akademien  eingeschrieben. 
Das  Epos.  Dem  Beispiel  Italiens  folgt  Spanien  auch  in  der  epischen  Behandlung 

antiker  Sagenstoffe,  und  besonderer  Vorliebe  erfreut  sich  die  Versnovelle 
von  Pyramus  und  Thisbe,  in  deren  tragischem  Liebesschicksal  der  modische 
Redepomp  sich  ein  Genüge  tun  konnte. 

Nachdem  seit  1550  Ariost  und  Vergil  übersetzt  worden,  beginnt  eine 
Zeit  eifriger  epischer  Produktion  in  Oktaven,  die  nach  der  Übertragung 
Tassos  (1587),  des  „christlichen  Vergil",  ihren  Höhepunkt  erreicht  und 
ein  halbes  Jahrhundert  dauert.  Die  Karlssage  zeigt  auch  hier  ihre  Kraft; 
aber  die  spanischen  Epiker  lassen  ihren  Bernardo  über  den  Frankenkaiser 
siegen.  Einen  wunderbaren  epischen  Stoff  bildet  die  Eroberung  der  Neuen 
camSes.  Welt:  Ercüla  hat  in  der  „Araucana"  (seit  1569)  und  Camöes  in  „Os 
Lusiadas"  (Die  Söhne  Portugals,  1572)  selbstgeschaute  Länder  und  Meere 
geschildert.  Der  Kastilier  erzählt  mit  schlichtem,  humanem  Sinn  die 
chilenischen  Ereignisse,  deren  Augenzeuge  er  war,  und  fesselt  durch  die 
unmittelbare  poetisch  geschaute  Wahrheit  der  Vorgänge.  Der  Portugiese 
schildert  prunkvoll  mit  erfundenem  Detail  die  Expedition  Vascos  de  Gama, 
deren  Zeuge  er  nicht  war,  deren  afrikanischen  und  indischen  Schauplatz 
er  aber  kannte.  Camöes  folgt  in  der  Komposition  Vergil  und  entlehnt 
ihm  auch  den  Pomp  der  olympischen  Maschinerie;  Ariost  gibt  ihm  das 
Beispiel  üppiger  Episoden. 

Die  zehn  Gesänge  der  Lusiadas  schließen  zugleich  einen  Kursus  por- 
tugiesischer Geschichte  ein:  sie  sind  ein  Lied  zum  Ruhme  Portugals,  ab- 
gestimmt auf  einen  weltgeschichtlichen  Moment.  Aber  selbst  die  Kunst 
eines  Cambes  hat  diese  geschichtliche  Unterweisung  und  jene  entlehnte 
Mythologie  nicht  zu  reinem,  poetischem  Leben  zu  erheben  vermocht,  so 
schön  auch  einzelne  Szenen  irdischen  oder  olympischen  Tuns  sind,  so 
stürmisch  auch  die  Vaterlandsliebe  durch  die  Verse  flutet.  In  der 
Schilderung  maritimen  Lebens  jedoch  erhebt  er  sich  zum  höchsten  Können. 
Er  ist  der  romanische  Sänger  des  Ozeans. 

Columbus  hat  einen  großen  Poeten  nicht  gefunden.  Überhaupt  hat 
die  Romania  ihr  maritimes  Heldenzeitalter  nicht  ebenbürtig  gefeiert.  Nur 
in  Portugal  hat  es  zu  einer  großen   Schöpfung  geführt.     Italien  hat  noch 


C.  Die  kastil.  u.  portugies.  Literat,  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrh.    II.  Die  Zeit  d.  Habsburger.     207 

weniger  aufzuweisen  als  Spanien.  In  Frankreich  hat  nur  die  Prosa 
Rabehiis'  das  Entdeckertuni  verherrliclit,  und  nur,  um  es  aufklärerischen 
Zwecken  dienstbar  zu  machen. 

Im  Jahre  von  Camoes  Tod  (1580)  schlug  Spanien  seine  schwere  Hand 
über  Portugal.  Damit  ward  auch  die  literarische  Abhängigkeit  des  kleinen 
Landes  enger  und  drückender.  Die  Geziertheiten  des  Culteranismo  wirkten 
hier  im  Lauf  der  Jahrzehnte  noch  verheerender.  Seine  krankhaft  üppige 
Blüte  bezeichnet  man  mit  dem  Ausdruck  des  Seiscentismo.  Das  Ka- 
stilische  ward  in  Lissabon  Hof-  und  Literatursprache.  Es  ist  die  Zeit,  da 
es  auch  nach  Italien  und  Frankreich  gedrungen  war  und  als  Modesprache 
der  Romania  von  Paris  bis  Neapel,  von  Lissabon  bis  Mailand  erklang.  Das 
nationale  Empfinden  kam  darob  auch  in  Portugal  zu  Schaden.  Camöes  wurde 
zugunsten  des  fremden  Tasso  ungerecht  hintangesetzt,  freilich  nicht  ohne 
Widerspruch.  Wenn  das  Portugiesische  diese  Not  und  diese  Demütigung 
siegreich  überdauert  hat,  so  verdankt  es  dies  zum  guten  Teil  dem  hoch- 
ragenden Denkmal,  das  eben  dieser  Camöes  mit  den  Lusiaden  ihm  ge- 
schaffen hatte.  Denn  was  seine  Nachahmer  von  portugiesischen  Helden- 
taten in  Indien  oder  Afrika  oder  vom  Siege  zu  Lepanto  singen,  das  reicht 
nicht  an  seine  Kunst  heran. 

161 3  schrieb  Azevedo  seine  „Creacion  del  Mundo"  nach  der 
„Schöpfungswoche"  des  Franzosen  Dubartas.  So  geschah  in  Spanien, 
was  soeben  auch  in  Italien  geschehen  war:  das  erschöpfte  Können  griff 
nach  einem  französischen  Vorbild.  Seit  zweihundert  Jahren  war  der 
literarische  Einfluß  Frankreichs  gewichen:  jetzt  kündigt  er  seine  Rück- 
kehr in  Spanien  durch  das  nämliche  Werk  an  wie  in  Italien. 

Dem  konservativen  Charakter  des  Landes  entsprechend  ist  das  Latein-  Die  Pro«L 
schreiben  von  zäherer  Herrschaft  gewesen  als  anderswo.  Aber  der 
humanistische  Unfug,  das  Spanische  mit  lateinischen  Flicken  aufzuputzen, 
schwindet  mehr  und  mehr  aus  der  Prosa.  Die  Neigung  zur  Fülle  der 
Periode  bleibt.  Die  Muttersprache  findet  Untersuchung  und  Pflege  (Juan  de 
Valdes,  Diälogo  de  la  Icngua  um  1535).  Mariana  verfaßt  seine  National- 
geschichte lateinisch,  überträgt  sie  aber  selbst  in  die  Vulgärsprache  (1601): 
ein  kunstvolles  Werk  und  nicht  das  einzige  dieser  Art  aus  einer  Zeit,  die 
stolz  auf  die  Überwindung  der  Mauren  und  die  Eroberung  Me.xikos  zurück- 
blickte. Die  lateinischen  Traktate  spanischer  und  portugiesischer  Theologen 
wie  Molina,  Escobar  überschwemmen  in  Lyoner  Drucken  Frankreich  und 
fuhren  dort  zur  Ojjposition  des  Jansenismus.  Die  religiöse  Erregung,  die 
im  16.  Jahrhundert  durch  Europa  ging,  äußerte  sich  in  Spanien  durch  ein 
mächtiges  Aufflammen  des  schwärmerischen  Geistes  mystischer  Frömmig- 
keit, der  in  hervorragenden  Individualitäten  wie  Luis  de  Granada, 
Juan  de  la  Cruz,  Teresa  de  Jesus,  einen  sublimen  Ausdruck  fand,  ihc  Mj«uk« 
Diese  Bewegung,  die  das  Mißtrauen  der  Inquisition  verfolgte,  hat  dem 
I^ande  außer  herrlichen  Liedern  eine  große  Zahl  poesieerfüllter  Andachts- 
bücher geschenkt,  in  denen  die  kastilische  Sprache  naiv  aus  dem  Herzen 


2o8  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

über  die  Lippen  fließt,  Bücher,  aus  denen  das  gesprochene  Wort  bald 
weich,  bald  stürmisch,  schHcht  oder  blütenreich  entgegenklingt.  Die  Be- 
wegung erinnert  an  die  Zeit  des  heiligen  Franziskus:  aber  wie  viel  reicher 
ist  ihr  literarischer  Ertrag,  wie  viel  reicher  Persönlichkeit  und  Werke  der 
Teresa  de  Jesus  (f  1582)  als  die  der  Caterina  da  Siena  (f  1380)!  Wie 
bittend  streckt  das  romanische  und  das  germanische  Europa  seine  Hände 
nach  den  Erbauungsbüchern  dieser  spanischen  Mystiker  aus. 

Noch  im  17.  Jahrhundert  übt  der  mystische  „Geistliche  Führer"  des 
spanischen  Beichtvaters  Molinos,  der  von  Rom  aus  in  die  Welt  gesandt 
wurde  (1675),  einen  tiefen  Einfluß  auf  Kunst  und  Literatur  Italiens  und 
Frankreichs  (der  Quietismus). 

Auch  die  Probleme  des  Weltlebens  fanden  in  dieser  Zeit  Bearbeiter 
von  großer  Begabung.  Diese  „politische"  Literatur  ist  nicht  erst  durch 
die    Übersetzung    von     Castigliones    „Cortegiano"    geweckt   worden.     Die 

Guevara,  wortrcichc  Elcgauz,  mit  der  Bischof  Antonio  de  Guevara  die  Gemein- 
plätze seines  „antiken"  Erziehimgsromans  von  Marcus  Aurelius  („Die 
Fürstenuhr",  1529),  seiner  „Verachtung  des  Hofes",  seiner  „Briefe"  ent- 
wickelt und  ein  höfisches  Altertum  vortäuscht,  entzückte  ganz  Europa  und 
besonders  Deutschland.  Spanien  liefert  Europa  Muster  komplimentöser 
Briefstellerei.  Nach  Guevara  gibt  namentlich  A.  Perez,  der  Vertraute 
Philipps  IL,  besonders   seitdem   er    als  Flüchtling  in  Frankreich  und  Eng- 

Graciän.  land  lebt,  ein  böses  Beispiel.  Der  Jesuitenpater  Graciän  (f  1658)  hat 
außer  seiner  berüchtigten  Theorie  des  Conceptismo,  die  als  maßgebendes 
Stilbuch  viel  Schaden  angerichtet,  eine  Reihe  gedankenreicher  Bücher 
über  die  Kunst  des  Lebens  geschrieben.  Er  lehrt  in  gedrängten  Cha- 
rakterbildern, in  Form  des  allegorischen  Romans,  in  Aphorismen,  die 
Ausbildung  der  hervorragenden  Persönlichkeit,  des  „Heros",  in  dieser  Welt 
der  Schurken  und  Dummköpfe,  eine  Lehre,  die  im  Grunde  dem  Dogma 
zuwiderläuft.  Im  Ausdruck  dieses  kampfbereiten  Lebenspessimismus  ent- 
faltet er  einen  unerschöpflichen  Reichtum  an  Bildern,  erklingen  alle  Töne 
des  Humors,  der  Satire.  Dieser  tiefe  Denker  ist  ein  großer  Darsteller. 
Leider  hat  er  vergessen,  daß  Schlichtheit  eine  Bedingung  wahrer  Kunst 
ist.  Die  Mätzchen  seines  quintessenzierten  Stiles  haben  ihm  zwar  damals, 
als  die  Franzosen  seine  Bücher  Europa  vermittelten,  nicht  Eintrag  getan; 
aber  heute  halten  sie  seine  Wiedererstehung  hintan,  obwohl  Schopenhauer 
sich  seines  „Handorakels"  weise  angenommen  hat. 

Quevedo.  Weniger  Sammlung,  Vertiefung  und  Vornehmheit  als  der  in  sicherer 

Stellung  lebende  Gracian  zeigt  sein  genialer  Freund  und  Geistesverwandter 
Quevedo,  den  das  Leben  schwer  bedrängt  hat.  Er  erscheint  dem  haus- 
hälterischen Graciän  gegenüber  als  der  Verschwender,  der  die  Münze 
seines  originellen  und  exzentrischen  Geistes  wie  prahlerisch  ausgibt.  Die 
Phantastik  seiner  kraftvollen  satirischen  „Träume"  hat  viel  Nachahmung 
gefunden.  Auf  seiner  Spur  schrieb  Velez  de  Guevara  den  „hinkenden 
Teufel"    (1641),  jenes    kunstreiche    Nachtbild    des    Madrider   Lebens,    das 


C.  Die  kastil.  u.  portugies.  Literat,  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrh.    II.  Die  Zeit  d.  Habsburger.     200 

durch  Lesage  der  Weltliteratur  zug-eführt  \vord<.'n  ist.  Seinen  ganzen 
hohen  Krnst  leiste  Quevedo  in  die  Schrift,  mit  der  er  in  die  wogende 
politische  Literatur  der  Zeit  eingriff,  die  „Politik  Gottes"  (1620).  Nicht 
um  die  Gründung  eines  weltlichen  Staates  handelt  es  sich  —  wie  in  dem 
Italien  Machiavells  — ,  sondern  um  Erhaltung  einer  christlichen  Monarchie, 
die  in  offenkundigem  Verfalle  begriffen  war.  Das  gequälte  Spanien  hält 
seinen  Königen  das  Idealbild  eines  christlichen  Fürsten  vor. 

Eifrig    hörte  Europa    all   diese  Lehren,  die  vom  Prestige  eines  Welt-      Rom*» 
reichs    getragen    waren;    noch    eifriger    lauscht    es    den    Geschichten    der  °"'^  >«'o"U'» 
spanischen  Erzähler.     Hier  hat  Spanien  nicht   nur  historisch   Bedeutsames, 
sondern  Unvergängliches  geschaffen. 

Nebeneinander  blühte  der  Idealroman  und  die  realistisch-satirische  ivr  ideairoman. 
Erzählung.  An  die  Drucklegung  des  „Amadis"  (1508)  schließt  sich 
während  mehr  als  50  Jahren  eine  lange  Reihe  von  phantastischen  Ritter- 
geschichten, deren  fahrende  Helden  in  edlem  Minnedienst  und  endlosem 
Kampf  gegen  Gewalt,  List  und  Zauberei  die  Dinge  dieser  Welt  von  oben 
nach  unten  kehren.  Die  Dynastie  der  Amadise  allein  füllt  schließlich  12, 
ja  14  Bücher,  dazu  die  Felixmarte,  Lepolemo,  Belianis,  die  Palmerine, 
deren  berühmtester,  „Palmeirim  de  Inglaterra**,  ein  Portugiese  beigesteuert 
hat,  der  aus  der  höfischen  Gesellschaft  Frankreichs  herausschreibt  (1544). 
Ein  Portugiese  ist  es  auch,  doch  ein  kastilisch  schreibender,  der  den 
Rahmen,  den  Sannazar  im  Idyll  „Arcadia"  für  seine  Liebe  geschaffen, 
zum  Hirtenroman  ausbaut  („Die  sieben  Bücher  von  der  Diana"  des  Jorge 
de  Montemayor,  1558),  in  dessen  sentimentalem  Liebesleben  er  seine 
Herzensgeschichte  idealisiert,  in  die  elegante  Prosa  zierliche  Verse 
mischend.  Seine  glückliche  Erfindung  fand  unter  den  Größten  Fortsetzer 
und  Nachahmer.  So  trat  der  Pastoralroman  neben  den  Ritterroman,  und 
die  beiden  Minnewelten  des  Mittelalters  und  der  Renaissance  begannen 
sich  zu  vermischen. 

Und  daneben  tat  sich,  nun  die  Maurenherrschaft  der  Vergangenheit 
angehörte,  die  Welt  des  maurischen  Rittertums  auf.  Sie  entstieg  den 
Sagen  der  letzten  Grenzkriege.  Schon  in  der  „Diana"  findet  sich  die 
reizende  Novelle  von  einem  treuen  und  tapferen  Abencerrajen  und  der 
schönen  Jarifa  eingelegt.  Den  poetischen  Ausbau  dieser  historischen  Welt, 
deren  Trümmer  er  noch  selbst  geschaut,  unternahm  der  Murcianer  P^rez 
de  Hita  in  seinen  „Guerras  civiles  de  Granada"  (1595)  mit  ihrem  König 
Boabdil,  ihren  Abencerrajen  und  Zegries.  Aus  schöner  Prosa,  aus  über- 
lieferten und  eigenen  Romanzen,  hat  er  einen  geschichtlichen  Roman  von 
großem  Reiz  gebildet  und  damit  die  farbenreiche,  sterbende  granadinische 
Welt  literarisch  in  Mode  gebracht  {Romanccs  moriscos). 

So  hat  Spanien  den  Ritterroman  in  dem  Augenblick  zu  neuem 
Leben  erweckt,  als  die  Buchdruckerkunst  eine  neue  Lesewelt  bereit  stellte. 
Es  hat  auch  den  Hirtenroman  und  die  maurische  Romantik  ge- 
schaffen;   doch    überstrahlt    der   Erfolg    der  Libros   <ü  cabalUria  jeglichen 

Ihl    KVITVK    DIB    G(OK>UkHr.      I     II      I  I^ 


Schelmenroman 


2IO  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

anderen.  Sie  haben  während  eines  Jahrhunderts  in  Spanien  triumphiert 
wie  in  keinem  anderen  Lande.  Hoch  und  nieder,  Weltkinder  und  Geist- 
liche, Lope  de  Veda  und  Ignaz  von  Loyola  „leckten  sich  die  Finger  da- 
nach", wie  J.  de  Valdes  sagte.  Sie  entsprachen  dem  kühnen  und  aben- 
teuerlichen Geiste  des  Landes,  dessen  Krieger  eben  ganz  Europa  durch- 
zogen und  dessen  Conquistadoren  eben  die  Neue  Welt  eroberten. 

Der  Same  der  aus  Gallien  stammenden  Ritterromane  ist  auf  italienischer 
imd  spanischer  Erde  üppig  aufgegangen  und  hat  zu  einer  reichen,  wenn 
auch  künstlerisch  ungleichen  Ernte  geführt.  In  Italien  haben  Bojardo  und 
Ariost  ihre  moderne,  genußfreudige  Zeit  in  romantischen  Epen  idealisiert; 
in  Spanien  verkörpert  Amadis  und  sein  abenteuerliches  Romangefolge  das 
Ideal  eines  verspäteten  Rittertums,  das  vor  Torschluß,  prahlerisch,  noch  die 
ganze  Welt  erobern  will.  Italien  spielte  mit  den  überlieferten  Fiktionen 
in  heiteren  Versen;  das  noch  mittelalterliche  Spanien  baute  sie  mit  gravi- 
tätischem Ernste  in  Prosa  aus. 

Der  Zu  all  dieser  Romantik  schuf  es  auch  das  Gegenstück,  den  Schelmen- 

roman, die  autobiographische  Erzählung  eines  armen  Teufels  [Picaro],  der 
weder  in  Arkadien  noch  in  Utopien,  sondern  im  hungernden  Spanien  ge- 
boren ist  und  sich,  gerieben  und  vorurteilslos,  durch  die  Niederungen  des 
Lebens  schlägt.  Als  Führer  eines  blinden  Bettlers  beginnt  im  „Lazarillo 
de  Tormes"  (1554)  der  kleine  Held  seine  Laufbahn,  als  Diener  eines  Geist- 
lichen, eines  Hidalgo,  eines  Ablaßhändlers  setzt  er  sie  fort,  als  öffentlicher 
Ausrufer  und  Gatte  einer  Pfarrköchin  schließt  er.  Der  unbekannte  Ver- 
fasser, der  hier  Eigenes  mit  altem  Possen-  i^entr eines)  und  Schwankmaterial 
zu  einem  schlichten  Ganzen  zusammenfügte,  hat  nicht  nur  ein  kleines  Meister- 
werk humorvoller  realistischer  Erzählung,  sondern  auch  das  erste  Muster 
einer  neuen  Gattung  geschaffen.  Er  hat  die  dem  Publikum  vertraute  Figur 
des  verschlagenen  „Valet  de  Comedie"  zum  Träger  einer  Satire  der  spanischen 
Gesellschaft  gemacht.  Daß  er  Grund  hatte,  seinen  Namen  zu  verschweigen, 
geht  daraus  hervor,  daß  die  Inquisition  das  Büchlein  wegen  seines  anti- 
klerikalen Geistes  verfolgte. 

Ein  halbes  Jahrhundert  verging,  bis  ein  zweiter,  Aleman,  zu  dem 
Rahmen  griff.  Dessen  „Guzman  de  Alfarache*'  weckte  dann  nachdrück- 
lich die  Lust  an  der  satirischen  Picaro- Erzählung,  die  von  Spanien  aus 
ganz  Europa  ergriff.  Einen  gesprächsreichen  Komödiantenroman,  der  diesen 
nämlichen  Geist  atmet  und  von  der  nämlichen  scharfen  Beobachtungsgabe 
erfüllt  ist,  gibt  Rojas  in  seiner  „Unterhaltsamen  Reise"  (1604),  die  durch 
Scaraons  „Roman  comique"  zu  „Wühelm  Meister"  leitet. 

Cervantes.  Die   utopistische  Welt   des  Amadis   und  die  gemeine  des  Picaro  ver- 

einigte zu  einem  Vollbilde  des  Lebens  Cervantes.  Sein  „Don  Quijote" 
ist  eine  Synthese  aus  Idealismus  und  Realismus.  Der  Humor  vereinigt 
und  versöhnt  sie. 

Der  kastilische  Hidalgo  Miguel  de  Cervantes,  obwohl  Kind  der 
Universitätsstadt  Alcalä,   war  kein  „studierter  Mann",   sondern  ein  „lego" 


C.  Die  kastil.  u.  portuyies.  Literat,  bis  zum  Ende  des  17.  Jahrh.    II.  Die  Zeit  d.  Habsburger.      2  l  l 

(Laie).  Ihn  hat,  nachdem  er  notdürftig-  Latein  gelernt,  das  Leben  geschult: 
wir  finden  den  Zweiundzwanzigjährigen  (156g)  im  Hofhalt  eines  Kardinals 
zu  Rom.  Er  focht  bei  Lepanto  mit  und  verlor  dort  die  linke  Hand,  aber 
er  bewahrte  die  Freude  am  Waffendienst,  die  auch  noch  aus  Scherz  und 
Ernst  seines  „Don  Quijote"  spricht.  Korsaren  führten  ihn  (1575)  zu  lang- 
jähriger Gefangenschaft  nach  Algier,  und  auf  den  Glanz  weltgeschichtlicher 
Tage  folgte  die  Schmach  der  Sklaverei.  Losgekauft,  kehrte  er  nach  Spanien 
zurück  (1580),  aber  das  Vaterland  bot  ihm  nur  kärgliche  Existenz,  zumeist 
in  Verwaltungsgeschäften,  deren  Verwickelungen  ihn  vorübergehend  ins 
Gefängnis  führten.  In  den  Residenzstädten  Valladolid  und  Madrid  ver- 
suchte er  es  daneben  seit  seinem  35.  Jahre  auch  mit  der  Schriftstellerei. 
Aber  dramatische  Arbeit  lag  ihm  nicht,  auch  wenn  er  Selbstgeschautes, 
wie  im  „Leben  zu  Algier",  darstellte.  Seine  „Xumancia"  ist  ein  Stück 
patriotischer  Eloquenz.  Lebensvoll  gerieten  ihm  nur  die  kleinen  Possen, 
in  denen  er  die  Narren-  und  Schelmenwelt  seiner  Novelas  skizzierte.  Die 
Bühne  lohnte  ihm  schlecht  und  seine  Erzählungskunst  hatte  erst  spät  Er- 
folg. Der  Hirtenroman  „Galatea"  (1585)  wurde  wenig  gedruckt,  so  daß 
20  Jahre  vergehen,  ehe  ein  neues  Buch  des  unberühmten  Autors  erschien: 
der  „Don  Quijote"  (1605 — 16 14). 

Cer^-antes'  literarische  Bildung  stammt  aus  Italien.  Dieses  Land  war 
seine  Hochschule:  italienische  Volgarizzamenti  haben  ihm  die  antike 
Literatur  vermittelt;  an  italienischen  Autoren,  Ariost  an  der  Spitze,  hat  er 
seine  Erzählungskunst  gebildet;  Italien  gab  ihm  das  Beispiel  der  literarischen 
Heerschau  seiner  „Reise  zum  Parnaß";  Strophen  italienischer  Lyrik  streut 
er  in  seine  Bücher.  Sonst  schätzt  er  Übersetzerarbeit  gering.  Er  rühmt 
sich  mit  Recht  seiner  Originalität.  Doch  ist  es  etwas  übertrieben,  wenn 
er  161 3  in  der  Vorrede  zu  seinen  Mustemovellen  sagt:  „Ich  bin  der  erste 
spanische  Novellist  .  .  .  mein  Geist  hat  diese  Geschichten  erzeugt,  meine 
Feder  sie  geboren  und  in  den  Armen  des  Druckes  sollen  sie  heranwachsen." 
Er  ist  ein  großer  Erfinder,  wie  Bojardo.  In  diesen  prächtigen  Novellen, 
in  den  posthumen  „Mühsalen  des  Persiles"  (161 7)  gibt  er  inmitten  von 
bunten  Verwickelungen,  bei  denen  er  selbst  an  den  Roman  Heliodors 
erinnert,  lebenswahre,  humorverklärte  Handlungen  und  Menschen  spanischer 
Erde  aus  Andalusien,  Estremadura,  Kastilien,  von  der  Landstraße,  in 
algerischer  Sklaverei,  aus  dem  Zigeunertum.  Hier  hat  er  jene  Preziosa 
gebildet,  deren  Liebreiz  auch  neben  dem  ihrer  glänzenden  literarischen 
Kinder,  wie  Mignon,  Esmeralda  und  Carmen,  nicht  verblaßt  ist.  Cervantes' 
„Novelas  ejemplares"  sind  glückliche  Muster  einer  reichen,  bald  roman- 
tischen, bald  realistischen  Erzählungsliteratur  geworden,  welche  die  nächsten 
Jahrzehnte  füllt  und  Frankreichs  Nachahmung  geweckt  haben. 

In   den   nämlichen  sorgenvollen  Jahren  schrieb  er  die  ergötzliche  Ge-  Don  Quijote. 
schichte    seines    „Don    Quijote".     Auch    der    war   ursprünglich    wohl    eine 
Novelle   und   umfaßte   nur  die  ersten  sechs  Kapitel  des  späteren  Romans: 
die  „Novela  ejemplar"  von  einem  Narren,  wie  die  andere  vom  „gläsernen 

'4* 


2  12  Heinrich  Morf  :  Die  romanischen  Literaturen. 

Assessor".  Der  „sinnreiche  Junker"  ist  der  Typus  jenes  spanischen  Adeligen 
{Hidalgo)  —  Adelssucht  ist  Spaniens  Krankheit  — ,  der  mitten  in  einer 
neuen  Welt  von  alten  Träumen  lebt,  der  nicht,  wie  Cervantes  selbst,  die 
Einsicht  und  Energie  hat,  in  den  Kampf  ums  Dasein  hinauszutreten,  sondern, 
zu  stolz,  um  zu  arbeiten,  in  schäbiger  Vornehmheit  unter  den  Trümmern 
seines  ländlichen  Wohlstandes  haust,  eine  Zielscheibe  des  Spottes,  dem 
Lustspieldichter  längst  verfallen.  Diesen  unnützen  Hidalgo  und  die  unnütze 
Literatur,  die  von  seiner  verblichenen  Größe  erzählt:  die  Ritterromane  — 
diese  unwirklichen  Menschen  und  Bücher  will  Cervantes  an  der  Wirklich- 
keit messen.  Er  hat  den  genialen  Einfall,  seinen  Hidalgo  als  einen  Menschen 
darzustellen,  der  ob  der  Lektüre  seiner  Ritterbücher  den  Verstand  verloren 
und  nun  auszieht,  um  deren  Ritterideal  in  dieser  schlechten  Welt  wieder 
herzustellen.  Die  wunderbare  Kontrastwirkung  zwischen  Lebenswirklich- 
keit und  Phantasterei  wird  dadurch  noch  reicher,  daß  den  gebildeten,  aber 
närrischen  Junker  ein  einfältiger  Knappe,  Sancho  Panza,  als  Echo  der 
nüchternen  Welt  begleitet.  Und  nicht  höhnisch  schildert  uns  der  Dichter, 
wie  der  arme  Narr  sich  an  der  Realität  stößt,  wie  er  gegen  Windmühlen 
und  Schafherden  kämpft,  Zuchthäusler  befreit  und  Barbierbecken  erobert, 
sondern  mit  einem  milden  Humor,  der  dem  Leser  den  Helden  lieb  macht, 
wie  er  dem  Autor  lieb  war.  Auf  drei  Ausfahrten  führt  er  seinen  Ritter 
durch  Spaniens  Welt  dahin.  Mit  jeder  reift  Cervantes'  Sicherheit  und  wird 
seine  Kunst  freier.  Was  ursprünglich  nur  als  Satire  der  Ritterbücher  ge- 
dacht war,  wird  zu  einem  Bilde  des  Lebens.  Mit  heiterer  Skepsis,  ohne 
Bitterkeit,  beschaut  sich  Cervantes  dessen  zweifelhaftes  Treiben,  unter  dem 
er  selbst  so  schwer  gelitten.  An  der  Sonne  seines  Humors  sprießt  aus 
diesen  bodenständigen  Geschichten  unvergängliche  Lebenswahrheit,  und  zu 
ihrem  Realismus  gesellt  sich  die  Romantik  der  Novellen,  die  in  den 
Rahmen  der  großen  Erzählung  eingefügt  sind.  Scherz  und  Ernst  fließen 
zusammen,  wie  in  Don  Quijotes  Kopf  Bildung  und  Narrheit  nebeneinander 
wohnen.  Durch  die  Heiterkeit  schimmert  der  Ernst,  und  aus  gravitätischer 
Rede  klingt  die  Stimme  des  Schalks.  Jeder  Leser  wird  das  anders  sehen 
und  hören,  aber  keiner  wird  sich  dem  Zauber  dieses  unvergänglichen 
Lebensbildes  entziehen.  So  sicher  es  z.  B.  ist,  daß  Cervantes  die  Vernich- 
tung der  räuberischen  Berberstaaten  Algiers  wünscht,  so  zweifelhaft  er- 
scheint es,  ob  er  wirklich  die  Morisken  Spaniens  gehaßt  und  ihre  ver- 
hängnisvolle Austreibung  gebilligt  habe. 

So  hat,  hundert  Jahre  nach  Ariost,  Cervantes  noch  einmal  aus  der  ent- 
schwundenen Welt  des  weiland  französischen  Minneromans  ein  modernes 
Kunstwerk  entstehen  lassen,  das  zugleich  ihr  Mausoleum  ist.  Roland  ist 
zum  armen  närrischen  Junker  geworden,  mit  dem  der  Alltag  seinen  Schaber- 
nack treibt,  und  Angelika  zur  derben  Bauemdirne  von  Toboso,  die  Minne- 
botschaft nicht  versteht.  Der  spanische  Humor  hat  diese  Welt  endgültig 
entzaubert  und  unter  Sancho  Panzas  Piedestal  gebannt.  Aber  der  liebens- 
würdige Künstler   hat   uns    nichts  geraubt,    sondern  viel  geschenkt,    denn 


^ 


C.  Die  kastil.  u.  portugies.  Literat,  bis  zum  Ende  iles  i7.Jalirh.     11.  Die /cn  d.  Habsburger.      213 

wir    können     den    Ingenioso    Hidalgo     neben     dem    Orlando     furioso    ge- 
nießen. 

Gegen  Ende  seines  Lebens  wollte  Don  Quijote  aus  einem  Ritter  ein 
Schäfer  werden.  Cervantes  dachte  also  daran,  eine  andere  moderne  Narr- 
heit, an  der  er  selbst  mit  seiner  „Galatea"  Anteil  hatte:  die  Schäferei,  zu 
verspotten.  Doch  hat  er  diese  Aufgabe  anderen  überlassen,  die  kein 
Kunstwerk  daraus  schufen. 

Schon  zu  Lebzeiten  des  Cervantes  machten  sich  Unberufene  an  die 
Fortsetzung  und  Nachahmung  seines  Buches  und  nie  hat  man  seither  auf- 
gehört Don  Quijote  und  Sancho  zur  Satire  auf  Philosophen,  Literaten, 
Politiker  und  Kirchenmänner  zu  verwenden:  Napoleon  ist  ihr  verfallen, 
wie  die  Demokraten,  Freidenker,  wie  die  Puritaner  (Hudibras),  Fräulein 
von  Scudery  wie  Bodmer  (^Don  Sylvioj.  Und  Gottsched  hatte  es  Lessing 
wenigstens  zugedacht.  Aber  wenn  die  unverwüstliche  Lebenskraft  der 
Cervantesschen  Erfindung  in  all  den  Nachahmungen  sich  bewährte,  so  ist 
die  überlegene  Kunst  des  Erfinders  ihnen  auch  allen  gefahrlich  geworden. 
Sie  sind  verstaubt  und  vergessen,  indessen  das  Original  lebt  als  das  meist- 
übersetzte und  verbreitetste  Buch,  das  jenseits  der  Pyrenäen  entstanden 
ist,  und  es  muß  gesagt  werden,  daß  sich  das  Ausland  des  Werkes  lange 
Zeit  mehr  angenommen  hat,  als  seine  Heimat  und  das  germanische  Aus- 
land mehr  als  das  romanische,  Frankreich  oder  gar  Italien.  Der  Humor 
des  Cer\'antes  hat  die  reichsten  Sympathien  und  die  meisten  Anklänge  bei 
den  Germanen  gefunden,  von  Fielding  bis  Gottfried  Keller.  Er  ward  ihr 
Führer  auf  dem  Wege  von  der  lieblosen  Satire  zum  sympathischen  Scherz. 

Die  spärlichen  Trümmer  liturgischen  Theaters  in  lateinischer  und  in  r>i« dr*mmti»cb«- 
spanischer  Sprache  (11. — 13.  Jahrhundert)  weisen  auf  französischen  Einfluß.  Li«««*«"'- 
Daß  Weihnachtsspiele  (die  Hirten;  die  drei  Könige)  und  Osterspiele  (Auf- 
erstehung mit  Passion)  blühten  und  auch  eine  ausgelassene  weltliche  Posse 
{Juegos  de  escarnios)  bestand,  zeigt  uns  eine  Verordnung  um  1250.  Daß 
diese  Ausgelassenheit  auch  ins  kirchliche  Drama  eindrang',  beweisen  die 
Verbote,  die  solche  inlwncstas  rcprcrsoitationcs  oder  farsas  in  späterer  Zeit 
treffen  (um  1500).  Es  blieb  übrigens  bei  der  bescheidenen  Dramatisierung 
einzelner  Fakta  der  biblischen  Geschichte.  Sie  zu  „Mysterien"  aneinander 
zu  reihen  wurde  nur  in  Katalonien  versucht. 

Immer  mehr  entwickelte  sich,  wie  in  England,  das  Fronleichnamsfest 
im  16.  Jahrhundert  zu  einem  Zentrum  religiöser  Dramatik  mit  biblischer 
{Auto)  oder  mehr  moralischer  {Farsa)  Unterweisung,  die  weder  die  weisen 
Reden  allegorischer  Figuren  noch  die  Spaße  des  Narren  (Bodo)  verschmäht. 
Die  Polemik  gegen  die  Reformation  dringt  ein  und  vor  der  Schärfung 
konfessionellen  Empfindens  verschwinden  Naivetät  und  Bobo.  Es  über- 
wuchert die  Allegorie  mit  jener  gereizten  Frömmigkeit  und  schwülen 
Mystik  der  glaubenseifrigen  Dichter  des   17.  Jahrhunderts. 

Kurz  vor  1500  begegnen  wir  zu  Madrid  und  gleich  nach  1500  zu 
Lissabon    den    ersten    Dramatikern,    dort    Encina,    hier   Vicente.      Beide 


214 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


zeigen,  wie  gegenüber  dem  Weihnachtsspiel  mit  seinen  reahstischen  Hirten- 
szenen die  Passion  zurückblieb.  Beide  bedienen  sich  des  lyrischen  Verses 
und  legen  g-erne  eigentliche  Lieder  ein,  besonders  am  Schluß.  Die  Namen 
Reprcscntacion,  Comedia,  Auto,  Farsa  erscheinen  noch  in  ungeschiedenem 
Gebrauch. 

Der  Portugiese  Vicente,  der  auch  spanische  Stücke  schreibt,  ist 
mittelalterlicher;  aber  er  ist  der  größere.  In  seinen  Hirtenspielen  ist  zum 
plebeischen  Hirten  biblischer  Tradition  der  Eklogenhirt  noch  nicht  getreten 
wie  bei  Encina.  Nur  in  seinen  höfischen,  mythologischen  Festspielen  ver- 
rät er  Einfluß  Italiens.  Seine  religiösen  Stücke  sind  von  viel  originellerer 
Art  (z.  B.  sein  Prophetendrama)  und  eine  bunte  Fülle  eigenartiger  und 
überlieferter  Komik  zeigen  seine  kleinen  Lebensbilder  mit  ihren  Hirten 
und  Bauern,  ihren  hungrigen  Hidalgos,  ihren  Mauren,  Juden,  Zigeunern. 
Die  neue  Welt  des  Seefahrertums  spielt  hierein.  Auch  NovellenstofEe 
dramatisiert  er.  Während  bei  Encina  alles  in  die  Pastorale  gebannt  ist, 
die  aus  dem  Zusammentreffen  biblischer  und  antiker  Überlieferungen  ihre 
Kraft  zieht,  zeigt  der  Portugiese  die  mittelalterliche  Tradition,  unter 
augenscheinlichem  französischem  Einfluß,  in  viel  reicherer  Entfaltung. 

Zu  Encina  und  Vicente  gesellt  sich  an  der  Schwelle  des  i6.  Jahr- 
hunderts der  unbekannte  Kleriker,  der  den  Prosadialog  von  Calisto  und 
Melibea  verfaßt  hat,  ein  Lesedrama  in  ursprünglich  i6  Abschnitten  [Autos), 
in  denen  die  tragische  Liebe  dieses  Paares  auf  dem  Hintergrund  der 
Kuppler-  und  Dirnenwelt  geschildert  ist,  die  sich  um  die  alte  Celestina 
gruppiert.  Der  geniale  Autor  dieser  Komposition  malt  mit  schimpflicher 
Sachkenntnis  in  kraftvollem  Realismus  diese  Welt  und  in  der  Darstellung 
der  Liebe  weiß  er  zarte  Empfindung  mit  stürmischer  Leidenschaft  und 
Sinnlichkeit  lebenswahr  zu  vereinigen,  als  ein  spanischer  Villon.  Das 
originelle  Gebilde  steht  an  der  Spitze  der  zahlreichen  spanischen  Buch- 
dramen und  hat  in  den  Leidenschaftsschilderungen  der  Bühnenstücke  tiefe 
Spuren  hinterlassen. 

Inzwischen  lernt  Spaniens  weltliche  Dramatik  weiter  von  Italien. 
Torres  de  Naharro  schreibt  um  1515  für  die  spanische  Gesellschaft 
am  Hofe  Leos  X.  Festspiele,  Possen,  romantische  Dramen,  in  welchen 
sich  der  Geist  spanischer  Ritterlichkeit  originell  mit  italienischer  Kunst- 
übung mischt.  Auch  der  Sevillaner  Lope  de  Rueda  tritt  seit  1544  als 
Schüler  der  Italiener  auf,  deren  Truppen  damals  Spanien  durchzogen.  Er 
überträgt  ihre  geschriebenen  Komödien  und  schafft  mit  direkter  Benutzung 
ihrer  Stegreifpossen  kleine  komische  Prosastücke,  dramatisierte  Anekdoten 
des  andalusischen  Alltags,  erfüllt  von  der  „Weisheit  der  Gasse",  die  in 
umfangreichere  Dramen  eingeschoben  werden  können  und  deshalb  Pasos 
(Episoden),  Entremeses  (Zwischengerichte  von  der  späteren  feineren  Kunst: 
Comedias  antiguas)  genannt  werden. 

Die  direkte  Einwirkung  der  antiken  Dramatik  tritt  in  Portugal  etwas 
mehr    hervor    als    in  Spanien,    bleibt  aber  in  beiden  Ländern  unerheblich. 


C.  Die  kastil.  u.  portuyics.  Literat,  bis  zum  Ende  des  1 7.  Jahrh.    II.  Die  Zeit  d.  Habsburj^cr.      2  1 5 

Trafifödien  nach  den  Griechen  und  Seneca,  Komödien  nach  Phiutus  und 
Terenz  sind  vereinzelt.  Xur  Fcrreira.s  Tragödie  „Ine.s  de  Ca.stro"  (um 
1560)  erwarb  sich  in  Portugal  dauerndes  Bürgerrecht  und  fuhrt  der  Nach- 
welt einen  willkommenen  dramatischen  Stoff  zu. 

Die  fremden  Beispiele  vermochten  die  nationale  Kunstübung  nicht  zu 
verdrängen;  sie  beeinflußten  sie  bloß  und  disziplinierten  sie.  Die  drama- 
tische Handlung  gewann  an  Fülle  und  wurde  in  Akte  geteilt,  denen  die 
mittelalterliche  Bezeichnung  Jornada  (ital.  Giornata.,  franz.  Juiirti^c)  verblieb. 
Schließlich  blieben  drei  Akte  herrschend.  Die  lyrische  Form  blieb  Siegerin 
über  die  importierte  Prosa;  aber  die  italienischen  Formen  des  Verses  und 
der  Strophe  (Oktave,  Sonett)  traten  neben  die  nationalen  Romanzenverse, 
die  Redondillas  und  Quintillas.  So  behielt  das  Drama  die  strophi.sche 
Gliederung  des  Dialogs  bei:  eine  Fessel,  aber  auch  ein  Schmuck  von 
eigenartigem  Reiz  und  zwar  ein  Schmuckstück  aus  alter  Zeit,  aus  dem 
Schrein  der  Kirche  stammend:  das  alte  liturgische  Singspiel  hatte  diese 
Tradition  geschaffen.  So  ist  das  Drama  formell  tief  in  alter  Überlieferung 
verankert  Aber  auch  inhaltlich  stand  es  fest  in  dieser  Überlieferung.  Die 
nationalen  Stoffe  wurden  nach  Torres'  Beispiel  von  Cueva  nachdrücklich 
gepflegft.    Damit  übernahm  nun  Spanien  durch  Lope  de  Vega  die  Führung.  Lop«  dev« 

Die  Familie  Lopes  stammte  aus  Asturicn,  wo  alles  adelig  ist  Der 
Dichter  wuchs  in  Madrid  als  undiszipliniertes  Wunderkind  heran.  Hat  er 
vielleicht  auch  an  der  großen  Unternehmung  der  Armada  nicht  selbst  teil- 
genommen, so  begleitet  er  doch  die  Erinnerung  an  1587  und  88  mit 
fanatischem  Chauvinismus  in  epischen  Invektionen  gegen  Francis  Drake 
und  Isabel  (Königin  Elisabeth).  Der  große  Dramatiker  ist  kein  ebenbürtiger 
Epiker,  obschon  die  Fülle  seiner  poetischen  Kraft  ihn  auch  hier  nicht 
verläßt  Er  folgt  Ariost  und  zieht  dessen  schöne  Angelica  nach  Anda- 
lusien; er  macht  Tassos  Jerusalem  zu  einer  „Jerusalem  conquistada"  des 
dritten  Kreuzzuges,  dessen  imaginärer  Held  ein  ka.stilischer  König  ist 
Reichtum  und  Überlegenheit  der  italienischen  Dichtung  i.st  seine  stete 
Präokkupation,  Er  gesteht,  ihr  Nachahmer  zu  sein  und  hofft,  daß  des 
weiten  spanischen  Reiches  grandcs  ingeniös  die  Italiener  einst  übertreffen 
werden.  Ansprechenderes  gelingt  ihm,  wenn  er  bei  der  schlichteren 
heimatlichen  Inspiration  bleibt  wie  im  „Isidro",  dem  Leben  des  Madrider 
Schutzpatrons,  in  welchem  nach  volkstümlich  mittelalterlicher  Art  Legende 
und  Schwank  sich  paaren;  im  komischen  Epos  vom  „Krieg  der  Kater" 
{Gatüma(]uin)  um  die  schöne  Zapaquilda,  in  seinen  Novellen  und  dem 
Roman  vom  „Pilger  in  seiner  Heimat",  wo  er  autobiographische  Elemente 
in  die  bunten  Abenteuer  eines  Liebe.spaares  flicht  Er  liebt  es,  sein  lockeres 
und  doch  arbeitsreiches  Leben  in  der  Dichtung  zu  spiegeln.  Der  Vers  ist 
sein  Element  Er  baut  ihn  mit  genialer  Leichtigkeit  und  Klarheit  Er 
spottet  über  die  Poeten,  die  nach  italienischem  Beispiel  mit  gequälten 
Konstruktionen  und  schweren  Worten  latinisierten.  Er  sieht  darin  eine 
Bettelei,    deren    die  Muttersprache,  die  jetzt  selbst  eine  Senora  sei,    nicht 


2 1 6  Heinrich  Morf  :  Die  romanischen  Literaturen. 

bedürfe.  Nicht  eine  gelehrte  Mühsal,  sondern  eitel  Ergötzen  sei  das 
Dichten,  ein  escribir  deleitando.  Diese  Lust  läßt  ihn  freilich  oft  geschwätzig 
werden,  wie  in  den  7000  Versen  jener  Heerschau  über  300  nationale  Poeten 
(„Apolls  Lorbeerkranz"  1630),  wo  die  Farblosigkeit  der  Urteile  ermüdet 
und  der  Leser  auch  dadurch  enttäuscht  wird,  daß  der  alternde  Dichter 
in  dieser  parnassischen  Musterung  die  volkstümlichen  Formen  der  Dramatik 
und  Lyrik  zurücksetzt.  Und  doch  bilden  gerade  diese  seinen  Ruhm.  Die 
Sammlung  seiner  Lieder  {Rimas,  seit  1604),  die  so  vieles  umfaßt,  was  er 
in  poetischen  Diensten  für  andere  geschrieben,  enthält  neben  glänzender 
Rhetorik  Perlen  schlichter  Lyrik,  neben  kunstvollen  pointierten  Sonetten 
und  burlesken  Klängen  warme  Herzenstöne.  Alter  und  Schicksalsschläge 
steigerten  mit  seinem  religiösen  Empfinden  freilich  auch  seine  äußere 
Kirchlichkeit  und  ließen  ihn  Geistlicher  werden.  Doch  hat  ihn  dies  der 
Bühne  nicht  entfremdet:  ein  halbes  Jahrhundert  hat  er  für  sie  geschrieben. 
Von  seinen  Comedias,  deren  Zahl  er  selbst  auf  anderthalb  Tausend  angibt, 
sind  etwa  450  erhalten.  Dazu  kommen  500  Autos  (Einakter).  Seine 
Entremeses  sind  verloren. 

Im  Widerstreit  zwischen  klassischer  Kunstlehre  und  Bühnenfreiheit 
stellt  sich  Lope  resolut  zur  letzteren  und  setzt  der  Antike  die  „neue  Kunst" 
entgegen.  „Arte  nueva"  betitelt  er  die  kleine  Dramaturgie,  die  er  1609 
an  die  „Doctos"  der  Madrider  Akademie  richtet,  um  zu  zeigen,  daß  er 
zwar  die  gelehrte  Trennung  zwischen  heroischer  Tragödie  und  Alltags- 
komödie und  die  24  Stunden-Regel  des  Aristoteles -Robortello  kenne,  daß 
er  indes  auf  die  Gefahr  hin,  von  Italienern  und  Franzosen  für  einen  Igno- 
ranten gehalten  zu  werden,  sich  von  der  Neigung  des  Volkes  tragen  lasse 
und  den  „barbarischen"  Freiheiten  der  überlieferten  Comedia  treu  bleibe, 
die  allein  ihren  Mann  ernähre  und  deren  Mischung  von  Tragik  und  Komik 
ebenso  ergötzlich  wie  natürlich  sei. 

Lopes  dramatische  Leistung  hat  etwas  von  der  Macht  eines  Natur- 
ereignisses: die  elementare  Wucht  und  die  souveräne  Selbstverständlichkeit. 
Das  strömt  daher  unaufhaltsam  wie  ein  Fluß,  dessen  vorüberziehenden 
Wellen  immer  neue  Wellen  folgen,  der  immer  vorwärts  drängt  und  doch 
immer  da  ist.  Unerschöpflich  ist  die  Fülle  des  Lebens,  die  sein  Theater 
birgt:  eine  ganze  Welt,  wie  sie  erfindungsreicher  kein  zweiter  Dramatiker 
gebildet  hat.  Mit  dieser  Schöpferkraft  verbindet  Lope  einen  Wirklichkeits- 
sinn, wie  ihn  wenige  besessen.  Viele  sind  tiefer  als  er,  keiner  ist 
„wirklicher".  Was  man  vom  Leben  sieht,  das  bringt  er  mit  naiver 
Sicherheit  zur  Darstellung.  Kein  Grübeln  hemmt  ihn  im  Nachbilden  der 
Realität  und  ein  unvergleichliches  Künstlerauge  leitet  ihn.  Das  Leben 
der  Leidenschaft  wogt,  klirrt  und  glänzt  in  seinen  Schauspielen.  Es 
spricht  in  den  feinsten  Nuancen  aus  den  Frauengestalten  dieses  Dichters, 
der  so  reiche,  stürmische  Liebeserfahrung  hatte.  Man  fühlt  Natürlichkeit 
bis  ins  Sprunghafte,  Zufällige  und  Inkonsequente  seiner  Handlungsführung. 
Sorglos,  von  keinerlei  Anspruch  auf  hohe  Kunst  gefesselt  und  —  mißleitet, 


C.  Die  kastil  u.  purtu^irs.  Literat,  bis  zum  Ende  des  i7.Jahrh.    II.  Die  Zen  <i.  Hahsburgcr.     2  1 7 

schafft  er  für  ein  naives  Puhlikuin,  das  bunte  Leben.sbiUler,  Bewegung  von 
ihm  verlanjTt,  das  bis  zum  Scliluß  in  heiterer  oder  bang-er  Spannung  sein 
will.  Nicht  Buchdramen,  sondern  ausschließlich  für  die  Bühne  schreibt 
er,  den  Druck  des  Stückes  fast  dem  Zufall  überlassend.  Die  Einheit  der 
Handlung,  die  er  theoretisch  verteidigt,  handhabt  er  lax,  z.  B.  als  bio- 
graphische Einheit.  Er  dramatisiert  Lebensläufe.  Auf  das  Sinnreich.ste 
weiß  er  die  Episoden  mit  ihren  wechselnden  Stimmungen  in  die  Einheit 
des  Interesses  zu  bannen  und  grelle  Tragik  mit  Lustigkeit  zu  einem 
Gesamtbild  zu  vereinigen.  Aus  dem  „Bobo"  des  alten  Dramas  und  dem 
„Zane"  der  Italiener  formt  er  mit  glücklicher  Hand  die  „Scherzfigur"  des 
Lakaien  (Gracioso),  die  Parodie  des  ritterlichen  Helden  und  Herrn.  Er 
zeigt  im  Detail  eine  geradezu  geniale  Technik  und  im  großen  einen 
wunderbaren  szenischen  Instinkt,  aber  seine  Eilfertigkeit  bringt  ihn  zu  oft 
zu  Fall.  Auch  seine  schönsten  Stücke,  wie  die  tragische  „Estrella  von 
Sevilla"  und  das  lu.stige  „Unmöglichste  von  allen",  sind  ungleich.  In 
anderen  wird  seine  N'irtuosität  zur  Hudelei  und  zum  Mangel  an  Ebenmaß 
gesellt  sich  bisweilen  der  blühende  Unsinn. 

Doch  bleibt  in  dem  halben  Tausend  seiner  erhaltenen  Stücke,  die  das 
moderne  Theater  nicht  mehr  spielt,  genug,  um  ein  wahres  dramaturgisches 
Arsenal  zu  bilden.  Wie  viele  haben  sich  daraus  glänzende  Bühnenrüstung 
geholt,  freilich  nicht  alle  mit  so  bewundernder  Dankbarkeit  wie  Grillparzer. 
Bibel  und  Profangeschichte,  christliche  und  heidnische  Mythologie,  Sage 
und  Tagesereignis,  Biographie  und  Novelle  —  alles  ist  Lope  recht.  Doch 
greift  er  mit  Vorliebe  zum  heimatlichen  Stoff,  zur  Chronik,  zum  Königs- 
drama. Ein  echtes  Kind  seiner  Zeit  und  seines  Standes,  ist  er  in  deren 
Vorurteilen  befangen.  Seine  glaubenseifrige,  ehr-  und  wundersüchtige 
Welt  mutet  heute  fremdartig  an,  ja  wir  empfinden  einen  Mangel  an 
tieferer  menschlicher  SjTnpathie.  Lyrische  Form  und  Stimmung  hilft  in- 
de.ssen  vers()hnlich  über  manches  hinweg.  Lope  weiß  seine  Welt  mit  dem 
Hauche  der  Poesie  seines  J  'erso  dulcc  zu  verklären,  in  eine  unerschöpfliche 
Bildlichkeit  des  Ausdrucks  zu  kleiden  und  auch  sein  lieben.swürdiger 
Humor,  die  natürliche  Anmut  seines  Dialogs  versteht  vieles  zu  überwinden. 
Dem  Mangel  kunstvoller  Inszenierung  begegnet  er  durch  poesievolle 
Situationsmalerei.  Seine  Verse  ergänzen  die  ärmlichen  Kulissen.  Seine 
Kunst  ist  heiter.  Die  Bezeichnungen  Tragicomedia  oder  Tragedia  können 
nicht  aufkommen.  Wegen  ihres  überwiegend  versöhnlichen  Schlusses  bleibt 
den  Schauspielen  der  Name  Comcdia.  Romeo  und  Julia  kriegen  sich  in 
den    „Castelvines  y  Monteses". 

Lope  starb  1635  ^^  Beherrscher  der  nationalen  Bühne  auf  der  Höhe 
einer  beispiellosen  Popularität.  Rasch  erlosch  inde.ssen  sein  Ruhm.  Eis 
verschlang  ihn  die  Flut  der  Nachfolger. 

Die  spanische  Comedia  ist  Lopes  Werk.  Unter  Ablehnung  klassischer 
Kunstfesseln  hat  er  die  lebensfähigen  Elemente  des  Theaters  seiner  Vor- 
gänger zusammengefaßt  und  auf  dieser  be.scheidenen  Grundlage  ein  Werk 


2i8  Heinrich  MORF:  Die  romanischen  Literaturen. 

der  Dichtung  von  solcher  Mächtigkeit  geschaffen,  daß  gleichsam  dessen 
bloßes  Gewicht,  wie  ein  Anker,  die  weitere  Entwickelung  festhielt.  Die 
Comedia  blieb  ein  schmiegsames  Gebilde  in  völliger  Unbeschränktheit  der 
Stimmungen  und  Personen,  blieb  ein  dramatisches  Spiel,  aus  drei  Akten 
{yor?iadas)  bestehend,  deren  Dialoge,  Monologe,  Berichte  im  epischen 
Romanzenvers  oder  in  lyrischen  Strophen,  einheimischen  und  italienischen, 
verlaufen  und  2— 2V2  Stunden  Spieldauer  erfordern. 

Zur  nämlichen  Zeit  haben  Spanien,  Frankreich  und  England  je  einen 
Dramatiker  hen'orgebracht,  der,  vom  neuerwachten  Interesse  an  weltlicher 
dramatischer  Dichtung  geleitet,  in  den  Dienst  der  hauptstädtischen  Bühne 
trat  und,  von  der  Gunst  des  Publikums  getragen,  unbekümmert  um  die 
Fesseln  gelehrter  Kunstregeln,  freie  bunte  Schauspiele  schrieb  und  durch 
die  Mächtigkeit  seiner  Schöpfung  zum  Beherrscher  dieser  Bühne  und  zum 
Vertreter  des  nationalen  Theaters  wurde.  Lope  in  den  Corrales  zu 
Madrid,  Hardy  am  Theätre  de  Bourgogne  zu  Paris,  Shakespeare  am 
Globe  Theater  zu  London.  Ihre  bühnengeschichtliche  Stellung  ist  die 
nämliche,  wenn  auch  ihr  Können  und  ihr  Schicksal  ein  verschiedenes  war. 
Der  größte,  Shakespeare,  fand  keine  ebenbürtige  Nachfolge  und  sein 
Ruhm  erlag  bald  der  Ungunst  der  Verhältnisse.  Der  produktive  Praktiker 
Hardy  war  zu  unkünstlerisch,  um  Dauerndes  zu  begründen;  sein  Drama 
{Tragicomedie)  erlag  der  gelehrten  Kunstkritik.  Allein  Lope  war  es  vor- 
behalten, die  Form  des  freien,  nationalen  Dramas  zu  finden,  welche  jene 
Vereinigimg  von  Kunst  und  Volkstümlichkeit  aufwies,  die  ihm  den  glück- 
lichen Eifer   vieler  Nachfolger   und   die  Gunst   von  Generationen   sicherte. 

So    geschah    es,    daß    nur   Spanien    aus    dem   literarischen  Sturm   der 
Renaissancezeit  ein  ungebrochenes  nationales  Theater  rettete. 
Lopes  Die  unzertrennliche  Begleiterin  der  Comedia  ist  die  Zwischenaktsposse, 

Zeitgenossen    ^.^  ^^  Loocs  Zeiten  ihren  Poeten  in  Benavente  fand.     Er  baute  sie  aus 

und  Nachfolger.  ^ 

und  nannte  sie  „Sainete"  (Leckerbissen).  Er  ließ  auf  die  zweifelhafte  Welt 
des  alten  Entremes  den  Strahl  der  Poesie  fallen  und  gewährte  dem  gesungenen 
Wort  jenen  Anteil,  der  die  Posse  zum  Vaudeville  {Zarzueld)  macht. 

Neben  und  nach  Lope  blüht  die  Comedia,  besonders  unter  Philipp  IV. 
(-{■  1665),  und  von  den  Bühnen  zu  Madrid,  Valencia  und  Sevilla  strömen 
Tausende  von  Stücken  über  das  Land.  Gegen  die  Wucht  dieser  Produktion 
und  den  Tagesbeifall,  den  sie  entfesselte,  konnte  die  akademische  Kunst- 
kritik nicht  aufkommen. 

Aber  die  Zeit  kam  dagegen  auf.  Das  freie  Schauspiel  wurde 
konventionell;  auch  die  „Arte  nueva"  der  Comedia  entwickelte  ihre  Regeln; 
die  Stoffe  erschöpften,  die  Dichter  wiederholten  sich  und  suchten  sich  in 
Verwickelungen  zu  überbieten.  Die  ursprüngliche  Mannigfaltigkeit  ward 
zum  Klischee.  Aus  dem  Gracioso  er^^uchs  die  stehende  lästige  Figur  des 
komischen  Vertrauten,  der  Schatten  seines  Herrn.  Der  siebensilbige 
trochäische  Vers  in  vierzeiliger  Strophe  {Redondilld)  verdrängt  immer  mehr 
die    längeren  Verse    und  Strophengebilde,   und    damit  werden  die  Allüren 


C.  Die  kastil.  u.  porlugics.  Literat,  bis  zum  Ende  des  i7.Jahrli.    11.  Die  Zeil  d.  Habsburger.     2  IQ 

der  Stücke    operettenhafter   und   mit  der  Form  auch  ihre  Gedanken  kurz- 
atmiger.    Auch  drini^t  die  gezierte,  neumodische  Sprechweise  ein. 

Hei  alledem  bleibt  die  Comedia  des  17.  Jahrhunderts  ein  großartiges 
Denkmal  nationaler  Dramatik,  dem  kein  anderes  Volk  etwas  Ebenbürtiges 
an  die  Seite  zu  setzen  hat.  Auch  Frankreich.s  mächtiges  Theater  des 
15.  Jahrhunderts  reicht  bei  weitem  nicht  heran:  mit  der  Kun.st  fehlt  ihm 
der  nationale  Inhalt.  In  der  Comedia  aber  i.st  alles  zusammengeflossen, 
was  das  Land  in  Chroniken  und  Romanceros,  in  Legenden,  Novellen  und 
Romanen  kannte.  Sie  ist  die  X'erkörperung  des  nationalen  Lebens,  eine 
tägliche  Gloritikation  der  rechtgläubigen  und  ritterlichen  Heimat,  das  selbe 
was  früheren  Zeiten  das  Epos  war.  Sie  kettete  in  dem  konservativen 
Land  die  Gedanken  der  Gegenwart  an  die  Erinnerungen  der  Vergangenheit, 
mit  welcher  der  Spanier  des  17.  Jalirhunderts  viel  lebendiger  verbunden 
bleibt  als  die  übrigen  Völker  der  Romania. 

Die  Bodenständigkeit  dieser  Kun.st  hat  das  Au.sland  fremdartig  berührt 
und  direkte  Übersetzungen  erschwert.  Aber  mit  vollen  Händen  haben 
Frankreich  und  Italien  aus  ihren  Motiven  geschöpft.  England  und  Holland 
haben  sie  ebenfalls  nachgeahmt  und  ihr  Einfluß  ist  auch  nach  Deutschland, 
nach  Dänemark  gedrungen.  So  ist  Spanien  zu  einer  führenden  Rolle  in 
der  romanischen  Dramatik  des  1 7.  Jahrhunderts  gekommen.  Wie  viele 
seiner  Dichter  haben  hier  glänzende  Spuren  zurückgelassen!  So  Guillen 
de  Castro,  der  161 2  die  Historie  des  Cid  dramatisierte,  indem  er  die  in 
Romanzen  besungenen  Höhepunkte  der„Mocedades"  (Jugendtaten)  des  Helden 
in  Szene  setzte,  mit  glücklicher  Erfindung  die  Liebe  des  Cid  und  der  Jimena 
zur  Folie  des  überlieferten  Zweikampfes  machte  und  so  die  Reihe  der 
biographischen  Geschehnisse  zum  Drama  erhob  —  worin  ihn  Corneille 
nachahmte,  ohne  ihn  zu  übertreffen.  Aus  der  Comedia  eines  unbekannten 
Andalusiers  stammt  die  unvergängliche  Figur  des  Don  Juan  (Der  Spötter 
von  Sevilla,  1630),  dieses  romanischen  Faust,  die  über  Italien  zu  Moliere 
gelangte.  Und  wie  oft  begegnet  der  Forscher,  um  bei  diesen  beiden 
Franzosen  zu  bleiben,  Spuren  des  sinnreichen  Hurtado  de  Mendoza, 
des  überschäumenden  Tirso  de  Molino,  des  tiefen  Alarcön,  des  kraft- 
vollen Rojas,  des  feinen  Moreto  und  endlich  Calderöns. 

Calderön  (1600—81)  i.st  sozusagen  der  Klassiker  dieser  romantischen  caid^riio. 
Bühne:  Was  bei  Lope  dem  Instinkt  entspringt,  fließt  bei  Calderön  aus 
Überlegung.  Er  ist  in  dem  Maße  weniger  ursprünglich  und  natürlich  als 
er  geordneter  ist.  Den  „Alcalden  von  Zalamea"  gestaltet  Lope  aus  einer 
italienischen  Novelle  zum  richterlichen  Leben.sbild.  Calderön  schält  daraus 
die  Katastrophe  und  bringt  Rai.son  in  die  Strafe.  Die  sinnreich  ausgedachten 
Verwickelungen  seiner  Stücke  sind  mit  sicherem  Vorbedacht  geführt,  aber 
sie  sind  von  zu  einturmiger  Künstlichkeit.  Nach  bestimmtem  Plane  ent- 
faltet er  sein  Thema,  da,  wo  Lope  sorglos  von  Einfall  zu  Einfall  eilt  — 
er  entfaltet  es  mit  prunkhafter  Sicherheit  in  einer  glänzenden  meta- 
phorischen Sprache,  deren  im  Grunde  einförmige  Rhetorik  leicht  ermüdet 


2  20  Heixrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Seine  Kunst  hat  etwas  Imponierendes;  doch  neigt  sie  zur  Manier.  Höfische 
und  kirchliche  Aufträge  (Fronleichnamsspiele)  förderten  diese  Neigung 
und  stellten  kunstvolle  Maschinerie  in  ihren  Dienst.  Calderön  schwelgt  in 
opernhaften  Effekten  und  in  preziöser  Sprachkunst.  Lopes  weltlichem 
Optimismus  gegenüber  vertritt  er  den  christlichen  Pessimismus;  er  ist  der 
katholische  Dramatiker.  Es  ist  „Das  Leben  ein  Traum".  Die  Hölle 
kämpft  mit  dem  Himmel  um  unsere  Seele  einen  grauenvollen  Kampf,  der 
aber  am  freien  Willen  („Der  wundertätige  Magier")  oder  an  der  bloßen 
„Andacht  zum  Kreuze"  scheitert.  Der  Priester  Calderön  dramatisiert  mit 
den  reichen  Mitteln  seiner  Phantasie  und  seines  Lyrismus  und  mit  tech- 
nischer Meisterschaft  spanische  Kirchhchkeit  als  eine  poeta  vates,  der  die 
Inquisition,  aber  auch  Murillo  zur  Seite  hat. 

Er  folgt  auf  Lope,  wie  Tasso  auf  Ariost  folgt.  Er  schließt  eine 
Epoche,  Xach  dem  Tode  seines  Gönners  Philipps  IV.  kamen  die 
traurigen  Jahre  Karls  II.  Calderön  starb  und  das  erschöpfte  Theater  blieb 
verwaist,  wie  die  Malerei  nach  dem  Tode  Murillos  (1682).  — 

Die  Bedeutung  einzelner  dynastischer  Ereignisse  für  die  literarischen 
Beziehungen  von  Land  zu  Land  erfuhr  besonders  das  sonst  isolierte 
Spanien.  Fürstliche  Besuche  kamen  dem  Export  seines  Dramas  und  seines 
Romans  zugute.  Mit  diesen  beiden  unklassischen  Gebilden  trat  es  führend 
vor  die  Romania.  Aber  während  Frankreich  eifrig  aus  der  spanischen 
Comedia  schöpft,  fangen  auch  die  Spanier  schon  an,  vom  französischen 
Theater  zu  entlehnen:  nicht  nur  Moliere  liefert  ihnen  Stoff,  sondern 
Diamante  holt  sich  sogar  den  Corneilleschen  „Cid"  {El  ho7irador  de  su 
padre  1658),  als  ob  die  „Mocedades"  des  Castro  nicht  vorhanden  wären. — 

Die  iberische  Halbinsel  hat  keine  eigentliche  Renaissance  erlebt.  Von 
deren  Bildungselementen  hat  sie  mancherlei  aus  Italien  übernommen,  ohne 
einen  Bruch  mit  dem  Mittelalter  zu  vollziehen.  Von  der  Reformation 
vollends  ist  sie  kaum  erreicht  worden.  Die  beiden  protestantischen  Herde 
von  Valladolid  und  Sevilla,  die  Kreise  erasmianischer  Freidenker,  erlagen 
rasch  der  Inquisition.  Der  Denker  Luis  Vives  (f  1540),  der  spanische 
Erasmus,  lebte  und  lehrte  im  Ausland,  in  Löwen,  Oxford,  Brügge  und 
zerstreute  auf  bewegter  Lebensbahn  seine  lateinischen  Werke,  Bücher 
wirklicher  Aufklärimg.  In  den  Kampf  der  Geister  jener  Zeit  hat  Iberien 
den  Ignatius  von  Loyola  als  seinen  Mann  gesandt. 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik  (das  16.,  17.  und  1 8.  Jahrhundert). 

Diese  drei  Jahrhunderte  sind  literarisch  sehr  fruchtbar.  Zunächst  er- 
scheint Frankreich  ganz  von  Italien'  abhängig.  Dann  tritt  neben  den 
Einfluß  der  italienischen  Renaissance  der  der  spanischen  Romantik.  Aus 
dieser  doppelten  Abhängigkeit  entwickelt  sich  der  stolze  Klassizismus, 
mit   dem   Frankreich   seit   der   Mitte    des    17.  Jahrhunderts  von   neuem  die 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     I.  Die  Renaissance  des  lo.  Jahrhunderts.         2  21 

literarische    Führuntr    Europas    übernimmt    und    dessen    elej^ante   Form    im 
i8.  Jahrhundert  (1<mi   Aufkl.'irungsgedanken  als  \'ehikcl   dient. 

I.  Die  Renaissance  des  i6.  Jahrhunderts.  Das  Jahrhundert  der 
letzten  Valois  ist  eine  bluticfe  Zeit.  Die  erste  Hälfte  ist  von  den  italienischen 
Kriegszügen,  vom  Kampf  wider  Papst  und  Kaiser,  die  zweite  von  den 
Religionskriegen  ausgefüllt.  Die  „Luth^rerie"  dringt  aus  Deutschland 
heriiber.  Die  Sorbonne  verdammt  Luther  1520  und  wenige  Jahre  später 
flammen  die  ersten  Scheiterhaufen  für  die  „Evangelischen".  Auf  dem 
Boden  Frankreichs  stoßen  die  italienische  Renaissance  und  die  deutsche 
Reformation  feindlich  zusammen,  so  daß  weder  die  eine  noch  die  andere 
sich  ganz  entfalten  kann.  1598  machte  der  erste  Bourbon,  Heinrich  IV., 
durch  das  Toleranzedikt  von  Nantes  und  den  F^rieden  von  Vervins  dem 
Streit  der  Waffen  ein  Ende.  Die  herrschsüchtige  Einmischung  Spaniens 
wurde  zurückgewiesen.  Aber  das  bildungsfreundliche  Geschlecht  der 
Renaissance  war  untergegangen. 

Seit   Karl  VIII.  ziehen   die   französischen   Könige    italienische  Schrift-  Der  Charakter 
steller  und  Künstler  in  ihren  Dienst.    Nur  langsam  bricht  sich  das  Studium    ,      ^*'  ^ 
des    Griechischen    Bahn.     Nur    langsam    durchsetzt    sich    das    zähe    mittel-    Renauianc«. 
alterliche  Schrifttum   mit  Renaissance-Elementen:   mit  einer  neuen  feinern 
Kunst  und  einer  neuen  auf  natürlichen  und  persönlichen  Lebensansprüchen 
beruhenden  Weltanschauung. 

Das  blühende  Lyon  ist  die  Eingangspforte  für  italienische  Einflüsse. 
Noch  ist  Paris  nicht  das  Zentrum  literarischen  Lebens.  Zwar  herrscht  das 
Zentralfranzösische  bereits  in  der  Administration  und  Franz  I.  erhebt 
es  (1530)  vollends  zur  Staatssprache.  Aber  dieses  Idiom  ist  nicht  dis- 
zipliniert; es  herrscht  ein  neologistisches  Treiben  und  in  ungebärdiger 
Lebensfülle  mischt  es  Fremdes  und  Heimisches,  Antikes  und  Dialektisches. 
Wortreichtum  ist  die  Devise. 

Zögernd  legte  FVanz  I.  (1530)  den  Grund  zu  einer  freien  Hochschule 
humanistischer  Studien  {College  de  France) y  die  aus  bescheideneu  aber 
bedeutsamen  Anfangen  sich  zu  stolzen  Geschicken  entwickeln  sollte. 

Der  geschichtliche  Zusammenhang  zwischen  FVanzösisch  und  den  alten 
Sprachen  beschäftigt  die  Grammatiker.  (ielehrte  wie  Pasquier  und 
Fauchet  wenden  sich  der  Erforschung  der  Kultur  Altfrankreichs  zu  als 
die  ersten  Romanisten.    Ihre  ernste  Arbeit  zerstört  mittelalterliche  F'abeleien. 

Die  wilden  Zeitläufte  finden  auf  Seiten  der  Katholiken  und  der  Pro- 
testanten farbenreiche  Schilderung  in  Geschichtswerken  und  Memoiren. 
Der  Brief  (die  briefliche  Abhandlung)  hat  hervorragende  Vertreter. 

Während  in  Italien  die  Renaissance  spontan  aus  dem  eigenen  lioden 
sprießt,  trägt  sie  in  Frankreich  den  Charakter  des  Importierten.  Es  liegt 
etwas  Gewalttätiges  in  ihr.  Sie  hat  auch  von  Anfang  an  au.sgesprochene 
politische  Art  Sie  i.st  ein  Stück  französischer  Eroberungspolitik.  FVank- 
reich  will    nicht    nur  Italien  besitzen,    es  will  von  ihm  auch  die   geistige 


222  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Führung  zurückerobern  —  denn  es  herrscht  der  stolze  Glaube,  daß 
Hellas  und  Rom  einst  ihre  Kultur  von  den  gallischen  Druiden  bezogen 
haben.  „Faire  retourner  les  arts  liberaux  en  Gaule'-\  das  ist  das  Programm 
(P.  Ramus):  Frankreich  fordert  sein  angebliches  Erbe  zurück.  Auch  wenn 
es  die  12  Bücher  vom  Ritter  Amadis  aus  dem  Spanischen  überträgt  (1540), 
so  glaubt  es,  altes  Eigentum  „en  so7i  premier  frangais'-''  zu  restituieren. 

Hastig  birgt  es  denn  auch  den  ganzen  Inhalt  der  antiken  Literatur 
in  Übersetzungen,  um  die  Muttersprache  zu  bereichem  und  zum  würdigen 
Werkzeug  seiner  Weltpolitik  zu  machen.  Diese  Übersetzungen  erstreben 
weniger  Genauigkeit  als  moderne  französische  Färbung.  Sie  sind  „de 
heiles  infideles'-'-.  Sie  popularisieren  das  Altertum  für  den  Laien.  Amyots 
Übertragung  des  Plutarch  (1559)  ist  ein  anmutiges,  aber  gefährliches  Vor- 
bild dieser  eleganten  Travestierung:  Plutarch  heißt  fürderhin  Amyot.  Der 
Ciceronianismus  spielt  in  Frankreich  keine  Rolle.  Die  Renaissance  ist  von 
Anfang   an    eine  Bewegung   zugunsten   der   Muttersprache. 

Nach  20 jähriger  Übersetzertätigkeit  und  aktiver  Politik  schreibt 
Seyssel  1515  „La  grande  monarchie  de  France",  zu  der  Zeit  da  Machiavell 
seinen  „Principe"  und  Morus  seine  „Utopia"  verfaßt.  Diese  drei  Bücher 
zur  Neuordnung  der  Zustände  sind  charakteristisch:  die  beiden  Romanen 
sind  Realpolitiker  und  der  Franzose  überdies  ein  Großmachtspolitiker. 
Die  Die  Reformation  fand  in  Calvin  ihr  Haupt.     Dieser  Logiker  gab  ihr 

eonnation.  ^^^^  Systematik  in  sehniger  französischer  Sprache  und  schuf  aus  Genf 
(1541)  die  Hochschule  und  Hochburg  einer  neuen  Orthodoxie.  Die  Bibel- 
übersetzung überließ  er  anderen.  Dem  deutschen  Kirchenlied  hat  der 
Calvinismus  nur  Psalmenübersetzungen  zur  Seite  zu  stellen.  So  ward  er 
für  das  französische  Schrifttum  nicht,  was  Luthers  Werk  für  das  deutsche. 

Auch  in  Frankreich  bildeten  „Evangelische"  und  Humanisten  zunächst 
eine  große  Partei  der  Auflehnung  gegen  den  Zwang  des  Mittelalters. 
Als  aber  der  Calvinismus  eine  neue  Form  des  Glaubenszwangs  einführte, 
vollzog  sich  ihre  Trennung.  Calvin  verdammte  die  Vertreter  der  Renais- 
sancelehren {Libertins);  er  haßte  Natur  und  Persönlichkeit.  Die  mystische 
Königin  Margarete  von  Navarra  und  der  naturalistische  Rabelais 
blieben  mit  ihren  evangelischen  Sympathien  innerhalb  der  katholischen 
Kirche  stehen.  Das  antike  Heidentum  trat  in  Frankreich  weniger  hervor 
als  in  Italien,  weil  inmitten  der  Kämpfe  der  Gegenreformation  auch  der 
Humanist  ein  Bekenntnis  haben  mußte. 

Unter   Berufung   auf  Italien   fordern   und   nehmen    die   Frauen   Anteil 
an   dem   neuen   geistigen   Leben.     Ihr  Anrecht  wird    eifrig   diskutiert  und 
die  „Frauenfrage"  erfüllt  die  Literatur  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts. 
Margarete  In  der  Königin  Margarete  (7  1549)  mischen  sich  in  typischer  Weise 

von  Navarra.  ^^^  Gegensätzc  der  Zeit.  Sie  hängt  paulinischen  Lehren  an  und  macht 
aus  ihrem  Hof  ein  Zentrum  platonischer  Studien.  Sie  verwirft  das  Dogma, 
aber  sie  warnt  auch  vor  der  Gefährlichkeit  des  anmaßlichen  Denkens, 
des  „Cuider^^  {=  cogitare).    Aus  ihren  Liedern  sprechen  mystische  Frömmig- 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     I.  Die  Renaissance  des  1 6.  Jahrhunderts.        223 

keit  und  heitere  Weltfreude;  aus  ihren  didaktischen  Gedichten  die  Minne- 
lehren des  Rosenromans  und  die  Inspiration  Dantes.  Ihr  Vers  ist  etwas 
prohx;  ihre  Prosa  von  eleganter  Glätte.  Eine  Übersetzung  des  Dekameron 
regt  sie  an,  ein  ähnliches  Xovellenbuch  zu  schreiben  {Heptameron\  dessen 
epischer  Teil  oft  genug  indezent  ist,  während  die  angefügten  Gespräche 
Liebeslehren  mit  Glauben.slehren  paaren.  So  erscheint  sie  uns:  in  der 
einen  Hand  das  Evangelium,  in  der  anderen  das  Dekameron  und  ein 
Wort  Piatos  auf  den  Lippen. 

Rabelais    (7  1553),    der    als  Bettelmönch   früh    den  verbotenen   Plato  KabcUii 
las,  der  das  Evangelium  als  Quelle  religiösen  Lebens  pries    und   dem    die 
italienischen  Novellisten  nicht  verhaßt  waren,  ist  ihr  Bundesgenosse.    Doch 
trennt  ihn  von  ihr  der  ganze  Ungeschmack  seiner  mönchischen  Erziehung. 

Sein  Ruhm  bei  den  Zeitgenossen  schreibt  sich  weniger  von  seinem 
heiteren  Witz  als  von  seinem  umfassenden  Wissen  her.  Er  ist  ihnen 
omnium  ho  rar  um  homoy  besonders  auch  der  —  philologisch  gebildete  — 
Arzt 

Für  einen  Lyoner  Verleger  besorgt  er  den  Druck  gelehrter  Arbeiten 
und  bescheidener  Volksbücher.  Die  Freude  an  den  ungeschlachten  Riesen- 
hguren  dieser  Volkssage  ergreift  ihn.  Er  baut  die  Sage  aus  und  spinnt 
sie  weiter.  Er  legt  seinen  ganzen  Durst  nach  Erkenntnis,  nach  Freiheit 
der  Lebensarbeit  und  des  Lebensgenusses  und  seinen  ganzen  Abscheu 
vor  Askese  und  Geisteszwang  in  die  Worte  und  Taten  seines  furchtbaren 
und  gutmütigen  Helden,  des  Pantagruel  und  dessen  Vaters  Gargantua. 

Während  20  Jahren  (1532 — 52)  hat  er  bei  unstetem  Leben  und  mit 
langen  Unterbrechungen  vier  Bücher  veröffentlicht;  das  fünfte  ist  posthum 
und  hat  fremde  Überarbeitung  erfahren.  Die  beiden  ersten  fallen  in  die 
Zeiten  der  jungen  Renaissance  und  atmen  frische  Kampfeslust.  Ihr  Schau- 
platz ist  Frankreich,  besonders  die  heimatliche  Touraine  mit  ihren  Jugend- 
erinnerungen. Das  „Tiers  livre"  stammt  aus  bösen  Jahren  (1540);  der 
Autor  ist  vorsichtiger  und  macht  eine  Diversion  nach  der  „Frauenfrage". 
Die  Fortsetzung  (1552)  steht  im  Schutze  der  gaUikanischen  Kirchenpolitik 
Heinrichs  IL  und  geht  wieder  offener  zum  Angriff  gegen  die  mächtigen 
Hüter  der  mittelalterlichen  Autorität  vor.  Das  neue  Seefahrertum  (die 
Entdeckung  Canadas)  liefert  Rabelais  den  Gedanken,  seine  Helden  auf 
dem  Wege  der  Xordwestpassage  nach  „Oberindien"  (Ostasien)  zu  führen  und 
lebensfrische  geographische  Erkenntnis  der  Allegorie  und  Satire  dienstbar  zu 
machen.  Die  Darstcllungsmittel  der  ernsten  Schriftstellerei  benützt  er  zur 
burlesken  Ausführung  seiner  Spaße  und  Vulgaritäten.  Auf  diesem  burlesken 
Grunde  baut  er  groteske  Erfindungen  in  einer  Sprache  von  überschäumender 
Fülle,  wahllosem  Reichtum  und  fesselnder  Bildlichkeit  Sein  Mangel  an 
Schönheitssinn  ist  für  die  französische  Renaissance  charakteristisch.  Im 
Geist  und  Stoff  ist  Rabelais  ein  Schüler  der  Italiener,  aber  nicht  in  der 
Formung.  Doch  sind  seine  Riesenfiguren  bei  aller  Übertreibung  und 
Vulgarität  voll    tiefer  Lebenswahrheit    und  von   hohem  Gedankenflug:    die 


224 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


ungeschlachten  Propheten  des  Fortschritts  auf  allen  Gebieten.  Sein  Buch 
ist  eine  Phantasie  über  „L'ave?iir  de  la  science'K 

Gegenüber  dem  christlichen  Pessimismus  predigt  er  einen  arbeits-  und 
genußfreudigen  Optimismus  {Pantagruelisnie)  im  Schutze  einer  wohlwollenden 
Gottheit.  Der  Askese  gegenüber  singt  er  einen  begeisterten  Hymnus  auf 
die  Xatur,  auf  Erde  und  Leib,  und  weist  uns  begeistert  irdische  Aufgaben 
und  irdische  Rechte.  Gegenüber  der  Autorität  lehrt  er  das  Recht  der 
Persönlichkeit.  Der  Renaissancepalast,  der  seine  Gesinnungsgenossen  be- 
herbergen soll,  trägt  die  Inschrift:    Fais  ce  que  voudras. 

Mit  Rabelais  sprengt  die  Renaissance  den  mittelalterlichen  Zwang  und 
erhebt   triumphierend    ihr    Haupt.     Da    kommen    die   Religionskriege    und 
brechen  ihren  Mut. 
Eie  Gegen-  In    den   konfessionellen  Kämpfen    siegt    schließlich  der  Katholizismus 

re  orma  on.  ^j-jgj.  Renaissancc  und  Reformation  und  innerhalb  der  katholischen  Kirche 
siegt  die  Societas  Jesu  und  der  Romanismus  über  den  Gallikanismus  der 
Universität  und  der  Landeskirche.  Die  Gegenreformation  brachte  einen 
Aufschwung  kirchlichen  Lebens,  deren  erste  literarische  Frucht  das  schöne, 
etwas  preziöse  Erbauungsbuch  des  FranQois  de  Sales,  die  „Introduction 
ä  la  vie  devote"  (1609)  für  Weltleute  ist,    das    noch  heute  aufgelegt  wird. 

Die  politische  Literatur  bewegt  sich  zwischen  den  beiden  Polen  antiker 
Freiheitslehren  und  der  Theorien  Machiavells.  Sie  gipfelt  in  der  für  die 
Sache  Heinrichs  IV.  g'eschriebenen  Pamphletsammlung  [Satire  JMenippee.,  1693), 
die  den  „Frieden  um  jeden  Preis"  und  einen  nationalen  König  verlangt 
und  in  dem  Buche  vom  Staat  {La  Republique.,  1576),  in  welchem  der 
gelehrte  und  aufgeklärte  Bodin  einen  patriarchalischen  Absolutismus  ver- 
teidigt, Solidarität  predigt  und  den  verwirrten  Gewissen  Lehren  des 
Gemeinwohls  gibt.  Selbst  ein  Freidenker,  wünscht  er  religiöse  Diskus- 
sionen verboten  zu  sehen, 
ii'ontaigue.  Dicses  Ruhebedürfhis    spricht  auch  aus  Montaignes  „Essais",    deren 

107  „Skizzen"  das  Bild  eines  Renaissancemenschen  geben,  den  der  Geist 
der  Antike  geschult  und  den  die  wilde  Gegenwart  eingeschüchtert  hat. 
Mit  38  Jahren  tritt  er  als  Richter  zurück,  der  öffentlichen  Amter  längst 
überdrüssig,  denn  „la  plus  grande  chose  au  vionde  est  de  savoir  etre  a  soi". 
Xur  widerwillig  und  vorübergehend  kehrte  er  zur  amtlichen  Tätigkeit  zu- 
rück als  Bürgermeister  seiner  Vaterstadt  Bordeaux.  Aus  der  behaglichen 
Stille  seines  Schlosses,  wo  er  Lektüre  und  Arbeit  als  Lebenskünstler  maß- 
voll genoß,  ging  die  erste  Form  der  „Essais"  (1580),  wesentlich  Lesefrucht 
aus  Amyots  Plutarch,  hervor.  Dann  unternahm  er  eine  längere  Reise 
durch  Deutschland  und  Italien,  um  Menschen  zu  suchen.  Unablässig  ver- 
mehrte er  seine  „Essais".  Bei  seinem  Tode  (1592)  hinterließ  er  eine  Fülle 
von  Nachträgen,  die  Freundeshand  zum  übrigen  fügte  (1595).  In  dieser 
posthumen  Form  lesen  wir  heute  die  „Essais". 

Nachdem  Montaigne  den  Menschen  erst  in  Büchern,  dann  in  den  andern 
gesucht,  stellte  er  ihn  schließlich  nach  sich  selbst  dar:  „ich  bin  selbst  der 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     I.  Die  Renaissance  des  i6.  Jahrhunderts.        22s 

Stoff  meines  Buches".  Die  „Essais"  sind  kecke  Bekenntni.sse  —  nicht  eine 
St'lbstankla^c,  wie  die  des  hl.  Aujru.stin,  nicht  eine  Verteidijrunj.fsschrift 
wie  die  Rousseaus,  sondern  eine  Beichte  aus  weltlicher  Neugier.  Aber 
darin  gleicht  er  Rousseau,  daß  er  den  lirkenntnisstolz  seines  Zeitalters 
bekämpft.  Er  leugnet  mit  den  Skeptikern  die  Möglichkeit  sowohl  meta- 
physischer als  wissenschaftlicher  Erkenntnis:  (^m:  sais-je?  Er  erklärt 
das  Streben  darnach,  la  malaJive  curiusifi',  als  wertlos,  preist  den  .staaLs- 
erhaltenden  Autoritätsglauben  und  empfiehlt,  den  unruhigen  men.schlichen 
Geist  mit  den  „Scheuledem  der  Tradition,  der  opinions  communcs^*^  zu 
versehen.  Er  ist  wissenschaftsfeindlich  und  läßt  gleichsam  auf  Rabelais' 
„L'avenir  d€  la  scicnce^'  ein  „La  banqueroute  de  la  scicnce^  folgen. 

Er  verurteilt  die  Reformation  als  anmaßliche  Ruhe.störung.  Sein 
Katholizi.smus  i.st  ein  bürgerliches  Bekenntnis.  Sein  Gott  ist  die  Gottheit 
des  Sokrates.  Doch  fehlt  religiöse  Stimmung.  Irdische  Intcres.sen  fesseln 
seine  Aufmerksamkeit:  „das  Erdenleben  ist  unser  alles".  Auch  in  der 
praktischen  Moral  ist  er  ein  Schüler  der  Alten:  Tugend  ist  naturgemäßes 
Leben.  Er  trägt  eine  vom  Gei.ste  der  Renaissance  erfüllte,  naturali.stische 
und  individualistische  Diätetik  der  Seele  und  des  Leibes  vor  gegen  Askese 
und  Entsagung.  Die  höchste  Vollkommenheit  ist  nach  Montaigne:  savoir 
j'ouir  loyalement  de  son  ctrc. 

Der  Verfasser  dieser  Plaudereien  war  ein  großer  Lebenskünstler  und 
die  Kunst  seines  Wortes  steht  auf  der  Höhe  seiner  Lebenskunst,  Eine 
Sprache  voller  Frische  und  Ursprünglichkeit,  von  persönlichster  Prägung 
reichster  und  kräftigster  Bildlichkeit  erfüllt  diese  „Essais",  die,  wider- 
spruchsvoll, kühne  Lehren  moralischer  Befreiung  mit  einer  furchtsamen 
Doktrin  des  Geisteszwanges  vereinigen. 

Der  Kanonikus  Charron  baut  aus  den  Montaigneschen  Skiz/cn  ein 
Lehrbuch  „Von  der  Weisheit"  (1601).  Er  vollzieht  an  Montaigne  die  Arbeit 
des  Klassizismus,  bringt  Regel  und  Ordnung  in  die  Materie,  unterdrückt 
das  Persönliche  und  Indezente.  Er  will  lenksame  und  tolerante  Bürger 
schaffen.  Andere  erheben  das  Wort  um  arbeitsame  Bürger  zu  bilden. 
Es  entsteht  eine  Literatur  zur  Regeneration  des  nationalen  Lebens,  zum 
Preis  der  Landwirtschaft,  des  Handels,  des  Kunsthandwerks  und  der 
Industrie.  Denn,  .sagt  Montchr^tien  in  seiner  „Economie  politiquc"  (löis'», 
la  vic  et  le  travail  sont  ins/ par ablerne nt  eonjoints.  — 

Den  selben  Weg  wie  die  Prosaliteratur  nimmt  die  Dichtung:  enthusias-  ih*  i>ichta«t. 
tisch  kündet  sie  Lehren  einer  neueren  freieren  Kun.st,  um  schließlich,  der 
I-Vfiheit  müde,  sich  der  Autorität  zu  beugen. 

Noch  herrscht  freilich  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  die  alle- 
gorische Poesie  der  prunkenden  „Rh^torique"  und  der  Meisterge.sang  der 
Puys.  Clement  Marot  (7  1554I  bringt  neue  persönliche  Elemente  und 
die  heitere  Kunst  der  gereimten  Plauderei,  doch  in.spiriert  ihn  weder 
Italien  noch  die  Antike.  Seine  Schüler  sind  zugleich  gelehrter  und 
fremdem  Einfluß  zugänglicher.    Sie  liefern  dem  Königshof,  dessen  Brevier 

In«   KllTi«   nia   CticiMWART.     I.  II.   I  15 


2  26  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

der  „Cortigiano"  Castigliones  ist,  poetische  Kleinigkeiten  italienischen 
Geistes.  Aber  der  eigentliche  Einbruch  italienischen  Geistes  vollzieht  sich 
über  Lyon.  Dort  erscheint  die  erste  Übersetzung  eines  italienischen 
Renaissancedramas  (der  Igannatt)  mit  einem  Manifest  dieser  neuen  drama- 
tischen Kunst  (1543).  Dort  entstehen  die  ersten  petrarkistischen  Lieder- 
bücher. Seve  gießt  die  Petrarkismen,  die  er  seiner  Delie  widmet  (1544), 
noch  in  die  Form  des  nationalen  Dizain.  Tyard  aber  benutzt  1549  bereits 
das  importierte  Sonett. 

Ronsard  und  Da    ergreift    der  Norden    die  Führung,    indem    er   über  Italien  hinaus 

DuBeUay.    ^^^^  Altertum  zurückgeht. 

Taubheit  hatte  den  jungen  Höfling  Ronsard  in  die  Bahn  gelehrter 
Studien  gedrängt.  Im  College  Coqueret  zu  Paris  trieb  er  mit  seinem 
Schützling  Baif,  unter  der  Leitung  des  Humanisten  Daurat  eifrig  Griechisch 
(seit  1547).  Zu  ihnen  gesellt  sich  Du  Bellay.  Aus  diesem  Kreise  ging 
1549  die  „Defense  et  illustration  de  la  langue  fran9aise",  das  Manifest 
einer  neuen  Poesie,  hervor.  Es  beruht  auf  Horaz  und  den  italienischen 
Theoretikern  und  bringt  das  Programm  einer  auf  den  Spuren  der  Antike 
gehenden  Dichtung.  Fort  mit  den  Kleinigkeiten  der  Marotschen  Schule! 
ruft  es.  Überlassen  wir  den  Quark  der  Rondeaux  und  Balladen  den 
Meistersingern  der  Puys,  der  im  wissenden  Menge!  Wir  wollen  fortan 
inhaltsschwere  Oden,  Elegien,  Episteln,  Satiren  und  auch  Sonette  bringen. 
Doch  gelte  es  nicht,  die  griechischen  und  römischen  Dichter  zu  übersetzen, 
sondern  in  ernstem  Studium  sie  sich  zu  eigen  zu  machen.  Die  Nach- 
ahmung habe  an  die  Stelle  der  Übersetzung  zu  treten  und  auf  diese  Weise 
werde  es  den  Modernen  gelingen,  in  hoher  Poesie  die  Antike  zu  über- 
winden. Zu  diesem  Zwecke  sei  auch  die  Muttersprache  zu  bereichern 
und  zu  veredeln:  zu  bereichern  durch  freie  Wortwahl  aus  Dialekt  und 
Technik,  durch  Variation  des  nationalen  Sprachguts  in  Ableitungen  und 
Zusammensetzungen;  zu  veredeln  durch  Nachahmung  des  Ganges  der 
antiken  Phrase,  ihrer  Tropen  und  Figuren,  ja  ihrer  Syntax.  Aus  dieser 
Fülle  schöpfe,  o  Poet!  Wähle  nach  dem  Urteile  deines  Ohres,  unbekümmert 
um  kleinliche  Nörgeleien!  Es  werden  Reimfreiheiten  gewährt,  die  in 
Frankreich  dann  erst  300  Jahre  später  wiederkehren  werden. 

Dieses  Manifest  verkündet  den  Ruhm  der  nationalen  Sprache  und 
verwirft  die  nationale  Dichtung;  es  verkündet  die  individuelle  Freiheit  der 
Poeten  und  schlägt  ihn  in  den  Bann  der  Antike;  es  verkündet  eine  neue 
hohe  Poesie  und  gibt  eine  Lehre  des  poetischen  Plagiates.  Es  ist  wider- 
spruchsvoll. Seine  Freiheitslehren  bargen  philologische  Fesseln.  Der 
Fluch  der  Nachahmung  hing  ihm  an  und  erfüllte  sich  an  ihm.  Das  zeigen 
die  Musterbeispiele  die  es  begleiten:  ,Du  Bellays  Sonette  {„Olive")  sind 
eine  Anthologie  italienischer  und  antiker  Gedanken.  Ronsards  Oden  suchen 
keuchend  Pindars  Höhe,  später  spielen  sie  mit  horazischen  Motiven:  häufig 
genug  sind  sie  nur  eine  neue  Variation  der  Lieder,  welche  seit  Polizian 
und  Lorenzo  schon  Italien  der  Antike  nachgesungen  hatte.     Seine  Sonett- 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     I.  Die  Renaissance  des  lO.  Jahrhunderts.        227 

Liederbücher  verbinden  Anakreon  mit  Petrarca.  Beide,  Ronsard  und 
Du  Bellay,  sind  oriji^inelle  Nachahmer,  die  ihren  Entlehnunj^en  den 
Ton  des  Ursprüng^lichen  und  des  Persönlichen  zu  geben  verstehen.  Das 
Altertum  leitet  sie  im  Ausdruck  der  Natur-  und  Lebensfreude,  Petrarca 
im  Ausdruck  der  Liebe.  Sie  fühlen  auch  den  Druck  dieser  Leitunj^  und 
revoltieren  gelegentlich  in  Worten  dagegen,  wie  es  die  Engländer  der 
elisabethanischen  Zeit  tun,  die  den  Italienern  und  Franzosen  ihre  Sonette 
auf  Delia  und  Diana  nachsingen.  Auch  das  poetische  Spiel  Shakespearescher 
Sonette  für  und  wider  eine  dunkle  Schönheit  stammt  aus  Frankreich- 

Die  Schüler  Daurats  konstituieren  sich  enthusiastisch  als  „Sieben-  We  Pi«j«<u. 
gestim",  nachdem  Tyard  den  Einschlag  des  Lyoner  Petrarkismus  gebracht 
und  Jodelle  und  Belleau  (1656)  dazu  gekommen  waren.  Ronsard  ist  ihr 
Haupt  (f  1585).  Er  ist  der  Apoll  des  Hofes  Heinrichs  II.  und  Karls  IX. 
In  seinen  Werken  wird  ein  halbes  Jahrhundert  später  Opitz  die  Lehren 
seiner  deutschen  Poeterei  holen. 

Deutschland  lernt  bei  Frankreich,  wie  dieses  bei  Italien. 

Diese  Plejade  mit  ihrer  Philologendichtung  hat  in  Frankreich  den 
poetischen  Stil  geschaffen.  Ronsard  sang  sich  seine  Verse;  der  taube 
Poet  gab  ihnen  mit  tiefer  künstlerischer  Empfindung  Harmonie  und  Klang. 
Er  erfand  als  ein  großer  Meister  neue  Rhythmen,  neue  Strophen.  Er 
erhob  den  vergessenen  Alexandriner  zum  lyrischen  Vers  der  Franzosen 
und  schenkte  seinem  Lande,  mit  du  Bellay,  einen  Strauß  reizender 
Lieder. 

Der  Beifall,  den  Programm  und  Arbeit  der  Plejade  fanden,  führte 
zum  völligen  Bruch  mit  der  überlieferten  nationalen  Dichtung.  Eine  vor- 
nehmere, fremde  (d.  h.  antike  und  italienische)  Kunstübung  trat  an  ihre 
Stelle  und  engte  das  Gebiet  des  Literarischen  dauernd  ein.  Keinem 
anderen  Lande  hat  die  Renaissance  einen  solchen  Bruch  gebracht 

Schließlich  beherrscht  Italien  völlig  die  französische  Lyrik.  Die 
Hyperbeln,  Antithesen  und  Metaphern  seiner  Petrarkisten  werden  kopiert; 
die  Kun.stfertigkeit  der  formellen  Wiedergabe  dieser  Geziertheiten  gilt 
als  poetischer  Triumph  und  autorisiert  gleichsam  das  Plagiat  Nur  wenige 
protestieren  gegen  diese  billige  Hofkunst.  Kraft  und  Eigenart  zeigt 
schließlich  nur  noch  die  leidenschaftliche  Satire,  das  religiöse  Lied  und 
die  nüchterne  Didaktik.  Heftige  Klagen  werden  gegen  die  Italienisierung 
von  Kunst,  Sprache  und  Leben  laut,  gegen  diese  miserable  affedation 
ift'irangcft',  wie  Montaigne  sagt.  H.  Estienne  schreibt  1578  ein  Buch 
gegen  die  gezierte  Redeweise  der  „gä/c-/ran(ais^^. 

Schon  Ronsard  hatte  vor  der  antikisierenden  sprachlichen  Willkür 
gewarnt,  in  welche  die  Philologenpoesie  seiner  Nachfolger  vorfiel.  Nach- 
drücklich erhob  sich  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  aus  den  Laienkreisen 
der  Hauptstadt  und  des  Hofes  der  Widerspruch  gegen  diese  Dichtung 
und  verlangte  von  ihr  Gemeinverständlichkeit  und  Unterwerfung  unter  den 
herrschenden  Sprachgebrauch.     An  Stelle    der   mißbrauchten    sprachlichen 


2  28  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Freiheit  trat  die  Autorität  des  commun  usage  und  Malherbe  ward  ihr 
engherzig-er  Wortführer. 

Die  Epik  und  die  Dramatik  der  französischen  Renaissance  hat  nichts 
Dauerndes  geschaffen. 
Die  erzählende  Ronsard   quälte   sich   umsonst  zwanzig  Jahre  lang  mit  vier  Gesängen 

Dichtung,  eingj.  ^^Franciadc"  (1572),  in  der  er  Homer  durch  Vergil  hindurch  schüler- 
haft nachahmte.  Kraftvoller  und  eigenartiger,  aber  auch  maßloser  ist  die 
prahlerische  Kunst  des  Protestanten  Du  Bartas,  der  biblische  Stoffe 
wählte  und  die  sieben  Schöpfungstage  {La  semaine^  1578)  zu  einer  epischen 
Enzyklopädie  gestaltete:  seit  zwei  Jahrhunderten  das  erste  französische 
Werk,  dem  das  Ausland  wieder  bewundernd  huldigte. 

Auf  dem  Gebiet  des  Romans  zieht  siegreich  der  Einfluß  Spaniens  ein. 
Ob  zwar  auch  die  Übersetzung  antiker  Romane  das  Beispiel  abenteuerlicher 
und  schäferlicher  (Daphnis  und  Chloe)  Liebesgeschichten  lieferte,  so  über- 
wogen doch  spanische  Vorbilder:  Die  stolze  Ritterlichkeit  des  „Amadis", 
die  sentimentale  Schäferei  der  ,, Diana",  das  romantische  Maurentum  der 
„Bürgerkriege  von  Granada".  Und  auch  die  realistischen  Gegenstücke: 
Schelmenroman  und  Don  Quijote,  lieferte  Spanien.  Die  Novelle  italienischen 
Stiles  tritt  zurück.  Bescheidene  epische  Heimatkunst  blüht  in  zahlreichen 
Schwanksammlungen  provinzieller  Herkunft. 
Die  Bühne.  Im    Kampf    gegen    die    mittelalterliche    Bühne    ging    die    Hauptstadt 

voran.  Sie  verbot  1548  das  biblische  Mysterium,  das  die  Passions- 
brüderschaft in  ihrem  Theater  des  Hotel  de  Bourgogne  aufzuführen 
pflegte,  verlieh  dieser  aber  zu  gleicher  Zeit  das  Monopol  weltlicher  Auf- 
führungen. So  ergab  sich  die  Ungeheuerlichkeit,  daß  eine  Handwerker- 
innung, die  sich  ihres  eigentlichen  Repertoires  beraubt  sah,  zur  Herrin 
des  hauptstädtischen  Theaters  wurde.  Ihr  war  während  eines  Jahrhunderts 
tributpflichtig,  was  an  einheimischen  und  fremden  Berufsschauspielern  nach 
Paris  kam. 

Der  Hof  begünstigte  namentlich  die  italienischen  Truppen  der 
Commedia  dell'  arte,  die  schließlich  in  Paris  förmlich  seßhaft  wurden 
{Theätre  italien).  Mit  dem  Aufkommen  des  Berufsschauspielertums  trat 
die  Theaterunterhaltung  vom  Sonn-  und  Festtag  auch  in  den  Werktag 
hinüber  (seit  1597).  Doch  führte  das  Monopol  des  Hotel  de  Bourgogne 
zu  endlosen  Streitigkeiten  und  war  einer  gesunden  Entwickelung  der 
hauptstädtischen  Bühne  hinderlich. 
Die  neue  Die   Renaissaucedramatik  blieb   dieser 'Bühne   fern.     Sie  wandte   sich 

dramatische  ^jQ.  die  Dilettantenbühnen  der  Schule  und  des  Hofes  und  blieb  wesentlich 

Dichtung,      t-^        , 

Buchdramatik. 

Die  ersten  Versuche  einer  neuen  dramatischen  Kunst  gehen  von  den 
Protestanten  aus  (seit  1550),  und  dienen  Erbauungszwecken.  Diese 
protestantischen  „Tragödien"  von  Abraham,  David  usw.  sind  nichts  anderes 
als  eine  Umbildung  des  Mysteriums,  dessen  Maßlosigkeiten  zwar  beschnitten 
werden,  dessen  bunte  Handlungsfülle  aber  nicht  aufgehoben,  sondern  nur 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     II.  Von  der  Renaissance  zum  Klassizismus.       220 

—  in  Akte  und  Szenen  —  di.s/.iplinicrt  ist.  Es  sind  romantische  Schau- 
spiele [iragicomcdifs)  biblischen  Inhalts,  denen  sich  bald  auch  weltliche 
und  moderne  anreihen:  die  Liebesgeschichte  einer  Lyoner  Bankierstochter 
oder  der  schönen  Ginevra  des  „Orlando  furioso". 

Dann  schufen  die  Philologen  der  Plejade  nach  dem  Vorgang  Italiens 
ihre  französische  Tragödie  im  Stile  Senecas,  d.h.  die  Dialogisierung  der 
letzten  Stunden  (der  Krise)  eines  entsetzlichen  Fürstenschicksals  mit 
wenigen  Personen,  mit  wenig  Handlung,  aber  reich  an  Botenbericht  und 
Chorgesang,  an  elegischem  Klagen  und  sentenziösem  Reden.  Zuerst  kam 
Kleopatra  dran  (1552),  dann  die  „/aits  AUddans^\  Sophonisbe,  Dido  —  ganz 
wie  in  Italien,  das  auch  hier  geplündert  wird.  Biblische  (z.  B.  Saul)  und 
moderne  Stoffe  werden  nach  Tragödienart  bearbeitet:  die  Jungfrau  von 
Orleans,  wie  die  Bartholomäusnacht.  Erst  nachträglich  (seit  1560)  stellt 
sich  die  dramaturgische  Theorie  ein  und  verteidigt  im  Xamen  der 
Xaturwahrheit  der  Handlung  die  sogenannten  Einheiten.  Sie  findet  auch 
Widerspruch,  doch  bleibt  die  Diskussion  ohne  Bedeutung,  wie  die 
Schöpfungen  der  Dichter. 

Völlig  von  Italien  abhängig  ist  auch  das  Lustspiel.  Sein  Bestes 
besteht  in  Bearbeitungen  italienischer  Renaissancekomödien  mit  ihrem 
buhlerischen  Treiben  und  ihren  Reminiszenzen  aus  Plautus  und  Terenz. 
Der  öffentlichen  Bühne  bleibt  es  fremd.  Diese  kennt  nur  die  alte  Farce, 
die  den  Renaissancesturm  überdauerte,  oder  dann  kleidet  sie  die  Lustspiel- 
handlung in  schäferliches  Gewand.     Die  Komödie  wird  zur  Pastorale. 

Die  Bühne  wird  seit  1600  von  Hardy,  dem  ersten  berufsmäßigen 
Dramatiker  Frankreichs  beherrscht.  Den  Namen  Komödie  braucht  er 
nicht.  Die  rhetorische  Tragödie  ersetzt  er  durch  die  bunte  Tragikomödie 
mit  ihrer  kombinierten  Szene.  Diese  Tragikomödie  stellt  das  bühnenmäßig 
gewordene  Renaissancedrama  dar.  Das  ist  Hardys  eigentliche  Form.  In 
sie  gießt  er  den  Stoff  spanischer  Novellen.  Seine  Mache  ist  fruchtbar 
aber  völlig  kunstlos. 

Die  alte  Farce,  die  italianisierende  Pastorale  und  die  Tragikomödie 
hat  Hardy  als  das  dramatische  Erbe  der  Renaissance  der  Bühne  des 
17.  Jahrhunderts    überliefert.     Stolz    kann    man   dies  Erbe  nicht  nennen.  — 

Die  französische  Renaissancepoesie  ist  trotz  ihrer  Berufung  auf  Pindar, 
Homer  und  Euripides  wesentlich  lateinischen  Geistes.  Horaz,  Vergil  und 
Seneca  sind  ihre  Vorbilder  und  auch  Plutarch  hat  vorzüglich  dazu  gedient, 
ihre  Gedanken  nach  Rom  zu  lenken.  Dabei  ist  Italien  die  Führerin: 
Sein  Petrarca,  Ariost  und  Trissino  gelten  als  Autorität  gleich  den  Alten. 
Nachahmung  und  Plagiat  überall.  Frankreich  übt  sich  wie  ein  Gymnasiast 
in  der  Form. 

IL  Von   der  Renaissance   zum  Klassizismus.     (Frankreich  in  der  i>ie  RMktion 
ersten  Hälfte  des   17.  Jahrhunderts.)     Während  die  Macht  des  französischen   ^***"  **• 
Königtums  durch  Richelieu  und  Mazarin  nach  außen  und  nach  innen  eine 


230  Heinrich  MORF:  Die  romanischen  Literaturen. 

unerhörte  Kräftigung  erfuhr,  machte  die  Literatur  (bis  1660)  eine  merk- 
würdige und  tiefe  Wandlung  durch.  Gewiß  hat  die  Renaissance  den 
französischen  Klassizismus  beg'ründet,  aber  dieser  beruft  sich  nicht  auf 
jene.  Racine  und  Boileau  knüpfen  nicht  an  Praxis  und  Theorie  des 
16.  Jahrhunderts  an.  Die  Literatur  der  Renaissance  war  vielmehr  schon 
um  1620  völlig  veraltet  und  fing  an,  der  Verg-essenheit  anheimzufallen: 
Marot  lebt  weiter,  aber  die  Plejade  wird  vergessen.  Die  Maßlosigkeiten 
ihrer  poetischen  Sprache  sowohl  wie  der  Individualismus  und  Xaturalismus 
ihrer  Weltanschauung  hatten  sie  kompromittiert.  Damit  war  auch  die  Vorbild- 
lichkeit der  Antike  erschüttert  worden,  um  so  mehr,  als  nun  neben  dem  Einfluß 
des  „klassischen"  Italien  der  des  „romantischen"  Spanien  immer  stärker  wurde. 
Spanien  förderte  die  unklassischen  Genres:  Roman   und  freies  Schauspiel. 

Die  französische  Literatur  der  ersten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  hat 
vielfach  romantische  Züge;  aber  im  Grunde  drängt  doch  alles  nach  fester 
Ordnung  und  Wiederherstellung  einer  Autorität. 

Die  Freidenkerei  der  Renaissance  [le  libertinage)  wird  mit  Feuer  und 
Schwert  verfolgt;  die  „Opinions  particulieres "  gelten  als  gefährlich.  Der 
geistreiche  Cyrano  kleidet  seine  naturalistische  Doktrin  in  phantastische 
Reiseromane  —  wie  einst  Rabelais  und  später  Voltaire  —  die  posthum 
Descartes.  Und  fragmentarisch  erscheinen.  Descartes  erschrickt  ob  Galileis  Schick- 
sal. Er  stellt  den  Materialismus  seiner  Naturlehre  unter  das  Schutzdach 
einer  idealistischen  Metaphysik  (1637),  welche  die  Brücke  zur  herrschenden 
Glaubenslehre  schlägt,  obwohl  ihre  Spekulationen  autoritätsfeindlich  sind. 
Descartes  Schriften  popularisieren  die  philosophische  Diskussion,  da  sie 
keine  fachmännischen  Kenntnisse  voraussetzen.  Die  abstrakte  Geradlinigkeit 
seiner  Spekulationen  trug  dazu  bei,  die  Literatur  von  der  liebevollen 
Beobachtung  der  Natur  abzudrängen  und  der  Kunstlehre  einen  rationa- 
listischen Charakter  zu  verleihen.  Descartes'  Philosophie  ist  weder  der 
Poesie  hold,  noch  geschichtlichen  Studien  freundlich.  Er  glaubt  an  Fort- 
schritt und  will  die  Gegenwart  vom  Altertum  emanzipieren. 
Pascal  Der  junge  Pascal  teilt  als  Physiker  Descartes'  Autoritätsfeindlichkeit. 

Aber  häusliche  Erlebnisse  und  eigene  Krankheit  führen  seinen  Geist  zu 
unduldsamer  Unterwerfung  unter  die  Autorität  des  Christentums. 

Der  Eifer  der  Gegenreformation  hatte  damals  auch  die  auf  Augustinus 
beruhende  Lehre  des  Jansenismus  gezeitigt,  deren  fromme  Anhänger 
durch  ihre  Theorie  von  der  Gnadenwahl  und  durch  die  Strenge,  womit  sie 
das  Christentum  nicht  bloß  als  äußeres  Zeremoniell,  sondern  als  eine  Ge- 
sinnungs-  und  Lebensweise  auffaßten,  den  Kalvinisten  nahe  standen.  Diese 
katholische  Sekte  der  Jansenisten,  die  von  Rom  als  ketzerisch  erklärt  war 
und  mit  Sorbonne  und  Jesuiten  in  Fehde  lag,  gewann  Macht  über  Pascal. 
Er  schloß  sich  den  Einsiedlern  an,  die  sich  um  das  Kloster  Port- Royal 
scharten  und  dort  der  Erbauung  und  dem  Jugendunterricht  leben.  Zu 
ihrer  Verteidigung  begann  er  (1656)  „Briefe  an  einen  Provinzialen"  {Lettres 
provinciales)  zu  schreiben.     Schließlich  wurden  der  fliegenden  Blätter  acht- 


I).  Frankreich  bis  zur  Romantik.     II.  Von  der  Renaissance  zum  Klassizismus. 


231 


zehn.  Die  ersten  und  die  letzten  sind  dogmatischen  Erörterung-en  über  die 
Gnade  gewidmet;  die  mittleren  sind  moraltheologischen  Inhalts  und  richten 
sich  gegen  die  Kasuistik,  deren  Subtilitäten  be.sonders  von  den  .spanischen 
Jesuiten  gepflegt  wurden.  In  einer  Darlegung,  die  über  alle  Töne  verfügt 
und  von  dramatischer  Kraft  und  Lebendigkeit  ist,  denunziert  Pascal  der 
Öffentlichkeit  die  Immoralität  dieser  Moral.  Er  vollzieht  einen  Akt  sitt- 
licher Hygiene,  dem  sich  die  Papstkirche  später  anschloß. 

Dann  macht  er  sich  an  ein  Buch  gegen  die  „Libertins",  die  der  chri.st- 
lichen  Wunder  spotten.  Doch  starb  er  (1662),  ehe  er  seine  Notizen  zu 
einem  Ganzen  fügen  konnte.  Freunde  errichteten  .später  aus  den  sprach- 
gewaltigen und  gedankenmächtigen  Bruch.stücken  den  Notbau  der  „Pens^es 
sur  la  religion",  1670.  Der  kartesianische  Optimismus  ist  hier  dem  tiefsten 
Pessimismus  gewichen,  aus  welchem  der  jubelnde  Herzensglaube  .sprießt 
Die  unheilbare  Schwäche  der  menschlichen  Vernunft  wird,  unter  Berufung 
auf  Montaigne,  verkündet,  wissenschaftliche  Forschung  abgelehnt,  Natur 
und  Persönlichkeit  als  hassenswert,  Gesundheit  als  unchristlich  dargestellt: 
der  vollendete  Gegensatz  zur  Renaissance. 

Auch  anderswo  zeigt  sich  dieser  Gegensatz.  Die  politische  Literatur  Die  politische 
hört  auf,  die  Grundfragen  des  staatlichen  Lebens  zu  erörtern.  Sie  ergeht  L''«"^'^- 
sich  in  persönlichen  Pamphleten  oder  begnügt  sich,  die  Gemeinplätze  einer 
absolutistischen  Doktrin  rhetorisch  zu  entwickeln.  Dieser  Doktrin  dient 
auch  die  erste  französische  Zeitung,  die  „Gazette  de  France",  ein  Wochen- 
blatt das  seit  1631  erscheint  Den  letzten  Kämpfen  gegen  die  wachsende 
Königsgewalt,  den  Frondekriegen  (1649  —  53)>  verdanken  wir  w'enigstens 
die  hervorragenden  Memoirenwerke,  in  denen  der  frondierende  Adel  sich 
darstellt:  die  gedankenreichen  Erinnerungen  des  eleganten  La  Roche- 
foucauld, die  malerischen  und  lebensvollen  Schilderungen  des  skrupel- 
losen Kardinals  von  Retz. 

Der  Reaktion,   die   sich  gegen   die  Freiheiten  der  Philologendichtung  Die  literaritct 
der  Renaissance   erhoben  hatte,  lieh  Malherbe   (-|-i62  8)   sein   autoritäres        ^^^^ 
Wort     Der   dichterischen   Sprache    und    der    metrischen    Technik 
werden  bestimmte  Normen  vorgeschrieben. 

Die  Sprache  des  Poeten  soll  „alle  Eigenschaften  einer  guten  Prosa  NUiherb«. 
haben"  und  nur  „gebräuchliches"  Wortmaterial  verwenden.  „Gebräuchlich" 
aber  ist  für  den  Puristen  Malherbe  was  der  Hof  braucht,  .so  daß  dieses 
Wortmaterial  in  „edles"  und  „gemeines"  geschieden  erscheint  und  dem 
Dichter  eine  Reihe  von  Wörtern  als  „unhöfisch"  verboten  werden.  Der 
spezielle,  malerische  Ausdruck  wird  verfolgt;  der  farblose  gilt  allein  als 
vornehm,  denn  „das  Detail  zieht  herab".  Man  soll  nicht  inuguct  (Wald- 
meister) sondern  einfach  ficicr  sagen.  Das  schmückende  Heiwort  wird  ver- 
worfen. Malherbe  findet  „goldblonde  Ähren"  „lächerlich"  und  begreift 
nicht  was  in  nuü  ombreuse  das  Adjektiv  zu  tun  haben  soll. 

Der  nämliche  Gei.st  der  Beschränkung  beherr.schte  Malherbes  Behandlung 
der  Versform.    Nichts  soll  mehr  dem  subjektiven  Ermessen  des  Dichters  über- 


232  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

lassen  bleiben.  Silbenzählung,  Reimgestaltung,  syntaktische  Gliederung 
wird  vorgeschrieben,  der  Hiat  verboten.  Malherbes  Vorschriften  bilden 
eine  Art  Anstandsbuch  für  Poeten:  Es  schickt  sich  nicht!  Docteur  eit 
negative!  schilt  ihn  eine  grollende  Anhängerin  der  Renaissancepoesie, 
Marie  de  Gournay.  Was  die  dichterische  Sprache  an  Klarheit,  gram- 
matischer Regelhaftigkeit  und  rednerischem  Ebenmaß  gewann,  das  verlor 
sie  an  Farbe,  Stimmung  und  Leben.  Sie  verlor  die  Eigenschaften,  deren 
die  Lyrik  bedarf. 

Für  die  Prosa  lehrte  Balzac  die  rhetorische  Entwickelung  des  Ge- 
meinplatzes fast  mit  den  Worten  Malherbes.  Und  wie  dieser  den  Poeten, 
so  machten  andre  den  Prosaikern  des  16.  Jahrhunderts,  Montaigne  und 
Amyot,  den  Prozeß. 

Ordnung  und  Regel  ist  das  Losungswort.  Man  glaubt  an  die  schöpfe- 
rische Kraft  von  Kunstvorschriften.  On  dement  polte  par  Vctude  des  regles, 
sagt  Chapelain.  Die  höfische  Gesellschaft  in  ihren  Salons  stimmte  zu. 
TAe  Academü  KviS  dieseu  Salons  erwuchs  (1634  —  39)  die  Acad^mie  Fran9aise,  deren 
ranfaise.  A^fg^T^g  gg  ggjjj  sollte  „dcr  Sprache  bestimmte  Regeln  zu  geben,  sie  rein 
und  beredt  zu  machen".  Richelieu  gründet  diesen  offiziellen  Salon, 
um  dem  neuen  literarischen  Leben,  an  dem  er  selbst  vergänglichen  An- 
teil nahm,  staatlichen  Schutz,  aber  auch  Aufsicht  zu  schaffen.  Die  Literatur 
ward  zum  Gegenstand  staatlicher  Verwaltung  wie  die  bildende  Kunst 
{Acadeniie  de  peinture). 

Diese  Academie  erwies  sich  als  wenig  produktiv.  Die  geplante 
Grammatik,  Rhetorik  und  Poetik  kam  nicht  zustande.  Das  Wörterbuch, 
das  1638  begonnen  wurde,  erschien  erst  1694.  Der  Vorschlag,  es  historisch 
Vaugeias  und  ZU  gestalten  wurde  abgelehnt.  Es  wurde  unter  der  Führung  Vaugelas 
er  unsmus  ^^^^  ^^  ^^^  Dieust  der  puristischen  Tendenzen  gestellt.  Dieser  engte  das 
literarische  Idiome  durch  minutiöse  grammatische  Kritik  ein  und  zwang  es 
vollends  in  den  Schnürleib  höfischer  Rede.  So  wird  in  Frankreich  jene 
Kritik  herrschend,  die  den  Charakter  grammatischer  Nörgelei  nnd  puris- 
tischer Kleinkrämerei  trägt.     Noch  Voltaire  wird  sie  üben. 

Dem  übertriebenen  Wortreichtum  der  Renaissance  treten  hier  die 
Übertreibungen  puristischer  Wortarmut  gegenüber.  So  wird  die  Literatur- 
sprache ein  sprödes  Instrument.  Bei  der  Übersetzung  fremder  Eigenart 
wird  es  dauernd  versagen.  Die  französische  Übersetzungsliteratur  zeigt 
dies  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Sie  ist  weder  Dante  noch  Shakespeare, 
noch  Goethe  oder  Heine  gewachsen.  Ihre  Wiedergaben  erwecken  den 
Eindruck  eleganter  aber  farbloser  Travestie.  Die  französische  Literatur- 
sprache nivelliert  und  ersetzt  das  Charakteristische  durch  den  Gemeinplatz. 

So  entwickelte  sich  jener  unduldsame  Geschmack,  jene  literarische 
Die  Ablehnung  Selbstgefälligkeit,  die  alles  ablehnte  was  diesen  Saloninteressen  fern  lag, 
tertums.  jyj^g^jj  gg^j^  (j^g  Blüte  der  Bildung  in  der  Gegenwart  verkörpert,  erklärte 
die  antike  Literatur  für  übertroffen  und  wies  ihre  Führung  um  so  nach- 
drücklicher ab,  je  eindringlicher  sie  vordem  gelehrt  worden  war. 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     II.  Von  der  Renaissance  zum  Klassizismus.       23^ 

In  der  Acad6mie  spricht  (1636)  Co  Hot  et  die  Überzeug-ung  au.s,  daß 
Griechenland  und  Rom  die  Jugend,  die  Gegenwart  aber  das  Alter  der 
Menschen  darstelle  —  antiquitas  saeculi,  novitas  mundi  —  und  daß  unser 
reicheres  Wissen  auch  die  Grundlage  einer  der  antiken  überlegenen 
Kunst  bilde.  Wissen  und  Kunst  erscheinen  da  noch  ungeschieden  im 
Gedanken  des  Fortschritts  vereinigt,  bei  Vielen  auch  mit  der  Über- 
zeugung verbunden,  daß  die  chri.stliche  Kultur  der  heidnischen  überlegen 
sei.  So  stützten  die  Lehren  der  Wissenschaft  (Descartes,  Pascal)  und  der 
christliche  Glaube  die  Prätensionen  der  Kunst.  Diesem  modernen  Em- 
pfinden erschien  die  Kunst  des  Altertums  als  zu  naiv,  zu  unfein.  Seinen 
Livius  wortgetreu  zu  übertragen  lehnt  Malherbe  ab,  da  er  nicht  grotesk 
werden  wolle.  Cl.  Perrault  sagt  von  der  Sprache  der  antiken  Poeten, 
daß  sie  im  Französischen  burlesk  erscheinen  würde.  Diese  verfallen  derm 
auch  dem  Spott  der  travestierenden  Dichter:  es  blüht  um  1650  die  Travestie 
der  Antike  im  Epos.  Dafür  gab  übrigens  Italien  das  Beispiel.  Diese 
Verherrlichung  der  Gegenwart  und  diese  Ablehnung  des  Altertums  ist  vom 
Geiste  Tassonis   und   die  Travestie   der  Antike  vom  Geiste  der  Bemeschi. 

Vom  Altertum  bleibt  nur  das  literaturfähig,  was  die  Übersetzer  und 
Romanschreiber  —  wie  auch  die  Maler  —  für  die  allgemeine  Bildung  als 
dekoratives  Material  retten:  Geschichte,  Moral,  Mythus  —  ein  modernisiertes 
Salonaltertum  {anfiquitc  mondainc\  eine  Spielerei,  die  Boileaus  zornigen 
Widerspruch  erregen  wird. 

Eine  besondere  Form  dieses  Purismus  ist  die  sogenannte  Preziosität. 
Mit  der  Renaissance  hatte  die  Frau  begonnen,  bestimmend  und  selbsttätig 
in  die  Literatur  einzutreten.  Die  Preziosität  ist  gleichsam  die  Dekoration, 
mit  welcher  die  Literatur  den  triumphierenden  Einzug  der  Frau  feierte. 
Die  metaphorischen,  hyperbolischen  und  antithetischen  Zierereien  hatte  das 
16.  Jahrhundert  überliefert.  Ihre  Wurzeln  gehen  bis  in  die  höfische 
Literatur  des  Mittelalters,  die  Minnelyrik  und  den  Minneroman,  zurück. 
Dann  prägte  Petrarca  deren  noch  etwas  rohe  Materie  mit  dem  Stempel 
seines  erfindungsreichen  und  feinen  poetischen  Geistes.  Die  Petrarkisten 
Italiens  bildeten  diese  literarische  Kunst  weiter  aus  und  brachten  sie  um 
1500  nach  Spanien  und  nach  Frankreich,  wo  sie  selbständig,  wenn  auch 
in  stetem  Zusammenhang  mit  dem  italienischen  Petrarkismus,  hier  zur 
„Pr6ciosit6"  dort  zum  „Culteranismo"  sich  entwickelte. 

In  Frankreich  wurde,  was  bisher  nur  literarische  Form  gewesen  war, 
von  der  Socicti^  polic  zu  einer  eigentlichen  Lebensform  des  galanten  \'er- 
kehrs  erhoben.  Man  wollte  reden  und  sich  benehmen  „wie's  im  Buche 
stand  ". 

Die  Preziosität  ist  der  „Petrarkismus  in  Aktion",  der  erste  Ausdruck 
weiblichen  Verlangens  nach  Bildung  und  Geltung.  Die  ganze  gebildete 
Welt  Frankreichs  ist  von  der  Preziosität  ergriffen  und  keiner  der  Autoren, 
deren  Schriftstellerei  auf  PVauen  Bezug  hat,  i.st  frei  von  ihr,  auch  die 
nicht,  die,  wie  Moliere,  die  Pn'cicuses  verspotten. 


234 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Die  zeitgenössische  Unterscheidung  zwischen  wahren  und  lächerlichen 
Preziösen  ist  wesentlich  sozial.    Die  Hochgestellten  ernten  Beifall  für  das, 
was  in  kleinen  Verhältnissen  nachgeahmt,  lächerlich  erschien. 
Die  Lyrik.  So  Ward   die  Dichtung   eine  Angelegenheit  gesellschaftlicher  Bildung 

und  literarischen  Anstands.  Eine  große  Zahl  formgewandter  und  geist- 
reicher Männer  und  Frauen  übten  sie  auf  der  Spur  Malherbes  und  Balzacs, 
drechselten  um  die  Wette  Sonette  über  die  „schöne  Bettlerin",  bauten 
Stanzen  auf  eine  Statue  Richelieus,  spitzten  Epigramme,  paraphrasierten 
Psalmen  und  schrieben  Briefe  voller  „Amplifikationen",  Hyperbeln,  Anti- 
Der  Brief,  thcscn  Und  Kalaucr.  Die  Briefe  sind  über  den  einzelnen  Adressaten 
hinaus  an  die  ganze  Salongesellschaft  gerichtet  und  darauf  berechnet 
durch  prunkvolle  Großwortigkeit  oder  tändelnde  Witzelei  zu  verblüffen. 
Ob  der  spanische  Verbannte  Antonio  Perez  oder  der  italienische  Flücht- 
ling Marini  aus  Paris  in  ihre  Heimat  schreiben  oder  ob  Balzac  von 
Italien,  Voiture  von  Spanien  aus  nach  Paris  berichten  —  es  ist  bei 
Franzosen,  Italienern,  Spaniern  die  nämliche  Affektiertheit  im  Dienst  der 
nämlichen  Verblüffung. 

Aus    der    heiteren    Übertreibung    dieses    modischen    Getues    entstand 
seine    Karikatur:   burleske    Gedichte   und    Briefe  wie    die    Saint-Amants 
und  Cyranos. 
Die  erzählende  Eine  Domäue  dieser  Modernen  ist  die  erzählende  Dichtung:  das  Epos 

^  *"°^'  und  der  Roman.  Trotz  ihrer  prahlerischen  Unabhängigkeitserklärungen 
sind  die  epischen  Rhetoren,  die  von  Alarich,  Chlodwig,  Jeanne  d'Arc 
singen,  Nachahmer  der  Antike  und  Sklaven  der  Regel. 

Die  Romanliteratur  nimmt  nach  dem  Vorbild  Spaniens  und  unter  der 
Führung  des  Salonlebens  einen  großen  Aufschwung.  Die  höfische  Gesell- 
schaft idealisiert  darin  ihr  galantes  Treiben,  wie  einst  im  Mittelalter,  und 
wie  damals  denunzieren  geistliche  und  weltliche  Zensoren  diese  Bücher 
als  gefährliche  Verführer.  Wie  das  galante  Bühnenstück,  so  liebt  der 
Roman  p astorale  Einkleidung.  Ganz  Europa  schäfert.  Deutsche  Prinzen 
und  Prinzessinnen  huldigen  der  französischen  „Astree"  und  England  zahlte 
der  Romania  seine  Schuld  durch  Sidneys  „Arcadia"  zurück.  Von  schäfer- 
licher und  ritterlicher  Einkleidung  erfundener  Helden  gelangte  man  zur 
Wahl  geschichtlicher  Persönlichkeiten,  um  deren  Schicksale  salonmäßig 
zu  travestieren.  Galante  Gallier,  Römer,  Griechen,  Perser,  Skythen, 
Franken,  Mauren  kämpfen,  leiden,  klagen,  werben,  reimen  und  witzeln 
Tausende  von  Seiten  lang.  La  Calprenede  feiert  den  stolzen  Meder 
Artaban  auf  4000,  die  Scudery  den  ruhmreichen  Perser  Artamene  (Cj'rz/i-) 
auf  6000  Seiten.  Die  eingeschobenen  Biographien  der  Nebenpersonen 
wachsen  sich  zu  förmlichen  Novellen  (Romannovellen)  aus. 

Gegen  den  Geist  dieser  zwangreichen  Etikette  revoltierte  der  unbot- 
mäßige esprit  gaulois.  Für  den  Zwang,  den  ihnen  jene  antat,  pflegten 
sich  die  Dichter  bei  diesem  zu  erholen.  Gegenüber  Purismus,  Prüderie, 
Feierlichkeit    und    Regel    greifen    sie    zum    freien,    archaischen,    vulgären 


I).  Frankreich  bis  zur  Romantik.     II.  Von  der  Renaissance  zum  Klassizismus.       235 

Ausdruck  der  burlesken  Lyrik  und  Epik,  die  sich  an  den  Capitoli  Bernis, 
Caporalis  und  den  Sonetten  Göngoras  inspiriert  und  deren  Virtuose  der 
geniale  Bettler  Scarron  (j  1660)  ist.  Neben  den  idealistischen  Roman 
tritt  der  realistische,  der  die  tieferen  Reg^ionen  und  die  Nachtseiten  des 
Lebens  satirisch  darstellt.  Der  spanische  Schelmenroman  gibt  das  Bei- 
spiel; „Don  Quijote"  wird  nachgeahmt.  Scarron  schreibt  nach  Rojas 
seinen  „Komödiantenroman"  {^Le  roman  comique,  1651  —  57),  ein  Kunstwerk, 
aus  provinziellem  Theatcrleben  aufgebaut.  Er  verfaßt  als  der  erste  Fran- 
zose eigentliche,  selbständige  Novellen,  wobei  er  sich  auf  Cervantes'  Vor- 
bild beruft. 

Die  Bühne  tritt  immer  mehr  in  Beziehung  zum  Leben.  Die  offiziöse  Die  BUhoe. 
„Gazette"  beschäftigt  sich  mit  ihr  und  ein  königliches  Dekret  befreit  1641 
den  Schauspielerstand  von  der  bürgerlichen  Ehrlosigkeit  {Infamie  comique). 
Seine  kirchliche  Rechtlosigkeit  blieb  bis  zur  Revolution  bestehen.  Die 
hauptstädtischen  Bühnen  mehren  sich  im  Kampfe  mit  dem  Bourgogne- 
theater.  Die  großen  Pariser  Messen  bieten  den  Wandertruppen  Schutz. 
Richelieu  baut  sich  ein  eigenes  Haustheater.  Die  italienischen  Schau- 
spieler fesseln  die  Pariser  dauernd  durch  ihr  lustiges  Radebrechen  und 
das  gebärden-  und  schurrenreiche  Spiel  ihrer  Possen.  Spanische  und 
englische  Komödianten  erscheinen  nur  vorübergehend. 

Renaissance tragö die  und  -komödie  sind  um  1625  völlig  ver-  r)icdram»ti»cb« 
schwunden.  Es  herrschen  neben  der  Farce  die  freien  Tragikomödien  '>":*>«^k 
und  die  Pastoralen.  Diese  romantischen  Hirtendramen  sind  die  Liebling.s- 
form  der  Societe  folie^  die  nach  Italien  ausschaut.  In  der  italienischen 
Pastorale  aber  ist  die  Zeiteinheit  (24  Stunden)  beobachtet,  die  nun  plötzlich 
von  der  Pariser  Salonkritik  ebenfalls  gefordert  wird  {1628)  als  ein  Gebot 
der  Eleganz  und  der  Naturwahrheit.  Darob  entbrennt  der  Streit  zwischen 
diesen  Salonästhetikem  und  den  Praktikern  der  Bühne,  die  die  alte  Frei- 
heit verteidigen,  der  Streit  —  wie  es  dann  hieß,  als  man  sich  auch  auf 
Aristoteles  berufen  gelernt  —  zwischen  den  „Doctes"  und  den  „Ignorants". 
Auch  die  allzu  freie  Behandlung  des  Ortes  in  der  kombinierten  Inszenierung 
wird   angefochten,  die   .strenge  Ortseinheit  aber  erst  viel  später  formuliert. 

So  ist  die  neue  Unitc  de  tcmps  italienischer  Import,  am  Hirtendrama 
vollzogen.  Sie  ist  eine  Forderung  der  „Modernen"  und  erst  nachher  gesellt 
sich  zu  ihr  die   UniU  de  Heu. 

Die  Dichter,  die  in  den  Salons  verkehren,  aber  auch  mit  der  Bühne 
rechnen  müssen,  schwanken.  Führend  und  typisch  ist  das  Verhalten 
Mairets.  Er  beginnt  1625  als  Irregulärer,  schreibt  hierauf  nach  der  „Regel" 
eine  „Pastorale"  {Silvanire^  1629),  eine  Tragödie  (ßophonisbe)^  der  1635-36 
gleich  noch  zwei  weitere  folgen  und  kehrt  dann,  durch  den  geringen 
Bühnenerfolg  dieser  Stücke  enttäuscht,  endgültig  zur  Tragikomödie  zurück. 

1635-36  ist  das  „Tragödienjahr".  Jeder  Dichter  liefert  nach  Mairets 
Vorgang  seine  regelrechte  Tragödie  Senecascher  Observanz.  Sogar  der 
unbotmäßige  Scud^ry  erklärt  „den  Doctes  durch  einen  ^CiLsar"  genügen 


236  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

zu  wollen,  um  dann  durch  die  Buntheit  einer  „Dido"  wieder  das  Volk  zu 
befriedigen". 

p.  Corneille.  NuT  widcrwillig   fügt   sich   1632    Pierre    Corneille    aus  Rouen   der 

neuen  „Zeitregel"  der  Pariser  Kritik,  die  ihn  in  der  freien  Entfaltung  des 
Handlungsreichtums  hindert.  Er  ist  Romantiker  und  erklärt,  „lieber  die 
Augen  durch  Handlung  zu  ergötzen,  als  die  Ohren  durch  Botenberichte 
zu  ärgern".  Aber  das  Tragödienjahr  fordert  auch  von  ihm  ein  Opfer 
{Medee)  und  die  ,,Tragicomedie  du  Cid''  (1637)  zwingt  er  in  die  Tages- 
einheit Mit  glücklichem  Griff  hatte  er  hier  aus  dem  biographischen 
Drama  des  Spaniers  das  Drama  einer  jungen  Liebe  gezogen  und  ihren 
Kampf  frisch  und  kraftvoll  mit  einem  prahlerischen  Pathos  dargestellt, 
dessen  Klänge  neu  waren.  Aber  die  historische  und  menschliche  Wahrheit 
hatte  durch  die  Zeitregel  Schaden  genommen  und  der  Verlauf  der  Hand- 
lung durch  die  kombinierte  Szenerie  an  Klarheit  eingebüßt.  Doch  brachte 
ihm  das  Stück  einen  Triumph.  Der  stieg  dem  jungen  Autor  zu  Kopf. 
Er  schien  zu  vergessen,  was  er  der  spanischen  Comedia  schuldete  und 
erfuhr  dafür  von  Kollegen  eine  Zurechtweisung,  der  auch  Richelieu  nicht 
fern  stand.  Der  Streit  um  den  „Cid"  zog  sich  mit  vierzig  Pamphleten 
über  ein  Jahr  hin.  Die  „Irregulären",  wie  Scudery,  warfen  Corneille  vor, 
daß  er  die  Freiheiten,  welche  die  Bühne  der  Tragikomödie  gewähre,  un- 
genügend ausgenützt  habe.  Die  Akademie  aber  machte  die  Zeitregel  zur 
Grundlage  ihres  Urteils  und  erklärte  die  romantische  Geschichte  des  „Cid" 
für  dramatisch  imgeeignet.  Sie  empfahl  auch  Beobachtung  strenger  Orts- 
einheit. 

Damit  war  das  romantische  Schauspiel  akademisch  verurteilt.  Corneille 
fügte  sich  und  wandte  sich  der  Tragödie  zu.  Er  schöpfte  aus  der  von 
den  Übersetzern  zurechtgemachten  alten  Geschichte.  Aber  seine  Herzens- 
neigung für  spanische  Romantik  blieb,  und  bis  in  seine  Römertragödien 
wie  „der  Horatier"  oder  „Cinna"  findet  sich  spanischer  Stoff  und  spanischer 
Geist.  Als  wirklich  tragische  Leidenschaften  anerkennt  er  den  Ehrgeiz, 
die  Rachsucht  —  aber  die  Liebe,  die  er  nur  als  Galanterie  kennt,  weist 
er  als  zu  schwächlich  aus  dem  Zentrum  der  Tragödie  an  die  Peripherie, 
wo  sie  als  Schmuck  Verwendung  finde.  Er  empfand  zeitlebens  die  Kunst- 
gesetze der  Tragödie  als  Fessel  seines  Talentes.  Aber  zu  entschlossener 
Auflehnung  fehlt  ihm  der  Mut.  Er  erschöpft  sich  in  kleinlichen  Kompro- 
missen und  kam  bis  zu  förmlicher  Verzerrung,  Weder  seine  szenische  noch 
seine  psychologische  Kunst  ist  wirklich  hervorragend.  Sie  ist  im  wesent- 
lichen eine  an  verwickelten  Schrecklichkeiten  geübte,  oft  glänzende  Rhetorik 
im  ^Munde  übermenschlicher  Heroen. 

CorneiiJes  Comeilles    Zeitgenossen    scheiden    sich    in    drei    Gruppen.      Entweder 

bekennen  sie  sich  zur  Form  der  Tragödie  vom  Stile  Comeilles.  Oder  sie 
sind  Vertreter  der  freien  Kunst  der  Tragikomödie,  wie  der  geschickte 
aber  wenig  sorgfältige  Praktiker  Rotrou,  der  mit  vollen  Händen  aus 
dem  spanischen  Theater  schöpft,  aber  auch  das  Italienische  darüber  nicht 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     II.  Von  der  Renaissance  zum  Klassizismus. 


237 


verg-ißt.  Oder  endlich  führen  .sie  über  Corneille  hinau.s  zu  Racine.s  feinerer 
Art,  wie  Quinault.  Die  Tragödie  wird  herrschend  und  die  Tragikomödie 
verschwindet  gegen  1660.  Nachdem  sie  einst  mit  Hardy  über  die  Senecasche 
Tragödie  gesiegt,  muß  sie  mit  Corneille  dieser  wieder  weichen.  Und  mit 
ihr  schwindet  die  komplizierte  mittelalterliche  Inszenierung  allmählich. 
Gegen  1640  bürgert  sich  die  Unsitte  ein,  auf  der  Bühne  selbst  Zuschauer- 
plätze einzurichten,  und  dies  führt  zu  weiterer  Beschränkung  des  Handlung.s- 
raumes  und  Szenenbildes.  In  seiner  „Pratique  du  theätre"  (1657)  schafft 
der  Abb6  d'Aubignac  das  klassische  Regelbuch  dieser  eingeengten 
Kunst 

Es  tritt  die  Com^die  wieder  neben  Farce  und  Pa.storale  —  nicht  das  Die  Komadi«. 
Charakter-  aber  das  Intrigenlustspicl.  Auch  es  erfährt  Anregung  aus 
Spanien.  Corneille  gibt  im  „Menteur"  die  elegante  Bearbeitung  einer 
Comedia  Alarcöns.  Scarron  entlehnt  muntere  spanische  Intrigen.stücke, 
wendet  deren  Gracioso  seine  ganze  Liebe  zu,  gießt  die  sprudelnde  Fülle 
seines  Witzes  in  diese  parodistische  Figur  und  schafft  so  eine  eigenartige, 
aus  spanischer  Realistik  und  französischem  Esprit  gemischte  Dienergestalt: 
die  Parodie  Comeillescher  Tragödienhelden.  Moliere  hat  Scarron  manche 
Züge  entlehnt.  Vor  allem  aber  hat  Scarron  diesem  Größeren  den  Weg 
bereitet:  mit  dem  Erfolg  seiner  acht  witzigen  Lustspiele  (1645  —  55)  hat  er 
die  Komödie  auf  der  Bühne  heimisch  gemacht.  — 

Es  i.st  hier  der  Ort,  auf  die  Erscheinung,  die  dieser  Zeit  —  nicht  nur     aackbuck: 
in  Frankreich,  sondern  in  der  ganzen  Romania  und  darüber  hinaus  —  das  ^^"'°  und  Eot. 

_       '^  Wickelung  der 

literarische  Gepräge  gibt,  einen  überschauenden  Blick  zu  werfen:  auf  die      Pt^otiu. 
sogenannte  Preziosität. 

Nicht  nur  hat  es  zu  jeder  Zeit  und  überall  Menschen  gegeben,  die 
zur  Ziererei  und  Überschwenglichkeit  des  Ausdrucks  und  des  Benehmens 
neigen,  sondern  es  gibt  einen  seelischen  Zustand,  der  überhaupt  den 
spielerischen  und  überschwenglichen  Ausdruck  begünstigt:  die  Liebe. 
Das  ewige  „Ich  liebe  dich"  drängt  ewig  zu  neuen  Umschreibungen, 
Hyperbeln,  Antithesen.  Sie  sind  der  schillernde  Schrein,  in  dem  der 
Poet  das  Kleinod  seiner  einzigen  Liebe  der  Geliebten  zu  Füßen  legt;  sie 
sind  der  Lockruf,  mit  dem  der  Poet  das  Auge  der  Geliebten  auf  sich 
lenken,  mit  dem  er  sie  an  seine  Persönlichkeit  fesseln  will.  Die  Preziosität 
erscheint  in  der  Literatur  mit  der  Minnedichtung.  Die  Liebespoesie  — 
Lyrik  und  Roman  —  bleibt  stets  ihr  Zentrum.  Auch  die  Ekstase  der  himm- 
lischen Liebe  spricht  sich  schon  früh  und  gern  in  der  preziösen  Form  der 
Frauenminne  aus. 

So  wird  man  in  allen  Literaturen  jederzeit  preziösen  Individuen  be- 
gegnen. Das  Mittelalter  zeigt  sie  uns  in  der  Schar  seiner  Troubadours 
und  seiner  Romandichter  —  und  zwar  unter  den  Besten  —  wie  in  der 
Schar  seiner  Heiligen.  Seine  höfische  Gesellschaft  mit  ihren  Frauen, 
begün.stigt  naturgemäß  den  literarischen  Frauendienst,  der  in  der  Pre- 
ziosität liegt 


238  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Von  solch  begünstigenden  äußeren  Umständen  hängt  es  ab,  ob  die  indi- 
viduelle Preziosität  zur  universellen  werde  und,  übermächtig,  das  ganze 
Schrifttum  durchsetze. 

Solch  günstige  Umstände  schuf  die  Renaissance  durch  ihre  Befreiung 
des  Individuums,  das  aus  der  Menge  herauszutreten,  sich  auszuzeichnen 
und  persönlichen  Ruhm  zu  erstreben  gelehrt  wird. 

Als  überlegener  Künstler  über  die  Hyperbeln,  Metaphern,  Antithesen 
der  mittelalterlichen  Minnedichtung  gebietend,  in  ihnen  schwelgend,  prägt 
Petrarca  sein  Liebeslied.  Er  schafft  damit  das  leuchtende  Vorbild  für 
die  Renaissancelyrik,  das  die  Späteren  nachahmten,  indem  sie  es  zu  über- 
bieten strebten.  Schließlich  entstand  die  ästhetische  Lehre,  die  das  Wunder- 
bare, das  Verblüffende  als  das  Schöne  erklärt.  Kunst  und  Lehre  kann 
man  nach  ihrem  Ausgangspunkt  geschichtlich  als  Petrarkismus  bezeichnen. 
Dieser  Petrarkismus  ward  zur  förmlichen  literarischen  Kjrankheit. 

Xicht  die  Preziosität  an  und  für  sich,  die  immer  und  überall  zu  finden 
ist,  sondern  ihre  Verbreitung  als  Petrarkismus  seit  dem  15.  Jahrhundert 
und  ihre  Weltherrschaft  während  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  ist  eine 
literarische  Folge  des  Individualismus  der  Renaissance.  Das  klassische 
Altertum,  dem  man  einerseits  verbindliche  Muster  und  Regeln  für  das 
Kunstschaffen  entnahm,  lieferte  anderseits  auch  die  Lehre  der  Ungebunden- 
heit  des  Individuums.  Es  fließen  also  die  beiden  divergierenden  Strömungen 
des  Klassizismus  und  des  Petrarkismus  aus  der  nämlichen  Quelle.  Ihre 
Vertreter  bekämpfen  sich:  der  Petrarkismus  ist  antiklassisch  und  oft  geradezu 
altertumsfeindlich;  der  Klassizismus  verwirft  die  moderne  Willkür  des 
Petrarkismus.    Aber  sie  gehen  auch  die  verschiedensten  Verbindungen  ein. 

So  begleitet  der  Petrarkismus  den  Anbruch  des  neuen  Tages  der 
Menschheit  und  das  Einziehen  der  Frau  in  die  Literatur.  Er  ist  die  da- 
malige Form  der  „Moderne".  Er  hat,  wie  die  Renaissance  selbst,  seinen 
ersten  und  vorbildlichen  Ausdruck  in  Italien  gefunden  und  hat  sich  mit 
ihr  von  Italien  aus  über  ganz  Europa  verbreitet,  wobei  er  in  den  ver- 
schiedenen Ländern  und  Gesellschaftsschichten  ein  verschiedenes  land- 
schaftliches und  soziales  Gepräge  bekam. 

Er  ist  schließlich,  wie  alles  ursprünglich  freie  und  persönliche  Kunst- 
schaffen, von  den  Nachfolgern  systematisiert  und  dadurch  zu  einer  Fessel 
gemacht  worden  —  denn  neben  jeder  originellen  Prägung  eines  großen 
Künstlers  lauert  das  servum  pecus  imitatorum.  Viele  Petrarkisten  litten 
unter  dem  Drucke  dieser  Fessel  und  wenden  sich  mit  Unabhängigkeits- 
erklärungen gegen  den  Petrarkismus  —  aber  die  übermächtige  Mode  ließ 
sie  nicht  los.     Man  sehe  den  Aretin,  Lope,  Moliere. 

Mit  diesem  unfreien  Petrarkismus,  der  schließlich  ebensogut  Nach- 
ahmung geworden  war,  wie  der  Kllassizismus ,  konnte  sich  auch  die  Gegen- 
reformation, die  doch  den  Individualismus  der  Renaissance  bekämpfte, 
befreunden.  Ja  er  wurde,  gegenüber  dem  heidnischen  Klassizismus,  recht 
eigentlich  ihre  Kunstform.    So  hat  vor  einer  ungeschichtlichen  Betrachtung 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     III.  Die  klassische  LitL-raiur.  2^0 

die  Auffassung  entstt'hon  können,  als  ob  die  Geg-enreformation  überhaupt 
den  literarischen  Barockstil  des  Petrarkismus  erzeugt  hcibe.  Sie  hat  ihn 
vielmehr  vorgefunden  und  sich  bloß  an  seiner  Weiterbildung  beteiligt. 

So  begab  es  sich,  daß  die  Kunstform  des  Individualismus  sich  in  ihr 
Gegenteil  verkehrte  und  schließlich  auch  zur  literarischen  Dienerin  des 
Geistes  der  Unterdrückung  ward. 

m.  Die  klassische  Literatur  (das  Zeitalter  Ludwigs  XIV.).  Das 
Land  begrüßte  den  jungen  König  Ludwig  XIV.  wie  einen  Friedensengel. 
Aus  der  inneren  und  äußeren  Machtfülle  heraus,  die  Richelieus  Politik 
dem  französischen  Königtum  geschaffen,  gewährte  Ludwig  dem  Lande 
erst  zehn  Jahre  des  Friedens  und  zwang  es  dann  zu  vierzig  Jahren  ruinösen 
Krieges.  Seine  halbhundertjährige  Regierung  reiht  an  den  Glanz  den 
Bankerott  des  Absolutismus. 

Seine    Herrschaftsansprüche    führen    den    König    auch   zum   Zwist   mit  Der  kirchUch«. 
Rom.    Dabei  ist  Bossuet  der  Wortführer  der  landeskirchlichen  Interessen   •J"'^^*'«"""* 

ktinstleriicba 

wider  den  Ultramontanismus  (i  68 1).  Durch  einen  25jährigen  administrativen  Ab»oiuti.mo*. 
Kleinkrieg  gegen  die  Protestanten  wird  die  Aufhebung  des  Toleranzedikts 
(1685)  vorbereitet.  Tausende  wenden  sich  nach  dem  protestantischen  d.  h. 
germanischen  Ausland.  Sie  werden  zu  Fühlern,  welche  die  abgeschlossene 
romanische  Welt  nach  England,  den  Niederlanden,  Deutschland  und  der 
Schweiz  hin  ausstreckt  Ludwig  XIV.  meinte  durch  die  Vertreibung  der 
Protestanten  die  katholische  Romania  in  ihrer  Unversehrtheit  wieder  her- 
zustellen; in  Wahrheit  öffnete  er  durch  die  Refugies  das  französische 
Schrifttum  germanischen  Kultureinflüssen.  Die  R^fugi^s  wurden,  wie 
später  die  Emigranten,  Agenten  des  literarischen  Kosmopolitismus.  Die 
Hauptrolle  fällt  dabei  den  Niederlanden  zu.  Hier  entsteht  in  den  Händen 
der  Refugies  die  literarische  Journalistik,  die  zwischen  der  Gedanken- 
arbeit der  Völker  vermittelt.  Im  Amsterdamer  Literaturblatt  eines 
französischen  Protestanten  gab  der  Engländer  Locke  i')88  die  ersten 
Mitteilungen  aus  seinem:  „Essay  concerning  Human  Understanding." 

Über  die  R^vocation  de  l'Edit  de  Nantes  hinaus  verfolgt  Bossuet  BoMo«t. 
seinen  Plan  einer  Wiedervereinigung  der  getrennten  Konfessionen:  La 
Rdunion  ist  sein  hohes  Ziel.  Er  sendet  den  Vertriebenen  sein  Werk 
„Geschichte  der  protestantischen  Wandelungen"  nach  (1688)  und  korre- 
spondiert über  die  R^union  mit  Leibniz  {1692).  Er  ist  der  gjoße  Hüter 
der  Tradition,  der  beredte  Verteidiger  der  Uniti',  Er  kämpft  gegen  den 
subtilen  Ouietismus  des  Neuerers  Fenelon  wie  gegen  die  weltliche  Forscher- 
krankheit der  „vaine  et  indocile  curiosit^".  Im  sicheren  Besitz  der  Wahrheit 
verlangt  er  vom  Christen  das  Sacrificium  intellectus.  Eine  eigene  Meinung 
zu  haben  sei  das  Zeichen  des  Ketzers;  der  Katholik  stelle  über  seine 
„Opinion  particuliere "  die  in  der  Kirche  überlieferte  Anschauung.  Was  bei 
Pascal  nur  in  fragmentarischen  Tönen  erklang,  das  wird  bei  Bossuet  zu 
rauschenden    Akkorden    und    rollt    wie   Orgelklang    durch    das    Haus    der 


!40 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Gläubigen.  Und  zum  machtvollen  Worte  des  Dogmatikers  Bossuet  gesellt 
sich  das  elegante  prickelnde  Wort   des  strengen  Moralisten  Bourdaloue. 

Die  Kirche  gibt  nach  Bossuet  auch  die  Grundlehren  der  Politik.  Der 
Alleinherrscher  ist  Gottes  Stellvertreter.  Sein  Wille  ist  für  alle  undiskutier- 
bares  Gesetz.  In  diesen  Gedanken  unterweist  Bossuet  den  Dauphin  auf 
dem  Gipfel  des  Absolutismus  (1670).  Zwanzig  Jahre  später  gibt  Fenelon 
dem  Sohne  dieses  Dauphin  angesichts  der  demütigenden  Not  des  Landes 
Lehren  weiser  Selbstbeschränkung  in  pädagogischen  Märchen,  deren  um- 
fänglichstes jener  „Telemach"  ist,  der  aus  einer  aufsehenerregenden 
politischen  Schrift  heute  ein  harmloses  Schulbuch  geworden. 

Die  ungeheuere  politische,  gesellschaftliche  und  moralische  Machtfülle 
führt  auch    zur  Zentralisierung    und    hierarchischen   Einreihung  der  künst- 
lerischen   Betätigungen.      Literatur    und    Kunst    werden    zur    Dekoration 
des  Hofes. 
La  Bruyere.  Darunter   litt   besonders    ein    anderer    Prinzenerzieher:    La   Bruyere. 

Die  großen  Fragen,  sagt  er,  sind  heutzutage  der  Diskussion  entzogen;  es 
gilt,  Kleinigkeiten  zu  behandeln  und  ihnen  durch  die  stilistische  Arbeit 
Wert  zu  verleihen.  So  goß  er  sein  Mißbehagen  in  Hunderte  kleiner 
„Charakterbilder"  (1688),  in  denen  er  die  Welt  des  Hofes  und  der  Stadt, 
der  Vornehmen  und  der  Enterbten  meisterlich  zeichnet,  mit  jenem  male- 
rischen Detail  und  jener  rein  menschlichen  Teilnahme,  die  beide  unklassisch 
sind.  Er  schreibt  aus  einem  schmerzlichen  Gegensatz  zu  seiner  Zeit  heraus 
als  ein  Wortführer  der  nahenden  Demokratie  und  ein  Gegner  der  Kirch- 
lichkeit. 

Nicht  eine  kräftige  Individualität  erscheint  der  herrschenden  Anschauung 
als  Blüte  der  Bildung,  sondern  eine  glatte  Soziabilität.  Der  Gesellschafts- 
mensch, der  in  allen  Konventionen  zu  Hause  ist  und  hinter  dessen  äußerer 
Korrektheit  die  Ecken  der  Persönlichkeit  verschwinden,  der  sogenannte 
„honnete  homme",  ist  das  Ideal  der  Zeit,  ein  Typus  und  nicht  ein  In- 
dividuum. Er  ist  die  Welt  des  Poeten;  seine  Gefühle  spricht  die  Dichtung 
aus,  und  für  ihn  spricht  sie  sie  aus.  Er  ist  der  Gegenstand  der  Analyse 
für  den  klassischen  Moralisten  La  Rochefoucauld,  dessen  5  —  600 
„Maximes"  (1664)  die  Schwächen  dieses  „honnete  homme"  bis  in  seine 
Tugenden  verfolgen.  Die  jansenistische  Lehre  von  der  unheilbaren 
Jämmerlichkeit  des  Menschen  findet  hier  einen  lapidaren  Ausdruck,  der 
an  Gracians  Conceptos  erinnert.  Die  „Maximes"  sind  ein  kunstvolles 
Denkmal  steriler  Menschenverachtung,  die  „Moral  von  der  Geschichte" 
des  Frondenkrieges. 

Bei  der  verhältnismäßigen  Einförmigkeit  des  Gedanken-  und  Sprach- 
materials strebt  der  Schriftsteller,  wie  La  Bruyere  sagt,  nach  formeller 
Variierung  des  begrenzten  Bestandes,  nach  rhetorischer  Gestaltung  und 
kunstvoller  Komposition.  Die  rednerischen  Eigenschaften  werden  immer 
mehr  gepflegt.  So  wird  der  Dichter  zum  Redner  und  das  Gedicht  zur 
Rede.     Die  Komposition  wird  zur  förmlichen  Stilisierung. 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     III.  Die  klassische  Literatur.  241 

Der  Klassizismus  ist  eine  Rhetorisierung-  der  Literatur;  seine  Poesie 
ist  stilisierte  Poesie.  Er  ist  seinem  ganzen  Wesen  nach  unlyrisch;  er  kennt 
auch  den  Humor  nicht,  der  ja  eine  Ausdrucksform  des  Individualismus  ist 
Er  hat  keine  Sympathie  für  das  menschlich  Unvollkommene.  Er  hat  nur 
Spott  dafür. 

Seine  lyrischen  Formen  sind  die  mythologische  Ode,  das  Epigramm,  iioiioau. 
die  Satire  und  das  Lehrgedicht.  Ihr  maßgebender  Vertreter  ist  Boileau, 
Er  übt  die  rednerische  Kunst  Malherbes.  Während  aber  dieser  als 
„Moderner"  die  Führung  des  Altertums  abgewiesen  hatte,  kehrt  Boileau 
angesichts  der  modischen  Unnatur  der  „Modernen"  nachdrücklich  zu  dieser 
Führung  zurück.  Die  Antike,  die  als  überwunden  galt,  erlebt  mit  ihm  seit  1660 
eine  zweite  Auferstehung.  Sie  wird  seine  Kunstreligion.  Seine  „Satires" 
baut  er  nach  Horaz  und  Juvenal  (nur  drei  von  den  zwölfen  sind  wesent- 
lich sein  Eigentum)  und  wendet  sich  gegen  die  Gegner  der  Antike. 
Leidenschaftlich  bekämpft  er  die  moderne  Literatur  der  Preziosität  und 
der  Burleske,  die  das  Altertum,  das  ihm  heilig  i.st,  travestiert.  Auf  das 
modische  Epos  und  den  galanten  Roman  mit  ihrer  Altertumsspielerei  fallen, 
Keulenschlägen  gleich,  seine  wuchtigen  Sätze  gereimter  Prosa.  In  den 
„Episteln"  und  im  „Art  poetique"  (1674)  beginnt  er  dann  die  Grundsätze 
seiner  Kritik  zu  entwickeln. 

Der  Unnatur  der  Salonziererei  stellt  er  die  Natur  gegenüber,  nicht 
„la  gTOSsiere  Xature",  sondern  jene  Xatur,  die  uns  der  antike  Dichter 
zeige,  die  erhaben  und  einfach  sei.  Diese  Xaturwahrheit  mit  ihrer  Ver- 
nünftigkeit {Raison),  ihrer  Klarheit  und  Allgemeingültigkeit  müsse  der 
heutige  Dichter  vom  alten  lernen.  Der  Tragiker  werde  sie  bei  dem 
Griechen  Sophokles  eher  finden  als  bei  dem  pompösen  Römer  Seneca, 
den  Corneille  nachgeahmt  habe.  Höher  als  Horaz  führe  der  Schwung 
der  Pindarschen  Ode  mit  ihrer  kunstvollen  Unordnung.  Die  Italiener  und 
Spanier  lehnt  er  ab;  beiläufig  und  nicht  ohne  Geringschätzung  nennt  er 
ihre  besten  Namen.  Petrarca  nennt  er  nicht  mehr.  Die  Kunst  des  Sonetts 
preist  er  zweifelnd;  ihre  Vertreter  verwirft  er.  Die  ruhmreiche  Form  ist 
durch  den  Petrarkismus  kompromittiert  und  wird  für  anderthalb  Jahr- 
hunderte verschwinden. 

Mit  vorbildlicher  Klarheit,  in  wohlklingenden  Versen  und  in  eben- 
mäßiger Prosa  formt  Boileau  seine  Kunstlehre.  Lehre  und  Werk  sind 
harmonisch:  für  die  verbildete  Gegenwart  eine  eindrucksvolle  Tat  literarischer 
Sanierung,  seiner  großen  Freunde  MoUere  und  Racine  würdig  —  aber  für 
die  Zukunft  eine  Fessel.  Denn  in  seiner  Begeisterung  für  das  Altertum 
übersieht  er  völlig,  daß  auch  diese  alte  —  auch  die  hellenische  —  Kun.st 
national  bedingt  war,  daß  ihr  keine  allgemeingültigen,  über  Raum  und 
Zeit  erhabenen  Kunstregeln  zugrunde  liegen  und  daß  die  Regeln,  die 
nachträglich  aus  ihren  Schöpfungen  abgeleitet  werden,  keinen  Anspruch 
auf  dauernde  Herrschaft  haben,  so  wenig  wie  Solons  Gesetze  oder  Davids 
Theokratie.     Diese  Begei.sterung   macht  ihn    ungerecht  gegen  Vergangen- 

Dia  KvLrus  dir  GiontwART.    Lii.   i.  I6 


242  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

heit  und  Gegenwart  des  eigenen  Landes.  Er  schätzt  jene  gering  und  ver- 
kennt die  Rechte  dieser. 

Wenn  Bossuet  in  der  Theokratie  Davids  das  Vorbild  der  Regierungs- 
form sieht,  so  sieht  Boileau  im  Hellenismus  das  Vorbild  der  Kunstform. 
Beide  unterwerfen  das  Leben  uralten  Autoritäten.  Der  politische  und  der 
literarische  Absolutismus  reichen  sich  die  Hand. 

So  bleibt  Boileaus  klassische  Kunsttheorie  in  der  Auffassung  befangen, 
daß  die  geradlinige  Regel  das  Primäre  und  das  lebendige  Kunstwerk  das 
Sekvmdäre  sei;  ja  er  befestigt  diese  Lehre  aufs  neue  dauernd.  Diese 
Theorie  hat  keinen  Raum  für  neuere  Formen:  für  die  historische  Tragödie, 
für  das  Schauspiel,  für  den  Roman,  für  die  Kleinwelt  der  Tiermärchen 
des  Freundes  Lafontaine. 

Racine  ist  der  große  Poet  dieses  Klassizismus,  aber  nicht,  weil  ihn 
Boileaus  Regeln  geführt  hätten,  sondern  weil  ihm  die  griechische  Kunst 
kongenial  war.  Moli  er  e  ist  Boileaus  Bundesgenosse  im  Kampf  gegen  die 
modische  Unnatur;  aber  weder  ist  seine  Kunst  wesentlich  antik  noch  an- 
erkennt er  den  Zwang  der  Regel. 
Racine.  Daß  Raciuc  der  Schüler  der  strengen  Jansenisten  gewesen,  hat  seine 

dramatische  Tätigkeit  in  doppelter  Weise  beeinflußt:  einmal  ist  er  der 
Arbeit  für  die  Bühne  nicht  eigentlich  froh  geworden,  da  mit  ihrer  Weltlich- 
keit seine  strenge  Religiosität  im  Streite  lag,  und  dieser  innere  Unfriede 
machte  ihn  reizbar  und  ungerecht,  sowohl  gegen  andere,  wie  gegen  sein 
eigen  Werk.  Zweitens  lernte  Racine  griechisch  und  fand  damit  den  Weg 
über  Seneca  hinaus  zum  hellenischen  Theater.  Er  dichtete  in  dem  Ge- 
danken: „Was  würden  Homer  und  Sophokles  sagen,  wenn  sie  meine  Verse 
läsen?" 

Zwar  beginnt  er  1664  in  der  Manier  des  alten  Corneille.  Er  dramatisiert 
die  Schrecklichkeiten  der  thebanischen  Geschichte  und  verbrämt  sie  mit 
Galanterien.  Er  macht  nach  Quinaults  Art  in  seinem  „Alexander  der 
Große"  aus  dem  Eroberer  Lidiens  einen  galanten  Romanhelden,  Allmählich 
aber  gelangt  er  zur  Darstellung  wahren  Lebens  und  füllt  fast  ein  Jahr- 
zehnt mit  Werken  hoher  Poesie.  Das  deklamatorische  Wesen  starrer 
senecaischer  Helden  ist  ihm  ebenso  zuwider  wie  die  verwickelte  Handlung 
—  beides  lehnt  er  als  unnatürlich  ab:  d.  h.  er  lehnt  Corneilles  Über- 
treibungen ab.  Er  sucht  den  Mikrokosmus  widerstreitender  Gefühle  in 
schwankenden  Menschen  darzustellen,  welche  die  letzten  Stunden  vor  einer 
Katastrophe  durchleben.  Die  Katastrophe  selbst  verbirgt  er  dem  Auge; 
sie  wird  durch  einen  Botenbericht  erzählt.  Diese  subtile  Kunst  des 
„honnete  homme"  vermeidet  jeden  rauhen  Handlungsvorgang  auf  der 
Bühne  als  etwas  Unfeines.  Racine  kommt  bis  zur  dramatischen  Elegie 
seiner  „Berenice".  Die  materiellen  Hilfsmittel  der  Inszenierung  treten 
zurück.  Die  Einheit  von  Ort  und  Zeit  ergibt  sich  aus  der  so  vereinfachten 
dramatischen  Aufgabe  von  selbst.  Die  „Regeln",  die  Corneille  wie  eine 
Fessel  trug,  sind  Racine  natürlich. 


D.  Frankreich  bis  lur  Romantik.     III.  Die  klassische  Literatur.  2ax 

Die  Liebesleidcnschaft,  die  Corneille  als  untraj^isch  bezeichnete,  rückt 
Racine  in  den  Mittelpunkt.  Er  stellt  meist  die  Krise  einer  Liebe  dar. 
Die  Anhänger  Comeilles  schalten  das  eine  Alltäglichkeit.  Fast  immer 
weist  Racine  dabei  der  Frau  die  Hauptrolle  zu;  er  hat  die  Tragödie 
feminisiert.  Man  schalt  seine  Kunst  weichlich,  indem  man  sie  an  Comeilles 
Heroismus  matt. 

Für  diese  Liebestragödien  wählte  er  die  Welt  der  antiken  Sage  und 
Geschichte:  „Andromaque",  „Berenice",  „Iphig«?nie",  „Phedre".  Er  stellt 
die  Liebesschicksale,  die  ihm  das  Leben  bot,  im  glänzenden  Rahmen  der 
Antike  dar:  modernes  Leben  in  tausendjährigen  Fiktionen.  Er  tut  im 
Grunde  dasselbe,  was  die  zeitgenössischen  Romanschreiber  taten,  und 
Boileau  hätte  ihm  deswegen  eigentlich  zürnen  müssen.  Aber  Racine  voll- 
brachte als  wahrer  Künstler,  was  andere  vor  und  nach  ihm  mit  untaug- 
lichen Mitteln  versucht  hatten.  Wohl  französisiert  er  z.  B.  den  Bericht  des 
Tacitus  über  Xero  —  aber  mit  welcher  Kun.st  weiß  er  das  Erwachen  des 
Verbrechers  in  „Britannicus"  zu  schildern!  Gewiß  beraubt  diese  über- 
lieferte Einkleidung  Racine  mancher  Ursprünglichkeit;  gewiß  ist  seine 
Sprache  in  den  überlieferten  Formen  der  eleganten  Diktion  befangen. 
Aber  aus  diesem  spröden  Material  baut  er  dramatische  Kunstwerke,  die 
nicht  nur  elegant  und  von  vornehmer  Einfachheit  sind,  sondern  die  in 
ihren  zarten  und  tiefen  Seelenschilderungen  wahres  Leben  atmen,  und 
deren  Verse  von  musikalischem  Wohllaut  überfließen.  Dieser  Tragiker 
Racine  ist  ein  Lyriker.  Seinen  Vers  baut  er  denn  auch  biegsamer  und 
freier  als  die  strenge  Vorschrift  eigentlich  gestattete. 

Racines  gemessene  Kunst  ist  das  Gegenstück  zur  freien  Kunst  Shake- 
speares. Wer  von  Shakespeare  kommt,  der  wird  in  den  stilisierten 
Reden  des  Racinischen  „honnete  homme"  die  poetische  Nuance  einer 
schweigsameren  Leidenschaft  vermissen  und  einen  Mangel  an  Fülle  und 
an  Stimmung  empfinden. 

Seine  Dichterlaufbahn  schließt  Racine  um  inito  mit  zwei  biblischen 
Tragödien,  in  deren  reichen  Chorgesängen  die  Lyrik  überquillt,  und  die 
auch  dem  Auge  ein  bewegteres  Szenenbild  zeigen.  In  diesen  dramatisierten 
jansenistischen  Klageliedern  zeigt  der  Sechzigjährige  noch  sein  volles 
Können.     „Athalie"  ist  ein  Meisterwerk. 

Die  heftigen  Angriffe,  die  Racine  erfuhr,  erfolgten  immer  im  Xamon 
der  Comeilleschen  Dramatik.  Diese  beiden  Dichter,  welche  die  Nachwelt 
in  einem  Atem  zu  nennen  sich  gewöhnt  hat,  waren  Vertreter  ganz  v>--- 
schiedener  Richtungen  innerhalb  der  heroischen  Tragödie. 

Racines  überragendes  Bei.spiel  zwang  diese  Tragödie  endgültig  zur 
Beschränkung  ihrer  Darstellungsmittel  und  zum  Verzicht  auf  eine  bewegte 
Szene.  Aber  obwohl  seine  Nachfolger  ihn  als  den  großen  Führer  be- 
wunderten und  ihm  nachzustreben  erklärten,  so  blieb  seine  feine  Kunst 
ihnen  unerreichbar.  Sie  griffen  zu  den  billigeren  Deklamationen  und  den 
roheren  Effekten  Comeilles  oder  den  (ialanterien  (Juinaults. 

i6» 


244 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


So    trug"    des    großen    Künstlers   Beispiel    dazu    bei,    das    französische 
Trauerspiel  zu  immobilisieren. 
MoUfere.  Eine    ähnliche   Herrscherstellung    gewann   auf  dem  Gebiete  des  Lust- 

spiels Moliere;  doch  bewahrte  hier  die  beweglichere  Form  vor  Erstarrung. 

Was  Moliere  um  1640  vorfand,  war  der  dramatische  Schwank  in 
Gestalt  der  einheimischen  Farce  oder  des  importierten  italienischen  Possen- 
spiels. Diese  bescheidenen  Vorbilder  leiteten  die  ersten  Schritte  des  Schau- 
spielers und  des  Autors  in  drangvollen  Lehr-  und  Wanderjahren.  Er  skizziert 
für  seine  Bühne  formlose  Schwanke,  deren  Stoffe  er  dann  in  reiferen 
Zeiten  kunstvoller  gestalten  wird.  Seine  weiteren  Versuche  leiten  italienische 
Intrigenkomödien,  die  er  überarbeitet,  verfeinert,  mit  Eigenem  durch- 
setzt Aus  deren  konventionellen  Welt  macht  er  den  Schritt  zum  wirk- 
lichen Leben  mit  dem  satirischen  Schwank  der  „Precieuses"  (1659),  Eine 
Posse,  die  Scarron  einst  aus  dem  Spanischen  entlehnt  hatte,  lieferte  die 
Intrige.  Italienische  und  spanische  Stücke  und  Novellen  geben  seiner 
originellen  Gestaltungskraft  viel  mehr  Stoff  als  das  Altertum.  Ein  Lebens- 
problem, die  Liebe  eines  Vierzigjährigen  zu  einem  jungen  Mädchen,  be- 
handelt er,  angesichts  seiner  Verheiratung  in  der  „Männerschule"  und  der 
„Frauenschule"  (1662).  Er  macht  aus  der  alten  Posse  ein  Charakterlustspiel, 
das  naturalistische  Lebenslehren  vertritt.  Der  lebenslustige  König  lernt 
ihn  schätzen  und  liefert  die  höfischen  Gecken  [Marquis)  seiner  Satire  aus. 
Die  Pariserbühne,  an  der  Moliere  in  dreifacher  Eigenschaft  als  Dichter, 
Schauspieler  und  Direktor  wirkt,  wird  die  erste  der  Hauptstadt. 

Die  neidischen  Kollegen  von  der  Feder  [les  auteiirs)  und  vom 
Theätre  de  Bourgogne  {les  comediens),  die  Precieux  und  die  kirchlich 
Gesinnten  gebärden  sich  Moliere  gegenüber  als  Hüter  der  Ordnung  und 
erklären  Religion  und  Staat  in  Gefahr.  Das  kampfreiche  Jahr  1663  ist 
ein  Brennpunkt  Moliereschen  Schaffens.  Im  Sturme  dieser  Kämpfe  spricht 
er  programmatisch  über  seine  Kunst,  die  frei  und  natürlich  sei  [peindre 
d' apres  nähere)  und  Lebensbilder,  aber  nicht  persönliche  Satire  geben 
wolle.  Es  zeichnen  sich  in  seinem  Geiste  die  Themata  des  „Tartuffe",  des 
„Misanthrope"  und  der  „Femmes  savantes". 

Der  jugendliche  König  schützt  ihn,  auch  als  der  „Tartuffe"  einen 
neuen  Sturm  entfesselt.  Moliere  wird  Hofdichter.  In  diesem  Dienst  hat 
er  viel  Kraft  an  bestellte  Ware  wenden  müssen  und  viel  hastige  Arbeit 
geliefert.  Die  Form,  die  er  sich  dafür  nach  italienischem  Beispiel  ge- 
schaffen, ist  die  Komödie  mit  eingelegten  Liedern  und  Ballettszenen. 
Moliere  war  auf  dem  Wege  zum  Singspiel.  Diese  Comedies-ballets  von 
den  „Fächeux"  bis  zum  „Bourgeois  gentilhomme"  und  dem  „Malade 
imaginaire"  enthalten  viel  Sinnreiches,  Schönes  und  Tiefes. 

Im  „Amphitryon"  modernisiert  er  Plautus  mit  überlegener  Feinheit. 
Der  „Avare",  auf  plautinischer  Grundlage  aus  vielen  kleinen  Entlehnungen 
kunstvoll  zusammengeschweißt,  ist  eine  Posse  von  unvergänglicher  Lustig- 
keit —  doch  kein  Sittenstück,  noch  Charakterlustspiel.    Aus  der  armseligen 


D.  Frankreich  bis  rur  Romantik.     III.  Die  klassische  Literatur. 


245 


Intrige  einer  Commedia  dell'  arte  schafft  er  den  machtvollen  „TartufFe", 
der  die  heuchlerischen  Formen  asketischer  Kirchlichkeit  bekämpft,  die 
den  natürlichen  Lebensansprüchen  den  Weg  verlegen.  Der  feine  „Mi.s- 
anthrope"  ist  eine  Studie  über  das  Schicksal  der  Liebe,  die  ein  tiefer  und 
aufrichtiger  aber  nervöser  Mann  für  ein  oberllächliches  Weib  empfindet, 
das  die  Salons  verbildet  haben.  Die  „Femmes  savantes"  (oder  „Trissotin") 
sind  eine  streitbare  „Autorenkomödie",  deren  Satire  kunstvoll  in  ein 
Sittenlustspiel  hinein  verwoben  ist.  Verhaßte  literari.sche  Gegner  im  Ver- 
ein mit  dem  „dritten  Geschlecht"  tragen  die  Kosten  des  Spottes,  der  hier 
gereizter  und  persönlicher  ist,  als  sonst 

Das  französische  Lustspiel  ist  Moli^res  Werk.  Er  hat  die  Fesseln  der 
Farce  endgültig  gesprengt  und  die  Komödie  dem  Leben  geöffnet.  Freilich 
hat  er  von  den  alten  Traditionen  noch  manches  bewahrt.  Er  duldet  nur 
Lachen  in  seinen  Stücken  und  wehrt  Ernst  und  Rührung  nachdrücklich, 
oft  durch  possenhafte  Lustigkeit,  ab.  Seine  lebensvollen  Gestalten  haben 
etwas  T\-pisches.  So  meisterhaft  seine  Expositionen  sind,  so  kunstvoll  die 
Ausführung  der  seelischen  Probleme,  so  eilig  ist  oft  die  Lösung.  —  Die 
Verbindung  von  Dichter  und  Schauspieler  gab  ihm  eine  wunderbare 
szenische  Sicherheit.  Seine  Schöpfungen  wollen  geschaut  mehr  als  ge- 
lesen sein. 

Vierzehn  Jahre  (1658  —  73)  war  Moliere  in  Paris  tätig.  Bewundernd 
sehen  wir  die  Ernte  der  26  Stücke,  die  er  in  dieser  Zeit  eingebracht  und 
die  so  viele  unvergängliche  Meisterwerke,  Sitten-  und  Seelenbilder, 
einschließt.  Er  ist  viel  nachgeahmt  und  nicht  übertroffen  worden.  Noch 
heute  ist  er  wahrhaft  lebendig. 

Von  seinen  Nachfolgern  und  Erben  pflegten  die  einen,  wie  Regnard, 
sein  Intrigenstück  und  ergötzen  durch  die  ausgelassene  Heiterkeit.  Die 
anderen,  wie  Boursault  und  Destouches,  versuchen  sich  auf  der  Spur 
des  „Tartuffe"  und  des  „Misanthrope"  im  Charakterlustspiel.  Die  dritten, 
wie  Dancourt  und  Lesage,  schildern  in  Sittenkomödien  die  wurmstichige 
Pariser  Gesellschaft  realistischer  und  derber  als  Moliere.  La  Hruyeres 
Geist  regt  sich  in  diesen  bitteren  ständischen  Satiren  und  während  die 
Geldnot  den  roi  soliil  zwingt,  mit  Börsenleuten  umzugehen,  ist  es  be- 
sonders diese  neue  Welt  der  hnntr  fuiancc,  welche  mm  dio  Koston  des 
Spottes  trägt 

Die  eigentlichen  höfischen  Formen  der  dramatischen  Kunst  sind  das  iuu»<t  ona  Op« 
Ballett  und  die  Oper,  die  beide  aus  Italien  kommen.  Das  Ballett  blüht 
am  Hofe  seit  der  Zeit  Heinrichs  IL  als  mythologische  Huldigung  für  die 
Majestäten.  Im  Olymp  des  Balletts  träumten  die  jugendlichen  F"ürsten  den 
ersten  Traum  ihrer  Göttlichkeit  Gegen  die  Oper  (seit  1645)  verhielt  sich 
das  französische  Publikum  erst  ablehnend  als  gegen  einen  irtr.uiil  bizarre 
de  poisie  et  de  musique.  Die  Oper  galt  als  Spielerei,  gut  für  Hirtenszenen, 
nicht  aber  für  heroisches  Geschehen.  Das  Publikum  verband  diese  künst- 
lerische mit  der  politischen  Opposition  gegen  Mazarin  und  gewöhnte  sich 


246  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

nur   langsam    an    das    gesungene    Wort    der    Handlung.      Eine    besondere 

Stätte  erhielt  die  Oper    erst   167 1    und    führend    blieben   dabei  italienische 

Musiker  und  Maschinisten. 

Die  Bühne  am  Ludwigs  XIV.  Bühneufreundlichkeit  wandelte    sich   mit  den  Jahren  in 

Ende  der      Feindschaft    Nach  Molieres  Tod  beg-ann  die  Zusammenlegung  der  Theater, 

klassischen  Zeit.  _  ■=  ..... 

Seit  1680  gibt  es  nur  noch  ein  französisches  Theater  in  Paris:  die  privi- 
legierten comediens  frangais  die  rot,  spöttisch  auch  die  Romains  genannt. 
Daneben  die  Comcdie  italienne  und  das  Opernhaus.  Kirchlicher  Eifer 
drohte  allen  gänzliche  Aufhebung  (1694);  schließlich  wurden  die  Italiener 
1697  ausgewiesen. 

Das  ist  die  Bilanz  der  klassischen  Theaterherrlichkeit  am  Ende  des 
Jahrhunderts. 

Die  Italiener  hatten  sich  längst  französisiert  gehabt.  Sie  brachten 
ihre  traditionellen  Stegreifpossen  in  der  Landessprache  vor,  fügten  aus- 
geführte französische  Szenen,  französische  Gassenhauer,  komponierte  Lieder 
ein.  Sie  schilderten  französische  Unsitten;  ihre  literarischen  Parodien  ver- 
spotteten die  Akademie,  Racine  und  Boileau.  Bei  ihnen  liegt  der  Ursprung 
des  Vaudevilles  und  der  Operette. 

Dieses  Erbe  der  Coiuedie  italienne  traten  nach  1697  die  Bühnen  der 
großen  Pariser  Messen  {le  Theätre  de  la  foire)  an.  Aber  die  Romains  und 
die  Sänger  der  Oper  machten  auf  Grund  ihrer  Privilegien  den  Forains 
das  Recht,  zu  sprechen  und  zu  singen,  streitig".  Es  entbrannte  ein  lang- 
jähriger listenreicher  Kampf,  in  welchen  Lesage  als  führender  Bühnen- 
dichter der  Forains  eintrat.  Er  lieferte  ihnen  über  hundert  Vaudevilles, 
in  denen  er  eine  satirische  Heerschau  über  die  zeitgenössische  Gesellschaft 
abhält.  Der  Kampf  endete  mit  einem  Vergleich.  Seit  1 7 1 3  erhob  sich 
auf  der  Messe  ein  Gebäude  mit  der  Aufschrift:  Opera  comique.  Und  so 
rettete  der  Jahrmarkt,  was  die  schwere  Hand  des  alternden  Monarchen 
zerstören  wollte. 
Epos  und  Von   der  Erzählungsliteratur  gilt   nur   das   nach   dem    Schema  Vergils 

Roman,  yj^^^  Homers  gebaute  Epos  als  klassische  Form.  Aber  das  Feld  wurde, 
nachdem  Boileaus  Spott  wie  ein  Frost  auf  die  galanten  Heldengedichte 
gefallen  war,  wenig  bebaut  und  blieb  unfruchtbar. 

Boileau  hat  auch  den  Roman  der  Modernen  verspottet,  der  sich  ja  eben- 
falls am  Altertum  vergriffen  hatte.  Aber  der  Roman,  dem  die  Zeiten  ein 
stolzes  Geschick  vorbehalten  hatten,  blieb  in  Gunst.  Ihm  floß  an  Leben  zu, 
was  in  den  klassischen  Kunstformen  keinen  Ausdruck  finden  konnte.  Er  blieb 
als  ein  Herd  antiklassischer  Kunstübung,  aus  dem  hundert  Jahre  später 
die  Flamme  der  „Nouvelle  Heloise"  aufschlagen  sollte.  Es  fand  sich  1670 
auch  ein  Theoretiker,  Huet,  der  ihm  antike,  hellenische  Ahnen  gab  und 
ihn  als  eine  Schule  feiner  Lebensart  rechtfertigte.  Die  schäferliche  oder 
antike  Einkleidung  der  Romanhandlung  fiel.  Wirklichkeitsbedürfnis  und 
zeitgeschichtliche  Interessen  führten  zur  Bevorzugung  der  Gegenwart  oder 
nahen   Vergangenheit.      Deren    Großtaten    und    deren   Klatsch    wurden    in 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     III.  Die  klassische  Literatur.  247 

historischen  Romanon,  besonders  in  Memoirenform  verarbeitet:  an  die  Stelle 
des  Persers  Artamene  und  des  Meder.s  Artaban  trat  der  Gascogner  Ar- 
tagnan  (f  1673)  —  das  Verfahren  und  den  Helden  hat  dann  A.  Dumas 
geerbt  England,  Spanien,  Portugal  lieferten  ebenfalls  Stoff.  Mit  dem 
Tagesereignis  zieht  auch  die  vulgäre  Person  und  das  vulgäre  Abenteuer 
in  den  Hehlenroman  ein.  Seine  Welt  wird  realistischer.  Die  Grenzen 
zwischen  Idealroman  und  Schelmenroman  verschwinden.  Auch  wird  sein 
Umfang  geringer.  Es  wirkte  das  Beispiel  der  Novelle,  das  Scarron  ge- 
geben und  das  zuerst  nur  spärliche  Nachfolge  gefunden  hatte.  Der  Roman 
bricht  gleichsam  in  Novellen  auseinander. 

Und  in  der  Novelle  tritt  neues  Leben  zutage.  Sie  bemächtig^  sich 
unter  der  Führung  der  Frau  vonLafayette  des  Problemes  der  Ehe.  Romane 
und  Novellen  hatten  bisher  die  Geschichte  der  Liebesleidenschaft  erzählt, 
die  nach  tausend  Schwierigkeiten  zur  glücklichen  Heirat  führt.  Sie  schlössen 
mit  der  Vermählung  ab.  Die  Ehe  selbst  galt  als  uninteressant  Der  Ehe- 
bruch wurde  nur  komisch,  in  Schwänken  und  Possen  von  Weiberlist,  be- 
handelt Frau  von  Lafayette  schildert  seit  1662  in  mehreren  Novellen  die  Not 
der  innerlich  untreu  gewordenen  Gattin:  das  Problem  ihres  eigenen  Lebens. 
Sie  schreibt  aus  historischen  Studien  über  das  16.  Jahrhundert  heraus,  auf 
dem  Hintergrunde  der  traditionellen  Galanterie  „La  princesse  de  Cleves" 
(1678),  einfach,  vornehm  und  tief  wie  eine  Tragödie  Racines,  das  einzige 
wirkliche  Kunstwerk  der  Gattung. 

In  einem  anderen  Büchlein,  das  nur  wenige  Seiten  stark  ist,  bricht 
plötzlich  aus  den  Tiefen  des  Lebens  der  Quell  gefühlsseliger  Leidenschaft 
mächtig  auf:  es  sind  die  „Lettres  portugaises"(i669),  in  denen  eine  namenlose 
verlassene  Nonne  über  gewonnenes  und  zerronnenes  Liebesglück  in  wahren 
Tönen  jubelt  und  klagt.  So  wird  der  Brief  des  Weibes  zum  Vehikel  des 
leidenschaftlichen  Liebeswortes,  das  nun  in  diese  Literatur  der  zierlichen 
Galanterie  hinein  ertönt,  und  von  den  „Portugaises"  und  ihren  Nachahmungen 
wendet  man  sich  auch  wieder  zu  den  alten  Mustern,  die  Heloise  und 
Abaelard  ein.st  geschaffen. 

Die  Erzählungsliteratur  ist  in  üppigster  Blüte:  es  ist  die  Zeit,  da 
Deutschland  nach  dem  Worte  „Roman"  auch  den  Ausdruck  romantisch 
entlehnt,  um  die  tollen  Piiantastereien  dieser  Bücher  zu  bezeichnen. 

Die  Lust  zum  Fabulieren  führte  auch  zur  X'erserzählung,  die  seit  dem  LAfontuM. 
Mittelalter  brachgelegen:  zur  Fabel  und  zum  Fabliau.  Ihr  Poet  ist 
Lafontaine.  Verhältnismäßig  spät,  ein  Vierziger,  fand  er  diese  Form, 
nachdem  er  sich  ohne  Eifer  und  auch  ohne  Erfolg  in  der  klassischen  Elo- 
quenz des  Alexandriners  versucht  und  sich  mit  mythologischen  Fiktionen 
gequält  Malherbes  Beispiel  sagte  ihm  nicht  zu.  Feierlichkeit  und  Würde 
waren  ihm  fremd  in  Kun.st  und  Leben.  Er  kannte  das  Altertum:  er  liebte 
und  genoß  es  als  Poet,  aber  nicht  als  Nachahmer,  noch  als  Aristarch. 
Homers  Schwein  und  Esel  konnten  dem  zukünftigen  Sänger  des  „Dom 
Püurccau''    und    des  „Maitre   Baudtf    nicht    mißfallen,    wie    den    spröden 


248  Heinrich  Morf;  Die  romanischen  Literaturen. 

Kunstrichtern.  Er  gehört  zu  der  Familie  der  Mohere  und  Rabelais:  er  ist 
gaidois.  Von  naturalistischen  Lebenslehren  aus  hat  der  Haltlose  bisweilen 
eine  Hand  nach  dem  Jansenismus  seiner  Freunde  ausgestreckt. 

Eine  Fabeldichtung  hatte  Frankreich  seit  dem  Mittelalter  nicht  gehabt. 
Freilich  hatte  die  Renaissance  die  antike  Fabel  wieder  erweckt;  doch  zu 
eigener  Dichtung  war  es  nicht  gekommen.  Indessen  war  das  Material 
bereitgestellt. 

Die  zwölf  Bücher  von  Lafontaines  Fabeln  (250)  sind  während  25  Jahren 
(seit  1668)  erschienen.  Auch  Lafontaine  war  kein  großer  Erfinder;  stofflich 
hat  er  fast  alles,  und  besonders  das  Beste,  entlehnt.  Aber  als  der  große 
Künstler  hat  er  den  uralten  Stoff  neu  geformt  und  zu  seinem  Eigentum 
umgeschaffen.  Die  antike  Fabel  ist  sentenziös  und  rhetorisch;  ihre  Theo- 
retiker rechnen  sie  auch  nicht  zur  Epik.  Die  mittelalterliche  Fabel  fügt 
naiv  Erzählungsgeplauder  und  Didaktik  zusammen.  Lafontaine  macht  aus 
der  Fabel  ein  episches  Kunstwerk,  und  wenn  sich  eine  Moral  mit  Grazie 
anfügen  läßt,  so  heißt  er  sie  schalkhaft  willkommen.  Ihn  freut  das  Klein- 
leben der  Tiergestalten  um  der  Fülle  des  Lebens  willen,  in  der  er  überall 
Weltlauf  und  Menschenschicksal  sieht.  Er  schildert  die  Komödie  des  Lebens 
in  hundert  kleinen  Szenen  nicht  als  Zensor,  sondern  als  Humorist,  dem  die 
UnvoUkommenheiten  dieser  Welt  nicht  verhaßt  sind.  Das  unklassische 
Detail  zieht  ihn  an.  So  malerisch  weiß  er  die  unbelebte,  so  bewegt  die 
belebte  Natur  zu  schildern  und  mit  einem  so  köstlichen  Anthropomorphis- 
mus,  daß  kindlicher  Sinn  und  gereiftes  Urteil  sich  in  gleicher  Weise  von 
diesem  Werke  der  Poesie  angezogen  fühlen.  Auf  die  natürlichste  Weise 
hat  er  sich  für  sein  Fabelvolk  eine  sprachliche  Form  geschaffen,  die  mit 
ihrem  freien  schmiegsamen  Vers,  ihrem  sorglosen  Reim,  ihren  stimmungs- 
vollen Archaismen,  ihren  drolligen  Neubildungen  aller  klassischen  Regel 
spottet.  Und  ebenso  natürlich  hat  er  diesem  Fabelvolk  die  sonst  so  kalte 
Mythologie  angepaßt  und  aus  dem  feierlichen  Olymp  Götter  der  Mäuse 
und  Frösche  gebildet.  So  gestaltet  er  alles  zu  vollendeter  Harmonie  und 
Natürlichkeit.     Er  „trägt  Fabeln"  wie  ein  Baum  Früchte  trägt. 

Er  trug  auch  „Contes".  Seine  ganze  sprachliche  Kunst  wandte  er 
dabei  vorzüglich  an  alte  Fabliaux- Stoffe,  wie  er  sie  z.B.  im  Decameron  oder 
bei  Ariost  fand  und  deren  Laszivität  der  Alternde  mit  vergnügter  Scham- 
losigkeit hervorkehrt.  Nur  selten  behandelt  er  ohne  Anstößigkeit  feinere 
Herzensgeschichten. 
Perrauit  und  die  Auf  der  Suche  uacli  ueucn  Contes-Stoffen  fand  und  reimte  Ch.Perrault 

Querelle  des     ^^^    Märchcu   vom    „  Allcrlelrauh".     Bald    darauf  leitete    er    seinen    noch 

Anctens  et  des  " 

Modernes,  jugendlichcn  Sohn  an,  die  Märchen  vom  Rotkäppchen,  Dornröschen, 
Aschenbrödel  in  schlichter  Prosa  wiederzugeben  (1696):  die  erste  und  für 
lange  einzige  Sammlung  wirklicher  Volksmärchen  in  Europa.  Aber  in 
dieser  von  aller  Volksliteratur  abgekehrten  Zeit  dachte  niemand  daran, 
noch  mehr  zu  sammeln.  Man  machte  vielmehr  aus  der  glücklich  entdeckten 
Form   ein   literarisches  Spielzeug.     Die  „Contes  de  Fees"   schössen   üppig 


I).  Frankreich  bis  zur  Romantik.     III.  Die  klassische  Literatur.  24Q 

in  die  Halme  und  als  1704  Gallands  Übersetzung  von  looi  Nacht  erschien, 
da  wurde  die  Märchendichtung  zur  Orgie. 

So  erscheint  auch  in  dieser  Periode  die  epische  Dichtung  als  das  Asyl 
derer,  denen  die  Kunstreligion  Boileaus  zu  eng  war. 

Darüber  sollte  es  noch  zu  Auseinandersetzungen  zwischen  l^errault 
und  ßoileau  kommen  und  damit  zu  einem  Kampfe  zweier  Heerlager,  der 
„Modernes"  und  der  „Anciens".  In  stolzen  Versen  feierte  Perrault  in  der 
Akademie  1687  den  literarischen  Glanz  der  Gegenwart  und  verkündete 
jene  Lehre  vom  Fortschritt  und  von  der  Überlegenheit  der  „Moderne"  über 
das  Altertum  —  jene  Lehre,  die  ebenda  fünfzig  Jahre  zuvor  unwidersprochen 
zu  Wort  gekommen  und  seither  nie  verstummt  war.  Jetzt  erhob  sich  der 
zornige  Widerspruch  der  von  Boileau  geführten  ^l/icitns.  Perrault  appellierte 
mit  seinen  geistreichen  „Parallelen  der  Alten  und  der  Modernen"  an  das 
gebildete  Publikum  und  denunzierte  diesem  die  Naivitäten  des  „geschwätzigen" 
Homer.  Boileau  verteidigte  Homer  in  seinen  „Gedanken  über  das  Er- 
habene" (1693),  verlegen,  gereizt,  ohne  Überlegenheit.  Andere  mischten 
sich  ein  und  redeten,  wie  die  Führer,  vielfach  aneinander  vorbei.  Ruhiger 
geworden,  goß  Boileau  Wasser  in  seinen  Wein  und  es  kam  i  700  zu  einer  Art 
Waffenstillstand.  Aber  nochmals  entbrannte  der  Streit,  und  wieder  um  Homer, 
als  der  Moderne  La  Motte  17 13  die  Ilias  verkürzt  und  modernisiert  übertrug. 
Sogar  das  Thcätre  de  lafoire  mischte  sich  mit  Parodien  in  den  Kampf.  F^ne- 
lons  schiedsrichterliches  Urteil  wurde  von  der  Akademie  angerufen.  Der 
klassisch  gebildete,  kunstliebende  und  elegante  Kirchenfürst  mit  dem  un- 
ruhigen Geist,  der  das  vierte  Buch  der  Odyssee  in  ein  liebliches  Prosaepos 
{Tclemaqiie)  übergeführt  hatte,  brachte  geteilte  Gefühle  mit  und  gab  ihnen 
beredten  Ausdruck.  Er  pries  die  Einfachheit  des  griechischen  Tempel- 
baues, aber  auch  die  Eleganz  des  gotischen  Doms.  Man  solle  beides 
schätzen.  Er,  der  selbst  die  Odyssee  modernisiert  hatte,  machte  zwar  zu 
La  Mottes  Poesielosigkeit  Vorbehalte,  verwarf  aber  das  Unternehmen  nicht 
grundsätzlich.  Wenn  er  Hellas  als  Amicn  bewunderte,  so  galt  diese  Be- 
wunderung weniger  dem  Erhabenen  als  dem  Idyllischen  und  statt  Kunst- 
vorschriften fand  er  beim  Griechentum  vielmehr  das  Beispiel  sprachlicher 
Freiheit,  die  er,  unter  Berufung  auf  Ronsard,  statt  der  zwangreichen  Poetik 
der  Zeit  der  Akademie  ans  Herz  legte.  Freilich  ohne  Erfolg.  Andere  wie 
La  Motte  forderten  geradezu  die  Ersetzung  des  dramatischen  Verses  durch 
die  Prosa  und  bekämpften  die  drei  Einheiten.  Doch  fehlte  ihnen  die  Kraft, 
und  sie  blieben  sich  selb.st  nicht  treu.  Am  grundsätzlich.sten  äußerten  sich 
zu  der  ganzen  Frage  solche,  die  die  freiere  Luft  des  Au.slandes  atmeten, 
wie  St-Evremond.  Sie  lehren  die  Relativität  des  Geschmacks  und 
verlangen  für  eine  neue  Zeit  eine  eigene,  neue,  freie  Kunst.  Aber  man 
hört  nicht  auf  sie. 

Und  das  Resultat  dieser  langen  „Querellc"?  Da  die  Modernen  eben- 
sowohl wie  die  Anciens  in  dem  Mißverständnis  befangen  waren,  daß  die 
Dichtkunst  ein  Wissen  und  also  nach  bestimmten  Regeln  erlenibar  sei,  so 


250  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

drehte  sich  ihr  Kampf  nicht  eigentUch  um  die  Freiheit  der  Kunst,  sondern 
nur  um  die  Frage  der  Überlegenheit  des  Altertums.  Und  hier  siegte  aller- 
dings das  Selbstgefühl  der  Modernen:  das  Altertum  trat  zurück  und  er- 
schien entbehrlich.  Es  gewann  hier  jene  Anschauung  wieder  die  Oberhand, 
die  zur  Zeit  Malherbes  und  Chapelains  geherrscht  hatte  —  ja  sie  war 
eigentlich,  trotz  Boileau,  immer  die  herrschende  gewesen.  Die  starren 
Kunstgesetze,  die  der  spröde  Geschmack  geschaffen,  blieben  darob  im- 
erschüttert  und  wurden  von  dem  folgenden  unkünstlerischen  Zeitalter  über- 
nommen.    Bücken  wir  zurück: 

An  der  Fackel  des  Hellenentums  hatte  sich  im  i6.  Jahrhundert  der 
neue  Geist  der  französischen  Literatur  entzündet.  Aber  der  freiere  helle- 
nische Geist  wich  rasch,  und  das  bequemere  Lateinertum  des  antiken  und 
modernen  Italien  blieb  maßgebend.  Nachdem  die  Dichtung  Frankreichs 
sich  an  ihm  gebildet,  wurde  das  Altertum  überhaupt  zurückgedrängt. 
Boileau  versuchte  seinen  Kultus  von  neuem  herzustellen  und  fügte  von 
neuem  Pindar  zu  Horaz,  Sophokles  zu  Seneca,  Homer  zu  Vergil.  Aber 
seine  Lehre  wurde  nicht  einmal  an  ihm  selbst  wirklich  fruchtbar,  denn  des 
freien  griechischen  Geistes  hat  er  keinen  Hauch  verspürt.  Racines  geniales 
Griechentum  ist  ein  „glücklicher  Zufall". 

Der  französische  Klassizismus  ist  lateinisch.    In  seinem  fundamentalen 
und  dauerhaften  Lateinertum  bedeutet  Hellas  nur  eine  Episode.  — 
Der  Geist  Während   die  literarische  Autorität    des   Klassizismus   bestehen    blieb, 

der  Opposition.  ^^^  ^.^  Staatliche  und  kirchliche  Autorität  ins  Wanken. 

Die  vertriebenen  Protestanten  nahmen  die  politischen  Gedanken  der 
Religionskriege  des  i6.  Jahrhunderts  wieder  auf,  verwarfen  das  gewalt- 
tätige Königtum,  predigten  den  esprit  repiiblicain  und  beriefen  sich  auf 
einen  angeblichen  contrat  social.  In  nächster  Nähe  des  Thrones  bemühte 
sich  der  Erzieher  Fenelon,  den  zukünftigen  König  von  Frankreich,  den 
Enkel  Ludwigs  XIV.,  von  den  gefährlichen  Wegen  des  Großvaters  abzubringen, 
und  kommt  darüber  zu  Fall.  In  dem  Ringen,  das  zwischen  Bossuet  und 
Fenelon  beginnt  und  das  in  der  äußeren  Form  einer  theologischen 
Kontroverse  verläuft,  verbirgt  sich  der  Kampf  um  die  Regierungsgewalt. 
Fenelons  Traum,  der  Kanzler  eines  gesetzlichen,  patriarchalischen  Herrschers 
zu  werden,  macht  vor  Torschluß  des  alten  Regiments  der  jähe  Tod  seines 
Zöglings  zunichte. 

Unter  der  Decke  des  Autoritätsglaubens  machte  die  Freidenkerei 
Fortschritte.  Descartes  Vernunftlehre  dringt  in  den  Universitätsunterricht. 
Sie  vermählt  sich  in  den  Schriften  Malebranches,  unter  Bossuets  Wider- 
spruch, mit  den  christlichen  Heilslehren  und  tritt  in  Fontenelles  und 
Pierre  Bayles  Schriften  seit  1680  aufklärerisch  zutage.  Bayles  „Histo- 
risch-kritisches Wörterbuch"  (1696)  ist  ein  wahres  Arsenal  vernunftmäßiger 
Zergliederung  aller  Überlieferung  und  leidenschaftslosen  Skeptizismus. 
Leibniz  richtete  gegen  das  Buch  seine  Theodicee;  Friedrich  der  Große 
aber  w^ünscht  seine  Verbreitung  in  Deutschland  und  sagt  noch   1781:   „Es 


D.   Frankreich  bis  zur  Romantik.     1\'.  Die  Aufklarunysrcit.  251 

würde  ein  unschätzbarer  Vorteil  für  junj^e  Leute  sein,  wenn  sie  die  Stärke 
des  Raisonnenients  und  den  ganz  ausnehmenden  Scharfsinn  dieses  großen 
Mannes  Bayle  sich  völlig  zu  eigen  machten." 

Frankreich  ward  dieses  Geistes  Schüler.  Die  erst  vereinzelten  Stimmen, 
die  sich  gegen  den  Absolutismus  erhoben,  mehrten  sich  nach  1700  und 
schlössen  sich  dann  zu  dem  mächtigen  Chor  der  Aufklärungsliteratur  zu- 
sammen. — 

Beziehungen  zu  den  germanischen  Literaturen  bestanden  für  den 
französischen  Klassizismus  niciit.  Die  pciiples  du  nord^  so  meint  der 
elegante  Bouhours  1671,  entbehren  der  feinen  Bildung,  und  er  .stellt  die 
Frage  auf,  „j-/  lui  Allein  and  pcut,  par  la  tiaiurc  des  choscs,  avoir  de  Vcsprit'\ 
Daß  Boileau  die  italienische  und  spanische  Literatur  verwarf,  ent- 
sprach schon  um  1Ö70  dem  Zug  der  Zeit.  Das  Selbstgefühl,  mit  dem 
Frankreich  die  Vorbildlichkeit  der  Antike  ablehnt,  mußte  sich  schließlich 
auch  gegen  die  übrigen  fremden  Muster  richten,  die  den  französischen 
Dichtern  zur  Zeit  Chapelains  noch  so  vertraut  gewesen  waren.  So  war 
durch  Assimilierung  und  Besiegung  der  fremden  Einflüsse  jene  stolze 
nationale  Literatur  entstanden,  von  der  schon  Ronsard  und  Du  Bellay  ge- 
träumt hatten,  daß  sie  nach  Überwindung  der  Antike  als  ein  modernes 
Römertum  die  Welt  beherrschen  werde. 

Der  französische  Klassizismus,  zu  dessen  Bau  seit  1550  ein  ganzes 
Jahrhundert  die  Steine  brach,  zusammentrug  und  behieb,  ist  die  macht- 
vollste Schöpfung  der  Romania. 

IV.  Die  Aufklärungszeit.  Gleich  nach  dem  Tode  Ludwigs  XR'. 
trat  die  Erschütterung  der  Tradition  auf  allen  Lebensgebieten  deutlich  zu- 
tage. Zwar  blieben  die  äußeren  Einrichtungen  des  politischen,  sozialen, 
kirchlichen  und  literarischen  Absolutismus  bestehen:  Das  Königtum  prunkte  Frankreich  n 
mit  seiner  rücksichtslosen  Herrscherwillkür;  der  Adel,  der  käuflich  war,  '^  J*  '  "°  « 
mehrte  sich,  und  seine  Privilegien  wurden  drückender;  die  Kirche  ver- 
schärfte ihre  Edikte  gegen  die  Protestanten;  Klöster  und  der  Besitz  der 
toten  Hand  wuchsen.  Auf  der  großen  Menge  der  Unprivilegierten  lastete 
die  ganze  Schwere  eines  unseligen  Steuersystems  und  einer  barbarischen 
Strafjustiz.  Über  die  literarische  Produktion  herrschten  die  Gesetze  des 
unduldsamen  Klassizismus,  der  ihr  eine  zwar  glänzende,  aber  spröde,  un- 
geschmeidige Form  vorschrieb.  Innerlich  aber  war  alles  in  Gärung.  In 
diese  klassizistische  Form  kleideten  sich  unkla.ssische,  naturalistische  und 
individuali.stische  Lebenslehren.  Was  unter  Ludwig  XI\^  durch  Feierlich- 
keit und  Prüderie  zurückgehalten  worden  war,  drängte  jetzt  zum  Ausdruck 
in  Leben,  Wort  und  Bild.  Die  Ungebundenheit  ward  dabei  vielfach  zur 
Ausschweifung,  die  gesunde  Sinnlichkeit  zur  Lüsternheit.  Die  Literatur 
trägt  diesen  Zug.  Auch  die  Kunst:  die  Neigung  zu  schwelgerischer  Ele- 
ganz löst  die  strengen  Linien  des  „Style  academique"  auf.  Man  spielt 
graziös  und  auch  lüstern  Xatur.    An  den  anmutigen  Watteau  reiht  sich  der 


252 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


laszive  Boucher.     In  Versailles,  Dresden,   Potsdam   entstehen   Fürstensitze 
in  Rokoko. 

Die  Unprivilegierten,  denen  jede  gesetzliche  Vertretung  im  Staate 
fehlte,  schufen  sich  aus  ihren  Schriftstellern  eine  Art  unverantwortlichen 
Parlaments.  Es  entstand  eine  öffentliche  Meinung.  Neben  dem  konfessio- 
nellen Hader  machte  die  Freidenkerei  in  der  Hierarchie  selbst  Fortschritte. 
Die  Macht  des  Geldes  begann  die  Standesschranken  zu  durchbrechen  und 
den  Adel  zu  zersetzen.  Die  Refugies  verkündigten  immer  nachdrücklicher 
die  revolutionären  Theorien,  die  schon  in  den  Religionskriegen  des 
i6.  Jahrhunderts  gegen  die  Monarchie  gepredigt  worden  waren. 

Und  bis  an  die  Stufen  des  Thrones  wagte  sich  die  Opposition.  Fene- 
lons  „Telemaque",  dessen  politische  Lehren  den  Zorn  des  Hofes  erregt 
hatten,  durfte  17 17  dem  achtjährigen  König  gewidmet  werden  und  Massillon 
sprach  vor  ihm  in  seinen  Fastenpredigten  politische  Gedanken  aus,  die 
über  Fenelon  hinausgingen  und  redete  vom  König  als  einem  Beauftragten 
der  Nation.  Zugleich  wies  er  auf  die  erschreckenden  Fortschritte  des  Un- 
glaubens hin,  der  einst  seinen  einzelnen  Vertretern  zur  Unehre  gereicht 
habe  und  nun  geradezu  zu  Ansehen  verhelfe.  Die  Katastrophe,  die  der 
Schotte  Law  1720  dem  französischen  Geldmarkt  brachte,  erschütterte  alle 
Besitz  Verhältnisse  und  kehrte,  nach  einem  Wort  Montesquieus  „die  Ge- 
sellschaft um,  wie  ein  Trödler  einen  alten  Rock  wendet". 

Zum  erstenmal  richten  sich  die  Blicke  Frankreichs  nachdrücklich  über 
die  Grenzen  der  Romania  hinaus  und  zwar  nach  England.  Für  die  bis- 
herige geistige  Isolierung  Frankreichs  ist  es  charakteristisch,  daß  um  1720 
der  junge  Montesquieu  zu  Bordeaux  seine  naturwissenschaftlichen  Arbeiten 
ohne  Kenntnis  der  großen  Entdeckungen  Newtons  (1687)  schrieb. 

Nun  tritt  die  germanische  Welt  in  den  Gesichtskreis  des  Franzosen. 
Holland  und  die  Schweiz  vermitteln  sie  ihm.  Der  Berner  Muralt  ver- 
öffentlicht 1725  seine  „Briefe  über  die  Engländer  und  Franzosen",  skizziert 
darin  zum  erstenmal  die  Züge  eines  vorbildlichen,  politisch  freien,  ver- 
nünftigen, arbeitsamen,  philosophisch  denkenden  England  und  nennt  den 
Namen  Shakespeares. 
Ursprung  und  Zu   der   freien  Denkart,    die    aus    eigenen    französischen    Quellen   floß, 

A.u^ärun'^'  ^^^  Descartes,  Gassendi,  Bayle,  gesellt  sich  der  mächtige  Strom  eng- 
lischer Gedanken  Newtons,  Lockes  und  der  Deisten.  Dieser  englische 
Einschlag  gab  der  französischen  Aufklärung  ihren  eigentlichen  Charakter. 
Es  ist  die  Zeit,  die  Voltaire  le  siede  des  Anglais  nennen  und  die  von 
anderen  den  Vorwurf  der  Anglomanie  erfahren  wird. 

Diese  Aufklärung  nahm  das  Thema  der  Renaissance  wieder  auf: 
Lehren  irdischer  Lebensbetrachtung  von  den  Rechten  des  Individuums 
und  der  Natur.  Die  Renaissance  hatte  einst  diese  Lehren  unter  der 
Hegemonie  des  Hellenentums  und  der  Philologen  vorgetragen.  Das 
18.  Jahrhundert  verkündete  sie  unter  der  Hegemonie  Englands  und  der 
Naturforscher.     Seine  Führer,   Montesquieu,   Voltaire,   Diderot,   Rousseau, 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     1\'.  Die  Aufklärun^fszcit.  253 

sind  „Physiker".  Newtons  Gravitationsgesetz  wurde  zur  kräftigsten  Stütze 
des  heliozentrischen  Weltbildes,  in  welchem  unsere  Erde  ihre  privilegierte 
Stellung  im  Universum  verliert.  Lockes  Sensualismus  wurde  zur  kräf- 
tigsten Stütze  der  Lehre  von  der  körperlichen  Bedingtheit  unseres  geistigen 
Lebens  —  Vctroitc  coüturc  de  Vcsprit  et  du  Corps,  wie  Montaigne  sagte  — 
und  der  animalen  Organisation  des  Menschen.  Die  Xaturbedingtheit  alles 
Lebens  ist  der  Text  über  den  in  der  Eglise  philosuphique  gepredigt  wird. 
Aus  dieser  Anschauung  erwuchsen  sowohl  der  Materialismus  als  die  An- 
fange der  Entwickelungslehre,  sowohl  die  pragmatische  Geschichtschrei- 
bung als  die  neue  Ästhetik  und  die  nationalökonomischen  Theorien  der 
Physiokraten.  Deshalb  nennt  Voltaire  das  siccle  des  Anglais  zugleich  Ic 
silclc  des  sciences  nahtrelles. 

Es  sollte  die  „Herrschaft  der  natürlichen  X'ernunft"  an  die  Stelle  aller 
Tradition  treten,  und  es  sollte  der  Mensch,  statt  seine  Blicke  hilfesuchend 
himmelwärts  zu  richten,  im  Vertrauen  auf  die  ihm  innewohnenden  Ent- 
wickelungskräfte,  tatkräftig  und  hoffnungsfreudig  seine  irdische  Bahn  wandeln, 
die  ihn  vorwärts  zu  Wahrheit  und  Glück  führen  und  ihm  das  goldene  Zeit- 
alter bringen  werde,  das  vor  uns  und  nicht  hinter  uns  liege.  Diese  Lehre 
der  Perfektibilität  stellt  die  Krönung  des  Aufklärungsgedankens  dar,  ein 
enthusiastisches  Programm  irdischer  Lebensarbeit,  wie  es  Condorcet  (1794) 
in  seiner  „Esquisse    des  progres  de  l'esprit  humain"  formuliert. 

Diese  Aufklärungsliteratur  trägt  den  Stempel  der  Parteiversammlungen, 
aus  denen  sie  hervorgegangen:  der  Salons.  Sie  ist  weltmännisch  im  guten 
wie  im  schlechten  Sinne,  elegant  und  geistreich,  aber  auch  oberflächlich. 
Die  von  den  Frauen  beherrschte  „Gesellschaft"  bestimmt  Wahl  und  Be- 
handlung des  literarischen  Stoffes.  In  dieser  Welt  der  Causerie  war  der 
Gesprächswert  entscheidend.  Längst  war  die  französische  Prosa  um  ihrer 
angenehmen  Gemeinverständlichkeit  willen  berühmt  {propter  faciliorem  ac 
delectabiliorcm  vulgaritatem,  wie  Dante  schon  vierhundert  Jahre  zuvor 
sagte).  In  diesen  Salons  machte  sie  eine  eigentliche  hohe  Schule  der 
Vulgarisation  durch.  Hier  wurde  das  sprachliche  Gesellschaftskleid  zu- 
rechtgemacht, das  in  PVankreich  jedem,  auch  dem  mittelmäßigen  Schrift- 
steller, etwas  vorzustellen  gestattet  —  das  aber  auch  alle  nivelliert.  Hier 
bildete  sich  jene  glänzende  und  gefährliche  SoziabiUtät  aus,  die  dem  Fran- 
zösischen seine  weltbeherrschende  Stellung  schuf  und  die  zugleich  der 
Tiefe  und  Eigenart  seiner  Literatur  Abbruch  tat. 

Noch  zu  Lebzeiten  Friedrichs  II.  schrieb  die  Academie  de  Berlin  die 
Preisfrage  von  dem  guten  Rechte  der  Universalität  der  französischen  Sprache 
aus  und  krönte  die  Schrift  Rivarols,  die  diese  Sprache  als  die  eigent- 
liche langtie  htimaine  bezeichnete  (1784). 

Die  Augen  Europas  waren  auf  Paris  gerichtet  Die  auswärtigen 
Fürstenhöfe,  von  Rußland  und  Schweden  bis  Toscana,  hielten  sich  in  Paris 
literarische  Korrespondenten.  Goethe  wartete  in  Weimar  mit  Spannung 
auf  den    vierzehntäglichen  Bericht    der    diskreten    handschriftlichen   Corre- 


!54 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


sp07idance  litteraire,  welcher  Diderot  seine  gefährlichsten  Manuskripte  bei- 
fügte. Eine  große  Zahl  gedruckter  Wochen-  und  Monatsschriften  brachten 
der  Welt  die  französischen  Ideen  zur  Kenntnis.  Von  dieser  Zeit  gilt,  daß 
nur  Frankreich  und  französische  Form  universellen  Charakter  zu  verleihen 
vermochte.  Die  Ideen  des  englischen  „Spectator"  wurden  in  Deutschland 
und  in  Italien  wirksam,  weil  Bodmer  und  Gozzi  sie  aus  einer  —  lücken- 
haften —  französischen  Übersetzung  kannten.  Lessing  gewann  aus  Voltaires 
Schriften  die  erste  Kenntnis  Shakespeares.  Die  französische  Übersetzung 
war  für  Geßners  Idyllen  das  Mittel,  sich  Amerika  zu  erobern.  Und  — 
lang'e  später  —  lernten  noch  der  Engländer  Carlyle  und  der  Amerikaner 
Taylor  den  Namen  Goethes  bei  Frau  von  Stael  kennen. 

Die  einzelnen  Schriftsteller  vertreten  die  Lehren  der  Aufklärung  in 
verschiedener  Weise  und  mit  ungleicher  Entschlossenheit.  Schon  früh 
finden  sich  solche,  die  sie  bis  in  ihre  letzten  Konsequenzen  verfolgen.  Der 
Arzt  und  Forscher  La  Mettrie  lehrt  den  Materialismus  sans  phrase  (JJhoimne 
machine,  1747)  und  Diderot  führt  die  Lehren  des  Individualismus  bis  zum 
Preise  der  Anarchie.  Voltaire  nimmt  immer  eine  gemäßigte,  mittlere  Stellung 
ein  und  Rousseau  geht  zum  offenen  Kampfe  gegen  die  Aufklärer  über. 
Montesquieu.  Ein    hohcr    richterlicher   Beamter,    Montesquieu,    schrieb    172 1    eine 

Satire  auf  sein  Land,  die  er  reisenden  Persem  in  den  Mund  legte.  Diese 
„persischen  Briefe"  sind  aus  dem  Haß  des  Aristokraten  gegen  die  „asia- 
tische Despotie",  die  Richelieu  in  Frankreich  begründet  und  Ludwig  XIV. 
verkörpert  hatte,  geboren.  Sie  malten  den  Monarchen  und  den  Papst, 
das  Weiberregiment  und  die  Bischöfe  mit  geistreichem  Spott;  sprachen 
unehrerbietig  über  Dogma  und  Akademie,  musterten  pessimistisch  alle 
Lebensverhältnisse  des  monarchischen  und  katholischen  Landes.  Sie 
mischten  auch  libertine  Serailberichte  unter  die  eindrucksvollen,  scharf- 
geschauten  Bilder  französischen  Lebens.  Die  großen  Züge  historischen 
Geschehens  ziehen  Montesquieu  früh  an,  insbesondere  in  den  Schicksalen 
Roms  und  in  der  Verschiedenheit  menschlicher  Gesetzgebung,  deren 
tieferen  Lebensbedingungen  er  seit  seiner  Studentenzeit  nachgeht.  Er  lernt 
England  kennen,  dessen  „extreme  politische  Freiheit"  ihn  mit  Staunen, 
aber  auch  mit  Sorge  erfüllt,  denn  Revolution  und  Abfall  der  Kolonien 
scheint  ihm  hinter  ihr  zu  lauern.  Nach  zwanzigjähriger  Arbeit  veröffent- 
lichte er  1748  sein  Buch  über  das  „Lebensprinzip  der  Gesetze"  {Uesprit 
des  lois).  Auch  es  ist  gegen  den  herrschenden  Absolutismus  gerichtet,  der 
jene  Vorrechte  des  Adels  und  jene  bürgerliche  Freiheit  des  Volkes  zerstört 
habe,  die,  in  den  Zeiten  der  germanischen  Eroberung  begründet,  noch  in 
der  altfranzösischen  Monarchie  zu  Recht  bestanden  hätten.  Montesquieu  ist 
ein  volksfreundlicher,  konservativer  Aristokrat.  Reformen  empfiehlt  er  nicht 
und  keineswegs  beabsichtigte  er,  der  englischen  Konstitution  in  Frankreich 
den  Weg  zu  bahnen.  Er  lehrt  vielmehr  die  Relativität  aller  staatlichen  Ein- 
richtungen. Er  spricht  mit  Objektivität  über  diese  Verschiedenheiten  und 
ihre  Vorzüge.    Er  zeigt,  wie  die  Form  des  staatlichen  Lebens  mit  tausend 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     I\'.  Die  Aufklarungszeit.  155 

Fäden  an  die  natürlichen  Lebensbedingfungcn  eines  Volkes  gebunden  seien, 
und  trägt,  als  ein  Newton  der  Staatslehre,  gleichsam  eine  mechanische 
Erklärung  dieses  staatlichen  Lebens  vor.  Er  weist  für  irdische  Einrich- 
tungen irdische  Ursprünge  nach;  er  klärt  auf  und  lehrt  denken,  nach 
seinem  eigenen  Wort:  //  nc  sagit  pas  de  /airc  lirt',  mais  de  faire  ft  nsi  r. 
Daß  Montesquieu  seine  Quellen  allzu  kritiklos  benutzt  und  im  einzelnen 
deshalb  oft  irrt,  ist  dem  Buch  weniger  zum  Schaden  geraten,  als  daß  er 
in  schöngeistiger  Ziererei  seine  Darstellung  pointiert  und  zertlattern  läßt, 
so  daß  der  Gesamteindruck  leidet.  In  der  Revolution  von  1789  beriefen 
sich  alle  Parteien  auf  den  „Esprit  des  lois".  Das  Buch  stellt  ein  Arsenal 
politischer  Waffen  dar.  In  Deutschland  sind  Herder  und  Friedrich  II.  seine 
bedeutendsten  Schüler.  Sein  Verdienst  ist,  die  wissenschaftliche  politische 
Diskussion  geschaffen  zu  haben. 

Nichts   zeigt   deutlicher  den   Unterschied    zwischen   dem    1 8.  und   dem    Di«  uteratur 
17.  Jahrhundert,  als   die   reiche  Entfaltung   einer   Literatur  der  politischen  **" '^^^!*''^°* 
und  wirtschaftlichen  Reform.     Nicht  nur  die  Realpolitiker  des  aufgeklärten         and 
Despotismus  —  die  sich  mit  X'orlicbe  auf  ein  idealisiertes  China  berufen  —  kün»üenich«i 
kommen  zum  Worte.    Von  hochherzigen  Utopisten  werden  die  Grundlagen 
der  Monarchie  ebensogut  in  Zweifel  gezogen,  wie  die  des  wirtschaftlichen 
Lebens.     In  ihren   Zukunftsträumen    finden    sich   die   disjecta  membra   des 
späteren  Sozialismus.     Die   sogenannten   Physiokraten   preisen    im    miß- 
achteten Ackerbau  die  natürliche  Grundlage  aller  Wirtschaft.    Sie  besonders 
lehren,   daß   man   den  Menschen   moralisch   hebt,   wenn   man   ihn   materiell 
fördert  und  diese  Förderung  erkennen  sie  im  freien,  natürlichen  Spiel  der 
ökonomischen  Kräfte:   laisser  faire y  laisser  passer.     Politisch  und  kirchlich 
konservativ,  bereiten  sie  die  wirtschaftliche  Seite  der  Revolution  vor. 

Eine  Lehre  von  den  natürlichen  Bedingungen  des  Kunstschaffens  {les 
causes  physiqucs  dans  le  progrls  des  arts  et  des  lettres)  trägt  der  feinsinnige 
Dubos  in  seinen  „Gedanken  über  Poesie  und  Malerei"  schon  171g  vor. 
Er  erklärt  auch  das  Recht  auf  persönlichen  Geschmack.  An  ihm  erkennt 
man  die  befreiende  Wirkung  Homers.  Batteux  führt  diese  Lehre  der 
Freiheit  von  neuem  in  den  Dienst  ängstlicher  Kunstregeln  zurück  (1746), 
wogegen  Diderot,  wieder  von  Homer  geleitet,  Einspruch  erhebt.  Diderot 
verlangt  freie  Bahn  für  den  Genius,  beruft  sich  gegen  den  Akademismus 
auf  die  Natur  und  gegen  den  Naturalismus  auf  die  Antike,  spricht  ganz 
modern  über  Rembrandt,  verwirft  das  ///  pictura  poesis  und  regt  damit 
Lessing  zum  „Laokoon"  an,  während  der  Übersetzer  seines  „Essai  sur  la 
peinture"  Goethe  wird. 

Fast  in  den  nämlichen  Jahren  wie  Montesquieu  verlebte  auch  Voltaire  Votuir«. 
zwei   Jahre    in    England,    das    ihn,    den    Jüngeren,    noch    tiefer   ergriff  als 
jenen.     Dem    frivolen   schöngeistigen    Skeptiker,   gab    es   bestimmte   Ziele, 
es  machte  ihn  reifer  und  ernster. 

Was  in  Frankreich  bisher  über  ein  freies  England  bekannt  geworden 
war,   das  resümierte,   vermehrte  und   popularisierte  Voltaire.     Er  stieß  die 


256  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

halb  geöffnete  Türe  vollends  auf  und  richtete  als  Herold  so  kecke  Worte 
an  seine  Landsleute,  daß  die  Staatsverwaltung  zur  Verfolgung  griff  und 
den  „Lettres  sur  les  Anglais"  (1734)  die  Weihe  des  Skandals  gab.  Voltaire 
beabsichtigte  in  diesen  18  Briefen  nicht  sowohl  eine  Darstellung  des  kirch- 
lichen, politischen,  philosophischen,  sozialen,  literarischen  England,  als 
eine  Satire  auf  Frankreichs  Rückständigkeit:  daher  die  Übertreibungen, 
Einseitigkeiten  und  Lücken. 

Die  g-ermanische  Welt  ist  wiederholt  in  dieser  Weise  der  erstaunten 
Romania  vorgestellt  worden:  ihre  primitive  Gesamtheit  einst  durch  Tacitus; 
hier  zunächst  die  Anglia  durch  Voltaire  und  achtzig  Jahre  später  die 
Germania  durch  Frau  von  Stael.  Die  reformatorische  Absicht  war  modi- 
fiziert durch  die  Verschiedenheit  der  Zeiten:  Tacitus  predigte  moralische 
Reform,  Voltaire  hauptsächlich  Denkfreiheit,  Frau  von  Stael  vornehmlich 
literarische  Wiedergeburt.  Voltaire  kämpft  gegen  kirchliche  Engherzigkeit, 
soziale  Vorurteile,  politische  Bedrücktheit,  vulgarisiert  die  Lehren  Bacons, 
Newtons,  Lockes;  schöpft  Anregung  aus  Popes  Didaktik,  Swifts  Satiren. 
Aus  Shakespeare,  dessen  freier  aber  auch  rauher  Größe  er  mit  zwie- 
spältiger Empfindung  gegenübersteht,  empfängt  er  die  Ahnung  einer 
lebensvolleren  Dramatik,  deren  Lockungen  er  aber  nur  behutsam,  ja 
ängstlich,  folgt.  Andere,  wie  Prevost,  stellen  in  den  Dienst  dieser  eng- 
lischen Ideen  periodische  Publikationen  nach  dem  Muster  der  moralischen 
Wochenschriften  Englands. 

Noch  peinlicher  als  Shakespeares  wirkt  später  Dantes  große  Kunst 
auf  Voltaire.  Der  scharfe  Ausdruck  dieser  Empfindung  weckt  in  Italien 
lauten  Widerspruch.  Es  ist  charakteristisch,  daß  zur  nämlichen  Zeit 
Deutschland,  unter  Bodmers  Führung,  seiner  Bewunderung  für  die  Poesie 
des  großen  Italieners  und  des  großen  Briten  Worte  leiht. 

Die  Ungunst  der  Verhältnisse  zwingt  Voltaire,  seinen  Wohnsitz  fürder- 
hin  fem  von  Paris  zu  nehmen.  Er  verlebt  anderthalb  arbeitsreiche  Jahr- 
zehnte auf  Schloß  Cirey,  folgt  1750  der  Einladung  Friedrichs  IL  nach  Berlin, 
wo  auf  die  Honigmonate  fürstlicher  Intimität  bald  Verstimmung  und 
längere,  doch  nicht  dauernde,  Entfremdung  folgt.  Über  vier  Jahrzehnte 
erstreckt  sich  der  bedeutungsvolle  Briefwechsel,  in  welchem  die  beiden 
Männer  Urteile  über  Menschen,  über  literarische  Dinge  und  Fragen 
der  Weltanschauung  austauschen.  Die  letzten  25  Jahre  verbringt  Vol- 
taire in  der  Nähe  von  Genf,  besonders  in  P'erney,  im  Besitze  eines 
förmlichen  literarischen  Königtums.  Zu  Cirey  überwogen  die  dichterischen 
und  historischen  Arbeiten;  in  Femey  steht  der  Kampf  um  die  Freiheit 
des  Denkens  im  Vordergrund.  Voltaires  philosophische,  antikirchliche 
Schriftstellerei  bricht  namentlich  im  Gefolge  jener  Affaire  Calas  macht- 
voll auf,  die  seit  1762,  auf  seinen  Kampfruf  hin,  die  öffentliche  Mei- 
nung Europas  aufrührte.  Und  Calas  blieb  der  letzte  Protestant,  der 
um  seines  Glaubens  willen  in  Frankreich  gefoltert  und  aufs  Rad  ge- 
flochten wurde. 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     IV.  Die  Aufklärungszeit.  257 

Die  zahlroichen  historischen  Arbeiten  Voltaires  überragt  an  Bedeutung 
sein  Versuch  einer  Universalgeschichte  {Kssai  sur  Ics  mccurs  et  Vcsprit  des 
nations),  der  zugleich  als  Fortsetzung  und  als  Gegenstück  zu  Bossuets 
Predigt  über  die  Weltgeschichte  geschrieben  ist.  Durch  seine  eindringende, 
von  nationalen  Vorurteilen  freie  Kritik  der  Überlieferung  [pliilusophic  de 
Vhistuirc)  und  durch  die  weite  Auffassung  seiner  Aufgabe  als  einer 
kulturgeschichtlichen,  hat  er  schöpferisch  gewirkt.  Begeistert  preist 
ihn  dafür  Lessing.  Die  aufdringliche  Didaktik  des  Aufklärers  setzt 
indessen  Voltaires  großer  Leistung  eine  Schranke,  die  freilich  Lessing 
nicht  fühlte. 

In  seinen  philosophischen  Schriften  vertritt  Voltaire  die  in  der  ^,Eglise 
philosophiquc'^  herrschende  Lehre  des  Deismus,  die  er  eklektisch  aus- 
gestaltet. Ihn  erfüllt  ein  fester,  unerschütterlicher,  durch  Vernunftschlüsse 
unabweislich  gebotener  Glaube  an  ein  höchstes  Wesen,  das  ewig,  weise 
und  gerecht  ist  und  als  Lebensprinzip  neben  und  über  der  ewigen  Materie 
steht  —  also  Dualismus.  Die  metaphysische  Ausgestaltung  dieses  Dualis- 
mus ist  bei  ihm  widerspruchsvoll.  Als  praktischer  Philosoph  legt  er  viel 
mehr  Nachdruck  auf  die  Unumstößlichkeit  der  Tatsache,  daß  Gott  existiert; 
seine  gelegentlichen  \"ersuche,  durch  metaphysische  Spekulation  das  Wie 
dieser  Existenz  zu  erklären,  gibt  er  selbst  jeweilen  ohne  Bedauern  preis. 
Er  ist  im  Innersten  überzeugt  von  der  sittlichen  Verderblichkeit  des 
Atheismus,  der  den  obersten  Gesetzgeber  und  Richter  aus  der  Welt 
schaffe,  und  kämpft  leidenschaftlich  gegen  die  Gottesleugner  unter  den 
Aufklärern.  Er  ist  auch  überzeugt  von  der  Unwandelbarkeit  der  Begriffe 
von  Recht  und  Unrecht,  Tugend  und  Laster,  welche  das  höchste  Wesen 
als  loi  naturelle  in  unsere  Herzen  gegraben  hat  und  in  deren  Befolgung 
wir,  unbekümmert  um  Kultus  und  Dogma,  unsere  praktische  Religion 
erblicken  sollten.  Er  faßt  die  Welt  auf  als  einen  Bau  nach  bewußten 
Endzwecken.  Die  Natur  i.st  ihm  Kunst.  Die  Liebe  zu  Gott  wird  zur 
Liebe  zum  Künstler,  dessen  Werk  wir  bewundern.  Um  das  Vorhanden- 
sein des  Übels  in  dieser  zweckmäßigen  Welt  zu  erklären,  hält  er  unsere 
Vernunft  nicht  für  ausreichend.  Ob  er  die  Summe  dieses  Übels  geringer 
anschlägt,  wie  in  jüngeren  Jahren,  oder  höher  taxiert,  wie  in  der  späteren 
Zeit...  alle  Versuche  des  Optimismus,  das  Rätsel  zu  lösen,  scheinen  ihm 
ungenügend  und  reizen  seinen  Spott.  Der  Fortschritt  der  Menschheit  auf 
der  Bahn  des  Glückes  ist,  nach  ihm,  sehr  lang.sam.  Den  Enthusiasmus 
des  Perfektibilitätsglaubens  teilt  er  nicht.  In  der  Erkenntnislehre  ist  er 
ein  Sensualist  von  der  Schule  Lockes.  Große  Wahrscheinlichkeit  hat  für 
ihn  die  Hypothese,  daß  die  sogenannte  Seele  nur  eine  dem  Körper  von 
Gott  verliehene  Fähigkeit  sei.  Das  führt  ihn  zu  unabweislichen  Zweifeln 
an  unserer  persönlichen  Fortdauer  nach  dem  Tode,  und,  indem  er  die 
Unsterblichkeit  der  Seele  preisgibt,  glaubt  er,  daß  das  göttliche  Gericht 
über  Gut  und  Böse  schon  auf  Erden  in  dem  Gewissen  des  einzelnen 
Menschen    abgehalten    werd*^».      .Aus    einem    entschiedenen    Indeterministen 

Du    KOLTVK    DIR    GlOtMWART.      1.  1  I.    i  17 


258  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

ist  er  schließlich,   vorzüglich  durch  Friedrichs  IL  Einflui5,   ein  ebenso  ent- 
schiedener Determinist  geworden. 

Für  diese  Lehren  steht  Voltaire  eine  glänzende  sprachliche  Form  zur 
Verfügung.  An  Stelle  der  gemessenen  Feierlichkeit  der  klassischen  Satz- 
periode, die  dekorativ  verweilt,  würdig  gebietet  oder  untertänig  huldigt, 
tritt  bei  Voltaire  der  rasche  Schritt  der  Rede,  die  zur  Tat  schreitet.  Die 
Periode  ist  kürzer.  Knapp  umschließt  ihre  Hülle  den  Gedanken,  dessen 
lebhafte  Bewegung  durch  ihre  einfache  Eleganz  nicht  gehemmt  und  nicht 
verdeckt  wird.  Alles  erscheint  von  vollendeter  Natürlichkeit,  alles  in 
helles  Licht  getaucht;  alles  macht  den  Eindruck  müheloser  Selbstverständ- 
lichkeit. Diese  leuchtende  Darstellung  überwindet  spielend  alle  Schwierig- 
keiten —  es  ist  nicht  die  Darstellung  des  Forschers,  der  sich  müht.  Es  ist 
die  des  genialen  Dilettanten.  Dabei  stellt  Voltaire  alle  literarischen  Formen 
in  den  Dienst  der  philosophischen  Propaganda:  das  Drama,  das  Lehr- 
gedicht, das  ihm  meisterlich  gerät;  jene  abenteuerlichen  Erzählungen,  die 
er  Romane  nennt;  Predigten,  Dialoge,  Disputationen,  Briefe  und  das  — 
Taschenwörterbuch. 

Die  neue  naturwissenschaftliche  Erkenntnis  von   der  organischen  Ent- 
wickelung  überzeugt  Voltaire   nicht.     Die  Veränderlichkeit  der  Arten   an- 
zunehmen,   lehnt    er    ab.      Die    Zeit    überholte    ihn    und    die    weiter    links 
stehenden  espHts  forts  spotteten  über  ihn  als  einen  esprit  faible. 
Diderot  luzwischcn  hatte  Diderots  „Encyclopedie"  zu  erscheinen  begonnen, 

und  sein  Kreis.  YQ^^-g^jj-g  arbeitete  erst  mit,  ging  dann  aber  zu  kritischer  Ablehnung  über. 

Der  stürmische  Diderot  war,  von  englischen  Anregungen  ausgehend 
und  durch  La  Mettrie  geführt,  vom  Deismus  zu  einer  materialistischen 
Entwickelungstheorie  und  physischen  Interpretation  aller  Lebensvorgänge 
gelangt.  Er  ging  bis  auf  den  Grund  des  naturalistischen  und  individu- 
alistischen Zuges  der  Zeit.  Er  ward  der  konsequenteste,  rückhaltloseste 
und  umfassendste  Vertreter  der  neuen  Denkweise  und  verrichtete  als 
solcher  eine  ungeheure  Arbeit.  Staunend  überblickt  man  den  Umfang 
dieser  Leistung,  diese  philosophischen,  mathematischen,  naturwissenschaft- 
lichen, kunstgeschichtlichen,  technologischen,  politischen,  historischen, 
pädagogischen  Schriften,  diese  Romane,  Dramen  und  Dramaturgien,  die 
Lessing,  Goethe,  Schiller,  Geßner  zu  Übersetzungen  anregten  und  die  ihn 
so  wenig  erschöpften,  daß  er  vom  Überfluß  seiner  Ideen  einem  großen 
Freundeskreise  freigebig  spendete.  „Tief  und  närrisch"  nennt  er  selbst 
seine  philosophischen  Dialoge  und  diese  Bezeichnung  verdient  besonders 
„Le  neveu  de  Rameau",  jene  dialogisierte  Studie  über  die  Verbindung 
von  moral  insanity  und  Genialität,  die  Goethe  festhielt.  Diderot,  der  so 
fesselnd  zu  plaudern  weiß,  verfallt  auch  leicht  in  wortreiches  Dozieren, 
und  in  überquellender  Rührseligkeit  verbindet  er  Lehren  der  Moral  und 
des  Libertinage.  Ein  starrer  Gottesleugner  ist  der  Monist  Diderot  nicht 
geworden.  Sein  enthusiastischer  Materialismus  bewahrt  einen  idealistischen 
Zug,   der  in  seiner  altruistischen  Morallehre   und   seinem  Pantheismus   zu 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     IV.  Die  Aufklärungszeit.  250 

Wort  kommt.  Dieser  Zugf  fehlt  dem  Buch  des  Helvetius  (De  Vesprit, 
1758),  durch  welches  das  Frösteln  platter  Prinzipienreitcrei  g'cht,  und  dem 
die  Verfolgunj.|fen  des  Staatsanwaltes  einen  unverdienten  Ruf  verschafften, 
als  wäre  es  der  urkundliche  Ausdruck  der  Aufklärung.  Auch  Holbachs 
„Syst«'me  de  la  nature"  (1770)  ist  trotz  Diderots  Mitarboiterschaft  trocken 
und  kalt  g^eblieben.  Diese  doktrinäre  Bilanz  des  Naturalismus  wurde 
nicht  nur  von  Voltaire  abgelehnt.  Auch  König  l'Viedrich  ergriff  die 
Feder  zur  Widerlegung. 

Ein  Aufenthalt  in  England  führt  Buffon  zu  naturwissenschaftlichen 
Studien.  Die  36  Bände  seiner  „Histoirc  naturelle  generale  et  particuliere" 
(seit  1749)  verbinden  exakte  Forschung  auf  Grundlage  des  Experiments 
mit  kühnen  und  wechselnden  entwickelungsgeschichtlichen  Hypothesen, 
und  seine  glänzende  Rhetorik  trägt  diese  Xaturbetrachtung  in  weite 
Leserkreise.  D'Alemberts  Bedeutung  liegt  weniger  in  seiner  eigenen 
literarischen  Tätigkeit,  als  in  seinem  wissenschaftlichen  Ansehen  als 
Mathematiker  und  in  seiner  Machtstellung  in  der  Schriftstellerwelt,  die 
ihn  zu  einer  Art  „Minister  der  Aufklärungsangelegenheiten"  erhob. 

Auch  die  Encyclopedie  (1750— 1772  mit  Supplementen  bis  1780,  Die 
35  Bände)  geht  auf  englische  Anregung  zurück.  Ihre  Redaktoren  Diderot  ^''"^  "• 
und  D'Alembert  beabsichtigen  eine  Prüfung  des  gesamten  menschlichen 
Lebens  auf  seine  Vernünftigkeit  hin.  Die  Arbeit  ist  sehr  ungleich  aus- 
gefallen. Ihre  Hauptlast  ruhte  auf  dem  unermüdlichen  Diderot  Die  zahl- 
losen Mitarbeiter  waren  zwar  durch  aufklärerische  Tendenz,  aber  nicht 
durch  wirkliche  Einheit  der  Doktrin  verbunden.  Doch  ist  aus  dem 
Stimmengewirr  der  materialistische  Grundton  wohl  herauszuhören.  Die 
Rücksicht  auf  die  Verfolgungen  zwang  zu  allerlei  redaktionellen  Winkel- 
zügen, und  die  Angst  vor  der  Strafe  führte  den  Verleger  zu  umfangreichen 
heimUchen  Verstümmelungen  des  Textes,  deren  Perfidie  Diderot  zu  spät 
entdeckte,  und  die  vom  Publikum  nicht  bemerkt  wurden.  Dieses  Publikum 
wandte  sein  Hauptinteresse  den  reich  illustrierten  technischen  Partien  zu. 
Man  pflegt  die  Bedeutung  der  „Encyclop«'die"  für  die  Verbreitung  speziell 
materialistischer  Lebensanschauung  zu  überschätzen.  Sie  wirkte  mehr 
durch  ihre  allgemein  freiheitliche  Tendenz  als  weithin  sichtbare  Hochburg 
des  freien  Gedankens  und  des  Fortschritts. 

Die  Zeit  um  1750  ist  eine  Epoche  bedeutsamer  Schöpfungen.  Sie 
bringt  den  „Esprit  des  lois";  nach  La  Mettries  „Naturgeschichte  der  Seele** 
treten  Buffons  „Historie  naturelle"  und  Diderots  „Encyclop»''die"  her\*or. 
Die  Jahre  bedeuten  einen  Höhepunkt  materialistischer  Literatur.  Ein  Zeit- 
genosse spricht  von  „allgemeiner  Vernunftgärung",  und  andere  klagen, 
daß  bei  dieser  allbeherrschenden  Verstandestätigkeit  das  Herz  zu  kurz 
komme:  U  caur  est  btfc  commc  un  cochon  sagt  d'Argenson  damals,  car  cc 
sit'cle  est  tourm'  a  la  paralysic  du  carur.  Hinter  einer  zur  Schau  getragenen 
Rührseligkeit  verberge  sich  hochmütige  Herzenskälte:  on  jouc  la  sensibilii^ 
presquc  comme  si  on  la  sentait. 


26o  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Schon  bringen  aber  diese  selben  Jahre  den  beginnenden  Rückschlag: 
Vauvenargues'  Fragmente  erscheinen  1746,  und   1750  erhebt  Rousseau 
seine  Stimme. 
Vauvenargues.  Der  von  Not  Und  Krankheit  früh  gebrochene  Vauvenargues  will  sein 

raisonnierendes,  skeptisches  Zeitalter  zu  Gefühl  und  Tatkraft  zurückrufen. 
Leidenschaftlich  fühlen  und  nach  auszeichnenden  Taten  streben  soll  der 
Mensch!  Obwohl  Vauvenargues  seine  Diätetik  der  Seele  ohne  Hilfe  der 
Religion  aufbaut,  so  brechen  doch  gelegentlich  christliche  Stimmungen 
bei  ihm  auf.  Der  Enthusiast  bezeichnet  es  als  „die  Krankheit  unserer 
Tage,  alles  scherzhaft  zu  behandeln"  —  die  nämliche  Klage  wird  später 
die  gefühlsselige  Frau  von  Stael  gegen  ihre  Zeit  erheben.  Die  Fülle  des 
Wissens  erdrücke  und  lähme  den  Menschen  —  „es  macht  das  Denken 
Feige  aus  uns  allen"  —  und  schaffe  keine  Erkenntnis,  die  der  Erkenntnis 
ebenbürtig  sei,  die  Gefühl  und  Herz  ihm  freigebig  gewährten.  „Durch 
das  Wissen  entfernen  wir  uns  von  der  Wahrheit  mehr  als  durch  die 
Unwissenheit."  Vauvenargues  ist  ideenmüde  und  gefühlsdurstig.  Notre 
-plus  grand  mal  est  dans  Vesprit,  sagt  er  und  auch:  Ics  grandes  pensees 
"üiennent  du  cceur. 

La  Mettrie  und  Vauvenargues  —  welche  Gegensätze!  Dort  der  ge- 
lehrte aber  frivole  und  spöttelnde  Vertreter  des  esprit,  der  es  ablehnt, 
daß  aus  seinen  Spekulationen  praktische  Konsequenzen  gezogen  werden. 
Hier  der  ungelehrte,  ernste  und  enthusiastische  Verkündiger  der  Macht 
des  Herzens  und  einer  Moral  der  Tat.  Vauvenargues,  der  seiner  wissens- 
stolzen Zeit  die  „Wege  des  Herzens"  und  die  „Erleuchtung  durch  das 
Gefühl"  predigt,  ist  der  Vorläufer  Rousseaus. 
Rousseau.  Als  dcr  Genfer  Rousseau  nach  einem  unsteten,  verwahrlosten  Jugend- 

leben, ohne  eigentliche  Schulbildung,  aber  mit  emsig  zusammengerafftem 
Wissen,  ein  Dreißiger,  nach  Paris  kam,  schloß  er  sich  den  Aufklärern  an, 
die  gegen  das  Bestehende  kämpften.  Allmählich  aber  erwuchs  in  dieser 
Bundesgenossenschaft  auch  der  Gegensatz  der  Meinungen  und  Charaktere 
und  führte  nach  anderthalb  Jahrzehnten  zum  Bruch.  Erst  auf  den  Trüm- 
mern dieser  Freundschaften  erhebt  sich  seit  1757  des  einsamen  Rousseau 
weltbewegende  Eigenart. 

Schon  in  seiner  ersten  noch  schülerhaften  Schrift  hatte  Rousseau  seinem 
bildungsstolzen  Zeitalter  zugerufen:  auf  eure  Zivilisation,  auf  eure  Kunst 
und  Wissenschaften  braucht  ihr  nicht  stolz  zu  sein!  Der  Weg,  den  sie 
führen,  ist  nicht  ein  Weg  aufwärts  zum  Glück,  sondern  ein  Weg  abwärts 
zum  Verderben  der  Menschheit.  Das  Menschenparadies  liegt  nicht  vor 
euch,  wie  die  Propheten  der  Perfektibilität  lehren,  sondern  unwiederbring- 
lich hinter  euch.  Jene  raison,  die  euch  etwas  vorgaukelt,  ist  eine  Ver- 
führerin; jene  Perfektibilität  ein  Fluch.  Es  gilt,  zu  einfacheren,  natürlicheren 
Lebensformen  zurückzukehren. 

Dem  Evangelium  der  Weltfreude  gegenüber,  das  die  Aufklärer  verkün- 
deten, beginnt  Rousseau  ein  Evangelium  des  Weltschmerzes  zu  predigen. 


J 


D.  !■  rankreich  bis  zur  Romantik.     IV.  Die  Aufklarungszcit.  26 1 

Er  fährt  fort  zu  lehren,  daß  die  Zivilisation  ein  Unglück,  daß  „der 
Mensch,  der  nachdenkt,  ein  verdorbenes  Geschöpf"  sei.  Aus  den  Tiefen 
des  Volkes  aufgestiegen,  redet  er  einer  Gesellschaft,  die  dieses  Volkes 
vergessen  hat,  ins  Gewissen:  es  gibt  viel  wichtigere,  erhebendere,  wahrere 
Dinge,  als  die  ihr  da  treibt  in  eurer  städtischen,  abgezirkelten,  geckenhaften 
Exklusivität.  Es  gibt  eine  Solidarität  und  Gleichheit,  die  auf  der  Natur 
beruht.  Da  sind  die  starken  Wurzeln  unserer  Kraft!  Rousseau  weckt  das 
soziale  Gewissen. 

Seine  Worte  erregten  Aufsehen.  Er,  der  fünfzehn  Jahre  zuvor  noch 
ein  Abenteurer  der  Landstraße  gewesen,  ist  seit  1750  ein  berühmter  Autor. 
Da  von  Kindheit  an  bei  ihm  zum  körperlichen  Leiden  sich  eine  krankhafte 
psychische  Veranlagung  gesellte,  so  affizierte  ihn  der  Glückswechsel  und 
die  damit  verbundene  Komplikation  des  Lebens  stärker  als  einen  Gesunden. 
Er  erschütterte  sein  labiles  seelisches  Gleichgewicht.  In  Jahren  solch 
schmerzvoller  Erschütterungen  schreibt  und  druckt  er  Schlag  auf  Schlag 
seine  Meisterwerke:  die  „Nouvelle  Heloise",  den  „Contrat  social"  und  den 
„Emile"  (1756— 1762).  Die  Verfolgungen  beginnen.  Nach  dem  Beispiel  des 
monarchischen  Frankreichs  erlassen  auch  die  schweizerischen  Republiken 
Verhaftbefehle  gegen  ihn.  Aus  dem  Asyl  im  Xeuenburgischen,  das  dem 
Flüchtigen  König  Friedrich  gewährt,  sendet  er  flammende  Worte  gegen 
seine  geistlichen  und  weltlichen  Widersacher,  um  sich  dann,  ruhiger  ge- 
worden, botanischen  und  musikalischen  Lieblingsarbeiten  hinzugeben.  Neue 
Verfolgungen  trieben  ihn  nach  England,  wo  die  Flammen  des  Wahnsinns 
vollends  über  ihm  zusammenschlagen.  Die  unerhörten  literarischen  Triumphe 
hatten  Rousseaus  Eitelkeit  bis  zum  Größenwahn  gesteigert  Wo  natürliche 
Gegnerschaft  ihm  erwuchs,  oder  seine  Ansprüche  Streit  herbeiführten,  da 
sah  er  ungeheuerliche,  diesem  Wahne  entsprechende  Komplotte.  Vor 
ihnen  floh  er  auch  in  Frankreich  ruhelos  von  Ort  zu  Ort  um  gegen  die 
moralische  Vernichtung  aufzukommen,  mit  der  sie  ihn  angeblich  bedrohten, 
schrieb  er  seine  Autobiographie  {Lcs  Confessions).,  ein  Werk  feinster  Seelen- 
analyse, wunderbarer  Schilderungen,  in  dessen  oft  zynischer  Offenheit  aber 
viel  Selbstüberhebung  und  Täuschung  schlummert.  Die  letzten  Jahre  ver- 
lebt Rousseau  in  Paris,  bald  jene  Klagen  redigierend,  die  ihm  der  Ver- 
folgungswahn diktierte,  bald,  in  ruhigeren  Zeiten,  zu  Blumen  und  Liedern 
sich  neigend  und  mit  träumerischen  Gängen  durch  sein  wundersames  Leben 
beschäftigt. 

Die  Natur  ist  gut,  lehrt  Rousseau  im  „Emile",  wie  ihr  Schöpfer  gut 
ist  Die  Hand  des  Menschen  verdirbt  sie;  vom  Menschen  stammt  alles 
moralische  und  physische  Übel  her.  Es  gilt  deshalb,  das  Kind  als  Jiommc 
de  In  nature  heranwachsen  zu  lassen  und  die  Verderbnis  der  Zivilisation 
von  ihm  fem  zu  halten.  Schutz  seiner  natürlichen  Güte  und  Vortrefflich- 
keit! Natur!  Natur!  Rousseau  protestiert  gegen  alle  Schulmeisterei,  die 
in  den  „lächerlichen  Einrichtungen,  die  man  Gymnasien  nennt",  sich  breit 
macht     Er   gibt   eine   „Erklärung    der  Menschenrechte    des   Kindes".     Er 


202  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

hat  übrigens  nur  die  Erziehung  des  Reichen  im  Auge,  die  es  zu  verein- 
fachen gelte,  um  die  sozialen  Unterschiede  zu  verringern.  „Der  Arme 
bedarf  keiner  Erziehung."  An  Volksschulung  denkt  er  nicht,  da  er  ja 
überhaupt  bildungsfeindlich  ist.  Eine  Kluft  trennt  ihn  von  Pestalozzi  und 
von  den  Bildungsbestrebungen  unserer  Zeit.  —  „Emile"  enthält  auch  ein 
Glaubensbekenntnis.  Es  ist  gegen  die  Materialisten  gerichtet  und  setzt  der 
verneinenden  Vernunft  das  bejahende  Herz  entgegen:  ich  fühle,  daß  Gott 
ist.  Rousseau  verschmäht  den  Bibelglauben  und  lehnt  die  Offenbarung 
ab.  Er  glaubt  nur  an  die  Offenbarung  seines  Herzens.  Er  ist  religiös,  aber 
unkirchlich. 

Trotz  vieler  Entlehnungen  ist  das  Werk  in  hohem  Maße  originell  und 
persönlich.  Durch  die  Kühnheit  des  ganzen  Baues,  durch  die  Unerbitt- 
lichkeit der  Forderungen,  die  Eindringlichkeit  der  harmonischen  Sprache 
setzte  er  die  Gemüter  in  die  heftigste  Aufregung. 

Rousseau  sieht  im  Eigentum  eine  Hauptquelle  unseres  Unglückes. 
Doch  verlangt  er  nicht  seine  Aufhebung,  sondern  nur  seine  gleichmäßige 
Verteilung.  Er  ist  kein  Sozialist,  aber  seine  Lehren  sind  einer  leidenschaft- 
lichen Interpretation  fähig,  und  der  Sozialismus  hat  von  ihnen  Anregungen 
empfangen. 

Der  „Contrat  social"  gilt  der  Erörterung  der  Frage  nach  der  besten 
Staatsform.  Der  Staat  wird,  nicht  mit  Hilfe  geschichtlicher  Forschung 
sondern  rein  konstruktiv,  auf  einen  Vertrag  zurückgeführt,  durch  welchen 
jeder  Einzelne  seine  sämtlichen  Rechte  an  die  Allgemeinheit  abgetreten 
habe,  um  sie  von  dieser  auch  wieder  g^arantiert  zu  erhalten:  Eigentum, 
Leben,  Unabhängigkeit.  Von  dieser  Allgemeinheit,  die  in  Majoritäts- 
beschlüssen ihren  Willen  kundgebe,  abhängen  —  und  nur  von  ihr  als  Souverän 
abhängen  —  heiße  frei  sein.  Der  beste  Staat  ist  also  der  Volksstaat  mit 
allgemeinem  Stimmrecht,  obligatorischem  Referendum,  direkten  Volks- 
versammlungen und  mit  einer  aus  der  Volkswahl  hervorgegangenen  Re- 
gierung, die  aus  den  Tüchtigsten  des  Landes  besteht.  Dabei  schwebt 
Rousseau,  dessen  Auge  auf  Stadtstaaten  wie  Genf,  Venedig  und  Athen 
gerichtet  ist,  die  Einrichtung  kleiner  Bundesstaaten  vor,  die  freilich  für 
Frankreich  nur  durch  eine  Revolution  erreicht  werden  könnte,  über  welche 
er  sich  vorsichtig  äußert.  Rousseau  lehrt  als  citoyen  de  Geneve  republi- 
kanische Gesinnung  im  monarchischen  Frankreich.  Ist  auch  eine  Reihe 
seiner  Gedanken  nicht  neu,  so  ist  es  doch  erst  seiner  schriftstellerischen 
Meisterschaft  und  der  Energie  seiner  Behandlung  gelungen,  die  Lehre 
der  Volkssouveränität  zu  einer  treibenden  Kraft  im  Staatsleben  zu  machen. 
Die  Lehrsätze  seines  Buches  zündeten  wie  Blitze  und  das  Echo  der  Worte 
peuple  souverain,  cifoyen,  liberie,  egalite  findet  sich  in  den  Unabhängigkeits- 
erklärungen Nordamerikas  wie  in  den  Manifesten  des  revolutionären  Frank- 
reich von  1789—93.  Alle  Parteien  beriefen  sich  auf  Rousseau.  Seine 
politischen  Ideen  haben  die  friedliche  und  die  blutige  Regenerationsarbeit 
geleitet. 


I).  Frankreich  bis  zur  Romantik.     IV'.  Die  Aufklärunj^sicit.  2()X 

Was  Rousseau  mit  der  Einbildung-skraft  des  Poeten  und  der  leiden- 
schaftlichen Beredsamkeit  des  Priesters  über  die  Rechte  des  Individuums 
und  seines  empfindsamen  Herzens  und  über  die  Rückkehr  zur  guten  Natur 
vortrui»",  setzte  auch  die  Geister  Italiens  und  Eni^lands  in  heftijife  He\veg"ung. 
Tief  ergriff  es  Kant,  Herder,  Goethe,  Schiller,  Fichte  —  Rousseau  steht 
an  der  Spitze  des  modernen  Denkens  und  der  neueren  Literatur  des  In- 
dividualismus und  Naturalismus. 

Auf  seiner  krankhaften  seelischen  Veranlagung  ist  sr-ine  idoengeschicht- 
liche  Bedeutung  erwachsen;  in  seiner  zuchtlosen  Empfindungsseligkeit  lag 
das  Zündende  und  Aufregende  seiner  Schriftstellerei. 

Was  Rousseau  als  Prediger  der  Natur,  als  Vertreter  der  Reaktion  Bero»rdin 
gegen  Aufklärung  und  Klassizismus  begann,  das  führte  Bernardin  de  '^«Saint-Pierm. 
St- Pierre  weiter.  Er  wollte  im  Wettbewerb  mit  Buffon  eine  allgemeine 
Geschichte  der  Natur  schreiben  {Etudes  de  la  nature,  17 84 ff.;  Ilarmonies^ 
1796)  und  der  entgötterten  Natur  Gott  wiedergeben,  dessen  Allgegenwart 
er  in  der  reichen  heimatlichen  und  in  der  üppigen  tropischen  Natur  fühlt. 
Er  spottet  des  „traurigen  Kompaß  der  menschlichen  W^issenschaft"  und 
leitet  zu  gefühlsmäßiger  Erkenntnis  der  „göttlichen  Harmonien  der  Natur" 
an.  Er  gibt  Naturbilder  von  bisher  unerhörtem  Glänze  bunter  Farben, 
wogender  Formen,  lieblicher  Düfte  und  arbeitet  mit  einem  Wortmaterial, 
das  vordem  nicht  literaturfähig  gewesen. 

Seine  Schilderungen  aus  dem  Leben  der  Tropen  kamen  der  Neigung 
zu  einem  sentimentalen  Exotismus  entgegen,  den  die  zeitgenössischen  Reise- 
berichte geweckt  hatten,  und  erwarben  diesem  Exotismus  literarisches 
Bürgerrecht.  Neben  das  Idealbild  aufgeklärter  Chinesen  stellt  sich  so 
das  des  tugendsamen  Wilden.  — 

In  diesem  „philosophischen"  Jahrhundert  tritt  die  Dichtung  stark  zurück.  Die  Dichtuag. 
Die  Produktion  freilich  ist  groß,  aber  der  künstlerische  Wert  leidet  unter 
dem  doppelten  Drucke  der  lehrhaften  Tendenz  und  der  zur  Formel  ge- 
wordenen klassizistischen  Form.  Jetzt  bekommt  das  Wort  „classique",  das 
bisher,  gleich  dem  lateinischen  „classicus"  einfach  „ersten  Ranges"  bedeutet 
hatte,  seinen  auf  das   i  7.  Jahrhundert  bezogenen  historischen  Sinn. 

Doch  zeigen  sich  viele  Ansätze  zu  Neuem,  und  hier  gesellt  sich  zum  ivr  r-rmuiucb* 
englischen  seit  1750  der  deutsche  Einfluß.  Der  Geist  der  „Europe  ger-  ^J'>fl«* 
manique"  beginnt  immer  kräftiger  in  das  gallische  Land  einzudringen,  das 
sich  von  den  früheren  italienischen  und  sjianischeii  Einflüssen  befreit  hatte 
und  nun  von  der  Höhe  seiner  Aufklärung  sehr  geringschätzig  auf  seine 
romanischen  Geschwister,  Italien  und  Spanien,  herabsah.  Aufklärung  und 
literarische  hicnst'ance  hinderten  Voltaire  und  seine  Zeitgenossen  in  gleicher 
Weise,  die  Kunst  Dantes  zu  verstehen,  die  ihnen  noch  barbarischer  er- 
schien als  die  Shakespeares. 

An  dem  englischen  Beispiel  des  bürgerlichen  Romans  (Richardson) 
und  des  bürgerlichen  Dramas  (Lillo)  kräftigt  sich  in  Frankreich  die  Neigung 
zur    Darstellung    der    modernen    Welt.      Thomsons    Natursinn,     Sternes 


264  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

kecker  Individualismus,  Grays  und  Youngs  Melancholie  wecken  empfind- 
samen Widerhall.  Macphersons  Ossian  und  Percys  Balladensammlung 
lenken  den  Blick  auch  auf  das  romanische  Mittelalter.  Man  gräbt  Trouba- 
dours, Fabliaux,  Volksbücher,  spanische  Romanzen  aus 

Während  im  17.  Jahrhundert  kaum  ein  Lehrbuch  der  deutschen  Sprache 
in  Frankreich  erschien  —  es  sei  denn  für  Soldaten,  die  der  Krieg  über 
den  Rhein  führe  — ,  so  wird  jetzt  Gottscheds  „Deutsche  Sprachkunst" 
eifrig  übersetzt  und  das  Studium  des  Deutschen  wird  in  Paris  Mode.  Gottsched, 
Geliert,  Kästner  und  andere  sind  Mitarbeiter  kosmopolitischer  Pariser 
Zeitschriften.  Die  Übersetzung  von  Geßners  Idyllen  erntet  den  größten 
Beifall  und  verbreitet  die  Vorstellung  eines  arkadischen  Deutschland,  die 
noch  Frau  von  Stael  begleiten  wird.  Diese  Idyllen  schwellen,  wie  Goethes 
Werther,  den  Strom  der  Empfindsamkeit.  Lessings  bürgerliches  Schau- 
spiel gesellt  sich  zum  englischen. 

Dieser  germanische  Geist  der  Empfindsamkeit  und  literarischen  Un- 
gebundenheit  fand  seine  Theoretiker  in  Diderot  und  Mercier,  die  beide 
nicht  Deutsch  konnten.  Ihm  stand  eine  Strömung  französischer  Malerei 
zur  Seite,  welche  die  einfache  Natur  und  bürgerliches  Leben  schlicht 
(Chardin)  oder  mit  sentimentaler  Lehrhaftigkeit  (Greuze)  darstellte,  und 
deren  Herold  ebenfalls  Diderot  war,  der  mit  seinen  geistvollen  „Salons" 
die  französische  Kunstberichterstattung  geschaffen  hat. 

Der  Doch    begegnen    die    „harten    Sänger    des    nebligen    Nordens"    auch 

sizismus.  jjjg^jj(>]^gj.  Ablehnung-.  Der  klassische  Geist  Frankreichs  erhält  neue 
Kräftigung  durch  die  philologische  Literatur,  die  sich  seit  1750  an 
die  Entdeckung  von  Herculaneum  und  Pompeji  knüpft  —  wobei  auch 
in  Frankreich  der  Deutsche  Winckelmann  führend  erscheint  —  und 
durch  den  Kampf  gegen  Kirche  und  Monarchie.  Auch  die  politische 
Beredsamkeit  Rousseaus  lieh  diesem  erstarkenden  Neoklassizismus 
Flügel.  Sein  literarischer  Theoretiker  ist  Laharpe,  sein  großer  Künstler 
David.  Unter  Revolution  und  Kaisertum  erreichte  dieses  neue  Lateiner- 
tum  die  mächtigste  Entfaltung,  und  seine  politische  Gegnerschaft 
gegen  das  germanische  Europa  hemmte  auch  den  Fortschritt  des  germa- 
nischen Geistes  in  Frankreich.  Doch  setzen  die  Emigranten  unter  dem 
Getöse  der  Waffen  die  Arbeit  der  geistigen  Vermittelung  fort.  Im  „Spec- 
tateur  du  Nord"  (Hamburg  1798)  entwickelt  Villers  ein  Arbeitsprogramm 
für  Emigranten  und  ruft  ihnen  zu:  Übersetzt  und  eignet  euch  die  Schätze 
der  arbeitsamen  und  bescheidenen  deutschen  Nation  an,  die  euch  in  ihrem 
Schöße  aufgenommen  hat!  So  rief  einst  Du  Bellay  den  Franzosen  des 
16.  Jahrhunderts  zu,  daß  sie  sich  der  Schätze  der  Antike  bemächtigen 
sollten. 

Die  Lyrik.  In  der  Lyrik  der  Aufklärungszeit,    die   korrekt,    geistreich  und  sinn- 

Hch  ist,  sind  germanische  oder  volkstümliche  Töne  noch  wenig  zu  ver- 
nehmen. Schon  stellt  sich  das  Pastiche  ein.  Der  Kreole  Parny  schafft 
aus  einer  Mischung  von  Ossian  und  esprit  gaulois  „madegassische  Volks- 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     I\'.   1 'ic  Aiit  klarunj^^szcit.  265 

liodcr"  (1787),  die  auch  Herder  täuschen.  Die  neoklassische  Strömung^ 
kulminiert  in  der  Kunst  Andre  Cheniers  (17^)2-1794).  Dieser  Xeuhellene 
kleidet  das  Heidentum  der  Aufklärung  in  Alexandriner,  in  deren  freiem 
Schritt,  in  deren  lebensvoller  Bildlichkeit  und  charakteristischem  Ausdruck 
ihn  das  Heispiel  der  griechischen  Poesie  leitet.  In  diesem  Poeten  wird 
die  persönliche  und  freie  Art  der  griechischen  Dichtung  zum  Erlebnis, 
wie  in  Ronsard.  Aber  so  wenig  wie  Ronsard  kam  er  aus  der  Nach- 
ahmung heraus  —  vielleicht  weil  er  zu  jung  starb.  Sein  Wort,  das  ihm 
die  Guillotine  abschnitt,  verhallte  ungehört,  und  Frankreich  fuhr  fort,  den 
Reimen  Delilles  zu  lauschen,  der  die  ganze  Natur  und  Kultur  in  den 
korrekten  Formen  des  poetischen  Handwerks  besang. 

Der  epischen  Poesie  meinte  \'oltaire  in  doppelter  Weise  zu  Hilfe  d»»  Epo^ 
zu  kommen:  durch  Verspottung  des  Alten  und  durch  Neuschöpfung.  Er 
verhöhnt  in  der  „Pucelle"  die  altvaterische  Rhetorik  des  1 7.  Jahrhunderts 
und  ihre  Verherrlichung  von  Thron  und  Altar  vielmehr  als  die  Jungfrau 
von  Orleans  selbst  Leider  entstellt  er  das  in  seiner  Art  bedeutende 
Exemplar  eines  komischen  Epos  durch  Schmutz.  Seine  eigene  „Henriade" 
ist  mehr  didaktisch  als  lyrisch.  Die  überlieferte  epische  Maschinerie  dient 
hier  aufklärerischer  Belehrung,  deren  beredte  Weisheit  eine  Vorrede 
Friedrichs  II.  preist. 

Reicher  entfaltete  sich  Roman  und  Novelle.  Lesage  bringt  durch  RomM  uod 
.seine  treffliche  „Histoire  de  Gil  Blas"  (17  15  — 1735)  die  hundertfünfzigjährige  '*'»'*"* 
Entwickelung  des  einst  spanischen  Schelmenromans  zum  Abschluß.  In 
seiner  gelassenen  Art,  die  nicht  vertieft,  aber  auch  nicht  verzeichnet,  er- 
zählt er  realistisch  den  Lebensgang  seines  plebejischen  Helden  und  schildert 
er  satirisch  die  zweifelhafte  Gesellschaft,  die  Gil  Blas  sein  Aufsteigen  er- 
möglicht    Doch  fehlt  der  drohende  Ton  Figaros  noch  völlig. 

Während  Lesage  die  Welt  seiner  bürgerlichen  Helden  nach  über- 
lieferter Weise  noch  wesentlich  satirisch  darstellt,  haben  sich  andere  längst 
der  ernsten  und  sentimentalen  Schilderung  dieser  Welt  zugewandt  Man 
sieht  das  Nahen  des  modernen  Romans. 

•Noch  vor  Richardson  —  der  ihn  nachahmt  —  läßt  Marivaux  ein 
junges  Mädchen  {Marianm-y  1731  ff.)  die  Kämpfe  erzählen,  die  es  in  den 
Gefahren  und  Versuchungen  der  Großstadt  zu  bestehen  hatte.  Marivaux 
schildert  mit  innererTeilnahme,  doch  nicht  mit  der  Rührseligkeit  Richardsons, 
die  Tüchtigkeit  bürgerlicher  Verhältnisse.  Er  weiß  komplizierterer  Menschen- 
art gerechter  zu  werden  als  jener;  plaudert,  aber  schwätzt  nicht;  verweilt 
mit  der  Ausdauer  des  Kurzsichtigen  bei  kleinen  Vorgängen,  die  er  psycho- 
logisch zergliedert  und  oft  so  realistisch  wiedergibt,  daß  die  Zeitgenossen 
ihm  Vulgarität  vorwerfen. 

Die  stoffliche  vSpannung,  die  bei  Marivaux  zurücktritt,  herrscht  in  den 
Romanen  des  abenteuerlichen  und  leidenschaftlichen  Pr^vost  Die  Not 
des  Lebens  zwang  ihn  zu  hastiger  Produktion,  in  welcher  sein  großes 
Können    als    Erzähler    sich    zersplittert.     Nur    einmal    hat    er   sich    zu    der 


2  66  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

„unschätzbaren  Kunst"  —  es  ist  Goethes  Wort  —  jener  ergreifenden 
Novelle  erhoben,  in  welcher  der  Chevalier  des  Grieux  die  Geschichte 
der  unbezähmbaren  Leidenschaft  erzählt,  die  ihn  an  die  Dirne  Manon 
Lescaut  kettete.  Prevost  hat  hier  die  äußere  Bewegtheit  des  älteren 
Romans  mit  der  Tiefe  des  neuen  glücklich  verbunden.  —  Er  war,  gleich 
Voltaire,  ein  Verkünder  englischen  Wesens.  Daß  er  Richardsons  Romane 
übersetzte,  ist  seinen  eigenen  Büchern  gefährlich  geworden.  Sie  gingen 
in  der  Tränenflut  unter,  die  „Pamela"  und  „Clarissa"  in  Frankreich  ent- 
fesselten.    Richardsons    sentimentale    Schüler  sind  Diderot  und  Rousseau. 

Diderot  ist  ein  unnachahmlicher  Erzähler  kleiner  problematischer 
Novellen.  Eine  Wirkung  aber  ging  nur  von  Rousseaus  Roman  aus.  „La 
nouvelle  Heloise"{i762)  ist  die  Geschichte  der  Liebe  eines  plebejischen  Haus- 
lehrers, St-Preux',  zu  seiner  vornehmen  Schülerin  Julie -Heloi'se,  in  Briefen, 
mit  Naturschilderungen  aus  den  Alpen.  Die  beiden  Helden  sind  „schöne 
Seelen"  —  belle  äme  ist  das  sentimentale  Gegenstück  zum  bei  esprit  des 
1 7.  Jahrhunderts  —  d.  h.  edelgesinnte  und  feingebildete  Menschen  mit 
rührseligen,  schwachen  Herzen.  Sie  schreiben  sich  von  Leidenschaft  durch- 
glühte Briefe,  die  dem  Ganzen  einen  lyrischen  Charakter  geben,  und  die 
Rousseau  selbst  „Hymnen"  nennt.  Rousseau  legte  die  ganze  Erregung  seines 
fünfundvierzigj ährigen  Herzens,  das  eben  einen  Nachsommer  der  Liebe 
erlebt,  in  die  Geständnisse  der  beiden  Briefschreiber.  Er  verleiht  ihren  Klagen 
und  ihrem  Jubel  den  Wohlklang  einer  eigenartigen  Sprache,  welche  die 
Zeitgenossen  wie  eine  unbekannte  Heimatkunst  anmutete.  Julie  ist  indessen 
einem  anderen  als  Gattin  bestimmt,  und  nach  dem  ersten  Teil  {120  Briefe) 
mit  seinen  heißen  Ergüssen  folgt  ein  kühlerer  zweiter  Teil,  der  uns  statt 
der  irrenden  jugendlichen  Geliebten  die  treue,  hingebende  Gattin  und 
Mutter  zeigt.  Dieser  lehrhafte  zweite  Teil  ist  eine  Art  moralischen  Schutz- 
daches für  den  ersten,  der  allein  künstlerisch  wirksam  ward. 

Unter  seinem  Einfluß  entstand  Goethes  „Werther",  von  dem  sein  Ver- 
fasser wenig  später  launig  sagte,  daß  er  mit  der  „Nouvelle  Heloise"  zu- 
sammen die  „Grundsuppe  der  Empfindsamkeit"  darstelle  und  der  1776 
ins  Französische  übersetzt  wurde.  An  beider  Flammen  entzündete  sich 
die  Dichtung  des  Weltschmerzes,  die  mit  Foscolo,  Chateaubriand,  Byron, 
Europa  erfüllen  sollte.  „Werther"  ist  der  „Nouvelle  Heloise"  als  Kunst- 
werk überlegen;  Rousseau  aber  hat  das  Verdienst,  der  Frühere  gewesen 
zu  sein  und  die  Quelle  entdeckt  und  gegraben  zu  haben,  an  der  sie  alle 
tranken.  Er  war  der  erste,  der  jenen  Stimmungen  den  lyrischen  Ausdruck 
gab,  in  welchem  die  Herzen  der  damaligen  Jugend  ihre  eigenen  Gefühle 
wie  in  einer  Offenbarung  wiederfanden.  In  seinem  Liebesroman  —  c'est 
une  longue  romance,  sagt  die  Vorrede  —  springt  der  Quell  der  lyrischen 
Dichtung  auf. 

So  erscheint  Rousseau,  der  Verfasser  des  „Emile",  des  „Contrat  social" 
und  der  „Heloi'se",  als  der  Geist  des  Jahrhunderts,  von  dem  die  meisten 
Anregungen   ausgegangen   sind.     Als   er   den  Franzosen   ihre   Verbildung 


D.  Frankreich  ins  zur  Komanuk.     IV.  iJic  Aul  kiarunKszcit.  267 

vorhiolt,  unter  ihnon  als  Prcdi^'-er  dor  Natur,  der  Ali)fnlandschaft,  des 
Landlebens,  der  Demokratie,  der  Menschen-  und  Her/ensrechte  auftrat 
und  ihnen  in  brüsker  Art  unmodische  Dinge  in  unmodischer  Rede  voll 
eigenartiger  Bilder  sagte,  da  flogen  ihm  die  Herzen  der  jüngeren  Zeit- 
genossen zu.  Die  Alteren  aber  schalten  ihn  einen  ungebildeten  Ausländer, 
einen  AUobrogen.  Und  wirklich  bringt  Rousseau,  der  St/ixs(-  rumuiui^  der 
aus  dem  Geiste  des  provinziellen  und  protestantischen  Genf  geboren  ist, 
einen  neuen,  man  kann  fast  sagen,  germanischen  Zug  in  das  französische 
Schrifttum. 

Bernardin  de  St-Pierre  folgt  seinem  Freunde  und  Lehrer  Rousseau 
mit  „Paul  et  Virginie",  in  welcher  Novelle  erzählt  wird,  wie  im  „Schatten 
blühender  Kokospalmen"  die  Liebe  zweier  Kinder  sich  zur  Liebe  zwischen 
Mann  und  Weib  wandelt  —  ein  berühmtes  Buch,  das  zum  lesenden  Kinde 
die  Sprache  des  Kindes  und  zum  Erwachsenen  die  Sprache  der  Leiden- 
schaft spricht.  Retif  de  la  Breton ne,  gleich  Rousseau  aus  den  Tiefen 
des  Volkes  stammend,  aber  roher  und  sinnlicher,  lebt  sich  in  der  Schil- 
derung dieser  Tiefen  aus,  da  wo  sie  am  dunkelsten  sind  und  wo  ein  plötz- 
lich hereinfallender  Sonnenstrahl  die  schärfsten  Kontraste  von  Gemeinheit 
und  Tüchtigkeit  aufzeigt.  Seine  Romane,  die  den  weltfernen  Schiller  aufs 
stärkste  fesselten,  sind  von  gestaltungsmächtiger  Zuchtlosigkeit,  Er  rüttelt 
mit  sentimentalem,  drohendem,  unflätigem  Rufen  an  den  Toren  des  Schrift- 
tums, das  bisher  dem  peuplc  verschlossen  war. 

Immer  mächtiger  und  einflußreicher  erscheint  so  die  Form  des  Romans 
—  des  „roman  frivole",  wie  ihn  einst  Boileau  geringschätzig  genannt  Er 
wird  zum  eigentlichen  Träger  der  neuen  literarischen  Ideen.  Er  wird  zum 
brennenden  und  leuchtenden  Herd  der  gefühlsseligen  Leidenschaftsschilderung, 
und  nachdrücklicher  als  je  erheben  die  Angstlichen  die  Jahrhunderte  alte 
Klage,  daß  der  Roman  ein  Verführer  sei.  Er  geht  auch  in  der  Demo- 
kratisierung der  Literatur  voran,  indem  er,  der  einst  so  exklusiv  aristo- 
kratischer Art  gewesen,  zuerst  die  Darstellung  der  Tragik  des  bürger- 
lichen Lebens  wagt.  Darin  ist  er  auch  für  die  Dramatik  führend  ge- 
worden. 

Voltaire  freilich  vermag  hier  nicht  zu  folgen.  Für  ilin  ist  die  I  ragik 
ausschließlich  vornehmen  vStandcs,  obwohl  ihn  das  Bedürfnis,  durch  das 
Theater  auf  die  Menschen  zu  wirken,  zu  der  gelegentlichen  Erkenntnis 
drängt,  „daß  die  Bühne  nun  genug  von  Fürstentragik  widerhallt 
habe".  Er  bleibt  in  der  bicnsi'ance  des  vornehmen  Trauerspiels  be- 
fangen. Was  er  als  goüt  attglais  nach  Hause  bringt  reicheres 
Szenenbild,  Verzicht  auf  Galanterie,  Zulässigkeit  nationalgeschicht- 
licher Stoffe,  freiheitliches  Reden  —  gestattet  ihm  zwar,  die  überlieferte 
Rhetorik  Corneilleschcr  Observanz  zu  variieren,  nicht  aber  die  tragische 
Bühne  mit  wirklichem  Leben  zu  erfüllen.  Den  romantischen  Stoff  seiner 
historischen  Trauerspiele,  wie  „Tancredc",  behandelt  er  im  Stil  der  Römer- 
tragödie.    Was  er  dem  freien  Shakespeare  entlehnt,   sind  bloß  Äußerlich- 


268  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

keiten,  die  der  gebundenen  Hand  des  ängstlichen  Franzosen  sich  nicht 
fügen  wollen.  Aus  Shakespeares  weltgeschichtlichem  „Julius  Cäsar",  in 
welchem  der  Geist  der  Republik  mit  dem  Geist  der  Monarchie  einen 
langen  Kampf  kämpft,  macht  Voltaire  eine  Familientragödie,  die  an  einem 
Tage  sich  vollzieht.  Gewiß  weiß  Voltaire  immer  etwas  zu  sagen,  da  er 
gedankenreich  ist  —  und  schon  das  allein  hebt  ihn  aus  der  großen  Zahl 
der  Dramatiker  der  Zeit  heraus  — ,  aber  der  Druck  seiner  Ideen  führt  ihn 
auch  oft  genug  dazu,  die  Kunst  der  Tendenz  unterzuordnen.  So  ver- 
gewaltigt er  die  Figur  Mahomets  in  einem  „Der  Fanatismus"  betitelten 
Trauerspiel,  dessen  aufdringliche  Tendenz  aus  dem  Helden  das  Zerrbild 
eines  gemeinen  Verbrechers  macht,  was  Goethe  in  seiner  Übersetzung 
nach  Kräften  milderte.  Voltaire  hat  in  sechzig  Jahren  etwa  dreißig  Trag- 
ödien geschrieben,  deren  Geschehnisse  vom  Altertum  bis  an  die  Schwelle 
der  Neuzeit  und  von  China  bis  Amerika  führen.  Sein  Streben,  die  Trag- 
ödie inniger  mit  den  Interessen  der  Gegenwart  zu  verbinden,  gibt  ihr  eine 
frische  Aktualität;  seine  Gescheitheit  macht  sie  interessant;  sein  szenischer 
Instinkt  macht  sie  bewegt  und  spannungsreich  —  aber  die  Fülle  tieferen 
Lebens  fehlt.  Der  Tragiker  Voltaire  ermangelte  der  Schöpferkraft  und 
das  Klischee  Corneillescher  Rede  tat  das  Übrig-e. 

Daß  auch  er,  der  von  Anfang  an  erklärt  hatte,  Shakespeares  monströse 
Stücke  seien  unübertragbar,  laut  protestierte,  als  1776  eine  Übersetzung 
zu  erscheinen  begann,  in  welcher  Shakespeare  sogar  als  le  dieu  de  la 
tragedie  gepriesen  war,  ist  natürlich.  Trotz  solcher  Übersetzungen  und 
mancherlei  —  unschmackhafter  —  Adaptationen,  ist  Shakespeare  für 
das  französische  Theater  der  Zeit  nicht  fruchtbar  geworden.  Auch  die 
neoklassische  Strömung  trug  dazu  bei,  die  Tragödie  alten  Stils  zu 
erhalten. 
Das  Lustspiel.  Kräftigeres  Werden  zeigt  das  beweglichere  Lustspiel,  doch  fehlt  diesem 

Werden  der  bahnbrechende  Künstler.  In  das  Lustspiel,  von  dem  Moliere 
Ernst  und  Rührung  entschieden  ferngehalten,  führt  der  lehrhafte  Des touch es 
nach  englischem  Vorbilde  einzelne  sentimentale  Szenen  ein,  während  La 
Chaussee  seine  dramatischen  Bilder  des  Familienlebens  schon  überwiegend 
rührselig  gestaltet  und  zur  comedie  larmoyante  gelangt  (gegen  1748): 
Richardson  auf  der  Bühne!  Die  führende  Rolle  des  Romans  wird  so 
lebhaft  empfunden,  daß  man  für  diese  Rührstücke  den  Namen  „Drames 
roma7iesques^'  und  .^Romanedies'-'-  vorschlägt.  Es  entsteht  um  dieses  neue 
^,genre  mixte'-''  eine  literarische  Fehde.  Voltaire  verfaßt  neben  rein  lustigen 
Komödien  —  er  ist  übrigens  zu  witzig  und  spöttisch,  um  wirklich  gute 
Lustspiele  zu  schreiben  —  solche  mit  einzelnen  rührenden  Szenen.  Mari- 
vaux  dramatisiert  „Herzensscharmützel"  mit  großer  Feinheit  in  eleganter 
und  zierlicher  Sprache  (marivaudage).  Seine  heitere,  mit  Sinnlichkeit  und 
Rührung  gemischte  Darstellung  der  moeurs  mondaines  hat  die  Nähe  der 
Mussetschen  „Proverbes"  nicht  zu  scheuen  und  besteht  heute  noch  neben 
ihnen  auf  der  Bühne. 


D.  Frankreich  bis  zur  Romantik.     IV.  Die  Aufkliirungszcit.  269 

Während  auf  diese  Weise  von  der  Komödie  her  die  Entwickelung  !>*•  bflrgwUch« 
zum  bürj^crlichen  Schauspiel  anij^cbahnt  und  gleichsam  als  erste  Etappe  ^^»»•"•p'*'^ 
das  „weinerliche  Lustspiel"  erreicht  ist,  schicken  England  und  Deutschland 
Beispiele  bürgerlicher  Tragödien.  Lillos  Verbrecherstück  „Der  Kaufmann 
von  London"  (französisch  1748)  und  Lessings  „Miss  Sara  Sampson",  haben 
für  die  Zeit  Bedeutung  und  Wirkung  Ibsenscher  Stücke.  Rousseau  preist 
diese  neue  Richtung,  Diderot  nimmt  sich  ihrer  mit  Enthusiasmus  an.  Er 
wird  ihr  Theoretiker,  verlangt,  daß  eine  freiere  Kunst  den  Menschen  inmitten 
der  Konflikte  seiner  gesellschaftlichen  Stellung  (z.  B.  das  Drama  eines 
Familienvaters,  die  Tragödie  eines  Richters)  vorführe,  und  macht  sich  daran, 
Musterbeispiele  zu  liefern.  Lessings  bewunderndes  Urteil  über  diese  dra- 
matisierten, rührsamen  Morallehren  ist  von  der  Nachwelt  nicht  ratifiziert 
worden. 

„Le  drame"  wird  jetzt  zum  eigentlichen  Kampfruf  gegen  die  klassische 
Dramatik.  Sein  typischer  Held  ist  der  Kaufmann.  Der  Handel  nivelliert 
auch  die  Standesunterschiede  der  literarischen  Gattungen:  die  Scheide- 
wand zwischen  vornehmer  Tragödie  und  bürgerlicher  Komödie,  die  der 
Klassizismus  errichtet  hatte,  fällt  Tombez  viurailles  qui  siparez  les  genres,  ruft 
leidenschafthch  S.  Mercier  {Du  Thcätre^  i773),  der  aus  sozialen  Gründen 
den  Klassizismus  verwirft  und  für  das  Volk  der  Armen  und  Bedrückten 
eine  moralische  Schaubühne  verlangt,  deren  realistische  Stücke  den  Zu- 
schauer rühren,  belehren,  bessern  und  befreien.  Goethe  veranlaßt  eine 
Übertragung  der  Schrift,  die  „in  den  Taschen  ihrer  französischen  Pump- 
hosen viel  Gutes,  Wahres  und  Schönes  mit  sich  herumtrage".  Nach  der 
Sprache  dieser  „Dramomanen"  könnte  man  meinen,  daß  die  gescholtene 
und  verhöhnte  klassische  Dramatik  bereits  obsolet  geworden  sei  —  in  dem 
Augenblick,  da  der  Xeoklassizismus  sie  zu  neuen  Triumphen  führte!  Mercier 
schrieb  selbst  zwei  Dutzend  „Drames",  Stücke  von  tugendhaften  Kaufleuten, 
Richtern,  Proletariern,  die  von  Moral  und  Rührung  triefen.  Deutschland, 
England  und  Italien  übersetzten  sie.  Sein  „Stoßkarren  des  Essigmannes" 
rollte,  wie  er  sich  rühmt,  über  alle  Bühnen  Europas.  Aber  dies  neu  er- 
schlossene Gebiet  des  „Drame"  blieb  kunst verlassen.  Viel  Geschrei  und 
wenig  Wolle.  Sedaine  hat  mit  seinem  „Philosophe  sans  le  savoir"  (1705) 
das  einzige  Kunstwerk  der  Gattung  geschrieben. 

Auch  Beaumarchais  begann  und  schloß  mit  „Dramen".  Seine  Meister- 
werke aber  liegen  anderswo. 

Das  Singspiel  {vaudevillf :  comcdic  a  ariffffs)  hatten  die  Jahrmarkts-  d..  Sin»»pi«L 
bühnen  von  den  vertriebenen  Italienern  übernommen.  Noch  während  der 
ganzen  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  mußte  dies  „Th^ätre  forain"  um 
seine  Existenz  kämpfen,  bis  es  1762  mit  den  längst  zurückgekehrten 
Italienern  zum  „Tiieätre  italien"  (—  Opi'ra  comique)  vereinigt  wurde.  Dieses 
Singspiel  ging  die  Wege  der  Komödie:  es  nahm  auch  rührsame  und  lehr- 
hafte Szenen  auf,  besonders  mit  dem  liederreichen  Panard,  während 
Favart  bei  der  Lustigkeit  Lesages  blieb. 


270 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Neben  dem  verfolgten  Singspiel  bestand,  feierlich  und  gespreizt,  die 
Oper  und  ihr  von  Koloraturen  widerhallender  Olymp.  In  den  Kampf, 
den  die  neue  Musik  der  italienischen  Opera  buffa  in  Paris  entfachte,  griff 
auch  Rousseau  zugunsten  Pergoleses  lebhaft  ein.  Man  weiß,  wie  von 
den  frischen,  natürlichen  Klängen  dieser  Opera  buffa  auch  eine  Umbildung 
der  formalistischen  Kunst  der  ernsten  Oper  ausging,  und  welche  Rolle  hier 
die  deutsche  Musik  mit  Gluck  spielt.  Gluck  und  Mozart  beherrschen  die 
musikalische  Bühne  Frankreichs. 

Beaumarchais.  Als    Opcra    biffa   Verfaßte    der    hochbegabte    Beaumarchais    seinen 

heiteren  „Barbier  von  Sevilla",  genannt  Figaro,  mit  dessen  Hilfe  der  gräf- 
liche Herr  Almaviva  die  ersehnte  Braut  Rosine  heimführt  und  dessen  Figur 
Beaumarchais  in  einem  gargon  barbier  des  „Gil  Blas"  gefunden  hat.  Erst 
als  das  „Theätre  Italien"  das  Stück  zurückwies  (1772)  arbeitete  er  es  zur 
Komödie  um,  einer  Komödie,  die  noch  ganz  mit  Musik  getränkt  ist.  In 
sturmvollen  Jahren  reifte  ihm  dann  die  Fortsetzung^:  „Figaros  Hochzeit  oder 
der  tolle  Tag".  Beaumarchais  kämpfte  um  seine  Existenz  gegen  einen 
Staatsgerichtshof,  den  die  vereinigten  Mächte  des  Standes  und  des  Geldes 
beherrschten.  Seine  „Memoires"  erregten  die  öffentliche  Meinung  des 
Landes,  ja  ganz  Europas.  Es  war  nach  dem  Fall  Calas  die  zweite  „Affäre" 
des  Jahrhunderts.  Beaumarchais  siegte.  Der  Sieg  des  Plebejers  bedeutete 
eine  schwere  Erschütterung  der  staatlichen  Autorität.  Die  literarische 
Frucht  dieses  Kampfes  heimste  er  in  dem  wunderbaren  Lustspiele  ein,  in 
dem  nun  nicht  mehr  der  Graf,  sondern  Figaro  die  Braut  heimführt.  Figaro 
ist  der  Überlegene,  der  mit  der  ganzen  Gesellschaft  der  Privilegierten,  die 
auf  ihm  lastet,  unter  Witz  und  Lachen  abrechnet.  Es  ist  die  Rache  des 
dritten  Standes  in  der  nämlichen  literarischen  Form  der  Komödie,  die 
bisher  zu  seiner  Verspottung  gedient  hatte.  Ludwig  XVI.  verbot  die 
Aufführung  des  Stückes  —  Beaumarchais  zwingt  sie  ihm  in  zähem 
Ringen  ab  (1784).  Das  Publikum  jauchzte  Beifall.  „Es  gibt  noch  etwas 
Tolleres  als  meinen  „tollen  Tag"  —  das  ist:  sein  Erfolg."  Der  Hof 
kapitulierte  vor  dem  Uhrmachersohn  und  gestattete  auch  den  Druck  der 
sprühenden  Vorrede. 

So  erhebt  sich  an  der  Schwelle  der  Revolution  das  beste  politische 
Lustspiel,  das  je  geschrieben  worden  ist. 

Die  Literatur  Die  Revolutiou  sclbst  hat  literarisch  wenig  hervorgebracht;   sie  hat 

durch  die  völlige  Umgestaltung  des  Lebens  mehr  den  Boden  für  Neues 
vorbereitet,  als  daß  sie  selbst  schöpferisch  geworden  wäre.  Sie  hat  durch 
Zerstörung  der  Welt  der  Salons  die  Herrschaft  der  bienseance  gestürzt 
und  Literatur  und  Sprache  demokratisiert.  Mercier  „setzt  dem  französischen 
Wörterbuche  eine  Jakobinermütze  auf",  predigt  die  „idees  fecondatrices" 
und  die  „heureusetes  de  langage"  der  Sprachneuerung  {N'eologie^  1801), 
die  nun  von  der  „akademischen  Sichel"  nicht  mehr  bedroht  sein  werden. 
Das  Monopol  der  großen  Theater  wird  gebrochen.  Die  zahlreichen  neu 
entstehenden  Bühnen  genügen  einer  schwellenden  dramatischen  Produktion. 


der 
Revolutionszeit 


I).  Frankreich  bis  zur  Romantik.     IV.  Die  Aufklärungszeit.  2"! 

Diese  dient  im  wesentlichen  den  Tagesinteressen  und  opfert  die  Kunst  der 
Tendenz,  sei  es  im  vornehmen,  rhetorischen  Stil  der  Römertrat,'ö(li«'  und 
des  literarischen  Trauerspiels,  sei  es  im  Sinne  Merciers  als  rührseliger  Preis 
republikanischer  Tugend  und  grausamen  Strafgerichts  über  Thron  und  Altar. 
Die  vulgäre  Schauergeschichte  Hingt  an,  Erzählung  und  Drama  zu  be- 
herrschen. England  liefert  Anna  Radcliffs  unheimliche  Romane  und 
Lewis'  „Le  Moine"  (1797),  und  Buch  und  Bühne  füllen  sich  mit  diesen 
Schrecklichkciten  für  Jahrzehnte. 

Die  politische  Presse  entsteht  und  entfaltet  sich  machtvcjll.  Zum 
erstenmal  seit  fast  zwei  Jahrhunderten  vernimmt  man  in  Frankreich  auch 
wieder  die  Stimme  der  politischen  Beredsamkeit.  Die  große  Zeit  findet 
her\'orragende  Wortfülirer.  Mirabeau,  der  Fürsprecher  eines  demokra- 
tischen Königtums,  ist  ein  unvergleichlicher,  gedankenreicher  Redner,  aber 
hinter  seinem  machtvollen  Wort  steht  keine  wahrhaft  patriotische  Persön- 
lichkeit, die  den  kommenden  Stürmen  gewachsen  gewesen  wäre. 

Diese  stürm  vollen  Zeiten  reiften  nicht  nur  Condorcets  enthusiastisches 
Lebensprogramm,  sie  fanden  in  dem  geistvollen  Cham  fort  auch  einen 
Zeugen,  der  sich  vom  enthusiastischen  Wort  bald  wieder  zur  pessimistischen 
Zergliederung  der  Komödie  des  Lebens  wandte.  Und  beide  gingen  frei- 
willig in  den  Tod. 

Von  den  Liedern  der  Revolution  —  den  offiziellen,  wie  J.  Ch^niers 
und  Mehuls  „Chant  du  depart"  (1794)  und  den  Volksliedern  wie  „^a  ira" 
(1790)  —  ist  nur  eines  wirklich  lebendig  geblieben:  die  „Marseillaise".  Sie 
ist  1792  zu  Straßburg  von  einem  Genieoffizier  der  Rheinarmee,  Rouget 
de  Li  sie,  geschaffen  worden  als  glückliche  Improvisation  einer  Stunde 
patriotischer  Begeisterung,  angeregt  und  getragen  von  den  geflügelten 
Worten  und  Melodiefragmenten,  die  von  außen  an  des  Dichters  Ohr 
schlugen.  Die  „Marseillaise**  ist  als  Nationallied  eine  wundervolle  Schöp- 
fung und  literarisch  das  Erfolgreichste,  was  die  Revolution  hervorgebracht 
hat.  So  klinget  das  Jahrhundert  des  Kosmopolitismus  in  ein  Xationallied 
aus.  — 

Wieder    wie    einst   im    12.  und   i ;,.  Jahrhundert   beherrscht    Frankreich  Rückblick, 
zur  Aufklärungszeit  den  gebildeten  Erdenrund.    Das  sind  die  beiden  großen 
Epochen  seiner  geistigen  Weltherrschaft.     Chidher,  der  ewig  Junge,  der  je 
nach    fünfhundert   Jahren    desselbigen    Weges    fährt,   würde    1750    Frank- 
reich als  Domina  multarum  nationum  wiedergefunden  haben  wie   1 250. 

Die  Kulturgeschichte  weiß  von  keinem  anderen  Volk  zu  melden,  dem, 
gleich  Frankreich,  im  Laufe  weniger  Jahrhutulerte  zweimal  diese  Führer- 
schaft zugefallen  wäre. 

Frankreich  schuf  damals  für  alles,  auch  für  die  Dinge,  die  es  von 
seinen  Nachbarn  empfing,  jene  universelle  künstlerische  Form,  in  der  sie 
dann  erst  Gemeingut  der  Kulturvölker  wurden.  Aus  den  Barren  des 
literarischen  Metalls  prägte  es  die  Münzen,  die,  mit  seinem  Stempel  ver- 
sehen, durch  alle  Länder  kursierten.    Nicht  nur  die  Roraania,  sondern  auch 


2'-'>  Heinrich  Morf :  Die  romanischen  Literaturen. 

Deutschland,  Schweden,  Rußland,  ja  England  waren  französischer  Bildung 
voll.  Die  Polen  wandten  sich  um  politische  Belehrung  an  Rousseau.  Es 
schien  die  Zeit  gekommen,  wie  Rivarol  1784  sagte,  da  man  von  einem 
französischen  Weltreich  sprechen  konnte,  wie  einst  von  einem  Orbis  ro- 
manus,  von  einem  „Monde  fran9ais",  der  über  den  einzelnen  Ländern 
stand  und  in  dessen  Weltbürgertum  die  Idee  der  Nationalität  verschwand. 

Aber  schon  regte  sich  in  diesem  französischen  Weltreiche  die  Op- 
position des  germanischen  Geistes,  Die  „Barbaren"  bereiten  sich  zu  einer 
zweiten,  friedlichen  Invasion  in  die  w^eltbeherrschende  Romania,  zu  einer 
geistigen  Völkerwanderung  vor.  Auch  der  alternde  Friedrich  der  Große, 
der  17 So  in  französischer  Sprache  über  das  Zurückstehen  der  deutschen 
Literatur  schreibt,  glaubt  an  das  Nahen  der  literarischen  Befreiung  Deutsch- 
lands und  schließt  mit  den  Worten:  Les  beaiix  jours  de  notre  litter ature  ne 
sont  pas  encore  venus;  viais  ils  s' approchent.  Je  vous  les  an^ionce;  ils  vont 
paraitre;  je  ne  les  verrai  pas,  nion  äge  ni'en  interdit  Vesperance.  Je  suis 
comme  Mo'ise:  je  vois  de  loin  la  terre  promise,  mais  je  n'y  entrerai  pas. 

Zwanzig  Jahre  später  beklagt  W.  von  Humboldt  in  Paris,  daß  die 
deutsche  Literatur  in  Europa  noch  nicht  so  bekannt  sei,  wie  die  französische, 
italienische,  englische.  Er  schreibt  für  Frau  von  Stael  und  ihren  Kreis 
eine  orientierende  französische  Abhandlung  (179g),  die  in  das  Programm 
ausklingt:  //  serait  peut-etre  utile  de  developper  davantage  le  car acter e  de 
ce  Goethe  et  de  ceux  qui  ont  travaille  avec  lui  dans  le  mime  ge^ire,  en 
donnant  une  analyse  detaillee  de  leurs  ouvrages. 

Hier  hat  wohl  Frau  von  Stael  die  Idee  zu  ihrem  Buche:  „De  l'Alle- 
magne"  gefunden. 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik. 

Die  Romania  tritt  im  18.  Jahrhundert  wieder  in  völlige  literarische 
Abhängigkeit  von  Frankreich.  Das  Frankreich  des  Klassizismus  liefert  die 
maßgebende  Kunstform;  das  der  Aufklärungszeit  gibt  die  treibenden  Ideen 
und  Frankreichs  mächtige  dynastische  Stellung  bahnt  dem  künstlerischen 
und  literarischen  Einfluß  politische  Wege. 

Mittlerweile  ist  auch  das  rätische  und  das  nmiänische  Sprachgebiet  in 
die  Literatur  eingetreten. 

Der  Einfluß  des  I.  Italien  im  18.  Jahrhundert.  Der  Spanische  Erbfolgekrieg  lockerte 

franzosischen    ^^^  Baude  der  spanischen  Fremdherrschaft  und  schuf  labile  politische  Ver- 
Geistes. •"■ 

hältnisse,  bei  denen  Frankreichs  Macht  immer  stärker  wurde,  bis  die  große 

Revolution   auch  Italien   zu   schweren  Erschütterungen   und    einem  kurzen 

Freiheitserwachen  führte.     Die  spanische  Sprache  trat  aus  den  fürstlichen 

Kanzleien   und   aus    der  Mode    zurück.     Sogar  in  Neapel  herrschte  schon 

in  der  Mitte  des  1 8.  Jahrhunderts  das  Französische. 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     I.  Italien  im  18.  Jahrhundert.  273 

Ein  neuer  Geist  machte  sich  .seit  1700  deutlich  spürbar  in  dieser 
galanten,  frivolen  Welt  des  italieni.schen  Ancien  R«'-gime  und  des  Rokoko, 
des  Cagliostro  und  des  Casanova.  Dieser  neue  Geist  weht  bald  dauernd 
und  anschwellend,  wie  besonders  im  Norden  des  Landes,  bald  nur 
vorübergehend,  wie  im  neapolitanischen  Süden.  In  Rom  vermochten  auch 
tüchtige  Päp-ste  nichts  gegen  die  immer  drückender  und  allgemeiner 
werdende  Macht  der  religiösen  Orden.  So  standen  sich  auch  in  Italien, 
wie  in  Frankreich,  die  beiden  feindlichen  Mächte  der  Tradition  und  der 
Aufklärung  gegenüber. 

Diese  hatte  ihre  Augen  nach  Frankreich  gewandt.  Ihre  Anhänger 
waren  in  Paris  heimisch  und  pilgerten  zu  Voltaire  nach  Ferney.  Ein  Ver- 
treter dieser  französisierten  italienischen  .-Vurklärcr  ist  jener  neapolitanische 
Abbate  Galiani  {-  1787),  der  geistsprühende  Pulcinella  der  Pariser  Salons, 
der  tiefe  Weisheit  mit  den  Gesten  der  Posse  hier  französisch,  dort 
italienisch  vorträgt  und  der  in  Neapel  an  Pariserheimweh  krankt. 

Dieser    Kampf    setzte    die    Gei.ster    in    heftige    Bewegung.      Er    trug  Di« 

intellektuelle,   aber  wenig  künstlerische  Frucht.     Es  i.st  eine  Auferstehung '"***^^^^  " 
des  Gedankens,  nicht  der  Kunst,  und  wird  im  Lande  selbst  im  Gegensatz 
zur   Renaissance   als    Risorgimento    bezeichnet.     Langsam   bereitet   sich 
dieses  Risorgimento  vor,  um  nach   1750  sich  machtvoll  zu  entfalten. 

Italien  beginnt  um  1725  an  der  abendländischen  Arbeit,  die  zur 
modernen  Geschichtschreibung  führt,  einen  lebhaften  und  oft  geradezu 
vorbildlichen  Anteil  zu  nehmen.  Giannone  interpretiert  die  Geschehnisse 
der  neapolitanischen  Geschichte,  die  andere  erzählt  haben,  mit  kultur- 
historischem Blick  und  ausgesprochen  weltlichem  Interesse.  Die  quellen- 
kritische Forschung  beginnt;  das  Lebenswerk  des  großen  estensischen 
Bibliothekars  Muratori  wirkt  bahnbrechend  weit  über  Italien  hinaus  und 
lenkt  die  Blicke  auf  die  Kulturgeschichte  des  Mittelalters.  Sein  Nach- 
folger Tiraboschi  schreibt  in  seinem  Geiste  eine  monumentale  „Storia 
della  letteratura  italiana",  die  auch  die  Wissenschaft  und  bildenden  Künste 
umfaßt.  In  Vicos  „Neuer  Wissenschaft  von  der  Natur  der  Völker"  (i725)vico. 
erhält  die  Historiographie  einen  naturwissenschaftlichen  Einschlag.  Vico 
sucht  nach  Gesetzen,  die  das  Steigen  und  Fallen  der  Kultur,  den  Krei.s- 
lauf  des  geistigen  Lebens,  bedingen:  die  Geschichte  der  Menschen  bewegt 
sich  danach  von  der  primitiven  theokratischen  Kultur  zur  heroischen 
(Homer)  und  von  dieser  zur  eigentlichen  Zivilisation,  aus  deren  Verfall 
der  primitive  Zustand  sich  wieder  ergibt  Das  ist  Vicos  „historisches 
Gesetz".  Wohl  ist  die  Basis,  von  der  er  au.sgeht  —  die  griechi.sch- 
römische  Geschichte  —  zu  schmal  für  den  zu  den  Wolken  strebenden 
Bau  und  hält  das  zu  knappe  Material  vielfach  einer  genaueren  Festigkeits- 
prüfung nicht  stand.  Aber  Vico  hat  dabei  eines  der  gedankenreichsten 
Bücher  geschrieben,  die  je  verfaßt  worden  sind.  Leider  ist  seine  Dar- 
stellung völlig  unkünstlerisch;  er  hat  es  nicht  verstanden,  seinen  Gedanken 
Flügel    zu   verleihen.     Trotzdem    hat    das  Buch    deutliche    Spuren    in    der 

Dn  KvLTVK  DBK  GsocxwAKT      I.  II    I.  18 


274 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Literatur  des  i8.  Jahrhunderts  zurückgelassen.  Doch  ist  es  erst  in  der 
Zeit  der  Romantik  zu  tiefer  Wirkung  gekommen.  Foscolo  ist  sein  Schüler 
wie  Michelet,  der  es  ins  Französische  übersetzt.  Vico  förderte,  leitete  und 
vertiefte  die  historische  Forschung  des  19.  Jahrhunderts.  Er  hat  die 
Arbeit  des  Denkers  an  Gegenständen  verrichtet,  die  vor  ihm  nur  Unter- 
haltungswert besaßen  oder  nur  von  Seiten  der  Form  interessierten.  Er 
prüft  alles  Historische  auf  seinen  Gedankenwert  und  interpretiert  es 
psychologisch  und  entwickelungsgeschichtlich.  Er  gehört  zur  Reihe  jener 
Großen,  wie  Galilei,  Newton,  Montesquieu,  die  auf  das  Wirrsal  der 
Fakten  das  Licht  einfachen,  ewigen  Geschehens  fallen  lassen.  In  Zeiten, 
da  eine  regelsüchtige  Kunstlehre  herrschte,  hat  Vico  die  Hilfe  verstandes- 
mäßiger Regeln  bei  der  Beurteilung  von  Werken  der  Poesie  abgelehnt 
und  es  zugleich  unternommen,  die  Poeten  und  ihre  Schöpfungen  aus  dem 
Leben  ihrer  Zeit  heraus  historisch -psychologisch  zu  erklären.  Mit  scharfem 
Blick  hat  er  auch  in  Sprache  und  Mythus  eine  Quelle  entwickelungs- 
geschichtlicher  Erkenntnis  gesehen,  mit  kühnen  Ausblicken  Rassen-  und 
Wanderungsfragen  der  Völker  behandelt.  Er  hat  wirklich  eine  „neue 
Wissenschaft"  von  der  Menschheit  geschaffen. 

Vico  ist  origineller  und  tiefer  als  der  Historiker  Voltaire,  der  von 
ihm  gelernt  hat;  aber  Voltaire  ist  kritischer  und  ist  universalhistorisch, 
nicht  nur  in  seinen  Zielen,  sondern  auch  in  seiner  Liformation. 

Nachdrücklich  tritt,  seit  Galileis  Vorgang,  die  Naturforschung  an  die 
Seite  der  philologisch-historischen  Arbeit:  auch  sie  gründet  ihre  Akademien 
und  Institute ,  und  diese  stehen  in  Verbindung  mit  dem  Ausland  und  nehmen 
den  eifrigsten  Anteil  an  dem  neuen  wissenschaftlichen  Leben,  das  auf 
diesem  Gebiete  Romania  imd  Germania  vereinigt. 

Die  naturalistischen  und  individualistischen  Lehren,  mit  welchen 
Montesquieu,  Rousseau,  die  Physiokraten  alle  Lebensgebiete  neu  dar- 
stellten, fanden  im  Süden  und  im  Norden  des  Landes  überzeugte  und 
beredte  Anhänger  und  Verkündiger,  die  auch  in  der  Form  ihrer  Rede 
die  Fülle  französischen  Einflusses  verraten. 

Um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  geht  die  Führung  des  Risorgimento 
an  Mailand  über.  Die  zuvor  spanische  und  nun  österreichische  Stadt 
wird  zum  eigentlichen  Herde  der  geistigen  Wiedergeburt. 

Die  neue  Lebensanschauung  humanisierte  die  Auffassung  der  sozialen 
Verhältnisse  und  insbesondere  die  Beurteilung  des  Menschen,  den  diese 
Verhältnisse  bedrücken  und  auf  die  Bahn  antisozialer  Handlungen  (Ver- 
brechen) leiten.  Niemand  hat  eindringlicher  von  Verbrechen  und  Strafen 
geschrieben  als  der  Mailänder  Beccaria,  dessen  Buch  [Dei  delitti  e  delle 
fene,  1764)  leidenschafthchen  Beifall  und  heftigen  Widerspruch  weckte, 
den  erregten  Kontroversen  ähnlich,  die  in  der  heutigen  Kriminalistik 
unter  italienischer  Führung  um  die  nämlichen  Fragen  sich  erhoben  haben. 
Die  französischen  Aufklärer  jubelten  Beccaria,  der  die  Strafjustiz  und 
besonders  die  Todesstrafe  bekämpfte,  zu  und  beriefen  ihn  zu  sich. 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     1.  Italien  im   18.  Jahrhundert  275 

Als  Träger  dieser  Aufklärungsgedanken  entstehen,  nach  dem  Muster 
der  englischen  und  französischen  Wochenschriften,  Blätter  wie  der  vene- 
zianische „Usservatore"  (1761 — 1702)  und  der  niailändische  „Caffe"  (1764 
bis  1765).  Dort  sprach  Gasparo  Gozzi,  ein  Mann  von  umfassendem 
Wissen  und  feinem  Geschmack,  der  aber,  vom  Leben  gehetzt,  nicht  sein 
liestes  geben  kann;  hier  eine  Kaftegesellschaft  von  Reformfreunden  wie 
lieccaria  und  die  Brüder  X'erri.  Auch  in  Italien  haben  diese  journalistischen 
Unternehmungen  nur  kurze  Dauer  und  mehr  symptomatische  Bedeutung 
als  eigentliche  Wirkung  geliabt. 

Inmitten   dieses    geistigen  Risorgimcnto   bereitet  sich  auch  das  litera-  n«»  literanich« 
rische    vor.      Die    Erinnerung    an    die    literarischen    Reformbestrebungen        ^f'>«'- 
knüpft  sich   an   den  Namen  der   1690  zu  Rom  gegründeten  Akademie  der 
Arcadia. 

Der  erste  Leiter  der  Arcadia  war  der  Literarhistoriker  Crescimbeni;  Di»  Arcadim. 
ihr  eigentlicher  Schöpfer  ist  der  Ästhetiker  Gravina  (-J-  17 18),  der  erklärt, 
„zu  einer  einfacheren  Art  zu  denken,  zu  schreiben  und  zu  sprechen 
zurückzukehren",  für  welche  die  äußere  Form  in  der  bukolischen  Dichtung 
gefunden  werde,  „die  eine  noch  unerschöpfte  Quelle  schlichter  und  doch 
unterhaltsamer  Erfindungen"  biete.  Allgemein  empfand  man  damals  die 
Orgie  des  Secentismo  als  Ausschreitung  und  caftivo  gusto.  So  schlug  das 
Programm  einer  nach  der  antiken  Dichtung  und  dem  älteren,  einfacheren 
Petrarkismus  orientierten  Poesie  ein,  deren  Vertreter  sich  als  Schäfer 
gaben  und  die  sich  in  die  äußeren  Formen  ländlichen  arkadischen  Ge- 
barens kleidete.  Aus  den  vierzehn  Arkadiern  wurden  rasch  über  tausend, 
und  Crescimbeni  zählte  von  der  Höhe  seiner  römischen  Zentralanstalt 
nach  wenigen  Jahren  schon  mehr  als  zwanzig  „Kolonien"  im  Lande 
herum.  Papst  und  Kardinäle,  P'ürsten  und  Höflinge  gesellten  sich  zu  den 
Schriftstellern  in  dieser  römischen  Akademie  des  poetischen  Stiles,  die 
neben  die  florentinische  Akademie  der  Sprache  {Cruscd)  trat.  Das  ganze 
gesellschaftlich  und  geistig  hervorragende  Italien  einigte  sicli  hier  auf  dem 
Gebiete  der  Literatur  zur  Zeit  der  größten  politischen  Zersplitterung.  Die 
Arcadia  schafft  in  trostloser  Zeit  eine  Solidarität  und  verkörpert  ein  Stück 
italienischen  Nationalgefühls.  Sie  bereitet  tiefer  gehenden  Lebens- 
äußerungen den  Weg.  Das  ist  ihre  große  Seite  und  ihre  wahre  ge- 
schichtliche Bedeutung.     Von  ihr  zehrt  sie  bis  auf  den  heutigen    lag. 

Die  literarische  Reform,  die  sie  um  1700  inszenierte,  ward  keines- 
wegs erlösend.  Die  Arcadia  war  nicht  schöpferisch.  Sie  befreite  Italien 
nicht  von  der  Künstelei,  sondern  beschränkte  sie  nur.  Gravinas  hoch- 
fliegende Pläne  erfüllten  sich  nicht,  und  er  schied  aus  (171 1).  Er  war 
selbst  kein  Poet.  Was  er  bewundernd  von  Dante  gesagt,  verhallte.  Was 
als  universelle  Reform  verkündet  worden  war,  lief  in  akademische 
I'ormeln,  gesellschaftliche  Unterhaltung  und  höfische  Adulation  aus.  Es 
gab  einen  Hirtenkomment,  Hirtennamen,  Hirtenflöten.  Man  spielte 
Natur     in    zahllosen    Sonetten,    Madrigalen,    Kanzonetten.      „Die     werten 

i8* 


2y6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Schäfer",  wie  Goethe  sie  nennt,  bemühten  sich  auch  um  ihn  und  nahmen 
ihn  als  Megalio  Melpomenio  feierHch  auf. 

KirchUche  und  poHtische  Führung  zwang  die  Arcadia  in  enge 
Gedankenwege  zu  einer  Zeit,  da  ItaUen  der  Wissenschaft  eine  breite 
Heerstraße  zu  bauen  begann.  ÄngstUch  erklären  die  Arcadi  ihren 
Katholizismus,  während  sie  von  Ninfc,  Fato,  Destino  singen  und  die  blut- 
leeren Schemen  der  antiken  Deita  heraufbeschwören. 

So  entstand  ein  unfreier  Meistergesang  mit  einem  Kodex  literarischer 
Wohlanständigkeiten,  in  deren  Beobachtung  viele  ein  großes  technisches 
Können  verschwendeten,  ohne  neben  tausenderlei  Zierlichkeiten  zu  freier 
Schöpfung  zu  kommen.  Das  gelang  wohl  nur  dem  einen  Metastasio, 
dessen  Stimmung  und  Anmut  die  ausgetretenen  Pfade  des  Lieds  mit 
neuer  Lieblichkeit  umsäumt.  Mit  Frugoni  aber,  in  dessen  bändereiche 
Lyrik  die  Arcadia  schließlich  ausläuft,  geht  über  diese  geputzte  und  ge- 
schminkte Hirtenwelt  ein  Reimregen  nieder  —  auf  diese  Silvio,  Mirtillo, 
Doris,  Chloris,  Amaryllis,  auf  ihre  Schäfchen,  Hündchen,  Kätzchen, 
Kanarien  —  daß  alle  Bänder  und  Kleider  unheilbar  verwaschen  und  alle 
Farben  verwässert  erscheinen. 

Fruchtbar  waren  die  Arkadier  auch  in  theoretischen  Arbeiten  über 
•  die  poetische  Kunst.  Sie  setzten  sich  mit  dem  französischen  Klassizismus 
auseinander;  sie  ergänzten  und  sie  bekämpften  ihn.  „La  ragione  poetica" 
(1708)  Gravinas  schmeckt  nach  Boileaus  raison',  aber  er  wie  Maffei 
und  Calepio  lehnen  den  von  den  Franzosen,  besonders  von  Corneille, 
interpretierten  Aristoteles  ab.  Bodmer  und  Breitinger  lernen  von  ihnen 
und  ihre  Ideen  kehren  über  Deutschland  und  Frankreich  nach  Italien 
zurück,  nachdem  sie  im  Ausland  fruchtbarer  geworden  waren  als  in  der 
Heimat.  Denn  in  Italien  galt  trotz  aller  Proteste  das  französische 
Muster,  da  die  franzosenfeindlichen  Theoretiker  sich  in  der  Praxis  nicht 
treu  blieben. 

Es  zeigt  sich  das  am  meisten  in  dem  sterilen  modischen  Bemühen 
um  die  Tragödie,  an  dem,  wie  im  übrigen  Europa,  besonders  auch  die 
lehrhaften  Jesuiten  sich  beteiligten.  Sogar  die  verständige,  gutgebaute 
„Merope"  des  Maffei  (17 13),  die  damals  als  Blüte  der  tragischen  Kunst 
im  Triumph  durch  Europa  geführt  wurde,  ist  trotz  aller  Erklärungen  viel 
mehr  französischen  als  griechischen  Geistes  und  wäre  längst  vergessen 
ohne  die  unerfreuliche  Polemik,  die  Voltaire  an  seine  Bearbeitung  knüpfte 
und  die  weitläufige  Besprechung,  die  Lessing  ihr  gewährte.  Heiße 
Vaterlandsliebe  spricht  aus  den  Römertragödien  Contis;  aber  von  Shake- 
speares Geist  hat  Conti  aus  England  kaum  etwas  mitgebracht.  Überhaupt 
ist  die  italienische  Dramatik  in  der  Nachahmung  Shakespeares  damals 
nicht  über  das  Maß  Voltaires  hinausgegangen,  das  auch  für  Montis 
historisches  Trauerspiel  „Galeotto  Manfredi"  vorbildlich  war. 
Metastasio.  Der  wahrc  Poet    der  antiken  Tragödienwelt  ist  Metastasio.     Er  ist 

ein   Schüler   Gravinas,   verteidigt   die  Freiheit   des  Dramas   gegen   franzö- 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     I.  lullen  im  1 8.  Jahrhundert.  2^^ 

sischen  Regelzwang  und  befolgt  die  dramaturgischen  Lehren  Gravinas 
besser  als  dieser  selbst,  denn  er  ist  ein  Künstler.  Unter  den  antiken 
Stoffen  wählt  er  nicht  solche,  die  durch  ihre  Schrecklichkeit  pompösem 
Gerede  dienen.  Er  greift  zu  „Themistokles  am  Hofe  des  Xerxes",  zur 
Vaterlandsliebe  des  Regulus.  Seine  mehr  weiche  Natur  zieht  das  Elegische 
vor.  Die  dramatische  Elegie,  in  welcher  Racine  1670  den  Abschied  des 
Kaisers  Titus  von  der  geliebten  Berenice  inszenierte,  wird  1734  von 
Metastasio  gleichsam  fortgesetzt:  nach  dem  grande  a<hüo  läßt  f-r  Titus' 
schwankende  Neigung  neue  Merzenstumulte  entfachen,  die  in  Ver- 
schwörung gipfeln  und  in  Verzicht  und  Verzeihung  enden  {La  cUmenza  di 
Tito).  Die  kurzen  Szenen,  deren  freie  Verse  in  schlichte  Lieder  aus- 
klingen,  lassen  wohl  erkennen,  daß  Musik  das  Ganze  tragen  soll.  Aber 
der  Wohllaut  dieser  Verse  und  Lieder  ist  selbst  Musik.  Metastasio  ist 
ein  großer  Lyriker  wie  Tasso,  und  seine  Szenen  vertragen  die  Nähe  des 
Aminto  sehr  wohl.  Trotz  der  musikalischen  Stilisierung  sind  Handlung 
und  Charaktere  lebensvoll,  von  der  Hand  eines  wirklichen  Dichters  gestaltet 

So  erwuchs  aus  der  Verbindung  mit  der  Oper  die  poetischste  Erucht 
der  Renaissancetragödie.  Sie  reifte  freilich  auf  fremder  Erde.  Metastasios 
Dramen  sind  Festspiele  des  kaiserlichen  Hofes  zu  Wien.  Ihre  Verse  und 
Lieder  erklingen  bei  Maria  Theresias  Hochzeit 

Der  piemontesische  Graf  Alfieri  (-}-  1803)  ist  ein  Schüler  der  Franzosen,  Aiß«ri 
die  er  dann  maßlos  schmäht.  Sein  Pamphlet  „Misogallo"  und  seine  Auto- 
biographie {Vita)  sind  während  eines  mehrjährigen  Aufenthaltes  im  revo- 
lutionären Paris,  diesem  „stinkenden  Spital  Unheilbarer  und  Wahnsinniger*', 
begonnen  und  in  dem  von  den  Franzosen  —  Sita  Maesta  la  Xazion 
gallina  —  befreiten  Italien  haßerfüllt  vollendet  worden.  Der  Haß  ist  auf- 
richtig. Aber  der  intransigente  Heroismus,  den  er  in  seiner  „Vita" 
prahlerisch  zur  Schau  trägt,  ist  Pose.  Seine  krankhafte  Ruhmbegier 
macht  ihn  unaufrichtig.  Sie  treibt  ihn  auch,  die  französischen  Vorbilder 
zu  verleugnen,  während  er  doch  seine  „Vita"  nach  Rousseaus  Konfessionen 
und  seine  Tragödien  nach  Voltaire  schreibt.  Er  gießt  seine  impulsive 
Natur  in  diese  Trauerspiele  (etwa  zwanzig,  von  1767 — 178()).  Er,  den  die 
Worte  Gloria,  Libertä,  Patf^ia  begeistern,  erfüllt  seine  Stücke  „Saul", 
„Bruto"  usw.  mit  flammenden  Tiraden  zum  Preise  des  Heldentums,  der 
Freiheit  und  gegen  jede  Art  von  Tyrannei.  Er  idealisiert  die  republi- 
kanischen Freiheitshelden  und  karikiert  die  Vertreter  der  Tyrannis.  Er 
spricht  immer  selbst,  erhitzt  und  atemlos.  Er  ruft,  er  schreit  Die 
tragische  Handlung  ist  nur  ein  Vorwand,  um  leidenschaftliche  Worte  in 
das  lethargische  Volk  zu  werfen.  Die  Sprache  seiner  tragischen  Helden 
Ist  die  nämliche  wie  die  seiner  lapidaren  Sonette. 

Aus  einem  Kosmopoliten  französischer  Observanz  ist  Altirn  ein 
italienischer  Patriot  geworden:  einig  und  frei  soll  Italien  werden  —  auch 
sprachlich!  Das  „häßliche  Kauderwelsch"  der  provinziellen  Mundarten, 
insbesondere  auch   seine  piemontesische  Muttersprache  soll  verschwinden  1 


278  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Aus  der  machtvollen  rhetorischen  Gestaltung  dieses  einen  Freiheits- 
gedankens in  der  Form  des  Hasses  gegen  Unterdrücker  und  Wider- 
strebende klingt  ein  Echo  Dantescher  Invektiven.  Alfieris  Leier  hat  nur 
diesen  einen  Klang.  Der  aber  ertönte  in  schlimmen  Zeiten  voll  genug, 
um  den  dramatischen  Sänger  zum  Tyrtaeus  des  „futuro  popolo  d'Italia" 
zu  machen. 

Alfieri  ward  zur  treibenden  Kraft  in  den  nationalen  Bestrebungen, 
besonders  seit  1 8 1 5,  und  das  geeinte  Land  blickt  heute  mit  Recht  dankbar 
auf  ihn  zurück,  auch  wenn  sein  Ruhm  als  Tragiker  längst  verblaßt  und 
heute  auch  sein  politisches  Heldentum  zweifelhaft  geworden  ist. 

Alfieri  und  Metastasio,  der  Rhetor  und  der  Poet  der  Tragödie!  Der 
eine  läßt  die  Helden  der  alten  Welt  in  den  Klängen  melodischer  Szenen 
zur  Unterhaltung  eines  fremden  Fürstenhofes  auferstehen;  der  andere 
braucht  sie,  um  durch  ihre  Invektiven  sein  schlummerndes  Volk  zu 
wecken.  Der  eine  stellt  Leben  dar,  der  andere  hat  Leben  geweckt. 
Goidoni  Ncucs    Leben    schuf    auch    der    fruchtbare    Goldoni    (-J-   1793),    der 

über  die  Welt  des  Lustspiels  gebot.  Wie  Corneille  damit  begonnen,  an 
Stelle  der  Roheit  und  Unwirklichkeit  der  alten  Farce,  feinere  Art  und 
städtisches  Treiben  vor  ein  lachlustiges  Publikum  zu  bringen,  so  setzte 
Goldoni  allmählich  an  Stelle  der  rohen  und  unwirklichen  Comrnedia  dell 
arte  mit  ihren  erstarrten  Typen  das  Lustspiel  des  heimatlichen  venezia- 
nischen Alltages  mit  seinen  Fischern  und  Gondelführern,  den  Narren  der 
Sommerfrische  und  der  Sammelwut,  Schwätzern,  Polterern,  Flegeln  und 
einer  ganzen  Galerie  venezianischer  Weiblichkeit.  Goldoni  malte  dies 
Leben  in  reicher  Fülle  und  Kräftigkeit,  die  sich  schon  in  der  starken 
Verwendung  des  Dialektes  ausspricht.  In  diesem  italienischen  Lustspiel 
dient  die  dialektische  Rede  nicht  der  Karikatur  und  dem  Spott,  sondern 
der  Lebenswahrheit,  der  Heimatkunst.  Goldoni  ist  von  allen  italienischen 
Dramatikern  der,  der  durch  Erfindungsgabe,  sowie  durch  Anmut  und 
Reichtum  des  Dialoges  am  meisten  an  die  Spanier  erinnert.  Freilich 
gleicht  er  ihnen  auch  in  der  Unsorgfältigkeit  der  Ausführung.  Die  Not 
des  Lebens  zwang  den  scharfen  Lebensbeobachter  oft  zu  eiligen  Skizzen, 
die  sich  unter  die  Meisterwerke  mischen.  Auch  er  geht  bei  den  Fran- 
zosen in  die  Schule,  die  aber,  Voltaire  und  Diderot  so  gut  wie  Lessing,  auch 
wieder  von  ihm  lernen.  Er  tritt  in  die  von  Richardsons  Romanen  ge- 
tragene Bewegung  des  Rührstückes  ein.  Im  Grunde  aber  geht  er  von 
Moliere  aus,  der  ihm  den  Weg  des  Charakterlustspieles  wies  und  dem  er 
auch  darin  folgte,  daß  er  dem  Geschmack  des  Publikums  durch  öftere 
Rückkehr  zur  Farce  Rechnung  trug.  Das  Publikum  folgte  ihm  nicht 
willig  und  führte  ihn  nicht  zu  Triumphen.  Die  comrnedia  dell  arte  leistete 
erfolgreichen  Widerstand,  sei  es  in  ihrer  alten  Form,  sei  es  in  dem 
phantastischen  Aufputz,  den  ihr  Carlo  Gozzi  gab.  Der  führte  ihr  die 
Welt  von  looi  Nacht  zu  und  machte  aus  dem  Hanswurst  einen  Märchen- 
prinzen.   Seine  dramatischen  Märchen  {Fiabe)  enthalten  auch  Satire  gegen 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     I.  Italien  im  i8.  Jahrhundert.  27g 

Goldonis  Kunst  und  Ideen,  die  als  ausländisch,  französisch  denunziert 
werden.  Den  AuRfenblickserfolpf,  den  die  bizarre  Fomi  dieser  „Fiabe"  er- 
rang-, hat  das  Land  —  und  die  Romania  überhaupt  —  nicht  ratifiziert. 
Mehr  und  dauernden  Beifall  fand  Gozzi  in  Deutschland. 

Goldoni  aber  wandte  sich  nach  Paris  (1762)  und  schrieb  dort,  als 
Leiter  des  Tht'ätrc  italien,  italienische  und  französi.sche  Lust.sjnele,  die  zu 
seinen  besten  gehören,  und  seine  fesselnden  „M^moires". 

Als  Goethe  im  Herbst  1786  nach  Venedig-  kam,  zogen  binnen  vier- 
zehn Tagen  Proben  des  ganzen  italienischen  Theaters  an  ihm  vorüber:  eine 
gewöhnliche  üpcr  mit  schlechtem  liallett;  zwei  blutige  Tragödien,  von 
denen  eine  aus  dem  Französischen  übersetzt  i.st;  eine  tolle  Stegreifposse 
mit  unübertrefflichem  .Spiel,  deren  Ma.sken  ihm  wohltun  „als  Ge.schöpfe 
dieser  Landschaft".  An  Gozzis  Märchendrama  bewundert  er  die  Kunst, 
mit  solchen  Masken  die  tragischen  Figuren  der  „P'iabe"  zu  verbinden. 
Und  „endlich  kann  ich  denn  auch  sagen,  daß  ich  eine  Komödie  gesehen 
habe"  —  Goldonis  „Fischer  von  Chioggia",  deren  bodenständige  Kunst 
ihn  trotz  der  sprachlichen  Schwierigkeit  mit  Entzücken  erfüllt  und  zu 
langem  Bericht  veranlaßt. 

Wie  der  andere  Poet  der  italienischen  Bühne  des  Settecento,  Meta- 
stasio,  hat  auch  Goldoni  seine  Laufbahn  im  Ausland  beschlossen.  Die 
Heimat,  die  ihn  einst  undankbar  behandelte,  ehrt  heute  sein  Andenken. 
Sein  Werk  lebt  noch  frisch  auf  der  italienischen  Bühne. 

Die  Jahre,    in    denen  Goldoni   kämpft   und  unterliegt,    sind  überhaupt  d« 

Jahre  lebhaftester  literarischer  Bewegung.  \\  le  m  rrankreich  ist  in 
Italien  eine  neoklassische  Strömung  zu  erkennen,  der  ja  auch  die 
Arcadia  nicht  fremd  ist.  Von  ihr  getragen,  kommt  inmitten  der  all- 
gemeinen Verskünstelei  der  reimlose  Zehnsilbler  ( \  'er so  sciolto)  immer 
mehr  in  Aufnahme  und  dringt  auch  in  die  Lyrik  ein.  Dieser  Vers  bedarf 
freilich  der  Künstlerhand,  soll  die  poetische  Rede  nicht  platt  werden  wie 
bei  Frugoni,  Algarotti,  Bettinelli,  deren  Verse  beschreibend  plätschern. 
Vom  Kaffee  zu  singen:  „der  liebe  schwärzliche  Brei,  den,  die  morgend- 
lichen Tassen  mit  Phöbus'  Arznei  zu  füllen,  Mexiko  sendet",  ist  auch 
Delille  gelungen.  Es  soll  virgilianisch  sein  und  stellt  in  Wahrheit  jene 
Mischung  von  Xeoklassizismus  und  Petrarkismus  dar,  die  man  in  Frank- 
reich später  style  empirc  nennen  wird. 

Bettinelli  glaubte  diese  Kunst  durch  Briefe  verteidigen  zu  sollen» 
die  er  Virgil  (1757^  aus  der  Unterwelt  an  die  Arcadia  schreiben  ließ  und 
in  denen  er  die  ältere  italienische  Dichtung,  die  zu  sehr  auf  der  Gegen- 
wart laste,  einer  strengen  Revision  unterzieht  und  insbesondere  Dantes 
Commcdia  nach  Inhalt,  Absicht  und  Stil  verurteilt  Es  ist  der  .spröde 
Greschmack  der  Moderne  ä  la  Voltaire,  der  aus  dieser  Kritik  .spricht 
G.  Gozzi  antwortete  1758  siegreich,  indem  er  für  Dante  eine  historische 
Beurteilung  forderte  und  der  wachsenden  Anerkennung  dieses  Großen 
Bahn  brach. 


28o  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Der  Kampf  um  Dante  umtönt  die  Wiege  des  Risorgimento.  Er 
dauerte  lange,  und  noch  Jahrzehnte  später  leisteten  der  junge  Monti,  der 
junge  Leopardi  Widerstand.  Eindrucksvoll  heben  sich  vom  arkadischen 
Hintergrund  die  zwölf  „Visioni"  Varanos  ab  (178g),  die  mit  den  äußeren 
Mitteln  der  Danteschen  Dichtung  zeitgenössische  Geschehnisse  (Krieg, 
Fürstentod,  Pest  und  Erdbeben)  besingen. 
Parini.  Der  Meister  des   antikisierenden  verso  sciolto  ist  Parini,   der  Dichter 

des  „Giomo"  (seit  1763),  der  einen  jungen  mailändischen  Signore  alten 
oder  auch  neuen  Adels  ironisch  unterweist,  wie  er  die  „öden  und  lang- 
samen Lebenstage"  verbringen  solle.  Den  Parini  erzogen  ähnliche  Lebens- 
verhältnisse wie  den  LaBruyere:  der  Niedriggeborene  und  unabhängig  Ge- 
sinnte litt  unter  dem  Drucke  sozialer  Mißverhältnisse.  Langsam  reift  ihm 
der  fein  ziselierte  Vers,  in  dem  er  den  philanthropischen  Ideen  der  Auf- 
klärung Ausdruck  gibt,  während  er  zugleich  französische  Formen  und 
Sitten  des  „Belmondo"  als  eifriger  Patriot  bekämpft.  Er  baut  seine  Sätze 
mit  lateinischer  Freiheit,  als  wollte  er  durch  die  Latinismen  der  Satz- 
fügung die  Bodenständigkeit  seiner  italienischen  Kunst  gegenüber  dem 
flachen  Gallizismus  hervorheben.  Künstlerisch  eindrucksvoll  ist  der  Gegen- 
satz zwischen  der  ernsten  Form  und  der  Nichtigkeit  des  Treibens,  das  der 
„Giorno"  schildert.  Da  wird  auch  jener  style  e?npire  wirksam,  der  den 
Kaffee  umschreibt:  „Schenke,  o  Edler,  die  Gunst  deiner  Lippen  dem  Nektar, 
in  welchem  gebräunt  dampft  die  Bohne,  die  aus  Aleppo  und  Mokka  zu 
dir  gelangt."  Einzelne  Oden  Parinis  sind  poetische  Reden  über  die  näm- 
lichen Themata,  über  welche  die  Artikel  der  moralischen  Wochenschriften 
damals  handelten.  Schön  erklingt  manches  lebensfrohe  Wort  des  Alternden 
—  er  spottet  der  nordischen  Melancholie  —  und  herrlich  ist  das  Gedicht 
„An  die  Muse",  welche  die  Gattin  des  Freundes  besuchen  soll.  Mit 
Parinis  Dichtung  tritt  man  aus  der  Treibhausluft  der  Arcadia  in  die  frische, 
ja  scharfe  Luft  des  stürmischen  Tages  hinaus.  Man  atmet  auf,  wenn  man 
an  der  Wende  der  sechziger  Jahre  auf  ihn  trifft.  Gebt  euem  Versen 
Inhalt;  laßt  das  Leben  in  sie  fließen!  —  so  lehrt  er  gleichsam.  Aber  seine 
gemessene  Verskunst  ist  gänzlich  unmodern,  und  ihr  verspätetes  Alexan- 
drinertum  wirkt  bisweilen  wie  Karikatur. 

Sein   eigenes  Leben   zeigt,   wie   schwer   es  bei  den  labilen  staatlichen 
Zuständen   des   ausgehenden  Jahrhunderts   auch  für   einen   charaktervollen 
Menschen  war,  den  Schein  politischer  Zweideutigkeit  zu  meiden. 
Germanische  Der    Turiuer    Barctti    (f   1789),    der    ein    Menschenalter    in    London 

Einflüsse,  gelebt  hat,  bringt  einen  rauhen  aber  erfrischenden  Ton  aus  England  mit. 
Die  erbarmungslosen  Streiche  seiner  Halbmonatsschrift  „Die  literarische 
Geißel"  (1763 — 1765)  fallen  auf  die  „Eunuchenpoesie"  der  Arcadia,  auf  die 
Franzosen  —  besonders  Voltaire  —  und  auf  jene  italienische  Literatur,  die 
sich  vor  den  französischen  Kritikern  verneigt  und  „mehr  den  Rückgrat  als 
den  Geist  anstrengt".  Aber  er,  der  als  Herold  Shakespeares  in  Italien 
auftritt,     verkennt    Dante.      Sein    Urteil     ist    mehr     temperamentvoll    als 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     I.  Italien  im   1 8.  Jahrhundert  281 

sicher    und    poesieverständig.      Eine    Übersetzung    Shakespeares    erschien 
erst   1 800, 

Der  alte  Streit  über  die  Italianita.  oder  Toscanita.  der  Schriftsprache 
dauert  ununterbrochen.  Das  puristische  Wörterbuch  der  Crusca  (161  2  zum 
erstenmal  erschienen)  blieb  ein  „Idiotikon  des  älteren  Florentinismus". 
Anderseits  macht  sich  der  Neologismus,  besonders  der  gallisciie,  als  Träger 
moderner  Ideen  breit.  Am  vernünftigsten  spricht  dazu  der  Paduaner 
Cesarotti,  der  eine  maßvolle  Xeologie  gegen  die  puristische  Sprach- 
meisterei  der  „insetti  lettcrari"  verteidigt  und  den  Vorschlag  macht,  ein 
italienisches  Wörterbuch  unter  Mitwirkung  des  ganzen  Landes  zu  schaffen. 
In  der  Praxis  ist  er  dem  französischen  Beispiel  gegenüber  widerstandsloser 
gewesen,  als  seine  Theorie  erwarten  läßt.  Durch  seine  Übersetzung  Ossians 
(1763)  und  Grays  hat  er  Italien  die  Poesie  nordischer  Sentimentalität  und 
nordischen  Heldentums  erschlossen,  deren  Echo  in  der  Rhetorik  Montis 
und  Alfieris  widerhallt. 

So  war  in  Italien  wie  in  Frankreich  die  englische  Literatur  früher 
und  nachdrücklicher  bekannt  als  die  deutsche.  Bertölas  romantische 
Fahrten  in  Deutschland  und  seine  Übertragungen  aus  Geßner,  Wieland, 
Goethe  beginnen  um  1780.  Ein  „Giornale  della  letteratura  straniera",  das 
diese  EinHüsse  zusammenfassen  will,  erscheint  1790.  Den  Übersetzungen 
aus  den  nordischen  Literaturen  liegen  vielfach  französische  Zwischen- 
versionen zugrunde. 

Aber  dieser  germanische  Import  trug  zunächst  keine  wirkliche  lite- 
rarische Frucht.  Das  Ende  des  18.  Jahrhunderts  steht  durchaus 
im  Banne  des  Xeoklassizismus,  aber  eines  Klassizismus,  hinter  dem  die 
hohe  mittelalterliche  Gestalt  Dantes  sichtbar  wird.  Es  dominiert  die  ein- 
drucksvolle Stimme  Montis  und  der  Meißel  Canovas.  Monti  hatte  erst  Montu 
im  Schatten  des  Vatikans  ein  kraftvolles  Lied  dantescher  Form  und  dan- 
teschen  Geistes  gegen  das  revolutionäre  Frankreich  gesungen  (///  morte 
di  IJgo  Ba:ssvilk^  '793)»  war  dann  nach  171)7  zum  Preise  revolutionärer 
Errungenschaften  übergegangen  —  bis  endlich  auch  der  Kaiser  des  Dienstes 
seiner  beredten  Muse  sich  erfreute.  Der  ossianische  „Barde  vom  Schwarz- 
wald" (1806),  zu  dessen  kriegerischen  Gesängen  die  „cheruskische  Harfe 
unter  den  Rosenfingern  Malvinas"  erklingt,  war  ein  Gedicht  nach  dem 
Herzen  Bonapartes.  Nach  dessen  Sturz  huldigte  Monti  den  Österreichern. 
Sein  Klassizismus  war  eine  poetische  Livree,  in  der  er  gelehrig  Volks- 
und Fürstendienst  verrichtete.  Er  ist,  gleich  einem  Humanisten  des 
15.  Jahrhunderts,  der  „Typus  des  Literaten".  Er  verstand  es,  den 
Faltenwurf  der  römischen  Toga  um  Dante,  Ossian  und  Klopstock  zu 
legen.  Virtuos  vereinigte  er  alle  poetische  Geschicklichkeit  seiner  klassi- 
zistischen Zeit  Seiner  Geschmeidigkeit  war  es  vorbehalten,  ihr  Bestes  in 
einer  Übersetzung  zu  geben.     (Die  Ilias,   18 10.)   — 

Seit  1750  durchsetzte  sich  Italien  mit  den  regenerierenden  Ideen,  die 
ihm   aus   dem  Ausland   zuflössen,  doch   nicht   ohne   daß  es  seine  Eigenart 


282  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Stark  und  oft  eifersüchtig  betonte.    So  bestellte  es  das  Feld  für  die  reiche 
nationale  Ernte,  die  es  im   i g.  Jahrhundert  einbringen  sollte. 


Der  Einfloß  des  TL.      Spanien      und      Portugal      im       18.     Jahrhundert.        Wie 

inzösisch 
Geistes. 


anzosisc  en    ^j^  Echo    der   geschildcrten   italienischen  Zustände    klingt   die  Kunde  von 


der  iberischen  Halbinsel.  Die  Zeit  ist  unkünstlerisch.  Die  nationale 
Dichtung  geht  auf  ausgetretenen  Wegen.  Es  überwiegt  das  prosaische 
Schrifttum,  in  welchem  das  alte  Spanien  und  Portugal  der  Inquisition 
mit  den  neuen  Ideen  der  Aufklärung  ringt.  In  Spanien  regieren  seit  1700 
die  Bourbonen.  Die  portugiesischen  Braganca  stehen  durch  verwandtschaft- 
liche Bande  dem  französischen  Hofe  nahe.  Französische  Sprache  und 
Literatur  dringen  mächtig  vor.  Das  Inquisitionstribunal  sieht  sich  ge- 
zwungen, gegen  die  Lektüre  Voltaires  und  Rousseaus  aufzutreten,  und  ver- 
urteilt /as  obras  de  Voltcr,  Ruso  und  andere  ähnliche  monstruos  de  impiedad 
y  de  irreligio7t  (1789).  Den  französischen  Büchern  folgen  (1807)  die 
französischen  Waffen  und  die  Okkupation  (bis  1813).  Der  heldenmütige 
Freiheitskampf,  der  in  der  Verteidigung  Zaragozas  durch  Palafox  gipfelt, 
zieht  die  Augen  Europas  auf  das  vergessene  Spanien,  weckt  überall  Be- 
wunderung und  läßt  das  verachtete  „Land  der  Inquisition"  im  Glänze 
romantischen  Heldentums  erstrahlen. 

Die  friedliche  und  wohlmeinende  Regierung  eines  aufgeklärten  Des- 
potismus läßt  das  von  der  habsburgischen  Weltmachtpolitik  erschöpfte 
Land  aufatmen.  Ein  langsamer  wirtschaftlicher  Aufschwung  wird  von 
patriarchalischer  Fürsorge  der  Regierung  und  der  Aristokratie  umgeben 
und  geleitet.  Hier  findet  Carlos  IIL  in  A ran  da  und  Campomanes,  dort 
Jose  I.  in  Pombal  Minister  der  Regeneration,  welche  auch  die  Herr- 
schaft der  Jesuiten  brechen.  Der  Geist  enthusiastischer  Philanthropie 
dringt  aus  Frankreich  herüber.  Frankreich  vermittelt  auch  Geistes- 
erzeugnisse Englands  und  Deutschlands.  Wer  Englisch  lernt,  greift  zur 
Grammatik  eines  Franzosen.  Dieser  „Nordwind",  wie  man  damals 
sagte,  ruft  eine  große  Zahl  gemeinnütziger  Gesellschaften  ins  Leben. 
Der  einst  so  kriegerische  Hidalgo  tritt  jetzt  in  den  philanthropischen 
Dienst  dieser  friedlichen  Armee.  Es  herrschte  nach  dem  Ausdruck  eines 
Historikers  ein  „u7iiversal  afan  de  mejora"  (ein  allgemeines  Streben  nach 
Besserung). 

Nichts  ist  bezeichnender  für  diesen  Geist  als  die  Aufnahme  und  Ein- 
führung Pestalozzischer  Ideen,  die  1806  zur  Gründung  eines  königlichen 
Institutes  durch  Godoy  führen.  „Spanien  ist  das  erste  Land",  schreibt 
Pestalozzi  an  den  Herzog  von  Frias,  „das  den  Bildungsmitteln  meiner 
Methode  mit  Staatskräften  offene  Prüfung  gewährt!"  Die  Pestalozzi- 
Bücher  und  -Fabeln  dringen,  wie  Godoy  selbst  nach  Yverdon  meldet,  in 
die  Gemächer  des  Infanten.  Aber  der  nahende  Sturm  fegt  schon  1808 
alles  weg.  Es  war  ein  Strohfeuer  und  ließ,  wie  die  übrigen  Reform- 
versuche, kaum  Spuren  zurück. 


E.  Die  übri^fe  Romania  bis  zur  Romantik.    II.  Spanien  u.  Portugal  im  i8.  Jahrhundert.      283 

Eine    eifrige   Bildungstätigkeit   hatte   eing-esetzt.     Nach   dem   Beispiele  Die 

der  Franzosen  hatte  man  angefangen,  den  Weg  der  Belehrung  durch  ;^eit- '*'"*°*!'"'*"*^'' 
Schriften  zu  betreten.  Das  „Diario  de  los  Literatos  de  Esparia"  (17.37 — 1742) 
berief  sich  auf  Bayle.  Die  sogenannten  morali.schen  Wochenschriften 
wurden  in  Spanion  durch  das  „Universaltheater"  und  die  „gelehrten  Briefe" 
ersetzt,  in  weJciion  der  gescheite  Benediktiner  I*'eij(jo  (seit  1726)  fa.st  vier 
Jahrzehnte  lang  nützliche  Kenntnisse  verbreitet.  Inquisition  und  Routine 
traten  gegen  ihn  auf;  die  bourbonische  Regierung  (Karl  III.)  schützte  ihn. 
Die  selben  Spanier,  deren  Kampfeslust  einst  Cervantes  belacht  hatte,  gaben 
sich  jetzt  in  ihrem  Wissensdurst  Blößen  und  werden  von  Cadalso  in  seinen 
„Eruditos  a  la  violeta"  (Die  Halbgelehrten,  1772)  verspottet.  Feijöos  Stil 
verrät  die  französischen  Bildungsquellen;  doch  bekämpft  er  das  französische 
Lehnwort  derer,  die  ohne  Notwendigkeit  „csti(dia)i  cn  afranccsar  la  loigua 
castellana".  Und  noch  mancher  Andere,  der  gleich  ihm  und  Cadalso  bei 
Frankreich  in  die  Schule  gegangen,  beklagt  mit  ihnen  die  Französisierung 
der  Sitten  {modales  franceses)  und  Rede. 

17  13  wird  die  Real  Academia  Espahola  gegründet,  die  sich  eifrig 
an  ihre  Aufgabe  macht  und  schon  1726  ein  großes  Wörterbuch  zu  drucken 
beginnt.  Sie  zeigt  sich  ihrem  französischen  Vorbilde  darin  überlegen,  daß 
sie  dem  Lande  eine  einfache,  von  einem  aufdringlichen,  halbgelehrten 
Historismus  freie  Rechtschreibung  schenkt,  während  die  später  gegründete 
portugiesische  Akademie  ganz  im  französischen  Fahrwasser  segelt  und 
eine  historische  Orthographie  adoptiert,  in  welcher  geheimnisvolle  Buch- 
staben wie  Grab.steine  verstorbener  Laute  aufragen. 

Der  neue  Geist  des  gesunden  Utilitarismus  wandte  sich  gegen  die 
alten  spielerischen  Meistersingerakademien.  Man  verlangte  nach  Akade- 
mien, die  nützlicher  Arbeit  gewidmet  wären,  wie  die  gelehrten  Körper- 
schaften des  Auslandes.  Gebildete  Spanier,  die  eifrig  mit  dem  Ausland 
Beziehungen  unterhielten,  erwarteten  von  diesen  neuen  Akademien  {Aca- 
demia de  la  historia,  de  ciencias  etc.)  eine  Verbesserung  der  „gotischen 
Methoden",  in  denen  die  Universitäten  stagnierten.  Naturwissenschaftliche 
und  geschichtliche  Studien  nahmen  einen  großen  Aufschwung.  In  liebevoll 
ausgeführten  Sammelwerken  eines  unermüdlichen  Gelehrtenfleißes  wurden 
die  Denkmäler  der  ruhmreichen  literarischen  Vergangenheit  vereinigt  und 
dargestellt.  Der  alte  Cantar  vom  Cid  wird  zum  erstenmal  gedruckt.  Es 
ist,  als  ob  die  Historiker  angesichts  der  nahenden  Französisierung  des 
Schrifttums  alle  Anstrengungen  machten,  die  nationale  Tradition  in  um  so 
helleres  laicht  zu  setzen.  Und  tatsächlich  ist  denn  in  Spanien  auch  durch 
den  Xeoklassizismus  des  18.  Jahrhunderts  der  Zusammenhang  mit  der  Ver- 
gangenheit nicht  gelöst  worden.  Spanien  hatte  keinen  Dante,  der  es  aus 
klassischen  Fernen  zurückrief;  aber  es  hatte  seinen  Romaticero  und  seine 
Comcdia ,  die  es  literarisch  an  sein  Mittelalter  fesselten. 

Portugal  freilich  entbehrte  dieses  Gewichtes  der  Bodenständigkeit  und 
verfiel    dem    Einfluß    der    französischen    Dichtung    mehr    als    Spanien.     Es 


284  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

blieb  in  den  Spielereien  bukolischer  Akademien  länger  befangen.  Seine 
„Arcadia"  ist  eine  bloße  Kopie  der  italienischen.  Ihre  gegen  den  Seis- 
centismo  und  den  Gallicismo  gerichtete  Reform  blieb  unschöpferisch.  Das 
große  literarische  Ereignis  Portugals  im  18.  Jahrhundert  ist  —  das  Erdbeben 
von  Lissabon  (1755).  Der  Fortschritt  der  Aufklärungsidee  wurde  durch  die 
düsteren  Zeiten  der  fanatischen  Königin  Maria  (seit  1777)  verzögert.  Der 
Rigorismus  dieser  Regierung  unterdrückte  die  Intelligenz  und  zwang  sie 
zur  Auswanderung. 

Brasilien  kopierte  mit  seiner  „Arcadia  Ultramarina"  (1772)  das 
Mutterland,  Seine  Jugend  bezog  die  Universität  Coimbra  und  bildete 
dort  Geist  und  Geschmack.  Aber  bereits  zeigten  einheimische  Poeten 
eigenartige  Bilder  und  Klänge  aus  Leben  und  Landschaft  der  Tropen. 
In  Spanisch-Amerika  aber  regte  sich  noch  nichts.  Die  Verkündigung 
französischer  Ideen  büßte  der  Verfasser  des  „Neuen  Lukian"  (um  1780) 
in  Ecuador  mit  Gefängnis. 
Die  Kauzei-  Dcr    crste    Bourbon,    Philipp,    der   am    Hofe    seines    Großvaters    Lud- 

ere  sam -ei .  ^.^  XIV.  Bossuet  gehört  hatte  und  von  Fenelon  gebildet  war,  mußte 
von  der  zugleich  schwülstigen  und  burlesken  Art  der  spanischen  Kanzel- 
redner verletzt  sein.  So  hatte  man  wohl  in  Frankreich  zur  Zeit  seines 
Urgroßvaters  gepredigt.  An  dieses  Königs  Philipp  Maßnahmen  schließt  sich 
jene  Reformbewegung,  die  dann  in  dem  Jesuitenpater  Isla  den  siegreichen 
Wortführer  fand.  Dessen  „Historia  del  famoso  predicador  Fray  Gerun- 
dio"  (1758)  erzählt  mit  unübertrefflicher  Komik,  wie  ein  wortgewandter 
Bauemjunge,  von  geistlichen  Lehrern  in  trostlosen  Methoden  gedrillt,  zu 
einem  Gecken  der  Kanzel  wird.  In  Frankreich  war  mit  Buch  und  Bühne 
gegen  das  unwürdige  Spiel  mit  dem  heiligen  Wort  gekämpft  worden. 
In  Italien  schwang  eben  Baretti  seine  „Geißel"  über  diesen  Unfug.  Aber 
nur  in  Spanien,  wo  der  Unfug  am  grellsten  war,  fand  sich  der  Künstler 
der  aus  Phantasie  und  Wirklichkeit  ein  Lebensbild  schuf.  Die  „Precieuses 
ridicules"  und  der  „Fray  Gerundio"  sind  die  Denkmäler  der  Preziosität 
des  eleganten  Frankreich  und  des  kirchlichen  Spanien.  „Fray  Gerundio" 
entfesselte  einen  Sturm.  Die  Inquisition  verbot  jede  weitere  Äußerung, 
und  die  Mode  wandte  sich  vom  geistlichen  Gongorismus  ab. 
Die  dramatische  Dcn    erstcu    Versuchcu,    regelrechte    Tragödien    zur    Aufführung    zu 

IC  tung  bringen,  leistete  die  nationale  comedia  erfolgreichen  Widerstand.  Zwar 
hatten  Lope  und  Calderön  keine  ebenbürtigen  Nachfolger  mehr.  Kunst- 
werke entstanden  nicht  mehr;  aber  treffliche  Schauspieler  unterhielten 
eine  lebenskräftige  Bühnentradition.  Es  wurden  für  die  co?nedia  eigent- 
liche Schauspielhäuser  errichtet,  während  bisher  in  offenen  Höfen  [corrales) 
gespielt  worden  war. 

Jene  ersten  Versuche  gingen  aus  dem  Kreise  Luzäns  hervor,  dessen 
„Poetica"  1737  erschienen  war.  Luzän  war  in  Italien  gebildet  und  ein 
Schüler  der  Arcadia.  Er  nimmt  die  Stellung  der  Italiener  ein:  er  pole- 
misiert   theoretisch    gegen    den    französischen  Klassizismus    und  unterwirft 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     II.  .Spanien  u.  Portugal  im  i8.  Jahrhundert.      28s 

.sich  praktisch  —  wie  Gravina  —  „den  Regeln,  die  bei  den  gebildeten 
Völkern  in  Kraft  sind"  und  denen  ja  die  vielbewunderten  Lope  und 
Calderön  nicht  genügten.  Andere  griffen  auf  Boileau.s,  Huets,  Desmarais' 
Lehren  zurück.  Das  Auftreten  dieser  Schule  Luzäns  hat  viel  Ähnlichkeit 
mit  den  dramaturgischen  Bemühungen  der  französischen  Plejade:  ihre 
Trauer-  und  Lustspiele  —  Schöpfungen,  Nachahmungen,  Adaptionen, 
Übersetzungen  —  blieben  lange  Zeit  Buchdramatik,  da  ihnen  (vor  1770) 
keine  öffentliche  Bühne  zur  Verfügung  stand.  Ihr  Auftreten  ist  mit  Aus- 
fallen gegen  die  heimatliche  Kunst  verbunden  und  ist  von  der  Unter- 
drückung des  alten  religiösen  Dramas  {Ai//o  sacramcntal)  begleitet  (1765). 
An  dieser  Unterdrückung  hatte  übrigens  der  später  durch  Beaumarchais 
bekannt  gewordene  Clavijo  besonderen  Anteil:  seit  Jahren  bekämpfte  er, 
ein  Mann  ganz  französischer  Bildung,  in  seiner  periodischen  Publikation 
„El  Pensador"  aus  kirchlichen  und  künstlerischen  Gründen  diese  Spiele, 
die  dazu  beitrügen,  „die  Spanier  bei  den  anderen  Völkern  in  den  Ruf 
von  Barbaren"  zu  bringen. 

Der  Weg,  der  über  das  sentimentale  Lustspiel  zum  bürgerlichen 
Drama  führt,  mußte  auch  den  lehrhaften  Spaniern  sympathisch  sein. 
Luzän  übersetzt  aus  La  Chaussee;  Jovellanos  schreibt  im  Geiste  Diderots 
und  Sedaines  den  pathetischen  „Delincuente  honrado"  (1784),  der  tränen- 
und  erfolgreich  über  die  Bühnen  Europas  zog.  So  wird  das  Theater  der 
„Afrancesados",  freilich  unter  heftigen  Kämpfen,  zu  einer  Macht,  obwohl 
es  weder  in  Spanien  noch  in  Portugal  zu  großen  Leistungen  kam.  Wenn 
es  der  alten  comedia^  die  allmählich  verwildert  war,  Abbruch  tat,  so  ver- 
schwand diese  doch  nicht  von  der  Bühne.  Ihre  freie,  bieg-  und  schmieg- 
same Form  setzte  sie  in  den  Stand,  aller  Schau-  und  Hörlust  zu  dienen, 
Trauerspiel,  Spektakelstück  und  Posse  zu  sein  und  eine  Revue  über  alles 
irdische  Geschehen  abzuhalten.  „Wilhelm  Teil",  „Katharina  zu  Kronstadt", 
„Friedrich  IL  zu  Torgau"  gingen  um  1780  über  die  Madrider  Bühne. 
Moratln  hat  in  seiner  „Comedia  nueva"  von  1702  über  diese  billige  Morat.n. 
Dramatik,  die  ihr  Kleid  aus  französischen  Flicken  zusammenstückte,  die 
Fülle  seines  geistreichen  Witzes  ausgegossen. 

Das  Beste,  was  die  „Afrancesados"  der  Bühne  geschenkt  haben,  sind 
die  Lustspiele  dieses  jüngeren  Moratln  (1760 — 1828).  Er  begegnet  sich 
mit  Goldoni,  den  er  in  Paris  kennen  lernt,  in  der  Nachahmung  Molieres. 
Er  übersetzt  die  „Männerschule"  und  bearbeitet  mehrfach  ihr  Thema  des 
„alten  Freiers".  Kr  sucht  sich  dem  Zuschnitt  der  fremden  Vorbilder  auch 
formell  zu  nähern,  indem  er  die  traditionelle  strophische  Rede  entweder  durch 
Romanzenvers  oder  durch  Prosa  ersetzt.  Aus  der  anmutvollen  Eleganz 
seines  Dialoges  und  der  ZierUchkeit  seiner  Charakterführung  .spricht  der 
Geist  Marivaux'.  Moratin  ist  in  seinen  Theorien  starr;  er  beurteilt  Shake- 
speare auf  den  Spuren  der  französischen  Kritik.  Aber  in  der  Ausfuh- 
rung verleugnet  er  den  Spanier  nicht.  Er  ist  kräftiger,  würziger  als 
Goldoni. 


2  86  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Damals  beherrschte  Mohere  die  Lustspieldichtung  des  germanischen 
und  romanischen  Abendlandes.  Nur  in  Spanien  blieb  es  bei  wenigen 
Adaptationen  und  sporadischen  Übersetzungen  Molierescher  Stücke,  wie 
ja  andererseits  auch  Europa  von  der  reichen  Blüte  des  spanischen  Theaters 
nichts  übersetzt  hat.  Spanien  empfand  den  „klassischen"  Moliere  als  zu 
fremdartig.  Eigentliche  Freizügigkeit  zwischen  der  spanischen  Bühne  und 
den  Bühnen  der  anderen  Länder  hat  erst  die  nivellierende  Neuzeit  gebracht. 

Über  der  Kunst  der  „Afrancesados"  versiegte  indessen  die  alte  Tra- 
dition der  Posse  nicht,  die  im  17.  Jahrhundert  so  kräftig  gediehen  war. 
Ihre,  trotz  Benavente,  zumeist  rohe  und  unkünstlerische  Form  fand  in 
Ramön  Ramöu  de  la  Cruz  (f  1794)  einen  sorg^losen  aber  kraftvollen  Meister, 
de  la  Cruz.  ^^^  besonders  das  Sittenbild  aus  dem  Alltagsleben  der  Hauptstadt,  den 
Sainetc,  mit  unübertrefflicher  Lebensfrische  gestaltete.  Was  im  Bürger- 
haus, an  der  Puerta  del  Sol,  im  Prado,  in  der  Kneipe,  was  unter  Stier- 
fechtern, Maultiertreibern,  Hökerinnen  vor  sich  geht,  das  läßt  er  uns  an 
unvergeßlichen  Figuren  erleben.  Der  Gassenhauer  klingt  auch  in  seine 
Verse  hinein,  durchsetzt  den  Sainete  und  macht  ihn  zum  Singspiel,  zur 
Zarzuela.  Neben  der  klassizistischen  Kunst,  die  er  verspottet,  wächst 
Cruz  aus  dem  Boden  Madrids  hervor  wie  Goya.  Beide  verstehen  zu 
malen  zu  einer  Zeit,  da  es  in  Europa  kaum  mehr  Koloristen  gab.  Cruz' 
Werk  ist  überreich.  Mit  Hunderten  von  Sainetes  hat  er  während  dreißig 
Jahren  sein  Land  ergötzt.  Frankreich  hat  nichts  Ebenbürtiges  aufzuweisen; 
aber  Cruz  hat  augenscheinlich  von  französischen  Possen  und  Vaudevilles 
einen  gewissen  gallischen  Zuschnitt  gelernt.  Doch  bleibt  er  spanisches 
Vollblut.  Sein  oft  herber  Humor  schreibt  nieder,  wie  er  sagt,  „was  die 
Wahrheit  diktiert".  Es  ist  die  spezifisch  spanische  Art  des  „Verismus", 
dessen  Vorfahren  das  „Libro  de  buen  amor"  und  die  „Celestina"  sind. 

Wenn  Sainete  und  Zarzuela  noch  heute  die  spanische  Bühne  be- 
herrschen, so  hat  den  Grund  zu  dieser  soliden  Herrschaft  Ramön  de  la 
Cruz  gelegt. 

Die  Verhältnisse  des  spanischen  und  italienischen  Theaters  werden 
durch  die  hier  genannten  Meister  der  komischen  Bühne  trefflich  illustriert: 
dem  einen  Goldoni,  der  sowohl  regelhafte  Lustspiele  als  heimische  Possen 
schreibt,  stehen  hier  zwei  Dramatiker  gegenüber,  Moratin  und  Cruz,  die 
sich  in  das  Feld  teilen  und  von  denen  jeder  mehr  heimatliche  Eigenart  be- 
wahrt hat  als  der  Italiener.  Das  spanische  Theater  ist  mannigfaltiger 
und  kräftiger. 

Die  Oper  ist  in  Madrid  und  Lissabon  italienischen  Geistes.    Ihre  Hof- 
kunst ist  von  Metastasio  beherrscht. 
Die  Fabel.  Dem    lehrhaften    Zeitgeiste    entspricht    die    Vorliebe    für    die    Fabel. 

Lafontaines  Kunst  wird  in  feiner,  glücklicher  Nachahmung  in  den  Dienst 
der  moralischen  oder  literarischen  Unterweisung  gestellt.  So  kleidet 
Iriarte  (f  1797)  „las  reglas  del  arte"  in  die  Lehren  hübsch  erzählter 
Tiermärchen.     Wenn    er   auch   ein   „Afrancesado"    ist,    so    klagt  er   doch 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.    II.  Spanien  u.  Portugal  im  i8.  Jahrhundert,      287 

über  die  Vernachlü.ssigfung  der  heimatlichen  Dichtung:  mancher  Spanier 
könne  fünfhundert  Verse  aus  Tasso  oder  lioileau  hersagen,  wis.se  aber 
nicht  einmal,  in  welcher  Sprache  Garcilaso  gedichtet  habe.  Und  gerade 
mit  Iriartes  Fabeln  erwarb  diese  heimatliche  Dichtung  neuen  Ruhm,  auch 
in  Frankreich,  wo  Florian  nach  ihrem  Vorbild  griff. 

In  der  Lyrik  herrscht  bis  1760  das  bukolische  und  anakreontische  u«  Lyrik. 
Tändeln,  das  Spanien  von  Italien  übernommen  und  seit  dem  16.  Jahr- 
hundert nach  seiner  Eigenart  ausgestaltet  hatte.  Dann  aber  führt  Frank- 
reich auch  den  Liederdichtem  neue  Stimmungen  und  Ideen  /u.  J.  M elend ez 
X'aldes  (1754  —  1H17)  ist  ihr  Größter  und  ein  wahrer  Poet.  Seine  Harfe 
erklingt  erst  unter  dem  Hauche  des  arkadischen  Zephyrs  und  dann  unter 
dem  Wehen  des  französischen  Nordwindes,  bald  zart  und  schmeichelnd, 
bald  kräftiger,  aber  immer  harmonisch,  auch  in  der  „Grandilocuencia", 
und  von  liebUcher  Bildlichkeit  Es  sind  ihm  Lieder  von  außerordentlicher 
Schönheit  gelungen.  Aber  dieser  große  Künstler  ist  ein  kleiner,  haltloser 
Mensch.  Er  ist  ein  Echo  der  Gedanken  anderer.  Mel^ndez  gehört  jener 
führenden  Dichtergruppe  an,  die  sich  nach  Salamanca  benennt.  Sie  zeigt  Die  saiiBaaaa«r. 
die  starke  klassizistische  Färbung  der  Zeit  und  pflegt  neben  Reim  und 
Assonanz  (Romanzen)  den  reimlosen  Vers. 

Cadalso  und  Jovellanos  sind  die  intellektuellen  Leiter  dieser  Sal- 
mantiner  Schule.  Jovellanos  (f  181 1)  ist  der  Repräsentant  des  spanischen 
Liberalismus,  der  moderne  Mann  jener  Zeit,  der  Frankreich  liebt,  aber 
Rousseau  und  die  Revolution  ablehnt  Politische,  soziale,  literarische 
Reform  predigt  er  in  Wort  und  Schrift,  in  gereimter  und  freier  Prosa, 
mit  Buch  und  Bühne.  Cadalso,  auf  Reisen  gebildet,  verbindet  Liebe  zum 
heimatlichen  Schrifttum  mit  offenem  Sinn  für  das  gute  Fremde.  Youngs 
„Xachtgedanken"  inspirieren  ihn.  Er  schreibt  nach  Montesquieus  „Persischen 
Briefen"  seine  witzigen  „Cartas  marruecas"  (gedr.  1793). 

In  diesem  Maße  geht  im  18.  Jahrhundert  die  literarische  Arbeit  der  Der  EjoAiiä  «le« 
Iberischen  Halbinsel  auf  französischen  Einfluß  zurück,  mag  auch  beim  ■^'"'»'"•» 
einzelnen  der  Erdgeschmack  noch  so  kräftig  sein.  Alle  hier  genannten 
führenden  Schriftsteller  weisen  nach  Frankreich:  Feijoo,  Isla,  Luzän, 
Jovellanos,  Cadalso,  ihre  Tragödien  und  Schauspiele,  das  Lustspiel 
Moratins  wie  die  klassizistische  Lyrik  der  Sidniantiner  und  der  Sainetc 
des  Cruz.  Auch  was  aus  England  und  Deutschland  herüberdringt,  kommt 
zumeist  über  Frankreich;  die  literarischen  Journale  berichten  über  das 
germanische  Ausland  nach  französischen  Blättern.  Dabei  steht  England 
im  Vordergrund.  Schon  Luzän  kennt  zwar  Milton  und  Pope,  aber  keinen 
Deutschen;  Moratin  und  Melendez  studieren  englische  Vorbilder,  und 
Jovellanos  schreibt  eine  englische  Elementargrammatik.  Ossian  findet 
seinen  Weg  über  Italien:  Montegön  überträgt  ilm  1795  nach  Cesarotti. 
Um  ihn  aber  auf  die  Bühne  zu  bringen,  übersetzt  Gallego  dtis  Stück 
Arnaults,  „Oscar,  fils  d'Ossian".  Auch  Grays  „Dorfkirchhof"  (Cemcntcrio 
de  aUüä)    fehlt    nicht     Deutschland    steht    stark   zurück,      Geßner   führt  es 


288  Heinrich  Morf;  Die  romanischen  Literaturen. 

an.     Lessing,  Goethe,  Schiller  sind  kaum  dem  Namen  nach  bekannt.    Das 
deutsche    Theater    ist    durch    den    vertreten,    den    die    Spanier    Kot-bue 
(Kotzebue)  nennen. 
Quintana.  Zur    Scliulc    von    Salamanca    gehört    auch    Quintana    (1772 — 1857), 

dessen  klangvolle  Stimme  über  dem  in  schweren  Freiheitskämpfen  sich 
mühenden  Lande  erschallt  wie  in  Italien  die  Stimme  Montis.  Aber  wenn 
Quintana  ebenso  beredt  ist  wie  Monti,  so  ist  er  ihm  an  Patriotismus  und 
Hochsinn  überlegen.  Mit  einer  Begeisterung,  die  jeder  Enttäuschung 
standhält,  singt  er  seiner  eroica  Espaha  das  Lied  von  Fortschritt  und 
Freiheit.  So  ist  dieser  Herold  am  Tor  des  ig.  Jahrhunderts  seinem  Lande 
viel  mehr  gewesen  und  geblieben   als   der  Rhetor  Monti  für  Italien. 

Wie  hatten  die  Zeiten  sich  geändert!  Um  1650  herrschte  in  der 
Romania  die  Sprache  der  spanischen  Weltmacht:  Spanisch  erklang  als 
Echo  einer  glänzenden  Literatur  und  im  Gefolge  der  Diplomatie  und  der 
Waffen  in  Italien  und  Frankreich.  Hundertfünfzig  Jahre  später  steht  die 
selbe  Romania  unter  der  geistigen,  sprachlichen  und  politischen  Hege- 
monie Frankreichs,  einer  Hegemonie,  die,  auch  literarisch,  eine  merk- 
würdige Mischung  von  Freiheit  und  Zwang  darstellt.  Dabei  waren  es  in 
den  beiden  Ländern  Italien  und  Spanien  die  nördlichen  Gebiete,  denen  in 
dieser  Wandlung  die  führende  Rolle  zufiel. 

III.  Rätien  und  Rumänien.  Die  literarische  Geschichte  dieser 
beiden  ostromanischen  Gebiete  zeigt  bei  großer  Verschiedenheit  doch 
manche  Parallele.  Das  romanische  Sprachtum  der  Ostalpen  (Rätisch)  und 
das  romanische  Sprachtum,  das  um  die  Karpathen  sich  lagert  (Rumänisch), 
sind  beide  exponierte  Gebiete,  Vorposten  der  Romania,  der  eine  gegen 
das  Deutsche  hin,  der  andere  mitten  in  slawischem  Lande.  Diese  beiden 
mächtigen  Kultursprachen  mächtiger  Nachbarn  hielten  die  schriftliche 
Fixierung  und  Verwendung  der  beiden  romanischen  Idiome  hintan.  „Die 
Rhetijsch  Sprach  ist  nit  gericht,  das  man  die  schryben  könne,  denn  all 
brief  und  geschrifften  in  jrm  lande  sind  von  alter  har  in  Latin  und  yetz 
mehrteils  zu  tütsch  gestelt",  sagt  Tschudi  noch  1538. 

Die  Reformation,  die  von  der  deutschen  Schweiz  nach  Graubünden 
und  von  den  siebenbürgischen  Sachsen  zu  den  Rumänen  dringt  —  diese 
germanische  Botschaft  weckt  die  schlummernden  romanischen  Idiome 
und  spricht  ihnen  Worte  vor,  die  sie  stammelnd  wiederholen.  Im  nämlichen 
Jahrzehnt  (1550^ — 1560)  erscheinen  die  ersten  gedruckten  rätischen  und 
rumänischen  Bücher:  Katechismen  und  Bibelübersetzungen,  hier  nach 
deutscher,  dort  nach  slawischer  Vorlage,  die  sie  in  Wortwahl  und 
Satzbau  reichlich  verraten.  Ein  dürftiges  geistliches  Schrifttum  rankt  sich 
während  Jahrzehnten  an  der  Kirche  empor.  Aus  Frankreich  klingt 
dabei  ein  kalvinistischer  Ton  hinein,  während  Rom  sich  anstrengt,  nicht  nur 
die  Fortschritte  der  Reformation  zu  hemmen,  sondern  auch  den  Weg  zu  einer 
Verständigung  mit  den  griechisch-orthodoxen  Rumänen  zu  finden  (Union). 


E.  Die  ubri^je  Romania  bis  zur  Romantik.     III.  Rätien  und  Rumänien.  289 

Aus  solchen  Anfangen  hat  das  rumänische  Sprachgebiet  mit  seinen 
87,  Millionen  Bewohnern  schließlich  ein  ansehnliches,  wenn  auch  nicht 
sehr  originelles  Schrifttum  entwickelt,  das  heute  von  einem  starken,  wirt- 
schaftlich aufblühenden  Staate  getragen  wird,  während  das  kleine  Rätien 
mit  der  sprachlichen  auch  seine  bescheidene  literarische  Eigenart  zu  ver- 
lieren im  Begriffe  steht:  Graubünden  und  die  rätischen  Täler  Tirols 
werden  in  absehbarer  Zeit  germanisiert  sein. 

Die  bescheidene  rätische  Literatur  beruht  wesentlich  auf  Grau-  Kibm 
bünden  mit  seinen  etwa  40  000  Romanen.  Die  1 1  000  Räten  Tirols 
kommen  nicht  in  Betracht,  und  die  halbe  Million  Räten  Friauls  gravi- 
tierten von  jeher  zu  sehr  nach  dem  Venedischen  und  der  toskanischen 
Schriftsprache,  als  daß  ihr  Idiom  literarisch  nicht  den  Charakter  einer 
bloßen  Mundart  trüge. 

Das  Volkslied  erschallt  natürlich  über  das  ganze  Gebiet  hin,  am 
reichsten,  soviel  wir  heute  wissen,  in  den  Tälern  des  Rheins  und  des  Inn. 
Alte  Romanzen  verwitterter  metrischer  Gestalt  singen  von  Liebe  und 
Sterben,  von  den  Geheimnissen  und  den  Gefahren  der  Berge,  vom  armen 
Jungen,  der  ein  Königreich  gewinnt,  von  Tierhochzeit,  von  „Malmariees". 
Das  „Verwandlungslied"  der  Magali,  das  Mistral  in  der  Provence  ge- 
funden, ertönt  auch  in  Rätien  und  Rumänien. 

Kräftige  politische  und  historische  Lieder  begleiteten  die  bewegte 
Geschichte  der  „drei  Bünde",  die  mit  dem  Siege  an  der  Kalven  (1499)  in 
die  europäische  Geschichte  glorreich  eingetreten  waren,  begrüßt  von  dem 
stolzen  Epos  „Raeteis"  des  Humanisten  Lemnius.  Die  deutsche  Refor- 
mation und  die  italienische  Gegenreformation  machen  sich  die  blühenden 
Gemeinden  streitig;  doch  hatten  die  italienischen  Kapuziner  im  Engadin 
weniger  Erfolg  als  im  Rheintal.  Die  Bünde  strecken  ihre  gewappnete 
Hand  nach  dem  Veltlin  aus.  Ihre  Politik  und  die  Wichtigkeit  der  Alpen- 
übergänge zieht  sie  in  die  endlosen  Kriege  der  Großmächte  hinein,  auf 
deren  Hintergrund  die  inneren  Kämpfe  zwischen  Konfessionen,  Ge- 
schlechtern und  Talschaften  sich  abspielen.  Sirventese  fliegen  hin  und 
her.  Dem  tragisch  untergegangenen  Jürg  Jenatsch  ruft  ein  solches  Rüge- 
lied 1638  bösen  Spott  nach.  Eine  andere  svargugnusa  chanzun  (schänd- 
liches Lied)  drückte  schon  hundert  Jahre  zuvor  dem  tapferen  Engadiner 
Travers  die  Feder  in  die  Hand,  daß  er  in  einer  kunstlosen  Reimchronik 
den  „Müsserkrieg"  erzähle.  Er  hatte  selbst  am  Zug  gegen  den  mailän- 
dischen  Schloßherrn  von  Musso  am  Comersee  (15 17)  teilgenommen  und 
wollte  die  Wahrheit  über  die  vird'it  dals  Griscliuns,  die  sco  liutis  (wie 
Löwen)  gekämpft  hatten  und  deren  Gesandten  nur  dem  Verrat  erlegen 
waren,  verkünden.  Diese  Reime  „dalla  guerra  dalg  Chiast^  d'Müsch" 
sollen  der  älteste  Versuch  sein,  das  Rätische  schriftmäßig  aufzuzeichnen. 
Zahlreiche  Lieder  beschäftigten  sich  mit  dem  Leben  des  Söldners.  Der 
Sohn  der  Berge,  der  im  Ausland  diente,  brachte  neben  viel  Unsitte  auch 
manches   Buch,   manche  literarische  Anregung  mit  nach  Haus.     Die    fran- 

DU    KutTU»    DM    GbOIHWART.      L  11.    I.  ig 


290  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

zösische  Revolution  warf  ihre  Wellen  auch  in  diese  Täler;  aber  die 
Stimmungen,  die  sie  weckte  und  die  in  kecken  Liedern  zum  Ausbruch 
kamen,  schwanden,  und  181 5  stellte  die  alte  Ordnung  in  dem  konser- 
vativen Lande  wieder  her. 

Die  religiöse  Bewegung  schuf  zahllose  Kirchenlieder,  zum  Teil  ein- 
fache Umbildungen  von  Volksliedern,  wie  allerwärts.  Es  ist  viel  Schönes 
darunter,  vom  „Ver  sulaz  da  pievel  giuvan"  (Jungen  Volkes  wahre  Er- 
götzung, 161 2)  des  Prädikanten  Gabriel  bis  zur  „Consolaziun  dell'  olma 
devoziusa",  dem  alten  katholischen  Erbauungsbuch.  Das  protestantische 
Kirchenlied  ist  vom  deutschen  inspiriert.  Gabriel  hat  Luthers  „Ein  feste 
Burg"  schön  übertragen: 

Ün  ferm  casti  igl  niess  Dens  ei 
Agid  ad  er  fortezchia  .  .  . 
Die  Volksbücher,  Chroniken,  Reisebeschreibungen  zeigen  natürlich 
wenig  Eigenart.  Von  mittelalterlicher  Dramatik  hat  sich  im  katholischen 
Oberland  eine  doppelte  Spur  erhalten:  in  Passionsspielen  und  in  dem 
dramatischen  Scherzgericht  {Dertgira  nauschd),  in  welchem  über  den  Streit 
zwischen  Frau  Fasten  imd  Junker  Fasching  verhandelt  wird  —  ein  altes 
und  weitverbreitetes  Thema.  Die  Reformation  hatte,  wie  anderswo,  ein 
propagandistisches  Theater  im  Gefolge,  dessen  Stücke  aus  schweizer- 
deutschen Drucken  entlehnt  waren.  Die  Weltlust,  die  sich  mit  diesem 
Spiel  verband  und  die  auch  zu  profanen  Stoffen  griff,  verdrängte  bald 
das  dann  auch  von  der  Kirche  mißbilligte  konfessionelle  Theater. 

Diese  ganze  Literatur,  auf  welche  die  deutsche  Schweiz  viel  nach- 
drücklicher eingewirkt  hat  als  der  italienische  Nachbar  und  die  Romania 
überhaupt,  ist  nach  den  Talschaften  stark  mundartlich  gefärbt.  Es  fehlte 
ihr  der  große  Schriftsteller  und  das  hervorragende  Kunstwerk,  welche 
die  zentrifugalen  Kräfte  des  kleinen  Schrifttums  überwunden  und  die 
Männer  der  Feder  vom  Gotthard  bis  zum  Ortler  in  den  Bann  einer  ein- 
heitlichen Schriftsprache  gezwungen  hätten. 
Rumänien.  Staatliche    Einigung     und     Selbständigkeit     war     dem     rumänischen 

Sprachgebiet  ebensowenig  wie  dem  rätischen  gegeben.  Die  Signatur 
seiner  Geschichte  ist  Fremdherrschaft,  und  zwar  eine  Fremdherrschaft 
orientalischen  Charakters.  Zur  Zeit,  da  es  in  die  Literatur  eintrat, 
gehörten  Moldau,  Walachei  und  Siebenbürgen  mit  Ungarn  zum  Osmanen- 
reich.  Die  Türken  hatten  sich  über  die  Balkanhalbinsel  ergossen 
wie  einst  die  Araber  über  die  iberische.  Um  1700  begann  die  Rück- 
bildung dieses  Reiches:  Siebenbürgen  fiel  mit  Ungarn  an  Österreich. 
Walachei  und  Moldau  wurden  von  Stambul  aus  durch  Griechen  verwaltet, 
d.  h.  gebrandschatzt.  Der  Bojar  lernte  die  Sprache  dieses  griechischen 
Landvogts,  den  er  deshalb  nicht  weniger  haßte.  Rumänisch  war  die 
Sprache  des  geknechteten  Bauern.  Die  französische  Revolution  und  die 
Kriege  Napoleons  brachten  der  Balkanhalbinsel  wohl  Unruhe,  neue  Ideen, 
persönliche  Beziehungen,  den  Freiheitsruf  des  Dichters  —  aber  keine  Um- 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     III.  Rätien  und  Rumänien  2QI 

wälzung-.  Am  Aufstand  der  Griechen  gegen  die  Türkei  (i8ji)  nahmen 
die  Fürstentümer  teil,  um  sowohl  von  den  türkischen  Herren,  als  von  den 
griechischen  Hospodaren  loszukommen.  Die  verhaßte  hundertjährige 
Fanariotenherrschaft  nahm  denn  auch  ein  Ende.  Aber  bis  zur  Erreichung 
wirklicher  Selbständigkeit  sollten  noch  Jahrzehnte  vergehen,  und  das 
Königreich  Rumänien  vereinigt  noch  heute  nicht  einmal  zwei  Drittel  aller 
rumänisch  Redenden. 

Die  rumänische  Kultur  ist  nach  alledem  wesentlich  orientalisch.  Sie 
erscheint  als  eine  Ausstrahlung  slawischer  Kultur,  mit  einem  starken 
griechischen  Einschlag.  Das  Slawentum  hält  die  rumänische  Erde  um- 
klammert als  einen  Bestandteil  jener  großen  Kultureinheit,  „deren  histo- 
risches Fundament  das  einstige  byzantinische  Reich  und  deren  Kitt  das 
orthodoxe  Bekenntnis  bildet". 

Von  den  Slawen  her  kam  das  Christentum  und  die  Kirchensprache, 
und  noch  lange  nachdem  die  schriftsprachliche  Herrschaft  des  Slawischen 
gebrochen  war,  bediente  man  sich  seines  Alphabets,  um  das  Griechische 
und  dann  —  auch  die  rumänische  Muttersprache  zu  schreiben.  Es  gibt 
liturgische  Werke,  deren  griechischer  Text  und  deren  rumänische 
Übersichtstitel   in  gleicher  Weise   mit  slawischen  Lettern  gedruckt  sind. 

In  der  reichen  rumänischen  Volkspoesie  finden  sich  Themata,  die 
unter  den  Völkern  weit  über  die  Romania  hinaus  verbreitet  sind.  Die 
Sitte  der  Weihnachts-  und  Neujahrsumzüge,  die  wir  in  Frankreich  schon 
vor  600  Jahren  bezeugt  finden  {qiicrre  noel\  hat  auch  in  Rumänien 
religiöse  Bittlieder  (Balladen)  gezeitigt  {colindc  =  \2X^\x\.  calcndac),  die,  von 
Geistlichen  verfaßt,  nun  im  Munde  gabensammelnder  Kinder  umgehen. 
Die  weltliche  Lyrik  weist  mit  ihrem  schönsten  Bestände  nach  den  Slawen 
oder  Griechen.  Oft  ist  sie  geradezu  slawisches  Gut  in  romanischem  Sprach- 
kleid, wie  so  viele  prächtige  Balladen  und  Romanzen  der  fahrenden 
Sänger  {läutari).  Das  Lied  von  Manoli,  der  beim  Bau  des  Klosters 
Argesch  sein  Weib  lebendig  einmauert,  ist  griechischer  Herkunft,  wie  die 
Lieder  von  Hero  und  Leander.  Der  Zyklus  von  der  Sippe  Xovac  mit  dem 
reckenhaften  Gruia,  ob  dessen  Stimme  die  Berge  erzittern  und  dessen 
Schnurrbart  so  mächtig  ist,  daß  er  ihn  hinter  dem  Kopf  in  einen  faust- 
großen Knoten  schlingt,  stammt  aus  Serbien;  anderes  aus  Rußland.  Der 
Tanz  (//(^/-^z  <  xöpoq) ,  zu  dem  muntere  Schnaderhüpfel  improvisiert  werden, 
die  Melodie,  zu  welcher  das  sehnsuchtsvolle,  schwermütige  Liebeslied  {doind) 
gesungen  wird  —  Doinä,  doinäy  cintec  dulcc!  — ,  tragen  den  Stempel  der 
Kultur,  die  allen  Völkern  der  Balkanhalbinsel  gemeinsam  ist.  Das  Räuber- 
lied des  Outlaw  (Haidukem  klingt,  klagend  oder  übermütig,  durch  die 
ganze  Halbinsel.  Die  Figur  des  Renegaten,  der  Türke  geworden,  be- 
schäftigt die  Dichtung  südlich  und  nördlich  der  Donau. 

Aber  wenn  es  auch  auf  diesen  großen  Chor  eingestimmt  ist,  so  hat 
doch  das  liederreiche  rumänische  Land  vieles  eigenartig  geprägt  —  und 
unermüdlich    fährt    es    darin    fort  —   vom    Liebes-    und    Heimwehlied    bis 

19» 


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92 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


zum  Geschichtslied,  dem  Ausgangspunkt  späterer  Romanzen.  Es  hat  in 
seinen  historischen  Liedern  auch  seinem  Haß  gegen  die  Unterdrücker, 
gegen  Türken,  Ungarn,  Griechen  ein  eindrucksvolles  Denkmal  gesetzt. 

Lebendig  aber  quillt  der  Born  der  Volkspoesie  gegenwärtig  nur 
noch  im  großen  dakorumänischen  Kernland.  In  den  Sprachinseln  der 
Aromunen  (Makedonien),  der  Megleniten  und  in  Istrien  ist  das  Volkslied 
im  Verstummen  oder  schon  verstummt. 

Der  Mühe,  neben  Schwänken  und  anderer  „Weisheit  der  Gasse"  auch 
Volkslieder  aufzuzeichnen,  hat  sich  zum  erstenmal  der  Kantor  und 
Kalendermann  A.  Pann  (f  1844)  unterzogen.  Die  Kalender,  „Spinn- 
stuben" usw.,  in  denen  der  Unermüdliche  sammelte  und  auch  reimte,  was 
das  Volk  sich  erzählt,  zuruft  und  zusingt,  haben  zur  Erweckung  dieses 
Volkes  in  ähnlicher  Weise  beigetragen,  wie  der  Armand  prouvengau  in 
Südfrankreich.  Pann  ist  der  Roumanille  seines  Volkes,  und  er  ließ  sich 
nicht  träumen,  daß  ein  halbes  Jahrhundert  später  die  Königin  des  Landes 
sich  nach  den  nämlichen  Liedern  bücken  würde,  um  sie  in  kunstvollen 
deutschen  Übertragungen  den  westlichen  Literaturen  zuzuführen.  Dafür 
dringt  auch  von  der  Volksliteratur  des  Westens  noch  in  neuerer  Zeit 
manches  hinüber,  von  der  Genovevalegende  bis  zu  den  Schwänken  des 
Till  Eulenspiegel. 

Man  weiß,  wie  groß  der  Anteil  des  Orients  an  den  Volksbüchern  des 
Abendlandes  ist.  Der  Alexander-  und  der  Trojaroman,  Barlaam  und 
Josaphat,  die  sieben  weisen  Meister,  die  apokryphen  Evangelien  und 
Legenden  aller  Art  haben  sich  vom  Orient  über  den  ganzen  Westen  aus- 
gebreitet. Auch  Rumänien  besitzt  sie,  oft  auf  griechischer  Grundlage  und 
meist  durch  slawische  Vermittelung.  Der  „Alexander"  ist  das  beliebteste 
Volksbuch  des  Landes. 

Nur  ganz  allmählich  trat  seit  1650  das  Slawische  aus  seiner  Stellung 
als  Literatur- (Kirchen-)  Sprache  zurück.  Das  Rumänische  drang  mit 
Kapitelüberschriften  und  mehr  populären  Teilen,  wie  Psalmen  und  Be- 
gräbnisformeln, in  das  Ritual  ein  und  teilte  in  der  Liturgie  noch  lange 
seinen  bescheidenen  Platz  mit  dem  Griechischen. 
Der  römische  Seit   1660  begegnen  wir  rumänischen  Chroniken.    Die  Moldau  als  der 

Nationalgedanke.  gg)3ii(jgtgj-e  Landcsteil  erscheint  dabei  führend.  Schon  diese  ältesten 
Historiker  vertreten  nachdrücklich,  oft  leidenschaftlich  und  mit  Hilfe 
phantastischer  Etymologien,  die  Auffassung,  daß  die  Rumänen  Abkömm- 
linge der  dakischen  Römer,  daß  sie  die  Römer  des  Ostens  seien.  Dieser 
römische  Nationalgedanke  wurde  besonders  durch  die  von  Rom  aus  geleitete 
Bewegung  der  Gegenreformation  in  Siebenbürgen  genährt.  Er  trat  so  in 
den  Dienst  katholischer  Propaganda  und  ihrer  unierten  Kirche,  in  der 
lateinisches  Vorbild  und  Alphabet  nun  an  Stelle  des  slawisch -griechischen 
aufgenommen  wurde.  Er  fand  begabte  Historiographen  mit  westlicher 
Bildung,  wie  Schincai  (f  1816).  Er  schuf  nationale  Schulen  mit  mutter- 
sprachlichem   Unterricht.     Das    abseits    liegende    Siebenbürgen    übernahm 


E.  Die  übrige  Romania  bis  zur  Romantik.     III.  Räticn  und  Rumänien.  293 

damit  eine  nationale  Führunjjf,  die  inde.s.sen,  weil  sie  zugleich  einen  kirch- 
lichen Gegensatz  bedeutete  und  nicht  nur  übertrieben  sondern  auch  ein- 
seitig war,  viel  Unfrieden  im  Gefolge  hatte. 

Mit  der  Annahme  des  lateinischen  Alphabets  wurde  unter  der 
Führung  von  P.  Maior  (f  1824)  die  Neigung  herrschend,  den  lateinischen 
Charakter  des  Rumänischen  durch  eine  angebliche  historische  Orthographie 
zu  bekunden.  Diese  „nationale"  Schreibung  führte  zur  „Säuberung"  der 
Grammatik  und  des  Wortschatzes  und  zur  Ersetzung  des  Gewordenen 
durch  gewalttätige  Latinismen.  Es  sollten  gleichsam  die  sprachlichen 
Zeugnisse  der  slawischen,  ungarischen,  griechischen  Herrschaft  vertilgt 
und  die  alte  römische  Reinheit  und  Freiheit  wiedergeboren  werden.  Diese 
Renaissancebestrebungen,  die  nicht  aus  künstlerischem  sondern  aus  poli- 
tischem Bedürfnis  flössen  und  von  ungenügender  linguistischer  Einsicht 
begleitet  waren,  richteten  in  den  Köpfen  böse  Verwirrung  an  und 
brachten  auch  der  Literatur  auf  Jahrzehnte  hinaus  Schaden.  Die  \'er- 
treter  dieser  Renaissance  meinten  den  nationalen  Gedanken  zu  fördern, 
indem  sie  die  Entnationalisierung  der  Sprache  lehrten.  Auch  dies  Er- 
lebnis hat  Rumänien  mit  Rätien  gemein. 

Die  Rumänen  haben  im  Laufe  der  Zeit  erfahren  müssen,  daß  es 
nicht  genügt,  sich  „Enkel  der  Welteroberer"  zu  nennen;  daß  die  Tradition 
von  einem  glorreichen  Ursprung  auch  ein  Verhängnis  sein  kann  und  daß 
es  noch  einen  anderen,  werktätigeren  Patriotismus  gibt  als  den  der  un- 
duldsamen geschichtlichen  Phrase. 

Durch   griechische  Übersetzungen    drangen   im   18.  Jahrhundert  Werke  Der  i.tcranK;b< 
der   schönen  Literatur   des  Abendlandes    zu    den   gebildeten  Rumänen  der     ^"^"^  ''** 

^  Weiiem. 

Walachei  und  Moldau.  Dann  trat  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  das 
Französische  als  Modesprache  neben  das  Griechische.  Die  geistige  Ver- 
bindung mit  dem  Westen  wird  enger,  und  zu  der  eintönigen  Nachahmung 
der  tändelnden  griechischen  Poesie  gesellt  sich  seit  1820  die  Übersetzung 
und  Nachahmung  westlicher,  französischer  und  italienischer  Muster,  z.  B. 
durch  J.  Väcärescu,  dem  manch  schönes  Lied  gelang.  Zeitschriften 
werden  gegründet,  welche  die  Kenntnis  westlicher  Kultur  und  Kunst  ver- 
breiteten. 

Von  einem  rumänischen  Theater  älterer  Zeit  ist  nichts  bekannt.  Ein 
bescheidenes  Weihnachtsspiel  (Herodes)  stammt  von  den  Sachsen;  das 
Marionettenspiel  weist  auf  den  türkischen  Karagöz.  Auf  der  Bühne  zu 
Bukarest  wurde  um  1820  Voltaire  und  Alfieri  noch  griechisch  aufgeführt. 
Dann  aber  mehrten  sich  die  rumänischen  Übertragungen  und  Aufführungen. 
Diese  Übungsarbeit  blieb  aber  noch  lange  innerhalb  der  klassischen 
Tragödie  und  Komödie  befangen. 

So  tat  das  Rumänische  der  Fürstentümer  nach  dem  Sturze  der 
P  anariotenherrschaft  die  ersten  zögernden  Schritte  nach  der  höheren 
literarischen  Kunst  der  abendländischen  Romania. 


294 


HEI>fRICH  MORF;  Die  romanischen  Literaturen. 


F.  Das  19.  Jahrhundert. 

Unaufhaltsam  waren  im  Laufe  des  18.  Jahrhunderts  germanische 
Ideen  nach  Frankreich  und  von  dort  in  die  weitere  Romania  ge- 
drungen, erst  aus  England,  dann  nach  1750  auch  aus  Deutschland,  erst 
die  Weltanschauung  überhaupt  umgestaltend,  dann  auch  die  Kunstlehre 
und  Kunstform  beeinflussend. 

Die  kriegerischen  Zeiten  von  1792— 181 5  hemmten  diese  friedliche 
Entwickelung.  Anspruchsvoll  erhob  sich  das  Lateinertum  des  Neoklassi- 
zismus  als  der  künstlerische  Ausdruck  romanischer  Hegemonie  und  des 
Cäsarentums.  Aber  gerade  diese  wilden  Zeiten  führten  romanische 
Emigranten  und  Eroberer  tief  in  deutsches  Land  und  Leben,  und  wenn 
alte  Verbindungskanäle  der  Völker  verödeten  oder  verschüttet  wurden, 
so  wurden  Tausende  von  einzelnen  Beziehungen  geschaffen,  die  aus  an- 
fänglicher Unscheinbarkeit  zu  einer  Macht  erwuchsen.  Die  Dinge  begaben 
sich  wie  zur  Zeit  der  Kreuzzüge,  da  das  Abendland  ausgezogen  war,  um 
den  Orient  zu  unterwerfen:  die  politischen  Eroberungen  gingen  wieder 
verloren,  aber  die  Wechselbeziehungen  der  Völker  übten  dauernde 
Wirkung,  und  über  den  Okzident  ergoß  sich  damals  ein  Strom  morgen- 
ländischer Literatur. 

So  ergießt  sich  nun  nach  181 5  eine  Fülle  deutscher  und  englischer 
Anregungen  über  die  Romania. 

Es  ist  der  charakteristische  Zug  des  19.  Jahrhunderts,  daß  die 
nationalen  Literaturen  in  enge  und  rasche  Wechselbeziehungen  treten 
und  jene  „allgemeine  Weltliteratur"  sich  bildet,  die  Goethe  kommen 
sah.  Es  handelt  sich  nicht  mehr  um  literarische  Herrschaft  der  Romania, 
wie  sie  bis  jetzt  im  Abendland  seit  der  Hohenstaufenzeit,  durch  sechs 
Jahrhunderte  bestanden.  Jetzt  tritt  das  germanische  Europa  der  Romania 
zur  Seite  und  teilt  sich  mit  ihr  in  die  literarische  Führung.  //  faut, 
sagt  Frau  von  Stael  1813,  il  faut  dans  les  temps  modernes  avoir  Vesprit 
europeen. 

Das  reiche  Schrifttum  dieser  modernen  Romania  bildet  sich  unter 
dem  Einflüsse  der  Germanen  (der  Deutschen,  Engländer  und  Skandinavier)  und 
auch  der  Slawen  —  unter  dem  tiefen  Einflüsse  der  Litterature  du  Nord, 
wie  andererseits  das  Feld  der  germanischen  und  slawischen  Literatur  mit 
romanischen  Ideen  bestellt  wird. 

Der  Weltverkehr,  der  die  Völker  in  Liebe  oder  Abneigung  aneinander 
schließt  und  sie  alle  den  starken  Pulsschlag  gemeinsamen  Lebens  fühlen 
läßt,  hat  diese  Weltliteratur  vorbereitet  und  trägt  sie.  Sie  bedeutet 
keineswegs  eine  Entnationalisierung,  denn  auch  ihre  Kunstwerke  haben 
die  starken  Wurzeln  ihrer  Kraft  in  der  Heimat.  Die  „Weltliteratur"  des 
19.  Jahrhunderts  ist  in  der  Romania  bodenständiger  als  das  Schrifttum  des 
Ancien  Regime, 


F.  Das   19.  Jahrhundert      I.  Die  Romantik.  2Q5 

I,  Die  Romantik.  Was  ini  iS.  Jahrhundert  an  (Jpposition  ^e^en 
den  Geist  der  klassischen  Kunstg-esetzg-ebunj^  sich  perejrt  hatte,  das 
floß  in  der  sogenannten  Romantik  zusammen,  und  auch  darin  bHeb 
Frankreich  innerhalb  der  Romania  führend.  Es  zuerst  füj^'-te  die  disjecta 
membra  zu  einem  romantischen  Ganzen:  die  freie  aus  England  stammende 
Auffassung  des  Dramas;  den  Individualismus  und  Lyrismus  Rousseaus; 
die  polymorphe  und  polychrome  Darstellungsart  und  den  Exotismus 
Bemardins;  die  Freude  an  der  nationalen  \'ergangenheit  und  besonders 
am  Mittelalter,  seinem  bunten  Treiben  und  seiner  gotischen  Kunst;  das 
Interesse  für  die  farbige  nationale  Gegenwart,  wie  sie  sich  in  der  Eigen- 
art und  Mannigfaltigkeit  des  provinziellen  Lebens  ausspricht.  Das  bereitete 
sich  während  des  Kaisertums  in  berühmten  Büchern  vor  und  trat  unter 
der  Restauration  in  glänzenden  Schöpfungen  zutage. 

Frankreich.  Früh  erwies  sich,  daß  die  kirchlich-religiöse  Seite  der  Der  g««  da 
Revolution  mißlungen  war.  Den  „Ideologen",  welche  die  Traditionen  des  '^»'•«'♦™»" 
Materialismus  vertraten,  erwuchs  aus  den  Lehren  des  Deutschen  Kant,  des 
Schotten  Reid  sowie  aus  Mystik  und  Kirchlichkeit  scharfe  Gegnerschaft. 
„Man  drängte  sich  zum  Hause  Gottes,  wie  man  in  Zeiten  der  Pest  zum 
Arzt  stürzt."  Manche  wie  Cuvier,  Frau  von  Stael  rieten  zur  staatlichen 
Einführung  des  protestantischen  Kultus:  nur  der  Protestantismus  könne 
die  Religion  der  Republik  sein.  Der  erste  Konsul  schwankte.  Dann 
stellte  er  den  katholischen  Kultus  wieder  her  und  verkündete  im  April  1802 
das  Konkordat,  das  die  Republik  unserer  Tage  nach  so  viel  Not  wieder 
hat  aufheben  müssen.  Die  Errichtung  des  erblichen  Kaisertums  (1804) 
besiegelte  die  Rückkehr  zur  Autokratie.  Die  politische  Beredsamkeit 
verstummte;  nur  noch  einer  hielt  politische  Reden:  Bon  aparte  selbst, 
und  bekanntlich  sprach  er  meisterlich.  Die  Presse  wurde  dezimiert  An 
Stelle  der  politischen  trat  die  literarische  Kritik.  Das  Feuilleton  ent- 
stand (1800).  Der  höhere  Unterricht  und  der  Geist  der  Wissenschaft 
wurde  in  staatliche  Aufsicht  genommen  [l'nivcrsift'  de  France,   1808). 

Eifrig  unterstützt  Bonaparte  die  Literatur,  die  ihm  diente  und  seine 
Ansprüche  an  Prunk,  Feierlichkeit  und  Adulation  erfüllte.  Style  empire 
heißt  denn  auch  die  Blüte  der  neoklassischen  Kunst.  Charakteristisch  ist, 
daß  der  Kaiser,  dem  literarische  Neuerungen  und  Ausländerei  gleich  ver- 
haßt waren,  Ossi  an  verehrte.  Hin  lockte  die  romantische  Verherrlichung 
des  kriegerischen  Heldentums,  l^r  wünscht  sie  für  sich.  Aber  die  Musen 
flohen  den  gewalttätigen  Mäcen, 

In  den  Schriftstellern  dieser  bewegten  und  widerspruchsvollen  Zeit 
mischte  sich  heidnischer  Klassizismus  und  mittelalterliche  Christlichkeit, 
Nationalstolz  und  literarischer  Kosmopolitismus,  ererbtes  aufklärerisches 
Freidenkertum  und  neuerwachte  Religiosität,  Autoritätsglaube  und  An- 
spruch auf  persönliche  Geltung,  so  daß  aus  den  Werken  der  Hüter  der 
Tradition  oft  eine  Quelle  der  Opposition  aufbricht  und  die  Rollen  ver- 
tauscht erscheinen. 


2g6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Zwei  Persönlichkeiten  überragen   die  Literatur  dieser  Jahre:  Chateau- 
briand und  Frau  von  Stael. 
Chateaubriand.  Ren^     de     Chateaubriand    hat    sein    Leben    (1768— 1848)    in   den 

„Memoires    d'outre-tombe"   mit   mehr    Kunst    als  Wahrhaftigkeit    erzählt. 
Doch   darf  man   ihm   glauben,   daß   er  in  einer  schlecht  geleiteten  Jugend 
seinem    krankhaft    gesteigerten    Empfindungsvermögen    überlassen    blieb. 
„Ich   vergähnte   mein  Leben."     In   diesem   unbezähmten  Vorherrschen   der 
Stimmung,    das    an    Rousseau    gemahnt,    liegt    die    Quelle    seines    Welt- 
schmerzes  {enmci):    Die  Welt  nahm   zu   wenig  Rücksicht   auf  sein   hyper- 
trophisches Ich.    Das  Beispiel  des  Vaters  führte  ihn  1791   für  fünf  Monate 
nach  Nordamerika.     Durch  diese  Fahrt  in  ein  exotisches  Land  sollte,  wie 
einst    durch    die    Reise    Bernardins    nach    Mauritius,     der    französischen 
Dichtung    Neuland    erschlossen    werden.      Chateaubriand    sah    freilich   nur 
Baltimore    und    einige   andere  Städte    des  Ostens;   nach  dem  Inneren  kam 
er  nicht.    Er  hat  weder  den  Niagara,  noch  den  Ohio  oder  Mississippi  oder 
gar  Florida   gesehen.     Was   er   darüber  während  dreißig  Jahren  in  seinen 
Werken,    besonders    im    „Voyage    en    Amerique"    und    in    den    Memoiren 
Abenteuerliches    erzählt,    ist  eitel    Flunkerei    und    Plagiat.      Auch    in    der 
Schilderung    seiner    Orientreise   hat    er  geflunkert   {Itineraire   18 11).      Man 
kennt    heute    die  Reisebücher,    die   er  geplündert  hat  und  hat  die  Kniffe 
aufgedeckt,  durch  welche  er  bewundernden  Glauben  zu  erwecken  verstand. 
Aber    diese    große    Mystifikation   hat    wunderbare    literarische    Frucht 
getragen.     Der    fragmentarische    Anblick    der    neuen   Welt    und    das    aus- 
giebige Studium  von  Reiseberichten  Anderer  befruchtete   seine  Phantasie, 
als    er,    ein   armer  Emigrant,   in  London  vom  Ertrag   seiner  Feder   lebte, 
während  zugleich  schwere  Schicksalsschläge  in  ihm  religiöse  Stimmungen 
weckten.      Er    schrieb    sein    Prosaepos   vom    Untergang   der    Nadowessier 
[Les  Natchez)^  jenes  Indianerstammes  der  Luisiana,  den  die  Franzosen  1717 
vernichtet  hatten.    Die  Protagonisten  sind:  der  greise  Nadowessier  Chactas, 
der   einst   seine   Braut,    die   Halbblutindianerin    Atala,    verloren,    und   der 
junge  europamüde  Rene,  der  unter  die  Indianer  gegangen  ist.    Das  Opus 
ist   eine  wunderliche  Mischung  aus  herrlichen  Schilderungen   und  schwül- 
stigem Style  empire,  aus  lyrischem  Roman  und  steifem  Epos,  aus  antiker, 
christlicher    und    indianischer    Mythologie.      Chateaubriands    Phantasie    ist 
pervers;  er  führt  seinen  Helden  Ren6  bis  an  die  Grenzen  der  Blutschande 
und  des  Lustmordes.    In  London  entwarf  er  auch  das  „Genie  du  Christia- 
nisme".     Die  acht  Londoner  Jahre  sind  seine  schöpferische  Zeit. 

Nach  Paris  zurückgekehrt,  veröffentlicht  er  1801  die  „Atala "-Episode 
der  „Natchez",  und  dieses  Prosagedicht  einer  unglücklichen  Liebe  mit 
seinen  wunderbaren  Schilderungen  und  Bildern  aus  dem  Urwald  machte 
ihn  mit  einem  Schlage  zum  berühmten  Manne.  Er  gab  darauf  aus  den 
„Natchez"  eine  weitere  Episode:  wie  der  junge  Rene  dem  Chactas  sein 
verfehltes  Leben  erzählt.  Vom  Hintergrunde  prachtvoller  Kulissen  hebt 
sich  der  Bericht  dieses  französischen  Werther  wirkungsvoll  ab.   Wir  hören 


K.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  2g7 

die  Botschaft  dicsor  verzwoiflunirsvollen  ronommistischen  Melancholie  au.s 
dem  Munde  eines  Zwanzigfjährigen  —  allein  uns  fehlt  der  Glaube.  Es  ist  zu 
viel  Pose  dabei.  Chateaubriand  deklamiert  und  wirbt  um  die  Bewunderung 
der  Welt,  die  er  zu  verachten  vorgibt.  Goethe  erzählt  im  „Werther"  schlicht 
das,  wessen  das  Herz  voll  ist.  Wenn  Chateaubriand  behauptet,  er  habe 
mit  Rene  das  Gift  der  Empfindsamkeit  und  tatenlosen  Träumerei,  das  die 
„Nouvelle  H^loi'se"  und  „Werther"  der  Jugend  eingeimpft,  bekämpfen 
wollen,  so  irrt  er.  Er  hat  das  Werthergift  noch  mehr  vergiftet.  Nicht 
mit  Unrecht  spricht  ein  Zeitgenosse  sogar  von  einer  vergifteten  Hostie, 
denn  Chateaubriand  reihte  den  „Ren6"  einem  Buche  christlicher  Apologetik 
ein,  dem  „G(^nie  du  Christianisme". 

Das  „Genie  du  Christianisme"  erschien  in  den  Tagen  des  Konkor- 
dates (1802).  Wie  eine  Glocke  ruft  es  die  Lebenden  zur  Versöhnung  mit 
der  Kirche.  Ursprünglich  sollte  es  den  Titel  tragen:  „Des  beaut^s  poe- 
tiques  et  morales  de  la  religion  chretienne."  Er  nennt  es  selbst  eine 
poetische  Theologie.  Es  ist  eine  Ästhetik  des  katholischen  Christentums. 
Es  ist  dem  Nachweis  gewidmet,  daß  das  von  der  Aufklärung  verhöhnte 
Christentum  in  Wirklichkeit  die  wahre,  weil  eine  schönheitsvolle  Religion 
sei,  und  von  selbst  wenden  sich  dabei  des  Verfassers  Augen  nach  der 
Glanzzeit  dieser  Religion,  dem  Mittelalter,  dessen  Gotik  er  triumphierend 
der  antiken  Kunst  gegenüberstellt  und  dessen  Dichtung  er  wenigstens 
gelegentlich  anzieht.  Chateaubriand  verehrt  zwar  im  1 7.  Jahrhundert  eine 
Zeit  kirchlicher  Autorität,  aber  poetisch  ist  er  sein  Widersacher  mehr,  als 
er  Wort  haben  will.  Er  spricht  gegen  Boileau  die  Meinung  aus,  daß  die 
heidnische  Mjlhologie  eine  Fessel  sei  und  daß  die  christliche  Bilderwelt 
(/<•  mervcillcux  chretioi)  die  Phantasie  des  Dichters  erfüllen  solle.  Er 
predigt  eine  christliche  und  nationale  Poesie.  Den  literarischen  Kosmo- 
politismus lehnt  er  ab.  Shakespeare  erklärt  er  für  einen  Barbaren.  Er 
ist  für  Gesetz  und  Regel.  Das  Buch  ist  glänzend  geschrieben.  Was 
Kraft  und  Neuheit  der  Gedanken  anbelangt,  so  steht  es  nicht  eben  hoch. 
Chateaubriands  Art  zu  urteilen  ist  oft  ganz  leichtfertig  angesichts  des 
Ernstes  und  der  Würde  des  Gegenstandes.  Aber  die  Phantasien  seiner 
mittelalterlichen  Natursymbolik  geben  ihm  Veranlassung  zu  glänzenden 
Schilderungen  voll  lyrischer  Inspiration,  deren  Alinea  sich  wie  Strophen 
eines  Gedichtes  aneinander  reihen  und  lassen  unter  seiner  Feder  eine 
Galerie  prächtiger  Bilder  entstehen,  unter  denen  die  divinitvs  chrctiinnt<: 
—  Plural!  —  den  hervorragendsten  Platz  einnehmen.  Das  „G(^nie  du 
Chri.stianisme"  ist  das  Bilderbuch  zu  Pascals  „Pensf^es". 

Kurz  zuvor  waren  in  Deutschland  Schleiermachers  „Reden  über  die 
Religion"  erschienen.  Beide  Bücher  markieren  die  Abkehr  von  der  Auf- 
klärung, aber  wie  verschieden  ist  das  philosophische  Buch  des  Protestanten 
von  dem  Bilderbuch  des  Katholiken! 

Den  praktischen  Beweis  für  die  Lehre  von  der  poetischen  Überlegen- 
heit der  christlichen  Mythologie  wollte  Chateaubriand   mit  dem  Prosaepos 


2g8  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

„Les  Martyrs"  (1809)  erbringen.  Es  spielt  zur  Zeit  Diokletians,  da 
Heidentum  und  Christentum  zusammen  ringen.  Die  ganze,  dem  Altertum 
bekannte  Welt,  insbesondere  das  Gallien  der  Frankenkämpfe,  sowie  die 
drei  Reiche  des  christlichen  Jenseits  bilden  den  Schauplatz. 

Aber  Chateaubriand  ist  zu  selbstbewußt  und  virtuos;  er  ist  nicht  naiv 
und  gläubig  genug,  um  wie  Dante  auf  den  Spuren  der  Apokalj^pse  zu 
dichten.  Die  wahrsten  Partien  sind  nicht  die  christlichen,  frommen,  sondern 
die  heidnischen,  sündhaften.  So  ist  sein  Beweis  mißlungen.  Aber  das  Epos 
blieb  ein  Bildermagazin  für  die  junge  Romantik.  „Ich  habe  poetische  An- 
regung nötig,  schreibt  Stendhal  an  einen  Freund,  sende  mir  die  Mariyrs.^'' 

Früh  nahm  die  Politik  den  ehrgeizigen  Chateaubriand  gefangen,  der 
seine  dichterische  Arbeit  schon  mit  vierzig  Jahren  einstellte.  Er  diente 
prahlerisch  der  Restauration.  Aber  mit  dem  Gottesgnaden  tum  der  Bour- 
bonen  und  der  Priester  lagen  seine  alten  freiheitlichen  Neigungen  im 
Widerspruch.  So  ist  seine  politische  Stellung  schwankend.  Doch  bewahrt 
sein  Gefühl  für  Würde  diesen  Pair  de  France  davor,  schlechte  Figur  zu 
machen.  Er  weiß  sein  Leben  zu  inszenieren.  Seine  spätere  Schriftstellerei 
ist  wesentlich  Wiederholung:  er  schreibt  sich  und  andere  aus.  Er  hatte 
sich  längst  ausgegeben  und  wollte  immer  noch  scheinen. 

Chateaubriand  hat  sich  selbst  mit  Byron  verglichen  und  sich  auch 
über  ihn  gestellt.  Und  wirklich  haben  die  beiden  Zeitgenossen  viel 
Ähnlichkeit.  Sie  haben  ihre  Zeit  fasziniert  durch  den  glänzenden  farben- 
und  bilderreichen  Ausdruck  ihrer  ungemessenen  persönlichen  Ansprüche. 
Sie  haben  starke  und  tiefe  Anregung  gegeben.  Heute  überwiegt  der 
Eindruck  des  Sterilen  in  ihren  ewigen  Wiederholungen,  des  Theatralischen 
und  Unwahren  in  ihrer  steten  Pose. 
Frau  von  staei.  Frau    vou    Staöl    (1766  — 1817)    ist    uicht    kühl    und    skeptisch    wie 

Chateaubriand,  sondern  gefühlsselig  und  überschwenglich,  nicht  katholisch 
sondern  protestantisch.  Sie  ist  weltbürgerlich,  ein  romanisches  Reis  auf 
deutschem,  brandenburgischem  Stamme.  Sie  ist  französisch  gebildet  und 
empfindet  deutsch  und  das  ist,  wie  sie  klagt,  un  contra  sie  qui  abime  la  vie. 
Ihre  Schriftstellerei  ist  dreifach:  Sie  kämpft,  von  Rousseau  ausgehend,  für 
die  Neugestaltung  der  Literatur,  die  sich  im  Hergebrachten  erschöpfte 
und  sich,  um  mit  Goethe  zu  reden,  „in  sich  selbst  ennuyierte"  {De  la 
litter atur e ;  De  r Allemagne.)  Sie  behandelt  das  Problem  weiblicher  Lebens- 
führung —  das  Problem  ihres  zerfahrenen  Lebens.  „Delphine"  und 
„Corinne"  (1807)  sind  redeselige  Romane,  darin  sie  den  schmerzlichen 
Streit  idealisiert,  in  den  die  eigene  zuchtlose  Empfindsamkeit  sie  mit  der 
Gesellschaftsmoral  verwickelt  hatte.  Wertherstimmung  erfüllt  diese  tragischen 
Frauenbiographien.  In  beiden  klopft  die  Liebe  fragend  an  die  Schranken 
der  Sitte:  muß  in  unserer  engherzigen  Gesellschaft  die  hervorragende  Frau 
auch  immer  eine  unglückliche  Frau  sein?  —  Endlich  hat  Frau  von  Stael 
in  politischen  Schriften  die  großen  Ziele  und  Errungenschaften  der  Revo- 
lution gegen  Staatsstreich  und  Reaktion  verteidigt. 


F.  Das   19.  Jahrhundert.     I.   Die  Romantik.  2gq 

Die  tiefste  Wirkung'  ist  von  ihrem  Kampf  für  die  Reg-eneration  des 
Schrifttums  ausgeirangen.  In  dem  Buche  „Von  der  Literatur  und  ihren 
Beziehungen  zu  den  sozialen  Verhältnissen"  (1800)  trägt  sie  eine  literarische 
Freiheitslehre  vor.  Sie  bekämpft  jene  engherzige  Art,  die  eine  fremde 
Literatur  ohne  weiteres  als  barbarisch  verurteilt  und  erklärt,  daß  es  sich 
in  der  Besprechung  von  Kunst  und  Poesie  fremd<'r  Völker  nicht  um  Fest- 
stellung der  eigenen  Überlegenheit,  sondern  um  ein  sympathisches  Studium 
der  Verschiedenheiten  handle.  Sie  spricht  dabei  kurz  von  der  antiken, 
der  spanischen,  italienischen,  deutschen  Literatur  —  überall  ohne  eigene 
Kenntnis,  Lange  hält  sie  sich  beim  Beispiel  des  englischen  Schrifttums 
auf,  das  ihr  vertraut  ist.  Jetzt  weist  W.  v.  Humboldt  sie  nachdrücklich 
auf  Goethe  und  Deutschland  hin.  Emigranten  wie  Chenedolle,  Degerando 
und  Villers,  Deutsche  wie  H.  Jacobi  fördern  sie  im  Studium  des  Deutschen. 
Sie  unternimmt  180,5  eine  erste  und  —  nachdem  sie  auch  Italien  besucht 
hat  —  1807  eine  zweite  Reise  nach  Deutschland.  In  Weimar  spricht  sie 
Goethe,  Schiller  und  Wieland;  aus  Berlin  bringt  sie  A.W.Schlegel  als 
Erzieher  ihrer  Kinder  mit.  J.  von  Müller,  Fichte,  Nicolay,  Zach.  Werner 
u.  a.  lernt  sie  auf  diesen  Reisen  kennen  oder  beherbergt  sie  zu  Coppet. 
So  entsteht  ihr  Buch  „De  l'Allemagne",  das  die  kaiserliche  Zensur  18 10 
als  unfranzösisch  verbot  und  das   18 13  in  London  erschien. 

In  vier  Teilen  handelt  es  i.  über  Deutschlands  Sitten,  2.  über  seine 
Literatur,  3.  über  seine  Philosophie  und  4.  über  Religion  und  Idealität.  Was 
sie  im  dritten  Teil  über  die  Philosophen  sag^,  ist  wenig  kundig.  Im  vierten 
Abschnitt  entwickelt  die  Verfasserin,  die  in  schmerzlichen  Kämpfen  aus 
einer  Freidenkerin  zur  frommen  Protestantin  geworden  war,  ihre  Gedanken 
über  Religion  und  Ideale.  Überall  preist  sie  Deutschland  als  ein  Land  des 
Ernstes,  des  Enthusiasmus,  der  Liebe  und  der  Religiosität,  ein  idyllisches 
Land,  wo  tugendhafte  Menschen  hinter  blumengeschmückten  Fenstern 
wohnen,  ein  Land  der  Ritterburgen  und  der  Schloßfräulein.  Politisch  un- 
goeint  und  der  herrschenden  Hauptstadt  entbehrend,  zeige  dieses  glückliche 
Land  große  Mannigfaltigkeit  und  Freiheit  der  geistigen  Bildung  und  einen 
ausgesprochenen  Individualismus,  In  Frankreich  habe  der  ausgebildete 
gesellschaftliche  Verkehr  die  Menschen  geistig  nivelliert  und  der  persönlichen 
Empfindungsweise  beraubt.  Dieses  Salonlebcn  verhindere  die  stille  Samm- 
lung, die  zusammenhängende  Arbeit  und  habe  die  Franzosen  daran  ge- 
wöhnt. Alles,  auch  das  Ernsteste,  zum  Gegenstande  witzelnder  Unter- 
haltung zu  machen,  deren  verletzende  Persiflage  jeden  bedrohe,  der  aus 
der  Reihe  heraustrete  und  etwas  Eigenartiges  wolle.  Der  Mangel  dieses 
Salonlebens  sichere  den  Deutschen  Ursprünglichkeit  des  Empfindens  und 
Denkens,  gestatte  ihnen  Sammlung  und  Träumerei,  gewähre  unbeschränkte 
Arbeitszeit  und  schütze  sie  vor  der  lähmenden  Herrschaft  des  Spottes, 
vor  der  tcrribU  autoriti'  du  ridiculc.  So  seien  die  Deutschen  die  Vor- 
posten der  Armee  des  menschUchen  Geistes.  Aber  diese  kühnen  und 
tiefen   Denker    seien    unterwürfig    gegenüber   den    Mächtigen   dieser  Welt. 


300  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

In  Frankreich  habe  eine  engherzige  Versgesetzgebung  die  Lyrik  er- 
tötet. Der  Klassizismus  sei  eine  Poetik  der  Negation.  Sie  klagt  über  die 
lois  prohibitives  de  la  litterature  frangaise,  ähnlich  wie  eine  andere  begabte 
Frau  200  Jahre  zuvor,  M.  de  Gournay.  Deutschland  aber  besitze  eine 
Lyrik.  Die  gedeihe  eben  nur  da,  wo  der  Dichter  die  in  der  Tiefe 
schlummernden  Gefühle  frei  in  Worte  entfesseln  dürfe.  Sie  rühmt  die 
Freiheit  des  deutschen  Verses  und  der  Wortstellung,  die  malerischen  Bei- 
wörter, die  dem  poetischen  Ausdruck  etwas  Vages,  Träumerisches  ver- 
leihen. Dabei  sei  die  Poesie  immer  ernst.  Der  Scherz  gehöre  in  die 
Prosa.  Scherzen  heiße  erniedrigen  —  c'est  rabattre  que  de  plaisanter! 
Die  Entwickelung  der  Kulturmenschheit  zerfalle  in  die  zwei  Phasen  der 
Naturreligion  des  Heidentums  und  des  Spiritualismus  des  Christentums. 
Der  ersteren  entspreche  die  klassische  Dichtung,  die  keiner  Entwickelung 
mehr  fähig  sei.  Der  zweiten  entspreche  eine  neuere  Dichtung,  für  welche 
die  Deutschen  den  Ausdruck  romantisch  aufgebracht  hätten.  Dieser 
„poesie  romantique  ou  chevaleresque",  die,  auf  Geschichte  und  Religion 
christlicher  Zeit  beruhend,  national  und  christlich  sein  werde,  gehöre  die 
Zukunft.     Hier  trifft  sie  sich  mit  Chateaubriand. 

Als  Beispiele  solcher  Poesie  führt  sie  Dichtungen  Klopstocks,  Goethes, 
Schillers  und  namentlich  auch  Bürgers  auf,  dessen  „Lenore"  sie  nicht 
weniger  bewundert  als  Goethes  „Fischer"  oder  die  „Braut  von  Korinth". 
Das  Element  des  Aberglaubens  scheint  ihr  besonders  poetisch  verwertbar, 
und  der  Vampyrismus  hat  es  später,  nach  Byrons  Vorgang,  manchem 
Romantiker  und  Parnassien  angetan.  Am  ausführlichsten  spricht  sie  vom 
Theater.  Ihre  Darstellung  wird  zur  Dramaturgie.  Sie  redet  besonders 
dem  freien  historischen  Schauspiel  das  Wort.  Nicht  entlehnen  soll  man 
die  Dramatik  der  Deutschen,  wohl  aber  sich  an  ihr  inspirieren.  Wie  ist 
sie  von  „Wallensteins  Lager"  entzückt,  von  „Faust"  trotz  allem,  was  in 
Form  und  Inhalt  sie  daran  verletzt,  gefesselt!  Aber  auch  Klinger  und 
besonders  Z.  Werner  bewundert  sie.  Von  Herder  hebt  sie  namentlich  die 
„Stimmen  der  Völker"  hervor.  Sie  versteht  und  genießt  die  Volkspoesie; 
aber  sie  glaubt,  daß  französisch  die  Wiedergabe  solcher  Volkslieder  mit 
ihren  Naivitäten  nicht  möglich  wäre.  Sie  hat  eine  ausgesprochene  Ab- 
neigung gegen  bürgerliche  Helden  und  alltägliche  Verhältnisse.  Das 
„Genre  mixte"  des  bürgerlichen  Dramas  verurteilt  sie  als  literarische 
Kontrebande.  Ihre  prosaischen  Übertragungen  deutscher  Verse  vermeiden 
das  pittoreske  Detail.  Des  „Bösen  Geistes":  Als  Du  aus  dem  vergriffenen 
Büchelchen  Gebete  lalltest,  halb  Kinderspiele,  halb  Gott  im  Herzen",  heißt 
bei  ihr:  Tu  balbutiais  timidement  les  psaumes  et  Dieu  re'gnatt  dans  ton 
ca;ur.  Daß  sie  hierin  noch  so  sehr  ein  Kind  ihres  —  Salons  war,  bildet 
wohl  eine  Bedingung  des  Erfolges  ihres  Buches,  das  für  mehrere 
Jahrzehnte  die  geistigen  Beziehungen  Frankreichs  zu  Deutschland  be- 
herrschen und  in  Frankreich  besonders  als  Dramaturgie  maßgebend 
bleiben  sollte. 


F.  Das  II).  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  »Ol 

Es  ist  in  „De  rAllemagne"  viel  mehr  von  den  deutschen  Klassikern, 
Lessing,  Goethe,  Schiller,  als  von  den  Romantikern  wie  Tieck,  Werner, 
Novalis  die  Rede.  Frau  von  Stael  führt  den  Franzosen  hauptsächlich 
unsere  klassische  Dichtung  vor,  die  für  die  Romania  ja  romantisch  genug 
war.  Heine  setzte  1833  ihr  Buch  zu  Paris,  freilich  in  anderem  Geiste 
fort     {Dt-  rAllcmagnc,  zu  deutsch:  Die  romantische  Schule.) 

Hat  Frau  von  Stael  einerseits  nicht  alle  Vorurteile  des  Klassizismus 
abgestreift,  so  ist  andererseits  in  ihrem  Lobe  Deutschlands  viel  Illusion 
infolge  flüchtiger  Kenntnis  und  viel  Voreingenommenheit  gegen  das 
kaiserliche  Frankreich.  Die  Stimmen  sehr  verschiedener  Gewährsmänner 
sprechen  aus  den  Teilen  ihres  Buches,  die  von  deutschem  Leben, 
deutscher  Wissenschaft  und  Kunst  handeln.  Am  vernehmlichsten  ist  dabei, 
wie  Heine  sagt,  „der  feine  Diskant  des  Herrn  Schlegel'*.  Aber  selbständig 
urteilt  Frau  von  Stael  über  Dichter  und  Dichtung.  Es  bleibt  ihr  das 
Verdienst  unbestritten,  die  wissenschaftliche  literarische  Kritik  in  Frank- 
reich als  Vorläuferin  Villemains  begründet  und  den  ersten  Versuch 
gemacht  zu  haben,  die  Völker  Europas,  welche  die  Revolution  politisch 
zu  einigen  nicht  vermocht  hatte,  geistig  zu  vereinen  zu  einer  Republik 
der  humanitären  Interessen.  Sie  will  über  die  nationalen  Schranken 
hinaus  „eine  Vereinigung  aller  denkenden  Menschen  Europas"  anbahnen. 
„Das  wahre  Volk  Gottes  sind  die  Menschen,  die  am  Menschengeschlecht 
nicht  verzweifeln  und  ihm  das  Reich  der  Gedanken  erhalten  wollen." 
„Was  tut  ihr  in  Wahrheit,  wenn  ihr  die  Arbeit  der  Deutschen  nicht  an- 
erkennt, sondern  verhöhnt",  ruft  sie  ihren  Landsleuten  zu,  „ihr  vermindert, 
nörgelnd,  die  Ruhmestitel  der  Menschheit." 

Daß  diese  Frau  in  Zeiten,  da  Europa  von  wildem  WafFenlärm  erfüllt 
und  Deutschland  vom  französischen  Sieger  geknechtet  war,  eine  Germania 
schrieb  und  Völkerverbrüderung  lehrte,  war  eine  Tat,  und  dagegen  kann 
der  Spott  Heines  nicht  aufkommen. 

Chateaubriand  und  die  Stael  sind  die  beiden  Pfeiler  der  französischen 
Romantik.  Er,  vom  Klassizismus  noch  stark  gefesselt,  lehnt  zwar  die 
fremden  Literaturen  ab,  schafft  aber  eine  ganze  Welt  neuer  glänzender 
Bilder.  Sie  ist  kosmopolitisch  und  erschließt  durch  das  Ausland  Frank- 
reich eine  ganze  Welt  neuer  Ideen  und  Stimmungen.  So  ist  ihr  Einfluß 
bedeutender,  nachhaltiger  als  der  seine.  Sie  ist  modemer,  entschiedener, 
umfassender. 

Um  ihre  kosmopolitische  Position  entbrannte  der  Kampf  am  heißesten.  Der  iiter«n.chr 
Leidenschaftlich  widersprachen  die  Kritiker  der  alten  Schule,  denen  alles *'°*°"''^"''"""' 
Neue,  Fremde  und  Volkstümliche  Barbarei  war.  Schrill  tönt  dem  V^er- 
brüderungswort  der  Frau  von  Stael  gegenüber  der  Ruf  F.-B.  Hoff"manns: 
iSTayons  pas  la  sottisc  de  nous  faire  allemumis!  und  Beranger  trällert  ein 
Liedchen  dazu  {Lc  bon  Fran^ais).  Große  Erbitterung  schuf  W.  Schlegels 
Vergleichung  Racines  mit  Euripides  (1807),  sowie  die  von  der  Stael 
veranlaßte    Übertragung    seiner   Vorlesungen    über    dramatische    Literatur 


302 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


(i8i6),  von  denen  auch  Stendhal  ausging,  als  er  1823  sein  keckes  „Racine 
et  Shakespeare"  schrieb. 

Ein  wahrer  Strom  ausländischer  Poesie  ergießt  sich  um  1820  über 
Frankreich.  Proben  aus  dem  Theater  aller  Länder  werden  in  einer 
Sammlung  vereinigt,  an  der  keine  Geringeren  als  Barante  und  Guizot 
mitarbeiten.  Jener  übersetzt  außerdem  Schillers,  dieser  Shakespeares 
Theater.  Manzonis  Tragödien  bringt  Fauriel.  W,  Scott  und  Byron  werden 
seit  182 1  übertragen.  Raynouard  veröffentlicht  „Poesies  originales  des 
troubadours".  Spanische  Romanzen,  griechische  Volkslieder,  englische 
Balladen  werden  —  in  Prosa  wiedergegeben,  da  die  französische  Dichter- 
sprache vorläufig  nicht  geeignet  erscheint,  solche  ^^sauvage  simplicite^''  aus- 
zudrücken. Merimee  liefert  bereits  spanische  und  illyrische  Pastiches. 
Aber  das  Volkslied  des  eigenen  liederreichen  Pays  de  France  sieht  niemand. 

Deutlich  steigen  „romantische"  Gedanken,  Stimmungen,  Bilder  in  Lied 
und  Roman  auf.  Nodier  gibt  1803  die  Essais  cTun  jeu?ie  Barde.  Mille- 
voye  und  Chenedolle  präludieren  Lamartine.  Des  selben  Nodier 
„Proscrits"  und  „Peintre  de  Saltzbourg",  Senancourts  „Obermann"  (1804) 
zergliedern  kranke  Herzen  tatenloser  Helden,  die  in  reicher  Naturszenerie 
verzweiflungsvoll  enden.  Das  mit  starken  und  bunten  Mitteln  arbeitende 
„Drame"  —  die  „Tragödie  der  Kammerzofen",  wie  die  konservative  Kritik 
höhnte  —  fuhr  fort,  Scherz  und  Ernst,  Feierliches  und  Groteskes  zu 
mischen.  Es  importierte  Stücke  des  deutschen  (Werner,  Zschokke)  und 
englischen  Repertoires  und  bereitete  auf  diese  Weise  Publikum  und  Schau- 
spieler für  die  Bühne  der  Romantiker  vor.  Lemercier  macht  ein  ge- 
schichtliches Ereignis  (die  portugiesische  Revolution  von  1640)  zum  Gegen- 
stand eines  Lustspiels  und  deckt  in  der  vornehmen  Welt  der  Tragödie  die 
kleinen  Menschlichkeiten  auf  [Pinto,  comedie  historique).  Pixer6court 
liefert  als  ein  zweiter  Hardy  von  1798  — 1835  über  hundert  „Melodramen", 
d.  h.  geschickt   gebaute,   rührselige,    historische    und    häusliche   Moritaten. 

Das  Drama  V.  Hugos  wird  nichts  anderes  sein  als  das  ins  Reich  der 
Kunst  erhobene  Melodram  Pixerecourts  —  releve,  wie  Nodier  meint,  de  la 
pompe  artißcielle  du  lyrisme.  An  dem  kunstlosen  Schauerdrama  werden 
die  französischen  Romantiker  die  nämliche  Arbeit  der  poetischen  Stili- 
sierung vollziehen,  welche  die  englischen  Romantiker  am  Schauerroman 
übten:  W.  Scotts  Kunst  hat  aus  der  tollen  und  wüsten  Welt  der  Bücher 
Anne  Radcliffs,  Maturins  und  Lewis  seine  glänzenden  Romane  geschaffen. 

So  steigen  mit  der  Romantik  Stoffe  und  Stimmungen  zu  den  Höhen 
der  Literatur  empor,  die  bisher  in  vulgären  Niederungen  ein  mißachtetes 
Dasein  geführt  hatten.  Der  Romantiker  bückt  sich,  um  aus  dem  trüben 
Strom  des  Lebens  Dinge  aufzuheben,  über  die  der  Klassiker  mit  hoch- 
gezogenem Fuße  wegschreitet.  An  diesem  Wandel  ist  insbesondere  der 
Umstand  beteiligt,  daß  die  Revolution  die  streng-e  Tradition  der  klassischen 
Bildung  unterbrochen  hatte  und  daß  die  neue  Generation  weniger 
latinisiert  war. 


F.  Das  10.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  ^O  i 

Inzwischen  war  Bonaparte  gestürzt  und  das  Königtum  der  ßourbonen  i>io  Juü- 
wieder  errichtet  worden  (i<Si5).  Die  Wünsche  der  ültraroyaU.sten  nach  '"'°''""*' 
Wiederherstellung  der  Zustände  des  Ancien  regime  ließen  sich  nicht  er- 
füllen, so  kräftig  die  Reaktion  der  beiden  alten  Könige,  von  der  Kirche 
unterstützt,  ans  Werk  ging.  In  der  Revolution  von  1830  explodierten  dann 
die  gebundenen  Kräfte  des  Fortschrittes.  Auch  im  Lager  der  Poeten,  wo 
bisher  vielfach  literarischer  Umsturz  mit  politischer  Reaktion  zusammen 
Haus  gehalten,  gab  es  Zerstörungen,  und  aus  den  Ruinen  blühte  in  der 
Folge  neues  Leben. 

Auf  die  „heiligen  Julitage"  folgte  eine  politisch  bewegte  Zeit.  Der 
politische  Sieg  des  liberalen  Bürgertums  trug  auch  den  künstlerischen:  die 
Romantik  zog  siegreich  ins  Schauspiel-  und  Opernhaus  (Auber,  Rossini) 
und  die  Ausstellung  von  1831  verkündete  den  Triumph  ihrer  Malerei 
(Delacroix'  Barrikadenkampf  und  Ermordung  des  Bischofs,  nach  W.  Scott). 
Das  Julikönigtum  schien  sich  durch  eine  versöhnliche  Politik  erst  dauernd 
zu  befestigen,  verschloß  sich  dann  aber  den  notwendigsten  Reformen  und 
kam  in  Unpopularität  1848  zu  Fall.  Die  Republik  wurde  proklamiert:  ein 
Poet,  Lamartine,  steht  an  ihrem  Anfang,  Napoleon  lU.  an  ihrem  Ende. 

Die  zwanziger  und  dreißiger  Jahre  bedeuten  die  Höhezeit  des  lite-  Krmkreich  and 
rarischen  Einflusses  Deutschlands.  Daß  von  den  ersten  Romantikern  f^'""'»'''''*»'* 
kaum  einer  deutsch  kann,  hindert  dies  nicht.  Ist  etwa  Shakespeare  in 
Deutschland  nur  da  wirksam  geworden,  wo  man  ihn  englisch  lesen  konnte? 
Hatte  man  doch  „De  l'Allemagne"  der  Stael  und  die  Übersetzungen, 
Goethe  dominierte  ohnedies  alles  und  der  war  einfach  „l'auteur  de  Werther 
et  de  Faust".  Neben  ihn  trat  um  1830  E.  T.  A.  Hofifmann  mit  seinen 
„Contes  fantastiques"  und  noch  heute  steht  er  in  Frankreich  neben  Goethe. 
An  diesen  beiden,  an  Schiller,  Jean  Paul,  Bürger  begingen  die  Fran- 
zosen, wie  Heine  spottet,  ihre  „Gefühlsplagiate".  Heine  selbst,  der  1831 
nach  Paris  kam,  wurde  als  der  geistreiche  Autor  der  „Romantischen  Schule" 
und  der  „Tableaux  de  voyage"  (1834)  bewundert.  Der  Lyriker  Heine  gewann 
erst  viel  später  (mit  den  „Parnassiens")  Ansehn  und  Einfluß.  Unter  seinen 
Zeitgenossen  erfüllt  er  nur  Th.  Gautier  und  G.  de  Nerval,  diesen  künst- 
lerischsten unter  den  Interpreten  deutscher  Dichtung,  der  1828  den  „Faust", 
1830  Gedichte  Uhlands,  Schillers  usw.  und  1848  Heines  „Intermezzo"  in 
schöne  Prosalieder  übertrug  —  hier  hat  das  moderne  „Po^me  en  prose" 
seinen  Au.sgangspunkt.  Die  Zeitschriften  fingen  an,  regelmäßige  und  kun- 
dige Referate  über  deutsche  Literatur  zu  bringen.  Zu  diesen  periodischen 
Vermittlern  deutschen  Geistes  (Marmier,  Girardin,  Taillandier)  traten 
Männer  wie  Quinet,  der  Herders  „Ideen"  übersetzt,  Cousin,  Michelet, 
Renan.  Und  das  „junge  Deutschland"  blieb  hinter  den  „Jeunes-I'Vance** 
nicht  zurück:  es  schulte  sich  nicht  nur  an  Frankreichs  schriftstellerischer 
Technik,  es  entlehnte  bei  ihm  politische  und  soziale  Ideen,  zog  sich  den 
Ruf  gefährlichen  Franzosentums  zu  und  weckte  die  scharfe  nationale 
Opposition  der  Konservativen. 


304 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Der  scharfblickende  Quinet  erkannte  früh  die  Wendung,  welche  die 
Dinge  in  Deutschland  zu  nehmen  begannen.  Er  schreibt  schon  183 1,  „daß 
Deutschland  anfange,  seine  Gedankenarbeit  in  politische  Taten  umzusetzen, 
daß  Preußen  als  führende  Macht  an  Stelle  Österreichs  erscheine  und  daß 
die  deutsche  Einheit  sich  in  bedrohlicher  Weise  vorbereite".  Aber  sein 
Wort  wurde  nicht  verstanden.  Als  Heine  und  Börne  Frankreich  über  die 
wahre  Stimmung  des  herrschenden  Deutschland  spöttisch  aufklären  wollten, 
da  ergriffen  Franzosen  das  Wort,  um  „das  harmlose  Volk  der  Denker" 
zu  verteidigen.  Freilich  erhellte  die  Kriegsgefahr  1840  blitzartig  die 
Situation.  Auf  Beckers  „Rheinlied"  antwortete  wohl  Lamartine  friedlich 
mit  der  „Marseillaise  de  la  paix",  aber  Mussets  prahlerische  Antwort 
fand  in  dem  großen  Streiten,  das  sich  nun  erhob,  mehr  Tagesbeifall.  Doch 
fuhr  man  fort,  Deutschland  im  Lichte  der  Frau  von  Stael  zu  sehen. 

Es  ist,  als  ob  die  heftigen  kirchlichen,  politischen,  sozialen  und  lite- 
rarischen Kämpfe  des  eigenen  Landes  Aller  Aufmerksamkeit  absorbierten. 
Die  kirchlichen  Die  Kirchc,   die   durch   das  Konkordat  wiederhergestellt  war,   wendet 

^^^™^^^'  sich  unter  Führung  der  zurückkehrenden  Jesuiten  zum  Ultramontanismus. 
Die  Lehre,  daß  die  Revolution  Teufels  werk  sei  und  daß  nur  die  Rückkehr 
zu  unbeschränktem  politischen  und  kirchlichen  Absolutismus  Frankreich 
und  mit  ihm  Europa  retten  könne,  vertrat  niemand  rücksichtsloser  als  der 
Graf  Joseph  de  Maistre  (f  182 1).  Er  geht  bis  auf  den  Grund  des  anti- 
liberalen Zuges  der  Zeit.  Er  bekämpft  Bossuets  Lehre  einer  nationalen 
Kirche  und  gallikanischer  Freiheiten  als  Irrlehre,  verdammt  alle  Wissen- 
schaft, preist  die  Wahrheit  und  Einheit  der  Tradition,  erklärt  den  Papst 
als  einzigen,  unfehlbaren  Hüter  des  Christentums  und  schreibt  in  den 
Dialogen  seiner  „Soirees  de  St-Petersbourg"  eine  —  man  möchte  sagen: 
blutige  —  Theodicee:  die  Erde  schreit  nach  Blut,  nach  der  göttlichen 
Institution  des  Krieges,  nach  dem  Henker!  Schafft  den  Henker  ab,  und 
alles  wird  zusammenstürzen!  Hätte  Frankreich  gleich  Spanien  die  Inqui- 
sition gehabt,  so  wäre  die  Revolution  nicht  möglich  gewesen!  Dieser 
Prätorianer  des  Vatikans  predigt  der  Christenheit  le  salut  par  le  sang. 
Er  predigt  es  als  glänzender  Stilist  in  den  Farben  Chateaubriands  und 
mit  den  Paradoxen  Voltaires.  Er  ist  nicht  wirklich  religiös,  er  ist  nur 
Theokrat. 

Auch  ein  streitbarer  Schüler  Chateaubriandscher  Kunst,  aber  tief 
religiös,  ist  der  Geistliche  Lamennais  (-{-  1854).  Er  predigt  der  Christen- 
heit le  salut  par  la  foi.  Mit  der  wunderbaren  Beredsamkeit  seines  Werkes 
gegen  die  religiöse  Indifferenz  (das  ursprünglich  den  Titel  L'esprit  du 
christianisme  tragen  sollte)  schafft  er  seit  18 17  eine  Erregung,  die  Maistre 
mit  einem  Erdbeben  vergleicht.  Als  er,  von  saintsimonistischen  Gedanken 
getragen,  dazu  übergeht,  vom  Staate  praktisches  Christentum  zu  fordern, 
da  gibt  ihn  die  Regierung  preis,  und  er  wendet  sich  vom  legitimen  König- 
tum an  die  Demokratie.  Aber  über  seinem  Versuche,  einen  liberalen  Katholi- 
zismus zu  schaffen  {catholiciser  la  liberte)^  zerfällt  er  auch  mit  Rom  (1833) 


1'.   i>as   ly.  Jahrhundert.     1     iJiu  Romantik.  »qc 

Und  nun  richtet  er  sich  ans  \'t)lk,  an  die  prulctaircs  tt  hummes  du  peuble, 
um  mit  ihrer  Hilfe  die  Civitas  Dei  auf  Erden  zu  begründen,  die  auch  eine 
politische  und  wirtschaftliche  Befreiung  bringen  soll.  Glaube  und  Freiheit 
sollen,  Monarchie  und  Papsttum  zum  Trotz,  im  Volk  und  für  das  Volk 
verwirklicht  werden,  das  er  in  seinen  „Paroles  d'un  croyant"  (183.^),  „Le 
livre  du  peuj)le"  mit  leidenschaftlichen  Worten  überschüttet.  Er  prophezeit 
ein  Reich  der  lirüderlichkeit,  doch  lehnt  er  die  kommunistischen  Lehren 
ab.  Inbrunst  und  Poesie  des  Glaubens  kommen  zu  herrlichem  Ausdruck. 
Aber  auch  mit  der  Phrase  der  Utopie  kämpft  dieser  Prophet,  dessen  Seele 
keine  Windstille  kennt  Er  hat  zum  erstenmal  die  demokratische  Mission 
des  Katholizismus  formuliert. 

Lacordaire  (-j-  1861)  ging  mit  Lamennais  bis  an  die  Schwelle  des 
Bruches  mit  Rom,  die  er  nicht  überschritt.  Die  Xotredame- Kirche  ver- 
mochte die  Andächtigen  nicht  zu  fassen,  die  dem  stürmischen,  bilderreichen 
und  gläubigen  Worte  dieses  Kanzelredners  lauschten,  der,  kühn  und  orthodox 
zugleich,  dem  Leben  nachging  und  seine  Probleme  jikzeptierte,  um  der 
Kirche  die  Leitung  der  modernen  Gewissen  zurückzuerobern. 

Mit  den  Parlamenten  erstand  auch  die  politische  Beredsamkeit  wieder.  Die  poiiüiche 
In  der  Deputiertenkammer  der  Restauration  stießen  die  beiden  Mächte  der  I-"•"«»'■• 
Vergangenheit  und  der  Gegenwart  unmittelbar  und  leidenschaftlich  auf- 
einander. In  dem  Widerstreit  des  legitimen  Königtums  und  der  sich 
immer  demokratischer  wendenden  Zeit  erstarkte  die  Partei  des  „juste 
milieu".  Die  Doktrinen  des  liberalen  Bürgertums  fanden  die  beredtesten 
Vertreter  {Duc/rinairis):  den  würdigen  Royer-Collard,  den  autoritären 
Guizot,  den  geschmeidigen  Thiers.  Lamartine,  der  „auf  einer  höheren 
Warte  als  auf  der  Zinne  der  Partei"  zu  stehen  beansprucht,  trägt  humanitäre 
Gedichte  in  edler  Prosa  vor.  Schrille  jakobinische  Beredsamkeit  wird  erst 
1848  mit  dem  allgemeinen  Wahlrecht  ins  Parlament  einziehen. 

Die  politische  Journalistik  hat  die  literarischen  Kunstwerke  des  Artillerie- 
offiziers, Gräzisten  und  „Weinbauers"  P.-L.  Courier  aufzuweisen:  Pamphlete, 
Briefe,  Tagebücher  (18 ig  — 1825),  die  einen  unversöhnlichen  Kampf  gegen 
Regierung  und  Kirche,  Adel  und  Klerus  führen.  Er  kleidet  Denk-  und 
Redeweise  in  die  archaisierende  Form  klassischer  Stilisierung  und  erreicht 
durch  den  Gegensatz  zwischen  den  respektlosen  Allüren  des  Räsonnement^ 
und  der  konservativen  Formbehandlung  eine  große  Wirkung,  obwohl  seine 
Kunst  nicht  selten  zur  Künstelei  des  Virtuosen  wird.  Im  Xamen  der 
Lehrfreiheit  begannen  seit  1830  die  geistlichen  Kongregationen  und  be- 
sonders der  Orden  Jesu  sich  des  Unterrichts  zu  bemächtigen.  Die  darob 
entbrennenden  Kämpfe  gipfeln  in  der  Jesuitenfrage  des  Jahres  1843,  als 
Michel  et  und  Qu  in  et  durch  ihre  Vorlesungen  an  der  Sorbonne  ant- 
worteten und  der  kampflustige  Schulmeister  Claude  Tillier,  der  Ver- 
fasser des  humorvollen  „Unkel  Benjamin"  als  „Flößer"  auf  den  Spuren  des 
„Weinbauern"  Courier  seine  Pamphlete  schrieb.  Gelöst  aber  hat  die  Frage 
der  Kongregationen  erst  die  heutige  Republik  im  Kampfe  um  ihre  Existenz. 

Dil    KVLTVB    DBm    GlOV<WAXT.      l.  II.    I.  »o 


2o6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Der  SoziaUsmus.  In  diescn  Jahrzehnten   findet  nun  auch  die   sozialistische  Doktrin  ihre 

erste  selbstbewußte  Formulierung.  Das  Proletariat  tritt  als  neuer  Kom- 
battant in  den  Kampf  der  Bourgeoisie  und  des  Feudalismus  ein.  Der 
Utopist  Saint-Simon  (f  1825)  verkündet  die  Herrschaft  der  arbeitenden 
industriellen  Menschheit,  die  vom  Geiste  christlicher  Brüderlichkeit  durch- 
drungen sein  soll.  Seine  Schüler  Bazard  und  Enf antin  bildeten  die 
Lehre  weiter  (z.  B.  Abschaffung  des  Erbrechts)  und  fanden  die  Formel 
von  der  Ausbeutung  des  Menschen  durch  den  Menschen.  An  ihren  Ver- 
sammlungen in  der  Rue  Taranne  nahm  die  romantische  Jugend  begeistert 
teil.  Sie  trug  manchen  Gedanken  als  fruchtbaren  poetischen  Keim  mit 
sich  fort.  Die  soziale  Dichtung  knüpft  hier  an.  Als  Ausgangspunkt 
des  wissenschaftlichen  Sozialismus  aber  muß  in  Frankreich  Proudhon 
(f  1869)  gelten,  ein  scharfsinniger,  ideenreicher  Kopf  und  ein  glänzender 
Schriftsteller. 

Die  Jugend  des  liberalen  Bürgertums  saß  in  den  Jahren  der  Restau- 
ration zu  Füßen  des  „Triumvirats  der  Sorbonne":  Cousins  des  Philosophen, 
Guizots  des  Geschichtsforschers  und  des  Literarhistorikers  Villemain,  der 
seinen  Stoff  zum  erstenmal  „in  europäischem  Geiste"  wahrhaft  historisch 
behandelte:  aber  zu  seinem  Europa  gehört  Deutschland  noch  nicht. 
Die  PhUosophie.  In    V.    Cousin    (1792  —  1867)     erreicht    die     philosophische     Reaktion 

gegen  die  materialistischen  Doktrinen  der  Aufklärungszeit  ihren  Höhe- 
punkt. Cousin  trug  seine  spiritualistische  Philosophie,  deren  moderne 
Elemente  er  bei  den  Engländern  und  den  Deutschen  (Kant,  Schelling, 
Hegel)  gefunden  (Eklektizismus),  mit  großer  Eloquenz  vor.  Sein  elegantes 
Wort  zog  die  gebildete  Pariser  Gesellschaft  zur  Sorbonne,  in  deren  großen 
Hörsälen  sie  seither  heimisch  geworden  ist.  Cousins  Haltung  war  die 
eines  Hohepriesters,  der  auf  Dekorum  bedacht  ist ,  der  im  Tempel  herrschen 
will  und  auch  draußen  auf  gute  Ordnung  sieht.  Aber  die  Weltanschauung, 
die  er  überwunden  zu  haben  meinte,  erhob  mit  dem  Fortschritt  der  exakten 
Wissenschaften  und  mit  Comtes  „Philosophie  positive"  (seit  1830)  ihr  Haupt 
mächtiger  als  zuvor,  und  Taine  zertrümmerte  1855  vollends  das  luftige 
Gebäude  des  Eklektizismus.  Das  Dauerndste  sind  Cousins  geschichtliche 
Arbeiten.     Seine  Neigung  galt  dabei  dem   17.  Jahrhundert. 

Den  Lärm  des  politischen  Sturmes  übertönten  1830  die  Diskussionen, 
der  Academie  des  sciences,  in  welchen  Geoffroy  de  Saint-Hilaire 
gegen  Cuvier  die  Lehre  der  vergleichenden  Anatomie  von  der  Einheit 
der  organischen  Welt  siegreich  verteidigte.  Man  stand  an  der  Scheide 
zweier  Weltanschauungen.  Der  Entwickelungsgedanke  brach  sich  Bahn. 
Die  französische  Naturwissenschaft  huldigte  dabei  Goethe,  und  der  ver- 
galt es  ihr  durch  die  enthusiastische  Ungeduld,  mit  der  er  ihre  Botschaft 
aus  Paris  entgegennahm. 

A.  Comte  will  dem  zerrissenen  geistigen  Leben  seiner  Zeit  die 
Einheit  wiedergeben,  die  nicht  mehr  in  der  alten  Kirche  und  ihrem 
Glauben  gefunden  werden  könne,   sondern  auf  die   Wissenschaft  der  sinn- 


1 


F.  Das  19.  Jahrhumicrt.     I.  Die  Romantik.  -iQj 

fälligfen,  positiven  Fakta  gegfründct  worden  müsse,  unter  Ausschluß  aller 
Metaphysik  und  aller  Teleoloirie.  Mit  den  Allüren  eines  Relijrionsstifters 
predigt  er  den  Glauben  an  die  große,  eine,  positivistische  Wissenschaft,  deren 
Reich  nun  nach  den  Epochen  der  Theologie  und  der  Metaphysik  gekommen 
sei  und  die  sich  auf  der  Basis  der  Mathematik  stufenweise  aufbaue  als 
Lehre  der  unorganischen  (Astronomie,  Physik,  Chemie)  und  der  organischen 
Welt  (Biologie,  Soziologie).  Die  Soziologie,  d.  i,  das  Wissen  vom  Gesell- 
schaftskörper, ist  die  Krönung  des  Ganzen.  Sie  lehrt  die  biomechanischen 
Gesetze  des  kollektiven  geistigen  und  moralischen  Lebens.  Sie  bildet  den 
sozialen  Instinkt  und  führt  den  Menschen  wissenschaftlich  zur  altruistischen 
Moral.     Es  gilt  „die  Menschheit  zu  organisieren". 

Zu  der  nämlichen  Zeit,  da  Lamennais  /e  salut  par  In  fui  verkündet, 
predigt  Comte  Ic  saliif  par  In  scicnce^  und  wie  sehr  dieses  neue  Evan- 
gelium die  Jugend  ergritf,  zeigt  Renan s  „L'Avenir  de  la  science",  das, 
in  den  Stürmen  und  Enttäuschungen  des  Jahres  1848  geboren,  der  Über- 
zeugung Worte  leiht:  Die  Zukunft  der  Menschheit  liegt  in  der  Zukunft  der 
Wissenschaft  —  ein  Bekenntnis,  dem  die  Generation  der  Renan,  Taine,  G.  Paris 
treu  blieb.  Comte  hat  weit  über  Frankreich  hinaus  die  Erziehung  zum 
wissenschaftlichen  Denken  gefördert.  Bei  allen  Übertreibungen  und 
schließlichen  Verirrungen  gehört  er  zu  den  mächtigsten  Befruchtern 
des  modernen  Geistes.  Die  „Intellektuellen"  haben  Sinn  und  Xamen  nach 
ihm  bekommen. 

Die  Anwendung  der  positivistischen  Weltanschauung  auf  das  Kunst- 
schaffen hat  den  Naturalismus  gezeitigt.  Balzac  beruft  sich  im  Vorwort 
zur  „Com^die  humaine"  1842  auf  die  Diskussionen  der  Academie  des 
Sciences,  um  seine  „zoologische"  Betrachtung  der  menschlichen  Gesellschaft 
zu  rechtfertigen. 

Unter   den    zahlreichen    und    bedeutenden  Historikern   haben   zwei   als  Ehe  Ge«:bicht- 
Staatsmänner  eine  hervorragende  Rolle  gespielt:  Guizot  und  Thiers.  «chreibang 

Guizot  ist  auch  als  Historiker  der  Mann  der  staatsmännischen  Aktion, 
den  besonders  die  Aufdeckung  des  Schachspiels  der  Politik  interessiert. 
Ein  ganzer  Mann,  aus  dessen  ruhiger  Erzählung  die  Energie  spricht,  mit 
der  er  als  Minister,  der  Tyrannei  und  der  Demokratie  gleichermaßen  feind, 
eine  starke  Königsmacht,  eine  kräftige  Bourgeoisie  und  das  sie  verbindende 
Christentum  verteidigte.  Das  sind  die  drei  Komponenten  der  europäischen 
Zivilisation,  deren  Geschichte  er  schrieb,  lehrhaft  wie  ein  protestantischer 
Bossuet.  Sein  schönstes  Buch  sind  seine  Memoiren.  Den  trefflichen 
Mignet  fesseln  die  Revolution  und  die  Reformation.  Entgegen  der  tra- 
liitionellen  heroistischen  Geschichtsauffassung  betont  er  die  treibenden 
Kräfte  der  Massen,  was  diesem  ernsten  Forscher  und  klaren,  bündigen 
Darsteller  den  obertlächlichen  Vorwurf  des  l'atalismus  eingetragen  hat 
Sein  Freund  Thiers  ist  auch  als  Historiker  der  kluge,  redegewandte  poli- 
tische Geschäftsmann.  Er  macht  die  Geschichte  Bonapartes  intelligent 
zurecht    und    vertritt    die    Moral    des   Erfolges.     Um    fesselt    das   klirrende, 

20* 


tqS  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

glänzende  Leben,  das  er  packend  darstellt.  Er  malt  das  glorreiche 
Kaisertum  im  Gegensatz  zur  tristen  Restauration  und  schaflft  mit  Beranger 
und  Hugo  jene  Kaiserlegende,  die  Napoleon  III.  die  Wege  ebnete,  den 
er  so  wenig-  wie  Hugo  liebte.  A.  de  Tocqueville  ist  der  Aristokrat,  der 
die  Geschichte  der  Demokratie  schreibt.  Er  sieht  mit  Bedauern,  aber 
auch  mit  Gott  vertrauen,  wie  die  moderne  Entwicklung  auf  die  Zerstörung 
der  alten  Aristokratien  hinarbeitet.  Er  geht  nach  Amerika,  studiert  dort 
die  Demokratie  an  Ort  und  Stelle  und  schildert  sie  streng  geschichtlich, 
mit  wunderbarer  Unparteilichkeit.  Dann  wendet  er  sich  zu  den  Verhält- 
nissen seines  eigenen  Landes  und  erforscht  die  langsame  Entwickelung 
demokratischer  Gedanken  im  i8.  Jahrhundert,  die  zur  Revolution  führte 
{Uancien  regime  et  la  revoliition  i8ßö).  Diese  selbst  und  die  moderne 
Gesellschaft  zu  schildern,  war  ihm  nicht  mehr  vergönnt.  Taine  wird  seine 
Arbeit  fortsetzen;  wenn  er  glänzender  und  philosophischer  darstellt,  so  ist 
ihm  Tocqueville  doch  an  strenger  Objektivität  überlegen. 

Thierry   und   Michelet   sind   Forscher   und   Poeten    zugleich,    sie    sind 
romantische  Historiker. 
A. Thierry.  A.  Thierrys    (-j-    1856)    Geschichtschreibung    hat    zwei    Quellen:    die 

Politik  und  die  Poesie.  Die  farbige  Welt  von  Chateaubriands  „Martyrs" 
und  Scotts  „Ivanhoe"  führt  ihn  zum  Studium  des  Mittelalters,  dem  er 
stets  als  Epiker  gegenübersteht.  Die  bewegte  Gegenwart  führt  ihn  zur 
Politik.  Die  alte  Lehre,  daß  die  französischen  Edelleute  von  den  ger- 
manischen Eroberern  und  das  Volk  von  den  unterworfenen  Kelten  ab- 
stamme, war  von  dem  anspruchsvollen  Adel  der  Restauration  zum  poli- 
tischen Leitsatz  erhoben  worden.  Man  sprach  mehr  als  je  von  den  deux 
races  Frankreichs,  wobei  man  race  auf  deutsch  freilich  nicht  mit  „Rasse", 
sondern  mit  Stamm,  Volkstum  wiedergeben  soll.  Thierry  greift  diesen 
Gedanken  als  Historiker  auf  und  wendet  den  so  geleiteten  Blick  auf  die 
Eroberung  Galliens  und  Britanniens  durch  die  Germanen,  Die  ganze  Ge- 
schichte Frankreichs  —  und  Eng'lands  —  erscheint  ihm  als  ein  durch  die 
Jahrhunderte  fortgesetztes  Ringen  zwischen  den  germanischen  Siegern  und 
den  keltischen  Besiegten.  Die  Revolution  von  1789  ist  ihm  die  endliche 
Auflehnung  des  Gaulois  vaincu.  Die  Geschichte  Frankreichs  stellt  sich 
ihm  also  im  Grunde  als  Ihistoire  dune  conqiicte  dar.  Dabei  gelte  es,  die 
Geschichte  des  Besiegten  zu  schreiben,  die  noch  fehle:  die  Entwickelung 
der  Landschaft,  der  Gemeinden,  des  Bauern.  Und  keinen  Frieden  werde 
es  in  Frankreich  geben,  ehe  es  gelungen  sei,  die  letzten  Spuren  der  alten 
Eroberung  zu  tilgen  [effacer  la  conquete).  Eifrig  wendet  sich  der  junge 
Politiker  historischen  Quellenstudien  zu.  Er  lernt  „die  Geschichte  um 
ihrer  selbst  willen  lieben".  Er  wird  ein  ernster  Forscher,  der  freilich  den 
alten  Clironisten  oft  zu  sehr  vertraut.  Er  besitzt  die  Kraft,  vergangene 
Zeiten  lebensvoll  auferstehen  zu  lassen.  Seine  Geschichte  der  Eroberung 
Englands  (1825),  seine  „Recits  des  temps  merovingiens"  (1833)  sind  das 
Werk   eines  Künstlers  und   haben   epische  Züge.     Thierry  ist   der  Epiker 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  500 

zweier    weltg-oschichtlicher    Eroberunj:ren,    dos.sen    Sympathion    den    Unt<r- 
worfenen  j^clten.     Er  schreibt:  Pt'popct'  (/ts  vaincHs. 

Thi(*rrys  Grundauffa.^.sun^  von  den  beiden  feindlichen  X'olk.stümern, 
die  sich  auf  dem  Boden  Frankreichs  vom  5.  bis  zum  19.  Jahrhundert  be- 
kämpfen, ist  wissenschaftlich  unhaltbar.  Er  hat  sie  später  auch  selbst  auf- 
frejreben.  Dafür  haben  andere  sie  wieder  aufgenommen.  Die  antiquierte 
Lehre  von  der  Konstanz  der  Arten  förderte  den  Glauben  an  eine  so- 
genannte „Konstanz  des  Volkstums"  {rirreiiuctibilifi'  des  nic€s)\  die  Ent- 
deckungen der  indogermanischen  Sprachvergleichung  lieferte  die  an- 
gebliche Grundlage  für  die  Hypothese  einer  „arischen  Rasse",  der  Rasse 
der  Eroberer  und  Kulturträger  xar'  i^o-piv.  Solche  Rassentheorie  ist  auch 
in  diesem  neuen  Aufputz  eine  politische  Phrase  geblieben  wie  zur  Zeit 
der  Restauration,  ein  Gefühlspostulat,  das  wissenschaftliche  Allüren  zur 
Schau  trägt,  und  mit  dem  heute  ein  Evangelium  des  Streites  gepredigt  wird. 

Neben  dem  Epiker  Tlnerry  der  Lyriker  Michelet  (f  1874).  Michelet  J  MicheUt 
erzählt  in  seinem  wundervollen  Buche  „Ma  jeunesse",  wie  er,  ein  armes 
Pariser  Kind,  unter  Entbehrungen  und  Demütigungen  heranwuchs:  „Ich 
kannte  die  Menschen  nur  durch  das  Böse,  das  sie  uns  zufügten."  Der 
Anblick  eines  Museums  weckte  sein  geschichtliches  Interesse,  ein  Land- 
aufenthalt bei  bäuerlichen  Verwandten  sein  Verständnis  für  Natur,  Volks- 
leben und  Folklore;  die  Lektüre  der  Iniifafio  CJiristi  offenbarte  ihm  Gott: 
je  seniis  Dien.  Er  ist  religiös  aber  unkirchlich.  Michelet  ist  von  tiefem 
und  leidenschaftlichem  Fühlen.  „Meine  Ideen  kommen  meist  aus  dem 
Herzen."  Er  wird,  nach  seinem  eigenen  Wort,  die  historische  Welt  mit 
seinem  Herzen  erklären.  Er  ist  ein  begeisternder  Lehrer,  der  Freund 
seiner  Schüler.  Für  sie  schreibt  er  18 .''7  einen  meisterlichen  Leitfaden  der 
neueren  Geschichte,  der  noch  heute  verbreitet  ist:  eine  Bilderreihe  für  die 
Jugend,  eine  Gedankenreihe  für  die  Erwachsenen.  Vico  hat  ihn  gelehrt^ 
daß  die  Geschichte  der  fortschreitende  Sieg  der  Freiheit  ist.  Mit  dem 
Plan  zu  einer  Reformationsgeschichte  beschäftigt,  besucht  er  1828  la  botnie 
et  sai'ante  Allemugtie,  um  Luther  zu  studieren,  diesen  „Mann  des  Volks, 
der  ein  Arbeiter  war  wie  sein  Vater,  der  Bergmann:  ein  gtiter,  treuer 
Schmied  des  Herrn  (////  bon  et  loyal /orgeroti  de  Die//)".  Er  lernt  J.Grimm 
kennen,  dessen  „Rechtsalterthümer"  ihm  „die  juristische  Poesie  des  Volkes 
erschließen".  Später  besucht  er  in  Tübingen  Uhland,  le  fninnesunger 
souabe.  Er  popularisiert  in  Frankreich  die  Forschungen  Niebuhrs  und,  um 
die  römische  Geschichte  erzählen  zu  können,  studiert  er  Land  und  Leute 
in  Italien.  Seit  1831  verbindet  er  mit  dem  akademischen  Lehramt  die 
Direktion  des  Nationalarchivs,  „wo  die  Urkunden  Childeberts  neben  dem 
Testament  Ludwigs  XVI.  ruhen".  Hier  forscht  er  unermüdlich  wie  keiner 
vor  ihm.  Er  schwelgt.  Er  lacht  unti  weint  mit  seinen  Helden,  deren  Leben 
er  selbst  lebt.  In  24  Bänden  erzählt  er  (^1833-1867)  die  Geschichte  seines 
Landes,  erst  das  Mittelalter  —  seine  bedeutendste  wissenschaftliche 
Leistung  — ,   dann    die    große  Revolution,    und  hierauf  holt  er  das   16.  bis 


3IO 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


1 8.  Jahrhundert  nach.  Die  Geschichte  der  Revolution  schrieb  er,  während 
das  Jahr  1848  um  ihn  brauste.  Durch  den  Staatsstreich  verlor  er  sein 
Amt;  seine  Schulbücher  wurden  verboten.  Immer  nachdrücklicher  wird 
er  der  Anwalt  des  vergewaltigten  Volkes  und  der  Ankläger  von  Thron 
und  Altar.  Der  Krieg  von  1870  warf  ihn  aufs  Krankenlager,  machte  ihn 
aber  nicht  ungerecht.  Er  protestierte  gegen  das  erobernde  Deutschland, 
aber  dankbar  fuhr  er  fort,  Beethoven,  Grimm,  Pestalozzi  seine  Erzieher  zu 
nennen.  Auch  er  verfiel  dem  Vorwurf,  daß  er  nach  deutscher  Methode 
arbeite  —  und  wie  französisch  ist  er  doch!  Mit  erlahmender  Hand  ar- 
beitete er  noch  an  der  Geschichte  des   19.  Jahrhunderts. 

Michelet  hat  ein  einzigartiges  Werk  geschaffen.  Er  vereinigt  einen 
ausgesprochenen  Sinn  für  Wirklichkeit  (Realismus)  mit  mächtiger  lyrischer 
Stimmungs-  und  Gestaltungskraft.  Von  dem  Bedürfnis  geleitet,  der  Ge- 
schichte eines  Volkes  eine  solide  natürliche  Basis  zu  geben,  setzt  er  die 
Geographie  an  die  Spitze  der  Historie  und  erklärt  er  die  Franzosen  durch 
Frankreich,  dessen  Provinzen,  Berge,  Flüsse,  Städte  er  in  einem  Bande 
voll  der  herrlichsten  Landschaftsbilder  schildert.  Auf  diesem  realistischen 
Boden  sprießt  ein  förmlicher  geographischer  Mythus:  diese  Landschaften, 
diese  Flüsse  werden  zu  Personen;  das  alles  atmet  und  lebt  von  der  Hand 
eines  Poeten  g^eformt.  Wie  lebt  die  Gotik  unter  seiner  Feder!  Er  baut 
sie  förmlich  nach.  Und  dieser  Poet  ist  ein  glühender  Patriot,  der  über- 
zeugt ist,  daß  sein  Vaterland  die  Welt  zum  Heile  führen  wird.  Sogar  die 
geschichtlichen  Epochen  werden  personifiziert:  das  Mittelalter  ist  „ein  Kind, 
das  aus  dem  Leibe  des  Christentums  unter  Tränen  geboren  wurde,  das 
in  Gebet,  Träumerei  und  Herzensangst  heranwuchs  und  dann  starb,  ohne 
etwas  vollendet  zu  haben  und  das  uns  eine  so  schmerzliche  Erinnerung 
hinterlassen  hat,  daß  alle  Freuden  und  Herrlichkeiten  der  Neuzeit  nicht 
imstande  sind,  uns  über  seinen  Verlust  zu  trösten".  Das  16.  Jahrhundert 
ist  ein  Heros.  Alles  wird  bei  Michelet  zum  Bilde.  Er  ist,  wie  V.  Hugo, 
ein  mythologisches  Genie.  Das  Faktum  wird  ihm  zum  Symbol,  und  auf 
den  Flügeln  seiner  Phantasie  entschwebt  der  Historiker  in  die  Höhen  der 
Dichtung.  Weil  Michelet  diese  Phantasie  nicht  durch  strenge  Methode 
zügelte,  wird  seine  Forschung  vielfach  unterschätzt.  Seine  Information  ist 
von  erstaunlichem  Umfang.  Keine  Lebensäußerung  ist  ihm  zu  g-ering,  um 
nicht  nach  ihrem  Zeugnis  befragt  zu  werden.  Die  ganze  Vergangenheit 
soll  in  seinem  Buche  als  eine  große  Einheit  auferstehn:  la  resurredion  de 
la  z'ie  integrale  du  passe!  So  ist  ihm  eine  machtvolle  Synthese  gelungen. 
Ohne  die  Schöpferkraft  des  Poeten  hätte  der  Historiker  sie  nicht  ge- 
schaffen. Daß  der  Poet  oft  überwiegt,  wird  auch  den  ernsten  Leser 
weniger  verdrießen,  als  daß  der  Rhetor  schließlich  so  oft  zum  Wort 
kommt. 

Außer  der„Histoire  de  France"  hat  der  Unermüdliche  mit  dem  Feuer- 
kopf und  dem  Feuerherzen  noch  vieles  veröffentlicht:  Abfälle  des  großen 
Werkes,    politische    und    kirchliche    Kampfschriften,    Erzieherisches    über 


V.  Das   i().  Jahrhundert.     I.  Die  Roinanlik.  ^li 

Familie,  Weib  und  Kind,  Natur.schildorungen  {L'oiscau,  In  mcr  usw.).  Er 
eriniuTt  an  Diderot.  An  lierrliche  Stücke  reihen  sich  Stellen  unerfreu- 
licher Rhetorik.  Wunderbar  vereinigen  seine  Naturbilder  die  Beobachtung^ 
des  Forschers  mit  der  Phantasie  des  Lyrikers  in  einer  Sprache  von  musi- 
kalischem Wohllaut.  Sie  sind  der  „Sonnenicesani,'-"  eines  modernen  Franz 
von  Assisi.  Michelet  empfindet  in  hohem  Maße  im  Christentum  die  Lücke 
der  Tierwelt.  Sein  Herz  zieht  ihn  zu  allem,  was  in  diesem  „universellen 
irdischen  Vaterland"  lebt.  Um  seines  Herzens  willen  glaubt  er  auch  an 
die  Unsterblichkeit  der  Seele:  „Meine  Denkfähigkeit  mag  untergehen  — 
meine  Fähigkeit  zu  lieben,  kann  nicht  sterben!  .  .  .  Guizot,  Thierry  sind 
glänzende  und  tiefe  Historiker;  ich  —  ich  habe  mehr  Liebe  als  sie."  Ein 
Strom  von  vSympathie  und  Lebenstüchtigkeit  geht  von  Michelet  aus. 

Dieser  Forscher  und  Poet  ist  unbestreitbar  ein  großer  Führer  seines 
Volkes  auf  dem  Wege  zu  Freiheit  und  Humanität. 

Die  Werke    Lamennais',  Thierrys   und  Michelets   legen  Zeugnis    dafür 
ab,    wie    im    französischen    Schrifttum    dieser    Zeit   Lyrismus    und    P'arben- 
freudigkeit    machtvoll    aufgegangen    sind.      Das    war    nicht    ohne    große  i>ie  uteraritc 
Kämpfe    geschehen.      Ihr    Schauplatz    sind    die    literarischen    Zeitschriften  *°"*' 

und  die  Vorreden  der  Liederbücher  und  Dramen. 

Unter  den  zahlreichen  Zeitschriften  der  ersten  Jahre  tritt  „Le  Globe" 
(1824-1830),  später  (seit  1829)  die  „Revue  des  deux  mondes"  und  die 
„Revue  de  Paris"  hervor.  Der  „Globe"  will  im  Geiste  der  Stael  Frank- 
reich mit  der  Welt  {globc)  in  Beziehung  setzen;  in  Frankreich  selbst  will 
er  die  literarische  Freiheit  erstreiten  {„laisscr  tcntcr  tun t es  Ics  cxpcrieticcs''') 
und  auch  das  geistige  Leben  der  Provinz  erwecken.  Ste-Beuve,  der  feine 
kluge  Ch.  de  Remusat,  Guizot,  Thiers  sind  Mitarbeiter.  Der  alte  Goethe 
liest  das  Blatt  mit  Lob  und  Interesse  und  übersetzt  daraus,  wie  er  ein 
halbes  Jahrhundert  zuvor  mit  Grimms  „Correspondance  litteraire"  getan. 
Die  „Revue  des  deux  mondes"  und  die  „Revue  de  Paris"  ergänzen  sich 
in  der  geschickten  und  starken  Hand  Buloz'.  Beide  dienen  der  neuen 
Zeit:  in  der  erstcren  überwiegen  die  Aufsätze  historisch-kritischen  Inhalts, 
in    der  „Revue  de  Paris*'  erscheinen  allmonatlich  die  Werke  der  Dichter. 

Die  Jugend,  die  hier  zu  Worte  kam,  schloß  sich  zu  Gesellschaften 
{fhiaclcs)  zusammen,  in  denen  der  bildende  Künstler  neben  dem  Poeten 
saß.  Dichterheim  und  Atelier  sind  Nachbarn.  Die  Vignette  wird  charak- 
teristisch für  die  Werke  des  romantischen  Verlags  Renduel. 

Zur  Musik  hatten  die  Romantiker  keine  nähere  Beziehung.  Ls  lag 
ihnen  nichts  daran,  ihre  Lieder  singbar  zu  machen.  Die  Lyriker  des 
16.  Jahrhunderts  waren  Musiker.  Ronsard  rühmte  sich  „r/<:  inarier  Us  odts 
a  la  lyrc'\     Die  Romantiker  des   19.  Jahrhunderts  sind  Maler. 

Mit    17  Jahren  beginnt   1819  V.  Hugo  als  literarischer  Redaktor  einer  v.  Hogo  »i» 
Chateaubriandschen  Zeitung  über  die  zeitgenössische  Dichtung  zu  referieren.  "***'^*''"^ 
Er  setzt  diese  kritische  Tätigkeit  in  den  Vorreden  zu  seinen  „Ödes"  (1822) 
fort  und  bringt  sie  mit  „Cromwell"  zu  einem  gewissen  Abschluß.    In  diesen 


312 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


acht  Jahren  wird  der  konservative  Schildknappe  Chateaubriands  zu  einem 
Uterarischen  Revolutionär.  Wer  diese  Entwickelung  verfolgen  will,  muß 
zum  ursprünglichen  Wortlaut  der  Texte  greifen;  Hugo  hat  seiner  eigenen 
Versicherung  zum  Trotz  den  Artikeln  später  Toilette  gemacht.  Er  ist 
nicht  wahrheitsliebend. 

Der  jug'endliche  Hugo  verteidigt  den  literarisch-ästhetischen  Katholi- 
zismus seines  Meisters  Chateaubriand,  lehnt  den  Kosmopolitismus  der  Stael 
ab,  will  von  sprachlichen  Neuerungen  nichts  wissen,  da  Racine  und  Boileau 
„die  Sprache  fixiert"  hätten.  Er  ist  „stolz  auf  unsere  Regeln"  und  möchte 
das  neumodische  „romantische  Genre  einfach  das  schlechte  nennen".  Aber 
schon  lauscht  er  gern  dem  freien  Schritte  [la  coupe  bizarre)  der  Verse 
Cheniers,  die  eben  damals  (1819)  gedruckt  wurden.  Lamartines  lyrische 
Stimmungen  (1820)  gefallen  ihm.  Mathurin  und  W.  Scott  locken  ihn  auf 
das  Gebiet  des  abenteuerlichen  Romans  (1824).  Er  bewundert  die  dra- 
matische Art  der  Scottschen  Erzählung,  die  durch  Zusammenfügung  der 
stärksten  Gegensätze  (z.  B.  von  Folter  und  Lachen)  wunderbare  Wirkungen 
erzeuge.  Den  „Quentin  Durward"  nennt  Hugo  geradezu  „/^  nouveau  drame 
de  Scott'-''  (1823).  Die  Vertreter  des  intransigenten  Klassizismus  lehnen  Hugos 
„Ödes"  als  romantisch  ab.  Inzwischen  hat  er  (1823)  begonnen,  unter 
dem  Einfluß  der  Troubadourpoesie  und  der  fremden  Balladenliteratur  Bal- 
laden zu  dichten.  Shakespeares  Dramen  und  Staels  „De  l'Allemagne" 
treten  mächtig  in  seinen  Gesichtskreis.  Jetzt  {Ödes  et  ballades)  verwirft  er 
jene  „künstliche  Literatur",  welche  für  die  Tragödie  andere  Schönheits- 
vorschriften aufstelle  als  für  den  Roman,  die  überall  Regelhaftigkeit 
predige,  als  ob  die  Regellosigkeit  des  Urwaldes  und  Shakespeares  nicht 
schön  wäre!  Frei  müsse  die  Dichtung  werden,  nachdem  sie  klassisch, 
d.  h.  wesentlich  nachahmend,  gewesen  sei.  Die  neue  Schule  wolle  kein 
Echo  sein  und  arbeite  nicht  nach  berühmten  Mustern,  sondern  nach  Natur 
und  Wahrheit.  Ihr  Name  romantisch,  den  er  jetzt  adoptiert,  bedeute 
einfach,  daß  sie's  anders  machen  wollten  als  ihre  Vorgänger:  ^^Faisons 
autrement!^^  Das  ist  die  umfassendste  Definition  des  Romantikers:  er  ist 
der  Widerpart  des  Klassizismus. 

An  dem  Wege,  den  Hugo  in  diesen  Jugendjahren  gegangen  und  der 
ihn  immer  mehr  von  Chateaubriand  entfernte,  stehen  als  Marksteine 
Ch^nier,  Scott,  Shakespeare  und  Frau  v.  Stael.  Auf  die  Dramaturgie  der 
letzteren  stützt  er  sich  in  seiner  berühmten  Vorrede  zu  „Cromwell"  (1827). 
Was  er  als  sogenannte  historische  Wissenschaft  aus  dem  Eigenen  hinzu- 
fügt, ist  sehr  anfechtbar.  Auf  ein  erstes,  lyrisches  Zeitalter  der  Poesie 
(Genesis)  sei  ein  episches  (Homer)  gefolgt.  Aber  erst  das  dritte,  christ- 
liche Zeitalter  habe  den  wahren  dualistischen  Charakter  der  Welt  erkannt 
und  neben  dem  Schönen  und  Erhabenen  auch  das  Häßliche  und  Groteske 
künstlerisch  gestaltet.  Seine  Eigenart  liege  in  der  fruchtbaren  Vereinigung 
dieser  beiden  Gegensätze  [sublime  et  grotesque),  die  sein  wahrer  Poet, 
Shakespeare,  biete.    Dieses  dritte  Zeitalter  sei  dramatisch  und:  „le  drame 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     1.  Die  Romantik.  ^i^ 

fsi  la  Poesie  complite^^.  K.s  umfaßt  da.s  g-anze  Leben  in  .seiner  Realität: 
,Joui  ce  (]ui  t'sf  t/tins  la  fiature.  est  dnns  l'art'*.  Der  Künstler  müsse  die 
Xatur  wie  durch  einen  Hohlspiejjfel  konzentriert  wiedervfeben.  Er  solle 
das  Charakteristische,  die  Lokal-  und  Zeitfarbe  suchen.  Und  diese  freie 
Kunst  bedürfe  eines  freischreitenden  Verses  und  freier  Wortwahl.  Sie 
bedürfe  auch  statt  nörgelnder  Kritiker  einer  befruchtenden  Kritik,  welche 
die  Schönheiten  aufweise  (fritiquc  des  bcaiiti's). 

Hugo  ahnte  nicht,  daß  das  freie  Drama,  das  er  hier  postulierte,  im 
Mittelalter  bestanden  hatte  und  von  den  Romantikern  des  17.  Jahrhunderts 
gegen  die  Akademie  verteidigt  worden  war.  Lst  also  das  „romantische 
Drama"  in  Frankreich  nicht  so  neu,  wie  er  meint,  so  i.st  doch  die  glänzende 
Form  neu,  in  der  er  es  verkündet.  Die  Prc/ace  zu  „Crom well"  ist,  obwohl 
nicht  in  Versen  geschrieben,  voller  Poesie;  sie  ist  weniger  verständig  als 
der  Art  poetiquc  Boileaus,  aber  in  ihrem  Schwung  und  ihrer  Bildlichkeit 
das  Werk  eines  Dichters. 

Die  Lehre,  daß  die  ganze  Xatur  Gegenstand  der  Kunst  sein  müsse, 
schließt  bereits  den  späteren  Realismus  und  den  Naturalismus  in  sich,  der 
sich  dann  auch  auf  Hugo  berief,  den  Hugo  aber  ablehnte.  Ihm  selbst 
dient  das  Häßliche  und  Grote.ske  nur  als  antithetische  Folie  für  das  Er- 
habene.    Die  Antithese  ist  bei  ihm  das  Primäre.     Sie  ist  seine  Kunstform. 

Diese  Preface  wurde  das  eigentliche  Wahrzeichen  der  romantischen 
Schule  in  Frankreich  und  Hugo  ihr  bewunderter  Führer.  Es  ist  eine 
merkwürdige  Erscheinung,  daß  diese  Schule,  deren  Größtes  lyrische 
Dichtungen  sind,  sich  um  eine  Dramaturgie  scharte  und  im  Drama  ihr 
Heil  sah. 

Im  nämlichen  Jahre  (1827)  veröffentlichte  der  Medizin.student  Sainte- 
Beuve  im  „Globe"  Studien  über  die  leichter  des  16.  Jahrhunderts.  Er 
zeigte  die  Freiheiten  ihres  persönlichen  poetischen  Stiles  und  ihres 
reichen  Strophenbaues  und  schuf  den  Romantikem  nachträglich  literarische 
Ahnen  und  historische  Hilfstruppen,  bei  denen  er  selbst  die  verlorene  Form 
des  Sonetts  wiederfand. 

Inzwischen  hatte  sich  Hugo  auch  politisch  von  Chateaubriand  emanzi- 
piert. Der  Monarchist  von  1819  ward  zum  Revolutionär  von  1830.  Der 
Saintsimonismus  bringt  ihm  die  soziale  Frage  näher.  Die  Kunst  wird  ihm 
eine  soziale  Funktion,  das  Amt  des  Dichters  ein  Prie.steramt  zur  Erziehung 
des  Menschengeschlechtes,  der  Dichter  zum„Po^te  saint"  der  Renaissance 
mit  moderner  Mission.  Stets  und  nachdrücklich  hat  Hugo  die  Formel  /'<//■/ 
pour  l\irt  —  die  vielleicht  aus  V.  Cousins  Vorlesungen  stammt  —  abgelehnt 
Er  spricht  von  der  „hoheitsvollen  Verbindung  des  Schönen  mit  dem  Nütz- 
lichen". Aber  die  anmaßende  Form,  in  der  er  seine  Hoheprie.sterrolle  zu 
spielen  begann,  erweckte  auch  innerhalb  der  Schule  Widerspruch.  Sainte- 
Beuves  Weltverstaiul,  Mussets  Temperament  vertrug  dieses  Getue 
nicht  Musset  wandte  sich  zum  heiteren  Spott  gegen  die  Romantik, 
während  zur  nämlichen  Zeit  (1835)  Gautier  die  Lehre  des  l'art  pour  Vart 


314 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


in    aller    Schroffheit    verkündete:    „Nur    das    ist    wahrhaft    schön,    was    zu 
nichts  nütze  ist  —  touf  cc  qui  est  iitilc  est  laid.'-'' 
Das  weseu  Die   roiTiantische  Doktrin,   die  rings   um  Hugo   in   zahllosen  Vorreden 

der  Romantik.  ^^  Licdcrn,  Dramen  und  Romanen  zum  Ausdruck  kommt,  birgt  viel 
Schwankendes,  Wechselndes  und  Widerspruchsvolles.  Musset  hat  darüber 
in  den  Briefen  seiner  literarischen  Spießbürger  Dupuis  und  Cotonet  mit 
köstlichem  Humor  gescherzt  und  die  Romantik  schließlich  spöttisch  als 
die  metaphorische  Verschwendung  der  Epitheta  ornantia  definiert:  Vespoir 
vermeil,  la  ßeiir  qui  vole  et  l'oiseazi-  qui  embaume.  Im  Schöße  des 
Romantismus  ruht  in  Wahrheit  die  ganze  literarische  Entwickelung  des 
IQ.  Jahrhunderts:  der  Realismus  Balzacs  und  der  Naturalismus  Zolas,  die 
Lehre  des  „Parnasse"  wie  die  der  sozialen  Poesie  und  des  vSymbolismus. 
Sie  alle  entfalten  sich  neben-  oder  nacheinander  auf  dem  Boden  der 
literarischen  Freiheitslehre,  welche  der  Romantismus  verkündet  hat.  Der 
Dichter  soll  sein  persönliches  Empfinden,  die  vom  Klassizismus  verpönten 
„sentiments  particuliers",  ohne  den  Formelkram  der  überkommenen  poe- 
tischen Rhetorik  aussprechen. 

Le  poete,  oubliant  Venus  et  sa  rigueur, 
Au  Heu  de  sa  jnemoire  interroge  son  coeur, 

singt  Ulric  Guttinguer.    Er  soll  über  die  ganze  Sprache  verfügen  können, 
auch  über  den  Teil,  den  der  Klassizismus  als  unedel  geächtet  hatte. 

Qui  delivre  le  mot,  delivre  la  pensee, 
ruft  Hugo,  der  sich  auch  rühmt,  den  Vers  aus  dem  „Zäsurkäfig"  befreit 
zu  haben,  damit  er  auf  ungehemmten  Schwingen  sich  in  den  Himmels- 
raum erhebe.  Und  für  diese  volle  Sprache  und  diesen  beschwingten  Vers 
soll  dem  Dichter  die  ganze  Welt  der  Farben  und  Formen  zur  Verfügung 
stehen  und  ihm  Bilder  liefern,  bald  scharf  und  leuchtend  in  Zeichnung' 
und  Kolorit,  bald  vag  und  verschwommen  in  Färbung  und  Umriß.  So 
vereinigt  die  Romantik  alle  literarischen  Reformbestrebungen  vom 
Naturalismus  bis  zum  Symbolismus.  Die  Romantiker  sind  die  Naturalisten, 
sie  sind  auch  die  Symbolisten  ihrer  Zeit.  Die  Anhäng'er  der  Alten  warfen 
ihnen  sowohl  Vulgarität  der  Sprache  und  der  Lebensbilder,  als  Dunkelheit 
der  Metaphern  und  Phantastik  vor.  Denn  der  Romantismus  verlangt: 
Freiheit  in  der  Wiedergabe  der  inneren  und  äußeren  Welt.  Das  ist 
seine  große  Seite.     Dadurch  ist  er  fruchtbar  g^eworden. 

Diese  literarische  Freiheitslehre  ist  g'ermanischer  Herkunft.  Sie  ist 
dafür  von  den  Hütern  der  lateinischen  Tradition  auch  als  teutonisch 
{tudesque)  und  barbarisch  gescholten  worden.  Der  Romantismus  ist  eine 
Befruchtung  der  französischen  Kunst  durch  diese  germanische  Lehre,  die 
am  meisten  dem  Teil  der  Dichtung-  zug'ute  kam,  der  der  Freiheit  am  meisten 
bedarf:  der  Lyrik.  Gewiß  irren  die,  w^elche  die  romantische  Dichtung 
Frankreichs  schlechthin  germanisch  nennen.  Diese  Dichtung  ist  vielmehr 
echt  französisch  —  ebenso  französisch,  wie  das  Volkslied,  das  in  ganz 
Frankreich  so  voll  und  frei  erklingt  wie  in  Deutschland.     Aber  geweckt 


F.  Das  iq.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  •»je 

wurdt*  die  romantische  Dichtunj^  durch  germanischen  Einfluß,  gerade  so 
wie  durch  ihn  der  Wog  zum  N'olk.sHcd  gewiesen  wurde.  Seit  zwei  Jahr- 
hunderten schlummerte  die  lyrische  Poesie  in  der  liefe  der  amc  /riin(aiu\ 
vom  Klassizismus  verschüttet.  Wie  Moses  mit  dem  Stab  den  Fels  in 
Horeb  öffnete,  daß  das  verborgene  Wasser  hervorsprang,  so  schlug  der 
Romantismus  — cc  Titan  du  Rliin,  wie  Banville  sagt  —  wider  den  Felsen 
des  Klassizismus,  daß  der  Quell  der  Lyrik  mächtig  aufbrach  und  bis  auf 
den  heutigen  Tag  reich  und  erquickend  fließt.  Zur  Zeit  der  Völker- 
wanderung hatten  die  Germanen  in  Gallien  als  ej)isches  Ferment  ge- 
wirkt; jetzt,  tausend  Jahre  später,  ruft  ihr  friedliches  Bei.spiel  dort  die 
Lyrik  wach.  In  diesem  Sinne  ist  das,  was  nach  den  Romanen  A 
romanfismc  genannt  wird,  in  Wahrheit  germanischen  Geistes. 

Die     Erweckimg     der    Lyrik,     die     Schaffung     einer    Literatur     von  i»«  iyri»che 
lyrischen     Qualitäten     macht     das     eigentliche    Wesen     der     französischen     '*''^  **"* 
Romantik  aus. 

Neben  dem  Orchester  der  romantischen  Dichtung  erklingt  etwas 
mager  (i 8 13— 1833)  ^^^^  Glöcklein  der  Chansons  Berangers,  die  in 
Deutschland  zu  so  dauerndem  Ruhme  gekommen  sind.  Den  Anakreon- 
tiker  alten  Schlages,  der  in  ihm  steckt,  haben  andere  an  Anmut  und 
Ursprünglichkeit  übertroffen.  Die  Not  des  Lebens  gab  ihm  Lieder  ein, 
deren  unbestreitbarer  Reiz  freilich  oft  durch  Sentimentalität  leidet  Die 
Restauration  reizt  seinen  Zorn,  den  er  in  witzige  Spottlieder  oder  in 
patriotische  Chansons  goß,  welche  die  Erinnerung  an  den  ersten  Kaiser 
und  die  grandc  armi'c  belebten.  In  die  neue  soziale  Bewegung  warf  er 
kräftige  Proletarierlieder.  Er  ist  ein  oft  recht  prosaischer,  sprachanner 
Reimer,  der  die  Fessel  seines  Refrains  mühsam  trägt.  Die  Muse  seiner 
Jugend,  die  Grisette,  spukt  auch  noch  in  den  Versen  des  Alternden. 
Unter  den  Neuen  hat  Coppee  die  größte  Ähnlichkeit  mit  ihm. 

Auch  Lamartine  (1790—1869)  kann  nicht  zur  Schule  der  Romantiker  i^martwe 
gerechnet  werden.  Er  steht  für  sich.  Die  wahre  Quelle  für  die  Kenntnis 
seiner  Entwickelung  bilden  nicht  seine  Memoiren,  sondern  sein  Brief- 
wechsel. Seine  ersten  Gedichte  sind  die  eines  Libertin  des  18.  Jahr- 
hunderts. Dann  halten  die  Zeitläufte,  Rousseaus  und  Chateaubriands  Bei- 
spiel woltschmerzlichc  Emj^findungen  bei  ihm  fest.  Es  entsteht  eine  erste 
Sammlung  melancholischer  Stimmungsbilder  {Mvdilniions  poi'iiqucs  1820), 
die  der  Verleger  Didot  als  unfranzösisch  zurückweist,  deren  ungeheurer 
Erfolg  aber  zu  einer  zweiten  {Xotivi'llcs  vii'iiitatiotis)  und  dritten  Samm- 
lung {Ilarnionits  poi'tiijuis  et  rcligieiiscs  1830)  führt.  Petrarca,  die 
Bibel,  Ossian  und  der  „Luzifer"  Byron  inspirieren  Lamartine,  aus  dessen 
Liedern  die  gläubige  Innigkeit  der  einen  und  die  Düsterkeit  und  Ver- 
zweiflung der  anderen  spricht.  Er  lernt  in  Herder,  den  Quinet  eben 
übersetzte,  einen  verwandten  Geist  und  einen  Lehrer  der  Humanität 
kennen.  Auch  in  dem  groß  angelegten  epischen  Versuch  einer  Mensch- 
heitsepopöe   „Les   Visions",    von    der    nur    Fragmente    {Jociiyn,    La   chutc 


3i6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

ifun  angc)  erschienen  sind,  ist  er  Lyriker.  Mit  den  „Recueillements 
poetiques"  des  Fünfzigjährigen  schließt  die  Dichterlaufbahn.  Der  Politiker 
löst  den  Poeten  ab  und  nachdem  er  1848  als  Minister  des  Auswärtigen 
kurze  Zeit  die  Schicksale  Europas  gelenkt,  kehrt  er,  arm,  zur  Literatur 
zurück.  In  der  hastigen,  sorgenbedrückten  Arbeit  der  letzten  zwanzig 
Jahre  ist  noch  hie  und  da  die  Inspiration  der  glücklicheren  Zeiten  zu 
erkennen. 

Lamartine  ist  ein  großer  Dichter,  und  er  ist  ganz  Romantiker  in  der 
übermächtigen  Subjektivität  seines  Liedes.  Er  ist  eitel  Gefühl.  Er  haßt  den 
Esprit  g-aulois.  Aber  so  voll  er  die  innere  Welt  darzustellen  vermag,  die 
äußere  bleibt  farblos  wie  in  der  klassischen  Dichtung.  Er  verwendet  auf 
ihr  Bild  ebensowenig  Sorgfalt  wie  auf  die  Reimsprache.  Die  Gedanken- 
stürme seiner  Zeit  dichten  in  ihm  herrliche  Lieder.  Er  erklingft  wie  das 
natürliche  Instrument  eines  inneren  Gesanges.  Daß  Komponisten  seine 
harmonischen  Verse  „in  Noten  übersetzten",  liebte  er  nicht. 

Man  hatte  ihn  in  Frankreich  über  der  Sprachkunst  der  Pamassiens 
lange  Zeit  vergessen.  Jetzt  ist  er  wieder  zu  Ehren  gekommen,  er,  der 
mit  Recht  von  sich  sagen  durfte,  daß  er  der  erste  w^ar,  der  „die  Poesie 
vom  antiken  Parnaß  herabgeholt  und  der  sogenannten  Muse  statt  einer 
konventionellen  siebensaitigen  Lyra  die  Fibern  des  Menschenherzens  ge- 
geben, die  von  den  Schauern  der  Seele  in  Schwingungen  versetzt  waren". 
Von  allen  französischen  Dichtern  steht  wohl  Lamartine  Goethescher  Lyrik 
am  nächsten. 
A.deVigny.  Viguy  (1797— 1863),    der    1835,    auf  der  Höhe    seines   Ruhmes,    seine 

poetische  Arbeit  fast  gänzlich  einstellt,  ist  der  Denker  der  romantischen  Schule. 
Er  erhebt  die  persönliche  Empfindung,  der  er  dichterischen  Ausdruck  gibt, 
zur  Höhe  von  Menschheitsproblemen.  Er  liebt  die  unpersönliche  Form 
des  Symbols.  Die  Lösung,  die  er  dabei  den  Problemen  gibt,  ist  die  des 
Pessimismus.  Im  Gegensatz  zu  den  übrigen  Romantikern  ist  er  der  stille, 
in  sich  gekehrte  Poet,  ohne  besondere  Fruchtbarkeit  langsam  produzierend. 
Er  ist  durchaus  nicht  farblos.  Er  hat  vielmehr  giänzende  Farben  auf 
seiner  Palette;  aber  er  malt  mit  w^eniger  Verschwendung  als  die  anderen. 
Er  ist  einfach  in  Vers  und  Rhythmus.  Das  Schreiende  der  romantischen 
Kunst  erscheint  ihm  als  Unaufrichtigkeit.  Die  Natur  begeistert  ihn  nicht. 
Er  naht  ihr,  wie  der  Gottheit,  als  Ankläger,  da  alle  Kreatur  mit  einem 
geheimnisvollen  Fluch  beladen  sei  und  leide.  Der  sterbende  Wolf  lehrt 
ihn:  „souffre  et  viceurs  satts  parier!"  Widmanns  „Der  Heilige  und  die 
Tiere"  ist  Geist  von  Vignys  Geist.  Seine  Kunst  ist  Gedankenlyrik.  Das 
ist  seine  wahre  Originalität  angesichts  der  deutlichen  Spuren,  die 
Cheniers  Neoklassizismus,  Chateaubriands,  Miltons  und  Klopstocks  Bilder- 
welt und  Byrons  Stimmung  bei  ihm  zurückgelassen  haben.  Der  Denker 
ist  nach  Vignys  Meinung  der  eigentliche  Mann  der  Tat.  Die  Macht  des 
Gedankens  wird  die  Menschheit  aus  dem  Schiffbruch  der  Individuen 
retten  und  an  die  gastliche  Küste  des  Reiches  der  Wissenschaften  tragen. 


K.  Das  i«j.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  ^i-. 

Der  LyriktT  Vi^ny  hat  mit  „Poömes"  im  Geiste  Cheniers  bej^onnen. 
Lr  hat  daim  die  Romantik  j^^rkrcuzt,  aus  deren  Schule  er  im  Unfrieden 
schied  und  i.st  in  seinen  letzten,  wundervollen  Gediciiten  (184.^ — 18541  der 
Verkünder  des  Reiches  der  Wissenschaften  geworden.  Sully  Prudhommes 
Gedankenwelt  setzt  sein  Werk  fort  Die  Symbolisten  lernen  von  ihm  und 
von  Lamartine. 

Sind  Victor  Hug-os  erste  Oden  (1822)  im  wesentlichen  nur  die  v  huc«, 
poetische  Einkleidung-  Chateaubriandscher  Gedanken,  .so  verrät  diese  reiche 
und  doch  schmiegsame  Einkleidung  bereits  die  künstleri.schc  Persönlich- 
keit. Er  schaift  die  strophische  (Jde  neu.  Ein  Sänger  der  Liebe  wird  er 
erst  später.  Die  Balladen  {1826)  sind  mittelalterliche  Inspirationen  von 
keckster  Sprachkunst,  die  „Orientales"  (1829)  ein  poetischer  Rausch  mit 
orientalischen  Träumen  von  wunderbarer  Eülle  des  Rhvthmus:  die  Offen- 
barung seines  sprachlichen  Virtuosentums.  In  den  folgenden  Gedicht- 
sammlungen („Herbstblätter**,  „Dämmerungsheder**,  „Innere  Stimmen", 
„Strahlen  und  Schatten",  1 831- 1840)  wendet  er  sich  mehr  zur  Schilderung 
seines  Inneren.  Inmitten  der  Zweifel,  die  ihn  bewegen  und  der  Schuld, 
mit  der  er  seine  Liebe  beladen,  wird  sein  Lied  düsterer,  aber  auch 
rhetorischer  und  prahlerischer.  Er  trägt  das  Tu  es  in  sccna  zur  Schau. 
Vom  schuldigen  Menschenleben,  von  der  Rechtfertigung  der  Leidenschaft 
wendet  sich  sein  Blick  zur  Natur  und  zu  einem  goldenen  Zeitalter  der 
Zukunft,  an  denen  er  seinen  Optimismus  aufrichtet.  Er  ist  reiner,  tiefer 
Bewegung  fähig,  solange  nicht  seine  literarische  Eitelkeit  im  Spiele  ist, 
vor  der  bei  ihm  weder  Wahrhaftigkeit  noch  Ereundschaft  bestehen  kann. 
Sein  Wissen  ist  sehr  lückenhaft.  Fremde  Sprachen  kennt  er  nicht;  für 
ruhiges  Lesen  ist  er  zu  wenig  geduldig.  Er  hat  in  den  Jahren  seiner 
unregelmäßigen  und  früh  abgebrochenen  Bildung  die  Wohltat  intellektueller 
Zucht  nicht  erfahren. 

Die  vierziger  Jahre  führen  ihn  zur  Politik.  Während  eines  Dezenniums 
veröffentlicht  er  kaum  etwas.  Die  Februarrevolution  drängt  ihn  immer 
weiter  nach  links.  Als  ein  Opfer  des  Staatsstreiches  verlebt  er  die  Jahre 
des  zweiten  Kaiserreiches  in  der  Verbannung,  die  Amnestie  .stolz  zurück- 
weisend. Sein  Ruhm  wächst  im  Exil  Von  den  nonnandischen  Inseln 
aus  schwingt  er  die  Geißel  seiner  „Chätiments"  über  „Xapoh'on  le  petit*'. 
Eis  sind  wundervolle  Stücke  darunter,  die  an  Dantes  politisches  Gericht 
erinnern.  Seine  reifste  Lyrik  enthalten  die  „Contemplations"  (1856),  in 
deren  sechs  Büchern  er  die  „Memoiren  einer  Seele"  arrangiert,  und  der 
erste  Teil  der  „Legende  des  Siecles"  (1859),  in  deren  strahlender  Bilder- 
reihe er  die  Entwickelung  der  Menschheit  vorführen  will.  Er  ist  in- 
zwischen, wie  einst  Ron.sard,  vom  hohen  Fhron  der  Ode  herabgestiegen, 
um  den  paarweise  gereimten  Ale.xandriner  wieder  aufzuheben  und  nach 
leichter  beschwingten  Liederstrophen  zu  greifen.  In  den  „Chansons  des 
nies  et  des  bois"  will  er  nochmals  jung  erscheinen.  Was  nachfolgt,  gibt 
sich  immer  großwortiger  und   an.spruchsvoller.    Aber  auch  in  dem  senilen 


^i3  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Bombast  findet  sich  noch  Schönes.  Hugo  war  von  ungeheurer  Frucht- 
barkeit. Was  eifrige  Hände  seit  seinem  Tode  (1885)  aus  dem  Nachlaß 
lierausgegeben,  vermehrt  seinen  Ruhm  nicht.  Eine  zuverlässige  Ausgabe 
seiner  Werke  steckt  noch  in  den  Anfängen  und  rückt  langsam  vor. 

Zweierlei  zeichnet  den  Lyriker  Hugo  aus:  ein  wunderbares  Form- 
gefühl und  eine  wunderbare  Energie  der  Wiedergabe.  Seine  lyrische 
Beredsamkeit  verfügt  über  alle  Töne,  über  alle  Rhythmen.  Er  läßt  sie 
schwellen,  brausen,  abklingen  mit  der  selbstverständlichen  Sicherheit  eines 
souveränen  Gebieters.  Die  Musik  seiner  Strophenfülle  flutet.  Das  Lied 
Lamartines  klingt  wie  ein  Gesang  a  capella;  das  Gedicht  Hugos  ist  mit 
Recht  eine  Orchestrierung  der  lyrischen  Themata  genannt  worden.  Hugo 
steht  zur  Wiedergabe  das  schlagende,  suggestive  Wort  zur  Verfügung, 
und  die  Macht  dieses  Wortes  erfährt  nicht  nur  der  Leser,  sondern  der 
Dichter  erfährt  sie  an  sich  selbst.  Das  Wort,  besonders  das  sonore  Reim- 
wort, reißt  ihn  fort  auf  der  Bahn  der  Empfindungen,  auf  der  er  ein  neues 
Wort  findet,  das  neue  Empfindungen  in  ihm  auslöst.  Der  Reim  wird  bei 
ihm  oft  genug  zum  Schöpfer.  Hugo  ist  ein  Dichter  des  Wortes,  und 
dankbar  hat  er  dem  Worte  als  einem  „Etre  vivant"  gehuldigt.  Mächtig 
und  in  unerschöpflichem  Reichtum  weiß  er  die  innere  Welt  mit  den 
Formen  der  äußeren  Welt  wiederzugeben.  Alle  inneren  Erlebnisse  werden 
in  sinnfälligen  Metaphern  plastisch,  farbig,  dramatisch  gestaltet.  Wo  sein 
schöpferischer  Blick  hinfällt,  entsteht  ein  Reigen  von  Bildern;  er  schafft 
ganze  Mythen  wie  sie  mächtiger  kein  jugendliches  Volk  geschaffen  hat. 
Er  steigert  die  Energie  der  Wiedergabe  durch  die  Antithese,  die  zum 
hellen  Licht  die  scharfen  Schatten  fügt.  Er  ist  ein  lyrisches  Genie  von 
unerhörter  Machtfülle. 

Aber  diesem  großen  Künstler  fehlt  die  Sophrosyne.  Wo  Hugo  maßhält, 
da  sind  ihm  vollendete  Schöpfungen  gelungen.  Doch  liegt  dieses  Maß- 
halten nicht  in  seiner  Natur  —  deshalb  ist  ihm  auch  das  Sonett  zu  enge  — 
und  schwindet  mit  dem  zunehmenden  Alter  vollends.  Sein  Kultus  des 
Wortes  führt  zum  großwortigen  Schwulst,  seine  mythologische  Begabung 
zur  prahlerischen  Häufung  der  Bilder,  seine  antithetische  Gestaltungskraft 
zum  Mißbrauch  und  zur  Übertreibung  der  Kontraste.  So  siegt  schließlich 
die  Rhetorik  über  die  Lyrik  und  bisweilen  schlägt  das  eitle  Haschen  nach 
sublimen  Effekten  wirklich  in  Lächerlichkeit  um. 

Hugo  hat  den  Anspruch  erhoben,  ein  Denker  und  ein  Führer  seines 
Volkes  zu  sein.  Dieser  Anspruch  hat  ihm  besonders  deshalb  so  viel  Spott 
eingetragen,  weil  er  ihn  so  selbstgefällig  zur  Schau  trug  und  dabei 
mit  einem  Wissen  prunkte,  das  er  in  Wahrheit  nicht  besaß.  Er  hat  oft 
genug  geradezu  Unsinn  geredet.  Der  wissenschaftlichen  Bewegung  der 
Zeit  ist  er  völlig  fremd  geblieben.  Doch  enthalten  seine  Verse  gewiß  auch 
tiefe  und  originelle  Gedanken.  Ein  Führer  seines  Volkes  ist  er  aber  nicht 
geworden.  Wenn  er  sich  vom  katholischen  Royalisten  zum  sozialistischen 
Utopisten    entwickelt   hat,    so    hat    er    eben    den    Meinungswechsel    seines 


I 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  ,,q 

Jahrhunderts  mitgemacht  Er  hat  ihn  mit  dem  Echo  seiner  Verse  ge- 
lehrig   begleitft.       Vielstimmig-    gab    seine    Seele    die    Stimmen    der    Zeit 

wieder: 

,\fon  dmt  aux  mille  voix  que  le  Dien  que  j'adore 
Mit  au  lentre  de  taut  lomme  un  i'cho  sonore. 

Man  lauscht  und  schaut  mit  Entzücken,  bis  einen  plötzlich  die  Stimme 
der  Rhetorik  schreckt,  die  sich  an  ein  sonores  Reimwort  knüpft.  Denn 
die  Rhetorik  ruht  immer  zur  Seite  Hugos  und  es  bedarf  nur  eines 
Wortes,  um  sie  zu  wecken. 

Sainte-Beuve  übt  auch  in  seinen  Gedichten  das  Amt  eines  histori-  st«-it«-uv, 
sehen  und  technischen  Führers  der  Romantik.  Er  feiert  Ronsard,  den 
reichen  Reim,  kultiviert  das  Sonett  in  reizenden  Kunstwerken  und  folgt 
Cheniers  Elegien.  Auf  der  undeutlichen  Spur  der  englischen  Lakistes 
besingt  er  das  Leben  der  Kleinen,  der  Enterbten.  Er  geht  Baudelaire 
voran  in  der  technisch  vollendeten  Behandlung  des  Abnormen. 

Musset  (1.S10-1857)  wächst  in  der  moralischen  Atmosphäre  der  ent-  Mu.wt 
schwundenen  Welt  des  Ancien  Rr^gime  auf:  er  wird  ihr  prahlerischer  Dandy 
in  seiner  Lebensführung  und  in  seinem  Dichten.  Renommistisch  übertreibt 
er  die  Sinnlichkeit  der  Elegien  Andr^  Cheniers  auf  der  Spur  Byrons. 
Er  macht  sich  die  formale  Freiheit  zunutze,  welche  die  Romantik  ver- 
kündet, und  treibt  sie  weiter  als  ihre  Schulpoesie  gestattet.  Ihn  freut  es, 
Ärgernis  zu  erregen  durch  Form  und  Inhalt:  lu  blagiic!  Oft  reimt  er 
mit  affektierter  Nachlässigkeit  die  reine  Prosa.  Von  Esprit  aber  funkeln 
seine  Verse  mehr  als  die  irgendeines  Romantikers.  Er  ist  der  geistreiche 
Libertin  des  Boulevard,  dem  auch  die  Natur  fremd  bleibt.  Die  Yun^r-Frau 
des  Berner  Überlandes  dient  ihm  zu  einem  preziösen  Kompliment  ä  la 
Voiture.  Sein  lyrisches  Talent  schlummert,  wie  sein  Glaube,  unter  einer 
dichten  Hülle  von  Blague  und  Esprit,  die  kälten  und  verletzen.  Kaum 
etwas,  was  den  großen  Lyriker  verrät.  Da  bringt  dem  Dreiundzwanzig- 
jährigen  die  Liebe  zu  George  Sand  eine  schwere  Erschütterung,  und  nun 
bricht  aus  dem  vom  Schmerz  gepflügten  Inneren  des  Unglücklichen  die 
Stimme  wahrer  Dichtung  hervor.  Der  ins  Herz  getroffene  Dandy  wird 
nach  1834  der  Dichter  unvergänglicher  Lieder,  die  in  ihrer  Form  freilich 
nichts  von  romantischer  Prachtentfaltung  haben,  die  aber  von  ergreifender 
Unmittelbarkeit  im  Ausdruck  des  Wehs,  der  Ergebung,  der  Hoffnung,  der 
Enttäuschung  sind.  Der  hochfahrende  Spötter  wirft  die  Maske  von  sich, 
lächelt  durch  Tränen  oder  bricht  in  Schluchzen  aus.  Der  Poet  hat  keinen 
anderen  Ehrgeiz  mehr,  als  —  so  sagt  er  selbst  -  „aus  einem  Lächeln, 
einem  Seufzer,  einem  Blick  eine  köstliche  Arbeit  zu  gestalten,  angst-  und 
reizvoll  zugleich,  und  aus  einer  Träne  eine  Perle  zu  bilden".  Wie  schlicht 
ist  sein  Lied  „An  eine  Blume"  oder  „An  Ninon",  die  brutic  aux  mux  bltiis! 
Er  reimt  kunstlos  roseau  mit  piano,  voith  mit  Spinosa.  Schwennutsvoll- 
lieblich  erklingt  ein  Gelegenheitsgedicht  wie  „Une  soir^e  perdue".  Ge- 
legentlich findet  er  auch  den  kecken  Ton  der  früheren  Jahre   wieder  und 


^2o  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

läßt,  wie  Heine,  ein  Gedicht  in  schriller  Dissonanz  ertönen.  Mit  dem  zu- 
nehmenden Verfall  des  Dreißigjährigen  wird  sein  Lied  seltener  und  lange 
vor  seinem  leiblichen  Ende  verstummt  es.  Musset  erinnert  an  den  größeren 
Heine,  den  er  kaum  nennt,  dessen  Einfluß  er  hie  und  da  verrät.  Es  gab 
Zeiten,  da  Heine  in  Frankreich  bekannter  war  als  Musset,  dessen  Lieder 
keinen  Schumann  gefunden  haben.  Beiden  ist  ähnliche  Gegnerschaft  be- 
schieden: sie  ist  zu  gleicher  Zeit  und  in  gleicher  Weise  zu  Wort  ge- 
kommen, als  jüngst  Mussets  Standbild  zu  Paris  enthüllt  und  in  Deutsch- 
land das  Andenken  an  Heines  fünfzigsten  Todestag  gefeiert  wurde. 

Lang  würde  die  Reihe,  sollten  alle  die  genannt  werden,  die  um 
diese  Führer  der  Romantik  mit  schönen  Gedichten  sich  scharten  oder  die 
im  Gefolge  dieser  freieren  Lyrik  ihre  klangvolle  Stimme  erhoben.  Emile 
Deschamps'  „Etudes  fran9aises  et  etrangeres"  ( 1 8 1 8)  wirkten  durch  ihr  kosmo- 
politisches Programm  und  ihre  Proben  mächtig  auf  die  lyrische  Inspiration. 
Frau  Desbordes-Valmore  fand  innige  Herzenstöne  in  Liebes-  und  Kinder- 
liedem.  Die  Enttäuschung  von  1830  entfesselte  die  „Jamben"  des  fünf- 
undzwanzigjährigen Barbier,  Satiren  voll  ungebärdiger  Kraft,  deren 
leidenschaftlicher  Ruf  ein  begeistertes  Echo  fand.  Es  erklang  das 
Lob  der  freien  Natur,  des  ländlichen  Lebens,  nicht  in  jener  bloß  kon- 
ventionellen Form,  welche  auf  der  Spur  von  Horazens  „Beatus  ille"  geht, 
sondern  als  der  Ausdruck  wahrer  Liebe  zur  ländlichen  Heimat,  zum  dörf- 
lichen Leben.  Die  Romantik  hat  auch  die  lyrische  Heimatkunst  geweckt. 
Brizeux  besingt  die  Bretagne,  Moreau  das  Tal  der  Voulzie,  Juste  Olivier 
sein  Pays  de  Vaud  am  „bleu  Leman".  Roumanille  bindet  1847  den 
reizenden  Strauß  seiner  provenzalischen  „Margarideto".  P.  Dupont,  der 
Typus  des  volkstümlichen  Chansonnier,  der  zum  schlichten  Vers  die  schlichte 
aber  siegreiche  Weise  findet,  begleitet  mit  seinen  Liedern  gleichsam  die 
ländlichen  Novellen  der  George  Sand,  bis  die  Februarrevolution  ihn  zum 
politischen  Sänger  des  erträumten  Völkerfrühlings  macht. 

Ja,  die  Romantik  hat  energische  Bestrebungen  literarischer  Dezentrali- 
sierung ins  Leben  gerufen:  L3^on  lehnt  sich  nach  1830  gegen  die  künstlerische 
Oberherrschaft  der  Hauptstadt  Paris  auf  und  stellt  in  den  Dienst  dieser 
Schilderhebung  frische  und  begabte  Kräfte  und  wahre  Poeten  wie  Laprade 
und  Soulary,  freilich  ohne  einen  dauernden  Erfolg. 
Xh.Gautier.  Th.  Gautlcr    (1811  — 1872)    beginnt    als    enthusiastischer    Romantiker, 

insofern  seiner  kecken,  impulsiven  Art  die  Auflehnung  gegen  die  Rutine 
im  Blute  liegt.  Aber  in  der  Tiefe  dieses  Temperaments  schlummert  auch 
die  Auflehnung  gegen  die  „gotische  Krankheit"  der  Romantiker  und 
gegen  das  anspruchsvolle  Prophetentum  Hugos,  das  sich  in  so  breit 
beschwingten  Strophen  rhetorisch  äußert.  Schon  seine  „Poesies"  von  1830 
verraten  die  Neigung  zum  einfacheren  Lied.  Zugleich  zeigen  sie  in  dem  als 
kalt  verschrienen  Künstler  Innigkeit  und  eine  durch  Scherz  gedämpfte 
wahre  Emotion.  Auf  diesem  Wege  führt  ihn  dann  Heine  weiter:  die 
Lieder  der  „Emaux   et  Camees"   (1852)   bestehen  aus  lauter  kurzversigen 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik. 


321 


Vierzeileni,  und  zu  mancluMi  hat  Heine  das  direkte  Vorbild  geliefert. 
Gautier  erklärt,  daß  die  Kun.st  keine  andere  Aufj^abe  habe  als  die,  Kunst 
zu  .sein.  Seine  Reisen  gelten  ausschlielMich  der  Kunst.  Er  wendet  sich 
vom  NV()j»-eniIen  Leben  ab  und  ziseliert  die  wundervollen  Verse  seiner 
„Bildersteine"  ohne  des  Sturmes  zu  achten,  „der  wider  meine  jje- 
schlossenen  Fenster  schlä^^t".  Ihn  interessiert  nur  die  Form:  in  der  Natur 
sieht  er  immer  nur  das  Bild,  im  Menschen  nur  die  Statue.  Vom  Mittel- 
alter wendet  er  sich  zum  Orient.  Sein  Malerauge  fesseln  die  großen 
strengen  Linien  der  griechischen  Plastik,  die  geheimnisvollen  Formen  der 
ägyptischen  Bildnerei. 

Lamartine  und  Musset  malen  gar  nicht.  Vigny  und  Hugo  schaffen 
glänzende  Bilder  zur  X'eranschaulichung  der  inneren  Welt;  für  beide  ist 
das  Körperliche  nur  der  Ausdruck  der  Idee.  Für  den  Maler  Gautier  aber 
sind  die  sichtbaren,  körperlichen  Linien  und  Farben  das  Primäre  und 
bilden  den  eigentlichen  Vorwurf  des  Poeten.  Man  sehe  nur,  wie  sich  bei 
diesen  Dichtern  die  Krinnerung  an  entschwundene  Liebe  zur  Klage  ge- 
staltet: zum  wehmutvoll-sinnlichen  Sang  bei  Lamartine  {Lt'  lue),  zum 
Lied,  das  wie  ein  Aufschrei  ertönt,  bei  Musset  {Souvenir)^  zur  sym- 
phonischen Dichtung  bei  Hugo  {Trisffsse  d'Olympio).  Gautier  aber  schildert 
malerisch  den  stillen  Zeugen  des  zerronnenen  Glückes,  die  Steinbank  {Le 
baue  de  pierre)^  über  welche  trauernd  die  Äste  des  Baumes  sich  neigen 
und  auf  deren  Moos  der  Mondschein  ruht. 

So  führt  er  von  der  Romantik  hinüber  zur  Fornienkunst  der  Parna.ssiens. 

Wann  immer  in  Frankreich  sich  der  Widersprucii  gegen  den  Klassi-  i>ie  Koi 
zismus  reg^e,  hat  die  Roman diciitung  ihren  Vorteil  davon  gehabt.  Die  **"''*'°* 
Romantik  bringt  ihr  einen  mächtigen  Aufschwung  und  führt  ihr  begabte 
Werkmeister  und  große  Künstler  zu.  In  der  Fülle  der  Produktion  lassen 
sich  drei  Richtungen  erkennen:  der  historische  (\\  Hugo),  der  idealistisch- 
lyrische (G.  Sand)  und  der  realistische  Roman  (Balzac,  Stendhal),  der 
dann  zugleich  über  die  Romantik  hinausführt. 

Historische  Romane  gab  es  längst,  seit  dem  17.  Jahrhundert.  Aber  Der 
es  ist  für  die  Romantik  bezeichnend,  daß  sie  dieses  Genre  zu  einer  t>»«»^ 
üppigen  —  wenn  auch  kurzen  —  Blüte  führte  und  daß  auch  die  Erzähler 
ihm  vorübergehend  gehuldigt  haben,  deren  Begabung  in  anderer  Richtung 
lag,  wie  Stendhal,  Balzac  und  G.  Sand.  Der  eigentliche  Schöpfer  dieser 
Blüte  war  W.  Scott.  Die  farbenprächtige  Erweckung  der  Vergangenheit, 
die  anschaulichen  Milieuschilderungen,  die  dramatische  Gestaltung  der 
Vorgänge,  die  lebensvolle  Charakterisierung  tler  Helden,  die  bunte,  aben- 
teuerliche Handlung  —  die  ganze  große  Kunst  mit  der  Cenchonicur  tfEäin- 
bourg  den  Schauerroman  eines  Lewis  ins  Reich  der  Poesie  erhob,  be- 
geisterte die  Franzo.sen  um  so  mehr,  als  Scotts  Erzählungen  zugleich  eine 
strahlende  Offenbarung  des  alten  Frankreich  waren,  von  der  Zeit  Richard 
Löwenherz'  bis  auf  Waverly,  mit  den  glänzenden  Bildern  Ludwigs  XL  und  der 
Maria  Stuart.    Scotts  Einfluß  herrschte  ja  auch  im  Drama  und  bestimmte  die 

Du  Kultus  dm  Giu»<wakt.    Lii.  i.  21 


mAii- 


322  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Geschichtschreibung  —  Vhistoire  waltcr  -scottee^  wie  Balzac  scherzt.  Er 
wurde  wie  ein  nationaler  Schriftsteller  gefeiert  und  (1832)  betrauert.  Aber 
die  Franzosen  schufen  auf  seiner  Spur  nichts  Ebenbürtiges.  Vigny,  der 
es  zuerst  versuchte,  vergriff  sich,  indem  er  es  wagte,  die  Figuren 
Richelieus  und  Ludwigs  XIII.,  sowie  den  Charakter  ihrer  Zeit  im  Dienste 
der  „vcrife  i?iorale"  zu  alterieren  und  die  „päleitr  du  vrai"  durch  eine  an- 
geblich höhere  Wahrheit  zu  ersetzen  {Cinq-Mars  1826).  Hugo  hatte 
bereits  in  dem  Schauerroman  „Han  d'Islande"  Scotts  dramatische  Art 
nachgeahmt,  als  er  1831  mit  „Notre-Dame  de  Paris"  das  Paris  der  Zeit 
Ludwigs  XL  zu  beschwören  unternahm.  Den  heldenhaften  und  rührenden, 
den  teuflischen  und  grotesken  Gestalten  seines  Buches  glaubhaftes  Leben 
und  der  tollen  Handlung  Wahrscheinlichkeit  zu  verleihen,  war  er  nicht 
imstande.  Aber  es  lebt  der  Handlungsschauplatz,  die  wunderbare  Kathe- 
drale und  die  malerische  Stadt,  und  es  lebt  das  bunte  Volk,  dessen 
wogendes  Meer  hier  brandet.  Der  alte  Goethe  fand  den  Roman  ein  „ab- 
scheuliches" Buch,  das  auch  das  Allerunerträglichste  und  Häßlichste  dar- 
stelle, und  er  beklagte  die  Zeit,  die  ein  solches  Buch  ergötzlich  finde  — 
so  hatte  fünfzig  Jahre  zuvor  der  alte  König  Friedrich  über  den  „abscheu- 
lichen" Götz  von  Berlichingen  und  seine  „abstoßenden  Plattheiten"  geklagt. 
Alter  und  Jugend! 

Dem  englischen  Vorbild  kommt  Merimee  am  nächsten,  der  Dichter 
mit  dem  scharfen,  archäologisch  geschulten  Blick,  dessen  Szenen  aus  dem 
wilden  Bauernkrieg  {La  Jacqiierie,  1828),  dessen  „Chronique  du  regne  de 
Charles  IX"  (1829)  eine  Galerie  fesselnder  und  treuer  Sittenbilder  sind. 
Die  Intrige  ist  lässig  geführt  und  wird  leichthin  abgebrochen;  aber  die 
Zeitstimmung,  die  bei  Vigny  fehlt  und  die  bei  Hugo  nur  im  Malerischen 
liegt,  durchdringt  das  Ganze.  K.  F.  Meyer  lernte  bei  ihm  und  fand  in 
der  „Chronique"  den  Stoff  seines  „Amulett". 

Hugo  hat  sich  später  nochmals  im  Roman  versucht  und  die  bände- 
reichen „Miserables"  (1862)  geschrieben,  in  denen  Schönes  und  Ab- 
geschmacktes, lyrischer  Schwung  und  naturalistische  Gegenständlichkeit 
zu  einem  farbenreichen  Bilde  der  letzten  fünfzig  Jahre  verbunden  sind, 
von  dem  Flaubert  sagte,  daß  „es  nicht  mehr  erlaubt  sei,  die  Welt 
so  falsch  zu  malen".  Die  beiden  anderen,  Vigny  und  Merimee,  haben 
sich  von  der  romantischen  Historie  weg  der  Novelle  zugewandt 
und  hier  als  Erzähler  ihr  Bestes  gegeben.  Vigny  widmet  zwei 
reizvolle  Sammlungen  {Stcllo  1832  und  Servitude  et  grandeur  mili- 
taires  1835),  die  in  lockerer  Komposition  je  drei  Novellen  enthalten, 
den  beiden  „Parias  der  modernen  Gesellschaft",  dem  Poeten  und 
dem  Soldaten,  deren  Leiden  er  selbst  gekostet  hat.  Der  Geist  des 
Pessimismus,  aber  eines  werktätigen  und  hochsinnigen  Pessimismus,  spricht 
aus  diesen  Geschichten.  Und  Merimee  schenkt  seinem  Lande  in  den 
nächsten  zwanzig  Jahren  eine  Reihe  Wunderwerke  der  Erzählungskunst, 
vom  Drama   des    „Mateo  Falcone"  über   das  Grausen   der  „Venus    d'Ille" 


F.  Das   i<).  Jahrhundert.     I.   Die  Romantik.  ^2  1 

und  die  Lebonsfülle  der  „Colomba"  zum  dämonischen  Zauber  der 
„Carmen"  (1845^.  Wilde  ursprünjrlicho  Menschen  haben  es  Mi'Tim<k*  an- 
getan, Korsika  zieht  ihn  an,  und  er,  der  die  Mitwelt  bereits  mit  spanischen 
Dramen  und  dalmatischen  Volksliedern  mystifiziert  hatte,  schrieb  den 
„Mateo  Falcone"  (1829),  längst  ehe  er  die  Insel  besucht  und  dort  seine 
„Colomba"  crefunden  hatte.  Der  einstige  Romantiker  kommt  hier  zu 
wahrhaft  „parnassischer"  Kunstübung.  Dieser  große  Künstler,  den  das 
Leben  gelehrt,  seine  Weichheit  hinter  Kälte  und  Ironie  zu  verbergen, 
fühlt  sich  zur  russischen  Literatur  hingezogen.  M6rim(^e  ist  der  erste, 
der  den  Franzosen  mit  der  realistischen  Erzählungskunst  Puschkins  und 
Gogols  bekannt  machte  (seit  1850)  und  so  seinem  späteren  Freunde 
Lurgenieff  den  Weg  bahnte. 

Der  historische  Roman,  dem  die  erste  große  Liebe  der  Romantiker 
gegolten,  da  seine  freie  und  bewegte  Gestaltung  ihr  stürmisches 
Sehnen  nach  „couleur  locale"  am  reichsten  erfüllte,  sank,  von  den 
Poeten  verlassen,  bald  in  seine  frühere  Sphäre  zurück.  Von  ge- 
wandten Zubereiten!  angerichtet,  diente  er  weiter  zur  Befriedigung 
des  Lesehungers  eines  nach  starken  Reizen  begierigen  Publikums 
und  feierte  im  Zeitungsfeuilleton  neue  Triumphe.  Der  erfolgreichste 
dieser  Zuberciter  ist  der  ältere  Dumas,  der  in  den  alten  Abenteuer- 
roman eine  sprudelnde,  farbige,  aber  oberflächliche  Lebensfülle  gießt  und 
mit  unerschöpflicher  Fabulierkunst  die  Geschichte  gleichsam  in  Bilder- 
bogen für  das  Volk  detailliert.  Auch  diese  naive  Kunst  hat  ihr  Recht, 
und  es  ist  anzuerkennen,  daß  Dumas  in  ihrer  schwelgerischen  Ausübung 
dezent  geblieben  ist.  Als  er  1848  seine  Kandidatur  für  die  Deputierten- 
kammer aufstellte,  konnte  er  in  seinem  Aufruf  „An  die  Arbeiter"  sich 
rühmen,  durch  seine  400  Bände  etwa  zwölf  Millionen  Franken  in  Umlauf 
gesetzt  zu  haben.  Noch  heute  werden  von  den  „Drei  Musketieren"  oder 
vom  „Grafen  von  Monte  Cristo"  Tausende  von  Exemplaren  jährlich  ver- 
kauft.    Dumas  ist  bis  heute  populär  geblieben. 

Immer  zieht  der  historische  Roman  auch  wieder  große  Künstler  an 
und  findet  vereinzelt  Pflege.  Die  über  das  Ägypten  der  Pharaonenzeit 
erschienenen  Bilderwerke  führte  Th.  Gautier  zum  Farbenrausch  seines 
„Roman  de  la  Moniie"  (1858).  Bald  darauf  folgte  ihm  Flaubert  mit  der 
gemessenen  Kunst  seiner  „Salammbö"  und  seiner  „Herodias":  orientalische 
Archäologie  zu  glänzendem  epischem  Geschmeide  gestaltet. 

In  den  literarischen  Frühling  des  Jahres  1830  tritt  plötzlich  eine  junge  c  s«o<i 
l-rau,  die  unter  der  Last  zerrütteter  Familienverhältnisse  aus  dem  heimat- 
lichen Berry  nach  der  Hauptstadt  geflohen  war.  Sie  greift  zur  P'eder, 
leistet  Mitarbeiterschaft  und  dann  selbständige  Arbeit  und  kommt  unter  dem 
Namen  George  Sand  durch  Romane  wie  „Indiana",  „Valentine",  „Lelia", 
„Jacques"  (1832  — 1834)  zu  rascher  Berühmtheit.  Nach  kaum  einem  Jahr- 
zehnt verläßt  sie  Paris  wieder,  um  in  ihr  Nohant  zurückzukehren;  aber 
die  Feder   legt   sie    nicht   mehr  aus  der  Hand,    bis  der  Tod  die  72jährige 

2I* 


324 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


abruft,  Ihre  Erzählungen,  Romane  und  Novellen  füllen  gegen  loo  Bände. 
Das  Thema  ist  die  Liebe,  die  große  Angelegenheit  des  Daseins.  G.  Sand 
behandelt  sie  leidenschaftlich  in  ihren  stürmischen  ersten  Büchern;  sie 
stellt  sie  als  die  große  Panacee  dar  in  ihren  mitleidvollen  sozialen 
Romanen;  sie  gibt  ihr  ländliches  Kleinleben  zum  Hintergrund  in  ihren 
anmutigen  Idyllen;  sie  wendet  ihrer  Schilderung  in  den  letzten  Büchern 
die  gereifte  und  geläuterte  Erfahrung  des  Alters  zu. 

Vom  eigenen  bewegten  Liebesleben  sind  jene  ersten  Romane  ein- 
gegeben. Die  junge,  unglückliche  Frau,  die  sich  und  ihren  Kindern  selbst 
den  Weg  durch  eine  egoistische  Gesellschaft  bahnen  muß,  verteidigt 
leidenschaftlich  das  Recht  der  Selbstbestimmung  des  Weibes  gegen  „les 
saintes  lois  des  prejuges".  Diesem  Selbstbestimmungsrecht  opfert  sie,  in 
der  prahlerischen  Art  der  Romantik,  ihre  Geschlechtsehre.  Dann  fordert  sie 
nicht  nur  die  Befreiung  des  unterdrückten  Weibes,  sondern  der  Unter- 
drückten überhaupt.  Sie  sitzt  zu  Füßen  Lamennais.  Ihre  tiefe  Liebe  zur 
Menschheit  macht  sie  zur  Priesterin  der  neuen  sozialistischen  Lehren, 
denen  sie  in  ihren  Romanen  oft  die  Kunstform  opfert.  Von  da  kommt 
sie  zu  einer  reiferen  Darstellung  des  Lebens  derer,  die  mühselig  und  be- 
laden sind,  in  ihren  Dorfgeschichten,  in  die  sie  ihre  ganze  Liebe  zur 
Natur  und  zu  den  Menschen  ihrer  ländlichen  Heimat  gießt.  Sie  schreibt 
mit  Benutzung  bäurischer  Rede  und  dörflicher  Lieder,  doch  nicht  mit  dem 
Anspruch  naturg^etreuer  Sittenschilderung\  Sie  erhebt  das  Ganze  ins  Reich 
der  Poesie  und  erzählt  so,  „als  ob  auf  der  einen  Seite  ein  Pariser,  auf 
der  anderen  ein  Bauer  zuhörte",  wie  sie  zu  der  prächtigen  Geschichte 
ihres  Müllerburschen  {Frangois  le  Chaitipi  1850)  bemerkt.  Tiefe  Wirkung 
ist  von  ihrer  liebevollen  Beobachtung  und  kunstvollen  Gestaltung  länd- 
lichen Lebens  ausgegangen,  besonders  auf  das  Ausland,  auf  G.  Elliot  wie 
auf  Turgenieff  und  Tolstoi. 

G.  Sand  arbeitete  leicht  und  die  Not  des  Lebens  zwang  sie  zu  eiliger 
Produktion.  So  viele  ihrer  Bücher  zeigten  die  Spuren  der  Improvisation: 
Schwanken    der    Motive    und    Personen,    ermüdende    Längen,    unsicheren  ■ 

Abschluß.  Aber  herrlich  erg^länzt  bei  alledem  ihre  natürliche  Begabung 
in  der  Sicherheit,  Seelenzustände  zu  enthüllen,  sowie  in  der  Harmonie 
und  dem  Zauber  ihrer  Sprache.  Sie  ist  die  Schülerin  Rousseaus;  auch 
ihre  Romane  sind  Gedichte  in  Prosa.  Sie  ist  unübertroffen  in  der  Er- 
zählung ländlichen  Lebens  und  in  der  anmutigen  und  bewegten  Schilderung 
von  Herzenszuständen. 

Sie  sieht  das  Leben  optimistisch.  „Ja",  schreibt  sie  1875  im  Vorwort 
zur  Gesamtausgabe  ihrer  Werke,  „der  Mensch  wird  auf  dieser  Erde 
glücklich  werden,  denn  er  wird  weise  und  gut  werden,  indem  er  über 
sein  Ziel  und  seine  Aufgabe  besser  unterrichtet  wird."  So  ist  auch  ihre 
Kunst  optimistisch.  Sie  idealisiert  Figuren  und  Empfindungen,  nicht  aus 
H.  de  Balzac.  Tendenz,  sondern  aus  Anlage.  „Idealisez  dans  Ic  bcaii'',  habe  Balzac  zu 
ihr  gesagt,    „desi  im   ouvrage   de  fenime.''     Er,   Balzac,   halte  es  anders. 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  ^25 

Auch  er  idealisiere  die  Alltagsfiguren:  ,,y^  les  idealise,  en  sens  inverse, 
dans  leur  laideur  ou  Icur  bctise.  Je  donne  a  leurs  difformitcs  des  pro- 
portions  effrayantes  ou  grotesquesy 

So  der  Meister  der  realistischen  Erzählung,  dem  jede  lyrische  Art 
fehlt.  Er  hatte  nach  einigen  Jahren  des  Tastens  1829  mit  einem  Roman 
aus  der  jüngeren  Vergangenheit  begonnen  (Schilderung  der  Bretagne  von 
1799:  Les  Chouans)y  dessen  dramatischer  Aufbau  und  genaue  Milieu- 
schilderungen deutlich  die  Schule  W.  Scotts  verraten.  Dann  folgt  in 
fieberhafter  Tätigkeit  Buch  auf  Buch.  Von  seinen  Gläubigern  gehetzt, 
verrichtet  Balzac  eine  ungeheure  Arbeit,  bis  er  nach  zwanzig  Jahren 
zusammenbricht  (f  1850).  Gewiß  tragen  seine  Romane  die  Spuren  dieser 
Hast  in  Form  und  Inhalt.  Gewiß  ähnelt  der  Tourangeau  Balzac  oft  seinem 
Landsmann  Rabelais  in  Ungeschmack,  in  den  Maßlosigkeiten  seines  Stiles. 
Und  doch  ist  sein  Werk  die  größte  literarische  Schöpfung  der  Zeit.  In 
seinen  Romanen  lebt  diese  Zeit.  G.  Sand  schildert  erfundene,  Balzac 
gibt  beobachtete  Geschehnisse  wieder.  Unbekümmert  um  Theorien, 
stellt  er  den  Mechanismus  des  Lebens  dar,  als  ein  Beobachter,  der  ein 
wunderbares,  unersättliches  Auge  für  das  komplizierte  Räderwerk  hat  und 
als  ein  Gestalter,  dessen  Zauberhand  diesen  Mikrokosmus  nachzubilden 
und  sein  subtiles  Triebwerk  in  Gang  zu  setzen  vermag.  Und  diese  Klraft 
der  Beobachtung  und  Gestaltung  wendet  er  an  einen  völlig  neuen  Stoff: 
an  die  Darstellung  der  Not  und  Sorgen  des  materiellen  Lebens,  an  die 
Darstellung  der  Welt,  in  der  man  einen  Beruf  ausübt  [le  monde  profcs- 
sionnel)  und  Geldfragen  verhandelt.  Er  stellt  die  Tragödie  des  Geldes 
dar,  die  sein  eigenes  Leben  erfüllte.  Seine  geschäftliche  Sachkenntnis 
fließt  in  seine  Bücher.  Er  führt  in  die  Welt  der  Geschäftsleute  und  der 
Bauern,  der  kleinen  Angestellten,  Häuservermieter,  Landärzte  —  fouf 
un  peuple  de  douleurs,  wie  er  sagt.  Er  offenbart  dem  Hauptstädter 
das  Kleinleben  der  Provinz.  Es  ist  eine  Demokratisierung  des  Romans. 
Und  welche  Kenntnis  auch  des  technischen  Teiles  dieser  ganzen  Alltags- 
welt zeigt  z.  B.  die  Geschichte  vom  „Glanz  und  Fall  des  Parfumeurs 
C6sar  Birotteau"!  So  phantastisch  oft  die  Intrige  seines  Romans  ist,  so 
wirklich  und  determiniert  ist  das  Augenblicksbild  seiner  Menschen  und 
der  Handlungsschauplätze.  Es  sind  bescheidene  Milieux,  die  er  schildert, 
und  kleine,  schwache  Menschen,  an  deren  Beschränktheit,  Gemeinheit  oder 
Narrheit  Existenzen  verkümmern  oder  scheitern.  Balzac  übt  keine  tiefe 
psychologische  Analyse;  er  spricht  zweifelnd  über  die  Aufhellung  der 
,, dunkeln  Tiefen  der  Leidenschaften".  Aber  er  stellt  das  leidenschaftlich 
bewegte  Leben  mit  unübertrefflicher  Sicherheit  dar.  Wie  weiß  er  z.  B. 
Gesichter  zu  schildern!  Sein  Hauptmittel  ist  der  Dialog.  Die  Handlung 
springt  von  Dialog  zu  Dialog,  und  im  Feuer  dieser  Gestaltung  verliert 
Balzac  oft  genug  den  reellen  Handlungsschauplatz  aus  den  Augen.  Als 
er  am  Schlüsse  des  „P^re  Goriot"  das  Sterben  des  Alten  so  meisterlich 
erzählte,   hatte    er   den  Schauplatz,    die  Pension  Vauquer,   die   er  am  An- 


^26  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

fang  so  eingehend  geschildert,  ganz  aus  den  Augen  verloren.  Die  Szene 
könnte  irgendwo  passiert  sein.  So  sind  die  Mittel  der  Darstellung  noch 
unausgeglichen.     Zola  wird  sorgfältiger  sein. 

Balzac  korrigiert  an  seinen  Romanen  fortwährend.  „Je  les  leche", 
scherzte  er,  indem  er  sich  mit  einem  Bären  verglich.  1842  schloß  er  sie 
mit  Änderung  von  Titeln  und  Namen  unter  der  Überschrift  „La  comedie 
humaine"  zusammen.  Die  „Comedie''  umfaßt  86  Romane  und  Novellen; 
die  Pläne  zu  60  weiteren  blieben  unausgeführt.  In  der  denkwürdigen  Vor- 
rede spricht  er  von  der  „Zoologie  humaine",  die  er  biete.  Diese  natura- 
listische Auffassung  zeigt  sich  schon  frühe  bei  ihm.  Er  erkennt  die 
physische  Bedingtheit  des  moralischen  Menschen.  Er  nennt  sich  einen 
„Physiologiste"  und  liebt  das  Wort  f'hysiologie  auch  auf  den  Titeln  seiner 
Bücher,  Er  meint,  daß  die  Krankheit  häufiger  denn  bisher  als  Ursache 
moralischer  Verheerung  erwogen  und  dargestellt  werden  müsse  und  streut 
dilettantische  medizinische  Erörterungen  in  seine  Geschichten.  Was  sich 
beim  späteren  Naturalismus  auswachsen  wird,  findet  sich  im  Keime  in 
diesen  deterministischen  Anschauungen,  diesen  wissenschaftlichen  Allüren, 
die  Balzacs  Katholizismus  durchbrechen. 

Gewiß  schreibt  Balzac  nicht  schön,  wie  auch  seine  Welt  nicht  schön 
ist.  Doch  ist  sein  Stil  von  kraftvoller  Eigenart  und  paßt  vortrefflich  zum 
Gesicht  dieser  Welt.  Er  hebt  die  Einheitlichkeit  dieses  großen  Kunstwerks. 
Stendhal.  Ncbcu  Balzac  steht,  eigenartig  und  doch  ein  Vertreter  der  nämlichen 

realistischen  Entwickelung,  teils  über  ihn  hinausgehend,  teils  hinter  ihm 
zurückbleibend,  H.  Beyle  (1783  — 1842).  Er  ist  unter  dem  Namen  Stendhal 
berühmt  geworden,  einem  der  zahllosen  Pseudonyme,  die  ihm  für  die 
Maskerade  seines  Lebens  dienten.  Er  ist  ein  Virtuose  der  inneren  Be- 
obachtung, der  sein  hypertrophisches  Ich  mit  erbarmungsloser  Luzidität  in 
Tagebüchern  zergliederte  und  in  Romanen  ofiPenbarte  {Le  rouge  et  le  noir, 
1830;  La  Chartreuse  de  Panne,  1839),  „Chroniken"  der  zeitgenössischen 
französischen  und  italienischen  Gesellschaft,  in  deren  Helden  er  selbst  lebt. 
Er  hat  darin,  seit  Rousseau,  insbesondere  einen  Vorgänger,  der  ihm  auch 
in  seiner  Neurasthenie  sehr  ähnelt,  B.  Constant,  den  Verfasser  der  Novelle 
„Adolphe"  (1807),  die,  in  Übereinstimmung  mit  Constants  Tagebüchern, 
erzählt,  w^ie  die  Liebe  des  zweifelhaften  Helden  aus  Eitelkeit  erwächst 
und  diesem  Fluche  qualvoll  erliegt.  Liebes-  d.  h.  Verführungsgeschichten 
sind  auch  Stendhals  Romane.  So  ist  sein  Horizont  viel  enger,  seine  Welt 
viel  traditioneller  als  Balzacs.  Aber  er  w^eiß  realistisch  zu  schildern:  die 
Ankunft  Juliens  in  Besan9on  könnte  Balzac  so  erzählt  haben,  oder  auch 
Zola,  der  denn  auch  Stendhal  als  Naturalisten  anspricht.  „Le  rouge  et  le 
noir"  ist  nach  den  Akten  eines  Kriminalprozesses  gearbeitet.  Stendhal 
ist  der  erste,  der  eine  Schlacht  so  darstellt,  wie  sie  sich  in  den  erregten 
Sinnen  eines  einzelnen  Soldaten  malt:  er  stellt  sich  ungewöhnliche  psycho- 
logische Aufgaben.  Das  macht  die  Neuheit  seiner  Romane  aus.  Und  diese 
Aufgaben   löst   er   mit   einem   bewundernswerten   Scharfblick.     Aber   ihm, 


F.  Das   19.  Jalirliundcrt.     I.  Die  Romantik.  5  27 

der  für  bildende  Kunst  und  Musik  ein  so  U'bhaft<'s  Kniptinden  hatte,  fehlt 
die  literarische  Kunst.  Seine  Bücher  werden  jederzeit  den  Denker  mehr 
fesseln  als  den  Künstler.  Es  fließt  nicht  jfenug-  rotes  Lebensblut  durch 
das  verzweigte  Geäder  dieser  seelischen  Analysen.  Stendhals  Neigung 
gilt  zu  sehr  den  ])sychischen  Anomalien,  wie  er  eben  selbst  ein  abnormer 
Mensch  war.  Er  liat  etwas  irritierendes,  dieser  prätentiöse  Spötter  mit 
dem  unerbittlichen  Scharfblick  und  den  paradoxen  Einfällen.  Er  hat 
etwas  Verschrobenes,  dieser  geistreiche  Mensch,  der  Anderen  Gedanken 
und  Form  stiehlt,  wie  ein  armseliger  Skribent.  Krankhaft  erscheint  er  in 
den  maßlosen  Ansprüchen  seiner  Eitelkeit,  die  ihn  zum  Schauspielern 
zwingt;  krankhaft  in  seiner  Willensschwäche,  welche  Ubermenschentum 
vortäuschen  will  als  berühmtes  Muster.  Er  lebte  im  Krieg  mit  seiner 
Zeit,  die  seinen  Ehrgeiz  niciit  befriedigt  hatte.  Er  bekämpfte  sie  und  lehrte 
eine  Umwertung  aller  Werte.  Nietzsche  hat  ihn  in  maßloser  Übertreibung 
das  „letzte  große  Ereignis  des  französischen  Geistes"  genannt  Stendhal 
starb  fast  unbeachtet.  Dann  hat  ihn  Taine,  der  seinen  psychologischen 
Scharfsinn  bewunderte,  seit   1860  in  Mode  gebracht. 

Stendhal  liebte  es,  neue  Wörter  zu  prägen.  „Egotisme"  nannte  er 
seinen  Kultus  der  „Ichheit".  Mit  „Beylisme"  aber  bezeichnet  die  Nach- 
welt Stendhals  Beispiel,  die  Komödie  des  Übennenschentums  zu  spielen 
und  sich  als  „satanique''  zu  gebärden.  Sein  literarisches  Werk  ist  ge- 
schichtlich bedeutsam,  aber  es  fehlt  ihm  die  freie  Natürlichkeit  des 
Kunstwerks. 

So  wurde  das  Feld  des  Romans  \  on  der  Romantik  bebaut.  Es  trug 
glänzende,  reiche  und  originelle  Frucht.  Die  folgenden  Jahrzehnte  werden 
reichlich  davon  pflücken,  weniger  aus  den  Gärten  Scotts  und  G.  Sands, 
als  von  den  weiten,  freien  Ackern,  die  Balzacs  Pflug  durchfurcht,  und  von 
den  Spalieren,  an  denen  Stendhal  seine  Raritäten  gezogen. 

Die  neue  literarische  Kunst  der  Romantik  hatte  längst  in  Lieder-  dm  romMd»ch« 
büchem  ihren  Ausdruck  gefunden;  sie  sprach  auch  bereits  aus  historischen 
Romanen  zum  Publikum  —  aber  die  Kanzel  der  Bühne  war  ihr  noch  ver- 
schlossen. Es  fehlte  ja  nicht  an  dramaturgischen  Manifesten,  an  Über- 
setzungen fremder  Schauspiele,  an  Manzonis  Beispiel,  an  Buchdramen. 
Aber  erst  das  Jahr  1829  — 1830  erschloß  den  Neuerern  die  Bretter,  welche  die 
Welt  bedeuten.  Über  ihrem  Siegeszuge  flatterte  das  Banner  Schillers  und 
Shakespeares;  Träger  sind  Dumas  und  Vigny.  Das  Th<^ätre-Fran(;ais 
brachte  im  Februar  1829  Dumas'  „Henri  III  et  sa  cour"  -  ein  Stück,  das 
den  Einfluß  Schillerscher  Dramatik  auf  der  Stirn  trägt  —  und  führte 
Vignys  Übersetzung  des  „Othello"  auf 

Der  glänzende  Erzähler  Dumas  ist  auch  ein  glänzender  und  frucht- 
barer Dramatiker.  Seine  unerschöpfliche  Phantasie  weiß  reiche  Lebens- 
fülle mit  dramatischer  Meisterschaft  zu  gestalten.  Er  ist  ein  Virtuose  der 
Mache  wie  Scribe.  Noch  heute  vermag  die  Laterna  magica  einiger 
Dramen  und  historischer   Lustspiele   {Lis  DemoisclUs  lü  SfCyr,    1843)    zu 


Drama. 


328  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

fesseln.  Aber  tiefere  dichterische  Art  fehlt  in  Form  und  Gehalt,  und  die 
Geschichtsklitterung  ist  allzu  naiv.  Mit  keckem  Griff  hat  er  in  „Antony" 
(1830)  zum  Thema  der  Auflehnung  des  Plebejers  und  der  Frau  gegen  die 
Gesellschaftsordnung  gegriffen  —  dem  zukünftigen  Thema  des  modernen 
Theaters.  Die  schreiende  Kunst  seiner  Stücke  hat  viel  Lärm  gemacht. 
So  marschiert  die  herkulische  Gestalt  dieses  Mulatten  an  der  Spitze  der 
romantischen  Schar,  die  auszog  four  escalader  la  citadelle  du  Theätre- 
Frangais^  wie  Vigny  sagt. 

Vigny  selbst  war  kein  Dramatiker,  aber  Shakespeare  hat  er  für  jene 
Zeit  trefflich  wiedergegeben.  Die  Welt  seines  „Cinq-Mars"  brachte  er 
ohne  Erfolg  auf  die  Bühne.  Seinem  „Stello"  entlehnte  er  das  legendäre 
Bild  eines  Poeten,  der  an  der  Härte  der  Gesellschaft  stirbt,  und  schuf 
seinen  Dreiakter  „Chatterton"  (1835),  dessen  rauschender  Triumph  selbst 
Hugos  Fanfaren  übertönte.  Das  Stück  hat  weder  Handlung  noch  Farbe; 
es  ist  eine  dramatische  Elegie,  deren  überschwenglicher  Subjektivismus 
bei  der  literarischen  Jugend  ein  volles  Echo  fand,  die  wir  aber  heute, 
trotz  aller  Feinheit,  als  zu  deklamatorisch  und  utopistisch  empfinden. 
Die  neue,  mit  mehr  innerlichen  Mitteln  arbeitende  Dramatik,  die 
„Chatterton"  zu  versprechen  schien,  blieb  aus.  Herrschend  blieb  die 
Hugosche  Richtung,  die  im  Februar  1830  mit  „Hernani  ou  l'honneur 
castillan"  den  entscheidenden  Triumph  gefeiert  hatte. 

Diese  historische  Dramatik  löste  gleichsam  den  historischen  Roman 
ab.  Ihr  Triumph  war  lärmender,  ihre  Blüte  länger;  aber  nach  einem 
Dezennium  hatte  auch  sie  sich  erschöpft.  Hugo  lieferte  bis  1838  sieben 
Stücke,  die  der  spanischen,  französischen,  italienischen  und  englischen 
Geschichte  des  16.  und  17.  Jahrhunderts  entnommen  sind.  Es  wird  darin 
ein  großer  Aufwand  von  „couleur  locale"  und  Inszenierung  historischer 
Milieux  getrieben;  aber  die  zur  Schau  getragene  Gelehrsamkeit  ist  faden- 
scheinig, die  Farben  sind  oft  genug  falsch  und  das  Milieu  operettenhaft. 
Dazu  ist  Hugo  unfähig,  die  historische  Stimmung  im  Reden  und  Tun 
seiner  Helden  festzuhalten.  Er  hat  nicht  nur  das  Ausland  sondern  auch 
Frankreich  selbst  verzeichnet  —  er  hat  z.  B.  die  Zeit  Franz'  I.  geradezu 
karikiert.  Äußerlich,  wie  das  Mittel  der  bunten  Inszenierung,  ist  das  der 
abenteuerlichen  Bühnenhandlung,  mit  welcher  der  Dichter  die  Spannung, 
die  Verblüffung  des  Zuschauers  erstrebt.  Hier  arbeitet  Hugo  mit  den  ge- 
walttätigen Mitteln  des  populären  Moritatenstückes.  Und  irreal  wie  die 
Vorgänge  sind  ihre  Träger,  die  Personen.  Hugo  ist  viel  zu  sehr  Rhetor, 
er  ist  viel  zu  wenig  auf  Wahrheit  bedacht,  um  wirkliche  Menschen  bilden 
zu  können.  Insbesondere  hindert  ihn  daran  seine  Neigung  zur  Antithese, 
die  ihn  zu  förmlichen  Verzerrungen  des  Einfach-Menschlichen  treibt.  Er 
führt  uns  oft  geradezu  eine  verdrehte  Welt  vor.  Aber  diese  Welt  spricht 
zu  uns  mit  dem  ganzen  Wohllaut  Hugoscher  Verse;  durch  ihre  Irrealität 
zieht  der  Klang  Hugoscher  Lyrik,  der  Sang  von  Liebe,  Freiheit,  Auf- 
opferung,  Mitleid,   Duldung.      Was   „Hernani"   bis    heute    auf  der   Bühne 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  i2q 

orhalten   hat,   ist  sein  lyinschcr  Stimmung-.sjrfhalt,   der  ein  Lied  von  Liebe 
und  Jugend    aus   ihm  macht.     Wenn  Hugo  seinem  eigenen   Programm  un- 
treu wird  und   in  Prosa  schreibt  (z.  B.  Marie  Tmior),  dann  liefert  er,  trotz 
pompöser  Vorreden,    nicht  Be.sseres    als    der  Melodramatiker   Pix6r6court 
Er  fühlte  schließlich  die  Einfi)rmigkeit  der  dramatischen  Welten,   die  sein 
erhitztes  Gehirn  gebar:    das  Klischee  der  Handlung  und  des  Milieus,  das 
Typische   der    Personen,    dieser    edlen    Plebejer,    dieser    fürstlichen   Böse- 
wichter und   hochsinnigen  Dirnen.     Nach   dem  tollen,   aber  poesieerfüllten 
„Ruy  Blas"  (1838)  versuchte  er  eine  Erneuerung  seines  Dramas  durch  die 
Epik.    Eine  Reise  ins  burgengeschmückte  Rheinland,  dieses  „mittelalterliche 
Thessalien,  wo  Götter  und  Titanen  kämpften",  gab  ihm  die  Trilogie  seiner 
„Burgraves"  ein,  ein  ungeheuerliches  Stück,  das  vier  Generationen  umfaßt 
und  voll  melodramatischen  Gespensterspuks  ist.  Dieses  epische  Drama  wurde 
vom  Publikum  abgelehnt  (1843).     »Die  Intentionen  sind  hie  und  da  höchst 
grandios,    aber    am    Ende    überwiegt    doch    der    Unsinn",    schreibt   Jakob 
Burckhardt   am    16.  Juni    aus  Paris   an  Kinkel.     Und    so    ist    es.     In  Hugo 
war   über   alledem  die  Ereude  an  der  epischen  Gestaltung  der  Geschichte 
erwacht  und  der  Entschluß  gereift,   sich  als  Dramatiker  aller  Rücksichten 
auf  die  Bühne  zu  entschlagen.     So  entstanden  einerseits  die  „Legende  des 
siecles"  und  anderseits  die  lyrischen  Buchdramen  seines  „Theätre  en  libert«^". 
Der    Fall    der   „Burgraves"    schließt    die    Epoche    des    romantischen 
Theaters.     Man    hatte   seine    einförmige  Unnatur   satt,    und    eben    kam  die 
jugendliche  Rachel   zur  rechten  Zeit,   um   durch   ihre  Kunst  der  Tragödie 
Racines    und    Corneilles,    die    keinen  Talma   mehr   hatte,   neuen    Glanz    zu 
verleihen.     Durch   den  Gegensatz   zur   romantischen  Barbarei  erschien  das 
klassische    Trauerspiel    und    sein    Altertum    wieder    modern.     Die    Antike 
kehrte  aus  ihrer  Verbannung  zurück,  und  es  entstand  jene  Strömung,  die 
zur    Rehabilitierung    des    Parnasses    und    seiner    Musen    führte.     Ein    un- 
bedeutendes  literarisches  Ereignis   markiert   diesen  Umschlag.     Es   knüpft 
sich  an  den  Xamen  eines  Juristen,  der  als  Pariser  Student  sich  für  Hugo 
begeistert,  dann  zu  \'ienne  im  Schatten  der  heimatlichen  Kathedrale  einen 
historischen  Roman  geschrieben  und  später,  ernüchtert,  sich  dem  Altertum 
zugewandt    hatte:    F.  Ponsard.     Von    der  Überzeugung  geleitet,    daß  die 
Zukunft   der  Literatur   in   der  Kombinierung   klassischer   und  romantischer 
Darstellungsmittel    liege    {,Ja    liitt'rattire    sc  rrposcra   dans  Us  biiufaits  (ü 
r^clecticismey\   verfaßt   er   eine   Römertragödie  {Lucr^cc)j  die   den    antiken 
Stoff  mit    einem  Einschlag   von   Romantik    versieht,   Zeit    und  Ort   frei    be- 
handelt, einige  Lokalfarbe  anbringt  und  die   Figur  des  Brutus  bewegt  ge- 
-staltet.     Dieser  „Tragödie"   fiel   der  Beifall    zu,   der   dem  „Drame"  Hugos 
versagt   blieb,   und   so   gab   das  Jahr   1843    ^^^  „Lucr«>ce"   eine  historische 
Bedeutung,    die    sie    künstlerisch    nicht    verdient.     Mit   ihr  kehrte   der  tra- 
gische Stil   auf  die  Bühne   zurück,   und  Ponsard   selb.st  übte  ihn  nochmals 
mit    Erfolg    in    seiner    „Charlotte    Corday"    (1H50).     Andere    taten    wie    er, 
schufen    achtbare    Trauerspiele,    die    eine    honette    Mitte    halten    zwischen 


330 


Hkinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


romantischem  Überschwang-  und  klassischem  Zuschnitt  und  erwarben  sich 
das  Ansehen  einer  „Schule  des  gesunden  Menschenverstandes"  {Lecole  du 
bon  -  sens). 

So  hat  die  Dramatik,  die  auf  dem  Boden  des  Hugoschen  Programms 
erwachsen  ist,  keine  großen  Kunstwerke  aufzuweisen.  „Le  drame"  ist 
vielmehr  die  schwächste  Schöpfung  der  französischen  Romantik,  Ihre 
Poeten  waren  keine  Dramatiker  und  ihre  Dramatiker  keine  Poeten.  Aber 
diese  vergänglichen  Schöpfung^en  haben  das  große  Verdienst,  mit  der 
sterilen  Nachahmung-  der  alten  Tragödienform,  in  der  die  dramatische  Kunst 
der  Franzosen  seit  mehr  als  einem  Jahrhundert  agonisierte,  aufgeräumt 
und  für  eine  freiere,  lebendigere  Kunst  Bahn  gebrochen  zu  haben.  Sie 
hatten  insbesondere  das  Beispiel  der  Lokalfarbe  g-egeben  und  damit  die 
Bedeutung  des  Milieus  für  die  dramatische  Handlung  illustriert.  Und  wie 
aus  den  Milieuschilderungen  des  historischen  Romans  der  realistische 
Roman  Balzacs  hervorging,  so  bereitete  das  historische  Drama  dem 
realistischen  Sittenbild  Augiers  und  Dumas'  den  Weg\ 
Das  Lustspiel.  An  dicscr  Vorbereitung  ist  die  Lustspieldichtung  stark  beteiligt. 

Die  Romantik  hat  keine  eigene  Komödie  geschaffen;  doch  hat  sie  mit 
ihrer  Neigung  zur  Historie  das  historische  Lustspiel  —  das  heitere  Seiten- 
stück zum  „Drame"  —  gefördert,  das  mit  Scribe  {Le  verre  d'eaii,  1840) 
und  Dumas  manch  Hübsches  aufweist,  ehe  es  in  die  Operette  Ofifenbachs 
ausläuft.  Im  übrigen  ließ  die  Romantik  die  Komödie  klassischer  Obser- 
vanz bestehen,  deren  traditionelle  Verssprache  ein  starkes  Hindernis  für 
wirksame,  bewegte  Sittenschilderung  bildete. 

Dafür  bot  solcher  Sittenschilderung  das  lustige  Vaudeville  in  seinen 
leichtgeschürzten  Szenen  eine  anspruchslose  Stätte.  Wie  zur  Zeit  Lesages 
begleitete  es  mit  seiner  Prosa,  seinen  Quidproquo  und  seinen  Couplets, 
keck  zugreifend  die  Tagesereignisse,  und  wie  einst  Lesage  selbst  wandten 
sich  die  modernen  Vaudevillisten  dann  auch  dem  ausg'eführten  Prosa- 
lustspiel zu.  So  entstand  aus  dem  Vaudeville  eine  neue  Sittenkomödie. 
„La  mere  et  la  fiUe"  (1830),  „Une  liaison"  (1834)  ^'on  Mazeres  und 
Empis  schildern  mit  eindrucksvoller  Kunst  die  Zerrüttung  der  Familie 
durch  Ehebruch  und  „Collage".  Sie  zeigen,  daß  dieses  Lustspiel  sich  an 
die  Darstellung  ernster,  trauriger  Verwickelungen  wagt,  wie  sie  das  spätere 
soziale  Drama,  Dumas  Fils  in  der  „Kameliendame"  (1892)  und  Donnay  in 
„L'autre  danger"  {1902),  geben. 

Diese  Entwickelung  des  Vaudevilles  verkörpert  der  fruchtbare  E.  Scribe. 
Unter  seinen  400  Stücken  sind  zudem  alle  Formen  des  Theaters  vertreten. 
Er  hat  auch,  als  trefflicher  Librettist,  der  Oper  neuen  Handlungsreichtum 
zugeführt.  Er  ist.  ein  Künstler  der  modernen  dramatischen  Technik;  er  ist 
es  so  sehr,  daß  er  gleichsam  in  dieser  Technik  aufgeht  und  das  dramatische 
Spiel  als  Selbstzweck  behandelt.  Scribe  ist  kein  Dichter;  er  ist  weder 
tief  noch  gedankenreich,  und  seine  Prosa  entbehrt  persönlicher  Gestaltung. 
Er  schreibt  aus  dem  Geist  des  Bürgertums  heraus,  dem  er  entstammt,  das 


K.  Uas   H).  Jalirhundcrt.     I.  1  )ic  Koinantik.  ^^j 

ihn  umii^ibt  und  ihn  nährt,  und  führt  mit  großer,  vulgärer  BehagHchkeit 
das  Bild  der  Gesellschaft  von  1820 — 1850  vor.  Im  größten  Umfange  und 
am  nachdrücklichsten  hat  er  jene  Zustände  und  Figuren  geschaut,  skizziert 
und  bühnenfähig  gemacht,  die  später  den  realistischen  Vorwurf  des  sozialen 
Dramas  bilden  werden.  Die  Keckheit,  mit  der  er  den  Fall  der  Frau,  die 
Schäden  des  neuen  Parlamentarismus,  die  Macht  der  neuen  Aristokratie 
des  Geldes  zunächst  in  Vaudevilles  und  dann  in  Fünfaktern  auf  die  Bühne 
brachte  {Dix  ans  de  In  vie  (Ttuie  femmc  1832;  La  camaraderic  1837; 
La  calumuic  1840;  Lc  mariagc  d'argcnt  1827),  hat  meist  den  lauten  Wider- 
spruch der  Kritik  geweckt,  aber  den  Beifall  des  Publikums  gefunden. 

So  bleibt  dem  Lustspiel  dieser  Jahre  das  Verdienst,  die  Probleme 
dargestellt  zu  haben,  die  dann  einer  späteren  Zeit  von  einer  ernsteren 
Kunst  werden  vorgeführt  werden.  Auf  diese  Weise  ist  das  Vaudeville  zur 
Vorschule  des  modernen  Sittenstückes  geworden,  ähnlich  wie  das  Melodram 
die  \'orschule  des  romantischen  Dramas  ward.  Die  Erneuerung  der  fran- 
zösischen Dramatik  im  ig,  Jahrhundert  leitet  sich  also  aus  populären 
Formen  her.     Das  ist  der  Kreislauf  der  Kunst  und  des  Lebens. 

Scribe  hat  während  Jahrzehnten  einen  Teil  der  Pariser  Bühnen  be- 
herrscht, und  schon  dieser  Umfang  seiner  Leistung  bildet  eine  Macht. 
Es  ist  zudem  die  Macht  des  gutgebauten  Stückes,  und  dieser  technische 
Wert  sichert  Scribe  noch  heute  den  Beifall  des  Publikums,  das  einen 
unterhaltsamen  Abend  schätzt. 

Wie  reizende  Märchengestalten  heben  sich  von  der  Alltagswelt  dieses  u«  The*ier 
Theaters  die  Figuren  der  Mussetschen  Stücke  ab.  Der  Dichter  hat  sie  '^  "*"  ^'"»••*^ 
ohne  Rücksicht  auf  die  Bühne  als  „Un  spectacle  dans  un  fauteuil"  ge- 
schrieben (die  meisten  von  1833 — 1836),  und  mehr  als  zehn  Jahre  ver- 
gingen, ehe  ein  Zufall  sie  dem  Theater  zuführte  und  einige  davon  zur 
Aufführung  kamen.  Seither  gehören  diese  Findlinge  zum  Bestand  der 
Bühne,  der  sie  der  Dichter  nicht  bestimmt  hatte,  deren  Rampe  ihre  Kon- 
turen forciert  und  ihre  Traumwelt  einengt.  Ins  Land  der  Dichtung  führen 
uns  diese  Stücke,  mag  auch  äußerlich  ihre  Szene  nach  Italien,  Bayern, 
Ungarn  verlegt  sein  —  in  jenes  Land,  das  allem  irdischen  Wechsel  ent- 
rückt ist,  wo  Shakespeares  Gestalten  wohnen.  Shakespeares  Beispiel,  auf 
das  die  romantische  Schule  sich  so  prahlerisch  berief,  ist  nirgends  wirklich 
lebendig  geworden  als  in  den  graziös -phantastischen  Spielen,  die  Musset 
für  die  ,,Revue  des  deux  mondes"  geschrieben  hat,  in  „Fantasio",  den 
„Caprices  de  Marianne",  dem  „Chandelier"  und  in  jenen  „Proverbes"  wie: 
„Ün  ne  badine  pas  avec  Tamour",  „II  ne  faut  jurer  de  rien",  in  denen  er 
eine  Form  der  dramatischen  Unterhaltung  wieder  aufnahm,  die  den  Salons 
des  18.  Jahrhunderts  teuer  gewesen  war.  Die  Stücke  sind  erfüllt  von  des 
Dichters  eigener  Person.  Er  selbst  ist  Fantasio,  Fortunio,  Valentin.  Es 
ist  seine  Welt,  die  Welt  der  Liebe,  die  er  schildert,  ihren  Jubel  und  ihre 
Klagen,  zart  und  leidenschaftlich,  traurig  und  ausgelassen,  närrisch  und 
tief.     Kein  anderer  Dichter  hat  reizvollere  Mädchen-  und  Frauengestalten 


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Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


geschaffen,  keiner  auch  die  verheerende  Wirkung  der  Liebe  ergreifender 
dargestellt  als  er.  Er  ist  ein  Racine,  der  sich  in  Shakespeares  Wunder- 
land ergeht.  Die  ganze  Tragik  seines  eigenen  Schicksals  hat  er  in  der 
Figur  jenes  „Lorenzaccio"  verkörpert,  dessen  edle  Natur  der  Aus- 
schweifung erliegt,  die  sein  Tun  der  Würde  beraubt  und  sein  viel- 
versprechendes Leben  knickt.  Dieser  fünfaktige  „Lorenzaccio",  den  ihm 
die  Geschichte  der  Mediceer  (1536)  während  des  Aufenthalts  zu  Florenz 
eingab,  ist  das  wahre  historische  Drama  der  französischen  Romantik. 

Mussets  lyrisches  Theater  hat  eine  bestrickende  Sprache.  Mag  auch 
der  geistreiche  Dichter  sich  dem  Reize  seines  Gedankenspieles  oft  mehr 
ergeben,  als  für  den  Schritt  der  dramatischen  Handlung  förderlich  ist;  wird 
die  Feinheit  der  Rede  auch  oft  zur  Geziertheit,  zu  einem  „Marivaudage",  so 
ist  doch  Mussets  Theater  das  Poesievollste,  was  die  romantische  Dramatik 
geschaffen  hat. 

Italien.  Trotz  der  schweren  Last,  welche  die  französische  Um- 
wälzung und  die  napoleonische  Herrschaft  Italien  brachten,  förderten  die 
neuen  Zustände  dieser  Jahre  den  nationalen  Sinn  der  Italiener.  Beim 
Sturze  Napoleons  brach  auch  jenseits  der  Alpen  die  französische  Herr- 
schaft zusammen.  Der  Wiener  Kongreß  stellte,  soviel  an  ihm  lag,  das 
alte,  zerstückte  Italien  wieder  her.  Im  Gefolge  der  österreichischen  Vor- 
macht, die  sich  von  neuem  des  Nordens  bemächtigte,  zogen  die  alten 
Souveräne  wieder  in  ihre  Staaten  ein.  Aber  das  Land  ertrug  diese  Re- 
aktion nicht  mehr.  In  zahllosen  Verschwörungen  und  Aufständen  äußerte 
sich  ein  unbesiegbarer  Patriotismus.  Freilich  führten  die  Stürme,  die  im 
Gefolge  der  Julirevolution  ausbrachen,  und  führte  Mazzinis  „Giovine 
Italia"  nicht  zum  Ziel.  Und  auch  die  Kämpfe,  die  das  Jahr  1848  entfesselte, 
straften  das  stolze  Wort  „Italia  farä  da  se"  Lügen. 

Politik  und  Im  Banne  dieses  politischen  Ringens  für  die  nationale  Unabhängigkeit 

und  Einheit  steht  das  ganze  Schrifttum,  und  die  zeitgenössische  literarische 
Kritik  mißt  dieses  Schrifttum  mit  politischem  Maßstab.  Das  tut  nicht  nur 
der  ungestüme  Mazzini  in  seinen  glänzenden  Essays,  sondern  auch  der 
Literarhistoriker  Giudice  in  der  „Storia  delle  Belle  Lettere  in  Italia"  (1845). 
Wie  wird  Dante  im  Dienst  der  Parteien  gedeutet  und  zum  mystischen 
Führer  der  nationalen  Bewegung  gemacht!  Und  wie  manches  Gedicht, 
das  die  erregte  Stimmung  eines  Augenblicks  in  zündende  Worte  faßte, 
weckte  Begeisterung  und  trug  den  Namen  des  neuen  Tyrtäus  durch  das 
ganze  Land.  Welche  Bewegung  erweckte  z.  B.  Berchet  mit  seinen  Vers- 
novellen, seinen  Romanzen,  seinen  „Fantasie". 

u.  Foscoio.  Charakteristisch  für  diese  Allgegenwart  der  Politik  ist  F"  o  s  c  o  1  o  s  Werk  — 

sein  Werk  und  sein  stürmisches  Leben,  die  sich  beide  eindrucksvoll  ab- 
heben von  Montis  feigem  Literatentum.  Der  fünfundzwanzigjährige  Foscoio 
sandte  1802  dem  illustre  scrittore  tedesco  Goethe  den  Roman  „Jacopo 
Ortis'  letzte  Briefe"  mit  dem  Bemerken,  daß  ihn  „Werther"  ins  Leben  ge- 


F.  Das   IQ.  Jahrhundert.     I.  Die  Komantilc.  311 

rufen  habe.  Aber  bei  aller  Ähnlichkeit  zeif^t  „Ortis"  eigene  Art.  Diese 
Eigenart  besteht  weniger  darin,  daß  die  Landschaft  südlicher,  der  Ton 
übersclnvenglicher  und  die  Farben  schreiender  sind,  als  darin,  daß  zur  un- 
glücklichen Frauenliebe  des  Helden  eine  unerfüllte  Vaterlandsliebe  sich  ge- 
sellt, die,  vereint,  den  Verzweifelten  in  den  Tod  treiben.  Seine  geliebte 
Therese  ist  das  Weib  eines  anderen,  sein  geliebtes  Italien  die  Beute  fremd«?r 
Barbaren.  Auch  wenn  Therese  die  Mutter  meiner  Kinder  werden  könnte, 
klagt  Ortis,  so  hätten  diese  Kinder  kein  Vaterland!  In  der  Klage  um 
dieses  Vaterland,  dessen  Zerrissenheit  es  zur  Fremde  für  die  eigenen  Söhne 
macht,  findet  F'oscolos  poetische  Prosa  wundervolle  Bilder  und  Klänge. 
Zur  patriotischen  Rede  Alfieris  fügt  er  den  Ton  der  Melancholie  und  der 
Rührung  —  ein  neues  lyrisches  Element.  Es  ist  Rousseausche  Stimmung. 
Die  Briefe  des  Jacopo  Ortis  stehen  in  Italien  an  der  Spitze  des  modernen 
Romans,  wie  die  „Feuerbriefe"  der  „Nouvelle  H^loi'se"  in  Frankreich. 

In  den  nämlichen  Jahren  schrieb  Chateaubriand  auf  der  Spur  Rousseaus 
und  Goethes  seinen  „Rene".  In  der  universellen  Enttäuschung  des  Franzosen 
fehlt  die  Note  des  Patriotismus,  obwohl  das  Buch  im  Exil  geschrieben  ist 
Zu  ähnlichem  Vergleich  führt  auch  F'oscolos  Gedicht  „Die  Gräber" 
(/  si-polcri,  1807).  Der  FYanzose  Legouve  hatte  in  seiner  „Sepulture"  die 
„Elegie  auf  einen  Kirchhof"  zu  einer  Lehre  bürgerlichen  Lebens  gewendet: 

On  se  sent  grandir  au  tombeau  d'un  grand  komme. 
F'oscolo  macht  daraus  das  machtvolle  Lied  von  der  Lebendigkeit  der 
Toten,  an  deren  Urne  die  F'lamme  patriotischer  Taten  sich  entzündet. 
Die  „Sepolcri"  sind  ein  Werk  herrlicher  Poesie.  Ihr  Lyrismus  kleidet 
sich  in  den  vcrso  sciulto  Parinis.  Ein  Strom  des  Wohllauts  trägt  ihre 
antike  Bilderwelt.  Für  diesen  Italiener,  der  von  griechischer  Mutter  auf 
griechischer  Erde  die  Sprache  Hellas'  gelernt,  ist  die  Welt  Homers  und 
Herodots  lebendig.  Er  zuerst  hat  auch  die  ganze  ursprüngliche  Gewalt  der 
Homerischen  Poesie  den  Italienern  gekündet  und  Dante  mit  Homer  erklärt 

Aber  selbst  in  der  Hand  des  Künstlers  F'oscolo  versagte  die  antiki- 
sierende Form  auf  die  Dauer.  Er  fühlte  das,  fühlte  auch  den  inneren 
Widerspruch  zwischen  seinem  Verlangen,  auf  die  Menge  zu  wirken,  und 
der  aristokratischen  F'orm,  die  nur  wenigen  zugänglicli  war.  Und  in  ge- 
reiztem Ton  sucht  er  theoretisch  recht  zu  behalten. 

F'oscolos  Empfindungswelt  ist  modern,  romantisch.  Herkunft  und  Er- 
ziehung aber  fesselten  ihn  an  die  klassizistische  Form.  Die  F'orm  brachte  er 
vom  Süden  mit;  sein  Geist  wurde  vom  Norden  befruchtet  Es  ist  eine 
merkwürdige  Fügung,  daß  jene  Form  in  Frankreich  und  Italien  zu  gleicher 
Zeit  durch  einen  großen  Dichter  erneut  wurde,  durch  Ch^nier  und  durch 
F'oscolo,  die  Beide  Söhne  griechischer  Mütter  waren. 

Sur  des  petuers  tioin>eaux  faisous  des  7ers  antiques, 
sagte    Ch^nier.      Wenn    es   in    allen    Ländern    klassischer    Bildung    immer 
Dichter    geben    wird,     die    moderne    Denk-    und    Empfindungs weise    mit 
antikisierender  Kunstübung  verbinden,  so  wird  das  Geschlecht  der  Ch^nier 


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Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


und  Foscolo  in  Italien  besonders  kräftig  sein.  Der  literarische  Kosmopolit 
Mazzini  gehört  dazu  wie  Leopardi  und  Carducci.  Italien  ist  das  Land 
der  romantischen  Klassizisten.  Es  ist  das  Land,  in  dem  der  Klassizismus 
eine  nationale  Kunstform  ist:  die  Kunstform  der  alten,  glorreichen  Welt- 
herrschaft. 

Die  produktive  Zeit  Foscolos  gehörte  der  Lombardei.  Lombardei  und 
Toskana  wurden  die  führenden  literarischen  Landschaften  Italiens  in  dem 
Die  romanrische  Kampfe  zwisclicn  klassischcr  Tradition  und  romantischer  Neuerung.  Wenn 
Schule.  Florenz,  die  Stadt  der  Crusca,  als  die  Hüterin  der  einheimischen  Tradition 
erscheint,  so  begünstigten  in  Mailand  geographische  Lage  und  politische 
Verhältnisse  das  Eindringen  ausländischer  Ideen.  Mailand  wird  zur  Wiege 
der  italienischen  Romantik. 

Der  Kampf  entbrennt  im  Gefolge  der  Schriften  der  Frau  von  Stael. 
Während  Italien  die  schon  im  i8.  Jahrhundert  begonnene  Übersetzungs- 
tätigkeit  weiterführt  und  aus  dem  Englischen  und  Deutschen  (meist  mit 
französischen  Zwischenversionen)  überträgt,  erscheint  zu  Mailand  das  Buch 
„De  FAllemagpae"  in  italienischer  Sprache  (1814),  und  setzt  Frau  von  Stael 
in  einer  Mailänder  Zeitschrift  (18 16)  den  Italienern  auseinander,  daß  sie 
ihr  literarisches  Heil  im  Schrifttum  der  germanischen  Völker  suchen  sollten. 
Diese  Mahnung  erfuhr  leidenschaftliche  Abwehr  und  begeisterte  Zu- 
stimmung. 

Als  Beispiel  nordischer  Gefühls-  und  Bilderwelt  legte  der  Mailänder 
Berchet  im  nämlichen  Jahre  Bürgers  „Lenore"  und  „Wilden  Jäger"  in 
Übersetzimg  vor.  Derselbe  Berchet  war  auch  die  Seele  der  Zeitschrift, 
deren  blaue  Blätter  unter  dem  Namen  „Der  Vermittler"  {Conciliatorc) 
1818  und  181 9  das  Programm  des  Romantizismus  vertraten.  Auch  die 
Florentiner  „Antologia"  begrüßte  sympathisch  die  Werke  des  Auslands, 
ohne  aber  das  romantische  Programm  sich  zu  eigen  zu  machen. 

Berchet  und  seine  Mitarbeiter,  zu  denen  auch  Silvio  Pellico  ge- 
hört, verlangen  die  Abkehr  von  der  griechisch-lateinischen  Nachahmung 
und  fordern  statt  der  Philologendichtung  mit  heidnischen  Allüren  ein 
nationales  (historisches),  populäres,  christliches  Schrifttum,  das  im  Zusammen- 
hang mit  dem  Leben  des  Volkes  eine  soziale  Mission  erfüllen  und  deshalb 
sein  Auge  auf  das  befreiende  Beispiel  der  Germauen,  besonders  der 
Deutschen,  richten  solle.  „Laßt  die  alten  Litaneien!"  ruft  Berchet,  „laßt  die 
Göttin  Venus  und  ihre  Jämmerlichkeiten!  wärmt  den  alten  Kohl  nicht 
wieder  auf!"  Es  ist  eine  Lehre  der  Befreiung,  die  sich  vom  Boden  der 
Politik  ins  Land  der  Dichtung  gerettet  hat  und  in  deren  Refrain  die 
politischen  Untertöne  immer  mitklingen.  Es  gibt  nicht  nur  die  eine  antike 
Dichtung,  sagt  der  „Conciliatore";  es  gibt  der  Poesien  viele  bei  den 
Völkern  der  Erde.  Diese  mit  sympathischer  Lernbegier  umfassen  macht 
frei  und  gibt  Einsicht  und  Kraft  zur  Schöpfung  einer  eigenen  italienischen 
Literatur,  die  der  Vorbote  besserer  Zeiten  für  unser  armes  Vaterland  sein 
wird.     Seien  wir  Kinder  unserer  Zeit! 


V.  Das  ig.  Jahrhundert.     1.  iJic  Romantik.  ^^i^ 

Mit  Recht  orhoboii  deshalb  die  Männer  de.s  „Concihatore"  den  An- 
.spruch,  als  g-ute  Patrioten  j^eltcn  zu  dürfen,  auch  wenn  sie  auf  das  Schrift- 
tum der  verhaßten  deutschen  Herren  hinwiesen.  Sie  erklärten,  daß  sie  im 
Beispiel  der  individualistischen,  jjfermanischen  Literatur  eine  Lehre  literari- 
scher Unabhänß^i^rkt'it  suchten,  und  daß  sie  jede  direkte  Nachahmunjr  vor- 
werfen. Die  \'erfolgunj»-  seitens  Österreichs  .stempelte  sie  zu  I-iberalen. 
Das  hinderte  die  Gegner  nicht,  die  Romantiker  vaterlandsfeindlicher  und 
reaktionärer  Gesinnunpf  zu  beschuldigen. 

Der  Streit  drehte  sich  insbesondere  um  die  Frage  der  Verwendung 
tler  heidnischen  Mythologie.  Foscolo,  Leopardi  verteidigten  das  poeti.sche 
Recht  der  antiken  mythologischen  Tradition,  und  Monti  verglich  .spöttisch 
die  nordischen  Gespenster  der  „Scuola  boreale"  Bürgerscher  Observanz 
mit  den  Göttern  Griechenlands  (1825).  Der  Klassizismus  erklärte, 
freier  und  vornehmer  zu  sein :  freier,  weil  er  der  katholisierenden 
Romantik  gegenüber  der  alte  Träger  der  Aufklärung  war;  vornehmer, 
weil  seine  aristokratische  Form  sich  nicht  an  das  Volk  wandte  {Lartc 
per  Parte). 

Der  Name  „romantico"  selbst  kam  in  Italien  nicht  zu  allgemeiner 
und  dauernder  Geltung.  Die  Gegner  verwendeten  ihn  ironisch  im  Sinne 
von  nordischer  Barbarei;  die  „Antologia"  sprach  von  „Überschwang  in 
Gedanken  und  Worten".  Nur  die  entschiedensten  Parteigänger  führten 
ihn.  So  blieb  ihm  etwas  ^L1rktschreierisches,  das  Manzoni  sehr  wenig  .\.  .Maotooi 
paßte.  Er  selbst  nannte  seine  Richtung  die  „historisch -christliche".  Goethe,  *^*  '^"''>'««' 
der  dem  Streiten  aus  der  Feme  lernbegierig  zusieht,  meint,  es  erhelle 
deutlich,  „daß  unter  diesem  Namen  [romanticö)  alles  begriffen  sei,  was  in 
der  Gegenwart  lebt  und  lebendig  auf  den  Augenblick  wirkt". 

Dazu  gehörte,  seit  man  ihn  (18 18)  zu  übersetzen  begann,  insbesondere 
auch  Byron.  Die  Liebe,  die  Childe  Harold  Italien  erklärte,  fand  be- 
geisterte Erwiderung.  1821  wurde  auch  Scott  übersetzt.  Die  Versnovelle 
gedieh  auf  ihrer  Beider  Spur. 

Manzoni  hatte  fünf  Lehrjahre  in  Paris  verbracht  (1805 — 1810)  und 
seine  literarischen  Anschauungen  dort  in  den  Kreisen  gebildet,  die  der 
feine  Gei.st  des  treflflichen  Fauriel  belebte.  Er  verwirft  nachdrücklich  die 
Regel  von  den  drei  Einheiten;  er  lehnt  die  Nachahmung  der  antiken 
I'^ormen  und  Erfindungen  und  besonders  die  heidnische  Mythologie  ab; 
aber  sein  ganzes  Temperament  war  wenig  romantisch.  Seine  maßvolle 
Art  hat  vielmehr  etwas  Klassisches.  Die  Shakespearesche  Mischung  von 
Tragik  und  Komik  ist  ihm  unsjTnpathisch;  er  empfindet  hier  als  „buono 
e  leal  partigiano  del  Classicismo".  Mit  der  Zeit  freilich  hat  er  sich  hier 
bekehrt,  und  V.  Hugos  Vorrede  zu  „Cromwell"  ist  wohl  an  die.ser  Be- 
kehrung nicht  unbeteiligt.  Schließlich  bildete  sich  unter  Rosminis  Ein- 
fluß in  Manzoni  immer  bestimmter  die  Lehre  eines  christlichen  Realismus 
{verisnio)  aus,  die  das  Wirkliche  in  seinem  ganzen  Umfange  als  Gegen- 
stand   der  Kunst  erklärt,    da  ja  auch  das  Xiodrivf«-   ihk^   H.iniiche  zu  jener 


336  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

göttlichen  Weltordnung  gehöre,  deren  wahrhaftige  Darstellung  Aufgabe 
des  christlichen  Künstlers  sei.  Der  Künstler  Manzoni  ist  in  erster  Linie 
Moralist.  Sein  Wort  von  der  Dichtkunst,  „die  das  Nützliche  als  Ziel,  das 
Wahre  als  Gegenstand  und  das  Interessante  als  Mittel"  haben  soll, 
charakterisiert  ihn,  auch  wenn  er  es  später  fallen  ließ.  Aus  der  mora- 
lischen Idee  des  Christentums  sprießt  seine  realistische  Theorie,  die  sich 
schließlich  so  bestimmt  gestaltet,  daß  der  Verist  Manzoni  den  historischen 
Roman  als  eine  trügerische  Verbindung  von  Geschichte  und  Fiktion  ver- 
wirft und  damit  1845  sein  eigenes  Kunstwerk,  die  „Promessi  Sposi",  ver- 
urteilt, das  er  zwanzig  Jahre  zuvor  geschaffen  hatte.  Man  freut  sich  des 
Mutes,  mit  dem  der  Sechzigjährige  sich  ausspricht;  aber  man  sieht  mit 
Bedauern,  wie  dieser  Zwiespalt  zwischen  Theorie  und  Praxis  seine 
Schöpferkraft  früh  gelähmt  hat  und  wie  unfruchtbar  die  neue  Lehre  des 
Realismus  für  ihn  war,  der  nicht  nur  Balzac,  sondern  auch  noch  Zola  er- 
leben sollte  —  ohne  mitzuschaffen. 
Der  Streit  Inmitten    der    literarischen    Kämpfe    nahm   auch    der  Kampf   um    die 

um  die       Schriftsprache    schärfere   Formen   an.     Im  Norden   lehnten   sich   nicht  nur 

achnftspracne.  ^ 

die  Romantiker  gegen  das  Joch  der  fiorentinischen  Trecentisten  auf,  das 
Mittel-  und  Süditalien  geduldig  trug.  Als  die  Crusca  sich  weigerte,  zu- 
sammen mit  der  mailändischen  Akademie  das  italienische  National- 
wörterbuch zu  bearbeiten,  das  einst  Cesarotti  vorgeschlagen,  holte  Monti 
mit  seiner  berühmten  „Proposta"  (18 17)  zum  wuchtigen  Angriff  gegen  die 
Crusca  und  ihre  Puristen  aus.  Perticari  sekundierte  im  Namen  Dantes. 
Italienisch  nach  freier  Wortwahl  des  Schriftstellers,  und  nicht  florentinisch 
nach  dem  Kodex  des  Trecento,  sollte  die  Nationalsprache  sein!  Da  trat 
Manzoni  auf  den  Plan.  Er  hatte,  kurz  nachdem  sein  Roman  erschienen 
war  (1827),  nach  seinem  eigenen  Ausdruck  es  unternommen,  die  schmutzige 
Wäsche  seiner  Sprache  im  Arno  waschen  zu  lassen.  1840  gab  er  die 
„Promessi  Sposi"  in  einer  Gestalt  heraus,  in  welcher  die  ursprünglichen 
Lombardismen  einer  ziemlich  systematischen,  fast  ängtlichen  Toskanisierung 
unterworfen  worden  waren.  Dabei  legte  Manzoni  nicht  die  tote  Sprache 
des  Trecento,  sondern  die  lingua  parlata  des  gebildeten  Florentiners  zu- 
grunde. Manzonis  Vorgehen  war  getragen  vom  Gedanken  der  nationalen 
Einheit.  Er  formulierte  ihn  1868  in  der  „Proposta  manzoniana"  für  eine 
Staatskommission,  die  unter  seinem  Vorsitz  in  der  neuen  Hauptstadt 
Florenz  tagte.  Die  Puristen  erhoben  Widerspruch  im  Namen  der 
Kunst,  die  Anhänger  Montis  im  Namen  Italiens,  die  Linguisten, 
wie  Ascoli,  im  Namen  der  Wissenschaft.  Und  diese  behielten  recht, 
denn  eine  Einheitssprache  wird  nicht  durch  Programm  und  Ver- 
ordnung geschaffen,  sondern  sie  wächst  aus  der  gemeinsamen 
geistigen  Tätigkeit  einer  Nation  naturgemäß  hervor.  Italien  hat  sie  in 
den  letzten  vierzig  Jahren  mächtig  gefördert.  Und  diese  Entwickelung 
zeigt,  daß  in  der  zukünftigen  Einheitssprache  des  Landes  das  ,,Idioma 
gentile",  das  am  Arno  erklingt,  die  Führung  behalten  wird,  ohne  daß  alle 


I 


F.  Das  iq.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  ^^j 

Florcntini.smcn  des  Lautes,  der  Formen  und  der  Wendung  im  Lande 
herrschend  zu  sein  brauchen,  wie  die  Heißsporne  der  Partei  es  verlangen, 
die  manzonischer  sind  als  Manzoni.  Das  florentinische  ,,jWoi  si  doventa 
omini'"  braucht  das  italienische  „noi  diveniamo  uomini"  nicht  zu  ver- 
drängen. 

Das  Phantom  der  sogenannten  Sprachreinheit  .spielt  in  der  litera- 
rischen Kritik  des  Landes  noch  heute  eine  Rolle,  die  ihm  nicht  gebührt. 
Es  ist  für  die  Sprache,  nach  der  die  Hand  des  Künstlers  greift,  besser, 
daß  sie  frei,  als  daß  sie  „rein"  sei.  Die  Kritik,  die  den  Provinzialismus 
grund.sätzlich  verfolgt,  ist  steril  und  unkünstlerisch. 

Die  Zeit  akuter  Romantik  ist  in  Italien  viel  kürzer  als  in  Frankreich.  Der  GeUt  dai 
1830,  als  in  Paris  die  Bewegung  ihre  höchsten  Wellen  schlug,  war  in  R"'»*'"'«"»» 
Italien  der  Sturm  längst  vorüber.  Er  war  ohnehin  schwächer  gewesen. 
Italien  hat  in  der  Romantik  von  neuem  gezeigt,  wie  seine  kräftigere 
antike  Tradition  —  gestützt  von  der  vaterländischen  Geschichte,  ihren  sicht- 
baren Monumenten  und  der  Sprache  —  als  Bollwerk  gegen  nordische  Ein- 
flüsse steht  und  wie  sein  rationalistischer  Geist  dem  Überschwang  abhold 
ist.  Seinem  Romanticismo  fehlt  überdies  der  ästhetische  Katholizismus 
eines  Chateaubriand;  es  fehlt  seinem  Gewebe  aber  auch  der  protestantische 
Einschlag  der  Frau  von  Stael.  Ein  patriotischer,  praktischer  Gegenwarts- 
zug gibt  der  italienischen  Romantik  ihre  Eigenart.  In  der  Politik  er- 
scheinen die  Romantiker  gegenüber  der  klassischen  Verschwörungspartei 
Mazzinis  als  die  Realpolitiker,  welche,  nach  den  Niederlagen  jener,  den 
Kampf  um  die  Einheit  zu  glücklichem  Ende  führen. 

Italien  hat  die  Erschütterungen  des  militanten  Katholizismus  eines 
de  Maistre  und  Lamennais  nicht  gekannt.  Die  Abwendung  vom  Indivi- 
dualismus und  Naturalismus  des  18.  Jahrhunderts  und  die  Rückkehr  zur 
alleinseligmachenden  Kirche  vollzog  sich  stiller,  wenn  auch  nicht  weniger 
entschieden.  Das  zeigt  das  Beispiel  Manzonis,  der  aus  Paris  als  ein  Be- 
kehrter zurückkam  und  nicht  nur  seine  Dichtung  in  den  Dienst  werk- 
tätigen Glaubens  stellte,  sondern  mit  der  „Morale  cattolica"  (1819)  auch  zu 
urbaner  Polemik  gegen  das  Aufklärertum  griff.  Und  aus  dem  patriotischen 
Stürmer  Pellico  machte  die  Gefangenschaft  einen  demütigen  und 
asketischen  Christen,  der  auf  Rat  seines  Beichtigers  „Le  mie  prigione" 
(1832)  als  frommes  Erbauungsbuch  schrieb.  Daß  der  schlichte,  leiden- 
schaftslose Bericht  dieses  Märtyrers  über  die  Qualen  seiner  zehnjährigen 
Kerkerhaft  den  Haß  gegen  die  Fremdherrschaft  mehr  als  irgend  ein 
anderes  Buch  schürte,  hatte  nicht  in  scinor  .\bsicht  gelegen.  Der  Geist 
seines  Buches  atmet  stille  Ergebung. 

Mit    dem    37.  Jahre  (1825)    stellt   Manzoni   seine   poetische    Arbeit   ein.  Maoiooi  «u 
Ihr  Umfang    ist   nicht   bedeutend:    einige  Lieder,   zwei   historische  Trauer- 
spiele und  die  „Promessi  Sposi".    Weder  als  Lyriker  noch  als  Dramatiker 
gehört    er    zu    den    Großen.      Seine    lyrische    Stimmung    fließt    aus    tiefer 
Frömmigkeit.   Die  festlichen  Hymnen  (///««  sacri)  ergreifen  als  der  schlichte, 

Dt»    KlTLTVK    DBB    GbOKMWAKT.      I.  H  .    I.  j -. 


Dichter. 


338  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

wahre  Ausdruck  des  Herzensglaubens;  sie  waren  Tausenden  aus  der  Seele 
gesungen.  Auch  seine  eindrucksvolle  Improvisation  auf  Napoleons  Tod 
(„Der  5.  Mai")  oder  der  tragische  Chorgesang  auf  das  Sterben  der  Ermen- 
garda  sind  Hymnen,  in  denen  die  friedenbringende  Hand  des  Himmels 
sich  auf  die  stürmischen  Geschicke  der  Menschen  senkt.  Manzoni  hat  die 
Gestalt  eines  Condottiere  des  15.  Jahrhunderts  („Der  Graf  Carmagnola")  und 
den  Untergang  der  Langobardenmacht  durch  die  Franken  („Adelchi",  der 
Langobardenkönig)  dramatisiert  und  damit  Italien  das  epochemachende 
Beispiel  des  Shakespearschen  historischen  Dramas  gegeben.  Doch  ist  es 
ihm  nicht  gelungen,  dem  genau  studierten  geschichtlichen  Ereignis 
dramatisches  Leben  einzuflößen.  Es  sind  zwei  Buchdramen  entstanden, 
vornehm  in  Sprache  und  Gesinnung,  aber  durch  historische  Grundlage 
und  moralische  Absicht  zu  sehr  gefesselt,  als  daß  ihnen  Bühnenerfolg  be- 
schieden gewesen  wäre. 

Fauriel  veröffentlichte  1823  zu  Paris  eine  Übersetzung  dieser  Trauer- 
spiele Manzonis  und  fügte  dessen  französischen  Brief  gegen  die  drama- 
tischen Einheiten,  sowie  Goethes  ermunternde  Kritik  und  Manzonis  Dank- 
schreiben an  Goethe  hinzu.  Wie  bezeichnend!  Der  literarische  Prozeß 
der  romantischen  Dramatik  wird  in  Paris  geführt.  Fauriel  leitet  die  Ver- 
handlungen in  französischer  Sprache  und  der  Meister  von  Weimar  wird 
als  Zeuge  angerufen. 
Die  Promessi  Eiu   großcs  Kuustwcrk   schuf  Manzoni  mit  den  „Verlobten",    der  ein- 

^''"'  fachen  Geschichte  zweier  dörflicher  Liebesleute,  Renzo  und  Lucia,  deren 
Bund  durch  die  Nachstellungen  eines  Schloßherrn  bedroht,  von  einem 
furchtsamen  Landpfarrer  und  einer  verbrecherischen  Signora  unzureichend 
geschützt  wird.  Der  Kampf  um  Lucia  spielt  sich  auf  dem  historischen 
Hintergrunde  der  Jahre  1628 — 1631  ab,  als  die  spanischen  Herren  die 
Lombardei  bedrängten,  als  Kriegs-  und  Hungersnot  das  Land  durchzogen 
und  die  Pest  mit  der  Todesangst  alle  Feigheit  und  allen  Heroismus  ent- 
fesselte. Anders  und  glücklicher  als  in  seinen  Dramen  verteilt  hier 
Manzoni  Geschichte  und  Dichtung.  Nur  zwei  der  handelnden  Personen 
sind  historisch,  die  zwei  vornehmsten:  der  Kardinal  Borromeo  und  die 
Signora  de  Leyva:  so  bewegt  sich  die  erfundene  Fabel  frei  im  Sturme 
jener  wilden  Jahre.  Um  ihr  Glauben  zu  verschaffen,  stellt  sich  Manzoni, 
als  hätte  er  sie  in  einer  alten  Chronik  gefunden,  und  dieser  Fiktion  ist  er 
in  unübertrefflicher  Meisterschaft  gerecht  geworden.  Das  behagliche 
Plaudern,  die  lehrhaften  Digressionen  und  scherzhaften  Zwischenbemer- 
kungen, die  ganze  humorvolle  Art  eines  Erzählers,  der  trotz  aller 
Schrecken,  von  denen  er  berichten  muß,  weiß,  daß  der  liebe  Gott  ja 
doch  alles  zum  guten  Ende  geführt  hat  —  diese  schlichte,  anschauliche 
Darstellungsweise  eines  gottesfürchtigen,  aber  auch  weltverständigen 
Chronisten  ist  ganz  Manzonis  eigenste  Art.  Hier  hat  wirklich  ein  Künstler 
die  Form  gefunden,  in  der  er  sein  Bestes  geben  konnte.  Und  mit  wie 
reichem    inneren  Leben    hat    er   diese  Form    zu    erfüllen    verstanden;    wie 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  j*q 

lebendig  steht  z.  H.  dieser  Pfarrer  Don  Abbondio  in  seiner  giitmütigen 
Schwäche  vor  uns!  Freilich  ist  nicht  das  etwas  hausbackene  Liebespaar 
der  Brennpunkt  des  Lebens:  den  Sturm  der  Liebe  zu  schildern,  lehnt 
Manzoni  aus  sittlichen  Bedenken  ab.  Solchen  Sturmes  gibt  es  nach  seiner 
Meinung  im  Leben  genug,  der  Dichter  braucht  ihn  nicht  noch  künstlich 
zu  erzeugen.  Wer  so  denkt,  der  handelt  wohl  richtig,  wenn  er  auf  die 
Darstellung  der  Liebe  verzichtet.  Wenn  hier  das  Schaffen  Manzonis  eine 
Lücke  zeigt,  so  würde  anderseits  dieses  Schaffen  sicher  nichts  ge- 
wonnen haben,  wenn  er  sich  bemüht  hätte,  diese  Lücke  auszufüllen. 

Das  Beispiel  Scotts  hat  Manzoni  zum  Roman  gezogen  und  die  zufällige 
Bekanntschaft  mit  einem  historischen  Dokument  von  1627  auf  den  Stoff 
geführt.  Lange  Jahre  arbeitete  der  Dichter  an  seinem  Buche.  Wir  wissen 
heute,  wie  er  änderte,  umstellte  und  —  kürzte.  Nicht  die  Rhetorik,  die 
seinem  Wesen  widerstrebte,  aber  das  Plaudern  bildete  für  ihn  eine  Gefahr. 
Er  war  ihrer  bewußt  und  wir  bewundern  den  Kunstverstand,  mit  dem  er 
an  sich  selbst  Kritik  übte. 

Gewiß  hat  Manzonis  ängstliche  Kunstlehre  seinem  Kunstschaffen  enge 
Grenzen  gezogen.  Sie  hat  seine  Dramatik  der  Bühne  entfremdet,  hat 
seiner  Lyrik  nur  wenige  hohe  Flüge  gestattet  und  hat  das  Lebensgebiet 
seines  Romans  beschränkt.  Aber  eine  glückliche  Fügung  hat  ihn  für 
diesen  Roman  Stoff  und  Form  finden  lassen,  die  ihm  erlaubte,  sein  großes, 
wenn  auch  gebundenes  Können  ganz  zu  betätigen  und  mit  dem  liebens- 
würdigen Kunstwerk  zugleich  das  Beispiel  künstlerischer  Wahrhaftigkeit 
zu  geben.  Diese  Tugend  ist  in  hohem  Maße  am  Erfolg  des  Kunstwerks 
beteiligt. 

Manzonis  Lyrik,  seine  Dramen,  sein  Roman  machten  Schule.  Die 
Stimme  des  Patriotismus,  die  bei  ihm  nur  diskret  erklang,  tönte  laut  und 
scharf  aus  den  Werken  seiner  Mitstreber  und  Nachahmer.  „Leier  und 
Schwert"  könnten  fast  alle  Liedersammlungen  der  Zeit  überschrieben 
werden  und  mehr  als  einer  dieser  Sänger  ist  im  Kampf  ums  Vaterland 
geblieben,  wie  jener  G.  Mameli,  der  das  „Fratelli  d'Italia",  da-s  Sturmlied 
zum  Jahre  1848,  gesungen,  oder  der  vielversprechende  Ippolito  Nievo. 
Das  reichste  Werk  romantischer  Lyrik  hat  G.  Prati  hinterlassen.  Er  ist 
ein  hervorragendes  Talent.  Seine  glänzenden  Versnovellen,  .,Canti", 
„Ballate"  bergen  die  ganze  Welt  der  Romantik,  Nord  und  Süd,  V.  Hugos 
Spanien,  Bürgers  Phantastik  und  Byrons  Klage. 

Es  ergoß  sich  eine  Flut  von  historischen  Romanen,  in  welchen  die 
ganze  Geschichte  Italiens  in  den  Dienst  des  politischen  Kampfes  gestellt 
und  zu  leidenschaftlichen  Angriffen  in  tyratuios  benutzt  ist.  Ein  be- 
deutendes Kunstwerk  entsteht  nicht;  aber  die  Verfasser  haben  wie  z.  B. 
d'Azeglio  im  politischen  Kampf  auch  ihre  Person  eingesetzt  und  so  im 
Leben  die  Beispiele  des  Mutes  gegeben,  die  sie  in  ihren  Romanen  erzählten. 

Auch  die  Toskana  trat  allmählich  in  die  Bewegung  ein,  sowohl  das 
Florenz   der   gemessenen  „Antologia",   des  Capponi,  Tommaseo,  Niccolini, 


340 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


als  das  Livomo  des  ungebärdigen  „Indicatore  Livornese",  des  Mazzini  und 
Guerrazzi.  Doch  faßten  die  neoguelfischen  Neigungen  der  katholisierenden 
lombardischen  Romantik  hier  weniger  Fuß,  Man  träumte  von  einer  Einigung 
Italiens  unter  einem  Monarchen  auf  Kosten  des  Papsttums.  Der  Klassiker 
Xiccolini,  den  nicht  künstlerische  Überzeugung,  sondern  der  Patriotismus 
zur  Benutzung  romantischer  Formen  führte,  schrieb  historische  Trauer- 
spiele, deren  bedeutendste,  wie  „Arnaldo  da  Brescia"  (1843),  Buchdramen 
voll  lyrischen  Schwunges  sind.  Eine  imponierende  Gestalt  ist  der  Dalma- 
tiner Tommaseo,  dessen  origineller  und  umfassender  Geist  sich  in  un- 
ermüdlicher Arbeit  mit  den  wogenden  Ideen  der  Zeit  beschäftigte.  Von 
ihrem  Widerstreit  hin  und  her  gezogen,  hat  er  in  eindrucksvoller  Diktion, 
die  von  verhaltener  Leidenschaft  spricht,  als  Gelehrter  und  als  Patriot  an 
der  moralischen  und  wissenschaftlichen  Erziehung  des  italienischen  Volkes 
gearbeitet  und  ihm  und  seiner  dalmatischen  Heimat  schöne  Lieder  gesungen. 
Bühnenwirksameres  als  die  romantische  Tragik  bietet  die  Komödie. 
Das  19.  Jahrhundert  hatte  vom  18,  einerseits  das  weinerliche  Lustspiel 
übernommen,  dessen  Sentimentalität  nach  französischen  und  deutschen 
Mustern  gepflegt  wurde;  anderseits  war  ihm  das  Erbe  Goldonis  im  heiteren 
Lustspiel  zugefallen.  Hier  hat  sich  der  römische  Graf  Giraud  (-I-1834) 
im  Sitten-  und  Charakterbild  wirklich  ausgezeichnet.  Er  hat  gegen  eng- 
herzige geistliche  Erziehung  den  „Hofmeister  in  Nöten"  (1807)  geschrieben. 
Er  hat  im  „Ehrenmann,  der  mit  sich  handelt"  (//  galantuomo  per  trans- 
azione,  1832)  einen  richterlichen  TartüfF  mit  großer  Kraft  und  hervor- 
ragender Kunst  gezeichnet.  Das  feige,  korrupte  Treiben  munizipalen 
Lebens  hat  er  mit  der  Schärfe  Pasquinos  in  Satiren  verspottet,  deren  leb- 
hafter Stil  und  deren  bewegte  Kurzverse  der  akademisch  zugeschnittenen 
Satire  bisher  fremd  gewesen. 
G.  Giusti.  Hierin    fand    er    einen    Schüler,     der    die    Kunst    des    Lehrers    weit 

übertraf:  Giuseppe  Giusti  (f  1850).  Der  Toskaner  Giusti  hat 
während  eines  Jahrzehnts  über  die  Enge,  den  Kleinmut  und  die 
Heuchelei  toskanischen  und  italienischen  Lebens,  über  Fürsten,  Adelige 
und  Bürger  die  Geißel  der  Invektive  geschwungen,  daß  ihr  Sausen 
und  Knallen  auch  die  Trägen  antrieb.  Auf  die  Höhe  seiner  Kunst 
erhob  er  sich,  als  Lamartines  und  Anderer  Spott  über  das  „tote  Italien" 
ihm  sein  zorniges  „La  terra  dei  morti"  (1841)  eingab  und  er  den 
nahenden  Dies  irae  seines  Volkes  verkündete.  Und  der  so  sein  Italien 
nach  außen  stolz  verteidigte,  legte  nun  auch  dessen  Elend  und  Schwächen 
mit  schlagendem  Witz  und  ätzendem  Spott  bloß.  Abscheu  und  Ver- 
achtung erfüllen  seine  Verse,  so  daß  nach  seinem  eigenen  Wort  des 
Dichters  Antlitz  die  Züge  eines  Menschen  trägt,  der  über  Schmutz  dahin- 
schreitet.  Er  schuf  Bilder,  z.  B.  der  Stellenjägerei  oder  des  politischen 
Charlatanismus,  deren  Gestalten  zu  wahren  Typen  geworden  sind.  Der 
Reichtum  der  toskanischen  lingua  parlata  ist  über  diese  „Scherzi"  aus- 
gegossen,  was   bisweilen  bis   zur  Überfülle   und  Künstlichkeit  geht.     Die 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.   hic  Romantik.  3^1 

Revolution    von    1848,    auf   die    seine  Poesie    hindrängte,    fand    ihn   krank 
und  enttäuschte  ihn. 

Giustis  Kunst  ist  romantisch  nach  Form  und  Absicht  Er  arbeitete 
an  der  nämlichen  Aufgabe  wie  Manzoni.  Das  verband  die  beiden  so  ver- 
schiedenen Menschen,  vermochte  aber  die  tiefe  innere  Abneigxing  Manzonis 
nicht  zu  überbrücken. 

Völlig  abseits  von  Manzoni,  von  dem  ihn  die  ganze  Lebensanschauung  i>«K>p*rdi 
trennt,  steht  Leopardi  (1798  — 1837),  der  überhaupt  ein  Einsamer  war. 
Dem  hofFnungsfreudigen,  versöhnlichen  Optimismus  Manzonis  gegenüber, 
vertritt  er  den  düstersten  Pessimismus.  Die  philosophische  Lyrik  Leopardis 
bildet  inhaltlich  und  formell  den  schärfsten  Gegensatz  zu  den  „Inni  sacri". 
Leopardi  ist  Romantiker  in  dem  überquellenden  Subjektivismus,  mit  dem 
er  die  Seelennot  gesteht,  die  in  seinem  mißgestalteten  Körper  wohnt 
Frühreife  Überempfindlichkeit,  unbändiges  Verlangen  nach  einem  Ruhm, 
mit  dem  die  Welt  so  oft  auch  dem  Genie  gegenüber  geizt;  frühe  Ent- 
täuschung durch  das  Leben  und  die  Liebe  nähren  in  ihm  einen  Welt- 
schmerz, der  nicht  renommistisch  sich  gebärdet,  wie  bei  Byron  —  den  er 
nicht  liebt  — ,  sondern  in  tiefen  und  wahren  Klagen  sich  ausspricht  und 
deren  Ironie  keine  Frivolität  ist.  Ihm,  dem  Kranken,  dessen  Liebe  kein 
Weib  erwidert,  der  nicht  mehr  an  Ruhm  noch  an  Tugend  glaubt,  der  an 
Wissenschaft  und  Fortschritt  verzweifelt,  in  dem  auch  die  Vaterlandsliebe 
verdorrt  und  dem  die  Natur  als  böse  erscheint  —  ihm  hat  sich  die  Er- 
kenntnis, daß  alles  Leben  Leiden  ist,  in  ihrer  ganzen  Furchtbarkeit  ent- 
hüllt wie  dem  kranken  Pascal.  Nur  fehlt  Leopardi  der  Glaube.  Er  ist 
Heide,  gleich  Viguy,  an  den  er  vielfach  erinnert.  Aus  seinen  klassischen 
Studien  war  ihm  das  Bild  des  Altertums,  des  alten  Hellas,  als  des 
Landes  seiner  Sehnsucht  geblieben.  Zu  ihm  flüchtete  er,  um,  nicht  als 
autoritätsgläubiger  Nachahmer  sondern  als  Dichter  und  Denker,  seine 
Lebensklage  zu  gestalten.  Er  wollte  kein  Kind  seiner  Zeit,  sondern  des 
Altertums  sein  —  aber  wie  sehr  zeigt,  trotz  dieser  Abkehr,  seine  melan- 
cholische Gestalt  moderne  Haltung,  moderne  Züge!  Er  hat  dies  auch 
selbst  anerkannt  und  in  einem  jener  nachgelassenen  „Pensieri"  ausgesprochen, 
daß  er  die  antike  Xaivetät  verloren  habe. 

Noch  stark  rhetorisch  sind  seine  jugendlichen  Kanzonen  (i8i8).  Auch 
ist  Petrarcas  Vorbild  deutlich  erkennbar.  Dann  schwindet  das  übertriebene 
Pathos  aus  seiner  Lyrik,  die  sich  zu  stolzer  Einfachheit  und  auch  metrisch 
zu  freier  Natürlichkeit  entwickelt.  Er  findet  für  seinen  Weltschmerz  Lieder 
von  höchster  Schönheit  und  eine  Prosa  von  einer  Eleganz  und  Biegsamkeit 
der  Form,  in  die  sich,  wie  in  ein  schönes  antikes  Gewand,  der  Reichtum 
seiner  Gedanken  kleidet  -  auch  jener  „Pensieri",  die  er  bei  anderen,  wie 
Larochefoucauld,  entlehnt 

Die  psychische  Veranlagung,  die  seinen  Geist  zu  düsterer  Lebens- 
auffassung drängte,  fand  in  einer  zwangreichen  Erziehung  und  körper- 
licher Infirmität   den  Boden   zu   raschem  Wachstum    und  voller  Entfaltung. 


342 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Leopardi  hat  selbst  nachdrücklich  auf  die  körperliche  Bedingtheit  aller 
Lebenswerte  hingewiesen.  „Alles  was  das  Leben  edel  und  voll  macht, 
hängt  von  der  Vitalität  des  Leibes  ab  .  ,  .  der  Schwächliche  ist  weniger 
denn  ein  Kind  .  .  ,  das  Leben  ist  nicht  für  ihn."  Er  hat  damit  deutlich 
ausgesprochen,  daß  die  Krankheit,  die  ihn  der  Möglichkeit  beraubte,  am 
Leben  handelnd  teilzunehmen,  ihn  verdüstert.  Sein  Pessimismus  ist  der 
ungestillte  Lebenshunger  eines  Unglücklichen,  der  zugleich  ein  tiefer 
Denker  und  ein  großer  Dichter  war. 

Aber  es  ist  dem  Menschen  nicht  gegeben,  die  Lehre  des  Pessimismus 
so  zu  vertiefen,  daß  kein  belebender  Hoffnungsstrahl  mehr  in  ihr  Düster 
fällt.  So  ist  auch  bei  Leopardi  die  Lebensverneinung  nicht  rein  destruktiv. 
Er  hat  nicht  nur  zerstört,  er  hat  auch  aufbauen  helfen.  Er  hat  für  die 
Jugend  und  ihre  beglückenden  Illusionen,  er  hat  für  die  Volksherrschaft 
und  die  soziale  Arbeit  beredte  Worte  und  hat,  im  glücklichen  Widerspruch 
zu  seinen  eigenen  Zweifeln,  seine  Werke  als  Waffen  im  Kampf  für  sein 
Italien  betrachtet. 
Die  Dialekt-  Die  Romantik  ist  von  einem  Aufschwung  der  Dialektpoesie  begleitet, 

poesie.  ^^^  g^^^  Auflehnung  gegen  Feierlichkeit  und  Purismus  bedeutet.  Aus  der 
Schar  dieser  munizipalen  Poeten  erheben  sich  zwei  große  Künstler:  der 
Mailänder  Porta  (f  1820)  und  der  Römer  Belli  {f  1863).  Jener  schildert 
das  Volk,  das  im  Schatten  des  Mailänder  Doms  lebt,  leidet  und  genießt, 
Proletarier,  Soldaten,  Pfaffen,  Nobili.  Das  menschlich  Unvollkommene  er- 
faßt er  mit  wunderbarem  Auge,  gestaltet  es  mit  Schöpferhand  und  mit 
tiefem  Humor  in  Augenblicksbildern  und  Versnovellen.  Dieser  herrliche 
Humor  fehlt  seinem  Schüler  Belli,  diesem  modernen  Pasquino.  der  in 
elfter  Stunde  (1830 — 1847)  dem  päpstlichen  Rom  ein  Denkmal  ohnegleichen 
errichtet  hat.  In  2000  Sonetten  bildet  er  ebensoviele  Szenen  römischen 
Lebens,  zumeist  Dialoge.  Wir  hören  die  Menschen  des  Trastevere  plaudern, 
schelten,  fluchen,  spotten  —  wir  hören  das  Leben  des  lärmenden  Südens. 
Porta  läßt  uns  schauen,  Belli  läßt  uns  hören:  ihre  verwandte  und  doch  so 
verschiedene  Kunst  ist  gleich  fesselnd.  Kein  Dichter  hat  wie  Belli  mit 
solcher  Meisterschaft  bewegtes,  lautes  Menschenleben  in  die  Enge  des 
Sonetts  gezwungen:  heimatlichen  Stoff  in  heimatliche  Form.  Er  hat  damit 
ein  Beispiel  gegeben,  das  ihm  in  Pascarella  einen  glücklichen  Nach- 
folger geweckt  hat. 

Spanien  und  Portugal.  Von  England  unterstützt  hatten  Spanien 
und  Portugal  in  heldenmütigen  Unabhängigkeitskriegen  die  politische 
Herrschaft  Frankreichs  abgeschüttelt.  Aber  trotz  der  Konstitution  von 
1 8 1 2  hatten  nicht  Freiheit  und  Fortschritt  den  Lohn  davon.  Das  restau- 
rierte absolute  Königtum  diente  auf  der  ganzeo  Halbinsel  der  Reaktion. 
Die  politischen  Wirren  nahmen  kein  Ende;  es  war  der  Bürgerkrieg  in 
Permanenz.  Diese  Kämpfe  nahmen  wie  in  Italien  die  besten  Kräfte  in 
Anspruch.     Der  Charakter   der  Literatur  dieser  Zeit,  ja   des   ganzen  Jahr- 


F.  Das   19  Jahrhundert,     l.   Du-  Romantik.  i^^ 

hundcrts,  ist  vorwici^end  politisch.  Die  junj^^en  Dichter  b«-^rinnen  damit, 
daß  sie  die  Helden  der  Unabhängfigkeitskänipfe,  vor  allen  die  //crot-s  </W 
i/os  de  Miixo  (2.  Mai  1808),  besingen.  Ihnen  allen  steht  Kampf  auf  dem 
Schlachtfeld,  Kerker,  Exil  bevor,  und  mancher  ist  aus  diesen  Fährlich- 
kriten  später  /u  ruhmvoller  politischer  Laufbahn  ins  Vaterland  zurück 
gekehrt. 

Schwach  nach  außen,  verlor  das  Königtum  die  Herrschaft  über  die 
weiten  amerikanischen  Kolonien;  nach  innen  führte  es  ein  Regiment  des 
Schreckens.  Die  Intelligenz  des  Landes  wurde  verfolgt.  Über  die 
hoffnungslos  erscheinenden  Zustände  gießt  Jos6  de  Larra  (f  1837)  die 
Schale  seiner  Satire.  Er  ist  ein  großer  literarischer  Karikaturist,  der 
mit  erbarmung.slo.ser  Hell.sichtigkcit  die  Misere  um  ihn  her  mu.stert  und 
mit  grininiigern  Humor  ihre  charakteristischen  Züge  zu  Papier  bringt. 
Seine  ganze  Persönlichkeit  ist  ursprünglicher  als  P.-L.  Courier;  seine  Rede 
bitterer,  sein  Stil  weniger  ziseliert  aber  von  kräftigerer  Kunst 

Demütig  trug  das  Schrifttum  das  Joch  des  französischen  Klassizismus,  ivr  Ku.nxiw»mt 
der  eleichsam  eine  bourbonische  Institution   war.     Die   nationalen    l'ormen  ^.    °°  „ 
der  Literatur,    Comedia  und  Romancero,   galten  als  plebejisch  und  trivial 
und  erschienen  der  Beachtung  durch  den  Gebildeten  unwert. 

In  der  Hebung  des  Schatzes  spanischer  Epik  ist  das  germanische  und 
romanische  Ausland  Spanien  selbst  vorausgegangen,  und  weit  herum  im 
Ausland  haben  Romanzen  und  Calderöns  Theater  enthusiastische  Be- 
wunderung erregt  zu  einer  Zeit,  da  sie  im  eigenen  Lande  in  Mißachtung 
gefallen  waren.  Gewiß  lenkten  in  Spanien  so  gut  wie  in  Italien  patrio- 
tische Männer  in  diesen  schweren  Zeiten  die  Blicke  auf  die  ruhmreiche 
Vergangenheit  des  Landes  zurück.  Sie  begegneten  da  großen  Männern 
und  einer  reichen  Kunstdichtung  —  aber  keinem  Dante,  in  dessen  über- 
ragender Figur  patriotisches  und  künstlerisches  Sehnen  hätte  zusammenfließen 
können.  Quintana  zeigte  (seit  1807)  jene  Männer  in  seinen  „Esparioles 
c^lebres"  auf  und  stellte  diese  Kunstpoesie  in  einer  Anthologie  zu- 
sammen —  aber  er  selbst  folgt  in  seiner  Dichtung  dauernd  den  Regeln 
der  nämlichen  Franzosen,  deren  politische  Herrschaft  er  so  leidenschaft- 
lich bekämpft  hatte.  Künstlerisches  und  nationales  Empfinden  blieben 
völlig  getrennt. 

Die  erste  Sammlung  wirklicher  Volksromanzen  gab  1815  Jakob  Grimm 
heraus;  nach  ihm  kommt  Depping  (181 7),  dessen  Ausgabe  ein  „Espahol 
refugiado",  SalvA,  zu  London- 1825  überarbeitete.  Dann  folgt  der  Spanier 
A.  Dur4n  dankbar  diesen  deutschen  Spuren  und,  mit  bescheidenen  Samm- 
lungen beginnend  (1828),  kommt  er  in  2  »jähriger  Arbeit  zum  Xational- 
werk  seines  „Romancero  general",  das  2000  Romanzen  birgt.  Und  in 
ähnlicher  Weise  gingen  in  der  Hebung  der  Schätze  des  Theaters  von 
Juan  del  Encina  und  Vicente  bis  Lope  und  Tirso  Deutsche  vor:  der  Ham- 
burger Kaufmann  Bohl  de  Faber,  der  in  CAdiz  seine  Muße  an  literarische 
Studien    wendete,    deren    Früchte    er    „seinen    I*>eunden    in    Deutschland" 


344 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


darbrachte  (z.B.  das  Teatro  cspaiwl  anterior  d  Lope,  Hamburgo  1832)  und 
E.  Hartz enbusch,  der  aus  der  Tischlerwerkstatt  seines  Vaters  den  Weg 
zur  Wissenschaft  und  zur  Dichtung  fand. 

Um  1830,  da  Frankreich  und  ItaUen  in  geräuschvollen  Kämpfen  die 
klassizistischen  Fesseln  bereits  abgeschüttelt  hatten,  war  in  Iberien  noch 
alles  still.  Auch  die  klangvolle  Stimme  des  Kubaners  J.  M.  de  Heredia 
(f  1839)  besingt  die  tropische  Natur  im  Adagio  des  Klassizismus,  etwa  im 
Stile  Millevoyes,  dessen  „Chute  des  feuilles"  er  übersetzt. 
Der  EinfiuB  des  Wohl    Waren    die  „Pasiones    del  joven  Werter"    und    Chateaubriands 

Auslands.  ^^Atala"  Seit  1803  übertragen;  wohl  brachte  Bohl  de  Faber  den  Spaniern 
seit  1818  Schlegels  dramaturgische  Ideen  zur  Kenntnis  und  spann  der 
treffliche  Durän  diese  Gedanken  weiter  —  dieser  romantische  Import  trug 
keine  künstlerische  Frucht. 

Die  Regeneration  ging  von  den  Emigranten  aus.  Welche  Erregungen, 
Gedanken  und  Wünsche  das  freiere  Leben  des  Auslandes  in  diesen 
patriotischen  Männern  weckte,  die  die  Reaktion  ins  Exil  getrieben 
hatte,  zeigen  Zeitschriften,  wie  die  „Mußestunden  spanischer  Emigranten", 
die  1824 — 1827  zu  London  erschienen.  Wie  entscheidend  ein  Aufenthalt 
im  Ausland  sein  konnte,  beweist  um  1830  das  Beispiel  des  Martinez  de 
la  Rosa,  den  Paris  in  kurzer  Zeit  aus  einem  Anhänger  Boileaus  und 
Luzans  zu  einem  Schüler  V.  Hugos  und  Dichter  historischer  Dramen 
machte. 

In  England  hatte  der  Herzog  von  Rivas,  Angel  de  Saavedra,  die 
Romanzen  seiner  Heimat  bewundern  lernen.  Dort  fand  er  auch  in  den 
epischen  Dichtungen  Scotts  —  den  er  den  ritterlichen  nennt  —  das  Vor- 
bild für  die  Behandlung  sagenhafter  Stoffe.  Ihm  folgend,  baute  er  aus 
der  Geschichte  der  Infanten  von  Lara  ein  strophisches  Epos.  In  der  Vor- 
rede zollt  er  der  englischen  Literatur  seinen  bewundernden  Dank.  Dieses 
Heimwehgedicht  „El  moro  expösito"  (Das  maurische  Findelkind),  dessen 
Strophen  sich  der  alten  epischen  Assonanz  bedienten,  das  in  farbenreichen 
Bildern  eine  poetische  Verklärung  des  heimatlichen  Cördoba  und  eine 
Verherrlichung  der  alten  Königstadt  Burgos  gab,  erschien  zu  Paris  1834. 
Und  zu  dieser  Glorifikation  des  nationalen  Epenschatzes  schrieb  ein  anderer 
Flüchtling,  Alcalä  Galiano,  die  Vorrede:  das  Manifest  der  spanischen 
Romantik.  Er  fordert  zum  literarischen  Freiheitskampfe  auf.  Während 
die  übrigen  „Naciones  cultas"  bereits  die  Fesseln  des  ,,Clacisismo  frances" 
abgeworfen,  liege  Spanien  noch  in  Ketten. 
Der  Einzug  der  Nach  Ferdinands  VII,  Tod  (1833)  waren  etwas  hellere  Tage  gekommen. 

omantik      £)gj^  Versuchen,  die  Inquisition  wieder  einzuführen,  wurde  durch  ihre  end- 
in apanien.  '  ^  ' 

gültige  Aufhebung  ein  Ende  bereitet.  Das  „Ateneo"  von  Madrid  wurde 
wieder  geöffnet,  dieser  neutrale  wissenschaftliche  Salon,  der  den  Ge- 
bildeten aller  Parteien  offensteht,  dessen  Diskussionen  in  der  geistigen 
Entwickelung  des  Landes  tiefe  Spuren  zurückgelassen  haben  und  dessen 
Gastlichkeit    der   Fremde    dankbar    gedenkt.     Die   Amnestie    öffnete    1834 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  j«  e 

den  ausgewanderten  Intellektuellen  die  Tore  der  Heimat.  Mit  ihnen  zieht 
die  Romantik  in  Spanien  ein.  So  wirkte  die  politische  Amnestie  literarisch 
befreiend.  Die  Romantik  ist  in  Spanien  von  Anfang  an  die  H<';^dfiterin 
des  politischen  Fortschritts  gewesen. 

Martfnez  brachte  aus  dem  Exil  seine  „Conjuracion  de  \  Liiecia" '>»•  i>f« 
(in  Prosa)  mit:  venezianisches  Mittelalter  voll  l-arbe  und  Spannung,  Lust 
und  Grauen,  dessen  prahlerisches  Leben  das  Madrider  Theater  (April  i8.,4) 
mit  brausendem  Beifall  erfüllt,  während  der  Autor  als  Minister  die 
Geschicke  des  Landes  lenkt.  Larra  griff  zur  ritterlichen  Welt  und  zur 
Verssprache  Lopes  de  Vega  und  schrieb  seinen  „Macias"  mit  Anklängen 
an  Dumas.  Den  großen  Sieg  aber  errang  Saavedra.  Vom  Ruhm  des 
„Moro  exposito"  begleitet,  kehrte  er  mit  einem  Drama  „Don  Alvaro" 
aus  Paris  zurück,  das  er  dort  inmitten  der  rauschenden  Erfolge  der  ro- 
mantischen Dramen  Hugos  geschrieben  hatte  und  in  dem  der  Geist  einer 
Novelle  Merim^es  lebt  {Les  ämcs  du  Purgatoire).  Es  ist  aus  Vers  und 
Prosa,  aus  Schriftsprache  und  Dialekt,  aus  leidenschaftlichem,  schicksals- 
mächtigem Heroismus  und  realistischem  Alltag  kunstvoll  gemischt  Der 
Zuschauer  konnte  sich  an  alter  Ritterlichkeit  atemlos  begeistern  und  an 
heimatlichem  Kleinleben  heiter  ergötzen.  Das  Stück  entfesselte  in  Madrid 
(1835)  einen  Sturm  des  Enthusiasmus.  Es  ist  dank  seiner  nationalen  Quali- 
täten bis  heute  auf  der  Bühne  geblieben,  obwohl  seinem  effektvollen 
Leben  die  innere  Wahrheit  fehlt. 

Gewiß  war  die  Dramatik,  die  hier  als  flammender  Protest  gegen  den 
Tragödienpomp  auftrat,  in  Spanien  nichts  völlig  Neues.  Larra  gab  dieser 
Erkenntnis  spöttischen  Ausdruck,  indem  er  das  romantische  Drama  eine 
Entdeckung  nannte,  „die  allen  bisherigen  Jahrhunderten  unbekannt  und 
den  Kolumbussen  des  neunzehnten  vorbehalten  geblieben  sei."  Er  wies 
dabei  nicht  nur  auf  die  alte  einheimische  „Comedia"  hin,  sondern  auch 
auf  die  Melodramen  nach  Pix^r^courts  Art,  deren  Moritaten  und  Senti- 
mentalitäten die  Madrider  Bühne  längst  von  der  Pariser  bezogen  hatte. 
Das  romantische  Drama  bedeutet  in  Spanien  eine  Rückkehr  zur  alten  natio- 
nalen Bühne,  die  auf  dem  Umweg  über  Pix6r6court  und  V.  Hugo 
sich  vollzog:  die  Handlung  der  alten  Comedia  wird  auf  fünf  Akte  aus- 
gedehnt; ihr  Dialog  wird  frei  in  Vers  und  Prosa  gestaltet;  ein  schwung- 
voller Lyrismus  stellt  sich  ein;  die  selbstbewußt  gewordene  Kunst  hält  auf 
Stil,  erhebt  den  Anspruch  auf  geschichtliche  [Lokalfarbe  und"  erstrebt 
wirkungsvolle  Kontraste  von  Komik  und  Tragik.  Ihr  Liebling  ist  der 
Rt'bcll,  der  mit  titanenhafter  Hybris  gegen  Sitte  und  Schicksal  sich  auf- 
lehnt   Abnorme  Menschen  und  Fügungen  sind  ihre  Welt:  Sturm  und  Drang. 

Es  folgte  Triumph  auf  Triumph.  A.  Garcfa  Gutierrez  bildet  gleich- 
sam aus  dem  Geiste  der  G.  Sand  das  Leidenschaftssiückjseines  „Trovador* 
(1836),  aus  dessen  Intrige  später  Verdi  seine  Oper  gestaltet  Hartzen- 
busch  wußte  das  alte  Thema  der  unglücklichen  „Amantes  de  Teruel  (1837) 
mit    neuer    —    etwas    rührseliger    —    Poesie    zu    verklären.      ZA  rate    be- 


^^6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

geisterte  im  nämlichen  Jahre  durch  die  Schrecklichkeiten  seines  „Carlos  IL", 
eines  effektreichen  historischen  Zerrbilds.  Wie  viele  sind  gleich  Zarate  in 
solche  Übertreibungen  verfallen  und  haben  vor  einem  beifallslustigen 
Publikum  die  Romantik  in  zügelloser  Freiheit,  in  Blut  und  Schauder  ge- 
sucht. Ihre  marktschreierische  Kunst  hat  viel  dazu  beigetragen,  daß  das 
romantische  Theater  der  Bühne  heute  fremder  geworden  ist  als  die  alte 
Comedia. 
Das  Lustspiel.  Die   Emcuercr    des  Dramas   sind   auch   die   Reformatoren   des   Lust- 

spiels: Hartzenbusch,  dessen  Literaturkunde  Spanien  so  viel  verdankt  und 
besonders  der  fruchtbare  Breton  de  los  Herreros  (f  1873).  Von  Moratins 
Beispiel  ausgehend,  der  in  Spanien  herrschte  wie  Goldoni  in  Italien,  be- 
freite sich  Breton  von  dessen  sprachlichen  und  technischen  Fesseln.  Seine 
hastige  Produktion  tut  wohl  seiner  Tiefe  Eintrag,  läßt  ihn  aber  nicht  eigent- 
lich nachlässig  werden.  Sein  dramatischer  Instinkt  leitet  ihn  sicher.  Die 
natürliche  Anmut  seiner  Verssprache  und  die  Fülle  seiner  heiteren  Einfälle 
bleiben  ihm  treu.  Humorvoll  mustert  er  die  bürgerliche  Welt,  in  deren 
Mitte  er  lebt,  und  läßt  mit  dem  Strahl  des  Witzes  auch  den  Strahl  der 
Poesie  auf  sie  fallen.  So  erneut  er  gelegentlich  die  Intrigenkomödie 
Tirsos  und  Calderöns.  Seine  lehrhafte  Art  ist  echt  spanisch:  der  Zug 
humoristischer  Unterweisung  eignet  dem  spanischen  Schrifttum.  Noch 
heute  lebt  Breton  auf  der  Bühne. 

Der    Anteil,    den    das    Au.sland    an    der    Erneuerung    der    spanischen 
Dramatik    hat,    spricht    sich    auch    darin    aus,    daß    diese   Dramatiker  wie 
Breton,  zugleich  Übersetzer  sind. 
Die  Prosa.  Auch  die  Prosalitcratur,  der  Essay  und  die  Erzählung,  beziehen,  trotz 

der  glorreichen  nationalen  Tradition,  ihre  Vorbilder  aus  dem  Ausland. 
Das  Beispiel  jener  satirischen  Bilder  aus  den  Pariser  Sitten,  das  Jouy  18 12 
unter  dem  Namen  des  „Hermite  de  la  Chaussee  d' Antin"  gab  —  und  nicht 
der  Vorgang  von  Guevaras  „Hinkendem  Teufel"  —  weckt  die  „Escenas 
matritenses",  dieMesonero  Romanos  während  dreißig  Jahren  (1832 — 1862) 
in  liebenswürdiger  Plauderei  fortsetzt  und  die  „Escenas  andaluzas",  in 
denen  Estebanez  Calderön,  genannt  „El  Solitario",  sein  „weites,  reiches, 
tapferes,  schöpferisches,  nahrhaftes,  anmaßendes  und  machtvolles  Anda- 
lusien" malerisch  aber  etwas  preziös  schildert. 

Spanien  hat  auch  W.  Scott,  dem  Sänger  des  Königs  Don  Rodrigo, 
und  G.  Sand  reichlich  nachgeahmt.  Diese  Nachahmung  hat  kein  Kunst- 
werk geschaffen.  Saavedras  „Moro  expösito",  Esproncedas  „Pelayo"  haben 
schöne,  ja  glanzvolle  Einzelbilder.  Den  historischen  Romanen,  den 
lyrischen  Erzählungen  fehlte  jede  Glaubhaftigkeit. 
Die  Lyrik.  Den  Chor  der  romantischen  Lyriker  führt  Espronceda,  der  in  einem 

ruhelosen  Dasein,  das  ihn  mit  20  Jahren  auch  auf  die  Barrikaden  der 
Pariser  Julirevolution  führte,  sich  früh  verzehrte  (f  1842).  Um  sein  Leben 
hat  sich,  nicht  ohne  sein  Zutun,  eine  Legende  gebildet.  Literarische 
Schulung  fand  er  in  England,  das  ihm  die  düsteren  Stimmungen  Ossians  und 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     1.  Die  Romantik.  ^aj 

für  Dichtung  und  Wahrheit  seines  Lebens  Byron  als  Vorbild  bot,  und  in 
Frankreich,  wo  Hugos  bilderreiches  Pathos  und  Mussets  prahlerische  Sinn- 
lichkeit seiner  Neigung  entsprachen.  Goethes  Faust,  Tirsos  und  Byrons 
Don  Juan  ziehen  ihn  an;  er  baut  an  ihrer  Welt  und  ihren  T'iguren  weiter, 
bald  zart  unil  kunstvoll,  bald  in  orgiastischer  Übertreibung.  Aus  Saint- 
Simonistischen  Stimmungen  geht  sein  „Bettler"  (Mcndigo)  hervor.  Espron- 
ceda  ist  der  geborene  Rebell.  Was  er  seinen  „Pirata"  —  Byrons  Corsaren!  — 
singen  läßt:  „Mein  Gesetz  ist  Kraft  und  Sturm"  (Mi  ley  la  fucrza  y  cl 
vienfo),  das  gilt  von  seinem  eigenen  zügellosen  Wesen,  das  seine  kurze 
Bahn  mit  Trümmern  besäet  hat,  —  Trümmern  von  Dichtungen,  Lebens- 
stellungen, Liebe  und  Freundschaften.  Übermäßige  Subjektivität  macht 
ihn  zur  künstlerischen  Gestaltung  seiner  erzählenden  und  dramatischen 
Werke  unfähig.  Er  ist  Lyriker.  Im  Pathos  weiß  er  sich  noch  weniger 
zu  beherrschen  als  Hugo.  Aber  inmitten  des  Pathos  finden  sich,  ein  Ge- 
schenk glücklicher  Stunden  eines  großen  Dichters,  Lieder  der  Klage,  der 
Empörung,  der  Enttäuschung,  deren  herrliche  Sprache  und  deren  Macht 
bezaubern.  Der  neue  Ton,  den  er  angeschlagen,  und  das  Beispiel  der 
Romantiker  des  Auslands  zog  viele  Talente  an,  in  denen  eine  stark 
deklamatorische  Art  hervortritt.  Sympathisch  klingt  die  Stimme  des 
melancholischen  E.  Gil  y  Carrasco,  der  1846  zu  Berlin  gestorben  ist. 
Von  den  Dichterinnen  der  Schule  mag  Gertrudis  Gömez  de  Avellaneda 
genannt  werden,  eine  Cubanerin,  die  sich  in  Spanien  nach  den  glück- 
lichen Gefilden  zurücksehnt,  über  welche  „die  tropische  Sonne  ihre 
Schätze"  ausgießt.  Sie  verbindet  glücklich  die  lyrische  Inspiration  der 
Romantik  mit  der  Fülle  klassischer  Form. 

Noch  später  als  vSpanien  trat  Portugal  in  die  romantische  Bewegung  Die  portum«-- 
ein.  Der  Klassizismus  und  die  heimische  Arkadia  beherrschten  die  Litera- "**^'** '^'~*"''' 
tur  bis  zum  Schluß  der  dreißiger  Jahre.  Auch  in  Portugal  ist  der  Klassi- 
zismus die  literarische  Begleitform  der  Reaktion  und  singt  die  Romantik 
dem  Volke  das  Lied  der  I'Veiheit  und  des  Nationalbewußtseins.  Und  auch 
hier  wird  dieses  Lied  vom  Emigranten  angestimmt,  der  in  der  Fremde  den 
Wert  der  einheimischen  Dichtung  kennen  lernte.  In  Paris  erscheint 
1826 — 1834  der  „Parnaso  lusitano",  zu  dessen  altem  Liederschatz  Almeida 
Garrett  (1799 — 1854)  die  historische  Skizze  lieferte.  Dieser  Garrett  hat  in 
wechselvollen  Schicksalen  mit  dem  Schwert,  mit  Leier  und  Bühne,  mit 
dem  Wort  des  Historikers  und  des  Parlamentariers  für  die  Erweckung 
seines  Landes  gestritten.  In  Frankreich  und  England  besingt  er  heimweh- 
voll den  Nationalpoeten  „Camoes"  (1825),  gestaltet  er  patriotische  Ver- 
gangenheit zu  einer  politischen  Novelle  („Donna  Branca"  1826),  deren 
Vorrede  ein  romantisches  Programm  ist,  erneut  er  heimatliche  Volkslieder 
in  dem  reizenden  Romanzenkranz  „Adozinda".  In  der  Heimat  schreibt 
er  einen  historischen  Roman,  schenkt  er  als  Generalintendant  dem  Lissaboner 
Theater  historische  Dramen  von  großer  Wirkung  (1838 — 1847),  in  welchen 
Bilder   des   alten   Portugal   lebensvoll   („Der  Schwertfeger   von  Santarem") 


348  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

oder  mit  überquellendem  Lyrismus  („Frei  Luiz  de  Sousa")  dargestellt  werden. 
In  romantischen  „Wanderungen"  offenbart  er  die  Poesie  seines  Landes,  der 
alten  Baudenkmäler,  der  ewig  jungen  Natur,  des  Volkslebens.  Wir  sehen 
ihn  die  Hand  an  eine  Übersetzung  des  „Faust"  legen.  Mit  allen  Glocken 
hat  dieser  liebenswürdige  Dichter  sein  Volk  zur  neuen  poetischen  Andacht 
in  der  gotischen  Kathedrale  des  Romanticismo  zusammenberufen.  Der 
fromme  Herculano  ließ  dazu,  nach  Lamennais,  die  „Voz  do  propheta" 
und  die  „Harpa  do  crente"  (Die  Harfe  des  Gläubigen  1838)  erschallen  und 
gab  mit  seiner  Zeitschrift  „O  Panorama"  das  literarische  Erbauungsbuch. 
Als  Quinet  1843  Lissabon  besuchte,  da  erkannte  er  hoffnungsvoll  in  der 
schlummernden  Stadt  —  „wo  nur  einer  sich  bewegt:  der  Tajo"  —  die 
Anzeichen  dieser  literarischen  Erweckung.  Die  Hoffnung  sollte  sich  nicht 
erfüllen:  das  Lied,  das  die  romantische  Gemeinde  Garretts  und  Herculanos 
vielstimmig  intonierte,  war  kein  wirklich  portugiesisches  —  es  blieb  ein 
französisches  Lied.  Portugal  vertauschte  einfach  den  importierten  Klassi- 
zismus mit  einer  importierten  Romantik.  Ein  lebensvoller  nationaler  Ein- 
klang, zu  dem  Garrett  das  Beispiel  gegeben,  stellte  sich  nicht  ein. 

Seit  der  Unabhängigkeitserklärung  (1822)  löste  Brasilien  auch  seine 
literarischen  Beziehungen  zu  Portugal;  aber  es  ging  den  nämlichen  Weg. 
Magelhäes'  Gedichtsammlung  „Suspiros  e  saudades"  (Seufzer  und  Sehnen) 
sind  dafür  bezeichnend.  Sie  sind  in  Frankreich  und  Italien  entstanden;  sie 
erschienen  1836  zu  Paris  und  zeigen  deutlich  den  Einfluß  Lamartines. 
Die  Musen  des  heidnischen  Parnasses  werden  verabschiedet;  Gott,  die 
Natur  und  die  Heimat  sollen  den  Poeten  inspirieren.  Andere  folgen  Hugo, 
Musset  und,  gleich  diesen,  auch  Byron.  Die  Romantik  lehrt  die  Bedeutung 
der  Lokalfarbe  und  führt  zur  Heimatkunst,  die  sich  gerne  in  langen 
epischen  Gebilden  äußert.  „Brasilianas"  nennt  Porto  Alegre  seine 
Naturschilderungen  (1845).  „Romance  brasileiro"  betiteln  andere  ihre  nach 
Sand  oder  Balzac  gestalteten  Romane.  Die  innere  Abhängigkeit  vom 
französischen  Vorbild  ist  auch  bei  den  Dramen  brasilianischen  Stoffes 
nicht  zu  verkennen.  So  hat  auch  diese  Literatur  sich  von  dem  konventio- 
nellen rhetorischen  Element,  das  in  der  Nachahmung  liegt  und  das  der 
Brasilianer  in  nativistischem  Wortreichtum  amplifiziert,  nicht  hinreichend  zu 
befreien  vermocht.  Sie  ist  auch  bis  heute  nicht  eigentlich  national  ge- 
worden trotz  der  Heimatliebe,  die  sie  belebt,  trotz  des  tropischen  Lebens, 
das  sie  so  üppig  schildert  und  trotz  der  sinnlich -träumerischen  Stimmung 
(Saudades),  die  ihren  besten  Schöpfungen  eigen  ist. 
j.  ZoriUa.  Die  Romantik    der    iberischen    Halbinsel    erscheint    in    der  Figur    des 

Jose  ZoriUa  (1817  — 1893)  zusammengefaßt,  der  1837  am  Grabe  Larras 
zum  erstenmal  seine  dichterische  Stimme  erhob.  Er  ist  Lyriker,  Epiker 
und  Dramatiker  und  assimiliert  in  seiner  umfassenden  Kunst  die  importierte 
Romantik  mit  dem  Geiste  des  ritterlichen  und  rechtgläubigen  Spanien. 
Damit  hat  er  für  Jahrzehnte  sein  Land  entzückt,  das  ihn  dankbar  im  Alter 
unterstützt   und   den  Siebzigjährigen    zu   Granada    gekrönt    hat.     Von   der 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     I.  Die  Romantik.  3^g 

Byronschen  Stimmung  seiner  Lyrik  kommt  er  später  zu  glaubiger  Buße. 
In  seinen  Vcrslegrnden  läßt  or  die  Sagen  seiner  Heimat  glänzend  auf- 
erstehen. StotTi"  der  alten  Comedia  verjüngt  er  mit  großer  dramatischer 
Kraft.  Er  will  der  Troubadour  sein,  der  seinem  Lande,  das  über  Trümmern 
weint,  ein  Lied  alten  Ruhmes  und  neuen  Trostes  singt:  „Fern  von  mir 
die  lockende  Geschichte  fremder  Länder  und  unheiligen  Glaubens:  meine 
Stimme,  mein  Herz  und  mein  Geist  singen  die  Glorie  meines  Vaterlandes , , . 
auf  den  Flügeln  einer  feurigen  Dichtung  erstrebte  ich  keinen  anderen  Lor- 
beer als  —  ein  Lächeln  meines  süßen  vSpaniens."  „La  leyenda  del  Cid" 
hat  er  in  reichen  Farben  um  dieses  Lächeln  seiner  „dulce  Espaüa"  aus- 
geführt —  er  hat  aucli  die  Legende  von  der  Pförtnerin  („Margarita  la  tor- 
nera**)  lieblich  auf  Goldgrund  gemalt.  Das  Drama  des  Juan  de  la  Hoz 
vom  „Bauern  Juan  Pascual"  hat  er  in  „Schuster  und  König"  um- 
gebildet und  es  mit  modernen  Aspirationen  erfüllt.  Den  „Burlador  de 
Sevilla"  läßt  er  in  seinem  „Don  Juan  Tenorio",  zu  dem  ihm  A.  Dumas' 
„Don  Juan  Marana"  den  Weg  wies,  in  phantastischer  Weise  zum  reuigen 
Büßer  werden.  Das  Stück  wird  noch  heute  alljährlich  am  Allerseelentag 
auf  allen  Bühnen  des  Landes  gespielt:  es  ist  der  romantische  Bußtag 
Spaniens. 

Zorilla  ist  hastig  in  seiner  Ausführung.  Er  ist  eine  Art  Improvisator 
wie  so  viele  große  Talente  des  Südens,  Die  Psychologie  seiner  Dramen 
ist  schwach.  Der  Verpflanzung  ins  Ausland  halten  sie  nicht  .stand.  Aber 
mit  der  Resonanz  des  gläubigen  Patriotismus  übt  sein  musikalisches  Dichter- 
werk wahren  Zauber.  Es  ist  die  romantische  X'erkörperung  des  Xational- 
gefühls.     Darin  ist  er  dem  kosmopolitischen  Espronceda  überlegen,  — 

Nachdem  das  18.  Jahrhundert  den  literarischen  Kosmopolitismus  vor- Ru-kbUck  «u« 
bereitet  hatte,  hat  sich  aus  den  schweren  politischen  Konvulsionen  um  die  *"  °'"*"'' 
Jahriiundertwende  die  eigentliche  Romantik  erhoben.  Die  vorübergellende 
oder  dauernde  Entwurzelung,  welche  die  Stürme  der  Revolution  und  des  Kaiser- 
reiches so  vielen  Landeskindern  der  Romania  gebracht,  führte  zu  neuem 
literarischem  Wachstum.  Europa  war  mit  verschlagenen  Romanen  übersäet 
Es  ist  bezeichnend,  daß  gerade  die  kräftigsten  Förderer  der  Romantik  solche 
Entwurzelte  gewesen  sind:  Chateaubriand  und  F"rau  von  Stai-l,  Villers  und 
Stendhal,  Foscolo  und  Manzoni,  Saavedra,  Espronceda,  Garrett.  Dabei  sind 
die  literarischen  Vorkänij)fer  der  südlichen  Romania  zugleich  auch  poli- 
tische Freiheitskämpfer  und  Märtyrer  des  nationalen  Gedankens. 

Es  lohnt  sich,  hier  noch  einmal  hervorzuheben,  in  welchem  Maße 
Frankreich  auch  in  der  Romantik  die  Führerin  —  in  welchem  Maße  sein 
Paris  die  Hauptstadt  der  Romania  geblieben  ist  Die  französi.schen 
Dichter  Millevoye,  Lamartine,  Hugo,  Musset  dienten  den  südlichen  Poeten 
als  Vorbild.  Französische  Übersetzungen  erschlossen  Italien  und  Hispanien 
germanisches  Schrifttum.  In  Paris  wurde  Manzoni  gebildet  und  als 
Dramatiker  legalisiert.  Dort  erschien  seit  1.S26  Garretts  „Pama5o  lusi- 
tano"    und    „Donna    Branca",     1834     Galianos    spanisches    Manifest,    1836 


350  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Magelhäes  brasilische  „Saudades".    Paris  war  die  zweite  Heimat  derer,  die 
im  Dienste  des  neuen  literarischen  Geistes  stritten. 

Von  Nordfrankreich  aus  verpflanzte  sich  die  literarische  Bewegung" 
der  Romantik  wie  eine  Welle  durch  die  Romania  dahin.  Überall  fegte 
sie  den  aus  dem  17.  Jahrhundert  stammenden,  baufälligen  Klassizismus 
weg:  in  Italien,  Spanien  und  Portugal.  Überallhin  trug  sie  die  Materialien 
einer  neuen  Dichtung,  die  ursprünglich  aus  germanischen  Landen  stammten, 
die  aber  in  ihren  Formen  die  kunstvolle  Hand  der  Franzosen  verrieten.  Mit 
ungleicher  Künstlerschaft  griffen  die  südlichen  Romanen  nach  diesem 
Material.  Den  Portugiesen  fehlte  die  Kraft,  es  eigenartig  zu  gestalten: 
sie  blieben  die  Schüler  der  Franzosen.  Die  beiden  anderen  Völker  aber 
assimilierten  es  ihrer  eigenen  nationalen  Kunst:  die  Italiener  ihrem  ein- 
heimischen Klassizismus,  die  Spanier  ihrer  bodenständigen  Romantik,  dort 
Leopardi,  hier  Zorilla. 

Die  Romantik  hat  nicht  nur  unvergängliche  Werke  lyrischer  In- 
spiration hinterlassen,  sondern  auch  eine  neue  fruchtbare  Art  der  literari- 
schen Kritik  und  damit  auch  der  Literaturgeschichte  geschaffen.  Es  ist  jene 
Kritik,  die  Goethe  die  produktive  genannt  hat,  jene  Kritik,  die  ein  Kunstwerk 
nicht  nach  exoterischen  Mustern  schulmeisterlich  zensiert,  sondern  die  ohne 
Voreingenommenheit  das  Kunstwerk  von  innen  heraus,  nach  Vorsatz  und 
Ausführung  des  Künstlers,  sympathisch  —  Goethe  sagt:  liebevoll  —  zu 
verstehen  versucht  als  eine  individuelle,  wenn  auch  geschichtlich  bedingte 
Schöpfung.  Die  Romantik  hat,  indem  sie  die  „Weltliteratur"  heraufführte, 
für  uns  die  Grenzen  des  Reiches  der  Schönheit  in  Vergangenheit  und 
Gegenwart  erweitert.  Sie  hat  damit  auch  den  Horizont  der  Kritik  er- 
weitert und  die  Fundamente  dieser  Kritik  vertieft. 

Danach  ist  das  literarische  Denkmal  für  den  Kritiker  ein  ästhetisches 
und  ein  geschichtliches  Problem.  Der  Kritiker  soll  dieses  Denkmal  ohne 
vorgefaßte  Meinung  der  Schule  oder  der  Pa,rtei  als  ein  Werk  der  Kunst, 
das  sein  Lebensgesetz  —  die  Verwirklichung  des  Schönen  —  in  sich 
selbst  trägt,  naiv  auf  sich  wirken  lassen  und  in  seinem  Urteile  widerspiegeln; 
er  soll  aber  auch  die  gegenwärtigen  oder  vergangenen  Kulturverhältnisse 
und  die  geschichtlichen  Abhängigkeiten  studieren,  aus  deren  Mitte  der 
Künstler  und  sein  Werk  sich  erheben.     Er  soll  Historiker  sein. 

So  hat  die  Romantik  mit  der  neuen  literarischen  Kritik  auch  eine 
Blüte  der  historischen,  besonders  der  philologischen  Studien  gebracht. 
Die  romanische  Philologie  insbesondere  ist  eine  Schöpfung  der  Romantik. 

Das  psychologische  Problem  eines  literarischen  Denkmals  ist  für  den 
Kritiker  immer  zugleich  ein  ästhetisches  und  ein  entwickelungsgeschicht- 
liches.  Historische  Forschung  und  ästhetische  Würdigung  sollen  sich 
in  der  Weise  harmonisch  verbinden,  daß  diese  sich  auf  der  breiten  Basis 
jener  erhebt. 

Daß  entwicklungsgeschichtliche  Fundamentierung  und  künstlerische 
Beurteilung  zusammengehören,  ist  eine  Erkenntnis,  die  seit  der  Romantik 


F.  Üas   19.  Jahrhundert.     II.   Die  Zeil  nach    1850.  icj 

Gcmeing-ut  geworden  ist  In  der  verschiedenen  liemessung  der  beiden  An- 
teile drückt  .sich  die  Verschiedenheit  der  literarhistorischen  Schulen  au.s, 
der  mehr  historischen  und  der  mehr  ästheti.schen.  Jede  der  beiden 
Richtungen  hat  ihre  eigenen  Gefahren  zu  meiden:  jene  den  geistlosen 
Historismus  und  diese  die  schöngeistige  Phrase. 

IL  Die  Zeit  nach  1850.  Die  Wissenschaft  und  ihr  künstlerischer 
Begleiter,  der  Naturalismus,  lösen  die  Romantik  ab.  Diese  Ablösung 
hatte  sich  langsam  vorbereitet.  Ihr  Nahen  hatte  längst  die  einen  mit 
sehnsuchtsvoller  Freude  und  die  anderen  mit  Abneigung  erfüllt  Zur  Zfit 
da  Renan  jubelnd  das  „Avcnir  de  la  science"  verkündete,  spottete  der 
alternde  S.  Pcllico  in  seinen  „französischen  Briefen"  (1840)  der  wachsenden 
gelehrten  Produktion,  mit  deren  Büchern  man  bald  Häuser  bauen  und 
Straßen  pflastern  könne:  „an  habitera  Jans  la  science^  on  marchera  dans  la 
science  et  on  sc  cuuchcra  sur  la  scicnce.*'^  Darwins  Lehre  krönte  den  Ge- 
danken einer  Entwickelung  der  organischen  Welt,  der  seit  hundert  Jahren  die 
Denker  beschäftigte  und  popularisierte  ihn.  Die  Descendenztheoric  wurde 
zu  einer  Stütze  jener  Religion  der  natürlichen  Wissenschaft,  deren  Syste- 
matiker A.  Comte  gewesen.  Diese  Wissenschaft  vollendete  die  Zerstörung 
des  alten  anthropozentrischen  Weltbildes,  welche  die  Aufklärung  des 
XVIII.  Jahrhunderts  begonnen  hatte.  Sie  erschien  als  die  große  Erlöserin: 
„A/  science,  sagt  Juliette  Adam  um  1860  in  ihren  Memoiren,  e/ail  pour 
nous  la  Science!'^  Sie  sollte  ein  neues  Aufklärungszeitalter  heraufführen, 
das  die  Menschen  in  einem  großen  Reiche  des  Friedens  vereinigte.  Der 
demokratische  Gedanke  machte  große  Fortschritte.  Er  verband  sich  mit 
der  neuen  Wissenschaft,  die  den  alten  Aristokratien  feindlich  ist;  aber  er 
fand  in  ihr  auch  einen  Regulator,  da  sie  neue  Aristokratien  schafft.  Im 
Dienste  dieser  Göttin  Science  bildete  sich  dann  ein  Schrifttum,  das  die 
Botschaft  der  neuen  naturali.stischen  Lebenskunde  künstlerisch  zu  gestalten 
suchte.  Der  Naturalismus  ist  die  Kunst  form  der  Aufklärung. 
Unerschrocken  machte  er  sich  anheischig,  in  ihrem  Geiste  die  Probleme 
des  Daseins  zu  lösen.  Er  erstritt  sich  eine  machtvolle  Herrschaft  Aber 
der  alte  „srntinuntalische"  Geist  der  Romantik  revoltierte  gegen  die  „naive 
Dichtung"  des  Naturalismus.  Sein  Weltreich  kam  zu  Fall  und  noch  dauert 
der  Kampf  der  Diadochen  um  das  große  Erbe.  „Größe  und  Niedergang 
des  Naturalismus'*  könnte  dieser  Abschnitt  überschrieben  werden. 

Frankreich.  Mit  der  Romantik  schwand  in  Frankreich  die  Ciermano- 
philie.  Die  Niederlage,  die  das  Jahr  1848  dem  Liberalismus  gebracht,  be- 
deutete in  Deutschland  auch  eine  Niederlage  des  Frankophilentums.  Der 
Zauber  war  auf  beiden  Seiten  geschwunden.  Die  Errichtung  eines  zweiten 
napoleonischen  Kai.serreiches  erschien  wie  eine  Drohung.  Man  beobachtete 
sich  neugierig  und  mißtrauisch.  Aber  die  literarischen  Beziehungen  der 
beiden  Länder  hörten  nicht  auf,  auch  wenn  sie  fortan  etwas  weniger 
stürmisch  waren.      Heines   Einfluß    wird    eigentlich   erst  jetzt   mächtig;   die 


352 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


deutsche  Philosophie  fand  jenseits  des  Rheines  aufmerksame  Schüler. 
Juliette  Adam  erzählt,  wie  um  1860  ihr  Vater  sie  zwang,  „Kraft  und  Stoff" 
zu  studieren  und  an  den  Verfasser  zu  schreiben  und  wie  ihr  Gaston  Paris 
die  Antworten  Büchners  übersetzte.  Und  der  alte  Sainte-Beuve  schreibt 
1867:  „Cette  connaissance  cTOutre-Rhin  et  de  tout  ce  qui  s'y  passe  est  de 
plus  an  plus  indispensable  et  dest  etre  inanchot  dans  les  choses  de  VespHt 
que  dejt  etre  privc'^  Auch  der  Krieg  von  1870  führte  keinen  dauernden 
Abbruch  der  geistigen  Beziehungen  herbei.  Die  junge  Revue  critique 
fuhr  fort,  im  Geiste  wahrer  Wissenschaftlichkeit  über  die  Arbeiten  der 
deutschen  Forschung  zu  referieren.  „L attention  et  tetude  chez  nous  se 
portent  en  ce  moment  vers  rAlle7nagne",  sagt  E.  Sch^rer  1872  zu  Beginn 
seiner  Studie  über  Goethe.  Und  welch  tiefen  Einfluß  hat  Deutschland 
seither  auf  Frankreichs  Geistesleben,  seine  Wissenschaft,  seine  Schule, 
seine  Musik  geübt;  wie  hat  es,  zusammen  mit  den  nordischen  Ländern, 
auf  seine  literarische  Kunst  gewirkt.  Aber  wieviel  hat  Deutschland  dabei 
selbst  von  Frankreich  zurückempfangen.  Beide  Länder  haben  sich  darob 
bereichert  nach  dem  schönen  Worte  der  Frau  von  Stael:  „On  se  trouvera 
donc  bien  e7i  tout  pays  d'accueillir  les  pensees  etrangeres ;  car  dans  ce  genre 
rhospitalite'  fait  la  fortune  de  celui  qui  regoit."  — 

Der  neue  Geist  der  Wissenschaft  hielt  nirgends  stürmischeren  Einzug 
als  in  Frankreich. 

Das  „Jahrhundert  der  Naturwissenschaften"  hatte  Voltaire  um  1750 
seine  Epoche  benannt  —  hundert  Jahre  später  würde  er  das  Zeitalter 
nicht  anders  überschrieben  haben.  Diderot  hatte  um  1750  die  induktive 
Methode  als  die  Befreierin  und  das  Experiment  als  ihre  siegreiche  Waffe 
gepriesen  —  hundert  Jahre  später  inaugurierte  die  experimentelle  Methode 
eine  neue,  glanzvolle  Epoche  wissenschaftlicher  Arbeit,  indem  sie  aus 
dem  Laboratorium  des  Chemikers  in  den  Arbeitsraum  des  Klinikers 
und  des  Biologen  übertragen  und  auf  die  Erforschung  der  Lebensvorgänge 
angewandt  wurde.  Cl.  Bemards  Introductioii  a  la  medecine  experimentale, 
1865,  setzte  die  Geister  der  „Intellektuellen"  in  lebhafte  Bewegung.  Be- 
gierig vernahm  man  Kunde  um  Kunde  von  neuen  Entdeckungen  auf  dem 
Gebiete  der  Physiologie  und  der  Psychologie.  Ernste  Forschung  und 
wissenschaftliche  Neugier  führten  dazu,  daß  man  den  Lebensmechanismus 
hauptsächlich  in  seinen  Störungen,  seinen  pathologischen  Äußerungen 
studierte.  Abnormität  und  Krankheit,  der  Erblichbelastete,  der  Phthisiker 
und  der  Irre  fesselten  das  Interesse  und  traten  als  Lebenszeugen  in  den 
Vordergrund.  Ein  ungeheures  Material  experimenteller  Tatsachen  aus 
Laboratorium  und  Klinik  kam  zusammen.  Es  verbreitete  manches  Licht 
über  die  Geheimnisse  der  Lebensvorgänge;  aber  es  führte  auch  zur  Über- 
schätzung der  Methode  und  zu  voreiligen  Schlüssen.  Begeisterte  Forscher 
und  enthusiastische  Laien  ergingen  sich  in  kühnen  Versprechungen  und 
übertriebenen  Hoffnungen.  Die  neue  Wissenschaft  schuf  sich  auch  eine 
Metaphysik    (Monismus),    die    selbst   als  Wissenschaft    ausgegeben    wurde, 


F.  Das   10.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  tc» 

obwohl  sie  doch  nur  ein  Glaube  ist  Und  wie  die  „EgHse  philosophique" 
des  18.  Jahrhuiidt-rts  in  der  Herrschaft  der  natürlichen  \'omunft  und 
der  natürlichen  Moral  das  zukünftige  Glück  der  Menschheit  sah,  so 
versprach  die  neue  „Eglise  scientifique"  der  Intellektuellen,  die  Mensch- 
heit mit  einer  experimentell  begründeten  wissenschaftlichen  Ethik  zum 
Glück  zu  führen. 

Durch  all  die  Jahrzehnte  erschallte  der  Preis  der  erhebenden  und 
beglückenden  Macht  wissenschaftlicher  Lebensbetrachtung.  Es  klingt  wie 
ein  Echo  jener  „Esquisse"  des  unabsehbaren  Fortschrittes  der  Menschheit, 
welche  Condorcet  hundert  Jahre  zuvor  geschrieben.  Lc  triomphe  universel 
<//.'  lii  scietice  arrivera  a  assurcr  aux  hommcs  lc  maximum  possible  de  bonheur 
et  de  moralitCy  versichert  Berthclot  18Q5  —  nicht  anders  sprach  1795  Con- 
dorcet vom  Fortschritt  der  Wissenschaft,  der  die  Menschheit  besser  machen 
werde,  denn  „la  naturc  lie  par  une  chaine  indissoluble ,  la  veritc,  le  bonheur^ 
et  la  moraliti''. 

Diese  Interessen,  diese  Stimmungen,  dieser  Glaube  erfüllten  die 
geistige  Arbeit  auf  allen  Gebieten,  auch  die  künstlerische.  Scicntifiquey 
expdrimental^  wurden  zum  Schlagwort  wie  einst  philosophiqtu.  Es  ent- 
stand eine  politique  scientißque  und  ein  roman  expt^rimental.  Nirgends 
haben  die  Propheten  und  Künstler  des  neuen  Glaubens  begeisterter  ge- 
sprochen als  in  Frankreich.  Mit  den  Propheten  Renan  und  Berthelot 
wetteifern  die  Dichter  wie  Zola.  Die  Franzosen  sind  auch  für  diese 
moderne  Aufklärung  die  literarischen  Vulgarisatoren  geworden. 

Aber  nicht  alle  Blütenträume  der  wissenschafthchen  Arbeit  reiften. 
So  erschien  die  Wissenschaft  kompromittiert,  während  doch  nur  einzelne 
ihrer  Vertreter  den  Mund  zu  voll  genommen  hatten.  In  der  „Eglise 
scientifique"  kam  es  zu  einer  Krisis  und  die  Dissidenten  verkündeten,  daß 
sie  bankerott  sei.  Aber  die  so  sprachen,  zeigten  in  ihrem  geistigen 
Habitus  selbst  ganz  unverkennbar  die  naturwissenschaftliche  Neigung  der 
Zeit,  der  kritische  Fechter  Brunetiere  ebensogut  wie  der  literarische 
Elegant  Bourget. 

Als  1868  die  Staatsgewalt  gegen  den  experimentellen  Unterricht  der  s.iDt«B«g 
Universitäten  angerufen  wurde,  sprach  Sainte-Beuve  (-j-  i86q)  im  Senat 
zugunsten  der  Methode  naturwissenschaftlicher  Forschung,  die  für  die 
Menschheit  eine  moralische  Hygiene  bedeute.  Er,  der  einst  Medizin  studiert, 
übte  selbst  diese  induktive  Methode  in  seiner  literarhistorischen  Arbeit 
Er  wandte  sie  an  eine  umfassende  Durchforschung  des  ganzen  Individuums 
in  allen  der  Beobachtung  zugänglichen  Lebensäußerungen  und  dabei  kam 
ihm  zustatten,  daß  er  viel  Weltverstand  besaß  und  selbst  Poet  war.  Er 
sucht  in  und  hinter  der  literarischen  Schöpfung  deren  Autor,  mit  dessen 
Leben  und  Persönlichkeit  er  die  Schöpfung  unzertn-nnlich  vorbindet  Er 
gibt  als  der  Erste  eine  Biologie  der  literarischen  Schöpfung.  Mit 
unstillbarer  Wißbegier  geht  er  dem  charakteristischen  Detail  nach,  sammelt 
er   tausend   kleine  Lebensblüten   und   analysiert  sie  gleich  dem  Botaniker. 


354 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Schmiegsam,  von  keinem  System  gefesselt,  reiht  er  seit  1849  ^^  einem 
halben  Hundert  Bänden  Lebensbild  an  Lebensbild,  eine  reiche  Geschichte 
des  französischen  Geistes,  eine  Kulturgeschichte  in  Monographien.  Über 
Port-Royal  veröffentlicht  er  eine  psychologische  Studie  von  reichster 
Lebensfülle  und  jenem  Lebensverständnis,  welches  das  Buch  auch  Anders- 
denkenden lieb  macht.  Er  ist  überzeugt,  daß  die  führenden  Kräfte  der 
Menschheit  im  Individuum  liegen.  Das  Goethe  wort:  „Wir  lieben  nur  das 
Lidividuelle "  hätte  Sainte-Beuves  Motto  sein  können.  Taine,  der  be- 
wundernd von  seinen  Schilderungen  spricht,  wird  diese  Detailforschung  in  den 
Dienst  seines  Systems  stellen,  das  Sainte-Beuve  ablehnte.  Aus  der  Biologie 
literarischer  Schöpfungen  wird  Taine  eine  Biologie  der  Literatur  machen. 
Taine  H.  Tainc  (1828  — 1893)  ist  seit  1850  von  starken  deutschen  Anregungen 

(Hegel)  ausgegangen.  „Die  Deutschen  sind  für  uns,  was  zur  Zeit  Voltaires  Eng- 
land für  Frankreich  gewesen  ist;  ich  finde  bei  ihnen,  dem  monde  inßni  d'outre- 
Rhin,  Gedanken,  die  ein  ganzes  Jahrhundert  bestreiten."  Aber  schon 
ehe  das  Kriegsjahr  ihn  ungerecht  macht,  hat  ihn  deutsche  Art  doch  immer 
fremdartig  angemutet.  Englisch  stand  ihm  näher.  Er  steht  unter  dem 
Einfluß  Carlyles,  Mills,  Buckles.  Er  bewundert  Shakespeare,  aber  auch 
Rembrandt,  Goethes  Faust  und  deutsche  Lyrik.  Corneille  und  Racine 
sind  ihm  zu  farblos  und  zu  rhetorisch.  Der  Überschwang  der  Romantik, 
besonders  Hugo,  war  ihm  zuwider.  Die  deutsche  Prosa  schätzt  er  gering. 
Ihr  gegenüber  hat  er  als  französische  Qualitäten  nachdrücklich  bezeichnet: 
Die  Beobachtung  des  lebendigen  Details  und  der  bewegten  Persönlich- 
keit {portraits  psychologiques),  die  Gabe  der  Klassifikation  (Klarheit)  und 
das  Talent  der  oratorischen  Darstellung  (Schönheit).  Er  fügt  hinzu:  ma 
forme  d'esprit  est  frangaise  et  latine.  So  ist  er  denn  ein  unermüdlicher 
Sammler  charakteristischen  Details  geworden,  das  er  systematisch  klassi- 
fiziert und  formschön  darstellt.  Seiner  aristokratischen  Denkernatur  war 
die  Wendung  der  Zeit  zur  Demokratie  unsympathisch.  Er  verabscheut 
Rousseau.  Seine  akademische  Laufbahn  scheiterte  früh  an  klerikaler 
Opposition.  Mit  Renan  teilte  er  sich  in  die  Angriffe  der  Kirche.  Er  sah 
im  Klerikalismus  den  größten  Feind.  Obschon  völlig  unkirchlich  und 
pantheistisch  gesinnt,  ging  er  nicht  zum  kirchenfeindlichen  Radikalismus 
über,  sondern  schloß  sich  äußerlich  dem  Protestantismus  an.  Im  Kampf 
gegen  die  katholische  Reaktion  sind  in  Frankreich  auch  sonst  vielfach 
protestantische  Zusammenhänge  und  Sympathien  zu  erkennen  (Michelet, 
Quinet).  Taine  selbst  sah  im  Protestantismus  das  Ideal  einer  Landeskirche 
—  „mais  le  protestantis?ne  est  contre  la  nature  du  Frangais".  Er  glaubt 
an  „l'avenir  de  la  Science",  an  die  erlösende  Rolle  der  voraussetzungs- 
losen Wissenschaft,  welche  die  Tatsachen  ohne  Leidenschaft  konstatiert 
und  erklärt.  Seine  wundervollen  Naturschilderungen  verraten  tiefere 
Sympathie  als  seine  Menschenschilderungen. 

Schon    als    Student  kommt  er  zur  Überzeugung,    daß  die  Geschichts- 
schreibung   erneuert    und    nach    naturwissenschaftlichen    Gesichtspunkten 


F.  Das  ig. Jahrhundert.     11.  Die  Zeit  nach   1850.  ^e* 

dargestellt  werden  müsse,  „damit  sie  über  die  Meinungen  und  Handlungen 
der  Menschen  die  nämliche  Autorität  gewinne,  die  in  medizinischen 
Dingen  gegenwärtig  die  Physiologie  hat".  Er  betrachtet  es  als  seine 
Aufgabe  „de  faire  de  Dnstoire  une  science  en  lui  donnant  comme  au  monde 
organique  unc  anatomie  et  tinc  Physiologie''.  Auch  das  geschichtliche 
Geschehen  unterliege  Gesetzen  und  zeige  ifadmirables  nicessiUs.  So  seziert 
er  gleich  einem  Anatomen  den  Menschen  der  Vergangenheit  und  erkennt 
in  ihm  einen  geistigen  Organismus,  der  physiologisch  (race),  örtUch 
(mi/ic/A  und  zeitlich  {momoif)  bedingt  wird.  Diese  Kräfte:  Rosse  (d.  h. 
Volkstum,  nationale  Inzucht),  Milieu,  Moment,  werden  für  ihn  fast  zu 
mythischen  Persönlichkeiten,  welche  die  literarischen  Geschicke  lenken, 
der  Künstlerindividualität  das  Gepräge  geben  und  die  Abfolge  der  Geistes- 
perioden bestimmen.  Diese  biomechanische  Auffassung  { Physiologie  morale) 
führt  er  nun  mit  der  Schärfe  und  Eindringlichkeit  eines  überlegenen 
Geistes,  aber  mit  ungleicher  Konsequenz,  in  seinen  historischen  und 
philosophischen  Arbeiten  durch:  in  seinem  Buch  über  Lafontaines  Fabeln 
(185.^),  über  die  Geschichte  der  englischen  Literatur,  über  die  Philosophie 
der  Kunst,  über  die  Intelligenz  und  über  die  „Origines  de  la  France  con- 
temporaine",  zu  welchem  —  unvollendeten  —  Werke  ihn  die  Katastrophe 
des  Jahres  1870  führte,  in  dem  Augenblicke,  da  er  ein  Buch  über 
Deutschland  vorbereitete. 

In  diesem  Taine  begrüßt  Zola  1866  den  Künstler  nach  seinem 
Herzen,  der  kühl  im  methodischen  Aufbau  aber  innerlich  bewegt  bei  der 
Ausführung  ist,  der  allen  starken  Lebensäußerungen  nachgeht  und  be- 
sonders la  bete  dans  l'homme  suche.  Taine  aber  lehnte  jene  Romankunst 
ab,  die  den  An.spruch  erhebt,  auf  wissenschaftlicher  Dokumentation 
zu  beruhen  und  spricht  schon  1862  aus  Anlaß  von  Flaubert  von  einer 
degenerierten  Literatur,  die  gewaltsam  auf  das  Gebiet  der  Wissenschaft 
und  —  mit  der  Ausmalung  des  physischen  Details  [vision  du  detail 
physique)  —  auf  das  Gebiet  der  Malerei  hinübergezerrt  werde. 

Die  Aufgabe  der  Literaturgeschichte  hat  Taine  dahin  bestimmt,  daß 
hinter  dem  literarischen  Denkmal  die  geistige  Struktur  des  Individuums, 
ja  einer  ganzen  Nation  und  einer  ganzen  Epoche  zu  erkennen  und  so 
diese  Denkmäler  als  die  feinsten  Zeugnisse  für  die  Psychologie  eines 
V^olkes  zu  begreifen  und  zu  benutzen  seien.  Taine  hat  eine  aus- 
gesprochene Geringschätzung  nicht  für  die  Gelehrsamkeit  überhaupt,  aber 
für  die  geduldige  Kleinarbeit  des  Philologen.  Unermüdlich  sammelt  auch 
er  das  Detail  der  historischen  Fakta,  wie  Sainte-Beuve;  aber  ungeduldig 
schweift  sein  Auge  vom  Detail  in  die  Fernen  des  Systems.  Er  ist  gleich 
Montesquieu,  an  den  er  in  so  vielem  erinnert  und  auf  den  er  sich  beruft, 
dem  Detail  gegenüber  unkritisch  und  ungenau.  Er  beeilt  sich,  die  Masse 
der  Tatsachen  auf  eine  einfache  Formel  zu  bringen.  In  seinem  gerad- 
linigen Streben  nach  Klarheit  ist  er  ein  genialer  Vertreter  jenes  Siinplis- 
mus,    der    dem    gallischen  Denken    eignet     Er   hat    ein  Werk    von  impo- 


7  =  6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

nierender  Einheitlichkeit  geschaffen,  das  die  Disziplinierung  des  Willens 
auf  der  Stirn  trägt.  Mensch  und  Denker  sind  aus  einem  Guß.  Der  ge- 
schichtliche Wert  seiner  „Origines  de  la  France  contemporaine"  ist  nicht 
nur  deshalb  vergänglich,  weil  Taine  zu  sorglos  in  der  Sammlung  des 
Materials  und  zu  eilig  in  seinen  Verallgemeinerungen  ist,  sondern  besonders 
auch  deshalb,  weil  sein  Simplismus  —  so  wenig  er  es  Wort  haben 
will  —  im  Dienst  von  politischen  Theorien  steht.  Seine  Darstellung 
der  Revolutionstrilogie  (ancien  regime,  revolution,  regime  nouveau)  ist 
leidenschaftlich  voreingenommen,  vom  Standpunkt  eines  Politikers  aus  ge- 
schrieben, der  im  Volke  nur  die  Bestie  und  in  der  Demokratie  nur  die 
rohe  Auflösung  alter,  bewährter  Ordnungen  sieht.  Indem  Taine  von 
diesem  Standpunkt  aus  das  Bild  der  revolutionären  Wirren  in  grellen 
Farben  malt,  hat  er  zwar  manche  Legende  jakobinischen  Heldentums 
zerstört,  aber  die  wahre  Geschichte  der  Revolution  zu  schreiben  hat  er 
der  Zukunft  überlassen. 

Niemand  hat  mehr  als  Taine  die  Anwendung  des  Positivismus  auf 
das  historische  Denken  verbreitet.  Er  hat  auch  die  Schulphilosophie  des 
Eklektizismus  in  energischem  Kampfe  zu  Fall  gebracht.  Er  hat  in  hohem 
Maße  auch  das  Kunstschaffen  beeinflußt.  In  Stendhal  hat  er  den  Menschen- 
bildner, in  Sainte-Beuve    den  Menschenschilderer  par  excellence  gesehen. 

Neben  der  machtvollen  Synthese  Taines,  hinter  deren  Abstraktionen 
die  Züge  des  historischen  Individuums  verblassen,  sind  indessen  die 
Bücher  nicht  verschwunden,  welche  Individuen,  „Führende  Geister",  dar- 
stellen: neben  der  materialistischen  Geschichtsauffassung  verschwindet  die 
heroistische  nicht.  In  seiner  „Critique  scientifique"  erklärt  Henne  quin 
(1889)  ausdrücklich,  daß  er  einen  Weg  einschlage,  der  dem  Taines  ent- 
gegengesetzt sei.  Die  Bedeutung  der  mächtigen  Persönlichkeit  möchte 
er  ins  Licht  setzen  und  statt  dem  ungewissen  Einfluß  nachzugehen,  den 
das  Milieu  auf  einen  Künstler  habe,  will  er  vielmehr  den  großen  Einfluß 
aufweisen,  den  der  Künstler  auf  seine  zeitgenössische  Umwelt  übe.  Dazu 
scheinen  ihm  vor  allen  die  ausländischen  Dichter  geeignet,  die  Frank- 
reich zu  den  Seinen  gemacht  habe  {Ecrivains  francises:  Dickens,  Heine, 
Poe,  Tolstoi).  Ihn  interessieren  „ces  mouvements  d'agregation  des  masses 
autour  de  V komme  qui  sait  se  reveler  leur  maitre",  besonders  wenn  sie 
nationale  Schranken  überwinden.  Und  in  den  Dienst  seiner  „  ästhopsycho- 
logischen"  Analysen  stellt  er  die  Ergebnisse  und  die  technische  Sprache 
der  modernen  Psychologie  und  Psychopathologie.  Man  fühlt  wie  Medizin 
und  Physiologie  ihre  Hand  nach  dem  Gebiete  der  Literaturgeschichte 
ausstrecken. 

Eine     Systematik     der     positivistischen     Versuche,     literarhistorisches 

Geschehen  zu  interpretieren,   gibt  zu  Ende    des  Jahrhunderts  G.  Renard 

{La  methode  scientifique  de  Vhistoire  litteraire,   1900). 

G.Paris.  Taines    Freund,    Gaston  Paris  (f  1903)   teilte    seine  Auffassung   von 

der  Aufgabe    der  Geschichte    und   von   dem  Wert  der  Literaturdenkmäler 


K.  Das  1 9.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  357 

für  die  historische  Psychologfie ;  aber  er  verband  sie  mit  der  gcduldij^sten 
Kleinarbeit  des  Forschers  und  mit  der  tiefsten  menschlichen  Sympathie. 
So  hat  er,  harmonischer  als  Taine,  kritische  Sorgfalt  und  künstlerische 
Darstellung  vereinigt.  Nirgends  tut  bei  diesem  großen  Gelehrten  die 
herrliche  Form  dem  Geiste  der  Wissenschaft  Eintrag.  Seine  Arbeiten 
erscheinen  als  die  lilüte  geschichtlicher  Darstellung.  Daß  sie  sich  auf 
die  Kultur  des  Mittelalters  beschränken,  hat  freilich  ihrer  Wirkung  engere 
Grenzen  gezogen.  Frankreich  hat  für  sein  mittelalterliches  Werden  noch 
heute  wenig  Interesse  und  der  Gebildete  lenkt  nur  selten  seinen  BUck 
über  „le  grand  siecle"  zurück  bis  zur  „Barbarei"  der  Capetinger. 

Bei  allen  Zeitgenossen  ist  Taines  Einfluß  erkennbar.  Der  junge 
Bourget  z.  B.  übt  „naturalistische"  Kritik.  Er  stellt  in  seinen  „Essais 
de  Psychologie  contemporaine"  (i8<S3)  die  Schriftsteller  nicht  um  ihrer 
selbst  willen  dar,  sondern  als  Zeugen  zeitgenössischer  Stimmungen  und 
Strömungen  und  will  seinen  Versuchen  über  Baudelaire  und  Taine,  Amiel 
und  Turgeniew  nur  „ein  Bild  der  sozialen  Tendenzen  der  Literatur  unter 
dem  zweiten  Kaiserreich"  geben.  Seine  psychologische  Feinarbeit  hat 
eine  Vorliebe  für  das  Pathologische. 

E.  Renan  (1825-92)  ist  des  nämlichen  positivistischen  Geistes  Kind,  R«»«»- 
wie  Taine,  und  wie  dieser  hat  er  der  Welt  das  Beispiel  der  Überzeugungs- 
treue gegeben:  seinem  stolzen  Worte  „es  ist  einem  Gelehrten  nicht  ge- 
stattet, sich  mit  den  Folgen  seiner  Forschung  zu  beschäftigen",  hat  er 
auch  dann  nachgelebt,  wenn  diese  Folgen  seine  materielle  Existenz  er- 
schütterten. Im  einzelnen  aber  stimmt  er  mit  Taine  wenig  überein. 
Der  geschmeidige  und  gesellige  Künstler  Renan  bildet  eine  Ergänzung, 
aber  auch  einen  Gegensatz  zu  dem  starren,  einsamen  Systematiker  Taine. 
Im  Positivisten  Renan  lebt  noch  etwas  vom  alt»n  Sinn  der  Romantik 
und  seinem  wissenschaftlichen  Habitus  hat  die  geistliche  Erziehung  ihren 
Stempel  aufgedrückt.  Aus  Doktrin  und  Leben  seiner  trefflichen  Lehrer 
im  Priesterseminar,  von  denen  er  als  ein  Ungläubiger  doch  ohne  Groll 
(1845)  schied,  hat  Renan  dreierlei  mit  ins  Säkulum  hinausgenommen: 

Einmal  hat  er  für  den  naiven  Glauben,  den  er  selbst  verloren,  eine 
Poetenliebe  bewahrt  und  eine  Zärtlichkeit  für  die  behalten,  die  dieses 
Glaubens  noch  fähig  waren.  Der  Mann,  der  Bücher  von  unversöhnlicher 
Forschung  geschrieben  hat,  war  kein  Antiklerikaler.  „JA/  vie  est  toujours 
gouvernie  par  une  Jui  que  je  nai  plus",  sagt  er  selbst  Sein  Kopf  ist  mit 
einer  außer  Dienst  gesetzten  Kathedrale  verglichen  worden. 

Dann  hat  er  etwas  Priesterliches  behalten,  das  sich  ausspricht  in  der 
Macht  seines  Bekennertums,  in  seiner  Wertschätzung  des  inneren  Lebens 
und  der  sittlichen  Interessen,  sowie  in  der  Art,  wie  er  sein  Leben  zu 
einem  schönen  Beispiel  der  Weisheit  und  Wahrheitsliebe  gestaltete.  An 
den  geistlichen  Beruf  erinnert  auch  die  Mischung  von  Würde  und  humor- 
voller Vertraulichkeit,  die  bei  ihm  manches  Mißverständnis  verschuldete. 
Es    klingt    durch    Renans    Leben    wie    Kirchenglocken,     aber    auch    der 


»Cjß  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Schellenklang  des  Schalks  ist  vernehmbar.  Man  weiß  ja,  wie  Kathedralen 
auch  profanen  Schmuck  tragen  und  wie  an  ihren  Pfeilern  und  Chorstühlen 
allerlei  weltliches  Figurenwerk  sein  neckisches  Wesen  treibt 

Endlich  führte  ihn  das  schulmäßige  Studium  des  Hebräischen  zur 
orientalischen  Philologie  und  lieferte  ihm  das  wissenschaftliche  Rüstzeug 
des  Spezialisten,  den  eine  unstillbare  Neigung  dazu  trieb,  den  Ursprüngen 
jener  Glaubenslehren  nachzugehen,  deren  Fesseln  er  abgeworfen  hatte. 

Im  Seminar  hatte  Renan  die  Bekanntschaft  mit  der  deutschen  Exegese 
gemacht:  sie  hat  seinen  Glauben  erschüttert.  Jetzt  lernt  er  die  Natur- 
wissenschaften kennen  und  auf  sie  baut  er  seine  Weltanschauung.  Nun 
wird  er  auch  ein  Schüler  der  vergleichenden  Sprachforschung  und  dringt 
noch  tiefer  in  die  Geheimnisse  des  Orients  ein.  So  ward  er,  nachdem 
ihm  sein  „neuer  Glaube"  das  „Avenir  de  la  Science"  (1848)  diktiert  hatte, 
zum  Geschichtsschreiber  der  religiösen  Kultur,  die  das  Abendland  einst 
vom  Orient  überkommen  hat.  Er  schrieb  eine  Geschichte  des  Volkes 
Israel  imd  der  Ursprünge  des  Christentums  bis  auf  Marc  Aurel  in  einem 
Dutzend  Bänden  (1863— 1893).  Über  diese  Dinge  hatten  die  Gebildeten 
Frankreichs  bisher  nur  das  vernommen,  was  die  Theologen  ihnen  mit- 
zuteilen für  gut  gefunden.  Hier  wagte  zum  erstenmal  ein  Historiker  das 
Wort  zu  ergreifen.  Und  er  begann  nicht  mit  Israel,  sondern,  in  media  re, 
mit  der  Person  Jesu,  die  ein  Aufenthalt  in  Palästina  vor  seinen  Augen 
aufsteigen  ließ.  Die  „Vie  de  Jesus"  (1863)  machte  ungeheueres  Aufsehen. 
Ein  Sturm  durchbrauste  das  Land  wie  zwei  Jahrhunderte  zuvor  aus  Anlaß 
der  „Lettres  provinciales"  Pascals,  der  auch  in  Reservatgebiete  der 
Hierarchie  eingebrochen  war.  Der  Laie  Pascal  brachte  einst  Fragen  der 
theologischen  Moral,  Renan  jetzt  Fragen  des  Glaubens  vor  das  Forum 
des  großen  Publikums.  Pascal  maß  jene  an  der  Norm  christlicher  Sitten- 
lehre, Renan  diese  mit  dem  Maße  historischer  Forschung.  Er  kannte 
D.  Fr.  Strauß'  „Leben  Jesu"  von  1835,  das  mit  nüchterner  Kritik,  ein 
negatives  Buch,  für  Theologen  geschrieben  war.  Renan  schrieb  für  die 
Gebildeten,  auch  ein  Buch  der  Kritik,  doch  ein  positives  Buch,  das  aus 
den  Trümmern  der  alten  Legende  einen  neuen  irdischen  Jesus  zu  bilden 
versuchte,  voller  Sympathie,  mit  tiefer  psychologischer  Erfassung,  inmitten 
wunderbarer  Naturschilderungen  und  in  einer  Sprache  von  eitel  Wohllaut. 
Strauß'  „Leben  Jesu"  war  ein  wissenschaftliches  Ereignis  und  bildet  einen 
Wendepunkt  der  theologischen  Forschung.  Renans  „Vie  de  J6sus"  ist 
kein  Markstein  der  Forschung,  aber  ein  literarisches  Ereignis.  Und  es 
ist  bezeichnend,  daß  ihm  die  erste  Volksausgabe  des  Straußschen  Buches 
folgte  (1864). 

Auch  in  der  Geschichte  des  Urchristentums,  deren  Bände  sich  nun 
anschließen,  vereinigt  Renan  Tatsachen  und  Vermutungen,  historische 
Berichte  und  Legenden  zu  einem  künstlerischen  Ganzen,  immer  darauf 
bedacht,  aufzubauen  und  zu  einer  Synthese  zu  kommen,  deren  große 
Züge    der  Wahrheit    entsprechen,    wenn    auch    das  Detail  unsicher  bleibe. 


F.   Das   iq  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach   1850.  35Q 

Dem  Detail  selbst  mißtraut  er.  Kr  rät,  daß  man  zu  den  meisten  seiner 
Sät/e  sich  ein  piut-itrt-  hinzuzudenken  habe.  So  ist  er  in  den  Ruf  eines 
Skeptikers  gekommen,  während  er  doch  bloß  ein  vorsichtiger  I-orscher 
ist  Er  arbeitet,  sag"t  Harnack  von  ihm,  „mit  allen  Mitteln  der  hi.storischen 
Wissen.schaft".  Kr  ist  der  Überlieferung  gegenüber  kritisch  wie  ein 
Forscher  und  im  Aufbau  kühn  wie  ein  Künstler.  Die  i^lastizität  des  über- 
lieferten Materials  reizt  seine  Künstlerhand  zu  lebensvoller  Formung.  So 
wird  seine  Kritik  schöpferisch.  Solche  Darstellungsweise  hat  ihre  Gefahren, 
da  bei  ihr  gefühlsmäßige  Abschätzungen  hervorragend  beteiligt  sind  — 
er  nennt  sie  „des  raisons  de  scntiment  qiii  ne  s'im/>uscnt  pas".  Diese 
Gefahren  treten  besonders  in  der  ältesten  „Histoire  du  peuple  d'Israel" 
hervor,  wo  die  Überlieferung  mehr  als  anderswo  unsicher  und  lücken- 
haft ist. 

Wenn  die  erschreckten  Gläubigen  Renan  einen  „sceptique"  schalten, 
weil  er  an  der  Heiligen  Schrift  historische  Kritik  übte,  so  nannten  ihn 
ängstliche  Gelehrte  einen  „dilettante",  weil  sie  an  der  künstlerischen  Form 
seiner  kühnen  Synthese  Anstoß  nahmen.  Die  einen  schalten  den  Forscher, 
die  anderen  den  Künstler.  Am  Künstlertum  Renans  vermißte  der  Histori.smus 
das  schwerfällige  Spezialistentum,  das  zur  Philologie  zu  gehören  schien. 
Diese  geschmeidige  Gestaltungskraft,  die,  feinfühlig  und  intelligent,  entfernte 
Zivilisationen  nachzubilden  unternahm;  diese  universelle  Neugier,  die  sich 
den  verschiedensten  Arbeitsgebieten  zuwandte  und  den  verschiedensten 
Gedanken  Gastfreundschaft  gewährte,  wurde  halb  geringschätzig,  halb 
neidisch  als  „dilcttantisme"  bezeichnet.  Aber  Renan,  der  Professor  der 
semitischen  Philologie  am  College  de  France,  der  Gründer  und  Leiter  des 
Corpus  inscriptionum  semiticarum,  der  Mann,  der  für  die  „Histoire  litteraire 
de  la  France"  einen  Hand  über  die  französischen  Rabbiner  des  14.  Jahr- 
hunderts geschrieben  hat,  ist  kein  Dilettantl  Hat  er  zwar  wie  die  Könige 
gebaut,  so  hat  er  auch  mit  den  Kärrnern  zusammen  die  geduldigste  philo- 
logische  Kleinarbeit  geleistet 

Den  Forschungswert  dieser  Renanschen  Synthesen  mag  der  Fachmann 
beurteilen.  Ihre  literarische  Meisterschaft  ist  unbestritten  und  ihre  kulturelle 
Bedeutung  tiefgreifend.  Die  geschichtliche  Macht  des  Christentums  hat 
keinen  mächtigeren  Künder  gefunden  als  Renan.  Seine  Bücher  haben 
die  Aufmerksamkeit  der  Gebildeten  von  der  Frage  der  Wahrheit  der 
Dogmen  zur  Frage  ihrer  entwickelungsgeschichtlichen  Gestaltung  hinüber- 
gelenkt und  damit  die  Lehre  vom  menschlichen  Ursprung  und  von  der 
Relativität  der  religiösen  Anschauungen  verbreitet.  Renan  hat  bei  den 
Gebildeten  Frankreichs  die  religionsgeschichtlichen  Interessen  geweckt  und 
seinem  Kinflusse  ist  es  zuzuschreiben,  wenn  heute  die  Religionsgeschichte 
einen  guten  Teil  der  Religion  dieser  Gebildeten  ausmacht. 

Ein  fertiges  philosophisches  System  hat  Renan  nicht  besessen.  Er  ist 
ein  Wahrheitsucher  und  „dieses  Suchen  führt  zum  Schein  des  Wankel- 
muts", .sagt  er  einmal  selbst.    Alles  ist  bei  ihm  im  Fluß;  Plato  würde  ihn, 


360  Heinrich  Morj':  Die  romanischen  Literaturen. 

wie  den  Heraklit,  einen  peovia  genannt  haben.  Nicht  in  der  amoralischen 
Natur,  sondern  in  der  Geschichte  sucht  Renan  Gott.  Gott  ist  in  der 
unwiderstehUchen  Kraft,  welche  die  Menschheit  auf  dem  Wege  zur  Ver- 
vollkommnung vorwärts  drängt;  er  ist  in  unserem  Gewissen;  er  ist  das 
geheimnisvolle  Ende  der  Welt.  Renans  Positivismus  hat  einen  sieghaften 
idealistischen  Zug. 

Die  Wendung  der  Zeit  zur  Demokratie  widerstrebt  auch  Renans  aristo- 
kratischer Natur.  Er  war  ein  politischer  Utopist.  Schließlich  hat  auch  dieser 
Utopist  mit  der  Republik  seinen  Frieden  gemacht.  Sein  Verhältnis  zu 
Deutschland  erlitt  durch  den  Krieg  eine  schwere  Erschütterung.  Aber 
schon  187g  schreibt  er  einem  deutschen  Freund:  „la  collahoration  de  la 
France  et  de  V Alleviagne ,  ma  plus  vieille  illusion  de  jeunesse,  redement  la 
conviction  de  mon  äge  mür  .  .  .  Out,  sans  nous,  vous  serez  solitaires,  et  vous 
aurez  les  defauts  de  V komme  solitaire  .  .  .  et  sans  vous,  notre  oewure  serait 
maigre,  insuffisajite^'. 

Renans  ganze  Liebe  gilt  der  Wissenschaft,  der  uneigennützigen  Er- 
forschung der  Wahrheit,  von  deren  siegreicher  Macht  er  überzeugt  ist. 
Sie  schafft  Tugend  und  Freude.  Der  Mann,  der  mit  Rührung  auf  die 
gläubige  Vergangenheit  der  Menschheit  blickt,  sieht  mit  Begeisterung  in 
ihre  wissenschaftliche  Zukunft.  Die  Gegenwart  begleitete  er  mit  klugen 
Aufsätzen.     Eifrig  beteiligt  er  sich  nach   1870  an  der  Regenerationsarbeit. 

Renans  Sprache  ist  klassisch  in  ihrer  Einfachheit  und  Klarheit.  Sie 
bedarf  des  Neologismus  nicht.  Aber  sie  ist  ganz  modern  in  ihrer  Biegsam- 
keit und  ihrem  Mangel  an  Rhetorik.  Renan  spricht  immer  zur  3ache 
und  bringt  der  Form  nie  das  Opfer  des  Gedankens.  Der  Zauber  seiner 
Persönlichkeit  lebt  in  dieser  Sprache  weiter.  Dieser  Mann  mit  der 
leuchtenden  Intelligenz  und  der  wärmenden  Herzensgüte  ist  ein  großer 
Charmeur  geblieben. 

Gewiß  hat  seine  Kritik  des  Christentums  den  Oberflächlichen  das 
Spotten  über  religiöse  Dinge  erleichtert:  er  hat  ihnen  eben  nicht  zugleich 
sein  eigenes  religiöses  Empfinden  mitteilen  können.  Den  Ernsten  und 
Lernbegierigen  aber  hat  er  die  große  Lehre  von  der  versöhnenden 
Wirkung  des  geschichtlichen  Verstehens  geg'eben.  Er  hat  ihnen  gezeigt, 
wie  mit  dem  Lohne  tieferer  Einsicht  dem  Forscher  der  Lohn  innerer 
Beruhigung  zufällt,  wie  aus  dem  Bekenner  ein  Erkenner  wird  und 
angesichts  der  Erkenntnis  großer  gesetzmäßiger  Entwickelungsvorgänge 
die  Leidenschaft  entzaubert  zusammensinkt. 

Ohne  Zweifel  hat  das  Beispiel  dieser  einzigartigen  Persönlichkeit  mit 
ihrer  Mischung  von  Forschung  und  Künstlertum,  von  Positivismus  und 
Metaphysik,  von  Glaubenslosigkeit  und  Frömmigkeit,  mit  ihrer  Verbindung 
von  Geschmeidigkeit  imd  KJraft,  von  Milde  und  Unversöhnlichkeit  auf 
Viele  verwirrend  gewirkt.  Viele  bekannten  sich  zu  ihm,  die  nur  die 
Schwächen  seiner  Vorzüge  besaßen.  Die  wurden  die  bloßen  Dilettanten 
der  souveränen  Kunst  ihres  Meisters. 


K.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  xbl 

Heiterkeit  der  Seele  soll  nach  Renan  die  Begleiterin  der  Lebens- 
arbeit st'in:  „/aisoNs  notre  oitvn'  tri  chantant''.  Kr  schreibt  aus  Kreude 
und  Sympathie  heraus.  Darin  ist  er  Taine  überlegen.  Renan  hat  in 
seiner  „Histoire  des  origines  du  christianisme"  ein  Werk  der  Sympathie 
geschrieben,  Taine  in  seinen  „Origines  de  la  France  contemjjoraine"  ein 
Werk  der  Abneigung.  Auch  wenn  ihre  Kunst  gleich  groß  war«-,  <<> 
würde  jenes  Werk  dieses  überdauern. 

Drei  Bretonen:  Chateaubriand,  Lamennais,  Renan,  haben  im  Laufe  des 
Jahrhunderts  tief  in  das  religiöse  Leben  Frankreichs  eingegriffen  und  ihre 
BücluT  gehören  zu  den  größten  Erfolgen  der  Neuzeit:  „Le  Genie  du 
Christianisme"  181 2,  der  „Essai  sur  rindiif(^rence"  181 7  und  die  „Vie  de 
J^sus"  1863.  Das  erste  stellt  den  Katholizismus  durch  die  Poesie  wieder 
her,  schaift  ein  ästhetisches  Christentum  und  macht  aus  ihm  die  Quelle 
einer  neuen  literarischen  Kunst.  Das  zweite  restauriert  den  Katholizismus 
durch  den  Glauben  und  macht  aus  ihm  ein  praktisches  Christentum,  eine 
treibende  Macht  in  der  entstehenden  Demokratie.  Renan  aber  sieht  in 
diesem  Christentum  eine  historische  Ersclieinung,  deren  lebendige  und 
verehrungswürdige  Kraft  der  Vergangenheit  angehöre.  Ihn  trennt  von 
den  anderen  der  Wandel  eines  halben  Jahrhunderts,  das  den  Positivismus 
Comtes  gebracht  hatte. 

Dieser  Positivismus  ist  der  breite  Boden,  auf  dem  die  führenden 
Männer  der  Zeit  stehen,  auch  die,  welche  nachher  wieder  zur  Kirche 
zurückgekehrt  sind  und  an  deren  Spitze  die  eindrucksvolle  Gestalt 
Brunetieres  (f  1906)  schreitet.  Brunetiere  ist  ein  Mann  des  autoritären 
17.  Jahrhunderts,  der  sich  in  die  Zeit  Darwins  und  Taines  verirrt  hat 
Sein  geistiger  Habitus  erinnert  an  Bossuet,  in  welchem  er  den  großen 
Hüter  der  Tradition  und  den  größten  Schriftsteller  seines  Landes  verehrt. 
Diesen  geistigen  Habitus  durchdringen  langsam  aber  nachdrücklich  die 
Bildungselemente  der  Neuzeit:  die  der  historischen  Forschung  und  der 
naturwissenschaftlichen  Erkenntnis.  So  entsteht  in  Brunetirrc  eine  natura- 
listische Geschichtsauffassung,  die  er  als  Literarhistoriker  und  Kritiker 
autoritär  vorträgt.  Er  spricht  mit  großer  Sicherheit  und  seine  unelegante, 
fast  gewalttätige  Diktion  atmet  Kampfeslust. 

Er  möchte  in  dem  französischen  Schrifttum,  das  sich  immer  mehr  von 
seiner  klassischen  \'ergangenheit  emanzipiert,  die  Einheit  der  Tradition 
wieder  zu  Ehren  bringen  und  zu  diesem  Zwecke  eine  literarische  Kritik 
begründen,  welche  imstande  wäre  eine  sichere  Führerin  auf  dem  Wege 
dieser  Disziplinierung  zu  sein. 

Bruneti^re  haßt  den  Individualismus  der  „opinions  particulieres"  und 
verlangt  die  Wiederherstellung  der  Autorität  der  „opinions  g«'^nerales"  — 
nicht  nur  auf  dem  Gebiete  der  Literatur,  sondern  auf  allen  Lebens- 
gebieten. Als  Ursache  des  moralischen  Bürgerkrieges,  der  sein  I^and  in 
den  neunziger  Jahren  verheerte,  betrachtete  er  die  Anmaßlichkeit  des 
Individualismus.     Ostentativ  bekannte  er  sich  zur  Autorität  der  römischen 


BrnaMür*. 


362  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Kirche,  bedauernd,  daß  sein  Bossuet  einst  als  Gallikaner  gegen  Rom 
gesprochen  hatte.  Brunetieres  Ultramontanismus  ist  ein  rein  bürgerliches 
Bekenntnis,  ähnlichen  Verhältnissen  entsprungen  wie  einst  das  Bekenntnis 
Montaignes.  In  den  Schriften  {Discours  de  combaf),  in  denen  Brunetiere 
als  ein  moderner  Scholastiker  für  die  kirchlichen  Dogmen  kämpft,  herrscht 
weniger  religiöse  Stimmung  als  in  den  Büchern,  mit  denen  Renan  wider 
den  Glauben  stritt. 

Als  Feind  des  Individualismus  verwirft  Brunetiere  die  subjektive 
Poesie  und  stellt  die  dichterischen  Schöpfungen  am  höchsten,  in  denen 
die  Persönlichkeit  des  Autors  zurücktritt.  Als  ein  Mann,  der  die  staats- 
erhaltende Macht  über  alles  stellt,  verlangt  er  von  der  Literatur  in  erster 
Linie  sozialen  Wert.  Er  bekämpft  das  rart  pour  l'art,  und  ohne  seine 
Ansicht  in  ein  Schlagwort  zu  prägen,  vertritt  er  die  Auffassung  des  l'ari 
pour  la  vie.  Die  Kunst  existiere  nicht  für  sich  allein  und  wenn  sie  auch 
nicht  für  etwas  anderes  da  sei,  so  sei  sie  doch  mit  anderem  da.  Wer 
schreibt,  sagt  Brunetiere  einmal,  legt  sich  eine  soziale  Funktion  bei  und 
übernimmt  eine  moralische  Verantwortung  {„il  pre?td  charge  d'ämes''). 

Aufs  nachdrücklichste  bemühte  er  sich,  die  literarische  Kritik  dem 
Einfluß  des  Individualismus  zu  entziehen  und  sie  auf  objektive  Grundlagen 
aufzubauen.  Er  will  sie  wissenschaftlich  gestalten,  wenn  er  auch  den 
Namen  scicnce  für  sie  ablehnt.  Diese  Grundlage  findet  er  einerseits  in 
den  literarischen  Meisterwerken  des  17.  Jahrhunderts  und  anderseits  in 
der  modernen  Wissenschaft.  Jene  Werke  liefern  ihm  die  Norm  seines 
ästhetisch -moralischen  Urteils;  diese  Wissenschaft  liefert  ihm  die  Methode 
des  Aufbaues.  Hier  setzt  er  die  Arbeit  des  Systematikers  Taine  fort,  in- 
sofern auch  er  bei  der  zeitgenössischen  natur geschichtlichen  Forschung 
neue  literaturgeschichtliche  Einsicht  sucht.  Zugleich  aber  bekämpft  er 
Taine  in  wesentlichen  Punkten:  Taine  vernachlässige  ob  der  kultur- 
historischen die  künstlerische  Seite  der  literarischen  Werke;  seine  Kritik 
begnüge  sich,  die  Bedingtheiten  der  Werke  zu  konstatieren,  statt  zugleich 
Werturteile  in  usum  scriptorum  zu  fällen  und  sich  damit  Autorität  zu 
sichern;  seine  Theorie  des  Einflusses  von  race,  milieu  und  moment  vermenge 
ungleichwertige  Faktoren  und  verkenne  die  schöpferische  Bedeutung  des 
genialen  Individuums.  Ein  völlig  neues  Licht  falle  auf  das  literarische 
Geschehen  durch  Darwins  Lehre  von  der  Entstehung  der  Arten  und  durch 
ihre  Ausgestaltung  in  Häckels  Schöpfungsgeschichte.  Denn  auch  in  der 
Literatur  gebe  es  Arten  —  er  nennt  sie  aber  nicht  cspeces,  sondern  fährt 
fort  von  genres  litteraires  zu  sprechen  —  wie  in  der  Natur:  Lyrik, 
Tragödie,  Roman  usw.,  und  diese  literarischen  Spezies  entstehen,  wachsen, 
bilden  sich  um,  und  in  ihrem  Leben  offenbare  sich  die  natürliche  Zucht- 
wahl wie  bei  den  physischen  Organismen. 

1889  begann  Brunetiere  mit  dem. Bande  „L'evolution  de  la  Critique 
depuis  la  renaissance"  eine  Darstellung  der  neueren  französischen  Literatur 
gemäß     seiner    neuen    Lehre.      Aber    das    Gebäude     dieses     literarischen 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^5^ 

Darwinismus  ist  FragTiient  geblieben.  Die  bewegten  Zeitläufte  gestatteten 
dem  militanten  Leiter  der  „Revue  des  deux  mondes"  nicht,  das  Werk 
durchzuführen  —  oder  sollte  es  an  den  eigenen  inneren  Schwierigkeiten 
gescheitert  sein?  Denn  die  Theorie  von  den  literarischen  Spezies  ist  eine 
bloße  naturwissenschaftliche  Metapher.  Die  darauf  gebaute  Biologie  („les 
gcnrcs  sc  fafigucnt ,  ih  srpuiscnt,  sc  nu'coniiaisscnt,  mcurcnt'')  ist  ein 
Mythus  und  alle  Beredsamkeit  des  unerschrockenen  Mythologen  würde 
ihr  kein  wirkliches  Leben  verliehen  haben.  Er  tat  den  literarischen  Tat- 
sachen Gewalt  an,  um  sie  in  sein  Schema  zu  zwingen. 

So  krankt  Brunetieres  historisches  Werk.  Trotzdem  ist  es  von  großer 
Bedeutung,  nicht  nur  in  jenen  umfangreichen  Teilen,  die  bereits  vor  seiner 
Theorie  der  literarischen  Spezies  (i88g)  erschienen  waren.  Wenn  jemand 
auf  neuen  Pfaden,  mögen  es  auch  Irrwege  sein,  altes  Gelände  durch- 
schreitet, so  wird  er  neue  An-  und  Ausblicke  finden.  Davon  sind 
Brunetieres  Bücher  voll,  Sie  säen  Anregungen.  Ist  er  kein  gfuter  Führer, 
so  ist  er  doch  ein  kenntnis-  und  ideenreicher  Begleiter.  Seine  In- 
formation ist  sehr  umfassend,  wenn  auch  für  die  Behandlung  der  aus- 
ländischen Literaturen  nicht  ausreichend.  Die  Metapher  von  der  natür- 
lichen Auslese  hat  ihn  dazu  geführt,  die  Rolle,  die  das  auserlesene 
Individuum  in  der  Geschichte  spielt,  ins  Licht  zu  setzen.  Die  Evolutions- 
theorie hat  sein  Auge  für  die  Erkenntnis  historischer  Zusammenhänge 
und  seinen  Sinn  für  streng  chronologisches  Vorgehen  geschärft  Er  hat 
wirklich  entwickelungsgeschichtlichen  Blick  und  mit  diesem  Blick  hat  er 
die  Bedeutung  von  Übergangsepochen  erkannt,  deren  formende  Arbeit 
bisher  wenig  beachtet  geblieben  war.  So  hat  die  literarhistorische 
Forschung  durch  Brunetiere  viel  Förderung  erfahren.  Hier  hat  er  unver- 
gängliche Spuren  zurückgelassen. 

Und  die  critiijiic  litfcrairc?  Gewiß  fallt  aus  aller  geschichtlichen 
Betrachtung  Licht  auch  auf  das  zeitgenössische  Schaffen,  und  ist  der, 
dessen  Blick  entwickelungsgeschichtlich  geschult  ist,  auch  imstande,  tiefer 
in  das  Wesen  der  Kunstübung  der  Gegenwart  einzudringen  und  das  Amt 
eines  Kritikers  mit  besonderem  Nachdruck  zu  üben.  So  auch  Brunetiere- 
Und  unzweifelhaft  hat  er  dadurch,  daß  er  die  Künstler  an  ihre  Ver- 
antwortlichkeit erinnerte  und  ihr  Schaffen  mit  dem  Maße  einer  sozialen 
Funktion  maß,  Gutes  gewirkt.  Wie  der  Ruf  eines  willensstarken  Asketen 
ertönt  seine  Stimme  in  einer  Zeit  überschäumender  Schafifenswillkür.  Um 
aber  dieser  Zeit  wirklich  eine  führende  Kritik  zu  schenken,  dazu  war 
er  selbst  zu  unkünstlcrisch  und  zu  unfrei.  Er  ist  an  die  gebundene  Kunst 
des  17.  Jahrhunderts  gefesselt,  was  für  ihn  auch  eine  Einbuße  an  histo- 
rischer Einsicht  bedeutet:  so  steht  er  dem  Mittelalter  verständnislos  gegen- 
über und  ist  gegen  das   18.  Jahrhundert  ungerecht 

Endlich  ist  Brunetieres  Anspruch,  eine  objektive  Kritik  zu  schaffen, 
überhaupt  unerfüllbar.  Das  ist  ein  Gedanke  des  17.  Jahrhunderts.  Brune- 
tiere  verwechselt   objektiv   mit   autoritär.      Niemand   redet    häufiger  als   er 


364  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

in    der    ersten   Person  und    sagt:   je   crois.     Niemand  spricht  subjektiver, 
selbstherrlicher   als   er.     Aber   ebenso    selbstherrlich   ist   das  Schaffen  des 
genialen  Künstlers    und    dieses   wird   auch   gegen   den  Kritiker  recht   be- 
halten.    Denn  im  Anfang  war  die  Tat! 
Die  impressio-  Brunetierc    hat    hauptsächlich    gegen    zwei   Gegner    gestritten:    gegen 

nistische  Kritik.  ^^^  NaturaUsmus  von  der  Art  Zolas  und  gegen  die  persönliche  Literatur 
(„le  personnalisme'')  in  jeder  Form,  besonders  gegen  jene  individualistische 
Kritik,  die  sich  Impressionismus  nennt  und  als  deren  Haupt  Vertreter  ums 
Jahr  1890  J.  Lemaitre  {„Les  contemporains'' \  „Impressions  de  t/ieätre") 
und  A.  France  {,iLa  vie  litteraire'')  hervortraten. 

Lemaitres  „Theatereindrücke"  haben  dieser  Art  von  Kritik  den 
Namen  gegeben.  Sie  ist  in  ihrem  Wesen  der  impressionistischen  Malerei 
verwandt;  wie  diese  gibt  die  impressionistische  Kritik  einen  augenblick- 
lichen, künstlerischen  Eindruck  wieder.  Der  impressionistische  Referent 
ist  selbst  Poet.  Er  lehnt  es  geradezu  ab,  als  Kritiker  zu  gelten.  Er  will 
bloß  ein  Genießer  sein  und  seiner  eigenen  Voluptas  Worte  leihen.  Diese 
„critique  volupiuense"'  umspielt  das  Kunstwerk;  sie  gibt  nicht  Lehrsätze, 
sondern  Poetenphantasien.  Sie  ist  darauf  bedacht,  die  Kritik  selbst  zum 
Kunstwerk  zu  gestalten.  Und  darin  waren  jene  beiden  klugen  und  geist- 
vollen Literaten  Meister.  Dabei  galt  Lemaitres  Interesse  ganz  der  Gegen- 
wart. Die  Klarheit  seiner  Einsicht  findet  ihre  Grenze  in  seinem  Chauvinismus 
und  die  possenhaften  Allüren  seines  Esprit  g-aulois  kompromittieren  oft 
den  wirklichen  Ernst  seiner  Bekenntnisse.  France  hatte  jederzeit  mehr 
universelle  Interessen  und  zeigte  bei  ebenso  großer  Kunst  mehr  Zurück- 
haltung und  versöhnenden  Humor.  Beide  liebten  das  Paradoxon  und  seine 
Freiheit.  Das  Leben  hat  seither  diese  „Impressionisten"  von  der  Voluptas 
ihrer  literarischen  Kritik  weg  in  den  politischen  Kampf  gerufen.  Heute 
gehören  die  Individualisten  Lemaitre  und  France  zwei  gegnerischen  Lagern 
an,  die  beide  in  gleicher  Weise  dem  Individualismus  feind  sind,  jener  dem 
nationalistischen,  dieser  dem  sozialistischen. 
Faguet.  Mehr  intellektuell  als  künstlerisch  interessiert  spricht  E.  Faguet  von 

Dichter  und  Dichtung.  Er  kennt  —  wie  Brunetiere  und  wie  die  Impressio- 
nisten, mit  denen  er  aber  nichts  gemein  hat  —  nur  das  moderne  Frank- 
reich seit  der  Renaissance  und  es  zerfällt  für  ihn  in  Hunderte  von  Autoren 
und  Werken,  die  er  mit  großer  Schärfe  in  Monographien  analysiert.  Er 
ist  in  der  Kunst  dieser  Analyse  unübertroffen.  Es  sind  lichte,  kluge, 
geistvolle  Arbeiten  von  anerkennenswertem  Freimut.  Die  Methode  wissen- 
schaftlicher Kritik  ist  ihm  fremd.  Seine  „Histoire  de  la  litterature  fran9aise 
depuis  les  origines"  (1900)  ist  eine  Sünde  wider  den  Geist  der  Forschung. 
Heute  spricht  Faguet  bändeweise  zu  allen  Fragen  des  modernen  Lebens, 
immer  gescheit  und  ideenreich,  aber  vom  Publikum  verwöhnt,  das  ihm  auch 
dann  zuhört,  wenn  er  .  .  schwätzt.  — 
Rückblick  auf  £)ie     literarische     Kritik     zeigt      zu     Ende     des     Jahrhunderts     drei 

die  literarische   -r  t  ..  . 

Kritik.        Hauptstromungen ,     eine     wissenschaftliche,     eine     impressionistische     und 


F.  Das   19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach   i8^o.  ^^c 

eine  aristarchische :  die  Kritik  des  Forschers,  des  Genießers  und  des 
Dogmatikcrs. 

Die  doginatischc  Kritik  ist  ein  Erbteil  der  klassischen  Zeit.  Ihr 
Aristarch,  Brunetiere,  hat  sie  zu  modernisieren  versucht,  indem  er  ihr  ent- 
wickelunsrsgoschichtliche,  darwinistischo  Gruiidlaj^cn  g'ab.  Aber  die  wider- 
strebende Zeit  fügt  sich  diesem  alten  Kunstrichtertum  nicht  mehr. 

Die  wissenschaftliche  und  die  impressionistische  Kritik  sind  die  mo- 
dernen Formen  literarischer  Beurteilung.  Es  ist  bezeichnend,  daß  diese 
beiden  divergierenden  Richtungen  zu  gleicher  Zeit  blühen,  ja  daß  diese 
Zeit  der  eifrigsten  wissenschaftlichen  Forschung,  eines  Taine,  auch  die 
des  ausgesprochensten  Impressionismus,  eines  Lemaitre,  ist. 

Die  impressionistische  Kritik  hat  ihr  gutes  Recht,  sintemal  das  Kunst- 
werk zum  Genießen  geschaffen  ist.  Das  Empfinden,  dem  eine  künstlerisch 
begabte  Persönlichkeit  ihr  künstlerisches  Wort  leiht,  lebt  unausgesprochen 
in  Vielen.  Der  Kritiker  weckt  und  befreit  es  und  oft  genug  begibt  es 
sich,  daß  er,  der  nur  ganz  persönlich  zu  sprechen  behauptet,  den  Eindruck 
Vieler  wiedergibt.  Und  sein  Wort  kann  zu  einer  Macht  werden,  wie  z.  B. 
damals,  als  Lemaitre  sich  gegen  Ohnets  plumpe  Kunst  erhob  (1889).  Die 
impressionistische  Kritik  will  bloßem  Gegenwartsempfinden  Ausdruck 
geben;  sie  lehnt  geschichtliche  Betrachtung  ab.  Sie  mißt  auch  das  alte 
Kunstwerk  mit  dem  Maßstab  der  Moderne.  Sie  ist  lebendig,  intensiv,  aber 
beschränkt  Doch  führen  auch  von  dieser  „critique  litteraire"  viele  Wege 
zur  „histoire  litteraire",  denn  die  Bildung  des  modernen  Menschen  ist 
geschichtlich,  und  in  Wahrheit  ist  für  ihn  Kritik  und  Geschichte  nicht  mehr 
völlig  zu  trennen. 

Daß  bei  der  wissenschaftlichen  Kritik  die  Gefahr  besteht,  daß  der 
künstlerische  Wert  der  poetischen  Schöpfung  nicht  zu  seinem  Rechte 
kommt,  zeigt  das  Beispiel  Taines.  Daß  aber  geduldigste  literarhistorische 
F'orschung  und  feinstes  ästhetisches  Empfinden  sich  auch  harmonisch  ver- 
binden können,  zeigt  das  Beispiel  G.  Paris'.  Dieser  Forscher  und  Künstler 
sucht  in  der  Erkenntnis  des  historischen  Werdens  auch  das  \'erständnis 
der  poetischen  Schöpfung.  Mit  jener  Bereitwilligkeit,  die  lernen  und  ver- 
stehen will,  naht  er  dem  fernen  Kunstwerk,  das  ihn  erst  fremdartig  an- 
mutet Die  geschichtliche  Betrachtung  „putzt  sein  Auge"  und  weitet 
seinen  Blick,  vor  dem  das  Reich  der  Kunst  sich  weitet.  Neues  Genießen 
erwächst  dem  Forscher  auf  dieser  historischen  Grundlage  und  mit  ge- 
schärftem Blick  kohrt  er  zur  Gegenwart  zurück,  um  im  Kampfe  der  im- 
pressioni.stischen  Urteile  die  Lehre  historischer  Gerechtigkeit  zu  vertreten. 

Die  moderne  Naturwissenschaft  erhebt  den  Anspruch,  daß  das  psy- 
chologische (d.  h.  ästhetische  und  entwickelung.sgcschichtliche^  Problem  des 
literarischen  Kunstwerks  und  seines  Schöpfers  in  ihren  Bereich  falle  und 
daß  sie  imstande  sein  werde,  auf  dem  Wege  der  experimentellen  Forschung 
der  literarischen  Kritik  feste  Normen  zu  geben,  „deren  letzte  Fundamente 
in  der  Anatomie    und    der  Physiolog^ie    des   Gehirns   zu   suchen   sind",   wie 


366  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Dr.  Toulouse  sagt.  Diese  „critique  technog^nique"  ist  über  interessante 
Apercus  bislang  nicht  .hinausgekommen. 

Wen  solche  Materialisierung  der  Forschung  erschreckt,  der  mag  in 
der  Erkenntnis  Trost  finden,  daß  auf  dem  Boden  des  nämlichen  Positivis- 
mus, der  uns  diese  Materialisierung  gebracht  hat,  längst  idealistische  Lehren 
erwachsen  sind,  in  denen  die  Macht  der  Idee  {idees-forces)  sich  siegreich 
erhoben  hat.  Auch  in  Frankreich  sucht  die  Philosophie  der  Gegenwart 
nach  Lösungen,  die  zugleich  monistisch  und  idealistisch  wären.  Auch  hier 
hat  der  Monismus  sich  seinen  Idealismus  geschaffen  in  den  kühnen  Büchern 
Fouillees  und  des  zu  früh  verstorbenen  Guyau,  der  seiner  Krankheit  eine 
Philosophie  der  Lebenstüchtigkeit  abgerungen  hat.  Alle  Forschung  und 
Weltanschauung  erhebt  sich  zu  idealistischen  Forderungen,  weil  diese  tief 
im  Menschen  begründet  sind.  — 

Die  Rhetorik.  Deutlich  ist  in  der  Literatur  der  letzten  fünfzig  Jahre  ein  Zurücktreten 

der  Eloquenz,  eine  geringere  Wertung  des  rednerischen  Charakters  zu 
erkennen.  Das  wissenschaftliche,  sachliche  Interesse  drängt  die  Freude 
an  der  rhetorischen  Amplifikation,  diesem  lateinischen  Erbteil,  zurück:  der 
elegante  Universitätsredner  der  alten  Schule,  Caro,  verfallt  dem  Spott  des 
Lustspiels.  In  dem  selben  Maße  wird  in  der  Demokratie  das  Schreiben 
und  Reden  allgemeiner.  Jeder  schreibt  und  die  Sprache  der  Literatur, 
die  einst  im  akademischen  Kanal  ruhig  dahinfloß,  gleicht  jetzt  einem  un- 
gebändigten  Strom,  dessen  aus  dunkeln  Tiefen  hervorbrechende  Fluten  ein 
neues  Delta  bilden.  Jeder  hält  Reden;  jeder  ist  „Conferencier".  Die  Frei- 
heit der  Presse  hat  ihrem  literarischen  Charakter  vorläufig  Abbruch  getan. 
Unter  der  alten  Zensur,  inmitten  von  Verfolgung  und  Unterdrückung,  be- 
durfte die  politische  Opposition  größerer  Kunst  der  Rede.  Zur  Zeit 
Napoleons  III.  war  Prevost-Paradol  ihr  Meister. 

Der  Geist  der  Das     gauze    Geistesleben    steht    im    Zeichen    der    wissenschaftlichen 

Forschung.  Sie  dringt  überall  ein,  und  überall  wendet  sich  ihr  die  Neu- 
gier zu.  Erkenntnisgebiete,  die  in  Wirklichkeit  nur  dem  Spezialisten  zu- 
gänglich sind,  werden  in  gemeinverständlichen  Darstellungen  dem  g'ebil- 
deten  Publikum  aus  der  Ferne  gezeigt.  Eine  Fülle  bunten,  dilettantischen 
Wissens  verbreitet  sich  wie  nie  zuvor.  Dabei  kommen  an  den  Grenzen 
der  alten  Forschungsgebiete  neue  „Hilfswissenschaften"  auf.  Es  entstehen 
Zwischendisziplinen,  die  von  einem  Arbeitsfeld  zum  andern  die  Brücke 
schlagen  und  die  sogenannten  Geisteswissenschaften  mit  der  Naturwissen- 
schaft verbinden:  die  Urgeschichte  läuft  in  Anthropologie  aus,  die  Psycho- 
logie führt  zur  Medizin.  Überall  zeigen  sich  neue  Beziehungen,  neue  Ab- 
hängigkeiten. Es  entsteht  die  Vorstellung  einer  großen  biologischen 
Wissenschaft. 

Die  Ausbreitung  dieser  Wissenschaft  stört  alte  literarische  Besitzrechte. 
Das  hat  besonders  die  Geschichtsforschung  erfahren.  Der  Historiker 
darf  heute  keine  poetischen  Synthesen  im  Stile  Thierrys  und  Michelets, 
oder  gar  Gobineaus    mehr  wagen,    der  in   seinem    „Essai   sur  l'in^galit^ 


Wissenschaft. 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  »5^ 

des  races  humaines"  (1853)  den  Versuch  machte,  die  „Rassentheorie",  die 
Thierry  einst  auf  die  Nationalg-cschichte  angewendet  hatte,  nun  auf  die 
„Geologie  niorale"  der  ganzt-n  Menschheit  auszudehnen.  Die  natürliche 
Menschheit  kenne  weder  Gleichheit  noch  Brüderlichkeit:  sie  bestehe  aus 
Herren-  und  Sklavenrassen.  Die  Geschichte  der  Menschheit  sei  die  Ge- 
schichte des  \'ertalls  der  Herrenrasse  der  „Arier",  die  sich  auf  ihrer  kultur- 
schaffenden  Bahn  durch  die  Welt  hin  mit  den  Schwarzen  und  Gelben 
vermischt  haben.  Gobineau  schreibt  den  pessimistischen  Roman  von  der 
Degeneration  der  „Arier",  deren  edle  Aristokratie  in  die  Wogen  eines 
demokratischen  \'ölkerchaos  rettungslos  versinke.  Die  Demokratie  be- 
schäftigt ihn,  wie  seinen  Freund  Tocqueville.  Der  war  ihr  exakter 
Historiker;  Gobineau  aber  ist  ihr  leidenschaftlicher  Ankläger.  Er  ist  ein 
aristokriitischer  Rousseau,  der  den  Roman  vom  Sündenfall  —  nicht  der 
Menschheit  sondern  ihrer  Herrenrasse  schreibt  Die  Franzosen  haben 
der  Botschaft  Gobineaus  wenig  Beachtung  geschenkt;  in  Deutschland  aber 
hat  sie  eine  Gemeinde  gefunden. 

Wie  die  Forderungen  exakter  Darstellung  heute  den  ernsten  Forscher  Piutei 
beeinflussen,  das  zeigt  die  Lebensarbeit  Fustels  de  Coulanges.  Er  hat  «i"  Co»**»»»^ 
1864  mit  einem  literarischen  Meisterwerk  begonnen,  in  welchem  er  die 
Entwickelungsgeschichte  der  antiken  Stadtstaaten  erzählte  {La  Citc 
antiijiie),  in  deren  Zentrum  er  als  Agens  den  Wandel  der  religiösen  An- 
schauungen stellte.  Das  Werk  ist  wie  ein  antiker  Tempelbau  von  strenger 
Schönheit,  harmonisch,  weihevoll.  Aber  es  ist  nicht  die  Geschichte  der 
antiken  Religion.  Es  ist  die  kühne  Konstruktion  eines  schartsichtigeii, 
leidenschaftslosen  Forschers,  der  allen  unsachlichen  Schmuck  verschmäht 
und  für  den  das  einzelne  Geschehnis  und  das  Individuum  nur  den  Wert 
eines  entwickelungsgeschichtlichen  Zeugnisses  haben.  Darauf  hat  die  Kritik 
die  sich  gegen  ihn  erhob,  Fustel  ängstlicher  gemacht.  Von  der  Höhe 
weltgeschichtlicher  Synthese  ist  er  zu  monographischen  Untersuchungen 
herabgestiegen  und  von  psychologischer  zu  wirtschaftlicher  Erklärung  der 
staatlichen  Umwälzungen  fortgeschritten.  Damit  hat  er  seit  1S85  die  Er- 
forschung der  Merovingerzeit  völlig  erneut  {Hisioire  des  institutions  polt- 
tiqucs  (ü  Vancienne  France);  doch  künstlerisch  Wertvolles  wie  die  „Cit6 
antique"  hat  er  nicht  mehr  geschaffen. 

Es  ist  für  den  Geist  der  Epoche  bezeichnend,  daß  sie  gleichzeitig  drei 
monumentale  Werke  geschichtlicher  Forschung  hervorgebracht  hat,  die 
sich  mit  Ursprungsfragen  beschäftigen:  Renans  Entwickelung  des  Christen- 
tums, Fustels  und  Taines  Entwickelung  des  alten  und  des  modernen 
Frankreich. 

Wenn  aber  die  Wissenschaft  alte  literarische  Besitzrechte  stört,  so 
erschließt  sie  anderseits  der  Literatur  auch  neues  Land,  das  nun  des 
künstlerischen  Bebauers  harrt.  Denn  die  Wissenschaft  selbst  ist  keiner 
Kunst  Feind,  auch  nicht  der  literarischen.  Wohl  aber  hat  sie  das  Publi- 
kum kritischer  gemacht  und  damit  die  Kunst  selbst  höher  gehängt    Daß 


2 68  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

indessen  angesichts  der  Forderungen  der  exakten  P^orschung'  auf  dem 
Gebiete  der  Geschichtschreibung  es  fortan  nicht  mehr  mögUch  sein 
werde,  die  Synthese  zu  einem  Kunstwerk  zu  gestalten,  ist  ein  Irrtum. 
Wohl  triumphiert  heute  die  historiographische  Unkunst  mit  ihren  Kollektiv- 
arbeiten. Aber  zwischen  dieser  formlosen  Gelehrsamkeit  und  den  Erfin- 
dungen des  historischen  Romans  ist  noch  Platz  für  die  lebensvolle  Synthese 
aus  einem  Gusse.  Sie  wird  freilich  nur  die  Schöpfung  eines  ungewöhn- 
lichen Menschen,  eines  Künstlers  der  Forschung,  sein.  Doch  werden  auch 
der  zukünftigen  Wissenschaft  wieder  Männer  erstehen,  die  durch  die 
Tore  der  Forschung  ins  Reich  der  Kunst  einziehen  und  hier  weiter  leben, 
auch  nachdem  die  Zeit  ihre  Forschung  überholt  haben  wird. 

Beim  Rückblick  auf  diese  Periode  heben  sich  besonders  die  sechziger 
Jahre  ab,  in  deren  Mitte  Renans  „Vie  de  Jesus"  (1863),  Taines  „Histoire 
de  la  litterature  anglaise"  (1863  —  69),  Fustels  „Cite  antique"  (1864)  und 
G.  Paris'  „Histoire  po^tique  de  Charlemagne"  (1868)  sich  folgten  und  sich 
zu  einem  profanen  Chor  von  Stimmen  aus  dem  heidnischen  und  christ- 
lichen Altertum,  aus  dem  gläubigen  Mittelalter  und  der  aufklärerischen 
Neuzeit  zusammenschlössen  —  gerade  in  der  Zeit,  da  Rom  seinen  Wider- 
spruch gegen  diese  moderne  Wissenschaft  in  jenem  „Syllabus"  verkün- 
dete (1864),  der  die  „praecipuos  nostrae  aetatis  errores"  zusammenfaßte. 
Der  Gegensatz  hat  sich  seither  verschärft.  Er  ist  in  Frankreich  zum 
Kampf  um  Staat  und  Gesellschaft  geworden  und  man  spricht  heute  von 
den  „deux  Frances",  die  einander  unversöhnlich  gegenüberstehen:  dem 
Frankreich  des  Syllabus  und  dem  der  freien  Forschung.  Der  Kampf  ist 
so  allgemein  und  leidenschaftlich  geworden,  daß  er  den  Schriftsteller  von 
seiner  literarischen  Arbeit  herunter  in  die  Arena  des  öffentlichen  Lebens 
ruft,  damit  er  in  dem  großen  Ringen  Partei  ergreife.  Wie  viele  sind  seit 
zehn  Jahren  diesem  Rufe  gefolgt  unter  der  Führung  von  Brunetiere  oder 
Zola,  Lemaitre  oder  A.  France! 
Der  Einfluß  des  Die    französischc   Literatur   dieser  Zeit   steht  unter  mannigfachen  aus- 

ländischen Einflüssen,  freilich  nicht  sowohl  romanischen  als  germanischen 
und  slavischen.  Italien  und  Spanien  üben,  trotzdem  die  literarhistorische 
Forschung  und  der  Universitätsunterricht  Frankreichs  sich  neuerdings 
eifrig  mit  ihnen  beschäftigen,  keine  literarische  Wirkung  aus. 

Deutschland  hat  mit  Hegel  und  Schopenhauer  auf  Wissenschaft 
und  Kunst  (Naturalismus)  gewirkt,  mit  Nietzsche  den  Individualismus  ge- 
fördert und  mit  R.  Wagner  nicht  nur  die  Musik  erst  beherrscht  (etwa 
1880  —  95)  und  seither  bestimmt,  sondern  zugleich  in  der  Dichtung  den 
Symbolismus  heraufführen  helfen,  nachdem  die  Lyrik  auch  durch  Heines  Kreise 
geschritten  war.  Über  die  großen  und  die  kleinen  Ereignisse  des  literarischen 
Lebens  Deutschlands  referierte  in  der  „Revue  des  deux  mondes"  bis  zum 
Kriege  (1843— 1869)  jährlich  der  kundige  Saint-Rene  Taillandier. 

Englands  Einfluß  ist  durch  die  Studien  Monteguts  und  das  Beispiel 
Taines  neu  belebt  worden.   Außer  Darwin  befruchtet  Stuart  Mill  und  Spencer, 


F.  Das  19. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  iSjo.  ^50 

die  selbst  von  Comte  gelernt,  den  französischen  Gedanken.  Von  Dickens' 
humorvoller  Kleinmalcrci,  liliot.s  moralisierendem  Realismus,  Poes  Phan- 
tastik  gingen  sehr  verschiedene,  aber  tiefe  Wirkungen  auf  Roman  und 
Lyrik  aus.  Und  England,  die  alte  Heimat  realistischer  Kunst,  sandte 
Frankreich  auch  die  zarten  symbolischen  Gebilde  und  das  künstlerische 
Priestertum  der  Präraffaelliten. 

Skandinavien  hat  mit  Ibsen  der  französischen  Dramatik  neue  Im- 
pulse gegeben. 

Rußland  hat  nicht  sowohl  durch  den  Kosmopoliten  Turgeniew,  als 
durch  Dostojewski  und  Tolstoi  neue  und  tiefe  künstlerische  Erlebnisse  ge- 
bracht. Ihr  \'crmittler  war  de  Vogüe.  Sein  Buch  „Le  roman  russe"(i886) 
war  ein  literarisches  Manifest.  Wie  einst  Frau  von  Stael  der  im  Kon- 
ventionellen erschöpften  französischen  Literatur  die  frische  Ursprünglich- 
keit des  deutschen  Schrifttums  erschloß,  so  verweist  hier  de  Vogüe  die 
im  Naturalismus  sich  erschöpfende  Erzählungskunst  seiner  Landsleute  auf 
das  Beispiel  der  Russen.  Die  literarische  Annäherung  an  das  Zarenreich 
soll  gleichsam  den  Zweibund  bekräftigen.  Dem  französischen  Naturalis- 
mus fehle  die  Liebe  zur  leidenden  Menschheit;  er  sei  mitleidlos  und  ent- 
mutigend; er  wirke  lähmend.  Die  Kunst  der  großen  Russen  aber  sei  — 
wie  der  englische  Realismus  einer  Eliot  —  voll  Erbarmen  und  mensch- 
licher Erregung.  Der  starke  Glaube  eines  jugendlichen  Volkes  lebe  in 
ihr  und  erwärme  sie.  Dostojewskis  ergreifende  Schilderung  furchtbaren 
Leidens  wecke  nicht  Verzweiflung,  sondern  Werktätigkeit,  wie  der  Pessi- 
mismus Tolstois.  De  Vogües  Buch  ist  ein  Datum  in  der  Geschichte  des 
französischen  Naturalismus.  Seine  Wirkung  aber  der  an  die  Seite  zu 
setzen,  die  einst  von  „De  l'Allemagne"  ausgegangen  war,  ist  eine  starke 
Übertreibung. 

Sieht  man  von  den  tausend  vereinzelten,  zufälligen  und  ephemeren 
Beziehungen  ab,  welche  Dichter  und  Werke  der  verschiedenen  Nationen 
verbinden  und  hält  man  sich  an  die  großen  Züge  des  wirklich  Be- 
stimmenden und  Dauernden,  so  kann  man  sagen,  daß  die  moderne 
französische  Lyrik  von  Deutschland  und  England,  der  Roman  von  Ruß- 
land und  England  und  das  Theater  von  Skandinavien  aus  orientiert 
worden  ist.  Das  wissenschaftliche  Denken  hat  von  Deutschland  und 
England  tiefe  Anregungen  erfahren.  Die  übrige  Romania  aber,  Italien 
und  Hispanien,  sind  an  der  Schaffung  dieser  neuen  literarischen  Werte 
nicht  beteiligt.     Sie  sind  Frankreich  gegenüber  die  Empfangenden. 

So  hat  Gallien  innerhalb  der  Romania  immer  noch  die  Führung;  es 
selbst  aber  ist  den  „nordischen"  Literaturen  tief  verpflichtet. 

An  der  befruchtenden  Arbeit  der  lit<'rarischen  Vermittelung  haben 
sich  Viele  beteiligt,  insbesondere  auch  Kritiker  schweizerischer  Herkunft 
wie  die  protestantischen  Theologen  A.  Vinet  (f  1847)  —  dessen  kritische 
Arbeiten  erst  nach  seinem  Tode  erschienen  —  und  Ed.  Scherer  (f  1889). 

Die  KtiTini  Dim  GioncwAiiT.  L  11.  1.  i* 


370 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Die  Bildung  Vinets  ist  von  Deutschland  stark  bedingt  Dieser  fromme, 
gedankenreiche  Mann,  der  überall  religiösen  Fragen  nachgeht,  dringt  tief 
in  Menschen  und  Werke  ein.  Er  hat  wohl  nur  wenige,  darunter  aber  die 
einflußreichsten,  wie  Brunetiere,  beeinflußt.  Der  skeptische  Scherer  hat 
den  Kürchenglauben,  aber  nicht  die  theologische  Art  überwunden.  Mit 
seinen  ausgebreiteten  Kenntnissen  wurde  er  ein  kosmopolitischer  Kritiker 
von  ausgesprochener  Eigenart.  Er  ist  ein  Denker;  aber  sein  Scharfsinn 
hat  etwas  Starres,  Kältendes  und  so  ist  seine  Wirkung  beschränkter  ge- 
blieben, als  die  Bedeutung  seines  hervorragenden  Geistes  verdiente.  In 
neuerer  Zeit  sind  besonders  die  Zeitschriften  der  Jungen,  der  „Mercure  de 
France"  an  der  Spitze,  im  Dienste  der  literarischen  Verständigung  tätig. 
Dreißig  Jahre  nachdem  Dumas  seine  berüchtigte  Vorrede  zu  einer  neuen 
Faust-Übersetzung  (1873)  geschrieben  und  in  der  Schmähung  Goethes 
eine  unrühmliche  Rache  für  1870/71  genommen,  bringt  „L'Ermitage,  revue 
mensuelle  de  litterature ",  Aufsätze  über  „La  sagesse  de  Goethe",  in 
denen  Goethe  als  großer  Lebenslehrer  gepriesen  wird.  Aus  dem 
französischen  Universitätsunterricht  gehen  vortreffliche  Arbeiten  zur  Ge- 
schichte der  deutschen  und  englischen  Literatur  hervor.  Und  heute  be- 
müht sich  Frankreich  auch  um  gute  Übersetzungen  der  führenden  Werke 
des  Auslands.  Die  „Collection  d'auteurs  ^trangers"  des  „Mercure  de 
France"  bringt  Nietzsche  und  Carlyle,  Kipling  und  Gorki. 

Die  Chauvinisten  beklagen  diesen  Import  als  eine  Gefährdung-  des 
„genie  francais"  und  leugnen  die  befruchtende  Wirkung  einer  literarischen 
Annäherung  zwischen  romanischem  und  germanischem  Europa.  Es  ist 
zu  heftigen  Auseinandersetzungen  gekommen  über  den  Kosmopolitismus 
und  das  „genie  francais"  oder  —  wie  die  Franzosen  heute  nach  „nor- 
dischem" Vorbild  sagen  —  der  „äme  francaise".  Die  Lehren  der  Ge- 
schichte sind  dabei  oft  genug  verkannt  worden,  stellt  doch  z.  B.  Lemaitre 
die  „litteratures  du  nord"  mit  Ibsen,  Tolstoi,  Nietzsche  als  französische 
Ableger  dar.  Dagegen  hat  J.  Texte  (f  1900)  ruhig  und  sachlich  der  ge- 
schichtlichen Wahrheit  zu  ihrem  Recht  verhelfen.  — 
Die  Lyrik.  Die  vicrzigcr  Jahre  hatten  keine  erhebliche  lyrische  Ernte  gebracht. 

Hugo  schwieg.  Das  heitere  Glockenspiel  der  B an vil leschen  Reime 
setzte  ein  (1842—46).  Es  läutet  die  Romantik  aus  und  präludiert  der  Lyrik 
der  Parnassiens.  Banville  setzt  die  Wortdichtung  Hugos  fort:  der  sonore, 
kecke,  seltsame  Reim  ist  der  Erzeuger  und  Träger  seiner  Inspiration. 
Er  ist  der  Jongleur  des  Reims  und  schreibt  einen  „Petit  traite"  dieser 
Jonglierkunst.  Er  liebt  das  romantische  Adjektiv  und  singt  von  etoiles 
sonores  und  von  einem  sourire  vermeil.  Aber  seine  überschäumende 
Lebenslust  dränget  ihn  zum  heidnischen  Altertum,  das  die  Romantiker, 
besonders  Hugo,  geflissentlich  mieden.  Ein  schöner  Arm  ist  für  ihn,  wie 
für  Gautier,  ein  bras  payen.  Er  folgt  Gautier  auch  in  den  kunstvollen 
Ziselierungen  seiner  Verse  und  nennt  sich  selbst  ouvrier  et  artiste.  Es 
ist    feinstes    Kunsthandwerk,    das    er    auch    auf    der    Spur    Ronsardscher 


F.  Das  I'). Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^--i 

„Odelettes",    Heinescher    Lieder,    Villonscher    Balladen    spit-lond    übt.     So 
wurde  er  zu  einer  Art  Workmoister  soincr  Zeitgenossen. 

Die  neue  Lyrik  geht  Hand  in  Hand  mit  einer  Rcnais.sance  des  /Vlter- 
tums.  Man  wird  an  die  Zeiten  Ronsard.s  erinnert.  Die  Muse  wird  auf  den 
Parnaß  zurückgetiihrt ,  von  dem  sie  mit  Lamartine  herabgestiegen  war. 

Leconte  de  Lisle  (1818  — (),}),  dessen  „Po«';mes  antiqucs"  1852,  dessen  i>oc«n« d«  u«j«> 
„Poemes    barbares"    1862     erschienen    sind,    ist    der    mächtigste    Gestalter 
dieser    neuen   Lyrik,    die    vom  Übermaß    des  Individualismus,    vom  Über- 
schwang der   Herzensergießungen   und   Geständnisse    zu    gemessener  Hal- 
tung zurückkehrt;  die  die  innere  Erregung  nicht  erstickt,  aber  zügelt  und 
zurückhält,    den    persönlichen    Aufschrei    dämpft.     Sie    erscheint   mit  ihrer 
verhaltenen   Emotion   den  Überschwänglichkeiten   der  Romantiker  gegen- 
über kühl,  „inipassible".     Man  vergleiche   die  knappe  Schilderung  leiden- 
der   Tiere    bei   Leconte    mit    den  wortreichen   Ergüssen   von  Hugos  „Cra- 
paud".     Leconte   spottet   der  „montretirs'\   die  ihr  Inneres  in  gefühlvollen 
Versen    vor   dem  großen    Publikum   zur  Schau  stellen.     Den  Schmerz  des 
Daseins    hat   auch    er   empfunden,   aber    er   gießt  ihn  nicht  in  persönliche 
Klagen,    sondern    er   gestaltet    ihn  in    grandiosen    Bildern,    die  er   fem  ab 
von    sich    in    alte    Zeiten    und    entlegene    Länder   rückt,     zu    den   Hindus, 
in    die  Wüste,    in  seine  tropische  Heimat,    nach  Ägypten,   ins  alte  Hellas. 
Von  vornehmer  Unpersönlichkeit  soll  die  Dichtung  sein.     Sie  soll,  wie  die 
Philosophie     des     Positivismus,     auf    „innere     Beobachtung"     verzichten. 
Nicht     komplizierte    Odenstrophen,     sondern    die  Rhj-thmenfülle    des    ver- 
jüngten Alexandriners  und  das  gemessene  Sonett  sind  die   B'ormen  seiner 
Dichtung.       Leconte    birgt    seine    Erregung    in    lyrischen     Gebilden     von 
strengen    Linien,   satten   Farben    und    von   plastischer  Geschlossenheit  und 
zeichnet,    koloriert,    .skulpiort    mit    einer  unermüdlichen  Sorgfalt  und  einer 
malerischen  Präokkupation,    für    welche    Gautier   das  N'orbild  gab.     Andr6 
Ch^niers   Beispiel   hat   ihn    schon    in    der  Jugend  dem  Altertum  zugeführt. 
Es    ist    für   ihn    die    ewig  junge    Lehrerin    der   Schönheit    und    die    weise 
Gegnerin  des  Christentums:    er  preist  Hypatia  —  die  Aphrodite   mit   dem 
Geiste  Piatos  —  und  schmäht   den    Galiläer.     Die  Lokalfarbe  seiner  Dich- 
tung   ist    ernster,    sorgfältiger    als    bei    den    Romantikem,    die    im    Über- 
schwange   der  Phantasie    .so    oft  übereilt   zu  falschen  Farben  griffen.     Das 
üppige  Kolorit  Lecontes  erscheint  oft  gelehrt,  studiert,  wie  das  Flauberts: 
man  meint  oft  Verse  zu  „Herodias"  oder  „SalammbA"  zu  hören.    Auch  die 
Häufung    der    exotischen    Namen    verrät    das   Gewollte    dieser  gelehrten, 
aristokratischen    Dichtung,    die,    eigenwillig,   dem   Leser   in    keiner   Weise 
entgegenkommt;  die  aber,  der  Erweiterung  der  Wi.ssenschaft  entsprechend, 
nicht   mehr   bloß    Philologendichtung   ist,   wie    einst   die   Poesie  Ronsards, 
sondem    auch    Ethnologie    und    Zoologie,    nicht    nur    „poemes    antiques", 
sondem  auch   „poemes  barbares"   umfaßt.     Wenn  Leconte   die  Berührung 
mit  dem  Meinungsstreite   des  Tages   als    vulgär  meidet,   so  sucht  er  doch 
den  Zusammenhang  mit  der  Wissenschaft.    Von  der  neuen  Wissenschaft  ge- 

24  • 


\1^ 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


leitet  soll  die  neue  Kunst  die  Menschheit  neu  darstellen.  Diese  neue  Wissen- 
schaft aber  hat  den  Menschen  aus  seiner  privilegierten  Stellung,  die  er 
bisher  im  Zentrum  der  Schöpfung  eingenommen,  hinausgedrängt  und  die 
ursprüngliche  Einheit  der  organischen  Welt  entwickelungsgeschichtlich  er- 
wiesen. Nun  sollte  auch  die  neue  Dichtung  den  Weg  der  Wissenschaft 
gehen  und  aufhören  „anthropozentrisch"  zu  sein.  Sie  sollte  die  große 
Einheit  des  Lebens  aufweisen,  das  durch  die  Tierwelt,  durch  die  prä- 
historischen Zeiten,  durch  untergegangene  und  exotische  Kulturen  flutet 
und  alles  in  den  nämlichen  Kreislauf  des  Genießens  und  Leidens  zieht. 
Es  ist  die  selbe  naturwissenschaftliche  —  hier  optimistische,  dort  pessi- 
mistische —  Weltanschauung,  es  ist  der  nämliche  „Naturalismus",  der 
Vignys  „La  mort  du  loup"  (1843),  Michelets  „Oiseau"  (1856)  und  Lecontes 
„Vipere"  geschaffen  hat:  die  nämliche  Sympathie  mit  der  ganzen  unteil- 
baren Schöpfung.  Der  Naturalismus  führt  auch  in  der  Lyrik  dazu,  das 
Ich  aus  seiner  herrschenden  Stellung  zurückzudrängen  und  es  den  Lebens- 
gesetzen, w^elche  die  Wissenschaft  entdeckt  hat,  unterzuordnen. 

So  hat  Lecontes  Lyrik  gleichsam  drei  Komponenten:  Cheniers 
Hellenismus,  den  pessimistischen  Naturalismus  des  alternden  Vigny  und 
die  Formenpracht  des  Malers  Gautier.  Dabei  reiht  Leconte  ein  Lebens- 
und Kulturbild  an  das  andere,  durchwandert  Zeiten  und  Länder  und 
schafft  eine  pessimistische  Epopöe  des  Lebens,  wie  Hugo  in  der  „Legende 
des  siecles"  eine  optimistische  Epopöe  der  Menschheit  begonnen  hatte. 
Solch  epische  Einkleidung  lyrischer  Stimmung  war  übrigens  nicht  neu: 
Lamartine  hatte  schon  in  den  dreißiger  Jahren  dafür  das  Beispiel  gegeben. 
Nun  ist  es  fesselnd  zu  sehen,  wie  die  beiden  Dichter  Hugo  und  Leconte, 
die  zwei  verschiedene  Kunst-  und  Weltanschauungen  verkörpern  —  der  alte 
Romantiker  in  seinem  Exil  auf  Guernesey  und  der  Parnassien,  der  um 
1860  die  Jugend  um  sich  schart  —  ihr  hohes  poetisches  Können  an  die 
Lösung  ähnlicher  Aufgaben  setzen.  Frankreich  verdankt  diesem  Wett- 
eifer machtvolle  und  originelle  Schöpfungen.  Der  Zeit  entsprach  Lecontes 
Kunst  besser;  er  wurde  der  Führer  der  neuen  Lyrik. 
Der  „Parnasse"  Unter    Seiner  Ägide    erschien  1865,    und    von    neuem   i86g    und   1876, 

„Le  Parnasse  contemporain,  recueil  de  vers  nouveaux"  mit  Beiträgen  von 
mehreren  Dutzend  Poeten.  Der  Titel,  der  von  C.  Mendes  stammt,  ward 
zur  Devise.  Die  Mitglieder  dieses  „Parnasse"  haben  einen  gemeinsamen 
Zug;  eine  förmliche  Schule  bilden  sie  nicht.  Dieser  gemeinsame  Zug  ist: 
die  Ablehnung  jener  Formlosigkeit,  zu  der  schon  Lamartine  und  Musset 
das  Beispiel  gegeben,  und  der  Kampf  gegen  die  gedankliche  und  formelle 
Zuchtlosigkeit,  die  im  Gefolge  Hugos  bei  seinen  turbulenten  Nachfolgern 
überwucherte.  Das  Dichten  sollte  aus  einem  Schwelgen  und  Delirieren 
wieder  eine  Arbeit  werden;  zum  Poeten,  der  „wie  der  Vogel  singt",  sollte 
wieder  der  selbstbewußte  Künstler  treten,  der  Wort  und  Gefühl  meisterte, 
statt  sich  von  ihnen  meistern  zu  lassen.  So  hatten  einst  Ronsard  und 
Dubellay   des   ungelehrten  Marot  Formlosigkeit  mit   Eifer  bekämpft.     Die 


und  die 
Pomassiens. 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  xTl 

Ablehnung  aller  Banalität  der  Form,  die  Betonung  einer  strengen  Technik 
ist  den  Parnassiens  gemein.sam  und  ihr  „Parna.s.se"  schließt  einen  großen 
Reichtum  herrlicher  Sprachkunst  in  sich.  Sie  reagieren  gegen  die  Romantik. 
Aber  im  übrigen  welche  Verschiedenheit  in  dieser  sogenannten  „Ecole 
parnassienne"! 

Die  einen  folgten  Leconte  de  Lisle  mit  seiner  aristokratischen  Poesie. 
So  L^on  Dierx  und  H6r6dia,  beide  Söhne  der  Tropen  wie  ihr  Meister 
und  beide  sehr  große  Künstler,  Leconte  völlig  ebenbürtig.  H6r6dia  bildet 
fast  nur  noch  Sonette;  er  zwingt  seine  Kunst  ganz  in  diese  straffe  Form 
und  schafft  im  Laufe  von  30  Jahren  ein  Hundert  leuchtender  Kleinodien, 
deren  Schrein  er   1893  „Les  Troph^es"  überschreibt. 

Andere,  wie  Sully  Prudhomme,  verfolgten   das  hohe  Ziel  der  Ver-       s»uy 

P  ffti  (4  Kit  fn  mJi 

bindung  von  Poesie  und  Wissenschaft  und  wollten  mit  edlem  Streben  und 
vornehmer  Kunst  aus  der  Dichtung  eine  Führerin  des  Menschen  auf  dem 
Wege  zu  einer  modernen  Weltanschauung  machen.  Doch  sucht  schon 
die  Mitwelt  die  Lehre  des  würdigen  und  tatkräftigen  Pessimismus  Sully 
Prudhommes  mehr  in  seinen  kleinen  Gedichten,  die  der  Darstellung  des 
inneren  Lebens  gewidmet  und  von  des  Dichters  Persönlichkeit  ganz  erfüllt 
sind.  Hier  steigt  er,  vom  milden  Schein  der  Traurigkeit  geführt,  in  die 
tiefsten  Tiefen  der  Seele.  Magische  Worte  und  herrliche  Strophen  fügt 
er  zu  Gebilden  von  höchster  Zartheit  und  Feinheit  zusammen,  deren  sym- 
bolische Bedeutung  der  Klarheit  der  Form  keinen  Abbruch  tut. 

Diese  Klarheit  der  Form,  die  Frucht  einer  zielbewußten,  unermüd- 
lichen Bearbeitung  edeln  Sprachmaterials,  das  Produkt  sprachlicher  Gold- 
schmiedkunst, ist  das  Gemeinsame  der  parnassischen  Dichtung.  Der 
„Parnasse"  war  die  technische  Hochschule  der  durch  die  Romantik 
befreiten  französischen  Dichter.  Der  Gefahr,  daß  die  künstlerische  Technik 
zu  einseitig  betont  werde,  ist  der  „Parnasse"  nicht  entgangen.  Der  Vor- 
wurf, daß  bei  der  blendenden  Wiedergabe  des  Sichtbaren  die  unsichtbare 
Welt  des  Gedankens,  des  Traumes,  der  Töne  —  kurz  die  Poesie  leide, 
ist  ihm  mit  Recht  gemacht  worden.  Und  aus  seinen  eigenen  Reihen 
entstanden  ihm  nach  1880  Widersacher  in  der  Person  Mallarm^s  und 
Verlaines. 

Früh  hatten  sich  nämlich  zu  der  klaren  kastalischcn  Quelle  des  B«oa«uir» 
Parnasses  die  trüberen  Wellen  der  Dichtung  Baudelaires  (i 821- 1867) 
gesellt  Man  braucht  für  die  „Fleurs  du  mal"  (1857)  keine  Sympathie  zu 
empfinden,  um  zu  erkennen,  daß  ihr  Verfasser  eine  bedeutsame  Erschei- 
nung in  der  Entwicklung  der  neueren  französischen  Dichtung  ist,  wäre 
es  auch  nur  deswegen,  weil  er  die  Werke  Edgar  Poes  den  Franzosen 
gebracht  (1855)  und  ihnen  Richard  Wagners  Ruhm  vorausgesagt  hat. 
Baudelaire  hat  dazu  beigetragen,  den  Sinn  für  Musik  in  der  Dichtung 
wieder  zu  erwecken;  auf  musikalischer  Eingebung  beruhen  seine  „Petits 
poemes  en  prose"  (1861),  die  so  reiche  Nachfolge  finden  sollten.  Sein  Poe 
aber  offenbarte  den  Franzosen  eine  Stimmungsgewalt,  die  den  Hoffmannschen 


374 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Zauber  in  Schatten  stellte.  Die  Angst-  und  Schreckensvisionen  Poes,  die 
in  ihrer  Kunst  und  ihrer  Aufrichtigkeit  gleich  ergreifend  sind,  bahnen 
einen  Weg  aus  der  Wirklichkeit  zu  einer  mystischen  Traumwelt,  den  dann 
Viele  gingen,  um  in  Versen  und  Prosa  das  Gruseln  zu  lernen  und  zu 
lehren.  Aber  was  bei  dem  unglücklichen  Amerikaner  die  Gebärde  und 
der  Schrei  der  Natur  war,  wurde  bei  den  Nachahmern  leicht  zur  Pose 
und  Grimasse.  Auch  Baudelaire  lernte  von  ihm  —  doch  sind  seine 
„Fleurs  du  mal"  größtenteils  älter.  Das  will  heißen,  daß  Poe  den 
Baudelaire  nicht  geschaffen,  sondern  nur  geleitet  hat.  Beide  sind,  mit 
Hoffmann,  verwandten  Wesens.  Wenn  Hoffmann  von  sich  sagt,  daß  er 
„im  Zustande  des  Delirierens,  der  dem  Einschlafen  vorausgeht,  eine 
Übereinstimmung  der  Farben,  Töne  und  Düfte  finde",  so  hört  Baudelaire 
im  Sonett  der  „Correspondances",  wie  in  langen  fernen  Echos 
Les  parfums,  les  couleiirs  et  les  sojis  se  repondent. 

Der  junge  Baudelaire  ist  eine  sensible  Künstlernatur.  Das  Verlangen 
sich  auszuzeichnen  spricht  schon  aus  seinen  jugendlichen  Paradoxen.  Er 
sah  und  fühlte  anders  als  seine  Freunde,  sagt  Gautier.  Aus  Freude  am 
Renommieren  und  Mystifizieren  hat  er  sein  Leben  wohl  zügelloser 
erscheinen  lassen,  als  es  wirklich  war.  Sicher  ist,  daß  dies  Leben  ihm 
physische  und  seelische  Zerrüttung  gebracht  hat.  Er  ist  ein  Kranker  und 
nimmt  Narkotika.  Im  künstlichen  Glück  des  Rausches  sieht  er  weite 
mystische  Horizonte  und  tiefe  Abgründe  des  Daseins.  Diese  enttäuscht 
und  verzweiflungsvoll  zu  malen,  steht  ihm  reiche  pamassische  Kunst  zur 
Verfügung.  Er  wendet  sie  mit  diabolischem  Behagen  an  die  Schilderung 
des  Ekels  seiner  Existenz  und  man  wird  den  Eindruck  nicht  los,  daß 
dieser  Künstlichste  der  Künstler  dabei  posiert.  Gewiß  hat  Baudelaire 
schöne  und  tiefe  Gedichte  geschrieben.  Er  kann  von  Liebe  und  Sterben 
singen  wie  ein  Poet;  dann  aber  schildert  er  wieder  mit  tadelloser  Mache  — 
nicht  die  Majestät  des  Todes,  sondern  das  Verrecken  und  den  Gestank 
des  Aas.  Es  ist  der  Triumph  des  Vart  pour  Vart.  Die  14  Goldspangen 
des  Sonetts  glänzen  im  Schmutz. 

Baudelaire  hat  selbst  auf  die  Zeit  des  sinkenden  römischen  Reiches 
als  auf  eine  Art  geistiger  Heimat  hingewiesen.  Er  fühlte  sich  als  Zeit- 
genosse jenes  Verfalls  {decadence)  einer  raffinierten  Zivilisation  mit  ihren 
künstlichen  Formen  eines  überreifen  Lebensgenusses.  Das  Morbide  mit 
seinem  penetranten  Parfüm,  seinem  fahlen  Glänze,  seinen  sich  zersetzenden 
Formen  zog  ihn  an.  Aus  seinen  Büchern  spricht  die  Lehre,  daß  das 
Krankhafte  vornehmer  ist  als  die  vulgäre  Gesundheit.  Der  christliche 
Mystiker  Pascal  hatte  einst  von  der  läuternden,  vergeistigenden  Krankheit 
ähnliches  gesagt,  da  sie  ihm  neue  Welten  der  Jenseitsfreude  erschloß;  dem 
Mystiker  Baudelaire  erschloß  sie  neue  Welten  irdischen  Genusses.  Aber 
auch  er  ist  gläubig.  Der  Schauer  des  Kirchenglaubens  ist  die  natürliche 
Ergänzung  seiner  Sünde  und  bildet  das  Echo  seiner  Lästerungen  und 
Verwünschungen.   Die  schwarze  Messe  bedarf  der  Liturgie  und  des  Glaubens. 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850,  37  e 

Die  Poesie,  welcher  der  RonKintismus  und  der  „Parnasse"  die  ganze 
innere  und  äußere  Welt  erschlossen  hatten,  fing  mit  dem  kranken  (nevrose) 
Baudelaire  an,  bis  an  die  Grenzen  dieser  Welten  vorzudringen.  Wie 
harmlos  erscheint  von  hier  aus  die  Poesie  des  Grotesken,  für  deren  Recht 
der  gesunde  Hugo  einst  so  stürmisch  kämpfen  mußte;  wie  harmlos  die 
schlichten  Klagen  des  unglücklichen  Musset,  Auch  seine  Dichtung,  wie 
die  Heines,  war  dem  Leiden  entstiegen,  das  ja  der  tiefste  Quell  aller 
Poesie  ist.  Aber  Baudelaire  hat  mit  seinen  kranken  Nerven  auf  Eindrücke 
künstlerisch  reagiert,  die  bis  jetzt  bei  allen  andern  nur  kunstwidriges 
Unbehagen  hervorgerufen  hatten. 

Seine  Kunst  ist  der  literarische  Ausdruck  der  Neurose.  Als 
einzelner  Krankheitsfall  sind  Mann  und  Werk  zunächst  wie  etwas 
Seltsames,  Unerhörtes  angestaunt  worden.  Dann  wurde  es  offenbar,  daß 
hier  nur  das  Sympton  einer  allgemeinen  Erkrankung  der  Zeit  vorlag. 
Denn  Baudelaires  Beispiel  wirkte  kontagiös.  Bei  der  Generation,  die  auf 
den  großen  Krieg  folgte,  fand  er  Schüler,  für  welche  Champsaur  den 
Namen  „Decadents"  aufbrachte.  Für  diese  wurde  er  ein  Lehrer  der 
Schwäche  und  Perversität.  Die  Gigerl  der  Neurasthenie  sahen  in  ihm 
die  künstlerische  Rechtfertigung  ihrer  Haltlosigkeit  und  komponierten  sich 
die  blasierte  Miene,  den  müden  Gang  und  den  wollüstigen  Tik  der  Taten- 
losigkeit. Künstlerisch  Wertvolles  ist  kaum  hervorgegangen  aus  dieser 
Schule  der  Dekadenz,  deren  Adepten  sich  als  weihrauchduftende  Dandys 
der  Sünde  gebärdeten  und  in  einem  Tempel,  den  sie  dem  Teufel  gebaut, 
zu  Gott  beteten. 

Th.  Gautier  hatte  einst  von  „robuster  Kunst"  {i'arf  robuste)  gesprochen  Die  symboiin« 
und  robust  war  bei  aller  Feinheit  die  Kunst  der  Pamassiens.  Aber  gerade 
die  Fülle  ihrer  Formen  und  der  Glanz  ihrer  Farben  führte  zur  Über- 
sättigung. Die  Extremen,  wie  Baudelaire,  ersetzten  die  robuste  Gesund- 
heit durch  Krankheit  und  Fäulnis;  die  Gemäßigten  begnügten  sich,  Fülle 
und  Glanz  des  Lebens  zu  mildem  und  die  Schärfe  der  sichtbaren  Bilder 
in  verschwimmende  Konturen  und  zarte  Farbentönc  aufzulösen.  Zu  gleicher 
Zeit  wies  England  durch  Lehre  und  Beispiel  seiner  PrärafFaelliten  vom 
Farbcnglanz  der  klassischen  Malerei  auf  die  zarte  innige  Kunst  der 
Primitiven  hin.  Das  Auge  war  gleichsam  müde  geworden.  Es  schloß 
sich  und  der  Blick  wandte  sich  nach  innen.  Schon  Baudelaire  und  Sully 
Prudhomme  hatten  das  Beispiel  dieser  „innem  Beobachtung"  gegeben. 
Dieser  hatte  melancholische  Lebensfreude,  jener  quälende  Lebensangst 
dargestellt  Andere,  weniger  glänzende  Dichter  der  vic  inivrüurc  hatte 
es  immer  gegeben,  z.  B.  den  Genfer  H.-F.  Amiel,  der  seinen  Weltschmerz 
in  formlose  Verse  goß.  Nun  erschien  1883  dessen  posthumes  „Journal 
intime",  die  Beichte  eines  ganz  nach  innen  gewandten  Lebens,  eine  Beichte 
von  unerbittlicher  Aufrichtigkeit  und  fast  krankhafter  Penetration.  Amiel, 
der  in  Deutschland  gebildet  worden  war,  ist  eine  Hamletnatur,  die  bei 
dem    schmerzlichen   Zwiespalt  zwischen  Wollen    und  Vollbringen   sich    ins 


376  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Reich  der  Träume  flüchtet.  Seine  Taten  sind  des  ctats  d'äme.  Das 
Problem  seines  Lebens  gehört  zu  denen,  die  mit  VorUebe  germanische 
Darsteller  beschäftigt  haben.  Der  große  Erfolg  seines  „Journal"  bedeutet 
einen  neuen  kräftigen  Einschlag  deutschen  Geistes.  Wagners  Tongewalt 
entfesselte  das  Sehnen  nach  musikalischer  Gestaltung  der  vie  Interieure 
und  das  Beispiel  des  Volksliedes  mit  seiner  musikalischen  Technik  und 
seinem  Stimmungsgehalt  wurde  wirksam.  Hier  wurde  der  poetische 
Reichtum,  der  in  dem  herrUchen  Volksliederschatz  Frankreichs  ruht,  zum 
erstenmal  literarisch  fruchtbar. 

So  schloß  sich  gleichsam  das  Auge  des  französischen  Dichters.  Er 
begann  nach  innen  zu  lauschen  —  auf  Melodien  zu  lauschen,  die  aus  dem 
Reich  der  Träume  zu  ihm  herüberdrangen.  Die  Lyrik  war  lange  malerisch 
(visuell)  gewesen;  nun  wurde  sie  musikalisch  (auditiv).  Lamartine  kam 
wieder  zu  Ehren. 

Die  neuen  Poeten  nahmen  die  ganze  Unbestimmtheit  und  Ungebunden- 
heit  der  musikalischen  Suggestion  für  sich  in  Anspruch.  Wie  die  Roman- 
tiker einst  gegen  die  Fesseln  des  Klassizismus  revoltiert,  so  revoltierten 
diese  Modernen  gegen  die  technische  Zucht  des  „Parnasse".  Freiheit  der 
Form!  hieß  es  von  neuem.  Und  diesmal  ging  die  Forderung  viel  weiter 
als  1830  —  bis  zur  völligen  Auflösung  der  Form.  Denn  nicht  nur  das 
gute  Recht  des  poeme  en  prose  und  seiner  rhythmischen  Prosa  wurde 
gefordert,  sondern  der  französische  Vers  selbst  wurde  von  der  Tradition 
gelöst.  Es  fielen  mit  Verlaines  „Sagesse"  1880  nicht  nur  seine  letzten 
Fesseln,  sondern  auch  seine  natürliche  Ordnung  wurde  schließlich 
zerstört.  Der  Aufbau  wurde  völlig  frei,  die  Mischung  kurzer  und  langer 
Zeilen  völlig  regellos.  Und  seit  G.  Kahns  „Les  palais  nomades",  1887, 
wurde  der  Vers  geradezu  auseinandergezerrt,  ausgerenkt  und  gebrochen. 
Für  diese  amorphen  Gebilde  kam  die  Bezeichnung  „vers  libres"  auf,  mit 
der  einst  bloß  jene  bescheidenen  Freiheiten  benannt  worden  waren,  deren 
Lafontaine  und  Moliere  sich  bedient  hatten.  Es  herrschte  keine  allgemein 
verbindliche  metrische  Vorschrift  mehr.  Es  herrschte  ausschließlich  das 
individuelle  Gefühl,  der  „musikalische  Gedanke"  des  Poeten.  Der  Reim 
wurde  aus  seiner  sonoren  Herrschaft  verdrängt  und  neben  bloßer  Assonanz 
und  Alliteration  als  willkommenes  Klangelement  frei  verwendet.  So 
persönlich  wurde  diese  rhythmische  Form,  daß  sie  dem  allgemeinen 
Empfinden  sich  entzog  und  ihr  Genuß  auf  den  Kreis  der  Eingeweihten 
{vers-libristes)   sich  beschränkte. 

Der  Form  folgte  der  Lihalt.  Bild  und  Gedanke  verflüchtigten  sich. 
Sie  sollten  nicht  schildern  noch  erklären,  sondern  bloß  andeuten  und 
anklingen.  Der  Dichter  sollte  in  Symbolen  reden  [symboliste)  —  was 
schließlich  ja  alle  Kunst  tut,  was  aber  von  den  Poeten  dieses  „dolce  Stil 
nuovo"  unter  ängstlicher  Vermeidung  der  expression  direde  in  einem 
besonderen  ätherischen  Verfahren  geübt  wurde.  Nicht  bestimmte  Vor- 
stellungen,   sondern    nur   Empfindungen    {etats    d'äme)     sollten    im    Leser 


F.  Das  19. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^-7 

geweckt  werden  und  am  Ende  kleidete  der  Poet  seine  Träume  überhaupt 
nicht  mehr  in  zusammenhängende  Sätze,  sondern  hing  sie  an  bloße  Wort- 
klänge, bei  deren  vagem  Schall  nun  auch  der  Leser  den  Traum  nach- 
träumen sollte  —  wenn  er  konnte.  Das  Gedicht  ward  gleichsam  zum 
Musikstück,  das  nicht  mehr  verstanden,  sondern  nur  noch  gefühlt  werden 
sollte,  und  dem  Hingeweihten  verbanden  sich  die  Klänge  mit  Farben-  und 
Duftvisionen  (Synästhesien). 

So  überschritten  die  Individualisten  der  „Poesie  nouvelle"  mit  ihren 
freien  Versen  und  ihrer  Schwer-  oder  Unverständlichkeit  vielfach  die 
Grenzen  der  Dichtkunst  und  weckten  berechtigten  Spott.  Die  Formlosig- 
keit und  Dunkelheit,  der  sie  verfielen,  ist  nicht  lateinische  Tradition.  In 
ihrem  Mißbehagen  hat  die  französische  Kritik  nicht  ohne  Grund  darauf 
hingewiesen,  daß  unter  diesen  neuen  Poeten  die  frauzösisierten  Ausländer, 
besonders  germanischer  Schattierung  (Belgier,  Amerikaner)  stark  vertreten 
sind.  Es  handelt  sich  tatsächlich  um  eine  kosmopolitische  (germanische) 
Krisis  der  französischen  Lyrik. 

Die  Literaturgeschichte  nennt  diese  Dichter  die  Symbolisten.  Sie 
selbst  haben  den  Namen  einst  approbiert  (1885);  doch  ziehen  sie  heute 
die  vagere  Bezeichnung  der  „Poesie  nouvelle"  vor.  Mit  Decadents 
mag  die  krankhafte  Abart  des  Baudelairisme  benannt  bleiben. 

Der  Bahnbrecher  des  Symbolismus  ist  Verlaine,  den  das  Leben  vom  verUiaa. 
schmalen  Kunstpfade  Lecontes  und  Banvilles  abgedrängt  hat  Einem 
Schüler,  H.  de  R^gnier,  der  ihn  um  technische  Anleitung  bat,  schrieb 
er:  Tout  est  bei  et  bon  qui  est  bei  et  bofi,  (Tou  qicil  victnic  et  par  quclque 
proccde  qti'il  soif  obtenu.  Dieser  Freiheitslehre  hat  er  in  einem  „Art 
po6tique"  von  36  Vierzeilern  einige  Richtlinien  beigefügt:  De  la 
musiqiie  avant  tonte  chose  .  .  .  pas  la  couleur,  rien  que  la  nnance.  Er 
empfiehlt  den  kapriziösen  Rhythmus  der  Verse  mit  ungerader  Silbenzahl 
(^L^ers  impairs),  den  leichten  Reim.  Er  verdammt  den  Esprit  und  die 
Rhetorik  des  disconrs  en  verSy  die  das  poetische  Helldunkel  zerstörten. 
Manches  hört  sich  wie  ein  Echo  der  schlichten  Technik  des  Volksliedes. 
Aus  dem  Schmutz  und  Elend  seines  Lebens,  das  ihn  von  der  Kneipe  ins 
Gefängnis  und  Krankenhaus  führte,  hat  dieser  moderne  Villon  in  lichten 
Tagen  und  in  den  Zeiten  wahrer  Reue  Lieder  ergreifender  Sehnsucht, 
erschütternder  Klagen  und  naiven  Herzensglaubens  zu  Gott  und  Menschen 
ausgesandt.  Er  ist  ein  Schöpfer  wunderbarer  Rhythmen  und  keiner  hat 
in  Frankreich  mehr  als  Verlaine,  der  „Poete  maudit",  den  Ton  des  Volks- 
lieds getroffen.  Mallarme  hat  im  Gegensatz  zu  Verlaine  das  Beispiel  M*u*rmo. 
persönlicher  Würde  gegeben.  Der  Träumer  hat  die  Dichtung  aus  dem 
Lande  der  schönen  Verse  und  der  rhythmischen  Prosa,  wo  er  selbst  sehr 
wohl  zu  Hause  war,  hinübergeführt  ins  Xebelreich  der  bloßen  Klänge  und 
der  Unverständlichkeit.  Er  hat  die  Preziosität  des  Symbolismus  theoretisch 
und  praktisch  begründet  Andere  sind  ihm  zögernd  oder  entschlossen 
gefolgt  und   ihre   Extravaganzen  haben   den   Symbolismus   kompromittiert. 


378  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Die  „Poesie  Die  begabtesten,  wie  H.  de  Regnier  und  Ch.  Guerin,  sind  bald  davon 
nouveUe".  zuTÜckgekommen  und  schenken  uns  Lieder,  die  von  freiem  Baue  sind, 
ohne  die  Verständlichkeit  ihres  Rhythmus  zu  gefährden,  und  die  voller 
Harmonie  und  Stimmungsgehalt  sind  ohne  die  Verständlichkeit  des  Ge- 
dankens zu  zerstören.  Dabei  kann  man  bemerken,  wie  die  Verwendung 
kunst-  und  zwangreicher  Gebilde  [ballades,  rondeaux  etc.)  schwindet.  Nur 
das  Sonett  bleibt. 

Es  ist  das  Verdienst  der  germanischen  Krise,  die  der  Symbolismus 
der  französischen  Poesie  gebracht  hat,  daß  Sinn  und  Verständnis  für  eine 
freiere  poetische  Technik  geweckt  und  so  für  eine  neue  Lyrik  Platz  ge- 
schaffen ist.  Die  unromanischen  Übertreibungen,  die  mit  untergelaufen 
sind,  werden  von  selbst  verschwinden.  Übrig  bleiben  wird  ein  lyrischer 
Vers,  der,  verrosteter  Fesseln  ledig,  sich  dem  Gedanken  und  der  Stimmung 
freier  anschmiegt,  der  des  Füllsels  der  Rhetorik  nicht  bedarf,  der  Hiat, 
Silbenzahl,  Zäsur  und  Reim  frei  zu  behandeln  wagt  {voix:loi;  /leur: 
demeiire;  Paris : patrie),  wie  dies  im  Geist  der  lebendigen  Sprache  liegt 
—  ein  Vers,  der  gleichsam  von  der  chmison  fopitlaire  gelernt  hat.  Auch 
Parnassiens  wie  Sully  Prudhomme  kamen  schließlich  dazu,  diese  Frei- 
heiten zu  billigen  und  bedauerten,  ihnen  so  lange  widerstrebt  zu  haben. 
Ein  solcher  biegsamer  Vers  wird  in  Zukunft  auch  imstande  sein,  Stimmen 
fremder  Völker  wiederzugeben  und  z.  B.  Heines  „Klinge  kleines  Frühlings- 
lied" zu  übertragen,  ohne  es  zu  travestieren.  Der  Alexandriner  und  seine 
Sippe  wird  dabei  nicht  verschwinden,  sondern  der  Franzose  wird  ver- 
schiedene Arten  der  Lyrik  achten  uud  genießen  lernen,  so  wie  wir  den 
freien  Schritt  von  „Wanderers  Sturmlied"  genießen  können,  ohne  die 
Freude  am  straffern  Bau  der  „Zueignung"  zu  verlieren. 

Und   das   wird   eine  Bereicherung  der  französischen   Kunst  bedeuten. 

Auch  das  ist  vielleicht  eine  Bereicherung,  daß  es  zurzeit  eine  herr- 
schende literarische  Schule  mit  einer  bestimmten  Doktrin  in  Frankreich 
nicht  gibt.  Aber  Dichter  gibt  es  und  es  stehen  ihnen  nicht  nur  die  neuen 
Revuen  zur  Verfügung,  die  den  Kämpfen  der  letzten  zwanzig  Jahre  ihre 
Entstehung  verdanken  {Le  Me?'cure  de  France,  La  Revue  blanche,  La 
Plume,  L' Ermitage),  sondern  auch  die  „Revue  des  deux  mondes"  bringt 
H.  de  Regniers  Gedichte  und  die  Akademie  krönt  die  Verse  F.  Greghs 
trotz  ihrer  „Fehler".  Während  Viele-Griffin  den  vers  libre  mit  subtiler 
Kunst  handhabt  und  sein  Instrument,  bald  innig  wie  ein  primitif,  bald 
bewußt  wie  ein  Virtuose  spielt,  übt  A.  Samain  eine  vornehme  Zurück- 
haltung und  erinnert  auch  durch  die  Welt  seiner  Bilder  an  die  Parnassiens. 
Andere  pflegen  neben  der  neuen  Kunst  jene  naturalistische  Lyrik,  die 
den  Stimmungsgehalt  der  Zolaschen  Welt  mit  ungeschminkter  Staffage 
und  in  der  Sprache  des  Milieus  wiedergibt  Dabei  schwelgen  einzelne  wie 
Richepin  noch  in  der  klingenden,  prahlerischen  Wortkunst  der  Romantiker. 

Eine  wahre  poetische  Bereicherung  hat  Frankreich  auch  dadurch  er- 
fahren, daß  die  Heimatkunst,  die  der  Befreiungskrieg  der  Romantik  einst 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  jyg 

geweckt,    in    dieser    zweiten   Hälfte    des  Jahrhunderts    ihre    Früchte    trug, 
besonders  im  Süden  und  im  Norden,  in  der  Provence  und  in  liol^-ien. 

Die  aus  der  Verbindung  Hämischer  und  wallonischer  Art  (;nt.standene  iuifia«. 
belgische  Nationalität  hat  seit  drei  Jahrzehnten  eine  Literatur,  die  in  ihrer 
Inspiration  und  in  ihren  Vorwürfen  belgisch  —  d.  h.  nicht  einfach  pari- 
serisch —  ist  Historiker  wie  Kurth,  Redner,  Journalisten,  Kritiker 
haben  den  Heimatgedanken  geweckt  und  gestärkt  und  die  Dichter,  be- 
sonders die  Lyriker  und  die  Erzähler,  haben  diesem  Gedanken  Flügel 
geliehen.  Die  Zeitschrift  „La  jeune  Belgique"  trägt  den  Wahlspruch: 
„Soyons  nous".  Drei  Züge  sind  es,  die  in  diesen  Poeten  als  national- 
belgisch angesprochen  werden  können:  eine  träumerisch-innige  Art,  die 
auch  bei  den  Naturaliston  durchdringt;  die  Vorliebe  für  die  malerische 
Darstellung,  namentlich  des  Kleinlebens  ä  la  T^niers,  und  eine  gewisse 
Undiszipliniertheit,  ein  Freiheitsbedürfnis,  das  leicht  zur  Maßlosigkeit  führt. 
So  besingen  die  Eigenart  ihrer  belgischen  Heimat  der  träumerische,  feine 
Rodenbach  und  der  kraftvolle  Verhaercn,  dieser  literarische  Rembrandt 
Groß  ist  die  Zahl  der  einheimischen  Erzähler;  allen  voran  tritt  ebenbürtig 
neben  C.  Meuniers  bildende  Kunst  die  epische  Kraft  C.  Lemonniers, 
des  „belgischen  Zola". 

Kräftig  tritt  der  Süden  hervor.  Dort,  und  besonders  in  dem  alten  Säd{rmnkr«4ch. 
literarischen  Kemland  an  der  Rhone,  war  die  Erinnerung  an  die  glänzen- 
den Tage  der  provenzalischen  Dichtung  und  der  politischen  Selbständig- 
keit wieder  lebendig  geworden.  Das  Land  drängte  nach  einer  eigenen 
Poesie  in  der  Sprache  der  Väter,  der  kngo  do^  die  durch  die  Sprache 
der  Franzosen  {Aer  /rancliiman)  aus  Literatur  und  Schule  verbannt  worden 
war.  Aber  diese  Icngo  iTo  war  nur  ein  Konglomerat  von  Mundarten,  die 
sich  gegenseitig  die  Führung  streitig  machten.  Da  vereinigte  der  Ruf 
Roumanilles  1854  eine  Avignoner  Dichtergruppe,  zu  der  Aubanel 
(-}•  1886)  und  Mistral  gehörten,  zu  einem  Bunde.  Sie  nannten  sich  mit 
einem  alten  Worte,  dessen  Bedeutung  nicht  klar  ist,  filibrt'^  und  begannen 
auf  Grund  der  Mundart  des  unteren  Rhonetales  mit  Hilfe  von  Neologismen 
und  Archaismen  und  einem  kunstvolleren  Satzbau  eine  neue  süd französische 
Literatursprache  zu  schaffen.  Die  l'elibresprache  ist  also  nicht  schlecht- 
hin ein  provenzalischer  Dialekt,  sondern  eine  schriftsprachliche  Erweiterung 
und  Veredelung.  Mit  Liedern  voll  südlicher  Leidenschaft  trat  Aubanel 
hervor.  Aber  die  Führung  fiel  Mistral  zu,  dessen  Idyll  von  der  kleinen 
Miriam  „Mireio"  1859  erschien.  In  zwölf  Gesängen,  die  aus  Girlanden 
kunstreicher  Strophen  aufgereiht  sind,  erzählt  der  Dichter  Glück,  Not  und 
tragisches  Ende  der  Liebe  Mireios.  Das  Leben  des  Sonnenlandes  glüht 
und  wogt,  jubelt  und  klagt  darin.  Das  Volkslied  klingt  herein.  Man 
spürt  den  Hauch  homerischer  Poesie  und  die  Nähe  der  Bibel  in  dieser 
naiven  Heimatkunst.  „Mireio"  ist  ein  Lied  überquellender  Heimatliebe. 
Das  Bestreben,  den  Ruhm  seines  Landes  zu  singen,  läßt  den  Dichter 
stellenweise   zu  lehrhaft   werden.     Aber   in   seinen  episch -lyrischen  Teilen 


380  Heinrich  AIorf:  Die  romanischen  Literaturen. 

ist  „Mireio"  ein  Werk  reiner  Poesie.  Die  folgenden  Epen  Mistrals  sind 
als  Kunstwerke  mißlungen,  aber  sie  bergen  hundert  leuchtende  Schön- 
heiten. Eine  Auswahl  seiner  Lyrik  vereinigte  er  1876  in  den  „Gold- 
inseln" {Lis  isclo  d'or),  einem  Strauß  lieblicher,  ergreifender  und  auch 
trotziger  Lieder.  Auch  hier  kehren  zwei  Themata  immer  wieder:  die 
Klage  um  das  verkannte  Vaterland  und  der  Preis  seiner  verfemten 
Sprache. 

Im  Gefolge  „Mireios"  wuchs  in  den  Kreisen  des  Felibrige  das  süd- 
liche Selbstgefühl.  Der  Gedanke  einer  größeren  Selbständigkeit  Süd- 
frankreichs gegenüber  der  gewalttätigen  Zentralisierung,  die  von  Paris 
ausgeht,  machte  Fortschritte.  Der  Albigenserkrieg  des  13.  Jahrhunderts, 
erklärte  Mistral  1867,  habe  die  „Südstaaten"  in  dem  Augenblick  getroffen, 
da  sie  auf  dem  Punkte  gewesen  seien,  unter  sich  und  mit  den  Katalanen 
einen  Vereinigten- Staatenbund  zu  bilden  von  der  Loire  bis  zum  Ebro,  von 
den  Alpen  bis  zum  Biskayischen  Meerbusen.  Wenn  diese  Geschicke  sich 
nicht  erfüllen  sollten,  wenn  das  Land  an  Nordfrankreich  fallen  mußte,  so 
durften  die  Südländer  wenigstens  wünschen,  in  ein  Bundesverhältnis  und 
nicht  in  ein  Untertanenverhältnis  zu  kommen!  „Wenn  wir  in  unseren 
alten  Chroniken,  fä.hrt  Mistral  fort,  die  Erzählung  jenes  ruchlosen  Albi- 
genserkrieges  lesen,  dann:  il  nous  est  impossible  de  ne  pas  etre  emus  dans 
notre  sang'''.  Und  über  die  Jahrhunderte  hinweg  reichen  die  Felibre  den 
Katalanen  die  Hand,  deren  „Renaiximent"  ähnliche  Ziele  verfolgte  und 
die  mit  ihnen  von  der  „idee  latine"  der  „Vereinigten  Staaten  des  Mittel- 
meers" träumten.  Es  hat  bisweilen  ein  scharfer  politischer  Wind  an  den 
Hängen  des  provenzalischen  Parnasses  geweht.  Das  Felibrige  sprach  sein 
Streben  nach  Dezentralisation,  nach  regionaler  Selbständigkeit  unmiß- 
verständlich aus,  und  die  Antwort  aus  dem  Norden  ist  nicht  immer  freund- 
lich gewesen.  Eine  einheitliche  Formulierung  hat  indessen  jenes  Streben 
nicht  gefunden.  Die  verschiedensten  Ziele  und  Stimmungen  kamen 
zum  Wort,  von  der  Freude  am  Stiergefecht  bis  zur  Forderung  politischer 
und  sprachlicher  Unabhängigkeit.  Am  einsichtigsten  ist  Mistral  vor- 
gegangen. Er  hat  in  einem  monumentalen  Wörterbuch,  dem  „Tresor  du 
felibrige"  (1878),  Sprachgebrauch  und  Sitte  seiner  Heimat  geborgen.  Er 
hat  in  Arles  ein  Landesmuseum  gegründet.  Er  hat  das  Felibrige  neu 
organisiert  und  über  den  ganzen  Süden  ausgedehnt  —  doch  ist  trotzdem 
Gascogne  und  Limousin,  Auvergne  und  Dauphine  dem  Felibretum  fast 
ganz  ferngeblieben:  sein  Zentrum  ist  das  Rhoneland.  Mistral  sammelt  gegen- 
wärtig auch  die  ganze  Märchen-  und  Sagenliteratur  seines  Volkes.  Er  ist 
Dichter,  Sprachforscher,  Antiquar,  Organisator,  Folklorist.  Die  Katalanen 
folgen  seinem  Beispiel  in  der  Förderung  heimatkundlicher  Einrichtungen 
und  Studien. 

Paris  hat  dem  Dichter  der  „Mireio"  schon  1859  enthusiastisch  ge- 
huldigt. Er  aber  hat  der  verführerischen  Hauptstadt  —  Paris,  ce  grand 
fascinateur   et   ce  grand  voleur,    wie   Roumanille    sagte    —    gelassen    den 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach   1850.  ^gl 

Rücken  gekehrt  Die  Werbungen  der  Academie  fran^aise  hat  er  ent- 
.schiedon  abgewiesen.  Er  ist  seiner  Heimat  in  Dichtung  und  Wahrheit 
treu  geblieben.  Paris  aber  hat  aus  dem  FeUbretum  vielfach  eine  Spielerei 
gemacht. 

Gewiß  birgt  die  Sache  des  Felibrige  viele  Illusionen.  Ihre  Verfechter 
tragen  der  modernen  Welt  zu  wenig  Rechnung.  Ihr  römischer  Katho- 
lizismus ist  eine  künstlerische  und  eine  kulturelle  Schranke  —  das  hat 
Aubanel  erfahren.  Es  ist  dem  Felibrige  nicht  gelungen,  den  ganzen  Süden 
zu  einigen,  denn  der  berechtigte  Partikularismus,  aus  dem  es  geboren,  hat 
in  seinem  eigenen  Schöße  partikularistische  Strömungen  und  Rivalitäten  er- 
zeugt. Das  Streben,  auf  dem  Boden  P'rankreichs  eine  zweite  ebenbürtige 
Schrift.'^prache  erstehen  zu  lassen,  beruht  auf  einer  Verkennung  des  Laufes 
der  Welt,  der  unaufhaltsam  die  sprachlichen  Minderheiten  zermalmt  und 
zur  Bildung  großer  Einheiten  drängt. 

Schöne  Lieder  soll  das  Felibrige  seinem  Süden  und  der  Welt  schenken. 
Die  Heimatforschung  soll  es  fördern.  Ein  kräftiges  regionales  Leben  soll 
es  in  Frankreich  anbahnen  und  die  H)'pertrophie  der  Hauptstadt  sanieren 
helfen:  Lieder,  Heimatkunde  und  Dezentralisation,  das  werden  seine  besten 
Früchte  bleiben. 

Das  literarische  Leben  der  französischen  Schweiz  {Suissr  romande)  Di«  Schweix. 
ist  weniger  schöpferisch.  Ihre  Lyrik  dringt  kaum  über  die  Grenzen  der 
Heimat,  obwohl  sie  begabte  Sänger  hat  und  ihr  Lied  mannigfaltig  ist.  Sie 
i.st  ein  Echo  der  schönen  Natur  des  Landes.  Sie  hat  den  Reiz  des 
Intimen,  schlingt  sich  um  den  häu.slichen  Herd  und  die  Stimme  des  Kindes 
durchklingt  sie.  Protestantismus  und  Verschwisterung  mit  der  deutschen 
Schweiz  geben  ihr  manchen  germanischen  Zug  und  ihr  Vers  entbehrt  oft 
französischer  Eleganz.  Ihre  neuesten  Dichter  aber  pflegen  die  kunstvolle 
Form  nach  dem  Vorgange  der  Poesie  nouvelle.  Der  Aufgabe,  eine  Ver- 
mittlerin deutschen  und  romanischen  Geistes  zu  sein,  ist  die  Suisse  romande 
treu  geblieben.  Sie  hat  mit  Amicl  einen  stillen  aber  erfolgreichen  Boten 
ausgesandt. 

Auch  jenseits  des  Ozeans,  in  Kanada,  gibt  es  ein  französisches  Kan«d«. 
Schrifttum.  Kräftig  blüht  dort  in  der  Provinz  Quebek  die  Deszendenz  der 
alten  französischen  Kolonisten  inmitten  der  angelsächsischen  Welt.  Kräftig 
ebt  in  den  Fran^ais  canadiens  die  Liebe  zum  französischen  Mutterlande. 
Aus  ihr  fließt  die  poetische  Inspiration  des  Kanadiers.  Indessen  trägt  das 
bescheidene  Schrifttum,  das  erst  wenige  Jahrzehnte  alt  ist,  die  Züge  der 
Isolierung.  Diese  Kolonie  Frankreichs  hat  in  der  Diaspora  zu  lange  des 
Zusammenhangs  mit  der  Romania  entbehrt:  sie  liegt  an  den  Ufern  des 
Lorenzo  gleich  einem  vergessenen  Stück  des  katholischen  IVankreich  des 
17.  Jahrhunderts.  Wie  ihr  Französisch,  so  ist  auch  ihre  Literatur  unmodern 
und  von  fremden  Elementen  durchsetzt  L.  Fr^chette,  den  die  Heimat 
und  die  französische  Akademie  (1880)  als  den  größten  kanadischen  Dichter 
feiern,    ist    ein  Nachahmer  V.  Hugos.     Man    ist    in  Kanada    noch    bei    der 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen, 


die  Novelle. 


G.  Flaubert. 


Romantik.     Im  kanadischen  Lied  ist  weder  die  abenteuerreiche  Geschichte 
des    Landes,    noch    die   Eigenart    von   Natur    und    Leben    zu    spontanem 
künstlerischen  Ausdruck  gekommen.  — 
Der  Roman  uad  Wenn  die  Romantik  ihren  Ausdruck  vorzüglich  in  lyrischer  Dichtung 

gefunden  hat,  so  bedient  sich  der  Naturalismus  mit  Vorliebe  der  epischen 
Gestaltung.  Die  repräsentative  Form  der  Romantik  war  die  Lyrik;  die 
des  Naturalismus  ist  der  Roman.  Er  setzte  1856  mit  einem  Meisterwerk 
ein:  mit  „^Madame  Bovary,  moeurs  de  province"  von  G.  Flaubert. 

Als  „Madame  Bovary"  erschien,  war  das  Nahen  einer  neuen  lebens- 
wahren Kunst,  welche  die  erschöpfte  Romantik  endgültig  ablösen  sollte, 
dem  Publikum  bereits  angekündigt,  wenn  dieses  auch  für  solche  Kunst  noch 
nicht  gewonnen  war.  Die  „Revue  de  Paris"  hatte  1853  unter  dem  Titel 
„La  liquidation  litteraire"  einen  Artikel  Ulbachs  gebracht:  die  Literatur 
habe  von  nun  an  entschlossen  das  Erbe  Balzacs  anzutreten  und  diesem 
Meister  der  Anatomie  und  Physiologie  zu  folgen,  um  gleich  ihm  Werke 
zu  schaffen  qu'on  ouvre  avec  cette  äcre  ciiriosite  qiie  donne  Tappetit  des 
mysteres  de  la  viort  et  de  la  honte  humaine.  Und  1855  hatte  der  Maler 
Courbet  eine  Ausstellung  seiner  Bilder  veranstaltet,  deren  Programm  ein 
naturalistisches  Manifest  war,  das  allem  Akademismus  den  Klrieg  erklärte. 

Flauberts  Roman  ist  die  Lebensgeschichte  eines  Landarztes  aus  der 
Umgebung  von  Rouen,  der  an  seiner  Frau  zugrunde  geht.  Diese  Bauern- 
tochter hat  in  klösterlicher  Pension  eine  „gute  Erziehung"  erhalten.  Aus 
wahlloser  Lektüre  hat  ihr  müßiger  Kopf  sich  ein  irrationelles  Bild  des 
Lebens  gemacht,  dem  die  Alltäglichkeit  ihres  Ehedaseins  nicht  entspricht. 
Unbefriedigt  träumt  sie  von  einem  Unbekannten,  wie  es  den  Heldinnen 
ihrer  Bücher  zuteil  geworden  et  la  legioii  lyriqiie  de  ces  femmes  adulteres 
se  mit  a  ckanter  dans  sa  memoire  avec  des  voix  de  sceurs  qui  la  charm,aient. 
Diese  romantische  Sentimentalität  bringt  sie  zu  Fall.  Das  ist  die  „education 
sentimentale"  der  Frau  Bovary.  Vom  romantischen  Sündenfall  sinkt  sie 
—  nach  einer  religiösen  Klrisis  —  zum  vulgären  Liebesabenteuer.  Et  eile 
retrouuait  dans  Fadultere  toutes  les  platitudes  du  mariage.  Vor  dem  öko- 
nomischen und  moralischen  Zusammenbruch  ihrer  Existenz  flüchtet  sie  in 
den  freiwilligen  Tod.  Figuren  des  vulgärsten  Alltags  umgeben  die  vul- 
gären Helden  dieses  Buches  —  vom  lupuskranken  Bettler  bis  zu  seinem 
Quälgeist  Homais,  dem  unausstehlichen  Bildungsphilister.  Jegliche  Art 
von  Größe  fehlt. 

Der  Roman  erweckte  Aufsehen.  Der  Staatsanwalt  schritt  im  Interesse 
der  „öffentlichen  imd  der  religiösen  Moral"  ein.  Aber  Gericht  und 
Publikum  schützten  das  Kunstwerk,  das  durch  die  mitleidlose  Wahrheit 
und  die  furchtlose  Kühnheit  seiner  Lebensbilder,  durch  seinen  feinziselierten 
Stil  und  seine  geschlossene  Komposition  die  Erzählungen  Balzacs  übertraf. 

Der  dreißigjährige  Autor  sagt  von  sich  selbst,  daß  in  ihm  zwei 
Künstler  leben:  ein  romantischer  Lyriker  und  ein  Realist  qui  creuse  et 
qui  fouille  le  vrai  tant  qu'il  peut,  qui  aime  a  accuser  le  petit  fait  aussi 


F.  Das  19. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^83 

puissammcnt  que  le  grand,  qui  voudrait  vous  faire  scntir  presqne 
matcrielUmcnt  Ics  choscs  qu'il  reproduif.  Romantiker  und  Realist  —  an 
diesem  Zwiespalt  litt  Flaubert.  Das  Protokoll  dieser  innern  Kämpfe  sind 
seine  Briefe.  Ihre  widerspruchsvollen  Urteile,  ihre  Aufgeregtheit,  ihr 
Poltern  und  Schimpfen  verraten  das  innere  Mißbehagen.  „Je  ne  dtcolere 
pas"',  sagt  er  einmal  und  um  mit  scherzhaftem  Nachdruck  zu  versichern, 
daß  er  indigniert  sei,  liebt  er  es  HHHindigtU  zu  schreiben.  Wir  wissen, 
daß  er  krank  war.  Sein  Arzt  nannte  ihn  „une  femme  hyst^rique"  und  er 
findet  das  zutreffend. 

Die  Romantik  war  die  Liebe  seiner  Jugend.  Er  liebt  V.  Hugo  und 
wettert  gegen  ihn;  er  teilt  seine  Abneigung  gegen  den  „alten  Tintenkleckser 
Boileau"  und  sagt  von  Bossuet:  Faigle  de  Menux  mc  parait  dccidement 
une  oic.  Der  Alternde  schloß  eine  Herzensfreundschaft  mit  G.  Sand,  die 
ja  auch  eine  romantische  Sentimentale  war,  wie  die  arme  Bovary.  Flaubert 
nennt  sich  selbst  „une  äme  sensible".  Diese  Sentimentalität  hält  er  als 
Erzähler  unter  Schloß  und  Riegel.  In  der  autobiographi.schen  „Education 
sentimentale,  histoire  d'un  jeune  homme"  hat  er  inmitten  eines  Bildes  der 
französischen  Gesellschaft  von  1840—50  ausgeführt,  wie  die  Vulgarität  des 
Lebens  die  romantischen  Träume  der  Jugend  elendiglich  zerstört  und  wie 
der  Philister  {bourgeois)  den  Geist  ertötet.  So  ist  in  ihm,  mit  dem  Haß 
gegen  den  unkünstlerischen  Alltag  und  seine  Vertreter,  die  Überzeugung 
entstanden,  daß  der  Künstler  die  Berührung  mit  dem  Leben  dieses  Alltags 
zu  meiden  habe  und  daß  das  Zurücktreten  des  Künstlers  eine  Bedingung 
der  Vornehmheit  des  Kunstwerks  sei.  Er  schafft  sich  eine  eigentliche 
Kunstreligion.  Sinn  für  Xatur  hat  er  nicht;  ein  Land  interessiert  ihn  nur 
archäologisch.    Das  zentrale  Dogma  seiner  Kunstreligion  ist:  tart pour  Tart. 

L'art,  schreibt  er  gegen  G.  Sand,  ne  duit  scrvir  de  ehaire  a  aucune 
doctrine  sous  peine  de  dc'c/ioir.  Der  Inhalt  ist  indifferent  —  die  Form  ist 
alles.  Nie  werde  man  von  ihm,  Flaubert,  sagen,  „daß  seine  Werke  im 
Dienste  einer  erhabenen  Aufgabe  stehen  —  non,  il  ne  faut  chantcr  que 
pour  clianter!'-^  Er  möchte  am  liebsten  das  Kunstwerk  vom  Stoff  ganz 
emanzipieren  und  ein  Buch  ohne  Inhalt  {un  livre  sur  rien)  schreiben,  das 
eitel  Stil,  eitel  Schönheit  wäre.  So  haben  ihn  auf  der  Akropolis  einst  die 
Linien  einer  nackten  Mauer  so  freudig  ergriffen,  daß  er  Herzklopfen  bekam. 
Der  Stil!  „Straffe  deinen  Stil  und  bilde  daraus  ein  Gewebe,  geschmeidig  wie 
Seide  und  stark  wie  ein  Panzer",  rät  er  einer  F'reundin.  „Zwinge  deine 
Gedanken  zusammen  und  schaffe  eine  Einheit  —  ohne  Einheit  gibt's  wohl 
tausend  schöne  Einzelheiten,  aber  kein  Werk!"  Ein  Werk  zu  sohatfen, 
ringt  er  selbst  in  erschöpfender  Arbeit. 

Hinter  diesem  Werk  soll  die  Person  des  Schöpfers  verschwinden.  Das 
Kunstwerk  soll  unpersönHch  sein.  Das  sentimentale  Hervortreten  des 
Autors  sei  eine  vulgäre  Schwäche.  Der  Künstler  soll  nach  dem  Vorbilde 
des  Naturforschers  sich  begnügen  zu  beobachten  —  Flaubert  füllte  Notiz- 
bücher mit  solchen  Beobachtungen  —  und  zu  beschreiben.     Schlüsse  soll 


284  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

er  nicht  ziehen.  Flaubert  stimmt  Leconte  de  Lisle  bei:  La  litter ature 
prendra  de  plus  en  plus  les  allures  de  la  science:  eile  sera  surtotit  ex- 
posante  .  .  .  avec  absence  d'idee  morale.  Auch  das  Ungeheuerliche  dürfe 
nicht  zum  moralischen  Deklamieren  führen;  wie  in  der  Natur,  so  habe  auch 
im  Kunstwerk  dieses  Ungeheuerliche  seine  Berechtigung  {la  legitimite  des 
vionstres). 

Diesen  Grundsatz  der  Unpersönlichkeit  des  Werkes  teilt  Flauberts 
Kunst  mit  dem  Klassizismus  und  das  läßt  sie  vor  den  Augen  Brunetieres 
Gnade  finden.  Wie  sehr  aber  im  übrigen  diese  naturalistische  Kunst  der 
Widerpart  der  klassischen  ist,  die  das  Sublime  sucht,  zeigt  Flauberts  Wort: 
L'ignoble  me  plait  —  dest  le  sublivie  d'en-bas. 

Aus  solcher  Kunstanschauung  heraus  schrieb  Flaubert  „Madame 
Bovary":  nul  lyrisme,  pas  de  reflexions,  la  personnalite  de  Fauteur  absetzte, 
wie  er  selbst  sagt.  In  sechsjähriger  Tortur  —  das  ist  sein  Ausdruck  — 
rang  er  seinem  Temperament  dieses  Werk  ab,  das  ihn  zwang,  „in  die 
Haut  von  Menschen  zu  schlüpfen,  die  mir  antipathisch  sind  und  in  dem 
alles  das  nicht  da  ist,  was  ich  gern  habe".  Kaum  ist  je  ein  Kunstwerk 
aus  so  gewaltsamer  Entpersönlichung  hervorgegangen.  Flaubert  ist  ein 
Märtyrer  der  Kunst. 

Von  der  Schilderung  der  heimatlichen  Gegenwart  zog  es  den  alten 
Romantiker  zur  exotischen  Vergangenheit,  zur  Karthago  Hamilkars.  Nach- 
dem er  die  Bovary  in  schimmligem  Grau  gemalt  habe,  so  erklärt  er  den 
Goncourt,  wolle  er  etwas  in  Rot  machen  (Je  veux  faire  quelquechose 
pourpre).  So  malte  er  in  glühenden  Farben  „Salammbo"  (1862),  ein  kunst- 
reiches, opernhaftes  Werk,  dem  man  die  Mühsal  seiner  Elaboration  an- 
merkt. Es  kränkte  ihn,  daß  er  für  das  Publikum  der  Verfasser  der  „Ma- 
dame Bovary",  homo  unius  libri,  blieb.  Später  kehrte  er  zur  Welt  der 
Bovar}^,  zum  Thema  Homais,  zurück,  um  die  Naturgeschichte  des  be- 
schränkten Philistertums  zu  schreiben.  Er  verkörpert  die  „betise  humaine" 
in  den  beiden  Helden  „Bouvard  und  Pecuchet",  und  belädt  die  Unglück- 
lichen mit  einer  Blütenlese  von  Binsenwahrheiten  und  Unsinn.  Aus  Hun- 
derten von  Büchern  sucht  er  mit  der  Gewissenhaftigkeit  eines  Forschers 
diese  Anthologie  zusammen.  Der  Humor,  der  allein  mit  einem  solchen 
Unternehmen  versöhnen  könnte,  geht  Flaubert  ab.  Er  ist  verbittert.  Die 
Übertreibung  macht  den  Realismus  des  Buches  unwahr  und  so  rächt  sich 
der  mißhandelte  Bourgeois  für  die  Grausamkeit  seines  Biographen.  Aus 
der  unerfreulichen  Atmosphäre  dieser  letzten  Arbeit,  die  er  übrigens  nicht 
vollendet  hat,  flüchtete  sich  Flaubert  zu  kleinen  Erzählungen  {Trois  contes, 
1877):  Die  „Legende  vom  heiligen  Julian"  ist  ihm  weniger  gelungen. 
„Herodias"  ist  in  die  Farbenglut  und  Wildheit  der  „Salammbo"  getaucht 
und  in  der  Gedrungenheit  dieser  fünfzig  Seiten  ist  der  Aufwand  sehr  ein- 
drucksvoll. Die  Jugenderinnerung  „Ein  einfältiges  Herz"  ist  die  sym- 
pathische Darstellung  obskurer  Beschränktheit,  die  mit  Güte  gepaart  ist. 
Flaubert   hat    beim   Begräbnis    der   G.  Sand  Tränen    vergossen    und    will 


F.  Das   19.  Jahrhundert.     11.   Die  Zeit  nach   1850.  ige 

nun,  wie  er  sagt,  die  andern  weinen  machen.  So  tut  er  gleichsam  Buße 
für  seine  Lieblosigkeit  und  setzt  diese  rührende  Erzählung  als  Denkmal 
auf  das  Grab  seiner  Freundin. 

Nach  den  Schlagworten  Realismus  und  Naturalismus  klassifiziert  zu 
werden,  lehnte  Flaubert  ab.  In  der  Tat  findet  ihn  ein  Haujjtartikel  des 
naturalistischen  Glaubensbekenntnisses,  die  Macht  des  Milieus  und  der 
Vererbung,  ungläubig.  Und  doch  ist  er  Naturalist  durch  seine  ganze 
Kunstübung:  durch  die  Sammlung  und  Hervorhebung  des  „petit  fait",  durch 
den  Stoff  seines  Hauptwerkes,  durch  die  Lehre  vom  wissenschaftlichen, 
unpersönlichen  Charakter  der  literarischen  Arbeit,  Flaubert  ist  mehr  Na- 
turalist als  Balzac,  für  den  er  wenig  Sympathie  hatte,  da  dessen  Un- 
sorgfältigkeiten  ihn  verletzen  mußten.  Der  stürmische  Balzac  hatte  von 
der  sprachlichen  Freiheit,  welche  die  Romantik  geschaffen,  den  kühn.sten 
Gebrauch  gemacht.  Flaubert  disziplinierte  diese  Freiheit,  suchte  aus  der 
Fülle  des  Sprachmaterials  in  gewissenhaftester  Abwägung  für  jeden  Fall 
den  präzisesten  Ausdruck,  das  eigentliche  „mot  propre"  für  die  Beschrei- 
bung und  das  „mot  naturel"  für  das  Gespräch.  So  gab  er  seinen  Nachfolgern 
das  Beispiel  sprachlicher  Ehrlichkeit.  In  Zola  begrüßt  er  einen  macht- 
vollen Künstler.  Wohl  tadelt  er  manches,  besonders  Beschreibungen, 
—  wohl  erkennt  er  im  Kritiker  Zola  den  Ignoranten  —  aber  ein  Buch 
wie  „Nana"  erscheint  ihm  als  le  livre  enorme  tfun  Jwmmc  de  gtnie  und  er 
verteidigt  es  gegen  die  Bedenken  seiner  F'reunde. 

Die  Brüder  Edmond  und  Jules  de  Goncourt  haben  Flauberts  D.r  (;-ncoart 
Naturalismus  weitergeführt,  aber  ohne  seine  große  und  kräftige  Kunst. 
Aufsehen  erwecken  sie  zunächst  —  seit  1854  —  durch  sittengeschichtliche 
Studien  über  das  Leben  des  18.  Jahrhunderts,  an  das  sie  mit  neuen 
Interessen,  mit  moderner  Neugier  herantreten:  mit  Hilfe  von  Zeitungen, 
Privatbriefen,  Rechnungen  usw.  beleben  sie  den  Alltag  des  Ancien 
Regime,  schildern  sie  seine  Möbel,  sein  Porzellan,  seine  Teppiche,  seine 
Gerichte.  Sie  entdecken  seine  Maler  und  offenbaren  seine  Frauen.  So 
geschult,  wenden  sie  sich  der  Schilderung  ihrer  Gegenwart,  dem  Roman, 
zu.  Der  heutige  Roman,  sagen  sie  1864,  ist  die  literarische  Form  der 
etujuitc  sociale:  er  ist  Diistoire  morale  contemporaine  und  als  solche:  il 
sest  ifnposv  /es  tludes  et  les  i/evoirs  de  la  science.  So  sammelten  sie  denn 
unablässig  Material  und  wurden  vorbildlich  für  die  Schriftsteller,  die  sie  als 
die  „Ecole  du  document  humain"  bezeichneten.  Sie  haben  das  System  der 
Tagesnotizen  zu  einem  förmlichen  literarischen  Reportertum  au-  '  '  '  i. 
Sie  sind  stofflich  aus  der  Welt  der  Bovary  gern  noch  tiefer  hinab;^  ,    n 

und  haben  noch  mehr  als  Flaubert,  über  dessen  Buch  schon  der  Schatten 
des  Hospitals  liegt,  das  Gebiet  des  Pathologischen  beschritten.  Mit  dem 
Roman  einer  Krankenschwester  begannen  sie  ihr  Programm  zu  verwirk- 
lichen {Sa-ur  Philom^tte  —  maurs  d'höpi/al,  setzt  Flaubert  hinzu).  Sie 
besuchen  die  Charitt^  und  ihre  Hefte  füllen  sich  mit  klinischen  Beobach- 
tungen und  Eindrücken.  Die  Geschichte  der  „Germinie  I^acerteux«*  folgt  1864. 

Dn  KiTiTvm  ov«  G(on<w«mT.  t.  11.  1.  2C 


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Heinrich  JNIorf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Die  Verfasser,  heißt  es  in  der  Vorrede,  haben  die  Wahrheit  nicht  in  der 
Gesellschaft,  sondern  auf  der  Straße  gesucht  Sie  schildern,  wie  sie  sagen, 
nicht  Liebeslust,  sondern  „la  clinique  de  l'amour":  ihre  Heldin  ist  eine 
hysterische  Dienstmagd.  Edmond  nennt  das  Buch  später:  le  livre  type  du 
naturalismc. 

Die  Brüder  Goncourt  sind  die  ersten,  die  den  Roman  als  eine  wissen- 
schaftliche Lebensbeschreibung  definiert  und  zu  verwirklichen  ge- 
sucht haben.  Sie  haben  allerdings  kein  Kunstwerk  geschaffen.  Sie  waren 
malerisch  begabte  Künstler,  deren  krankhaft  gesteigerte  Empfindungs- 
fähigkeit auf  Farben-  und  Lichtreize  und  auf  moralische  Eindrücke  heftig 
reagierte  und  die  diese  Reize  und  Eindrücke  mit  den  Mitteln  einer  ganz 
individuellen,  neologistischen,  raffinierten,  fast  gewalttätigen  Diktion 
wiedergaben.  Sie  bestrebten  sich,  sagt  Edmond,  a  spiritualiser  la  pein- 
tiires  des  choses  materielles  par  des  details  moraux  und  bedienten  sich  dazu 
einer  Sprache  voll  unakademischer  Freiheiten,  die  sie  ecriture  artiste 
nannten.  Sie  ahmen  das  gesprochene  Wort  des  erregten  Menschen  nach, 
in  welchem  die  Satzbildung  zerflattert  und  geben  damit  das  erste  Beispiel 
der  Vergewaltigimg  der  Syntax,  die  dann  zur  Kunstübung  der  Symbolisten 
wurde.  Ihre  Darstellung,  in  der  sich  Verschrobenheit  mit  intensivster 
künstlerischer  Wirkung  paart,  ist  inkohärent,  impressionistisch.  Sie  schufen 
kein  Buch,  sondern  stellten  eine  Sammlung  von  Eindrücken  zusammen. 

Die  Brüder  waren  unzertrennlich  in  Arbeit  und  Genuß.  Bei  aller 
Verschiedenheit  der  Temperamente  lebten  sie  das  selbe  Leben  und  empfingen 
sie  die  nämUchen  Eindrücke.  Durch  ihr  Tagebuch  {Journal  des  Goncourt^ 
1851  —  1895  umfassend),  in  dem  sie  alles  notierten,  von  ihren  einsamen 
Träumen  bis  zu  den  Erlebnissen  und  Äußerungen  ihres  Freundeskreises, 
sind  sie  der  Schrecken  der  Zeitgenossen  geworden,  die  darin  seit  1887 
ihre  impressionistischen  Porträts  zu  schauen  bekamen. 

Die  Goncourt  waren  nicht  schöpferisch  wie  Flaubert.  Sie  waren  und 
blieben  Sammler,  Kollektionisten  von  Kunstgegenständen,  Nippsachen, 
Eindrücken.  Ihre  Bücher  sind  ein  Museum  von  Raritäten  und  Schmuck- 
stücken, wie  ihre  Wohnung.  Der  überlebende  Bruder  hat  der  japanischen 
Kunst  Bahn  gebrochen  und  die  heutige  Forschung  anerkennt  bewundernd 
seinen  feinen  Kunstsinn. 

Die  Brüder  stellten  durch  Testament  Renten  für  zehn  unakademische 
Schriftsteller  bereit,  die  eine  durch  Kooptation  zu  ergänzende  „literarische 
Gesellschaft"  bilden  sollten.  Man  nennt  diese  heute  „L'Academie  des 
Goncourt".  Von  Zeit  zu  Zeit  hört  man  von  ihren  Preisen  und  ihren  Wahlen. 
E.Zola.  Die    zwanzig   Bände    der    „Rougon    Macquart,    histoire    naturelle    et 

sociale  d'ime  famille  sous  le  second  empire"  (1871  —  1893)  Zolas  schließen 
den  Triumph  und  den  Fall  des  naturalistischen  Romans  in  sich.  Zola 
kommt  wie  Flaubert  von  der  Romantik  her.  Die  Not  drückte  ihm  früh 
die  Feder  in  die  Hand.  Seine  ersten  Erzählungen  (1864)  verraten  die 
Jugendliebe  für  die  Romantik,  und  in  seinen  kritischen  Arbeiten  lebt  ihr 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ■tgj 

Sturm  und  Drang.  Da  offenbaren  ihm  „Germinie  Lacerteux"  und  die 
Hildcr  Courbets  und  Manets  die  Anforderungen,  die  da.s  Leben  der 
Gegenwart  an  die  Kunst  stellt,  Zola  tritt  als  Verteidiger  dieses  kecken 
Realismus  in  die  Schranken  und  erklärt,  daß  diese  reale,  materielle  Welt 
sein  ganzes  Wesen  anziehe.  Schon  1867  nennt  er  sich  einen  ecrivain 
tiaturalistt'.  Im  wirklichen  Leben  liege  die  Poesie;  dort  gelte  es,  sie  zu 
holen,  freilich  nicht  in  mechanischer  Übertragung,  sondern  in  persönli(  her 
Herausarbeitung:  une  a:uvrc  dart  est  une  personnalite. 

„Wir  stehen,  sagt  er  zur  nämlichen  Zeit,  am  Zusammenfluß  der  beiden 
großen  Strömungen  des  Jahrhunderts:  der  exakten  Beobachtung,  die  von 
Balzac  ausgeht,  und  der  kunstvollen  Rhetorik,  die  von  Hugo  kommt  Noch 
bewundert  er  Hugo.  Da  zieht  eine  dritte  Strömung  seinen  Blick  auf  sich: 
die  der  wissenschaftlichen  Forschung.  Taine  tritt  in  seinen  Gesichtskreis. 
Er  studiert  auf  der  Nationalbibliothek  die  Bücher  der  Mediziner.  Er 
„dokumentiert  sich".  Mit  einer  durch  keine  Sachkenntnis  getrübten 
Unbefangenheit  nimmt  er  die  neue  Botschaft  der  Physiologie  auf,  und 
mit  der  naiven  Sicherheit  des  Dilettanten  erklärt  er:  Je  suis  un  positi- 
viste,  un  evolutioniste ^  un  materialiste.  Mon  System  est  fherediie.  yai 
trouvc  Foutil  de  mon  ipoquc.  Je  mettrai  en  otuvre  le  positivisme,  U 
niaterialisme  et  les  hypothises  les  plus  rdcentes  de  la  sciencc.  Et  je  suis 
dien  documentc:  fai  lu  ceci,  ceci,  ccci  et  encore  ceci  ...  Je  vais  peindre 
t komme  physiologiquc.  Ma  formule  est  la  et  delle  va  naitre  un  nouvcl  art, 
uui  nouvclle  litfrrature  a  moi.  Le  uafuralisme  ce  sera  mui  fout  srul  (1869), 
Jetzt  behauptet  er  ein  Gelehrter  zu  sein.  Von  Balzac  werde  ihn  unter- 
scheiden, daß  er,  Zola,  einfach  Tatsachen  schildere  (//;/  simple  expos6  des 
faits  —  Point  d€  eonclusion),  während  Balzac  als  Politiker  und  Moralist 
die  Menschen  beurteile:  „Mein  Werk  wird  »wissenschaftliche  Arbeit« 
{(vuvre  scientifique)  sein;  ich  werde  mich  begnügen  ein  Gelehrter  zu  sein." 
Ein  Gelehrter!  Daß  dieser  Wahn  für  sein  ganzes  Leben  vorgehalten  hat, 
zeigt  Zolas  große  Naivität  Mit  mehr  Recht  würde  man  ihn  einen  Igno- 
ranten nennen  können.  Nicht  Intelligenz  noch  W^issen  zeichnet  ihn  aus, 
sondern  ein  unbeugsamer  Wille.  Je  veux  ist  das  Leitmotiv  seiner  Arbeit 
Etrc  le  plus  grand  romancier  de  mon  pays  et  de  mon  temps  .  .  .  Je  le  veux, 
schreibt  er,  als  er  an  die  Rougon  Macquart  geht,  um,  wie  da5  Schlagfwort 
bei  ihm  lautet:  das  Schema  der  modernen  Wissenschaft  auf  die  Literatur 
anzuwenden  {appliquer  a  la  litteraturc  la  formule  de  la  sciencc  mocUrne). 
Diese  „Naturgeschichte"  einer  in  Neurose,  Alkohol  und  Prostitution  ver- 
kommenden Familie  nennt  er  le  roman  experimental.  Die  aus  dem  I^ibo- 
ratorium  des  Biologen  entlehnte  Benennung  ist  bezeichnend  für  das  Miß- 
verständnis, in  welchem  Zola  sich  bewegt.  Weil  die  Wissenschaft, 
deren  Bücher  er  exzerpiert  hat,  auf  dem  Experiment  beruht,  behauptet 
er  das  nämliche  von  seiner  Schriftstellerei  und  spricht  von  „experi- 
mentieren", während  er  doch  nur  an  seinem  Schreibtisch  sitzt  und  Ge- 
schichten   erzählt      In    seiner   dilettantischen  Verallgemeinerung   der  noch 


ogg  Heinrich  Morf:  Die    romanischen  Literaturen. 

vagen  Lehren  der  Vererbung  und  der  sozialen  Bedingtheit  wird  er  ein 
Opfer  der  Metapher,  gebärdet  er  sich  als  Vivisektor,  redet  er  von  seinen 
blutigen  Händen  und  nennt  er  seine  Studierstube  ein  Laboratorium.  Er 
verwechselt  Experiment  und  Hypothese!  Die  Männer  der  Wissenschaft 
sahen  zweifelnd  auf  dieses  Gebaren,  und  nur  halb  belustigt  schrieb 
Pasteur:  il  nc  faut  pas  croire  a  rmtelligence  de  la  science  chez  tous  ceux 
qui  en  empruntent  le  langage. 

Nun  kennt  Zola  den  romantischen  Poeten  gegenüber,  die  seine  Jugend 
erfreut  hatten,  keine  Nachsicht  mehr.  Er  wettert  gegen  die  Gefühlsselig- 
keit der  Lyriker,  wie  Hugo,  deren  Idealismus  ein  Volk  auf  Irrwege  leite 
und  an  der  Niederlage  von  1870  mit  Schuld  trage.  Die  Lehre  der  Tat- 
sachen müsse  an  die  Stelle  der  folie  du  lyrisme  treten:  oit  meiert  d'ideal 
et  011  ne  vit  que  de  science.  Die  lyrische  Poesie  —  wenn  sie  nicht  über- 
haupt eingehen  werde  —  habe  fürderhin  nur  die  Rolle  eines  Orchesters: 
les  poetes  pewuent  continuer  a  nous  faire  de  la  musique  pendant  que  nous 
travaillerons. 

Jahr  um  Jahr  erarbeitete  er  nun  einen  Band  der  „Rougon  Macquart" 
von  „La  fortune  des  Rougon"  bis  zu  „Docteur  Pascal",  10  000  Seiten. 
Er  zeigt  uns  darin  programmgemäß  den  von  erblicher  Belastung  und 
Umwelt  bedingten  Menschen:  le  jeu  de  la  race  modifie  par  la  milieu  .  .  . 
je  soumets  rho^nme  aux  choses.  Und  in  der  Tat  herrschten  nicht  bloß  in 
seiner  Theorie,  sondern  auch  in  seiner  Kunst  die  „Dinge"  und  kommt 
auch  in  seiner  Kunst  der  „Mensch"  zu  kurz.  Den  Menschen  nennt  er 
selbst  eine  Drahtpuppe  {le  pantin.  humain),  deren  Mechanismus  er  bloß- 
legen wolle.  Die  Individuen,  die  Zola  schildert,  sind  Drahtpuppen  seiner 
Theoreme.  Seine  Psychologie  ist  äußerst  dürftig;  sie  begnügt  sich  mit 
einer  gewissen  typischen  Wahrheit  der  Figuren.  Aber  seine  Kunst,  zu 
beschreiben  ist  groß  und  meisterlich  seine  Fähigkeit,  die  Dinge  zu  beleben, 
denen  der  Mensch  Untertan  ist  und  das  dumpfe  Leben  der  Menge  zu 
schildern,  die  das  Individuum  umwogt  und  mit  sich  reißt.  Jene  „Dinge" 
werden  ihm  zu  persönlichen  Mächten,  werden  die  eigentlichen  Helden  der 
Handlung.  Die  Mietkaseme,  das  Warenhaus,  der  Park,  die  Kneipe,  das 
Kohlenbergwerk,  der  sausende  Eisenbahnzug,  sie  wachsen  unter  Zolas 
Hand  zu  riesigen  Gebilden  mit  mysteriösen  Kräften.  Gespenstisch  ringen 
sie  um  den  Menschen  in  einer  förmlichen  Gigantomachie ,  die  er  visionär 
gestaltet.  Zola  ahnt  nicht,  wie  er  in  dieser  mythenbildenden  Arbeit  der 
Romantik  und  dem  Symbolismus  die  Hände  reicht  und  wie  seine  ganze 
naturalistische  Kunstübung  an  V.  Hugo  erinnert,  der  den  fliegenden  Eisen- 
bahnzug auch  nicht  anders  als  „le  tram  fantome"-  genannt  haben  würde. 
Der  heroischen  „Legende  des  siecles"  Hugos  stellt  er  gleichsam  die  vulgäre 
„Legende  du  second  empire"  an  die  Seite. 

Zu  den  allergrößten  Künstlern  gehört  Zola  als  Schilderer  der  beweg- 
ten Menge.  Das  Instinktmäßige  des  Kollektivlebens  in  seiner  dumpfen 
Wucht   wiederzugeben   hat   er   nicht   seinesgleichen.      Das    Getümmel    der 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     11.  Die  Zeit  nach  1850.  ^go 

Schlacht  {La  dcbäcle)  oder  des  Rennplatzes  {Xuna),  das  Wogen  des  Auf- 
ruhrs {Gcrminat)  oder  des  religiösen  Wahnsinns  {Lourdfs)  beschreibt  er 
mit  einer  elementaren  Macht.  Wo  das  Individuum  verschwindet  und  die 
Soziologie  anfängt,  da  beginnt  Zolas  Reich.  Er  ist  der  Epiker  der 
Soziologie. 

Zolas  Stil  ist  wuchtig;  er  entbehrt,  wie  seine  ganze  Produktion,  des 
Maßhaltens.  Zola  dehnt  seine  Beschreibungen  ungebührlich  aus  und  gibt 
seinen  Büchern  ermüdende  Längen,  Für  das  Spiel  seiner  von  der  Medizin 
bezogenen  Theorien  bedarf  er  krankhafter  Helden  und  Heldinnen,  in  denen 
die  animalen  Instinkte  vorherrschen  (Ja  bete  Iiumaiue).  Es  war  sein  gutes 
Recht  in  dieser  Schilderung  des  Trieblebens  das  sexuelle  Moment  zu  be- 
tonen. Aber  damit  wuchs  die  Gefahr,  daß  die  Brutalität  und  die  Unsauber- 
keit  des  Stoffes  auch  den  Dichter  herabzog.  Die  schlechte  Gesellschaft 
rächte  sich  an  seiner  Phantasie  und  führte  ihn  zur  Häufung  der  Roheiten 
und  zur  Unfläterei.  Die  führende  Kritik  bekämpfte  ihn  längst  mit  großer 
Schärfe  (Brunetiere,  A.  France).  Beim  Erscheinen  des  15.  Bandes  {La 
terre,  1887)  manifestierte  auch  eine  Reihe  von  Schülern  und  fiel  vom 
Meister  ab.  Der  hatte  seine  Hauptleistungen  {Asommoir  1877,  Germinal 
1885)  hinter  sich. 

In  dem  Kampf  für  sein  Werk  hat  Zola  sich  wiederholt  über  seine 
moralische  Absicht  ausgesprochen.  Er  nimmt  für  seine  Schilderungen  den 
Wert  wissenschaftlicher  Aufklärung  in  Anspruch.  Er  nennt  sich  einen 
mor allste  expcrimentatriir,  der  den  Mechanismus  des  Nützlichen  und  des 
Schädlichen  zeige,  die  Bedingtheit  der  menschlichen  und  sozialen  Vorgänge 
aufweise,  damit  man  eines  Tages  diese  Vorgänge  beherrschen  und 
leiten  könne.  Er  will  die  Kräfte  der  Menschen  vervielfachen  und  so 
zur  Eroberung  der  Natur  und  des  Lebens  anleiten. 

Schließlich  überzeugte  sich  Zola  selbst,  daß  die  Zeit  eine  andere  ge- 
worden und  aus  der  Enge  starrer  Theorien  hinausdrängte  zu  einer 
conception  plus  attendrie  de  la  vie,  wie  er  dies  selbst  ausdrückt.  So  folgt 
auf  die  Geschichte  der  Rougon  Macquart  die  der  Familie  Fromont  {I^es 
trois  villcs;  Lcs  quatre  cvangiles).  Sie  ist  mystisch  wie  jene.  Aber  in  diesen 
lehrhaften  Büchern  bricht  der  ursprüngliche  Optimismus  Zolas  —  den  er 
in  den  Elendschilderungen  der  Rougon  Macquart  zurückgedrängt  hatte  — 
zukunftsfreudig  und  wortreich  durch.  Es  ist  der  Einfluß  sozialistischer 
Ideen  und  man  merkt,  daß  das  Beispiel  Tolstois  ihn  leitet.  In  den 
„Fromont"  wirken  die  lebensfreundlichen  Mächte,  die  den  Zola,  der  sie 
feiert,  zu  jenem  yaccusc  trieben,  dem  Bekenntnis  unbezwingbarer  Wahr- 
heitsliebe. 

Man  hat  Zola  des  Plagiats  beschuldigt.  Er  hat  sich  mit  der  größten 
Offenheit  zu  seinen  Quellen  bekannt  und  das  Recht  in  Anspruch  genommen, 
die  Werke  der  anderen  zu  benutzen,  „um  daraus  Leben  zu  gestalten".  Er 
verschlinge  ganze  Bibliotheken:  je  suis  Ic  rcquin  gui  avaU  sott  epoquf  pour 
la  rccrter  et  cn  faire  de  la  vie.    Seine  Notizbücher,  Entwürfe,  Manuskripte, 


3go  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Korrekturbogen  hat  er  der  Nationalbibliothek  vermacht:  er  breitet  seine 
Arbeitsweise  vor  der  Nachwelt  offen  aus,  wie  er  vordem  (1896)  seine 
physische  und  moralische  Persönlichkeit  dem  Arzte  Toulouse  zu  experi- 
mentellen Untersuchungen  überlassen  hat,  mit  jener  Ehrlichkeit  und  Furcht- 
losigkeit seines  Wesens,  die  nicht  einmal  die  Lächerlichkeit  scheut. 

Man  hat  Zolas  Werk  unmoralisch  gescholten.  Die  „Rougon  Mac- 
quart" seien  eine  Schule  pessimistischer  Mutlosigkeit  und  sittlicher 
Schlappheit,  Das  ist  ungerecht.  Man  kann  der  sozialen  Epopöe  Zolas 
Sünden  gegen  den  Geschmack  und  Verstöße  gegen  die  guten  Sitten  vor- 
werfen. Man  kann  sagen,  daß  sein  wissenschaftlicher  Dilettantismus 
weder  Intelligenz  noch  tiefere  Bildung  verrät  —  aber  man  muß  an- 
erkennen, daß  ihn  bei  seiner  Darstellung  der  Not  und  Gefahr  des 
menschlichen  Trieblebens  ein  starkes  Gefühl  der  Verantwortlichkeit 
geleitet  hat  und  daß  dieser  willensstarke  Mann,  der  sich  darin  gefiel, 
unsere  Bedingtheit  zu  zeigen,  durch  sein  Werk  und  durch  sein  Leben 
eine  Lehre  der  Energie  gegeben  hat. 

Diese  energische,  robuste  und  gesunde  Art  unterscheidet  ihn  von 
Retif  de  la  Bretonne.  Sie  und  seine,  wenn  auch  fragmentarische,  Kunst 
wird  ihn  wohl  vor  dem  Schicksal  bewahren,  so  völlig  wie  Retif  ver- 
gessen zu  werden.  Einzelne  Beschreibungen  und  Szenen  von  wunder- 
barem materiellen  Relief,  die  grandiose  Belebung  der  Handlungs- 
schauplätze und  die  machtvolle  Vision  der  Psyche  der  Massen  werden 
den  zukünftigen  Epiker  immer  wieder  anziehen.  Und  die  ganze  Wucht 
der  Zolaschen  Schöpfung,  die  zwei  bis  drei  Millionen  Bände,  in  denen 
sie  verbreitet  ist,  haben  eine  „naturalistische"  Wirkung  getan,  die  sich 
nicht  wie  ein  Name  auslöschen  läßt.  Der  Strom  hat  mit  trüben  Fluten 
viel  reserviertes  Gelände  überschwemmt,  aber  die  Überschwemmung  hat 
neue  Wehren  errichten  gelehrt  und  ihr  Schlamm  hat  erschöpftes  Kultur- 
land befruchtet. 
Maupassant.  Durch    sciuc    aufklärerische,    didaktische  Tendenz    hat   sich    Zola    von 

Flaubert  entfernt.  Lizwischen  reifte  in  seiner  Nähe  ein  Talent  heran,  das 
in  Flauberts  rein  artistischer  Tradition  blieb:  Maupassant.  Maupassant 
ist  erst  mit  dreißig  Jahren  (1880),  nach  langer,  von  Flaubert  geleiteter 
Vorbereitung,  hervorgetreten,  hat  darauf  in  einer  zwölfjährigen  er- 
schöpfenden Tätigkeit  ein  großes  künstlerisches  Lebenswerk  geschaffen 
und  ist  dann  in  geistiger  Umnachtung  untergegangen.  Flaubert  erlebte 
noch  die  erste  Erzählung  seines  „tres  aime  disciple".  Begeistert  nannte 
er  „Boule  de  suif"  ein  Meisterwerk.  Auf  Novellen  folgten  Romane  und 
wieder  Novellen,  wohl  zweihundert  an  der  Zahl.  So  gut  die  Romane 
sind  [Une  vie),  so  hat  Maupassant  doch  sein  Bestes  in  den  kleinen  Er- 
zählungen gegeben.  Kein  System  beengt  oder  stört  sein  Schaffen. 
Wenn  er  gelegentlich  über  literarische  Theorien  spricht,  so  verrät  er 
weder  Wissen  noch  Intelligenz.  Er  ist  bloß  —  Künstler,  aber  ein  ganz 
großer.     Er   ist   eine    durchaus    sinnliche,    animale  Natur.    „Ich   liebe  den 


F.  Das   10. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  xqi 

Himmel  wie  der  Vogel,  den  Wald  wie  der  .streifende  Wolf,  das  klare 
Wasser,  um  drin  zu  schwimmen  wie  ein  Fisch  .  .  .  von  allen  Instinkten, 
allen  dumpfen  Wünschen  der  niedern  Kreatur  fühle  ich  etwas  in  mir 
zittern."  Er  liebt  das  Fest  des  Leibes  in  Spiel  und  Genuß.  „Ich  über- 
lasse mich  den  urwüchsigen  Kräften  der  Natur  und  kehre  zum  primitiven 
Leben  zurück  ...  in  meinen  Adern  rollt  das  Blut  der  alten  lüsternen 
Faune  —  ich  bin  nicht  mehr  der  Bruder  der  Menschen,  sondern  der 
Bruder  aller  Kreatur."  So  empfindet  dieser  unheilige  Franziskus  und 
aus  diesem  elementaren  Empfinden  heraus  bildet  er  Stoff  und  Sinn  seiner 
Novellen.  Er  schaut  und  gibt  eine  Sichtbarkeit,  die  dem  Auge  nicht 
wieder  erlischt.  Meisterlich  ist  seine  Verwendung  mundartlicher  Rede 
zur  Charakte'risierung  normandischer  Bauemart.  Pessimistisch  veranlagt, 
sieht  Maupassant  im  Leben  vornehmlich  das  Quälende,  Groteske,  Vulgäre. 
Der  Erotik  räumt  er  in  schrankenloser  Selbstbehauptung  breiten  Raum 
ein;  er  ist  ohne  Scham,  wie  /es  vieux  fauncs  lascifs.  Daß  er  hier  die 
Sitte  mehr  verletzt  hat,  als  auch  einer  starken  Kunst  gestattet  ist,  hat 
sich  an  seinem  Andenken  schwer  gerächt. 

Es  hielt  dieser  echteste  Naturalist  „in  derber  Liebeslust  sich  an  die 
Welt  mit  klammernden  Organen",  während  schon  die  Schatten  der 
nahenden  Paralyse  seinen  Geist  schreckten.  Mit  Entsetzen  beobachtet 
er  ihre  Fortschritte.  Was  Flaubert  einst  geplant  —  die  eigene  psychische 
Krankheit  zu  schildern  —  aber  „aus  Angst"  auszuführen  unterlassen 
hatte,  das  wagt  Maupassant.  Mit  der  nämlichen  Aufrichtigkeit,  mit  der 
er  das  Lebensleid  anderer  erzählt,  bildet  er  aus  Schrecken  und  Grauen 
seiner  eigenen  Krankheit  erschütternde  Erzählungen,  in  denen  die  Ge- 
spenster des  Wahnsinns  umgehen.  Wir  hören  den  Unglücklichen  mit 
einem  seiner  Helden  stöhnen:  fai  pcur  de  la  peur.  Das  sind  in  Wahr- 
heit experimentelle  Novellen. 

Der  Erzähler  Maupassant  verrät  keine  innere  Anteilnahme;  er  bleibt 
kalt.  Gelegentlich  gibt  er  seiner  Menschenverachtung  in  Ironie  und  Sar- 
kasmus  Ausdruck.  Er  ist  grausam  wie  ein  Naturmensch.  Und  diese  mit- 
leidlose Hand  beherrschte  Form  und  Farbe  meisterhaft. 

Es  war  wohl  eine  Bedingung  solch  naturalistischer  Kunst,  daß  ihr 
Meister  der  Liebe  nicht  hatte.  Doch  hat  auch  von  den  Mitleidvollen  keiner 
besser  erzählt.     Maupassant  ist  als  Novellist  unübertroffen. 

Die  Zeitläufte  haben  es  mit  sich  gebracht,  daß  im  epischen  Material 
des  Naturalismus  kriegerische  Ereignisse  eine  hervorragende  Rolle  spielen. 
Die  tiefe  Erregung  der  Niederlage  von  1870  hat  der  Erzählungskunst  bei 
Zola  und  bei  Maupassant  besondere  Gestaltungskraft  verliehen,  aber  auch 
zu  falscher  Darstellung  des  Gegners  geführt. 

Gegen    die    lieblose    Kälte    des    artistischen    Naturalismus    eines  Mau-  rn«,  Bu»nj  d*^ 
passants,   gegen    die  bedrückende  deterministische  Physiologie  des  doktri-  «»•»^'^'»ti»«^*"-'' 
naren   Naturalismus    Zolas    empörte   sich   der  Geist   des   Ideals,    den  Zola 
abgetan    wähnte.     Die    Literatur,    der    man    so    lange  Wissenschaft    und 


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Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Realität  gepredigt  hatte,  verlangte  nach  Lyrik  und  Phantasie.  Sie  ver- 
langte, ihren  Blick,  den  man  so  lange  zur  Erde  gezwungen  hatte,  wieder 
himmelwärts  zu  erheben  und  an  den  weiten  geheimnisvollen  Fernen  die 
von  der  Naharbeit  ermüdeten  Augen  zu  weiden.  So  ward  der  Naturalis- 
mus überwunden.  Aber,  die  ihn  überwanden,  haben  viel  von  ihm  gelernt. 
Er  hat  der  Kunst  des  Romans  dauernden  Gewinn  gebracht.  Er  hat  dem 
Erzähler  die  Lehre  genauer,  ehrlicher  Beobachtung  gegeben.  Er  hat  ihm  auch 
das  Vorbild  sprachlicher  Ehrlichkeit  gegeben  und  hat  die  Sprache  von  den 
Fesseln  des  Akademismus  befreit.  Es  ist  charakteristisch,  daß  die  Pforten 
der  Akademie  sich  keinem  der  Naturalisten  erschlossen  haben.  Eine 
literarische  Richtung,  die  während  zwei  Jahrzehnten  Frankreich  und  die 
Welt  beherrscht  hat,  ist  nicht  in  die  Akademie  gedrungen  —  so  wenig 
kann  diese  als  Vertreterin  der  Literatur  ihres  Landes  gelten.  Der 
Naturalismus  hat  ferner  die  Erkenntnis  verallgemeinert,  das  jeder  Mensch 
durch  sein  Milieu  mit  bedingt  ist  und  daß  es  zu  den  Aufgaben  des 
Dichters  gehört,  die  Umwelt  seiner  Helden  lebendig  zu  machen  und  so 
tiefer  in  die  Kompliziertheit  unseres  Daseins  einzudringen.  Der  natura- 
listische Feldzug  hat  mit  den  literarischen  Standesurteilen  aufgeräumt  und 
an  Stelle  der  „Gesellschaft"  die  Menschheit  gesetzt  —  nil  humani  a  se 
alienum  putans.  Er  hat  der  Kunst  das  moderne  Leben  erobert  und  ihr 
die  Poesie  erschlossen,  die  die  Welt  der  Technik  birgt,  die  in  der 
Arbeit  des  Alltags,  im  wuchtigen  Makrokosmus  der  Massen,  in  der  Enge 
und  Eigenart  des  provinziellen  Mikrokosmus  liegt.  Der  naturalistische 
Roman  ist  verschwunden;  der  soziale  Roman  hat  sein  Erbe  angetreten. 

Gerade  zur  Schilderung  ländlichen  oder  kleinstädtischen  Lebens  greift 
der  moderne  Erzähler  gerne.  Aber  es  ist  nicht  mehr  die  Idylle  George 
Sands,  wenn  es  auch  ebensowenig  die  grausame  Macht  der  „moeurs  de 
province"  Flauberts  und  Maupassants,  noch  die  brutale  Art  von  Zolas 
„Terre"  ist.  Es  sind  Darstellungen  von  einem  ehrlichen,  starken  aber 
auch  humanen  Realismus.  Schon  F.  Fahre,  der  seit  1862  das  bäuerliche 
und  das  geistliche  Leben  seiner  cevennischen  Heimat  gestaltete,  zeigt 
diese  kraftvolle  realistische  Kunst,  die  sich  vielmehr  von  Balzac  als  von 
G.  Sand  herschreibt.  Er  spricht  von  der  Physiologie  der  Leidenschaften 
wie  Balzac  und  besucht  Kliniken  wie  Flaubert.  Er  verankert  seine 
Helden  in  der  heimatlichen  Erde  und  in  ihrem  Beruf.  Pfarrhaus  und 
Hofgut  haben  Teil  am  Leben  von  Bauer  und  Hochwürden  und  die  Dar- 
stellung ihrer  Miseren  ist  von  Mitleid  durchweht.  Fabres  Kunst  ist 
stärker,  selbstbewußter  als  die  des  viel  erfolgreicheren  LothringersTheuriet. 
Beide  sind  wirkliche  Poeten  wie  es  auch  Pouvillon  ist,  dessen  Bauern 
aus  dem  Boden  der  Guyenne  zu  hartem  Lebenskampf  erwachsen. 
Außerhalb  des  Immerhin  gibt  es  unter  den  älteren  Erzählern  dieses  Zeitraumes  einige 

hervorragende  Persönlichkeiten,  die  von  der  anschwellenden  natura- 
listischen Strömung  nicht  ergriffen  wurden.  So  Feuillet  (f  1890),  der 
bei    allen    romantischen    Allüren    ein    scharfer   Beobachter    der    aristokra- 


Naturalismus. 


F.  Das  19. Jahrhundert.     11.  Ihc  /cit  nach   1850.  xox 

tischen  Welt  war,  in  deren  Eleganzen  er  sich,  gleich  ßourget,  mit  Kenner- 
mine bewegt  und  deren  sittliche  Zersetzung  er  in  spannenden  Leidenschafts- 
katastrophen  darstellt.  So  Cherbuliez  (-{-  1899),  der  ein  Meister  des 
Dialogs  ist  und  den  Leser  unter  fesselnden,  paradoxen  Gesprächen  durch 
die  verschlungenen  Pfade  seiner  Handlung  zu  geistreichen  und  oft  exzen- 
trischen Menschen  führt.  So  Fromcntiii,  der  1863  den  Roman  „Domi- 
nique" schrieb.  Meisterlich  sind  dem  Maler  die  Schilderungen  der  Natur 
gelungen  ('„c€  monde  ailc,  subtil,  de  visions  et  d'odeurs,  de  bruits  et 
d'images'''),  in  deren  Mitte  sich  der  Held  mit  dem  weichen  Herzen,  ein 
Werther,  aus  Tatenlosigkeit  zu  einem  nützlichen  Leben  durchkämpft. 
Fein  ist  seine  Seelenbeobachtung.  Keiner  von  denen,  die  ihre  Bücher 
als  psychologische  Romane  bezeichnen,  hat  mit  mehr  Wahrheit  jene 
plötzlichen  Entschließungen  verwendet,  die  im  Unbewußten  langsam  vor- 
bereitet, wie  unvermittelt  hervorbrechen;  keiner  jenes  langsame  Erwachen 
der  Seele  feiner  und  keuscher  geschildert,  in  welchem  der  Knabe  heran- 
reift, das  Mädchen  heranblüht,  und  Kinderfreundschaft  zur  Liebe  wird. 
„Dominique"  ist  die  wohltuende,  vornehme  Schöpfung  eines  liebenswürdigen 
Künstlers,  der  sich  selbst  erzählt.  Und  wie  er  hier  das  soziale  Empfinden 
episch  objektiviert,  welches  das  Leben  in  ihm  geweckt  hat,  so  zergliedert 
er  in  den  „Maitres  d'autrefois"  (1870)  mit  unübertreflFlicher  Feinheit  sein 
künstlerisches  Empfinden  vor  den  Meisterwerken  der  Niederländer,  Rem- 
brandts  und  Rubens'. 

Mit  welcher  Macht  zu  Ende  der  achtziger  Jahre  die  Abkehr  vom  Di«  Abkehr  Tom 
Naturalismus  Zolascher  Observanz  einsetzte,  das  zeigt  sich  in  der  Ent-  ^'»'"™i»»»"- 
wickelung  einer  Reihe  von  Schriftstellern,  die  seither  zu  Ruf  gekommen 
sind,  wie  J.-H.  Rosny,  P.  Margueritte,  Rod  und  Huysmans.  Sie  alle  haben 
in  vergessenen  Erstlingswerken  Zolas  Kunst  und  Unkunst  kopiert,  um 
dann  ihre  Fesseln  abzuschütteln.  Die  einen  suchen  ihr  Heil  bei  einer 
mehr  idealistischeren  Kunst  —  der  sich  ja  dann  Zola  selbst  zuwendet  — 
die  anderen  flüchten  zur  Kirche.  Doch  bleibt  einige  Familienähnlichkeit. 
Die  Brüder  Rosny  sind  epische  Dichter,  deren  ungeschlachte,  apokalyp- 
tische Art  an  Zola  erinnert.  Aus  Wissenschaft  und  Poesie  haben  sie  sich 
einen  kräftigen  Optimismus  gebildet,  der  in  mühsamen  Büchern  mit  eigen- 
artigen Schönheiten  zum  Ausdruck  kommt.  Margueritte  schreibt  Ro- 
mane von  ergreifender  uud  doch  wohltuender  Realistik  {La  forcc  drs 
choses).  Wenn  er  mit  seinem  Bruder,  einem  Offizier,  zur  Darstellung  des 
Kriegsjahres  {Une  i-poque)  sich  zusammentut,  so  i.st  der  Einfluß  Zolas  bei 
aller  Verschiedenheit  offenkundig  in  all  diesem  dokumentierten  Detail,  in 
den  Massenbewegungen,  z.  B.  der  furchtbaren  „Commune"  (1904).  Die 
Margueritte  schreiben  aus  größerer  Entfernung  als  der  20  Jahn«  ältere 
Zola.  Sie  sind  histori.scher.  Aber  ihre  vierbändige  „Epoque"  zerflattert 
stellenweise  in  historische  Novellen.  Eine  geschichtliche  Restituierung 
großen  Stils  hat  auch  P.  Adam  versucht,  der  Napoleon  L  und  der 
Restauration  vier  Bände  {Le  temps  et  la  -'iV,   1899- 1903)  gewidmet   hat,  die 


jQA  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

ein  großes  Talent  verraten.  Er  besitzt  die  Gabe  der  Belebung  der  Massen 
—  er  nennt  dies  „Interpsychologie"  —  wie  der  lebendigen  Kleinmalerei. 
Er  wagt  sich  an  alle  Stoffe,  stellt  ihnen  eine  stürmische  Kunst  zur  Ver- 
fügung, die  zart  und  auch  naturalistisch  derb  sein  kann.  In  einer  sich 
überstürzenden  Tätigkeit  verzehrt  er  eine  Kraft,  die  wohl  Großes  zu 
schaffen  vermöchte,  und  ist  darin  typisch  für  so  viele  begabte  Erzähler 
des  heutigen  Frankreich.  Der  Genfer  Rod  gibt  auf  einer  von  verschie- 
denen Reuestationen  unterbrochenen  Bahn,  die  ihn  schließlich  zum 
Glauben  führte,  feine  Studien  über  moderne  Konflikte  des  weltlichen 
imd  geistlichen  Lebens.  Aber  seine  Kunst  entbehrt  in  ihrer  schwankenden 
Produktion  des  Charakters.  Rod  vertritt  die  protestantische  Nuance  jenes 
schillernden  Neokatholizismus,  der  heute  so  viele  literarische  Bekenner  hat. 
Niemand  hat  ihn  mit  inbrünstigerer,  wilderer  Kunst  gestaltet  als  Huysmans. 
Keiner  hat  so  entschieden  wie  er  den  Schritt  vom  krudesten  Naturalis- 
mus zur  üppigsten  Kirchlichkeit  getan.  Er  stellte  die  naturalistische 
Übung  in  den  Dienst  des  religiösen  Lebens,  indem  er  der  irdischen 
Kunst  Zolas  einen  „transzendentalen  Naturalismus"  gegenüberstellt,  für 
den  sich  Anfänge  bei  Dostojewski  finden.  Huysman  ist  kein  Erzähler, 
sondern  ein  literarischer  Meister  der  Farben,  Düfte  und  Klänge.  Er  ist  wohl 
der  raffinierteste  Wortmaler,  den  Frankreich  besitzt,  der  Literat  mit  den 
sensibelsten  Augen.  Daß  er,  wie  sein  Maler  Cyprien  {£n  menage,  1881), 
„die  Traurigkeit  der  im  Zimmer  welkenden  Levkoie  dem  Lachen  der  sich 
frei  erschließenden  Rose"  vorzieht,  charakterisiert  die  Stimmung,  die 
ihn  von  der  Welt  ins  Kloster  führt.  Er  hat  aber  nicht  nur  die  Herrlich- 
keiten des  Glaubens  in  Farbenpracht,  Weihrauch  und  Orgelklang  gehüllt, 
sondern  er  hat  auch  die  Wollust  der  Sünde  gemalt  und  in  „Lä-bas"(i89i) 
aus  der  Schilderung  der  schwarzen  Messe  ein  Bilderbuch  des  Satanismus 
gemacht,  als  ein  advocatus  diaboli.  Der  innere  Widerspruch  zwischen 
Huysmans  raffinierter  Kunst  und  der  Schlichtheit  des  Evangeliums  ist 
freilich  nicht  allen  Lesern  entgangen. 
A. Daudet.  Zu    den    Naturalisten    rechnet    man    auch    A.  Daudet,    der   Flaubert 

seinen  Meister  nannte  und  mit  den  Goncourt  befreundet  war.  Solche  Zu- 
weisung tut  ihm  entschieden  Gewalt  an.  Was  diesen  liebenswürdigen 
Erzähler  mit  den  Naturalisten  verbindet,  ist  die  unstillbare  Neugier,  mit 
der  er  seit  den  Kinderjahren  dem  Leben  nachgeht,  um  seine  Notizbücher 
mit  tausendfältigen  „observatio?ts  sur  la  vie'-'-  zu  füllen.  Seine  Erzählungen 
sind  ein  Mosaik  von  documents  humains ,  wie  er  uns  berichtet.  Auch 
sie  führen,  wie  die  naturalistischen  Bücher,  in  Großstadtelend  und  zu 
menschlicher  Schwäche  und  Verkommenheit.  Er  schreibt  die  „Geschichte 
eines  Arbeiters"  und  bezeichnet  seine  etwas  laxen  Romane  gern  als 
Sittenbilder  {nioeurs  parisiejines).  Er  gibt  meisterliche  Milieuschilderungen. 
Er,  der  „meridional",  der  den  Einfluß  südlicher  Herkunft  und  Umwelt  an 
sich  selbst  erfahren  und  erkannt  hat,  weiß  seine  Helden  eng  mit  dem 
Milieu    zu    verbinden,    das    sie    bedingt.     Sein    MIDI    —    er    Hebt    diese 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  705 

Majuskeln  —  wird  ihm  zur  Persönlichkeit,  zum  mythischen  Vater  der 
Tartarin,  Roumestan  und  —  Napoleons,  Wollte  er  doch  den  g^anzen 
Napoleon  aus  dem  MIDI  erklären.  Daudets  Stil  hat  teil  an  der  Freiheit, 
die  der  Naturalismus  erzwungen  hat  und  zeigt  den  Einfluß  der  Goncourt. 
Er  ist  weniger  raffiniert,  trägt  aber  doch  den  Stempel  kunstvoller  im- 
pressionistischer Arbeit. 

Daudet  hat  sich  nicht  auf  die  Elendschilderungen  des  Naturalismus 
beschränkt.  Von  keinen  Theorien  gefesselt,  hat  er  eine  Zickzackreise 
durch  alle  Stände  der  zeitgenössischen  Gesellschaft  gemacht.  Seine  be- 
wegliche Phantasie  liebt  figurenreiche  Erzählungen  und  weiß  sie  lebens- 
wahr zu  führen.  Ja  er  mischt  eine  gewisse  Phantastik  diskret  in  seine 
Realistik  und  verbindet  gelegentlich  Märchen  und  Wirklichkeit.  Ihn 
trennt  von  den  Naturalisten  das  ganze  südfranzösische  Temperament.  Er 
selbst  spricht  von  seiner  iiaturc  dimprovisatcur  d  de  trouvlrc.  Flaubert 
hat  den  „trouvere"  in  sich  zum  Schweigen  gebracht;  der  Epiker  Daudet 
läßt  ihn  jubeln  und  klagen,  singen  und  weinen.  Seine  menschliche  Teil- 
nahme klingt  aus  allen  Büchern,  bald  laut,  bald  gedämpft  entgegen.  Oft 
redet  er  den  Leser  direkt  an  in  altmodischer  Gemütlichkeit.  Daudet  ist 
ein  Humorist,  einer  der  wenigen  Humoristen,  die  Frankreich  besitzt.  Er 
ist  eine  ganz  eigenartige  Künstlernatur,  die  inmitten  einer  Zeit  natura- 
listischer „impassibilit^"  das  glückliche  Beispiel  eines  subjektiven  Realis- 
mus gab.  Daudets  Teilnahme  für  das  menschlich  Unvollkommene,  die 
übrigens  nirgends  sentimental  wird,  trägt  seine  Bücher  über  die  Mode 
des  Naturalismus  hinweg  zu  den  Herzen  der  Menschen,  „Sapho"  ist 
nicht  nur  ein  besserer  Roman  als  „Nana",  sondern  birgt  auch  wirksamere 
„sexuelle  Aufklärung".  Daß  seine  Psychologie  oberflächlich  sei,  darf  dem 
Verfasser  der  „Evangeliste"  nicht  vorgeworfen  werden. 

Man  hat  Daudet  den  französischen  Dickens  genannt,  was  ihm  keine 
Freude  machte,  weil  damit  eine  literarische  Abhängigkeit  angedeutet  war, 
die  er  entschieden  bestritt.  Die  Kindergeschichtc  „Le  petit  chose"  (1868) 
verdankt  „David  Copperfield"  nichts. 

Daudets  Werk  ist  in  hohem  Maße  autobiographisch.  Tisonner  d€s 
Souvenirs  ist  der  malerische  Ausdruck  den  er  für  sein  Erzählen  braucht. 
Nirgends  ist  er  dabei  liebenswürdiger  als  in  den  kleinen  Novellen,  deren 
er  eine  ansehnliche  Zahl  zwischen  seine  Romane  streute.  Gegenüber  den 
rein  epischen  Novellen  Maupassants  nehmen  sich  die  Daudetschen  wie 
Lieder  aus. 

Eine  andere  Umbildung  des  Naturalismus  .stellt  Bourget  dar.  Auch  d^ 
für  ihn  ist  das  Individuum  durch  die  Umwelt  bedingt  —  hat  er  doch -p*''^^*'**'»*«" 
neuerdings  unseren  Goethe  wesentlich  als  den  Sohn  eines  angesehenen 
Bürgerhauses  gedeutet.  Auch  er  betrachtet  seine  Romane  als  wissen- 
schaftliche Untersuchimgen.  Aber  seine  Veranlagung  drängt  ihn  mehr 
zur  Beobachtung  des  inneren  als  des  äußeren  Mechanismus  des  Lebens.  Er 
ist    vom  Habitus  Stendhals.     Es   zieht    ihn    die  Zergliederung    des    inneren 


3q6  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Menschen  {Vhoimne  viorat)  an,  die  der  klassische  Naturalismus  über  der 
Milieuschilderung  vernachlässigt.  Und  für  diese  Zergliederung  brachte  er 
einen  hervorragenden  Scharfblick,  ein  feines  Empfindungsvermögen  und 
ein  großes  Darstellungstalent  mit.  Sein  Stoffgebiet  ist  eng:  es  ist  die 
kosmopolitische  Lebewelt  der  schiffbrüchigen  Ehen  mit  ihren  Helden 
egoistischer  Genußsucht,  wo  das  Schlechte  immer  das  Stärkere  ist.  Den 
Instinkt-  und  Gehirnmechanismus  einiger  dieser  sterilen  Genüßlinge,  dieser 
„Raubseelen",  hat  er  tief  ergründet  und  höchst  eindrucksvoll  dargestellt 
{Mensonges,  i887;  Le  disciple,  1889).  Aber  in  der  Enge  dieser  Welt  er- 
schöpft sich  seine  Kunst  rasch,  sowohl  seine  Seelenmalerei  als  seine 
Milieuschilderungen  mit  ihren  eleganten  Boudoirs,  ihrer  kostbaren  Spitzen- 
wäsche, ihren  prunkvollen  Hotels  und  unvermeidlichen  Automobilen.  Auch 
der  Neokatholizismus  hat  Bourgets  Kunst  keine  neue  Kraft  gegeben,  denn 
es  liegt  bei  ihm  nicht  eine  Bekehrung  vor,  aus  der  ein  neuer  Glaube 
sprösse,  sondern  nur  der  Übergang  zu  einer  kirchlichen  Partei.  Er  knüpft 
heute  nicht  mehr  bei  Taine,  sondern  bei  Bonald  an  und  nennt  sich  mit 
einem  Wort  jener  Zeit  einen  Traditionalisten.  Der  Roman  dieses  Traditio- 
nalismus ist  „L'etape"  (1902).  Der  einstige  Künstler  Bourget  ist  zum  Mora- 
listen geworden  und  bemüht  sich  nun,  die  Sensationserotik  seiner 
Jugendromane  nachträglich  in  den  Dienst  seiner  neuen  Mission  zu  deuten. 

Mit  mehr  Anmut,  aber  auch  mit  mehr  Leichtfertigkeit  behandelt  der 
kunstreiche  Prevost  die  Erotik  dieser  Kreise.  Er  verteidigt  gegenüber 
dem  Naturalismus  eine  „romantische  Realistik"  [le  romanesque  du  rtel)  und 
sucht  sie  in  weiblichen  Schicksalen.  Er  füllt  seine  Bücher  mit  lüsternen 
Herzensscharmützeln,  deren  Heldinnen  auf  allen  Altersstufen  stehen,  vom 
Mädchenfrühling  bis  zur  herbstlichen  Frau. 

Von  den  schönen  Sünderinnen  dieser  Welt  des  eleganten  Müßigganges 
und  der  Pornokratie  werden  die  Erzähler  leicht  auf  die  Wege  lasziver 
Schilderungen  geführt  und  es  ist  nicht  zu  leugnen,  daß  oft  genug  die 
Unzüchtigkeit  dieser  „Psychologen"  schlimmer  ist,  als  die  Unsauberkeit  der 
Naturalisten. 

Psychologisch  nennt  sich  diese  Richtung  der  Epik  im  Gegensatz 
zur  „Physiologie"  des  naturalistischen  und  sozialen  Romans.  Sie  will  damit 
die  Verinnerlichung  ihrer  Aufgabe  andeuten.  Bedeutende  Talente  sind 
dieser  Richtung  zugefallen.  Aber  die  Eigenart  dieser  Talente  fügt  sich 
keiner  schulmäßigen  Klassifizierung  und  die  Unterscheidung  zwischen 
„psychologischem"  und  „sozialem"  Roman  selbst  ist  schwankend.  Diese 
Termini  nennen  nicht  fest  umgrenzt  Besitzstände,  sondern  bezeichnen 
Tendenzen.  Der  soziale  Roman  —  die  heutige  Form  des  weiland 
naturalistischen  —  stellt  das  Kollektivleben,  die  Umwelt  und  das  gesell- 
schaftliche Problem  in  den  Vordergrund.  Den  psychologischen  Roman 
interessiert  mehr  das  Individuum,  ohne  daß  es  freilich  dem  modernen  Er- 
zähler gestattet  wäre,  die  bedingende  Umwelt  zu  ignorieren.  Man  könnte 
diesen  Roman    richtiger  den    individualistischen    nennen.     Der  Widerstreit 


F.  Das  19,  Jahrhundert.     II.  Die  /.eil  nach   1850.  507 

der  beiden  Romanrichtungen,  der  sozialen  und  der  individualistischen,  ist 
der  Widerstreit  des  heutigen  Leben.s.  Auch  der  Roman  wird  seine  höchste 
Fonn  in  einer  harmonischen  Synthese  beider  finden,  wie  sie  z.  H.  Hervieu 
und  Estauni6  versucht  haben. 

Hervieu  ist  ein  scharfer  Analytiker  des  Individuums  und  zugleich 
von  starkem  sozialem  Interesse  erfüllt.  Er  hat  .seine  Helden  enst  unter 
den  Armen  des  Lebens  und  des  Geistes  gesucht  und  die  gereifte  kraft- 
volle Kunst  dann  an  die  Schilderung  aristokratischer  Gemeinheit  gewendet 
{Piin/s  par  lux-mtmcs,  1893),  ehe  er  zum  Drama  überging.  Estaunie 
schildert,  Milieu  und  Individuelles  mit  hervorragender  Kun.st  verbindend, 
wie  geistliche  Erziehung  die  Persönlichkeit  zermürbt  {L\mpreinfi\  1895) 
oder,  welche  Gefahr  das  gelehrte  Proletariat  für  die  Gesellschaft  birgt 
{Lc  fermcnt,   189Q). 

Der  Roman  ist  endgültig  aus  dem  engen  Kreise  der  Liebesgeschichte 
herausgetreten  —  was  einst  die  Stael  theoretisch  verlangt  und  Balzac  ein- 
zuleiten begonnen  hatte  —  und  hat  sich  des  ganzen  Lebens  bemächtigt. 
Auf  dem  weiten  freien  Felde  des  Romans  treten  alle  Ideen,  die  unsere 
Zeit  bewegen,  zum  Kampfe  an:  Gewissensfreiheit  und  Landflucht,  Kinder- 
arbeit und  Nietzsche,  Kirchentrennung  und  Feminismus.  Der  Roman  ist 
ein  sozialer  Training  geworden  und  wartet  auf  den  großen  Künstler,  der 
diesem  Geisteskampf  die  ebenbürtige  Form  geben  mag. 

Fem  steht  solchen  Problemen  Loti.  J'ai  pour  rlgle  de  condiiite  de  p  Lod. 
faire  toitjoiirs  cc  qiii  vic  plait  cn  depit  de  toute  moralifc,  de  toute  Convention 
sociale;  je  ne  crois  a  ricn  fii  a  per  sonne;  Je  nai  ni  foi  ni  esperance,  sagt 
er  schon  in  seinem  ersten  Buche  {Asiyade,  1879).  Ihn,  den  Seemann,  trägt 
das  Schiff  von  den  Gestaden  des  Naturalismus  in  die  Weiten  des  Meeres. 
Daß  er  Sittenbilder  aus  dem  Leben  der  Fischer  und  Matrosen  seiner 
bretonischen  Heimat  gibt,  ist  gewiß  Einfluß  naturalistischer  Erzähler;  auch, 
daß  die  unendliche  See,  welche  die  Küste  der  Bretagne  mit  den  Ländern 
der  Tropen  und  den  Inseln  des  Eismeeres  verbindet,  seine  Romane  mit 
ihrer  Allgegenwart  erfüllt  wie  ein  Fatum.  Lotis  Beispiel  zeigt,  wie  die 
Erweiterung,  die  der  Naturalismus  dem  Felde  der  Epik  gegeben  hat,  auch 
für  solche  fruchtbar  geworden  ist,  die  sonst  in  ihrer  Kunstübung  nichts 
Naturalistisches  haben. 

Lotis  Bücher  sind  Stimmungsbilder.  Er  ist  ein  Lyriker  und  dieser 
Lyriker  ist  zugleich  einer  der  größten  literarischen  Maler  seines  Landes. 
Die  Handlung  seiner  Erzählungen  ist  schwach,  oft  bloß,  und  wie  wider- 
strebend, angedeutet.  Seine  Menschenkun.st  ist  nicht  herv<irragend.  Er  liebt, 
einfache,  primitive  Wesen  zu  bilden,  in  deren  Lust  und  Leid  seine  Me- 
lancholie sich  spiegelt.  Seine  üppige  Sinnlichkeit  ist  von  Todosgedanken 
überschattet  und  diese  unheilbare  Traurigkeit  spiegelt  sich  auch  in  den 
herrlichen  Natur.schilderungen,  ob  er  die  heimische  Küste  mit  ihren  regen- 
schweren Wolkenvorhängen,  ob  er  die  brennende  Wüste  oder  die  Farben- 
pracht der  Tropen  malt.     Nicht  der  Exotismus   ist  das  Wesentliche  seiner 


398  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Kunst,  sondern  die  Stimmungsmacht,  welcher  der  Zufall  seines  Berufs  das 
weite  Meer  als  Reich  angewiesen  hat,  so  daß  hier  seine  Dichtung  zum 
Erlebnis  ward.  Souverän  gebietet  Loti  über  dieses  Reich  und  stellt  neben 
das  fahle  Licht  des  arktischen  Meeres  die  Glut  der  tropischen  Sonne  in 
wunderbarem  Kontrast  —  Fichtenbaum  des  Nordens  und  Palme  des 
Morgenlands.  Seine  Vorliebe  für  das  Abnorme,  Krankhafte  mischt  oft 
etwas  Quälendes  in  die  Poesie  dieser  Bücher  und  tut  der  rein  mensch- 
lichen und  auch  der  künstlerischen  Wirkung  Eintrag.  Man  fühlt  etwas  wie 
Vorsätzlichkeit.  Loti  bedient  sich  einer  einfachen  Sprache.  Es  charak- 
terisiert den  Lyriker,  daß  er  gerne  Wörter  und  Sätze  wie  einen  Refrain 
wiederholt.  Seine  freie,  impressionistische  Diktion  ist  viel  schlichter  als 
die  der  Goncourt.  —  Leider  ist  dieser  Poet  später  zum  Reiseschriftsteller 
geworden. 

So  war  Frankreich  gegen  Ende  des  Jahrhunderts  reich  an  ungewöhn- 
lichen Talenten  und  an  hervorragenden  Schöpfungen.  Man  nehme  das 
eine  Jahr  1887,  das  Lotis  „Pecheurs  d'Islande",  Zolas  „La  terre",  Mau- 
passants  „Le  Horla"  und  Bourgets  „Mensonges"  gebracht  hat,  um  daran 
die  Macht  und  die  Weite  dieser  Kunst  zu  ermessen. 
A.France.  Wie    der  Lyriker  Loti   die   elastische  Form   des  Romans   benutzt,  um 

immerfort  sein  Ich  zu  erzählen,  so  auch  A.  France,  von  dem  das  Wort 
stammt:  tout  romaii  est  une  autobiographie.  Er  ist  Lyriker  wie  Loti; 
aber  nicht  das  weite  Meer,  sondern  die  enge  Bibliothek,  nicht  das  durch 
alle  Zonen  fliehende  Schiff,  sondern  die  fest  verankerte  Studierstube  läßt 
seine  Prosagedichte  entstehen.  Doch  hat  diese  Bibliothek  weitere  Fernen 
als  das  Meer  Lotis:  sie  hat  die  unendlichen  Horizonte  menschlicher  Ge- 
schichte. Dem  Seemann  Loti  fehlt  jedes  historische  Interesse,  das  den 
Polyhistor  France  allein  leitet.  Jener  sucht  primitive  Menschen  in 
malerischer  Szenerie.  Die  Reisen,  die  France  durch  seine  Bücherwelt 
unternimmt,  führen  ihn  zu  historischen  Landschaften,  den  Zeugen  alter 
Zivilisation.  Nicht  ihr  malerischer  Wert  fesselt  ihn,  sondern  ihr  geschicht- 
licher, als  Stätten  denkwürdigen  menschlichen  Geschehens.  Auf  diesen 
Stätten  w^andelt  er,  um  sich  zu  den  fernen  Menschen  zu  gesellen,  die  dort 
einst  das  Leben  erlitten  haben.  Mit  unstillbarer  Neugierde  lauscht  er  den 
längst  verklungenen  Reden,  die  sie  miteinander  geführt  haben  müssen  und 
gibt  sie  wieder:  die  Unterhaltung  des  Apostels  Paulus  mit  dem  Prokonsul 
GaUio,  die  Gespräche  der  Anachoreten  in  der  Wüste  mit  den  Kindern  der 
Welt  —  und  so  durch  Altertum,  Mittelalter,  Renaissance  und  Revolution 
bis  zur  Gegenwart,  von  Korinth  und  Alexandria  bis  zur  rue  Saint-Jacques. 
Er,  der  so  gerne  das  Weltall  einmal  aus  dem  Facettenauge  einer  Fliege 
sehen  möchte,  verschafft  sich  wenigstens  den  Genuß,  den  Weltlauf  aus 
den  verschiedensten  menschhchen  Augen  zu  besehen:  bald  wie  ein  vor- 
nehmer Römer,  bald  wie  ein  asketischer  Franziskaner,  bald  wie  ein 
Revolutionsmann,  bald  wie  ein  Kind  —  und  doch  immer  er  selbst,  klug 
und  liebenswürdig,   sinnlich  und  para,dox.     Die   Geschmeidigkeit  {le  dilet- 


K.  Das   IQ. Jahrhundert.     11.  Die  Zeit  nach   1850  jqq 

tantisme)  dieser  Intelligenz  ist  bewundernswert,  bewundernswert  die  scharfe 
Erfassung  von  Individualitäten,  Orten,  Zeiten,  die  den  großen  Künstler 
zeigt,  dem  ein  scharfer  Kritiker  zur  Seite  steht.  Sein  Stil  ist  von  wunder- 
barer Klarheit,  der  das  Kleinste  ins  Licht  setzt  Und  dieses  ausgebreitete 
Wissen,  dieser  kritische  Sinn  und  diese  künstlerische  Gestaltungskraft 
werden  von  „zwei  guten  Beraterinnen"  geleitet:  der  „lächelnden  Ironie" 
und  dem  „weinenden  Mitleid".  Die  eine,  so  sagt  er,  macht  das  Leben 
liebenswert,  das  andere  macht  es  heilig.  Das  ist  die  Stimmung  des  Hu- 
moristen. Aus  ihr  fließen  seit  der  prächtigen  Geschichte  vom  „Verbrechen 
des  Philologen  Sylvestre  Bonnard"  (1881)  —  einem  der  wenigen  wirk- 
lichen Romane,  die  France  geschrieben  —  so  viele  große  und  kleine  Er- 
zählungen, in  denen  er  „die  Abenteuer  meiner  Seele"  berichtet.  Es  ist  die 
Lebensbeichte  eines  vSkeptikers:  alles  ist  eitel.  Alle  Wahrheit  und  alle 
Lüge  i.st  relativ;  was  uns  rettet  ist  die  Illusion  der  schönen  Form.  Dieser 
Skeptizismus  legt  seine  Hand  an  alles  Aber  er  ist,  indem  er  alle  Über- 
lieferung lästert,  nicht  brutal  und  zornig,  sondern  mitleidig  und  lächelnd. 
Nie  hat  der  uralte  Skeptizismus  einen  glänzenderen  künstlerischen  Aus- 
druck gefunden.  France  ist  sein  modemer  Poet.  So  behandelt  er  auch 
die  Dinge  des  Glaubens,  man  möchte  sagen:  mit  einfältigem,  frommem 
Sinne.  France  gleicht  hierin  Renan:  er  ist  von  der  nämlichen  freundlichen 
Unversöhnlichkeit  gegen  den  Glauben.  Auch  ihn  ziehen  jene  Zeiten  an, 
wo  das  Christentum  mit  Judentum  und  Antike  rang.  Ihn  beschäftigt  die 
Pathologie  der  Frömmigkeit  Er  hat  neulich  das  Problem  der  Jeanne 
d'Arc  behandelt  und  es  ist  leicht  möglich,  daß  der  kluge  „Dilettant" 
richtig  sieht 

„Uesprif  spcciilati'f  rend  Uiommc  impropre  a  Faction"'  sagt  France,  der 
die  Welt  lange  Zeit  von  seinem  Schreibtisch  aus  betrachtete,  ohne  in  ihr 
Treiben  handelnd  einzugreifen.  Doch  hat  ihn  immer  wieder  die  Gegen- 
wart angezogen  und  aus  den  Femen  der  Geschichte  ist  er  immer  wieder 
zu  ihr  zurückgekehrt.  „Histoire  contemporaine"  betitelt  sich  eine  neuere 
Serie  seiner  geistvollen  „rotnans  discouranfs".  Und  schließlich  hat  die 
Allgewalt  des  Lebens  auch  über  seinen  Skeptizismus  gesiegt  und  hat  den 
alten  Zweifler  in  den  Kampf  des  Tages  gezwungen,  wo  er  sich  leiden- 
schaftlich zu  optimistischen  Forderungen  erhoben  hat.  So  hat  es  sich  auch 
an  ihm  erwahrt,  daß  es  dem  Menschen  nicht  gegeben  ist,  mit  einem  völligen 
Agnostizismus  sich  zu  begnügen,  und  daß  die  Kämpfe  der  Gegenwart  keine 
Neutralität  dulden. 

A.  France  hat  auch  Verse  geschrieben.  Seine  „Poemes  dor<^s"  ge-  Ve«  «Dd  Pro«», 
hören  zur  reichsten  pamassischen  Poesie.  Aber  die  endgültige  Form  seiner 
Dichtung  ward  doch  die  Pro.sa  und  er  gleicht  darin  so  manchen  hervor- 
ragenden Künstlern  der  Gegenwart,  welche  die  gebundene  Rede 
ihrer  Jugend  zugunsten  der  Prosa  aufgegeben  haben,  wie  Maupassant, 
Bourget,  Daudet  Und  der  Lyriker  Loti  hat  überhaupt  keine  Verse 
geschrieben. 


Literatur. 


400  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

So  wandeln  sich  die  Zeiten!  Im  Mittelalter  überwog  der  Vers  bei 
weitem  die  Prosa;  er  beherrschte  das  ganze  Schrifttum,  auch  das  gelehrte. 
In  unserem  wissenschaftlichen  Zeitalter  überwiegt  die  Prosa;  sie  beherrscht 
auch  die  dichterische  Schöpfung.  Und  so  hört  man  denn  die  Klage, 
daß  die  Wissenschaft  und  der  Naturalismus  die  Poesie  ertöten.  Die  Klage 
ist  ungerecht.  Wahr  ist  nur  —  trotz  der  glänzenden  Gedankenlyrik  Sully 
Prudhommes  —  daß  die  moderne  Poesie  sich  nicht  mehr  so  leicht  in  die 
Gebundenheit  der  Verssprache  findet.  Der  moderne  Gedanke  ist  zu  kom- 
pliziert, zu  kritisch  geworden  für  das  Gleichmaß  des  Verses,  das  mehr 
zum  Ausdruck  einfacherer  Empfindungen  und  Vorstellungen  paßt.  Daher 
die  Rebellion  der  Verslibristes  gegen  den  alten  Zwang  der  metrischen 
Form.  Daher  bei  anderen,  wie  France,  der  Verzicht  auf  den  Vers  über- 
haupt, dessen  verslibristische  Gestaltlosigkeit  ihren  Formensinn  unbefriedigt 
ließ.  Nicht  die  Poesie,  wohl  aber  das  Gebiet  der  Versdichtung  ist  in  der 
modernen  Zeit  zurückgegangen.  Und  in  dem  Maße  wie  die  Wissenschaft 
selbst  eine  neue  Quelle  der  Poesie  wurde,  hat  sie  auch  ihre  Sprache,  die 
Prosa,  mit  neuem  dichterischem  Leben  erfüllt.  Was  der  Vers  verlor,  hat 
die  Prosa  an  Poesie  gewonnen. 
Die  dramatische  Wic  in   dcr  Romantik  das  „drame"  über   die  Tragödie   gesiegt  hatte, 

so  wird  es  nun  durch  die  „comedie"  verdrängt,  die  von  der  Romantik 
vernachlässigt  worden  war  und  nur  in  den  literarischen  Niederungen  gedieh, 
wo  Scribe  sie  beherrschte.  Jetzt,  zur  Zeit  des  Kaiserreiches,  kam  diese 
Lustspieldichtung  zu  einer  dreifachen,  charakteristischen  Manifestation  in 
den  Operetten  Offenbachs,  den  Possen  Labiches  und  den  Sittenbildern 
Augiers  und  Dumas'. 

Wie  für  die  Jahre  des  lebenslustigen  Ludwig  XIV.  die  „ballets"  mit 
Lullys  Musik  und  Benserades  Versen  charakteristisch  sind,  so  für  die  Lebe- 
welt Napoleons  IIL  die  Libretti  Meilhacs  und  Halevys,  von  „Belle 
Helene"  bis  zur  „Vie  parisienne",  mit  der  Musik  Offenbachs:  diese  bouffonne 
Verklärung  des  eleganten  Skeptizismus  und  raffiniertester  Genußsucht, 
diese  Dramatisierung  der  „blague".  Die  bürgerliche  und  provinzielle  Welt 
schildert  mit  einer  unerschöpflichen  Fülle  närrischer  Einfälle  Labiche 
{-}•  1880),  der  an  seinen  Zeitgenossen  Breton  de  los  Herreros  erinnert.  Auf 
den  Narrenspiegel  seiner  „comedies-vaudevilles"  fällt  der  Strahl  der  Poesie 
imd  seine  starke  und  gutmütige  Wirklichkeitsfreude  schafft  in  Karikaturen 
Lebensbilder,  die  nicht  nur  beim  Schein  der  Rampe,  sondern  auch  im 
Licht  der  Lektüre  bestehen  {Le  voyage  de  M.  PerricJwn,  1860).  Das  ge- 
sungene Couplet  schwand  aus  dem  Vaudeville,  dem  es  einst  den  Namen 
gegeben,  und  verblieb  der  Operette. 
Augier  Auch  Augier  und  Dumas  sind,  wie  Sardou,  Schüler  Scribes.    Aber 

während  Sardou  sein  Talent  vorzüglich  in  Scribes  Mache  und  Geschäfts- 
kunst übte,  haben  jene  mit  hohem  künstlerischen  Ernste  die  Mache  ge- 
adelt und  in  den  Dienst  einer  sozialen  Mission  gestellt,  welche  die  Schranken 
der  Konvention  nicht  achtete.     Man  fühlt  die  Nähe  der  Welt,  die  Balzacs 


Dumas. 


F.  Das  19. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  aqi 

Realismus  erschlossen  hat.     Augier  und  Dumas  sind  künstlerischer,  tiefer 
und   entschlossener  als  Scribe.      Der  Ernst  dieser  realistischen  Sitten.stücke 
mit  ihren  tragischen  Konflikten  führte  oft  dazu,  daß  die  Bezeichnung  comcdie 
als  unpassend   empfunden   und    durch   das   indiiferente  piice  ersetzt  wurde. 
Und  oft  genug  machen  diese  pilccs  von  den  dramatischen  Freiheiten  wenig 
Gebrauch  und  stellen  die  letzten  Stunden  vor  einer  Katastrophe,  eine  bloße 
Krisis,    ohne    Schauplatzwechsel    dar,    wie    einst    die    klassische    Tragödie. 
Augier    und    Dumas    zeigen    in    ihren    Anfängen    noch    romantischen 
Schmuck.    Sie  beginnen  mit  der  romantischen  Darstellung  liebender  Dirnen, 
denen  diese  Liebe  zum  Verhängnis  wird:  Augiers  Donna  Clorinde  {L'aven- 
iurüre,   1848),  und   Dumas'  Marguerite  Gautier  [Dame  aux  camilias,  dramey 
1852).     Auch  schreibt  Augier  erst  in  Versen.     Aber  die  alte  Verssprache 
liegt  ihm  nicht  und  gibt  etwas  Unfreies  auch  seiner  „Gabrielle",  mit  welcher 
comt'tüc  er  1849  seinen  Weg  findet:  sie  stellt  den  Sieg  des  Gewissens  über 
die  romantische  Leidenschaft  dar.     Das   Beispiel    einer   Freundin    und  das 
vertrauende  Wort   des    Gatten    erhalten    die    schwankende    Gabrielle    ihrer 
Pflicht.     Und    nun    gibt  Augier    in    einem  Dutzend   hervorragender  Stücke 
das  Maß   seines  Könnens   vom   „Gendre  de  M.  Poirier"  (1854)   bis  zu  den 
„Fourchambault"  (1878),  in  denen  das  Problem  der  Familie  —  der  reichen 
und  der  armen  „besseren"  Familie  —  im  Vordergrund  steht.     Die  P'amilie 
soll  auf  Neigung  und  Gewissen  gestellt  sein,  nicht  auf  Mitgift,  gesellschaft- 
liche  Stellung,   auf  Collage    und    Schein.     Den  Verheerungen,  welche  die 
Jagd  nach  Geld  und  Genuß  im   öffentlichen  Leben  anrichten,  folgt  Augier 
ebenfalls.    Wuchtigen  Schrittes  tritt  er  in  die  Arena  des  politischen  Kampfes 
gegen  Streberei,   Reaktion  und  Klerikalismus.     Es   liegt   eine   große,   ge- 
sunde Kraft  in  diesen  starken  Dramen  eines  charaktervollen  Dichters.    Ist 
ihm  Dumas    an   Tiefe    und  Weitblick    überlegen,   so   tut    dafür   bei  Augier 
keine  „Philosophie"  der  energischen  Lebenswirklichkeit  Abbruch.    Program- 
matische Vorreden  zu  seinen  Stücken   zu  schreiben,  weigerte  er  sich.    Er 
hat  eine  unvergängliche  Galerie   defekter  Menschen  geschaffen,  vom  Drei- 
viertelsehrenmann bis    zum   unzweideutigen   Spitzbuben.     Daß  ihm  die  ho- 
netten Gegenstücke,  die  edeln  Offiziere,  Gelehrten,  Ingenieure  —  nternel 
ingihiieur  vertueux  des  romans  et  des  comidies^  wie  Lemaitre  sagt  —  etwas 
langweilig  geraten  sind,  teilt  er  mit  anderen  Moralisten:  es  ist  die  Rache 
der  Kunst. 

Dumas,  der ßls  naturcl  eines  pirc  prodigue  —  die  Helden  zweier  seiner 
Stücke  —  schreibt  aus  andern  Voraussetzungen  heraus  als  Augier.  Er 
spricht  auf  Grundlage  seiner  eigenen  irregulären  gesellschaftlichen  Stellung. 
Er  plädiert  seinen  eigenen  Fall  gegen  die  bestehende  Gesellschaft,  gegen 
ihre  Sitten  und  Gesetze.  Seine  comcdies  und  püces  sind  dramatische  Plä^ 
doyers  und  damit  man  sie  nicht  mißverstehe,  gibt  er  ihnen  flammende, 
etwas  skandalsüchtige  Vorreden  mit.  Ein  „iln'iilrc  utile"'  will  er  schaffen, 
trotz  der  Apostel  des  „Tart  pour  l'urt:  trois  mots  absolumcnt  vidts  de  sens". 
So  postuliert  er  das  Tendenztsück  {püce  a  tht'se).     Er  ist  sein  geistreicher 

1)11    Kl-ltCR    DIK    GCUKXWAIIT.    L   II.    I.  26 


402 


Heinrich  Morf;  Die  romanischen  Literaturen. 


Virtuose.  Was  das  Tendenzdrama,  dessen  Handlung  so  leicht  schematisch 
wird,  dessen  Personen  so  leicht  blutleer  geraten,  dessen  Rede  so  leicht 
in  aufdringliche  Didaktik  ausläuft  —  was  dieses  Tendenzdrama  an  wirk- 
lichem Leben  überhaupt  fassen  kann,  das  hat  ihm  dieser  dramaturgische 
Hexenmeister  gegeben.  Es  bleiben  Stellen  genug,  wo  keine  Realistik 
über  Schema,  Symbol  und  Lehrhaftigkeit  zu  triumphieren  vermocht  hat. 
So  schwankt  der  Eindruck,  den  seine  meisterlich  geführten  Stücke  machen: 
sie  sind  teils  packend  wie  das  Leben,  teils  erkältend  wie  die  Theorie. 

Für  Dumas  ist,  wie  für  Augier,  das  zentrale  Thema  die  Familie,  die 
Heiligkeit  der  Ehe.  Aber  Dumas  kämpft  insbesondere  für  die  Frau,  die 
er  heben,  stärken  und  durch  die  Möglichkeit  der  Scheidung  befreien  will: 
„Notre  biit  est  de  pro  feger  la  femvie  co7itre  les  dangers  de  l'ignorance,  de 
la  misere  et  de  loisivete  .  .  .  evipecher  de  choir  ou  tächer  de  relever  .  .  ."  Er 
ist  ein  Vorkämpfer  der  Emanzipation  der  Frau,  obschon  das  Wort  ihm 
mißfällt.  Sein  Hauptinteresse  gilt  der  Rehabilitierung  derer,  welche  die 
Familie  nach  Sitte  und  Gesetz  ausgestoßen  hat:  der  unverheirateten  Mutter 
und  ihrem  Kinde,  diesem  Schmerzensproblem  der  Gesellschaft.  Das  ist, 
was  er  seine  eigentliche  these  sociale  nennt.  Er  klagt  diese  Gesellschaft 
an  und  plädiert  für  Milde.  Indem  er  die  Schuld  des  einzelnen  der  Ge- 
samtheit aufbürdet,  bekennt  er  sich  zur  naturalistischen  Lehre,  obwohl  er 
es  ablehnt  der  ecole  naturaliste  'pure  anzugehören.  Seine  Produktion  ist 
nicht  eben  stark:  anderthalb  Dutzend  Stücke.  Aber  sie  zeigt  kein  Er- 
lahmen. Das  letzte  {Francillon,  1887)  ist  wohl  sein  bestes.  Daß  sein  erstes 
Sittenstück  „Le  demi-monde"  (1855)  zu  dem  geflügelten  Worte  von  der 
Halbwelt  führte,  verdroß  ihn.  Sein  demi-monde  ist  nicht  die  Welt  der 
käuflichen  Liebe,  sondern  die  der  gefallenen  Frauen.  Gegen  Ende  seiner 
Laufbahn  spürt  Dumas  den  Hauch  Ibsenscher  Dramatik.  Er  empfand 
Ibsen  als  einen,  der  das  weiterführte,  was  er  selbst  begonnen:  die  Revo- 
lutionierung des  sozialen  Gewissens. 

Augier  und  Dimias,  die  man,  wie  Corneille  und  Racine,  immer  zu- 
sammen nennt,  sind,  wie  diese,  recht  verschieden.  Augier  hält  der  Ge- 
sellschaft den  Spiegel  ihrer  konventionellen  Unmoral  vor  und  mit  seinem 
eindringlichen  und  aufrichtigen  Wort  sagt  er  ihr:  So  sieht's  bei  euch  aus 
—  schämt  euch!  Dumas  aber  will  bestimmte  Opfer  dieser  konventionellen 
Unmoral  befreien  und  fordert  eine  Umwertung  gesellschaftlicher  Werte. 
Er  stellt  die  Dramatik  in  den  Dienst  von  Thesen  für  eine  Reform  von 
Gesetz  und  Sitte.  Die  beiden  Männer  sind  sich  im  Leben  nicht  näher  ge- 
treten. Wenn  Dumas  dem  altern  Kollegen  viel  verdankt,  so  hat  er  doch 
auch  auf  Augier  Einfluß  geübt  und  dieser  hat  sich  ihm  beigesellt  im 
Kampf  für  die  Ehescheidung  {Madajne  Caverlet,  piece,  1876)  und  die  Re- 
habilitierung des  natürlichen  Kindes  und  seiner  Mutter  (Z  es  Fourchambault). 
Die  machtvollen  Schöpfungen  dieser  beider  Dramatiker  begründeten 
eine  neue  eiu"opäische  Herrschaft  des  französischen  Theaters:  auch  die 
germanischen  Länder  übernahmen  dieses  Sittenstück  und  bildeten  es  formell 


F.  Das  10.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^03 

und  stofflich  nach  und  weiter  —  um  mit  diesen  Weiterbildungen  dann 
wieder  auf  die  französische  Bühne  /u  wirken.  Ibsen  hat  von  Dumas 
gelernt. 

Unter  den  Vertretern  dieser  Sittenkomödie  ist  im  Auslande  besonders 
Paillcron  mit  seinem  „Monde  oü  Ton  s'ennuie"  (i86q)  bekannt  geworden. 
Der  Theoretiker  der  vSchule  ist  der  geistvolle  Fr.  Sarcey  (-j-  1899).  Während 
dreißig  Jahren  hat  Sarcey  all  die  Dramen,  die  den  Regeln  der  pibce  Inen 
faxte  nicht  entsprachen,  im  Feuilleton  des  „Temps"  der  Mißbilligung  des 
Publikums  überantwortet.  Das  technische  Schema  ging  ihm  über  alles, 
ein  regelrechtes  Vaudeville  über  Shakespeare,  und  es  ist  bezeichnend 
für  den  literarischen  Autoritätsglauben  der  Franzosen,  daß  Sarcey  jahr- 
zehntelang eine  förmliche  Herrschaft  besaß. 

Gegen  das  Schema  dieser  „Theaterküche"  revoltierten  in  den  letzten  Di«  i»*tnrau- 
Jahren  des  Kaiserreiches  die  Jungen  als  gegen  eine  Künstelei.  Sie  pro- "^^'^  ^"™*'*'' 
testierten  im  Namen  der  Wahrheit  und  der  Natur  gegen  Scribesche  Szenen- 
führung, gegen  den  ebenmäßigen  Bau  der  Akte,  gegen  die  Rollen,  die 
einem  Bedürfnis  des  Optimismus  entsprangen  oder  zur  Belehrung  des 
Publikums  erdacht  werden  {Ic  personnage  sympat/nque),  gegen  die  lehr- 
haften Tiraden.  Diese  Jungen  kommen  vom  Roman  her,  der  inzwischen 
naturalistisch  geworden  war,  keine  Kunstregeln  anerkannte  und  seine 
Helden  gern  in  den  Niederungen  des  Lebens  suchte.  Aber  die  Dramen 
dieser  Romandichter  wie  Goncourt,  Zola  sind  keine  Kunstwerke,  Auch 
Daudets  „Arl6sienne"  (1872),  dieses  schöne  Drama  leidenschaftlich  be- 
wegten provinziellen  Lebens,  drang  nicht  durch.  Da  kam  H.  Becque  H.BM»ioe. 
^1837  —  99).  Becque  hat  zwar  gegen  die  Naturalisten  polemisiert  —  wie 
gegen  jedermann  —  aber  die  Übertreibungen,  die  er  ihnen  vorwirft,  finden 
sich  auch  bei  ihm.  Er  gehört  zur  Schule,  So  phantastisch  sein  „Michel 
Pauper,  drame  en  sept  tableaux"  (1870)  sein  mag,  dieser  edle  Ingenieur 
und  Naturbursche  Michel  verrät  schon  durch  die  Nuance  des  Alkoholismus 
seine  literarische  Herkunft  und  das  dritte  tableau  des  vierten  Aktes  {une 
rue  sur  les  quais)^  das  ihn  betrunken  vor  der  Haustüre  liegend  zeigt, 
während  seine  Frau  mit  ihrem  Liebhaber  über  ihn  wegschreitet,  ist  das 
richtige  Romanbild:  Coupeau,  Lautier  und  Gervaise  {L'assomrnoir).  Zu 
wirklicher  Größe  erhebt  er  sich  in  den  „Corbeaux"  (1882),  dem  Bild  einer 
Familie,  auf  die  nach  dem  plötzlichen  Tod  des  Ernährers  die  Raben  nieder- 
steigen: Geschäftsfreund,  Notar,  Gläubiger,  um  aus  der  äußern  und  innern 
Not  der  Schutzlosen  Gewinn  und  Genuß  zu  ziehen:  rücksichtslose,  von 
allen  dramatischen  Mätzchen  freie  Darstellung  ergreifender  Alltäglichkeit 
in  meisterlicher  Charakterisierung.  Und  das  selbe  Lob  gebührt  der  „Pari- 
sienne"  (1885),  diesem  dreiaktigen  Ausschnitt  aus  dem  Leben  eines  Weibes, 
das  in  souveräner  Amoralität  sich  mit  sicherer  Verstellung  und  Lüge  in- 
mitten zweier  Liebesverhältnisse  bewegt:  einem  menage  h  quatre.  Becque 
gibt  uns  diese  wurmstichigen  Personen  in  brutaler  Wirklichkeitsfreude, 
ohne   jede    Milderung,    ohne    einen   erfreulichen    Zug,    ohne    irgendwelche 

26» 


404 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Lösung,  gleichsam  höhnisch  erklärend:  so  gemein  ist  das  Leben.  „Corbeaux" 
und  „Parisienne"  enden  beide  mit  dem  Siege  der  Gemeinheit.  Er  nennt 
diese  Kunst:  representer  ses  semblables.  „In  der  Dramatik,  erklärt  er,  gibt 
es  weder  Gesetze  noch  Regeln;  es  gibt  nur  Werke  .  .  .  ich  hasse  das 
Thesenstück/'  Man  dürfe  bei  ihm  keine  „Ideen"  suchen;  er  sei  kein  Denker. 
Das  Publikum  lehnte  unter  Sarceys  Führung  Becques  grausame 
Meisterstücke  ab.  Doch  fand  Becque  begeisterte  Anhänger,  die  gleich 
ihm  nicht  kunstvoll  aufgebaute  Dramen,  sondern  bloß  Lebensausschnitte 
{tranches  de  vie)  und  tableaux  gaben  und  die  Wirklichkeit  mit  Vorliebe  in 
der  Häßlichkeit  der  Zustände  und  der  Gemeinheit  der  Helden  suchten,  sei 
es  aus  künstlerischer  oder  philosophischer  Überzeugung,  sei  es  aus  Re- 
nommisterei. Eine  ganze  Welt  von  Jammer,  Elend,  Brutalität  und  Ekel 
steigt  auf  die  Bühne  und  trotzt  zynisch  jeder  Konvention  der  Form  und 
des  Inhalts  {la  comedie  rosse,  z.  B.  Goncourts  Germinie  Lacerteux^  1887). 
Das  Diese  naturalistische  Dramatik  fand  seit  1887  in  Antoines  Th6ätre- 

libre  eine  Stätte,  welche  die  jungen  Talente  gastlich  empfing  und  schon 
in  den  ersten  drei  Jahren  125  „actes  inedits"  spielte,  während  die  beiden 
großen  Staatsbühnen  zusammen  nur  deren  92  brachten.  So  ward  Antoines 
Unternehmen  von  Anfang  an  zu  einem  starken  Ferment  dramatischer 
Tätigkeit.  Wenn  indessen  die  „freie  Bühne"  während  der  sieben  Jahre 
ihrer  Existenz  keine  andere  Aufgabe  erfüllt  hätte,  als  die  „Trotzstücke" 
der  Ancey,  Ceard,  Jullien  usw.  einem  abonnierten  Liebhaberpublikum 
vorzuführen,  so  würde  ihre  Rolle  bescheiden  geblieben  sein,  denn  die  Mode 
wandte  sich  von  Becques  Nachfolgern  bald  ab,  obwohl  ihre  pieces,  etudes 
usw.  mit  der  düsteren  Auffassung  des  Lebens  als  einer  amoralischen  Ord- 
nung viel  intensive,  packende  Bilder  geben  (z.B.  Hennique,  EstJier 
Brandes^  1887;  Ceard,  Les  resignes,  1889).  Die  Formlosigkeit  der  comedie 
rosse  wurde  zur  Formel,  die  Lebensverleumdung  zur  förmlichen  These,  ge- 
wisse Rollen  zu  förmlichen  Typen  [le  personnage  cynique),  und  so  erschöpfte 
sich  die  Neuheit  bald  in  Einförmigkeit  und  ward  konventionell.  Und  das 
war  das  Ende.  Antoine  kämpfte  indessen  nicht  sowohl  für  die  comedie 
rosse  als  für  jegliche  Freiheit  des  Dichters  und  des  Schauspielers:  laisser 
tenter  ioutes  les  experiences  war  der  Wahlspruch.  Er  kämpfte  für  natur- 
getreue Inszenierung  der  Umwelt  und,  wie  einst  Moliere,  für  einfache,  natür- 
liche Diktion  und  Geste  gegenüber  dem  konventionellen  Vortrag  und 
dem  stilisierten  Pathos  der  führenden  Bühnen.  Er  öffnete  sein  Haus  den 
Werken  des  Auslandes,  den  russischen,  skandinavischen,  deutschen:  Tolstois 
„ Macht  der  Finsternis "  1888,  Ibsens  „Gespenster"  1890,  Hauptmanns  „Weber". 
Das  Theätre-libre  wurde  das  Einfallstor  für  diese  „nordischen"  Drama- 
tiker, als  deren  Führer  Ibsen  galt,  von  dem  in  Frankreich  hauptsächlich 
die  „Gespenster",  „Wildente"  und  „Nora"  bekannt  geworden  sind.  Gewiß 
hat  das  französische  Publikum  nie  ein  wirkliches  Verhältnis  zu  dieser 
fremden  Kunst  gewonnen  und  Sarceys  Protest  gegen  die  ibsenite  war  ihm 
aus    dem    Herzen    gesprochen.      Aber    einzelne    Dichter    sind    durch    das 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach   1850.  ^05 

nordische  Schauspiel  tief  ergrifTen  und  beeinflußt  worden.  Ibsen  besonders, 
der  grüblerische  Wahrheitssucher,  ward  in  ihnen  mächtig-.  Mit  den  weiten 
Horizonten  und  den  erbarmungslosen  Tiefen  seiner  Stücke,  an  denen  der 
eine  den  Naturalismus  und  der  andere  den  Symbolismus,  dieser  den 
Sozialismus  und  jener  den  Individualismus  pries,  zwang-  er  zum  Nachdenken 
über  die  Probleme  des  Daseins.  Er  war,  was  Becque  nie  sein  wollte,  ein 
Denker,  und  gab  das  Beispiel  einer  Dramatik  der  Ideen  und  Probleme,  die 
weder  das  Mittel  kruder  Gegenständlichkeit  noch  das  der  symbolischen 
Einkleidung  verschmähte.  Das  Element  des  Krankhaften,  Schrecklichen, 
Grausigen,  Schicksalsmächtigen,  das  in  diesem  Theater  eine  hervorragende 
Rolle  spielt,  führt  von  selbst  zum  Symbol.  So  reichte  in  der  neuen 
Bühnenkunst  der  Naturalismus  dem  Symbolismus  die  Hand  —  wie  im 
Roman. 

Neben  und  nach  dem  Th^ätre-libre  haben  andere  Bühnen,  wie  das 
Th^ätre  de  l'CEuvre  (seit  1892)  seine  Aufgabe  weitergeführt.  Auch  die 
„Cabarets"  (seit  1880)  haben  daran  Anteil,  deren  Scherz  und  Ernst  für 
manches  junge  Talent  die  erste  Versuchsstation  neuer  Kunst  war. 

Die  durch  das  Th^ätre-libre  geleitete  naturalistische  Be wegging  ist  das  oai  Erb«»  d« 
große  Ereignis  in  der  Geschichte  der  französischen  Dramatik  der  letzten  Jahr-  °^|^J,^  "'^ 
zehnte.  Nachdem  Sturm  und  Drang  verrauscht,  ist  der  Gewinn  deutlich  erkenn- 
bar: das  Gewitter  hat  erfrischte  Fluren  hinterlassen.  Inszenierung  und 
Spiel  der  Bühne,  die  Handlungsführung  der  Stücke,  die  idiomatische 
Nuancierung  der  Rede  sind  freier,  lebenswirklicher,  natürlicher  geworden. 
Die  ganze  dichterische  Arbeit  ist  befreit  von  den  Konventionen  der 
Schule:  Niemand  regiert  und  befiehlt.  Die  Künstler  bilden  statt  zu  reden. 
Daß  die  Technik  nicht  selten  leidet,  ist  unbestreitbar:  das  ist  die  Kehr- 
seite der  Freiheit.  Das  Feld  des  Dramatikers  hat  sich  erweitert.  Es  ist 
so  weit  geworden  wie  das  Leben  selbst  und  umfaßt  auch  das  Dasein  der 
Kleinsten  und  Elendesten.  Auch  ihr  Schicksal  ist  Menschenschicksal  und 
birgt  für  das  Auge  des  Sehenden  den  Quell  der  Poesie,  und  der  Künstler 
hat  das  Recht,  es  nachzubilden.  Daß  dies  heute  anerkannt  ist,  ist  das  — 
nicht  nur  soziale,  sondern  auch  künstlerische  —  Verdienst  des  Naturalis- 
mus. Niemand  wundert  sich,  daß  der  feinsinnige  A.  France  neben  dem 
Drama  vom  „Lys  rouge"  auch  das  Straßenbild  „Crainquebille"  (iqos)  ge- 
schrieben und  mit  den  drei  tablcaux  ein  kleines  Meisterwerk  geliefert  hat. 
Und  wenige  werden  sich  weigern,  Courtelines  „tragischen  Possen"  Kunst- 
wert zuzugestehen.  Aber  nicht  nur  erweitert,  sondern  auch  vertieft  hat 
sich  die  dramatische  Arbeit,  Die  naturalistische  Beobachtung  h.it  in  der 
Tiefe  des  menschlichen  Handelns  neue  Beweggriinde  erkannt,  die  den 
Menschen  bedingter  und  komplizierter  erscheinen  lassen,  als  die  ältere 
Dramatik  ihn  begriff.  Die  Psychologie  des  neuen  Dramas  hat  daraus  Ge- 
winn gezogen. 

Aus    der    naturalistischen    Bewegung    und    zum    Teil    geradezu    vom 
Th^ätre-libre  kommen  die   repräsentativen  Dramatiker  des  heutigen  Frank- 


4o6  Heinrich  IMorf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Die  „comedie  rcich:  Portoiiche,  Donnay,  Brieux,  Hervieu,  Curel  und  diese  Herkunft 
spiegelt  sich  auch  im  Schicksal  ihrer  berühmtesten  Stücke:  Curels  „Fossiles" 
sind  1892  vom  Theätre-libre  aus  der  Taufe  gehoben  worden  und  dann 
acht  Jahre  später  an  die  Bühne  des  Staatstheaters  übergegangen.  Diese 
Dramatiker  sind  indessen  weit  davon  entfernt  eine  Schule  zu  bilden.  Porto- 
riche  und  Donnay  schildern  mit  Vorliebe  die  7?t(Eurs  mondaines  der 
Gesellschaft,  deren  Liebesleben  Portoriche  mit  verfeinertem  Naturalismus 
tief  erfaßt,  während  Donnay  als  ironischer  Beobachter  es  mit  schillernder 
Rede  geistreich  umspielt.  Nur  schwach  und  unsicher  ist  in  Donnays 
Stücken  der  Hauch  der  neuen  Zeit.  Stark  ist  er  bei  Brieux.  Brieux 
kann  als  der  moderne  Augier  gelten.  Er  stellt  z.  B.  die  demoralisierende 
Wirkung  der  Mitgiftspekulationen  dar  {Les  trois  filles  de  M.  Dupont,  1899); 
doch  merkt  man  deutlich,  wie  er  in  der  Schilderung  des  bürgerlichen  In- 
terieurs von  Becque  gelernt  hat.  Ehrlich  und  kraftvoll  behandelt  er  die 
Probleme  unseres  Lebens.  Wenn  auch  Brieux  den  Kreis  dieser  Probleme 
viel  weiter  zieht  als  Augier  und  darin  den  Einfluß  Ibsens  verrät  (z.  B.  Les 
avaries),  so  ähnelt  er  Augier  doch  wieder  darin,  daß  er  gegenüber  der 
„Revolutionierung  des  Gewissens"  Zurückhaltung  übt  {L'e'vasion).  Aber 
seine  Kunst  leidet  unter  der  Lehrhaftigkeit.  Die  erzieherische  Absicht 
seiner  Stücke  macht  sich  zu  sehr  breit.  Nicht  daß  er  überhaupt  in  seinen 
Dramen  eine  Tendenz  vertritt  und  sich  ein  Problem  vom  Herzen  schreibt, 
darf  dem  Dichter  zumVorwurf  gemacht  werden.  Das  Wort  vom„Tendenzstück''' 
ist  ein  Schlagwort  und  führt  zum  Mißbrauch.  Jeder  Künstler  hat  die 
Tendenz  seiner  Persönlichkeit  und  jedes  Kunstwerk  spricht  sie  aus  — 
muß  sie  aussprechen.  Aber  es  darf  dieser  Tendenz  kein  Opfer  bringen. 
Das  aber  tun  die  Dramen  Brieux'  und  einzelne  so  sehr,  daß  in  ihnen  ge- 
radezu das  alte  Thesenstück  wieder  ersteht  (z.  B.  Les  bienfaiteurs).  Da 
ist  die  künstliche  Zurechtmachung  der  Handlung,  da  sind  die  simplistischen 
Charaktere  und  die  simplistische  Lösung,  wie  sie  das  Leben  nicht  so  restlos 
bietet;  da  ist  sogar  die  Figur  des  Räsonneurs,  der  den  didaktischen  Kom- 
mentar vorträgt.  Hervieus  vornehme  Kunst  arbeitet  mit  feineren  Mitteln, 
und  zu  Unrecht  bezeichnet  man  seine  Stücke  als  pieces  a  these.  Aber 
etwas  Geradliniges  eignet  sowohl  der  Handlung  wie  den  Personen  der 
straffgebauten  Dramen.  Sie  packen  den  Zuschauer  durch  die  Folgerichtig- 
keit ihrer  Entwickelung  und  den  inneren  Reichtum  ihrer  Szenen,  in  denen 
die  Seelennot,  welche  Natur,  Sitte  und  Gesetz  über  uns  Menschen  bringen, 
erschlossen  werden  —  und  doch  entlassen  sie  einen  mit  dem  Eindruck, 
daß  der  Dichter  zu  sehr  konstruiert.  Am  wenigsten  wohl  in  seinem  besten 
Stücke  „La  course  du  flambeau"  (1900),  einer  Tragödie  der  Mutterliebe, 
deren  symbolischer  Titel  vom  griechischen  Fackellauf  hergenommen  ist, 
bei  welchem  jeder  die  von  seinem  Hintermann  empfangene  Fackel  eiligst 
zu  seinem  Vordermanne  weiter  trägt,  wobei  aller  Augen  dem  wandernden 
Lichte  folgen,  ohne  sich  zurückzuwenden:  so  geben  wir  Menschen  das 
Licht  des  Lebens  weiter,  eine  Generation  der  anderen,  und  jeder  von  uns 


F.  Das  K).  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^07 

blickt  dem  wandernden  Lebenslichte  nach  —  blickt  nach  seinen  Kindern 
und  nicht  zurück.  Es  ist  ein  Gesetz  des  Lebens,  daß  die  Mutter  ihr  Kind 
mehr  liebt,  als  dieses  seine  Mutter.  ,,La  piete  filiale  nc  rtsistc  pas  a 
rt'prcuvi''  ist  das  Thema  des  „Fackellaufes"  und  es  ist  ergreifend  behandelt 
in  den  drei  Figuren  der  Großmutter  —  in  welcher  der  Quell  des  Lebens 
versiegt  ist  — ,  der  Mutter  —  die  ihrer  Tochter  alles  opfert  —  und  dieser 
Tochter,  die  sich  von  der  Mutter  abwendet,  um  dorn  Licht  des  Lebens 
zu  folgen. 

Der  bedeutendste  dieser  Dramatiker  ist  ohne  Zweifel  Curel.  Seine 
„Fossiles"  sind  das  beste  Stück  der  letzten  Jahre  und  auch  sein  bestes: 
Das  Bild  des  alten  Adels,  der  fem  von  der  demokratischen  Welt,  die  er 
nicht  versteht  und  die  ihn  nicht  brauchen  kann,  sich  resigniert  in  Taten- 
losigkeit verzehrt,  während  seine  Kinder  diese  Tatenlosigkeit  hassen  und  vor 
Verlangen  brennen,  ins  Leben  zurückzukehren  und  als  moderne  Menschen 
eine  Mission  zu  erfüllen.  Dieser  Konflikt  ist  von  Curel  in  origineller  und 
kühner  Erfindung  auf  tiefen  seelischen  Fundamenten  aufgebaut  und  zur 
Tragödie  gestaltet.  Er  hat  das  Thema  von  der  sozialen  Nutzbarmachung 
der  noblcssc  iniitilc  wieder  aufgenommen  im  „Repas  du  Hon"  (1897)  und 
es  weiter  geführt:  Der  Adel  wird  industriell  und  wird  in  die  Arbeiter- 
bewegung hineingezogen.  Aber  hier  ist  Curel,  wie  anderswo,  der  Gefahr 
nicht  entgangen,  die  im  Hintergrunde  dieser  Stücke  lauert:  das  didaktische 
Pathos  reißt  ihn  fort. 

So  greift  der  französische  Dramatiker  der  Gegenwart  mit  entschlossener 
Hand  nach  allen  Problemen,  die  uns  umgeben:  Arbeiterfrage  und  Sozia- 
lismus, Erziehung  und  Unterricht,  Politik  und  Börse,  Ehescheidung  und 
drittes  Geschlecht,  psychische  und  physische  Heredität,  Wissenschaft  und 
Dogma. 

Neben  dieser  „com^die  nouvelle",  die  zum  Nachdenken  zwingt  und 
erzieht,  die  eine  Schule  der  Handlung  und  des  Willens  ist,  steht  ihr 
Halbgeschwister  und  Widerpart:  „le  drame  symbolique."  Es  ist  aus  der 
nämlichen  pessimistischen  Weltanschauung  geboren,  aus  welcher  das  natu-  ^^  ^^^^^^ 
ralistische  Theater  hervorgegangen.  Aber  es  ist  nicht  erzieherisch,  wie  d„sj.„boU.iiic 
die  „comedie  nouvelle".  Nicht  der  Wille,  sondern  die  träumerische 
Stimmung  beherrscht  es.  Es  ist  poesieerfülltes  aber  unsoziales  Spiel.  Sein 
vornehmster  Vertreter  ist  Maeterlinck  —  nicht  der  Verfasser  des  lyrischen 
Eflfektstückes  „Monna  Vanna",  sondern  der  Dichter  von  „L'intruse",  „Les 
aveugles"  (1890),  „Aglavaine  und  Selysette",  der  aus  der  Tragödie  des 
Alltags  —  das  ist  sein  Ausdruck  —  wie  aus  der  Welt  des  Märchens 
wunderbare  dramatische  Gebilde  gestaltet:  nicht  Sitten-  sondern  Stim- 
mungsstudien. Die  Helden  dieses  Theaters  sind  Menschen  mit  dämmernden 
Sinnen:  Blinde,  Greise,  Irre,  Kinder.  Ahnen  ist  ihr  Tun;  lallen,  schweigen 
ist  ihre  Sprache.  Von  unbegreiflichen  Schicksalsmächten  geführt,  wandeln, 
taumeln  sie  angstvoll  ihre  Bahn.  Man  denkt  unwillkürlich  an  die  Kom- 
positionen Sascha  Schneiders.     Der  Tod   ist  der   allgewaltige   Beherrscher 


4o8  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

dieses  Reiches,  in  welchem  köstliche  Wunder  nur  geschehen,  um  in  un- 
abwendbares Leid  zu  versinken.  Die  Stimmung  dieser  lyrischen  Bühne, 
auf  welcher  —  naturalistisch  —  die  Inszenierung-  mitspielt,  ist  beklemmende 
Lebensverneinung.  Neuerdings  aber  ist  Maeterlinck  unter  Führung  der 
Naturbeobachtung  zu  nachdrücklicher  Lebensbejahung  gekommen  und 
schreibt,  ein  zweiter  Michelet,  vom  „Leben  der  Bienen",  von  der  „Intelli- 
genz der  Blumen".  Und  daraus  ist,  als  ein  Versprechen  werktätigerer 
Kirnst,  „Joyzelle"  (1903)  hervorgegangen. 

Von  Maeterlincks  Stimmungskunst  geleitet,  von  Baudelaires  Lyrik  er- 
füllt, und  Flauberts  „Herodias"  vor  Augen,  schrieb  O.Wilde  seine  „Salome" 
(1893)  französisch.  Aus  dem  historischen  Stoff  machte  er  eine  dramatische 
Studie  über  sexuelle  Perversität,  die  anwidert.  Es  ist  das  Werk  eines 
Kranken,  der  aber  seine  hohe  Künstlerschaft  von  neuem  erweist  in  der 
Schilderung  jenes  römisch -orientalischen  Königshofes,  über  dem  gewitter- 
schwer die  Ahnung  eines  unentrinnbaren  Unheils  lagert,  und  in  der  Evo- 
kation jener  ganzen  barbarischen  Welt,  in  deren  Soldatengespräche  und 
Judengezänk  der  Ruf  des  Evangeliums  hineinklingt. 

Neben  dem  Prosadialog  des  naturalistischen  Sittenstückes  ist  der 
klingende  Vers  des  weiland  romantischen  Dramas  nicht  ganz  verstummt. 
Von  Zeit  zu  Zeit  folgt  das  Publikum  gern  seinem  Rufe  zu  einer  Fahrt  ins 
alte  romantische  Land  und  niemand  hat  mit  diesem  Rufe  mehr  Glück  ge- 
Rostand.  habt,  als  Rostand.  „Cyrano  de  Bergerac"  (1897)  hat  durch  seine  glän- 
zende Erweckung  stolzer  Vergangenheit,  durch  seine  virtuose  Wortkunst, 
durch  die  lyrische  Verherrlichung  nationaler  Eigenart  all  die  Stimmungen 
siegreich  ausgelöst,  die  beim  naturalisme  und  ibsenisme  zu  kurz  gekommen 
waren.  Der  Triumph  dieses  Stückes  —  den  ganz  Europa  den  Franzosen 
abgenommen  hat  —  ist  ein  Datum,  aber  kein  Wendepunkt  in  der  Ge- 
schichte der  Dramatik.  Denn  „Cyrano"  ist  zwar  ein  Werk  der  Poesie  — 
dem  der  Autor  übrigens  nichts  Ebenbürtiges  hat  folgen  lassen  —  aber 
seine  Wurzeln  ruhen  in  der  Kunstanschauung  einer  vergangenen  Zeit. 

Ein  verspäteter  Romantiker  ist  auch  Gobineau,  dessen  Buchdrama, 
historische  Szenen  aus  der  italienischen  Renaissance  (Savonarola,  Cesare 
Borgia,  Julius  IL,  Leo  X.,  Michelangelo,  1877),  ein  Werk  ungewöhnlichen 
dichterischen  Könnens  ist.  In  diesen  Szenen  voll  tiefer  Empfindung,  hohen 
Geistesfluges  und  leidenschaftlicher  Erregung  huldigt  der  Poet  jenem 
Rinascimento,  dessen  Herrenmenschen  den  „Rassenphilosophen"  anzogen. 
Auch  der  Philosoph  Gobineau  ist  ja  —  nur  ein  Poet. 

Das  Buchdrama  hat  in  Frankreich  nicht  die  Bedeutung,  wie  im  zeit- 
genössischen England.  Aber  Renans  Name  {Drmties  philo sophiques) 
muß  dabei  genannt  werden.  Er  hat  Figuren  aus  Shakespeares  „Sturm" 
—  den  nach  Mailand  zurückgekehrten  Prospero  mit  Caliban  und  Ariel  — 
sowie  die  Sage  vom  Dianaheiligtum  am  Nemisee  zu  geistvoller  Behand- 
lung von  Zeitfragen,  besonders  zur  Auseinandersetzung  mit  der  siegreichen 
Demokratie   benutzt    und    in    der    „Abbesse    de  Jouarre"   (1886)    das   heid- 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach   1850,  ^OQ 

nische   „Omnia    vincit  amor"    zugleich   weise    und    frivDl    in  Worthandlung 
gesetzt. 

Die  französische  —  d.  h.  die  Pariser  —  Bühne  gehört  nicht  mehr  wie  KOckbUck. 
zur  Zeit  der  Romantik  einer  bestimmten  Schule.  Der  moderne  Individua- 
lismus hat  die  Schultheorien  zu  Fall  gebracht  und  die  Autorität  einer  über- 
ragenden künstlerischen  Persönlichkeit  fehlt.  Der  Dichter  sucht  sich  selbst 
den  Weg.  Der  Sturm  des  Naturalismus  hat  eine  Freiheit  zurückgelassen, 
wie  sie  kaum  zuvor  bestanden  und  welche  die  einen  als  Gewähr  für  die 
Zukunft  begrüßen,  während  die  andern  sie  als  Anarchie  beklagen.  Er 
hat  auch  dem  zeitgenössischen  Drama  des  germanischen  Auslandes  eine  so 
einflußreiche  Stellung  geschaffen,  wie  sie  nie  vorher  dagewesen.  Die  ein- 
heimische Kunst  hat  dadurch  einen  mächtigen  Impuls  erhalten,  ohne  daß 
sie  nun,  wie  Angstliche  befürchten,  über  ihrem  weiteren  Horizonte  den 
Blick  für  das  eigene  Volkstum  zu  verlieren  Gefahr  läuft. 

Shakespeare  ist  endlich  auf  der  französischen  Staatsbühne  eingezogen. 

Die  moderne  Dramatik  zeugt  von  ernster  künstlerischer  und  sozialer 
Arbeit.  Das  Verlangen  nach  einem  nationalen  Festspiel  hat  zur  Wieder- 
belebung des  antiken  Theaters  von  Orange  geführt.  Doch  ist  das  moderne 
Kunstwerk,  nach  welchem  diese  Bühne  schreit,  noch  nicht  geschrieben. 
Auch  die  Volkstheaterbestrebungen  haben  eine  Stätte  und  begabte  Förderer 
wie  M.  Bouchor  gefunden.  Das  Ausland  aber  beurteilt  zu  leicht  die 
dramatische  Arbeit  der  Franzosen  nach  jenen  leichtgeschürzten  Possen  und 
erotischen  Unsittenstücken,  welche  die  Pariser  Boulevards,  dieser  ewige 
Jahrmarkt,  besonders  für  die  neugierigen  Fremden  schafft  und  die  mit 
diesen  Fremden  den  Weg  in  die  Welt  finden  und  die  Franzosen  in  den 
Ruf  besonderer  Frivolität  bringen.  — 

Wenn    auch   Frankreich    heute    noch    innerhalb   der  Romania  die  lite-  Frankmchi 
rarische  Hegemonie  besitzt,  so  hat  es  sie  doch  in  Europa  nicht  mehr  inne.  J*"^»"»«^*"" 

,  Hegemomo 

Dessen  Geist  ist  mündig  geworden  und,  kosmopolitisch,  widerstrebt  er 
einer  be.stimmten  Führung.  Darüber  klagt  Frankreich  seit  Jahrzehnten. 
„Lesprit  europecn,  sagt  z.B.  de  Vogü^  1886,  uou!^  cchappc''.  Noch  kaufe 
Europa  französische  Bücher  aus  Gewohnheit  und  Mode,  aber  das  eigent- 
lich bildende,  nährende  Buch  komme  nicht  mehr  aus  Paris.  Und  tatsäch- 
lich zeigt  die  Statistik,  daß  der  französische  Büchermarkt  in  seiner  Ausfuhr 
stark  zurückgegangen  ist  und  heute  nicht  nur  weit  hinter  dem  deutschen 
und  englischen  steht,  sondern  auch  vom  nordamerikanischen  überflügelt  ist. 
Ein  langer  Aufenthalt  im  Ausland  hat  de  Vogü6  gelehrt,  daß  les  iiivea 
gnuralfs  </ui  tratiüformcnt  l' Kiiropc  ne  sortent  plus  de  Finne  fnitK^aisc. 

Die  letzten  zwei  Jahrzehnte  haben  freilich  gezeigt,  daß  dieses  Urteil 
einer  Stunde  der  Niedergeschlagenheit  übertrieben  und  daß  Frankreich 
keineswegs  aus  der  Reihe  der  leitenden  geistigen  Mächte  ausgeschieden 
ist.  Für  das  nationale  Empfinden  mag  es  schmerzlich  sein,  die  alte  Allein- 
herrschaft verloren  zu  sehen.  Aber  die  Menschheit  hat  ihren  Gewinn  da- 
von,  daß   auch  anderes  Volkstum  als  das  romanische  entscheidend  in  den 


4IO 


Heinrich  ]Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


geistigen  Wettbewerb  eingetreten  ist  —  jenen  Wettbewerb,  oü  Vecolier 
dliier  devicnt  le  maitre  d'aujourd'hui,  wie  Renan  sagt.  Man  wird  dankbar 
anerkennen,  was  die  Welt  dem  französischen  Schrifttum  schuldet  und  wird 
sich  freuen,  daß  die  Zeitläufte  nun  auch  den  Quell  anderer,  ursprünglicherer 
Literaturen  erschlossen  haben.  Die  „äme  fran9aise"  sitzt  lauschend  an 
diesem  Quell.  Sie  schöpft  aus  ihm  und  ihr  kunstvolles  Lied  erklingt  im 
Chor  der  anderen  stolz  wie  je. 

Italien.  Das  Jahr  1850  fand  Italien  besiegt  und  unfrei  wie  vordem. 
Noch  länger  sollte  der  politische  Kampf  die  besten  Kräfte  absorbieren. 
Die  Blicke  der  Patrioten  waren  auf  den  neuen  König  von  Sardinien, 
Viktor  Emanuel,  gerichtet,  dem  Cavours  kluger  Rat  und  Garibaldis  rasche 
Tat  zur  Seite  stand.  Brausend  scholl  Mercantinis  Garibaldi -Hymnus 
durch  das  Land: 

La  terra  dei  fiori,  dei  suoni  e  dei  carmi 

Ritorni,  quäl  era,  la  terra  dell'armi ! 

Frankreich  half  1859  gegen  Österreich,  aber  das  selbe  Frankreich  schützte 
den   Papst,    so    daß    das  junge  „Regno  d'Italia"  sein  natürliches  Zentrum, 
Rom,    erst    noch    entbehren   mußte.     Mit  der  Einnahme  Roms  (1870)  fand 
endlich  das  vielhundertjährige  Ringen  seinen  Abschluß. 
Die  Prosa.  Seither  hat  Italien  an  der  wissenschaftlichen  Arbeit  eifrigen  und  durch 

glänzende  Namen  ausgezeichneten  Anteil  genommen,  nicht  nur  in  der 
historischen  und  philologischen,  sondern  auch  in  der  naturwissenschaftlichen 
Forschung.  Und  seine  Forscher  sind  oft  Meister  gemeinverständlicher  Auf- 
klärung, wie  Lessona  und  Mosso.  Lombroso  hat  den  Ausnahme- 
menschen, den  Verbrecher  und  das  Genie,  vor  das  Forum  der  Psycho- 
pathologie gezogen.  Seine  Lehre  hat  viel  Beunruhigung  gebracht,  auch 
bei  den  Literarhistorikern,  aber  sie  hat  weittragende  Anregung  gegeben. 
Die  Romantik  hatte  die  moderne  Literaturgeschichte  geschaffen,  die 
das  Dichterwerk  als  ein  Dokument  seiner  Zeit  anspricht  und  es  aus  seiner 
Zeit  heraus  historisch -psychologisch  zu  verstehen  versucht.  Inmitten  der 
politischen  Kämpfe  war  freilich  die  kritische  Bewertung  der  Dichterwerke 
stark  politisch  bedingt  geblieben.  Es  hatte  sich  eine  Art  patriotischer 
Ästhetik  gebildet,  die  z.B.  Cantü  (f  1895)  und  Settembrini  (-{-  1877)  ver- 
traten. Gegen  solche  Voreingenommenheit  erhob  sich  De  Sanctis  (f  1883). 
Er  lehrt  die  Kritik  des  Varte  per  Varte  und  hat  als  Kritiker  nicht  seines- 
gleichen in  der  lebendigen  Wiedergabe  des  großen  Kunstwerks.  Aber 
indem  in  seiner  „Storia  della  letteratura  italiana"  (1870)  die  Meisterwerke 
in  machtvoller  Offenbarung  hervortreten,  leidet  die  entwickelungsgeschicht- 
liche  Betrachtung  Not  und  die  storia  bricht  in  eine  Serie  geistvoller 
Monographien  auseinander.  Das  heutige  Italien  hat  begabte  Schüler  De 
Sanctis',  wie  z.  B.  Croce,  die  seine  ästhetische  Kritik  systematisch  ausbauen 
und  geschichtlich  vertiefen.  Aber  die  Führung  in  der  so  außerordentlich 
fruchtbaren   literarischen    Forschung'sarbeit   des  Landes  hat  die  historische 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  411 

Schule.  Ihr  gehört  G.  Carducci  an,  und  schon  der  eine  zeigt,  daß 
entwickoluni^fsgeschichtlicher  Sinn  den  ästhetischen  nicht  ausschheßt  und 
daß  auch  bei  der  historischen  Forschung  das  Kunstwerk  zu  seinem  Rechte 
kommen  kann. 

Der  populärste  Schriftsteller  ist  heute  wohl  E.  de  Amicis  (~  1908),  ein 
Meister  des  „idioma  gentile",  der  schönsten  to.skanischen  Prosa,  deren 
natürliche  Eleganz  alle  Blätter  seines  umfangreichen  literarischen  Skizzen- 
buches füllt:  anmutige,  kräftige,  erhebende  Blätter,  voll  Humor  und  Lebens- 
freude. Daß  er  Liebe  für  das  kleine  Volk  hat  und  leicht  gerührt  ist,  hat 
ihm  viele  Herzen  gewonnen.  Er  selbst  hielt  seine  literari.sche  Philanthropie 
für  Sozialismus. 

Die  letzten  Vertreter  der  romantischen  Lyrik  singen  im  Gefolge  We  Lyrik. 
G.  Pratis  in  der  Lombardei.  Vielfach  gehen  sie  auf  den  Spuren  des 
Auslandes,  wie  der  treffliche  Heineübersetzer  Zendrini  (7  1879).  Der 
Priester  Zanella  (f  1888)  erregt  1868  großes  Aufsehen  durch  formvoll- 
endete „Versi",  die  mit  dem  Ausdruck  des  Glaubens  den  Preis  der  For- 
schung verbinden,  die  dem  „Venerdi  Santo"  fromm  zum  Gekreuzigten 
folgen  und  sich  von  der  „Versteinerten  Muschel"  nachdenklich  in  vorbiblische 
Zeiten    führen   lassen.     Fogazzaros  Verse   sind   aus   der  Schule  Zanellas. 

Gegen  Pratis  Schule  erhob  sich  in  der  Mitte  der  fünfziger  Jahre  eine 
kleine  Schar  junger  Toskaner.  Ihr  Führer  war  G.  Carducci  (1836-1907),  carducö. 
der  schon  als  Student  die  sentimentale  und  christliche  Dichtung  der  Ro- 
mantiker ablehnte  und  ihre  nordische  Gespensterpoesie  sow^ohl  wie  Man- 
zonis  „Inni  sacri"  parodierte.  Er  spottet  über  das  „sccolctfo  'M  che 
cristianeggia^\  über  „gereimte  und  ungereimte  Herzensragouts  mit  üblicher 
Gefühlssauce",  über  Mondscheinpoesie.  Der  Klassizismus  sei  die  befruch- 
tende Sonne;  der  Romanticismo  gleiche  der  bleichen  Himmelsnonne  Luna, 
deren  runde  Fratze  er  verabscheue.  Das  Banale  und  Formlose  der  zeit- 
genössischen Poeten  ist  ihm  verhaßt.  Die  neue  Richtung,  die  Carducci 
mit  seinen  „Rime"  (1857)  wies,  ist  die  nämliche,  die  zur  selben  Zeit  in 
Frankreich  zum  „Pamasse"  führte.  Carducci  forderte  für  sie  die  An- 
erkennung, daß  sie  alte,  bodenständige,  nationale  Kunst  bedeute. 

Er  war  eine  robuste  Kampfnatur.  Er  nennt  selbst  den  Zorn  eine  Quelle 
seiner  Inspiration.  Sein  politisches  und  kirchliches  Freidenkertum  kleidete 
er  gerne  in  agressive  Form.  Und  in  dem  Streit,  der  sich  dann  entspann, 
hieb  er  wuchtig  drein.  Seinen  naturalistischen  H}Tnnus  auf  Gedanken- 
freiheit und  Lebensfreude  betitelt  er  „Inno  a  Satana"  (1863).  Er  widmet 
dem  Pariser  September  von  1792  einen  Sonettenkranz  mit  der  Aufschrift: 
„(^a  ira".  In  den  „Polemiche",  die  sich  daran  knüpften,  führte  er  die 
glänzende  Klinge  eines  überlegenen  Stilisten.  Er  war  auch  Gelehrter. 
In  klassischer  Prosa  hat  er  eine  reiche  geschichtliche  und  kritische 
Forschung  geborgen.  Mit  ihr  und  mit  seiner  Lehrtätigkeit  an  der  Uni- 
versität Bologna  hat  er,  der  Mann  der  Arbeit,  eine  blühende  Schule  der 
Arbeit  gegründet 


412 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Als  Kämpfer  ist  er  sich  treu  geblieben.  An  seiner  Versöhnung  mit 
der  Monarchie  war  der  Politiker  und  der  Poet  in  gleicherweise  beteiligt: 
jenen  leitete  die  Liebe  zu  einem  starken  Vaterland;  diesen  begeisterte  die 
j^Regina  si  mite  e  bella^^.  Er  hat  mit  vorbildlichem  Mute  zu  seiner  Über- 
zeugung gestanden  und  ist  damit  siegreich  geblieben.  Nachdem  ihn  1891 
die  Studenten  insultiert,  hat  ihm  schon  vor  1907  die  Nation  gehuldigt. 

Immer  selbstbewußter  wurde  seine  antikisierende  Kunst.  Ihr  Klassi- 
zismus scheut  vor  dem  derben  Wort  nicht  zurück.  Er  ist  realistisch,  das 
Gegenteil  des  alten  akademischen  Klassizismus.  Er  ist  modern.  Mit  den 
„Rime  nuove"  blickt  Carducci  auch  über  Italien  hinaus,  nach  Herders 
„Stimmen  der  Völker",  nach  Platen,  Goethe,  Heine,  Hugo.  Da  er  Goethe 
nicht  in  den  Reim  setzen  kann,  reimt  er  „Volfango".  Diese  bunten  „Rime" 
sind  von  herrlicher  Sprachkunst,  voll  plastischer  Bildlichkeit.  In  ihrem 
Lied  des  Lebens  und  der  Kraft  fehlt  der  Ton  der  Melancholie  nicht  und  oft 
blickt  der  Dichter  „con  gli  occhi  iiicerti  trdl  sorriso  e  il  pianto''.  Leider 
fehlt  auch  nicht  die  rhetorische  Amplifikation,  obwohl  Carducci  den  natio- 
nalen Hang  zur  Rhetorik,  auch  in  seiner  Poesie,  sichtlich  bekämpft. 

1877  nahm  er  den  Versuch  wieder  auf,  die  antiken  Versgebilde, 
alkäische,  sapphische  Strophen,  Hexameter,  italienisch  nachzubauen.  Seit 
der  Renaissance  hatten  viele  sich  daran  gewagt;  die  einen,  indem  sie  eine 
sprachwidrige,  quantitierende  Poesie  schufen,  die  andern,  indem  sie  die 
antiken  Versmaße  akzentuierend  wiedergaben.  Carducci  schlug  sich  zu 
diesen  und  seiner  feinen  und  doch  freien  Kunst  gelangen  die  „Odi  bar- 
bare", deren  Wortakzent  die  antiken  Rhythmen  wie  ein  sonores  Echo 
wiedergibt.  Er  wagt  es,  Bilder  modernsten  Lebens  in  diesen  alten  Rahmen 
zu  spannen,  z.  B.  den  Abschied  im  Bahnhof  an  einem  Novembermorgen. 
Aber  er  bietet  mehr  als  solche  Kunststücke.  Er  hat  in  diesen  Oden  Un- 
vergängliches geschaffen,  Lieder  von  hehrer,  kraftvoller  und  doch  zarter 
Schönheit,  in  denen  das  Leben  Italiens  in  goldener  Fülle  flutet.  Und  in 
unteilbarer  Einheit:  das  Italien  der  Römer  und  das  der  Italiener,  ab  urbe 
condita  bis  auf  den  heutigen  Tag.  Immer  schweift  des  Dichters  Auge  von 
hier  nach  dort,  in  glanzvollen  Visionen.  Noch  blühen  im  „grünen  Um- 
brien",  „an  den  Quellen  des  Clitunno"  die  alten  Rindertriften,  Getreide- 
felder und  Weingärten  und  —  hindurch  saust,  neue  Arbeit  schaffend,  der 
Eisenbahnzug,  Wie  liegt  die  schlafende  Roma  zum  Erwachen  bereit,  an 
ihre  Hügel  gelehnt!  Der  Anblick  eines  stolzen  Pferdes  oder  eines  be- 
scheidenen Langohrs,  der  seinen  Kopf  über  die  Weißdomhecke  streckt, 
führt  Carduccis  Gedanken  zu  Pindar  und  Homer.  Die  eleganten  Weiber, 
die  sich  zu  Gerichtsverhandlungen  drängen,  in  denen  ein  Mörder  um  seinen 
Kopf  kämpft,  führen  seinen  Zorn  zu  den  Römerinnen  des  Gladiatoren- 
zirkus. Seine  Verse  sind  erfüllt  von  antiker  Sage  und  Geschichte.  Es  ist 
Philologenpoesie  —  aber  Philologenpoesie  eines  Italieners :  die  Kultur  des 
Landes  ist  ihr  lebender  Kommentar.  Er  reicht  freilich  nicht  überall  aus. 
So  ist  Carduccis  Poesie  zwar  berühmt,  aber  nicht  populär  geworden.     Er 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  «I? 

hat  nie  nach  Popularität  gestrebt.  Ihm  genügte,  das  Maß  seines  Schaffens 
in  sich  selbst  zu  linden  und  er  selbst  zu  sein.  Er  hat  ein  imponierendes 
Bei.spiel  künstleri.scher  Selbständigkeit  und  Aufrichtigkeit  gegeben.  Er  ist 
als  Künstler,  Gelehrter  und  Mensch  ein  Erzieher  seiner  Nation  geworden^ 
wie  sie  seit  Dante  keinen  mehr  besessen. 

Mit  den  kunstvollen  „Rime  e  Ritmi"  schloß  er  an  der  Jahrhundert- 
wende sein  Lied. 

Die  reiche  lyrische  Poesie  des  heutigen  Italien  zeigt  auch  bei  den 
Widerstrebenden  einen  tiefen  Einfluß  Carduccis.  Ihn  verrät  der  begabte 
aber  maßlose  Cavallotti,  der  die  Form  der  „Odi  barbare"  bekämpfte, 
und  der  graziöse   Panzacchi. 

Carduccis  Nachfolger  haben  wohl  neue  Formnuancen  gefunden  und 
haben  Töne  angeschlagen,  die  beim  Meister  nicht  miterklingen;  der  un- 
erschöpfliche Reichtum  der  italienischen  Landschaft  hat  ihnen  der  neuen 
Bilder  eine  Fülle  gewährt  —  aber  ihren  „Odi",  „Canti",  „Poesie",  „Fantasie", 
so  viel  Schönheit  sie  bergen,  schadet  die  Nähe  des  Meisters. 

Die  klassische  Form  ist  das  ernste  Kleid  der  Gedankenlyrik.  A.  Grafs 
eindrucksvoller  Pessimismus  —  der  sich  seither  zur  Lebensbejahung  ge- 
wendet hat  —  trägt  es  [Medusa,  1880)  und  ebenso  die  Naturphilosophie 
G.  Pascolis.  Pascoli,  der  heute  Carduccis  Lehrstuhl  inne  hat,  ist  ein 
echter  „Pamassien",  ein  Dichter  von  vollendeter  klassischer  Form,  wie 
Polizian,  und  ein  Künder  der  Religion  der  Wissenschaft,  wie  Sully  Prud- 
homme.  Er  umfängt  die  Natur,  die  große  Lehrmeisterin  der  modernen 
Forschung,  mit  tiefer  Liebe.  Er  lauscht  mit  Andacht  ihrer  erlösenden 
pantheistischen  Lehre.  Diese  Natur  ist  ihm  in  schwerer  ländlicher  Jugend 
vertraut  geworden.  Nicht  „Blumen",  sondern  bescheiden  „Sträucher" 
{AlyricaCy  1891)  betitelt  er  seine  Lieder,  die  von  verborgenen  Reizen  der 
Natur  singen.  Melancholie  zieht  durch  sein  Werk;  der  Schatten  des  von 
unbekannter  Hand  ermordeten  Vaters  überragt  es,  ohne  es  indessen  düster 
zu  gestalten.  Aus  dem  Schmerz  fließt  ihm  nicht  Verzweiflung,  sondern 
tiefe  Erkenntnis,  Mitleid  und  Hoffnung.  Man  möchte  Pascoli  den  bedeu- 
tendsten unter  den  lebenden  Dichtern  Italiens  nennen.  Gedankenschwer 
und  rein  sind  die  wundervollen  Verse  dieser  Lieder. 

Wie  mager  und  steril  erscheint  daneben  das  Getändel  der  Lebemanns- 
poesie des  O.  Guerrini  {Posfuma^  1879),  deren  Sinnlichkeit  und  Eleganz 
einst  nicht  nur  Italien  entzückt  hat. 

Schrill  tönt  in  diese  formvollendete  Dichtung  hinein  das  Prolctarier- 
lied  Ada  Negris  {/wA/Z/A/,  1893),  packend  in  der  Ursprünglichkeit  des 
Ausdrucks  von  Liebe  und  Haß.  Ihre  Kunst  hat  Schwielen,  wie  die  Hand 
des  Arbeiters,  und  sie  verunzieren  sie  nicht.  In  der  Idealisierung  dieses 
Arbeiters,  in  der  Karikierung  des  Bourgeois,  in  der  Verherrlichung  einer 
zukünftigen  Ordnung  der  Dinge  gibt  sie  völlig  und  unmittelbar  die 
Empfindungen  ihres  Milieus  wieder.  Sie  ist  ein  starkes  Talent,  das 
Schmerz    und  Not   geweckt   haben,   und    das    nun    in   glücklicheren  Tagen 


414 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


D'Annunzio. 


weiter  wirkt  und  zum  Preise  der  rettenden  Mutterschaft  sich  wendet 
{Mafentifa,   1904). 

Neben  dieser  plastischen  und  malerischen  Lyrik,  die  das  Abbild  des 
formen-  und  farbenreichen  Landes  ist,  kommt  die  Lyrik  des  Symbolismus 
mit  ihren  verschwommenen  Farben,  vagen  Linien  und  musikalischen  Quali- 
täten nicht  zu  wirklicher  Entfaltung.  Zarte  Gebilde  sind  Fogazzaros 
Gedichte  {Poesie  scelte,  1898),  aber  die  Willkür  der  Form  erscheint  im 
Lande  des  Klassizismus  als  unkünstlerische  Nachlässigkeit.  Fogazzaros 
Lyrik  weist  nach  dem  Norden;  seine  Kunst  hat  überhaupt  starke  germa- 
nische Affinitäten. 

Auch  DAnnunzios  Bemühen  im  freien  Vers  ist  umsonst.  Aus  Car- 
duccis  strenger  Schule  ist  dieser  Künstler  in  alle  Fernen  des  symbolistischen 
Raffinements  entlaufen.  Jetzt  baut  er  die  Gesänge  „Laus  Vitae"  —  einen 
Hymnus  auf  Pan  —  aus  regellosen  „musikalischen"  Zeilen.  Zu  einer  Zeit, 
da  Frankreich  vom  „Verslibrisme"  zurückgekommen  ist,  beginnt  D'Annunzio 
die  „vers  libres"  zu  pflegen:  er  geht  hier  hinter  den  französischen  Lyrikern 
her,  wie  er  in  seinen  Romanen  hinter  Zola  und  Maupassant  herschritt. 
Nicht  als  Führer  erscheint  er,  sondern  als  ein  Epigone.  Aber  ein  lebendiger 
Schönheitssinn  und  ein  herrliches  Sprachtalent  geben  ihm  imbestreitbare 
Künstlerschaft.  Nachdem  er  sie  in  seiner  früheren  Lyrik  reich  entfaltet, 
ist  er  immer  mehr  einem  emphatischen  Virtuosentum  verfallen.  Man 
spürt  den  Geist  Marinis:  far  stupir  la  gente.  Seine  Muse  sucht  nach 
Effekten  in  allen  fremden  Literaturen.  Ihre  üppige  Formenkunst  bedarf 
der  Anlehnung.  Es  klingt  oft  wie  ein  ausgesungenes  Lied,  was  dieser 
Virtuose  immer  noch  weiter  singt.  Pascoli  und  D  Annunzio  —  der  Dichter 
des  Mitleids  und  der  Dichter  des  Genusses!  Diesem  hat  eine  raffinierte 
Sinnlichkeit  das  Maß  und  die  Kraft  geraubt,  ohne  die  es  keine  große 
Kunst  gibt. 

Brunst  erfüllt  auch  D'Annunzios  Romane  und  diese  Brunst  selbst  hat 
etwas  Unwahres,  Ausgeklügeltes,  nicht  sowohl  Erlebtes  als  Erwünschtes. 
Das  wird  Übermenschentum  genannt  und  ist  doch  nur  —  neurasthenisch. 
In  dem  unzüchtigen  „Piacere"  erklingt  die  Musik  der  wunderbaren  Sprache, 
glänzt  der  Reichtum  der  Farben,  wogt  der  Rhythmus  der  Formen  imd  das 
alles  ist  eine  Offenbarung  seltener  Kunst.  Aber  „L'innocente"  ist  ein 
rohes  Buch  und  wenn  der  „Trionfo  della  morte"  (1894),  mit  welchem  der 
Romanzyklus  „Die  Rose"  abschließt,  künstlerisch  höher  steht,  so  ist  er 
doch  nicht  gedankenreicher  und  nicht  lebenswirklicher.  Diese  Bücher  als 
die  Boten  einer  „Renaissance  latine"  zu  erklären,  wie  die  „Revue  des 
deux  Mondes"  1895  tat,  war  um  so  mißlicher,  als  sie  DAnnunzios  Ver- 
satilität  und  Unselbständigkeit  verkünden:  nicht  nur  die  Franzosen  von 
Zola  bis  Bourget  sind  an  diesen  Büchern  beteiliget,  sondern  auch  bald 
Goethe  und  Shelley,  bald  Tolstoi  und  Dostojewski,  bald  Ibsen  und  Nietzsche. 
Und  wenn  er  in  späteren  Romanen  die  „intellektuellen  Hausgötter  des 
lateinischen  Geistes"  gegen  die  nordischen  Barbaren  zu  verteidigen  imter- 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  I  )ic  Zeit  nach   1050.  4^1  c 

nimmt,  so  ist  das  etwas  spät  und  wird  dabei  weder  sein  „Egotismus"  maß- 
voller, noch  seine  Kunst  inhaltsreicher. 

Italien  ist  reich  an  Romanliteratur,  nicht  nur  an  Unsittenromanen,  die 
auf  Sensation  ausgehen  und  eine  aufgedonnerte  und  geschminkte  Houdoir- 
und  Abontourerwelt  schildern.  Es  hat  vortreffliche  Erzähler,  die  aus  liebe- 
voller Beobachtung  der  Menschen  und  Dinge  heraus,  wahr  und  mit  wirk- 
licher Kunst  das  Leben  schildern,  wie  der  Horentiner  Castelnuovo,  der 
Sardinier  S.  Farina,  der  Genuese  Barrili,  die  Xapoletanerin  Serao:  be- 
kömmliche Kost  für  das  Lesepublikum.  Diese  Erzählungskunst  ist  auch 
bei  solchen,  die  nicht  wie  D'Annunzio  geradezu  piagieren,  stark  von  Frank-  i>er  /Vm« 
reich  beeinflußt.  So  bei  einem  der  größten,  dem  Sizilianer  V^erga,  dem 
Führer,  der  1878  den  Kampf  für  den  italienischen  Naturalismus  (IVrismo) 
leitete.  Verga  lehrt  und  übt  die  „unpersönliche,  experimentelle"  Kunst 
der  französischen  Naturalisten.  Er  widmet  den  vom  Leben  Unterjochten 
einen  Romanzyklus  (/  7'infi)  wie  Zola.  Seine  gedrungenen  Novellen  er- 
innern an  Maupassant.  Aber  er  ist  kein  Nachahmer.  Was  er  von  seinen 
sizilianischen  Fischern  und  Bauern  erzählt,  ist  von  solcher  Hellsichtigkeit, 
solch  unerbittlicher  Wahrheitsliebe  und  solch  ursprünglicher  Kraft,  daß 
die  Selbständigkeit  dieses  Künstlers  sich  selbst  verkündet. 

Der  italienische  X'erismo  ist  nicht  den  Ausschreitungen  des  französischen 
Naturalismus  verfallen.  Er  ist  maßvoller  geblieben,  wie  auch  die  Romantik 
maßvoller  geblieben  war.  Er  hat  in  dem  Lande  Manzonis,  der  ja  selbst 
Verist  sein  wollte,  keinen  förmlichen  Sturz  erlebt.  Die  Erzählungskunst 
hat  veristischen  Charakter  bewahrt.  So  in  den  prächtigen  Bildern  aus  Scherz 
und  Ernst  des  Lebens  der  toskanischen  Maremma,  die  R.  Fucini,  genannt 
Neri,  in  seinen  „Abenden"  gab  {Le  i'cglie  di  Neri,  1882).  So  in  den 
fesselnden  Büchern,  in  denen  Grazia  Deledda  Natur  und  Menschen  ihrer 
schönen  und  wilden  sardischen  Heimat  erzählt  und  aus  denen  der  würzige 
Hauch  eines  in  seiner  Ursprünglichkeit  fast  antiken  Lebens  entgegen- 
schlägt. So  in  dem  sozialen  Roman,  in  welchem  G.  Cena  ergreifende 
Bilder  aus  den  dunkelsten  Räumen  eines  Turiner  Miethauses  gibt,  wo 
ringende  Bravheit  mit  Krankheit,  Laster  und  Verbrechen  zusammengedrängt 
wohnt  und  die  Besitzenden  mahnt  {GH  nmmoiitori,  1903I  Ja,  auch  der 
träumerische  Fogazzaro  gibt  seinem  Spiritualismus  veristische  Züge  und  Ko<»««4ro. 
den  Hintergrund  mundartlicher  Rede. 

Längst  hatte  Fogazzaro  in  der  Versnovelle  „Miranda"  und  im  heimat- 
lichen Landschaftsbild  „Valsolda"  gezeigt,  welcher  Seelenschildorcr  und 
Naturmaler  er  ist  und  hatte  in  Romanen  wie  „Daniele  C'ortis"  (1885»  hohe 
Kunst  und  hohe  Lebenslehre  vereinigt,  als  er  mit  seiner  Trilogie  „Kleine 
Welt  der  Väter",  „Kleine  Welt  der  Gegenwart"  und  „Der  Heilige« 
(1896-1906)  großes  und  berechtigtes  Aufsehen  erregte:  Vorgeschichte, 
Lehr-  und  Wanderjahre  und  tragisches  Ende  eines  modernen  Heiligen. 
Der  fromme  Fogazzaro  gibt  dem  kirchlichen  Mißbehagen  der  gebildeten 
Welt  künstlerischen   Ausdruck.     Zur  nämlichen  Zeit,  da  Frenssen  in  prote- 


4ii 


Heinrich  Morf;  Die  romanischen  Literaturen. 


stantischen  Landen  seinen  Kai  Jans  bildet,  schafft  Fogazzaro  im  katholischen 
Italien  seinen  Piero  Maironi.  Maironi,  der  mystische  Prediger  einer  christ- 
lichen Demokratie,  die  über  den  Konfessionen  steht,  wird  von  Kirche  und 
Staat  als  Unruhstifter  verfolget  und  erliegt  ihren  unheiligen  Mächten,  bei 
deren  Schilderung  sich  Fogazzaros  Humor  in  beißende  Ironie  verwandelt. 
Fogazzaro  setzt  das  Werk  religiöser  Regeneration,  in  dessen  Dienst 
Manzoni  und  Rosmini  gearbeitet  haben,  fort.  Doch  geben  moderne  Kunst 
und  Wissenschaft  seinem  Streben  besonderes  Gepräge.  Er  sucht  als 
Denker  den  Darwinismus  mit  dem  Glauben  zu  versöhnen  und  gewährt  als 
Poet  in  den  tiefen  Menschenoffenbarungen  seiner  Romane  der  Liebe  Raum 
und  Ruhm. 

Dramatik  Auf  den  alten  Goldoni   berufen  sich  und   nach  seinem  Beispiel  richten 

nd  Mundart,  g-^j^  ^^^  Lustspicldichtcr,  wclche  heimatliches  Leben  auf  die  Bühne  bringen. 
Gherardi  del  Testa  schafft  in  den  fünfziger  Jahren  mit  seinen  toska- 
nischen  Possen  saftige  iesH  di  lingiia  parlata.  Bersezio  setzt  im  mund- 
artlichen „Monsü  Travet"  der  piemontesischen  Beamtenschaft  ein  Denkmal. 
Ein  unerschöpflicher  Born  der  Komik  fließt  aus  dem  provinziellen  und 
munizipalen  Leben  den  Komödiendichtern  zu.  Die  Dialektstücke  enthalten 
viel  Sinnreiches  und  Feines.  Mehr  als  einem  gelang,  gleich  Bersezio,  die 
Schöpfung  einer  Figur,  die  das  Interesse  des  ganzen  Landes  fesselte. 
Vergas  „Cavalleria  rusticana"  ist  ursprünglich  ein  solches  Dialektstück. 
Am  lebendigsten  ist  das  mundartliche  Theater  heute  wieder  im  goldonischen 
Venedig,  dank  der  exquisiten  Kunst  des  zarten  Gallina  und  des  tempe- 
ramentvollen Bertolazzi,  während  das  einst  so  reiche  „teatro  milanes" 
sich  vorübergehend  erschöpft  zu  haben  scheint. 

Es  ist  bezeichnend,  daß  heute,  trotz  nationalistischer  Proteste  der 
sprachliche  Munizipalismus  in  dem  politisch  geeinten  Italien  mehr  blüht 
als  je.  Die  endliche  Erlangung  der  Unitä  hat  in  dem  frisch  pulsierenden 
Leben  des  Landes  viele  Kräfte  für  regionale  Interessen  frei  gemacht.  Das 
Land  fühlt  sich  stark  genug,  um  die  Dezentralisierung  zu  ertragen,  die 
auch  in  der  Literatur  eine  reiche  Erschließung  der  Talente  mit  sich  bringt, 
denn  mancher  vermag  sein  Bestes  nur  in  der  Mundart  zu  geben.  Das 
zeigt  insbesondere  die  Blüte  der  dialektischen  Lyrik  und  Epik,  die  Dich- 
timg eines  Crespi  (Mailand),  Renato  Fucini  (Pisa),   Pascarella  (Rom), 

Di  Giacomo.  Di  Glacomo  (Neapel).  Ihr  Erfolg  ist  durchaus  nicht  auf  Heimatstadt  und 
Provinz  beschränkt.  Es  handelt  sich  nicht  bloß  um  Lokaldichtung  in 
unserem  Sinn:  es  handelt  sich  um  eine  Poesie  von  wirklich  künstlerischer 
Gestaltung,  die  ihren  allgemein  menschlichen  Motiven  buntes  Lokalkolorit 
und  eigenartigen  Tonfall  zu  geben  vermag.  Sie  wird  von  Rezitatoren 
über  das  ganze  Land  getragen,  bringt  dem  Norditaliener  den  Süden  nahe 
und  umgekehrt.     Sie  trennt  nicht,  sie  verbindet. 

Doch  kehren  wir  zum  Theater  zurück.  Gewiß  hat  Italien  auch  in  den 
letzten  fünfzig  Jahren  eine  eigentliche  nationale  Dramatik  nicht  geschaffen; 
aber  es  hat  auf  den  Bahnen,   die    das   französische  und  nordische  Theater 


F.   Das  19.  Jahrhundert.     II    Die  Zeit  nach  1850.  ,17 

ihm  vorausschritt,  Schönes  und  auch  Eigenartiges  gefunden.  So  mit  den 
Martini,  Vater  und  Sohn.  Jener  begann  1H54  mit  dem  „Cavalier  d'in- 
dustria";  dieser  schenkte  20  Jahre  später  feine  und  anmutige  „Proverbi", 
welche  die  Nähe  der  Mussetschen  nicht  zu  scheuen  haben.  Reich  ent- 
faltete sich  die  historische  Dramatik.  P.  Ferrari  bildete  zuerst  (1851)  und  ' 
mit  großem  Erfolg  historische  Lustspiele,  deren  Helden  Goldoni,  Alfieri, 
Dante,  Parini  sind.  Mehr  nach  Art  der  Romantiker  gestaltete  P.  Cossa 
seit  1870  Dramen  aus  dem  antiken  und  mittelalterlichen  Rom.  Er  strebte 
danach,  mit  kräftiger  Lokalfarbe  Bilder  wirklichen  Lebens  zu  geben.  Er 
schafft  mit  der  Figur  des  klassischen  Histrionen  Nero  eine  Künstlerkomödie 
und  wählt  später  auch  Messalina  und  die  Borgia  zu  Helden.  Die  originellen 
Stücke  sind  von  starker  dramatischer  Wirkung.  Aber  weder  die  historische 
noch  die  künstlerische  Durchbildung  Cossas  war  tief  genug,  um  die  Welt 
seiner  Stücke  glaubhaft  zu  machen. 

Das  Beispiel  Augiers  und  Dumas'  führte  zu  Dramen  —  der  Italiener  Da»  lotui« 
nennt  auch  sie  gerne  „commedie"  — ,  die  ein  soziales  Problem  behandeln.  ^*°^ 
Ihre  lehrhafte  Gestaltung  durch  P.  Ferrari  schuf  dieser  Dramatik  der 
Thesenstücke  {commedie  a  tesi)  scharfe  und  schließlich  erfolgreiche  künst- 
lerische Gegnerschaft.  Andere  sind  an  die  realistische  Aufgabe,  die  pro- 
blematischen Naturen  der  modernen  Gesellschaft  zu  dramatisieren,  mit 
tauglicheren  Mitteln  herangetreten  und  haben  die  Tendenz  den  Anforderungen 
der  künstlerischen  Gestaltung  untergeordnet.  So  der  fruchtbare  und  ge- 
schmeidige Skeptiker  Rovetta  (seit  1876),  während  freilich  bei  Butti 
(seit  1892),  der  auf  Ibsens  Spuren  geht,  die  Tendenz  im  Kampf  gegen 
moderne  Mächte  (Sozialismus,  Atheismus)  deutlich  über  die  kraftvolle  Kunst 
sich  erhebt  Noch  hat  keiner  von  den  talentvollen  Jüngern  wie  Bracco, 
Praga,  gegen  die  auch  das  Ausland  mit  seinem  Beifall  nicht  kargt, 
die  Reife  des  jüngst  verstorbenen  Giacosa  erreicht  Vom  zierlichen 
Phantasiespiel  seiner  „Partita  a  scacchi"  (1873)  hat  er  sich  allmählich  — 
die  Führung  der  Franzosen  ist  deutlich  zu  erkennen  —  zum  Sittendrama 
gewendet,  das  er  mit  der  Eigenart  eines  gesunden  Talentes  und  einer  tiefen, 
edlen  Menschlichkeit  behandelt  Die  „Tristi  amori"  (1888)  sind  ein  ergrei- 
fendes Ehebruchsdrama  ohne  lärmende  Katastrophe.  Man  fühlt  in  der 
Trauer,  die  das  Stück  durchweht,  des  Dichters  Mitleid  mit  den  unglück- 
lichen Menschen.  Die  Geschichte  der  unverstandenen  Gattin  nach  Ibsens 
Art  zu  behandeln  (/  diritti  d^iranima)^  gelang  ihm  weniger  gut  Aber  ein 
hervorragendes  Werk  ist  die  Tragödie  des  Wohllebens  „Come  le  foglie" 
(1900),  der  rauschendste  Theatererfolg  der  neueren  Zeit:  wie  dürre  Blätter 
fallen  im  Sturme  des  finanziellen  Zusammenbruchs  die  untauglich  ge- 
wordenen Menschen. 

Und  nicht  nur  der  Mann  bringt  diese  Probleme  unseres  öffentlichen 
und  privaten  Lebens  auf  die  Bühne.  Auch  Frauen  treten  mit  entschlossenen 
Fragen  und  unerschrockenen  Lösungen  auf  den  Plan:  Frau  Rosse lli  und 
T  eres  ah. 

Dra  KoLTO»  Dm  Gmmkwakt.  L  11.  1.  2y 


Aig  Heinrich  Mork:  Die  romanischen  Literaturen. 

Die  italienische  Literatur  der  Neuzeit  ist  durch  eine  rege  und  frucht- 
bare Teilnahme  der  Frau  ausgezeichnet  in  Lyrik,  Roman  und  Drama. 
D'Annunzios  Spüit  man  in  dieser  Dramatik  den  sozialen  Geist  Manzonis,  so  führen 

die  Tragödien  D'Annunzios  weit  ab  von  ihm.  D'Annunzios  Tragödien 
sind  vom  Geist  seiner  Romane.  Das  strahlende  Kleid  der  lyrischen  Diktion 
freilich  ist  von  oft  wunderbarer  Schönheit.  Lebende  Bilder  von  berücken- 
der Lieblichkeit  oder  üppiger  Pracht  nehmen  die  Sinne  gefangen.  Aber 
dieser  Glanz  birgt  eine  mitleidlose,  eine  kranke  Kunst,  die  sich  an  Greueln 
imd  Blut  weidet.  Es  ist  die  tragische  Glorifikation  des  Menschen,  der 
sich  als  Übermensch  gebärdet,  weil  er  genußsüchtig'er  und  perverser  ist 
als  die  anderen.  Das  Haus  der  Atriden  zieht  D'Annunzio  an  {La  citta 
mortd).  Aus  der  mitleiddurchtränkten  Szene  bei  Dante  macht  er  in  „Fran- 
cesca  da  Rimini"  ein  „Poem  der  Wollust  und  des  Blutes"  wie  er  selbst 
sagt.  D'Annunzio  hat  sich  die  griechische  Tragödie  zum  Vorbild  genommen: 
er  ist  ihr  in  der  „Figlia  di  lorio"  am  nächsten  gekommen,  diesem  Leiden- 
schaftsdrama aus  den  heimischen  Abruzzen:  hier  hat  ihn  die  lebende 
Wirklichkeit  in  Schranken  gehalten,  die  sein  Asthetentum  sonst  nicht 
kennt.  Hier  spielt  sein  Bergvolk  mit.  Mit  dem  Helden  Brando  seiner 
Tragödie  „Piü  che  l'amore"  (1906)  kehrt  er  indessen  zur  alten  Botschaft 
des  Übermenschentums  zurück  und  behauptet,  seinem  Volke  eine  Lehre 
der  —  Energie  zu  geben,  die  es  nicht  verstehen  will.  Da  ist  Lessonas 
„Volere  e  potere"  einleuchtender  und  wirksamer. 

Wenn  man  erwägt,  welchen  Einfluß  in  Frankreich  die  Tradition  gut 
geleiteter  Theater  auf  die  dramatische  Produktion  gehabt  hat,  so  sieht 
man  mit  Bedauern,  daß  die  italienischen  Städte  zwar  Schauspielhäuser, 
aber  keine  stehenden  Bühnen  haben.  Als  ob  ihnen  das  Wandern  aus  der 
Zeit  der  Commedia  dell'arte  noch  im  Blute  läge,  ziehen  die  Schauspiel- 
truppen auf  Gastspielreisen  von  Stadt  zu  Stadt.  Es  ist  die  innere  und 
äußere  Misere  des  ambulanten  Künstlertums.  Der  Mangel  an  ständiger, 
literarischer  und  materieller  Leitung  verunmöglicht  einen  Spielplan,  ver- 
hindert die  künstlerische  Erziehung  von  Schauspieler  und  Publikum  und 
hemmt  das  Schaffen  der  Poeten.  Leider  sind  auch  die  jüngsten  Versuche 
der  Städte,  ständige  Bühnen  zu  schaffen,  gescheitert.  Die  Hauptschuld 
liegt  wohl  am  Publikum,  das  für  eine  ernste  Dramatik  —  es  nennt  sie 
schlechthin  teatro  di  frosa  —  wenig  Tnteresse  hat.  All  die  Jahrhunderte 
italienischer  Literatur  zeigen  das  Zurückstehen  der  dramatischen  Dichtung 
hinter  Epik  und  Lyrik. 
Der  Patriotismus.  Mögcu    die    Richtungcu    der    heutigen  italienischen  Literatur  noch  so 

sehr  auseinandergehen  —  in  einem  Worte  finden  sie  sich  immer  zusammen: 
im  Worte  vom  Vaterland.  Die  innige  Verbindung  von  politischem  imd 
literarischem  Empfinden,  die  in  den  langen  Freiheitskämpfen  sich  gebildet, 
dauert  noch.  Ein  künstlerischer,  ein  wissenschaftlicher  Erfolg  ist  in  Italien 
immer  auch  ein  patriotisches  Ereignis,  Der  Ton,  der  jenen  drangvollen 
Zeiten  entstiegen,  hallt  noch  heute  durch  das  Werk  des  Poeten.     Der  natio- 


F.  Das  19. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^jq 

nale  Held,  Garibaldi,  ist  der  Held  der  Dichtung.  Garibaldi,  Caprera!  tönt 
uns  aus  Carducci  und  Pascarella,  aus  D'Annunzio  und  Pascoli  entg^egen. 
Und  zu  Romulus  ist  von  Garibaldi,  der  „nuova  Roma  novello  Romolo" 
nur  ein  Schritt.  Antikes  und  modernes  Leben  fließen  in  eins  zusammen: 
das  stille  Mantua  ist  die  Stadt  Vergils  und  die  Arbeiter  des  Simplon- 
tunnels  sind  noch  „die  eisernen  Kohorten".  Über  dieser  dritthalbtausend- 
jährigen  N'ergangenheit  weht  heute  die  Tricolore:  ,,la  bella,  la  pura,  la  santa 
öanJicra  dei  tre  colori ",  deren  Namen  Carducci  seinem  ganzen  Dichterwerk 
als  Geleite  mitgibt:  Fior  triculorc! 

Das  Vaterland  ist  heute  Anfang  und  Ende  jeglicher  Dichtung  in  Italien. 

Frankreich  und  Italien  haben  auch  ihre  nationalsprachlichen  Organi- 
sationen, ihre  „Sprachvereine"  und  zwar  in  charakteristischer  Verschiedenheit 
Während  der  Franzose  mit  seiner  Weltsprache  sich  als  beatus  possidens 
fühlt  und  die  „AUiance  fran^aise"  auf  die  weitere  Ausbreitung  dieser 
Weltsprache  bedacht  ist,  ist  der  italienische  Sprachverein  zum  Schutz 
bedrohter  Bestände  gegründet.  Jene  hat  sprachliche  Missionare,  dieser 
sprachliche  Schutztruppen.  Er  hat  diese  Truppen  nicht  nur  an  der  Grenze 
gegen  Slawen-  und  Deutschtum  mobil  gemacht,  wo  gereizte  Stimmungen 
den  Kampf  schmerzlich  gestalten,  sondern  er  breitet  eine  schützende  Hand 
über  das  Italienertum  des  ganzen  Erdenrunds.  Er  begleitet  den  Aus- 
wanderer in  die  Neue  Welt  und  nimmt  sich  seiner  Bildung  an  diesseits 
und  jenseits  des  Ozeans,  in  Zürich  und  in  Neuyork,  in  Lima  und  San 
Francisco.  Dieser  Sprachverein  trägt  den  Xamen  „Dante  Alighieri".  Das 
italienische  Sprachtum  ist  auf  der  ganzen  Erde  in  den  Schutz  dieses 
Größten  gestellt,  der  von  sich  selbst  gesagt,  daß  er  zwar  in  Florenz  ge- 
boren, daß  aber  sein  Vaterland  die  ganze  Welt  sei:  ego  cui  mutidiis  est 
patria  siciit  piscibus  acquor. 

Spanien  und  Portugal.  Der  Völkerfrühling  von  1 848  ergriff 
Spanien  nicht.  Portugal  hatte  schon  1847  einen  Staatsstreich  der  Reaktion 
erlebt,  dessen  Schatten  sich  dauernd  auf  das  Land  senkte.  So  fand  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  die  iberische  Halbinsel  von  schweren  Bürger- 
kriegen erschüttert  In  ungleichem  Fortschritt  bewegte  sich  das  Land  auf 
der  Bahn  zum  modernen  Staat  Freunde  und  Gegner  dieser  Entwickelung 
blickten  nach  Prankreich.  Ein  J.  de  Maistre  entstand  dem  Lande  in 
Donoso  Cort^s,  der  im  Bunde  mit  dem  französischen  Ultramontanismus 
eines  Veuillot  die  modernen  Ideen  vom  zahmen  Liberalismus  bis  zu  den 
Lehren  des  „ciudadano  Proudhon"  mit  einer  bilderreichen  Beredsamkeit 
bekämpfte,  deren  leidenschaftliche  Erregung  den  Leser  ergreift  {Ensayo 
sobrc  cl  catolicismo,  1851).  Die  Revolution  von  1868  stürzte  die  Königin 
Isabella.  Tief  wurde  das  Land  aufgewühlt  Die  politische  und  religiöse 
Krise  führte  in  Spanien  zu  einer  neuen  Verfassung  mit  allgemeinem  Stimm- 
recht, bürgerlicher  und  kirchlicher  Freiheit  und  einer  entschiedenen  Ver- 
weltlichung des  Lebens.     Auch  der  Rückschlag,  der  die  Restauration  der 


420 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Bourbonen  (Alfons  XII.,  1874)  brachte,  vermochte  diese  Grundlage  nicht 
mehr  gänzlich  zu  zerstören.  Hinter  einer  republikanischen  Partei,  die  nach 
1850  in  Erscheinung  tritt,  hat  sich  seit  1882  auch  eine  sozialistische  er- 
hoben. Unter  schweren  parlamentarischen  Kämpfen  ist  eine  politische 
Arbeit  geleistet  worden,  die  vom  Ausland  leicht  unterschätzt  wird.  Die 
Rechtseinheit  ist  geschaffen,  die  soziale  Gesetzgebung  gefördert.  Aber 
das  seit  1848  ernüchterte  Europa  verfolgte  eben  mit  Mißtrauen  die  wort- 
reiche Politik  der  Cortes  und  lauschte  zweifelnd  dem  harmonischen  Wort- 
schwall mit  welchem  ein  Charmeur  wie  der  treffliche  E.  Castelar  diese 
Arbeit  enthusiastisch  begleitete.  Ein  echt  spanisches,  hauptstädtisches  Ab- 
bild dessen,  was  sich  seit  1830  im  Lande  begeben,  bieten  die  schlichten 
„Memoiren  eines  Siebzigers",  mit  denen  der  treffliche  Beobachter  Meso- 
nero  Romanos  1880  seine  sittenschildernde  Tätigkeit  schloß.  Zorrillas 
gleichzeitige  „Recuerdos  del  tempo  viejo"  aber  sind  eine  poetische  Im- 
provisation. 

Nachdem  mit  dem  Verlust  der  letzten  Kolonien  der  Alp  des  Welt- 
machttraums gewichen,  wird  das  Land  mit  noch  mehr  Erfolg  seiner  inneren 
Arbeit  obliegen,  die  ihm  wirtschaftlichen  Aufschwung  und  Volksbildung 
bringen  soll.  Noch  heute  besitzen  Spanien  und  Portug'al,  trotz  wohl- 
meinender Verfügungen,  kein  geordnetes  Schulwesen.  Die  Bevölkerung 
zerfällt  in  Akademiker  und  —  Analphabeten.  Der  wissenschaftlichen 
Forschung,  die  die  Nationen  verbindet,  folgen  jene  mit  regem  Interesse. 
Die  große  naturwissenschaftliche  Arbeit  des  19,  Jahrhunderts  zwar  ist  ge- 
tan worden,  ohne  von  ihnen  Förderung  zu  erfahren;  aber  die  geschicht- 
lichen Studien  haben  durch  sie  wesentliche  Bereicherung  gewonnen  und 
man  darf  anerkennen,  daß  die  Eigenart  der  peninsularen  Kultur:  der  musel- 
mannische Einschlag,  das  Rechtsleben  und  die  Literatur,  von  hervorragenden 
einheimischen  Gelehrten  vorbildlich  dargestellt  und  erforscht  wird.  Da 
ist  der  Katalane  Milä  y  Fontanals,  der  Portugiese  Th.  Braga  und —  der 
Menendez  y  hervorragendste  —  der  Spanier  Men^ndez  y  Pelayo,  der  mehr  als 
^°'  irgendein  anderer  die  Geistesgeschichte  Spaniens  aufgehellt  hat.  Menendez 
ist  von  der  Geistesrichtung  J.  de  Maistres;  er  ist  „Traditionalist"  und  ver- 
urteilt die  modernen  Ideen.  Er  erklärt  nicht  nur,  er  verteidigt  Intole- 
ranz und  Inquisition.  Hat  er  in  jüngeren  Jahren  dieser  Weltanschauung 
leidenschaftlichen  Ausdruck  gegeben,  so  hat  ein  Leben  unausgesetzter 
Forschung,  die  ihn  über  die  Romania  hinaus  auch  zur  germanischen 
Kultur  geführt  hat,  sein  Urteil  geklärt  und  gemildert.  Seine  Arbeit  steht 
im  Dienste  des  Patriotismus.  Ihn  schmerzt  es,  Spanien  mißachtet,  weil 
verkannt,  zu  sehen.  Er  will  sein  Vaterland  rehabilitieren,  seine  Eigenart, 
seinen  Anteil  am  Werk  der  Kultur  aufweisen.  Menendez'  gelehrte  Bücher 
sind  ein  temperamentvolles  Plaidoyer  und  auch  die,  die  seine  Resultate 
ablehnen  und  z.  B.  nicht  geneigt  sind,  Calderön  den  dritten  Platz  der 
Weltliteratur  nach  Sophokles  und  Shakespeare  anzuweisen,  werden  seine 
Worte  nicht  ohne  tiefen  Eindruck  lesen. 


F.  Das  10. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  «2  1 

Men^ndez  betont  sein  Lateinertum.  Er  hat  Horazon  nicht  nur  ein 
gelehrtes  Buch  {Ilonicio  en  Kspaha),  sondern  auch  Verse  ^.(ewidmet,  in 
denen  er  die  literarische  „Herrschaft  der  Teutonen  und  Slawen"  beklagt. 
Er  verkörpert  die  „klassische«*  Reaktion  gegen  d<;n  Romantici.smo.  Aber 
wie  romantisch  ist  in  Spanien  selbst  der  Klassizist!  Wie  romantisch  i.st 
Menendez,  der  so  nachdrücklich  die  Rückkehr  zur  einheimischen  Tradition, 
auch  in  der  Philosophie,  lehrt! 

Menendez  erklärt  dankbar,  daß  er  bei  Ste-Beuve  gelernt.  Doch  ist  der 
tiefe  Eintluß  der  deutschen  Forschung  bei  ihm  nicht  weniger  unverkennbar, 
und  auch  seine  etwas  formlose  Komposition  ist  nicht  französischer 
Observanz. 

Neben  der  gelehrten  literarhi.storischen  Forschung  fehlt  Spanien  auch 
nicht  die  strenge  literarische  Tageskritik,  wie  sie  L.  Alas  (f  ic/oi),  ge- 
nannt Clarin,  an  den  Größen  des  Tages  unnachsichtlich  geübt  hat. 

Auch  Frauen  treten  in  dieser  ernsten  Arbeit  der  Regeneration  hervor 
als  entschlossene  und  beredte  Vertreterinnen  moderner  Gedanken:  so  jene 
Emilia  Pardo  Bazan,  für  die  Paris  —  der  Salon  der  Goncourt  —  eine 
Schule  der  Gedanken  und  der  Kunst  geworden  ist. 

Der  spanische  Geist  hat  in  den  fünfziger  Jahren  aus  Deutschland  eine 
überraschende  Beeinflussung  erfahren.  Auf  einer  Studienreise  lernte 
Sanz  1843  die  Lehre  des  1832  verstorbenen  unglücklichen  H.  J.  Fr.  Krause 
kennen,  einen  „Pan-en-theismus"  mit  mystischen  Allüren,  voll  sittlichen 
Ernstes  und  humanitärer  Schwärmerei.  Sanz  machte  sich  daraus  ein  eigenes 
„System"  und  lehrte  diesen  „Krausismo"  1854  —  69  an  der  Madrider  Uni- 
versität, zu  einer  Zeit,  da  Krause  in  Deutschland  selbst  schon  völlig  ver- 
schollen war.  Die  liberale  Jugend  saß  zu  seinen  Füßen.  Er  hat  gewiß 
fruchtbare  Gedanken  ausgesäct  und  zur  Befreiung  der  Geister  beigetragen. 
Doch  ward  die  Gemeinde  der  „Krausisten"  schließlich  zur  Sekte  und  ver- 
fiel. Später  wandte  sich  das  spanische  und  portugiesische  Freidenkertum 
dem  französischen  Positivismus  zu. 

Die  beiden  Länder  haben  seit  1850  die  literarischen  Wandelungen  ihc  i.vnk 
der  übrigen  Romania  mitgemacht.  Portugal  ist  dabei  in  starker  Ab- 
hängigkeit von  Frankreich  geblieben;  ja  es  war  französische  Sprache  und 
Literatur  in  der  portugiesischen  Gesellschaft  bis  zum  letzten  Viertel  des 
vorigen  Jahrhunderts  fast  verbreiteter  als  die  einheimische.  Die  letzten 
Jahrzehnte  haben  einen  Umschwung  gebracht  und  das  portugiesische 
Schrifttum  etwas  selbstbewußter  werden  lassen.  An  diesem  Umschwünge 
ist  besonders  die  Lyrik  beteiligt.  Nach  dem  Vorbilde  der  französischen 
„Parnassiens"  hatte  sich  schon  um  1865  die  sogenannte  Schule  von  Coim- 
bra  gegen  die  selbstgefällige  Art  der  schwülstigen  Romantik  erhoben. 
„Bom-senso  e  bom-gosto"  betitelte  A.  de  Quental  das  Manifest  dieser 
Eschola  (U  Coimbra.  In  dieser  Universität  entstand,  wie  einst  im  Bologna 
G.  Guinicellis,  ein  „neuer  süßer  Stil"  der  Liebeslyrik  mit  Joao  de  Dcus 
(I   1897)  u"f^  c*i"t?  Gedankenlyrik  mit  Quental  (-j-   1891).    „In  Portugal  sind 


42  2  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

Alle  Dichter",  sagt  Braga  im  „Parnaso  portuguez  moderne",  und  wo  so 
Viele  singen,  fehlt  auch  die  Stimme  Heines  nicht,  der  mehr  als  irgendein 
anderer  den  Ruhm  deutscher  Lyrik  durch  die  Welt  getragen  hat.  Araujo 
Becquer.  singt  ihm  nach.  Aber  eigenartiger  tat  es  der  Sevillaner  Becker  (Becquer, 
1837  —  70),  der  trotz  seines  Namens  nicht  deutsch  konnte,  aber  ferner 
deutscher  Herkunft  ist.  Becquer  war  ein  echter  Poet,  auch  darin,  daß  er 
sein  Leben  nicht  zu  disziplinieren  verstand.  Er  hat,  von  Hoffmann  angeregt, 
phantastische  Novellen  geschrieben.  Er  hat  ein  Bändchen  Lieder  {Ri?nas, 
1872)  hinterlassen,  deren  einfacher  und  doch  kunstvoller  Bau  und  deren 
Inspiration  auf  Heines  „Intermezzo"  weisen.  Es  sind  die  Klagen  eines 
Dichters,  der  von  Hoffmann  kommt,  der  „sich  davor  fürchtet,  mit  seinem 
Schmerz  allein  zu  sein"  und  in  wehmutvoller  Träumerei  vor  sich  hin 
singt  —  für  sich,  ohne  an  ein  Publikum  zu  denken,  das  man  durch  den 
Pomp  des  Wortes  fesseln  muß.  Diese  in  sich  gekehrte  Lyrik,  die  in 
Schleier  und  schlichtem  Gewand  auftrat,  erschien  dem  Spanier  fremdartig: 

Sie  brachte  Blumen  mit  und  Früchte, 
Gereift  auf  einer  andern  Flur, 

die  auch  dann  nicht  eigentlich  heimisch  wurden,  als  Nachahmer  sie  künst- 
lich zu  züchten  unternahmen. 

So  romantisch  Becquer  unserer  Empfindung  erscheint,  so  sehr  kon- 
trastierte er  mit  dem  spanischen  „Romanticismo  palabrero",  gegen  den 
Campoamor.  sich  die  Poetik  (1881)  und  die  Poesie  des  Spruchdichters  Campoamor 
(7  iQOi)  wandte.  1846  erschienen  seine  ersten  „Doloras".  Mit  diesem 
erfundenen  Namen  bezeichnete  er  frei  gebaute  metrische  Gebilde  von 
knapper  Form,  die  unter  Verzicht  auf  poetischen  Schmuck  eine  Lehre  der 
Lebensweisheit  —  meist  durch  eine  kleine  dramatische  Szene  —  illustrieren. 
Oft  sind  es  Fabeln  —  man  möchte  sagen:  Lessings  Fabeln  in  gereimter 
Prosa.  Manches  ist  sehr  eindrucksvoll  gestaltet,  oft  ganz  kurz  („Humo- 
rada") mit  der  antithetischen  Gedrungenheit  des  alten  Conceptismo,  bis- 
weilen zu  „pequenos  poemas"  erweitert.  Campoamor  sucht  den  Zusammen- 
hang mit  dem  modernen  Leben,  mit  der  Wissenschaft.  Sein  Pessimismus 
ist  verträglich.  Die  Tendenz  {/a  intencionalidad)  soll,  wie  er  selbst  sagt, 
in  dieser  „poesia  transcendental"  alles  sein;  die  metrische  Form  ist  gleich- 
sam nur  ein  Reif,  der  das  Ganze  zusammenhält  —  ein  mnemotechnischer 
Behelf.  Während  einer  langen  Laufbahn  hat  Campoamor  diese  Dichtungsart 
unermüdlich  gepflegt.  Man  fühlt  die  Anstrengung.  Es  ist  viel  Banales 
mit  untergelaufen.  Mancher  Binsenwahrheit  ist  dabei  zu  viel  Ehre  ge- 
schehen und  schließlich  hat  der  Dichter  auch  zu  schwächlichen  Ent- 
lehnungen gegriffen. 

Zur  wort-  und  farbenreichen  Dichtung  der  Romantiker  bildet  diese 
„Doloras "-Poesie  einen  vollendeten  Gegensatz.  Dort  ist  alles  Leiden- 
schaft —  hier  bloß  leise  Erregung,   und   auch   die   fehlt  leider  nur  zu  oft. 

Wenn,  wie  behauptet  worden  ist,  Campoamors  Dichtung  unspanisch 
wäre,  so  würde  sich  ihr  Erfolg,  der  ein  halbes  Jahrhundert  füllte  und  zur 


F.  Das  19. Jahrhundert      II.  I>ic  Zeit  nach   1850.  ^2* 

Dichterkrönung-  (iHgc))  führte,  nicht  erklären.  Die  Lehrhaftigkeit  ist 
immer  ein  charakteristischer  Zug  des  spanischen  Schrifttums  gewesen  und 
die  Konzision  der  Form  hat  gerade  in  Spanien  ihre  Virtuosen  gefunden« 
Sem  Tob  hat  unter  Peter  dem  Grausamen  „Proverbios  morales"  ge- 
rrimt  —  Campoamor  tut  500  Jahre  später  das  nämliche  mit  der  reiferen 
Kunst  des  k^  Säkulums.  Der  Prosaismus  des  lehrhaften  Campoamor  und 
die  Überschwänglichkeit  des  rhetorischen  Zorrilla  sind  äußerste  Gegensätze, 
aber  sie  sind  beide  bodenständige  Vertreter  des  Kspanolismo. 

Campoamors  Erfolg  entfesselte  eine  Flut  gereimter  Gedankensplitter. 
Doch  erklingt  neben  dieser  Eintönigkeit  die  spanische  Lyrik  reich  und 
mannigfaltig  von  den  Lamartineschen  Weisen  des  Ruiz  Aguilera  (Blcos 
nacionahs,  i84();  Elrgias,  186;^)  und  den  Satiren  des  Garcia  y  Tassara, 
der  die  Konvulsionen  des  „glaubenslosen  Europa"  von  i8.}8  und  den  Sieg  des 
deutschen  Attila  von  1870/71  im  Stile  Barbiers  verwünscht,  bis  zu  der 
ausgesuchten  Sprachkunst  des  M.  Reina  {El  jardin  de  los  poetas,  igoo) 
und  den  zarten  ländlichen  Liedern  des  Murcianers  Medina  {Aires  muK' 
ein  n  OS,   1899). 

Eine  Schule  wie  die  des  französischen  „Parnasse"  kennt  Spanien  nicht 
Der  Geist  des  Landes  widerstrebte  dieser  antik -heidnischen  Kunstübung. 
Wohl  aber  gab  es  Dichter,  die  im  Gegensatz  zur  Romantik  zu  strengerer, 
selbstbewußterer  Technik  neigten  und  dabei  ihre  Blicke  auf  Leconte  de 
Lisle  richteten.  Der  bedeutendste  von  allen  ist  Nunez  de  Arce  (f  1903).  NoS«  de  Ar«. 
Die  Revolution  von  1868  rief  diesen  Lyriker  auf  den  Plan,  da  er  sein 
Land  haltlos  von  der  Anarchie  zur  Diktatur  schwanken  sah.  Den  wech- 
selnden Ereignissen  folgt  sein  Sang.  Er  schleudert  Lieder  des  Zornes 
gegen  das  „kleinliche  Geschlecht",  das  die  Freiheit  schände,  das  „keinen 
Dichter,  keinen  Künstler,  keinen  Soldaten"  aufweise  und  vereinigt  sie  in 
seinen  „Schlachtrufen"  {Gritos  de  combate ,  1875).  Es  ist  machtvolle  Rhetorik 
in  den  erzgegossenen  Strophen  dieser  „Gritos":  die  glänzende  Rüstung 
eines  konservativen  Kämpfers,  dem  für  die  „madre  Rspafia"  und  für  ihren 
Glauben  bangt.  Xunez  hat  sich  später  auch  umfangreicheren  lyrisch-epischen 
V^orwürfen  zugewendet.  Er  hat  den  Realismus  reizender  Idyllen  in  kunst- 
reiche Terzinen  und  Strophen  gefaßt.  Sein  Zehnsilbler  erinnert  an  den 
Alexandriner  des  Leconte  de  Lisle.  Er  meistert  das  Sonett  gleich  den  Par- 
nassiens.  Er  hat  den  modernen  Kampf  zwischen  Glauben  und  Zweifel  in 
der  Person  Luthers  {La  Vision  de  fray  Martin)  symbolisch  dargestellt 
Dieser  „Luther"  enthält  in  seinen  „versos  sueltos"  zwar  keine  tiefe  Seelen- 
ofTenbarung,  aber  eine  Serie  glänzender  Bilder  und,  trotz  des  Fluches,  der 
das  Ganze  endet,  ein  ernstes  Streben  nach  Objektivität  Das  Gedicht  hat 
1880  leidenschaftliches  Interesse  erregt. 

Nunez  hat  seinem  Land  eine  Lehre  der  Energie,  auch  der  künstlerischen,  Di« draoutucb« 
gegeben.     Seine  ersten  Werke  galten  der  Bühne.     „El  haz  de  lena"  {Reis-      '-'••"♦«' 
holz,  1872)  ist  berühmt  geworden:  es  ist  der  Stoff  des  Don  Carlos,  nicht  in 
der  romantischen  Beleuchtung  Schillers,  sondern  im  Lichte  der  Geschichte, 


424 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


die  Philipp  IL  längst  gerechter  geworden  ist.  In  den  Jahren  der  Revo- 
lution wollte  der  Traditionalist  Nunez  die  glanzvolle  Vergangenheit  auf 
den  Brettern  erstehen  lassen:    ein  grito  de  combate  auf  der  Bühne. 

Damals  aber  war  die  historische  Dramatik  schon  hinter  dem  modernen 
Thesenstück  im  Stile  Augiers  und  Dumas'  zurückgetreten.  Der  lehrhafte 
Charakter  dieser  Sittendramen  und  ihr  Realismus  entsprachen  in  hohem 
Maße  spanischer  Neigung  und  schufen  Erholung  von  den  Extravaganzen 
der  Romantik. 

Lopez  de  Ayala  (1829  —  78)  gibt  mit  seinen  trefflich  gebauten,  in 
sonoren  klassischen  Versen  sich  bewegenden  Stücken  Lehren  der  öffent- 
lichen und  privaten  Moral,  gegen  renommistische  Verführungskunst,  gegen 
die  Geldgier,  die  vor  der  Vernichtung  von  Existenzen  nicht  zurückschreckt 
(„Die  Prozente",  1861),  gegen  das  Wohlleben,  dem  die  Rechte  des  Herzens 
geopfert  werden  („Consuelo",  1878).  Über  die  Vielen,  die  erfolgreich  diesen 
Tamayo  y  Baus.  Weg  gingen,  erhebt  sich  Tamayo  y  Baus  (1829  —  98).  Ein  Schauspieler- 
kind, begann  er  schon  in  jugendlichen  Jahren  für  die  Bühne  zu  schreiben. 
Er  bildete  sich  an  Bearbeitungen  Schillerscher  Trauerspiele.  Das  Vorbild 
Ponsards  führte  ihn  zur  römischen  Welt,  die  er  in  einer  „Virginia"  (1853) 
zu  fesselnder  Handlung  „romantisch"  ausbaute.  Eine  farbenprächtige 
Comedia  gab  er  in  der  „Edelfrau"  [La  ricahembrd),  in  der  das  starke  Leben 
des  Romancero  pulsiert;  eine  tiefe  psychologische  Studie  über  die  Königin 
Johanna  (1506)  in  „Liebeswahnsinn".  Seine  Stücke  werden  bei  allem 
Realismus  tiefer,  der  Aufwand  von  Personen  und  Intrigen  geringer.  Er 
gibt  den  leicht  spielerischen  Romanzenvers  auf  und  greift  zum  gemesseneren 
Zehnsilbler  oder  zur  Prosa.  So  vorbereitet  trat  er  nach  einer  Pause  in 
die  Kampfdramatik  ein,  als  katholischer  Gegner  der  modernen  Gesellschaft. 
Er  schrieb  das  beste  Thesenstück,  das  Spanien  kennt,  die  „Ehrenhändel" 
[Lances  de  honor):  ein  kühner  Angriff  auf  den  Duellzwang.  Politische 
Machenschaften  bilden  den  Hintergrund  dieses  ergreifenden  Kampfes  zweier 
Weltanschauungen,  an  dessen  Schluß  über  der  Leiche  eines  Schuldlosen, 
der  Katholizismus  triumphiert.  Die  Leidenschaften  des  Tages  umtobten 
das  Stück  (1863),  wie  sie  es  auch  erfüllen:  der  Sturm  des  politischen 
Kampfes  wirft  seine  Wellen  in  die  ungleichen  Häuslichkeiten  zweier  De- 
putierter. Das  Pathos  des  spanischen  Lebens  wogt  in  diesen  Familien- 
szenen. Die  leidenschaftUche  Anteilnahme  des  Dichters  durchzittert  das 
Ganze  und  doch  zwingt  er  sie  unter  die  Kunst.  Vier  Jahre  später  erlebte 
Tamayo  seinen  größten  Erfolg  mit  jenem  „Drama  nuevo",  mit  dem  er, 
den  Kampf  unterbrechend,  sich  wieder  zur  Behandlung  eines  seeUschen 
Problems  wendet,  eines  Problems  des  Schauspielerlebens ,  das  ihm  aus  der 
Jugend  so  vertraut  war.  Yorick,  der  Lustigmacher,  begehrt  von  seinem 
Direktor  Shakespeare  eine  tragische  Rolle  zugewiesen  zu  erhalten.  Theater- 
intrigen treten  ihm  in  den  Weg,  und  Verräterei  weckt  in  ihm  die  Eifer- 
sucht gegen  sein  junges  Weib  und  seinen  Freund  Edmund.  Als  er  die 
ersehnte  Rolle  sich  erkämpft  hat  und  sie  nun  spielt,   gewinnt  die  Leiden- 


F.  Das  19. Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  *2S 

Schaft  solche  Macht  über  sein  Spiel,  daß  es  ernst  wird  und  er  den  Freund 
ersticht.  Wie  die  Leidenschaft,  die  der  vSchauspieler  spielt,  bei  der  Be- 
rührung mit  der  Wirklichkeit  zu  heißem,  verzehrendem  Leben  wird,  das  haben 
seit  Lope  de  Vega  Verschiedene  dargestellt,  indem  sie  „die  Bühne  auf  die 
lUihne  brachten".  Im  „Drama  nuevo"  ist  der  ergreifende  Stoff  in  die 
Hand  des  wahren  Künstlers  gefallen,  der  in  Bau  und  Sprache  (Prosa)  ein 
Meisterwerk  geschaffen  hat.  Hier  hat  Leoncavallo  seinen  „Bajazzo"  ge- 
funden. 

Tamayo  ist  der  größte  Dramatiker  des  modernen  Spanien.  Er  hat 
mit  vierzig  Jahren  sein  Schaffen  eingestellt.  Seinem  kunstvollen,  vom  Leben 
durchglühten  Realismus  ist  kein  echter  Erbe  erstanden.  Sainete,  Zar- 
zuela  und  leichter  französischer  Import  dominierten  nach  1870.  Eche-  Ecbetarmy. 
garay  (geb.  1832)  knüpfte  nicht  bei  Tamayos  nationaler  Tradition  an;  das 
tun  erst  Neuere  wieder.  Aber  Echegaray  ist  wenigstens  ein  Datum.  Sein 
Name  bedeutet  ein  kosmopolitisches  Intermezzo. 

Aus  der  langen  Reihe  seiner  Stücke  ist  „El  gran  Galeoto"  (1882)  das 
berühmteste.  Der  „große  Kuppler"  ist  die  Gesellschaft,  die  mit  ihrem 
Klatsch  in  die  Familien  eindringt,  mit  ihren  inquisitorischen  Indiskretionen 
alle  Harmlosigkeit  trübt  und  zu  tragischen  Zerstörungen  führt.  Das  Stück 
ist  packend,  wie  auch  das  berühmte  „Wahnsinn  oder  Heiligkeit?''  (1877) 
und  so  viele  seiner  anderen.  Dieser  „ingeniero  poeta"  Echegaray  ist  ein 
Meister  der  Mache  und  unerbittlich  in  der  Darlegung  der  grausamen  Kon- 
sequenzen seiner  Probleme.  Doch  fehlt  seiner  effektvollen  Kunst  die  tiefe 
Lebenswahrheit.  Wie  sehr  ist  ihm  Giacosa  überlegen!  Das  Leben  verläuft 
nicht  in  solch  mathematisch  geraden  Linien  und  spitzen  Winkeln;  es 
schwankt  hin  und  her,  wogt  auf  und  ab.  Seine  Logik  ist  nicht  so  hell 
sein  Licht  kennt  Trübung,  sein  Lärm  kennt  Dämpfung.  Echegarays  Sim- 
plismus  hat  etwas  Kältendes.  Auch  ist  er  völlig  vom  spanischen  Boden 
gelöst  und  entbehrt  so  jener  belebenden  realistischen  Perspektiven,  die  der 
Ausblick  auf  da-s  eigene  Land  eröffnet. 

Echegaray  hat  durch  seine  aufregende  Dramatik  seine  Zeitgenossen 
lange  in  Spannung  erhalten.  Er  hat  seine  Landsleute  gezwungen,  über 
Probleme  nachzudenken,  deren  Lösung  bisher  das  Privileg  der  Kirche 
war.  Das  neue  und  das  alte  Spanien  haben  dabei  manchen  Strauß  zu- 
sammen bestanden,  so  noch  jüngst,  als  dem  greisen  Dichter  (1905^  der 
Nobelpreis  zufiel. 

Madrid  beherrscht  mit  seinen  beiden  großen  und  seinen  kleineren 
Bühnen  das  Repertoire  des  ganzen  Landes  mit  Ausnahme  Kataloniens, 
das  seine  regionale  Selbständigkeit  behauptet  Sein  Theater  hat  in 
Guimerä  einen  Künstler  gefunden,  dessen  Kraft  sich  auch  die  Haupt- 
stadt nicht  zu  entziehen  vermochte.  Der  heiße  Atem  der  sozialen  Frage 
seiner  Heimat  strömt  aus  seinen  Stücken.  An  der  spanischen  Bearbeitung 
derselben  hat  sich  auch  Echegaray  beteiligt,  dessen  Stern  im  Erbleichen 
ist      Die  Jüngeren,    die    ihn    umgeben,    sind    bodenständiger    als    er.     Sie 


426 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Die  erzählende 
Dichtung. 


P.  Galdös. 


J.  Valera. 


haben,  wie  z.  B.  J.  Benavente  mit  „Gente  conocida"  oder  „La  comida 
de  las  fieras"  wohlverdiente  Erfolge  errungen  —  neben  Ibsen  und  Suder- 
mann, neben  Pailleron  und  Rovetta  usw.,  deren  lohnende  Übertragung  so 
Viele  anzieht.  Wie  begeisterte  „Cyrano  de  Bergerac"  die  Spanier!  In 
dem  Lande,  das  einst  das  reichste  Theater  der  Welt  besessen,  will  heute 
die  dramatische  Kunst  nicht  recht  zur  Blüte  kommen  neben  Stiergefechten, 
Zarzuela  und  Übersetzung. 

Auch  im  Roman,  der  heute  wieder  den  literarischen  Ruhmestitel  des 
Landes  bildet,  stehen  sich  das  alte  und  das  neue  Spanien  gegenüber.  Als 
Galdös  1877  mit  seiner  „Gloria"  für  die  Toleranz  gemischter  Ehen  ein- 
trat, verteidigte  Pereda  mit  „Wie  der  Stock,  so  der  Spahn"  den  starren 
Katholizismus,  der  die  Rechte  des  Herzens  unter  den  Zwang  des  Bekennt- 
nisses beugt. 

Galdös  (geb.  1845)  ist  außerordentlich  fruchtbar.  Seine  ganze  rastlose 
Tätigkeit  steht  im  Dienste  des  modernen  Lebens.  Sie  wird  umschlungen 
von  dem  vielbändigen  historischen  Roman  der  „Episodios  nacionales", 
deren  erste  Serie  1873  zu  erscheinen  begann  und  zu  deren  dritter  Reihe 
er  sich  1898  gewandt  hat:  einer  Erzählung  der  Wehen  der  neuen  Zeit  des 
Unabhängigkeitskrieges  und  der  Reaktion  unter  Ferdinand  VII.  Er  ist 
durch  diese  Bilder  aus  der  Vergangenheit  der  Gustav  Freytag  seines 
Volkes  geworden.  Diese  fortlaufende  Arbeit  hat  er  durch  Gegenwarts- 
schilderungen unterbrochen.  Er  malt  in  „Dona  Perfecta"  (1876)  den  engen 
Horizont  einer  Provinzstadt,  deren  fanatische  Bewohner,  von  einem 
Kanonikus  geführt,  die  wissenschaftliche  Bildung  als  eitel  Gottlosigkeit 
verfolgen.  Als  geschäftskundiger  Autor  bringt  er  seine  Romane  auch 
auf  die  Bühne.  Doch  verdanken  seine  Stücke  ihre  zum  Teil  lärmenden 
Erfolge  mehr  der  antiklerikalen  Tendenz  als  ihrem  dramatischen  Wert. 
Er  schildert  einheimisches  Leben,  besonders  Madrider  Sitten,  in  seinen 
„Novelas  contemporaneas".  Ihre  Galerie  tragischer  und  lächerlicher  Figuren 
stellt  eine  „Comedie  humaine"  spanischer  Erde  dar,  in  deren  Anlage  man 
den  Einfluß  Balzacs  spürt,  deren  poesievoller  Realismus  aber  echt  heimat- 
liche Kunst  ist. 

Weniger  kräftig  und  warm,  aber  feiner,  ja  von  unübertrefflicher  Fein- 
heit, ist  Juan  Valera  (1828  — 1905),  der  geistvolle  Essayist,  der  gelegent- 
lich auch  Erzählungen,  novelas  und  cuentos,  geschrieben  hat.  Als  er 
über  der  Lektüre  der  großen  Mystiker  des  1 7.  Jahrhunderts  träumte,  formte 
sich  in  seinem  Geiste  die  Gestalt  eines  jungen  Seminaristen,  der  dieser 
himmlischen  Liebe  voll,  plötzlich  das  Mysterium  irdischer  Liebe  an  sich 
erführe  .  .  .  Valera  warf  die  schlichte  Herzensgeschichte  dieses  Don  Luis 
und  der  schönen  Pepita  Jimenez  aufs  Papier  (1874)  und  schuf  eine  reizende 
Novelle,  voll  der  inneren  Kämpfe  einer  dnima  espahola^  durch  die  der  Hauch 
der  Mystik  geht  und  die  mit  dem  Siege  des  Erdenlebens  endet,  ohne  daß 
das  Parfüm  des  Himmels  verloren  ginge.  Zu  ähnlichen  Konflikten  ist 
Valera  in  weiteren  Erzählungen    mit    reiferer    Kunst    zurückgekehrt,  ohne 


F.  Das  iq.  Jahrhundert      II.  Die  Zeit  nach   1850,  ^2  7 

„Pepita  Jim^nez"  als  poetische  Schöpfung-  zu  übertroffen.  Valera  ist  eine 
liliite  spanischen  Geistes,  ein  iberischer  Anatole  France,  in  seiner  Hell- 
sichtigkeit und  der  Klarheit  seiner  klassischen  Sprache,  in  seiner  durch- 
dringenden und  doch  so  liebenswürdigen  Ironie,  seiner  Skepsis,  die  mit 
einer  tiefen  S\Tnpathie  für  don  Glauben  verbunden  ist,  den  er  nicht  mehr 
teilt.  In  einer  langen  diplomatischen  Laufbahn  hat  er  die  g-anze  Welt  ge- 
sehen. Er  ist  ihrer  Bildung,  ja  ihrer  Gelehrsamkeit  voll.  Aber  dieser 
polyglotte  Kosmopolit  hat  den  Spanier  nie  verleugnet  und  seinen  andalu- 
sischen  Akzent  auch  im  Sprechen  bewahrt. 

Wie  die  Romantik  Spanien  nicht  sowohl  Neues  zugeführt,  als  vielmehr 
verschüttete  heimatliche  Quellen  wieder  zum  Fließen  gebracht  hatte,  so 
hat  das  Land  zur  Zeit  des  Naturalismus  nicht  sowohl  einen  Import  neuer 
Kunst  als  eine  Renaissance  seines  alten  Realismus  erlebt,  der  einst  mit 
den  Schelmenromanen  ganz  Europa  entzückt  hatte.  Der  Erfolg  von  Zolas 
„Assommoir"  lockte  um  1880  zur  Nachahmung.  Mancher  erlag  ihr  im 
Sturm  der  ersten  Liebe.  Es  erhob  sich  ein  heftiger  literarischer 
Streit.  Die  deterministische  Lebensanschauung,  die  dem  Naturalismus  zu- 
grunde liegt,  konnte  in  Spanien  nicht  Wurzel  fassen.  Die  Tüchtigen,  wie 
A.  P.  Vald^s  oder  Emilia  Pardo  Bazän  kehrten  von  dem  literarischen 
Abstecher,  der  sie  nach  Frankreich  geführt,  wieder  in  das  Reich  des 
spanischen  Realismus  zurück  mit  reiferer  Technik,  geschärfterem  Auge, 
bereit  zu  rücksichtsloserer  Wiedergabe  der  Wirklichkeit. 

Das  ist  die  Distanz,  die  Pereda  von  Fernan  Caballero,  die 
„Sotileza"  (1884)  von  „Gaviota"  (1848)  trennt. 

Die  treffliche  Frau,  die  sich  hinter  dem  Namen  F.  Caballero  verbarg,  f  Cab«Uero 
war  die  Tochter  des  Deutschen,  Bohl  de  Faber,  und  einer  Spanierin,  die, 
halb  irischer  Herkunft,  in  England  aufgewachsen  war.  Die  junge  Cecilia 
kam  an  den  Ufern  des  Genfersees  zur  Welt,  verlebte  manches  Kinderjahr 
in  Deutschland,  wurde  französisch  gebildet  —  und  dieses  nach  Herkunft 
und  Jugendleben  so  kosmopolitische  Menschenkind  ward,  gleich  als  wäre 
sie  andalusisches  Vollblut,  die  literarische  Verkündigerin  des  andalusischen 
Volkslebens.  Von  ihrem  siebzehnten  Jahre  an  lebte  sie  fast  ununterbrochen 
in  Andalusien  (f  1877).  Ihre  deutsch -französische  Bildung  vollendeten 
schwere  Lebensschicksale,  die  sie  an  ihre  „querida  Espana"  fesselten. 
Sie  führte  dem  bloßen  Sittenbild  {citndro  de  costumbres)  das  epische  Ele- 
ment zu  und  schuf  die  spanische  Dorfgeschichte  in  den  selben  Jahren,  da 
Jeremias  Gotthelf  mit  ähnlicher  Absicht  schweizerisches  Bauemieben  ge- 
staltete. Ihre  ersten  Erzählungen  schrieb  sie  deutsch,  hierauf  französisch, 
denn  sie  dachte  an  ein  ausländisches  Publikum.  Dann  erschien  „Der 
Sturmvogel"  {Gcn'iofa)  spanisch,  und  an  diese  Geschichte  der  stürmischen 
Fischerstochter  aus  Villamar  reihte  sich  während  zwei  Jahrzehnten  Novelle 
um  Novelle.  Das  Loben  der  Niedrigen,  Bedrückten  ziolu  sie  an,  auch  das 
Leben  der  Tiere,  was  im  Lande  der  Corridas  de  toros  ungewöhnlich  ist. 
Sie  weiß    in    der  Vulgarität    dieses  Lebens  die  verborgene  Poesie  zu  ent- 


^28  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

hüllen.  Mitleid  und  Humor  weiten  und  vertiefen  ihren  Blick  und  führen 
ihre  Feder.  Ihre  Sprache  scheut  den  provinziellen  Ausdruck  nicht.  Was 
das  Volk  sich  erzählt  und  singt,  das  zeichnet  sie  liebevoll  auf.  Sie  hat 
das  spanische  Folklore  aus  der  literarischen  Taufe  gehoben.  Der  länd- 
liche Rahmen  schließt  eine  meist  einfache  Intrige  ein,  deren  Personen 
prächtig  charakterisiert  sind  in  Beschreibung,  Handlung  und  natürlich  be- 
wegter Rede.  Fernan  Caballero  erhebt  den  Anspruch,  die  Wirklichkeit 
unverfälscht  wiederzugeben.  Aber  ihr  poetischer  Realismus  hat  ähnliche 
erzieherische  Schranken  wie  der  christliche  Verismus  Manzonis.  Sie  denkt 
bei  ihren  Novelas  an  jugendliche  Leser  —  um  nicht  zu  sagen:  an  junge 
Mädchen,  und  „mildert"  die  Wirklichkeit  entschlossen,  wenn  auch  nicht 
ohne  künstlerische  Skrupel.  Sie  begleitet  die  Erzählung  mit  lehrhaften 
Reden  als  eine  überzeugte  Verteidigerin  von  Thron  und  Altar.  Sie  ist 
ganz  Spanierin  in  der  Inbrunst  ihres  katholischen  Glaubens.  Diese  mora- 
lischen Exkurse  üben,  wo  sie  Maß  halten,  oft  großen  Reiz.  Die  alternde 
Schriftstellerin  aber  ermüdet  damit  den  Leser.  Auch  wenn  die  liebens- 
würdige Kunst  Fernan  Caballeros  nicht  kraftvoll  genug  sein  sollte,  ihre 
schönen  Bücher  zu  fernen  Geschlechtern  zu  tragen,  so  bleibt  ihr  der  Ruhm, 
in  der  iberischen  Literatur  Epoche  gemacht  zu  haben.  Der  in  der  „Gaviota" 
ausgesprochene  Wunsch,  daß  alle  Provinzen  des  Landes  ihre  Sittenromane 
bekommen  möchten,  sollte  in  Erfüllung  gehen.  Die  Spanier  und  Portugiesen, 
die  einst  ausgezogen  waren,  um  neue  Kontinente  zu  finden,  zogen 
jetzt  auf  F.  Caballeros  Spuren  aus,  um  ihr  eigenes  Land  zu  entdecken.  Und 
wieviel  Schönes  haben  sie  da  gefunden,  in  West  und  Ost,  Süd  und  Nord! 

Der  Portugiese  Julio  Diniz  (f  1871)  erzählt  die  sonnige  Geschichte 
einer  Kinderliebe  („Die  Mündel  des  Pfarrers",  1866).  Alarcön  berichtet  in 
schalkhaftem  Tone,  wie  der  Corregidor  einer  andalusischen  Stadt  dafür 
bestraft  wurde,  daß  er  der  schönen  Müllerin  nachstellte  („Der  Drei- 
spitz", 1874):  man  glaubt  den  Verfasser  von  „Mein  Onkel  Benjamin"  scherzen 
zu  hören.  Ein  anderer  führt  uns  in  das  Land  der  Basken,  ein  anderer  auf 
die  Fluren  von  Valencia,  E.  Pardo  Bazän  nach  Galizien. 

Wie  dabei  diese  Heimatkunst  selbstbewußter,  naturalistischer  wird, 
Pereda.  das  Zeigen  besonders  Per e das  (geb.  1834)  Erzählungen  aus  Santander 
und  den  asturischen  Bergen.  Pereda  ist  ein  intransigenter  Traditionalist, 
der  den  Geist  der  Revolution  von  1868  verfolgt  und  dessen  Träger  unter 
den  Streichen  seiner  kraftvollen  Satire  bluten  oder  —  sich  bekehren  läßt. 
In  seinem  schönen  Roman  „Auf  die  Höhen!"  {Penas  arriba,  1895)  zeigt 
er  inmitten  herrlicher  Schilderungen,  wie  der  blasierte  Städter  im  Kontakt 
mit  der  großen  Natur  des  Gebirges  und  dem  patriarchalischen  Leben 
seiner  schlichten  Bewohner  selbst  wieder  tüchtig  wird  —  er  zeigt  anders- 
wo, wie  die  „Fremdenindustrie"  die  Badeorte  der  asturischen  Küste  de- 
moralisiert. Seine  Stärke  ist  die  Schilderung  der  Fischer  imd  Bauern. 
Das  Fischerkind,  das  um  seiner  Schlankheit  willen  Sotileza  (Angelschnur) 
heißt,    ist    die    Gaviota    des    Nordens.     Pereda   bildet  diese    Gestalten    mit 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach   1850.  4 20 

vollendeter  Plastik,  gibt  ihre  Rede  mit  künstlerischer  Treue  wieder  und 
erzählt  ihr  Leben  in  seinen  Höhen  und  Niederungen,  seiner  Klarheit  und 
seinen  Rätseln  mit  tiefer  Sympathie.  Seine  Sprache  schöpft  viel  voller 
aus  dem  Dialekt  als  die  der  F.  Caballero;  seine  malerischen  Dialoge  sind 
weniger  glatt.  Er  opfert  die  Fülle  des  irdischen  Geschehens  nicht  einer 
ängstlichen  Kunst.  Aber  wenn  das  Leben  in  seinen  Romanen  in  wilder 
Ursprünglichkeit  flutet,  so  erleidet  es  doch  nicht  den  künstlerischen  Sünden- 
fall des  krassen  Naturalismus.  Pereda  hält  die  Bete  humaine  am  Zügel 
christlichen  Empfindens. 

Unter  den  Jüngeren,  die  heute  den  „regionalen"  Roman  pflegen,  ragt  b  ibise«. 
Blasco  Ibänez  hervor.  „La  Barraca"  (Die  Hütte,  1899)  ist  die  ergreifende 
Erzählung  eines  furchtbaren  Dramas  aus  dem  Bauernleben  der  Huerta 
von  Valencia:  die  Off'enbarung  einer  uralten  Welt  in  machtvoller  Realistik. 
Diesem  Buche  sind  andere  vorangegangen  und  gefolgt,  in  denen  Ibänez 
das  kleine  Volk  seiner  Provinz  schildert,  Bauern,  Fischer,  Krämer,  Schmuggler, 
Zig'euner  —  trotzige,  leidenschaftlich  bewegte  Menschen,  die  mit  elementarer 
Kraft  nach  dem  Ziel  eines  beschränkten  aber  wuchtigen  Ehrgeizes  ringen 
und  dabei  untergehen.  Pereda  ungleich  ist  Ibänez  ein  militanter  Vertreter 
des  modernen  Spanien,  Der  Widerstreit  alter  und  neuer  Weltanschauung, 
der  Kampf  zwischen  Kirche  und  Welt,  Gesellschaft  und  Sozialismus 
führt  ihn  in  neueren  Romanen  über  die  Grenzen  seiner  valencianischen 
Heimat  hinaus.  Nicht  die  Liebe  zum  Weibe  —  wie  in  „Pepita  Jimenez" 
—  ist  es,  die  den  Seminaristen  Luna  der  Kirche  entfremdet  {La  Cafedral, 
1903),  sondern  die  Leidenschaft  für  eine  soziale  Mission  bei  den  Enterbten 
dieses  Lebens.  Sterbend  predigt  Luna  den  aufhorchenden  Armen,  die  im 
Schatten  der  Kathedrale  von  Toledo  hungern,  die  Botschaft  einer  neuen 
sozialen  Ordnung,  die  er  selbst  in  Paris  vernommen.  Aber  Ibäüez  ge- 
staltet mit  größerer  Kunst  die  primitiven  Menschen  seiner  cucntos  vaUncianos 
als  die  komplizierten  Helden  seiner  lehrhaften  Romane. 

Gegenüber  dem  zentralisierenden  und  nivellierenden  Einfluß  der  Haupt- 
stadt zeigt  Spaniens  Literatur  kräftige  zentrifugale  Tendenzen.  An  diesen 
regionalen  Quellen  schöpft  heute  die  hispanische  Muse  ihren  erquickendsten 
Trank. 

Diese  zentrifugalen  Bestrebungen  sind  am  stärksten  in  Katalonien,  das, 
alter  literarischer  Selbständigkeit  sich  erinnernd,  sein  Katalanisch  wieder 
als  Schriftsprache  pflegt  und  sich  den  Südfranzosen  anschließt.  Auch  in 
Katalonien  verbindet  sich  damit  das  Drängen  nach  politischer  Autonomie. 
Das  Galizische  besinnt  sich  ebenfalls  auf  seine  alte  schriftsprachliche 
Mission  als  Gattungsidiom  der  Lyrik  und  wird  von  einheimischen  Dichtem 
zu  Ehren  gezogen. 

Die  Literatur  von  vSpanisch-Amerika  scheint  keine  starke  Eigenart  ent- 
wickelt zu  haben.  Buenos  Aires  gravitiert  mehr  nach  Paris  als  nach 
Madrid.  Zolas  Romane  erschienen  zur  nämlichen  Zeit  in  Paris  und  in  der 
„Naciön"  zu  Buenos  Aires. 


430 


Heinrich  INIorf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Rückblick.  Die  x\ufklärungszeit   hat   Spanien   als    das   Land   der   Inquisition  ver- 

achtet. Die  Romantik  hat  es  mit  Überschwang  gepriesen  und  idealisiert. 
Zwischen  diesen  beiden  Extremen  der  historischen  Geringschätzung  und 
der  dichterischen  Idealisierung  schwankt  noch  heute  das  Urteil  über  die 
Heimat  des  Ignaz  Loyola  und  des  Cervantes  —  wenn  sie  anders  überhaupt 
einer  Beachtung  gewürdigt  wird  in  einer  Zeit,  wo  sich  die  Völker 
nach  wirtschaftlicher  Bedeutung  und  politischer  Machtstellung  würdigen. 
Spaniens  Anteil  an  der  abendländischen  Kunst  verdient  es,  daß  man  dem 
Lande  ein  sympathisches  Interesse  widmet.  Wer  am  „Don  Quijote"  sich 
erfreut  hat,  kann  sicher  sein,  im  spanischen  Schrifttum  alter  und  neuer 
Zeit  noch  vieles  zu  finden,  was  ihn  erquickt  und  wie  eine  Erinnerung  an 
die  Kunst  des  Cervantes  festhält.  Das  sechshundertjährige  Reich  der 
spanischen  Literatur  zeigt  allerorten  das  Wirken  schöpferischer  Kraft.  Die 
Literaturen  der  übrigen  romanischen  Völker  sind  von  strengerer  Form,  sie 
sind  „lateinischer"  —  aber  keine  ist  origineller  als  die  spanische.  Den 
jSIangel  an  tadelloser  Mache  ersetzt  sie  durch  Frische  und  Ursprünglich- 
keit. So  manches  Werk  macht,  wie  der  „Don  Quijote",  den  Eindruck  der 
Improvisation,  in  der  ein  gottbegnadeter  Künstler  wie  achtlos  seine  Schätze 
spendet.  Und  wenn  die  iberischen  Autoren  an  umfassender  Bildung  den 
übrigen  Romanen  nachstehen,  wenn  sie  von  der  Arbeit,  die  zu  dieser 
Bildung  führt  und  die  von  ihr  ausgeht,  weniger  mitzuteilen  haben,  so 
leuchten  sie  doch  durch  ihren  natürlichen  Weltverstand  hervor,  für  dessen 
Ausdruck  sie  die  Form  des  Humors  in  einer  Fülle  besitzen  wie  kein  an- 
deres Volk  der  Romania.  Sie  sind  einzig  in  der  Verbindung  von  welt- 
verständiger Lehrhaftigkeit  und  schöpferischer  Kunst. 

Diese  Verbindung  gibt  der  spanischen  Literatur  ihre  Eigenart,  ihre 
kräftige  Würze.  Die  Würze  mag  dem  Gaumen,  der  an  alle  modernen 
Pikanterien  und  Raffinemente  gewöhnt  ist,  nicht  reizvoll  genug  sein.  Die 
spanische  Literatur  wird  manchen  zu  „moralisch"  dünken,  weil  sie  den 
lehrhaften  Zug  hat  und  weil  sie  den  Leser  respektiert.  Die  literarische 
Kunst  der  Spanier  ist  auf  alle  Fälle  stark  und  gesund.  Eines  schickt  sich 
nicht  für  alle:  Spanien  hat  keinen  D'Annunzio.  Es  gibt  keine  Literatur, 
so  schreibt  Feman  Caballero  einmal  mit  Recht,  deren  ernste  Bücher 
keuscher  wären,  als  die  spanischen:  no  hay  literahira  eji  lo  serio  mas  casta 
que  la  espahola. 

Rumänien.  Walachei  und  Moldau  blieben  nach  dem  Frieden  von 
Adrianopel  (1829),  der  Griechenland  die  Selbständigkeit  sicherte,  in  der 
doppelten  Abhängigkeit  von  Türkei  und  Rußland  zurück.  Das  Jahr  1848 
brachte  eine  Volkserhebung  und  in  der  patriotischen  Begeisterung  schuf  der 
Siebenbürge  Muresianu  das  Nationallied:  „Wach  auf,  Rumäne."  {Deste- 
apia-te,  Romme!).  Die  Revolution  wurde  noch  einmal  niedergeworfen, 
aber  über  der  Rivalität  zwischen  der  Türkei  imd  Rußland  erstarkte  das 
Land,  und  der  Krimkrieg  führte   die   endgültige  Wendung  herbei.    Alec- 


F.   Das    19.  Jalirliumlcrt.     11    Die  Zeit  nacii   1,-550.  a^i 

sandri  sang-  1S56  sein  begeistonides  Lied  von  der  „Vereinij^unj,^".  iJa-s 
„Fürstentum  Rumänien"  entstand  lü^ij  und  im  Laufe  der  beiden  folgenden 
Jahrzehnte  errang  es  sich  die  Anerkennung  als  unabhängiger  Staat  (1877) 
und  als  Königreich  (1881).  Der  unvermittelte  Übergang  aus  orientalischem 
Despotismus  zur  Form  eines  konstitutionellen  Staatswesens  fand  das  Land 
unreif,  verwirrte  die  Köpfe  und  schuf  ein  politisches  Abenteurertum, 
dessen  Bekämpfung  viel  tüchtige  Kraft  verzehrte.  Auch  die  Literatur 
wurde  in  diesen  Strudel  der  Leidenschaften  hineingezogen.  Die  literarische 
Kritik  ward  zur  Betätigung  politischer  Gegnerschaft  und  nicht  jeder 
Kritiker  verfügte  dabei  über  das  Wissen,  den  Geschmack  und  die  Kraft 
des  Sozialisten  Gherea. 

Siebenbürgen ,  das  einst  in  der  Literatur  die  nationale  F'ührung  Su>b<wMrcra 
besessen  hatte,  ist  im  Laufe  der  Zeit  von  dieser  F'ührunjr  völlijr  zurück-  ««»«*<"• 
getreten.  Es  blieb  politisch  vom  Königreich  getrennt  und  ist  in  seiner 
Isolierung  vom  ungarischen  Nationalismus  bedränget.  Wohl  entstammen 
ihm  hervorragende  Dichter  der  Gegenwart,  wie  Cosbuc  und  losif,  aber 
diese  haben  ihre  zweite  Heimat  in  Rumänien  gesucht  und  gefunden. 
Wenn  auf  solche  Weise  das  ungarländische  Romanentum  literarisch  zurück- 
gegangen ist,  so  haben  dazu  auch  seine  schriftsprachlichen  Tendenzen 
beigetragen.  Es  hat,  von  seinem  römischen  Nationalismus  mißleitet,  die 
Literatursprache  auch  weiterhin  gewalttätig  latinisiert,  während  in  Rumänien 
die  Richtung  der  Etymologisten  unterlag  und  die  Schriftsteller  vielmehr 
aus  dem  Born  der  Volkssprache  schöpften.  So  löste  sich  Siebenbürgen 
auch  kulturell  vom  Königreich,  und  es  erfüllten  sich  an  ihm  die  Geschicke 
sprachmeisterlicher  Unnatur.  Eifrig  wird  heute  an  der  Aufgabe  gearbeitet, 
diesen  Schaden  gutzumachen  und  die  Schriftsprache  Rumäniens  auch  im 
„unerlösten"  Siebenbürgen  zu  verbreiten.  Auch  dieser  Schriftsprache  liegt 
übrigens  ein  gewisser  „Zug  nach  dem  Westen"  im  Blute.  Das  slawisch 
klingende  Wort  wird  gerne  durch  sein  lateinisches  Synonymon  ersetzt: 
man  schreibt  lieber  (7/;ior  als  dru^os/t'. 

Den  maßgebenden  kulturellen  Einfluß  hat  in  dieser  Bildungsperiode  d«  eMoI  Am 
des  modernen  Rumänien  Frankreich  ausgeübt.  Deutschland  tritt  erst  ^»•'»*'*» 
später  hinzu.  Noch  heute  ist  Paris  die  Hochschule  des  rumänischen 
Aristokraten,  der  auch  mit  Vorliebe  französische  Bücher  liest.  Maiorescu 
und  Eminescu  aber  studierten  in  Deutschland.  An  der  französischen 
Romantik  bildete  sich  die  rumänische  Lyrik.  Dann  drang  auch  die 
deutsche  Ballade  und  das  deutsche  Lied  herüber:  neben  Goethe,  Uhland 
u.  a.  wirkte  besonders  der  ungarische  Nachbar  Lenau.  Der  am  meisten 
übersetzte  Dichter  des  Auslandes  aber  ist  Heine.  Man  singt  ihn  in 
Rumänien,  und  kürzlich  hat  losif  eine  neue  Übertragung  seiner  „Romante 
si  Cintece'*  gegeben  (1901).  Roman  und  Theater  sind  stark  von  Frank- 
reich abhängig.  Was  in  Paris  einen  Tageserfolg  erringt,  findet  in  Bukarest 
rasch  Leser  und  Übersetzer.  Das  legt  sich  wie  glänzender  Firnis  über 
die  tiefere  Unkultur  des  Landes. 


432 


Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 


Ein  lebendiges  Bild  der  politischen  und  literarischen  Entwickelungs- 
geschichte  Rumäniens  gibt  der  alte  Bürgermeister  von  Jassy  Nicu  Ganea 
(geb.  1835)  in  den  Erinnerungen  seiner  „Vergangenen  Tage"  (1903). 

Rumänien  hat  einen  reichen  Schatz  vitaler  Volksliteratur.  In  dem 
eigenartigen  Leben,  das  sich  in  ihr  spiegelt,  und  nicht  in  der  Nach- 
ahmung des  Auslandes,  liegen  die  Wurzeln  eines  wirklich  rumänischen 
Schrifttums. 

Nach  dieser  Volksliteratur  griff  V.  Alecsandri  (1821  —  i8go),  der 
berühmteste  Dichter  des  Landes,  zugleich  ein  Führer  in  der  sozialen  und 
politischen  Regenerationsarbeit.  Keiner  hatte  vor  ihm  in  solch  poetischer 
Sprache  die  Heimat  gefeiert,  im  Reichtum  ihrer  Natur  solche  Liebes- 
lieder gesungen  und  dem  heißen  patriotischen  Sehnen  solch  klangvollen 
Ausdruck  gegeben.  Auch  seine  Sammlung  von  Volksliedern,  mit  deren 
Überlieferung  er  frei  schaltet,  stellt  er  in  den  Dienst  der  Erweckung 
seiner  Rumänen.  Er  geißelt  ihre  Schwächen  in  Lustspielen,  deren  Komik 
freilich  übertrieben  und  deren  Psychologie  flüchtig  erscheint.  Als  patrio- 
tischer Dichter  erinnert  auch  er  oft  genug  mit  stolzen  Worten  an  die 
römischen  Vorfahren.  Er  suchte  die  rumänische  Renaissance  mit  der 
felibrischen  zu  verbinden,  und  sein  „Sang  des  Lateinervolkes"  wurde  1878 
zu  Montpellier  preisgekrönt.  Seine  Verherrlichung  der  „Gintä  latinä"  hat 
einen  ausgesprochen  antideutschen  Zug.  Aber  die  Prahlerei  gewisser 
„Enkel  Trajans"  verfiel  dem  Spott  seines  Lustspiels. 

Seit  Alecsandri  ist  das  satirische  Sittenbild  realistischer  und  kunst- 
voller geworden.  L  L.  Caragiales  Komödien  (gedruckt  seit  i8go)  stellen 
in  wirkungsvoller  Lebenswahrheit  das  Kleinbürgertum  dar,  das  sich  in 
dem  Chaos  des  neuen  Lebens  noch  nicht  zurechtgefunden  hat  und  das  in 
der  großstädtischen  Gesellschaft  einen  schlechten  Führer  besitzt.  Die 
nämliche  packende  Realistik  findet  sich  in  seinen  und  anderer,  wie 
Basarabescus,  Skizzen  und  Erzählungen  aus  dem  Leben  der  Bauern 
imd  Kleinstädter:  es  ist  eine  Schilderungskunst,  die  sich  an  westlichen 
Meistern  wie  Maupassant  trefflich  gebildet  hat.  Diese  Erzähler  und 
Dramatiker  stellen,  der  eine  voller  Zorn  und  Spott,  der  andere  mitleidig 
und  humorvoll,  die  schmerzliche  Erschütterung  dar,  die  der  Sturm  des 
Lebens,  der  plötzlich  aus  dem  Westen  hereingebrochen,  der  rumänischen 
Volksseele  gebracht  hat. 

Gegenüber  diesen  Gegenwartsschilderungen  erscheint  die  patriotische 
Kunst  der  historischen  Romane  und  Dramen,  die  auch  Hasdeu  und 
Alecsandri  pflegten,  unwirklich  und  gering. 

Der  ausgesprochene  Zug  nach  dem  lateinischen  Westen,  dem 
Alecsandri  Worte  leiht,  tritt  in  anderen  noch  stärker  hervor.  Schon 
Alecsandri  zeigt  nicht  nur  Anlehnung  an  Hugo  und  Lamartine,  sondern 
er  hat  auch  manches  französisch  geschrieben.  Bolintineanu  (f  1872) 
überträgt  seine  Poesien  geradezu  ins  Französische  und  entzückt  mit  der 
morgenländischen   Offenbarung   seiner  „Brises   d'Orient"   (1866)    nicht   nur 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850,  ^1, 

die  Paii.ser,  sondern  auch  —  seine  Land.sleute.  Und  Andere  folgen  ihm, 
die  überhaupt  nur  französisch  dichteten.  Bolintineanu  ist  eine  wahre 
Dichternatur.  Sein  sinnenfrohes  Liebeslied  erklinj^^t  in  eijronen  Tönen. 
Seinen  „Bosporusblumen"  entströmt  das  berauschende  Parfüm  des  Orients. 
Und  wenn  er  in  seinen  „Märchen"  allzusehr  den  Erotiker  verrät,  der,  wie 
Ovid,  galante  Mythologie  treibt,  so  weiß  er  dafür  die  Fanfare  des 
Patriotismus  in  den  „Sagen"  kräftig  zu  blasen. 

In  der  Moldau,  die  westliclu-n  Einflüssen  weniger  offen  war,  erhob  Moldau 
sich  seit  1865  unter  der  Führung  des  T.  Maiorescu  eine  „neue  "''  J""^**- 
RiclUung".  Maiorescu  bekämpfte  den  lateinischen  Chauvinismus  und  die 
Ausländerci.  Er  zeigte  die  Aufgaben  eines  wahrhaft  nationalen  und  künst- 
lerischen Schrifttums  („Die  rumänische  Poesie")  im  ersten  Jahrgang  (1867) 
der  vortrefflichen  „Convorbiri  literare"  (literarische  Unterhaltungen),  der 
ältesten  literarischen  und  gemeinwissenschaftlichen  Zeitschrift  Rumäniens, 
die  seit  1867  nicht  aufgehört  hat,  an  der  Bildung  der  Nation  zu  arbeiten. 
Heute  steht  ihr  „Sämänätorul"  (Der  Säemann)  zur  Seite,  dessen  samen- 
streuende Hand  der  energische  und  gelehrte  lorga  führt. 

Um  seine  „Convorbiri  literare"  scharte  Maiorescu  zu  lassy,  das  damit 
für  Jahre  die  literarische  Führung  des  Landes  übernahm,  eine  Gesellschaft 
gleichgesinnter  jugendlicher  Kräfte,  „Junimea"  (Die  Jugend).  Dem  Einfluß 
dieser  Reformbewegung  konnte  auch  die  von  den  Latinisten  gegründete 
Bukarester  Akademie  sich  nicht  entziehen.  Das  Beispiel  des  Ernstes  und 
der  Gründlichkeit  der  Forschung  wirkte  auch  auf  den  widerstrebenden 
Hasdeu  (-j-  1907),  dessen  gelehrte  Arbeiten  freilich  einen  nationalistischen 
Zug  behielten,  der  ihnen  viel  Phantastik  beimischt.  Rumänien  gleicht 
einem  Parvenü,  der  von  historischer  Forschung  nur  insoweit  hören  will, 
als  seine  Adelsansprüche  dadurch  nicht  kompromittiert  werden.  Der 
Patriotismus,  wie  er  heute  in  Rumänien  verstanden  wird,  so  klagt  noch 
O.  Densusianu  in  seiner  „Histoire  de  la  languc  roumaine"  (19021,  verlangt 
von  der  Wissenschaft  Schonung  der  nationalen  Vorurteile  und  verhindert 
die  Forscher,  die  Wahrheit  zu  ergründen  und  auszusprechen. 

Daß  Alecsandri  der  moldauischen  „Jugend"  beitrat  und  an  den  EmiM««. 
„Convorbiri"  teilnahm,  förderte  die  Bewegung.  Doch  nicht  er,  sondern 
Eminescu  (1849 — 1889)  ist  ihr  Poet.  Er  hat  den  Ernst  der  Kunst,  den 
Maiorescu  lehrte,  an  seinen  formvollendeten  Dichtungen  geübt  Seine 
Liebeslyrik  ist  voll  herrlicher  Bilder,  seine  Balladen  von  großer  Gestaltungs- 
kraft, seine  Vaterlandsgesänge,  seine  Satiren  voll  flammender  Beredsam- 
keit In  düsteren  Liedern  wälzt  er  schwere  Gedanken  und  gestaltet  sie 
zu  Anklagen  gegen  Gott  und  die  Welt  Die  Kämpfe  eines  ungeregelten 
und  früh  gebrochenen  Lebens  haben  ihn  verbittert  und  finster  gemacht 
Sein  Mund  öff"nct  sich  zum  Huch  gegen  den  kalten,  fühllosen  Himmel, 
der  den  Menschen  der  Pein  überläßt  Es  ist  die  Stimmung  Vignys  und 
auch  dessen  fein  ziselierter  Vers.  Seine  Seele,  so  sagt  Eminescu,  gleiche 
einer     verfallenen    Kapelle;     die    Bilder     des    Glaubens,     die     sie    einst 

Du  KutTvm  D««  GtonrwAiiT.    L  it.  t.  28 


4.34  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

schmückten,  sind  verblaßt;  wo  einst  der  Priester  waltete,  webt  die  Spinne 
ihre  Fäden,  und  der  Schlag  seines  Herzens  deucht  ihn  das  Klopfen  des 
Holzwurmes  in  morscher  Wand.  So  ist  sein  poetisches  Lebenswerk  aus 
Lebenslust  und  Melancholie  in  schroffen  Gegensätzen  gemischt.  Ein  tiefer, 
aber  ein  werktätiger  Pessimismus  erfüllt  seine  politischen  Schriften. 
Maßlos  im  Studium,  das  ihn  von  Kant  zu  Schopenhauer  und  Buddha,  von 
Nationalökonomie  zu  Sprachstudien  führte,  war  er  auch  maßlos  im  Genuß. 
Mit  33  Jahren  umnachtete  sich  sein  Geist.  In  lichten  Perioden  arbeitete 
er  weiter.  So  entstand  jenes  Gedicht  „Der  Stern",  eine  unbewußte 
Reminiszenz  aus  Gottfried  Kellers  Liederbuch.  Nicht  er  selbst,  sondern 
sein  Freund  Maiorescu  sammelte  zum  erstenmal  seine  Gedichte  (1883). 

Aus  der  Schule  Eminescus  ist  A.  Vlähutä  zu  besonderer  An- 
erkennung  gekommen.  Er  singt  das  Lied  des  Meisters  mit  geschmeidigem 
Talent  und  wendet  die  Klage  des  Armen  zu  sozialistischen  Forderungen. 
Das  starke  Hervortreten  sozialistischer  Stimmungen  ist  für  die  heutige 
Literatur  Rumäniens  ebenso  charakteristisch,  wie  das  Fehlen  religiöser 
Inspiration.  Das  rumänische  Lied  betet  nicht;  es  verkündet  das  Evan- 
gelium einer  neuen  irdischen  Ordnung.  Und  es  sind  von  den  hervor- 
ragendsten Talenten,  die  sich  dazu  bekennen:  Gherea,  Caragiale,  Vlähuta 
und  G.  Cosbuc,  der  Sänger  des  Bauernlebens,  dessen  meisterhafte  Verse 
volkstümliche  Art  mit  selbstbewußter  Kunst  verbinden.  Cosbucs  Gedichte 
überfließen  von  dem,  dessen  dieses  Bauernsohnes  Herz  voll  ist.  Weniger 
kräftig,  aber  von  nicht  geringerer  Kunst  sind  die  zarten  Lieder,  die 
poetischen  Stimmungsbilder,  die  kurzen  Balladen  losifs,  der  heute  ein 
Liebling  seiner  Nation  ist  und,  obwohl  an  deutschen  und  französischen 
(Verlaine)  Vorbildern  geschult,  jenen  heimatlichen  Zug  in  Stoff  und  Form 
bewahrt  hat,  den  auch  der  westliche  Leser  beim  rumänischen  Dichter 
sucht.  Denn  es  ist,  wie  lorga  im  „Säemann"  gesagt  hat:  eine  rumänische 
Literatur  wird  nur  dann  in  der  Weltliteratur  Bürgerrecht  erwerben,  wenn 
sie  ihrem  Lande  treu  bleibt  und  die  ewige  Legende  vom  Menschen- 
schicksal so  erzählt,  wie  Natur  und  Geschichte  des  Balkans  sie  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  gestaltet  haben  —  pe  pämintulu  Romäniei. 

Rätien.  Das  moderne  Leben  schlägt  seine  Wellen  auch  nach  Rätien, 
Kalender,  Zeitung,  Volksschule,  Militärdienst  tragen  es.  Rätien  beginnt 
seine  eigene  Geschichte  nach  Art  der  Romantiker  zu  behandeln.  Seine 
Lyriker  und  Epiker  geben  stimmungsvolle  Bilder  aus  dem  Leben  der 
Hochtäler.  Huonder  singt  das  kraftvolle  Lied  des  freien  Bauern, 
Caderas  das  zarte  Lied  der  Heimatliebe,  Muoths  Erzählungskunst  zeigt 
ein  durch  philologische  Schulung  geleitetes  Formtalent.  Alle  rätischen 
Poeten  sind  zugleich  Übersetzer.  „Wilhelm  Teil"  und  „Rufst  du  mein 
Vaterland"  sind  dem  Räten  vertraut  wie  dem  Deutschschweizer.  Das 
bescheidene  rätische  Schrifttum  ist  die  Literatur  eines  kräftigen,  freiheits- 
liebenden und  gläubigen  Bauemlandes,  dessen  Bildimg  a  ")llig  zur  deutschen 
Schweiz  neigt. 


F.  Das  19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  nach  1850.  ^35 

Das  Lied  Huonders  und  das  Lied  Cosbucs!  Noi  vrem  pämint  (wir 
wollen  Land)!  rufen  bei  Cosbuc  die  besitzlosen  rumänischen  Bauern  in 
schneidendem  Kehrreim  ihrem  Herrn  zu:  „Bewahr  Euch  der  heilige  Gott 
vor  dem  Tage,  an  welchem  wir  Blut  und  nicht  bloß  Land  verlangen 
werden  .  .  .  noi  vrcm  pämint '.'•'^  Huonders  Lied  ist  überschrieben  „Der 
freie  Bauer"  (II  pur  suveran)  und  singt:  „Feld,  Scheune  ist  mein  Eigen- 
tum —  Mit  Weg  und  Steg  mein  Land  —  Nach  keinem  schau  ich  dankend 
um  —  Und  König  heißt  mein  Stand: 

Qiui  ei  miu  prau,  quci  min  clavau, 
Quei  viiti  regress  c  dretg; 
Sai  a  ncgin  per  quci  ifengrau, 
Sun  eheu  ftu  mez  il  refg. 

So  mag  das  romanische  Schrifttum  hier  in  zwei  Bauernlieder  aus- 
klingen, in  deren  fesselndem  Gegensatz  sich  zwei  verschiedene  Welten 
der  weiten  Romania  spiegeln. 

Schlußwort  Also  stellt  sich  dem  überschauenden  Blicke  die  acht- 
hundertjährige Geschichte  der  romanischen  Literaturen  dar.  Es  ist  eine 
stolze  Geschichte. 

Während  fast  sieben  Jahrhunderten  hat  das  Abendland  unter  der 
literarischen  Führung  der  Romania  gestanden.  Diese  Führung  war  erst 
beim  mittelalterlichen  Frankreich,  hierauf  beim  Italien  der  Renaissance 
und  kehrte  dann,  nachdem  für  kurze  Zeit  auch  Spanien  im  Gefolge  seiner 
Weltmachtstellung  hervorgetreten  war,  zu  Frankreich  zurück,  dem  Frank- 
reich des  Klassizismus  und  der  Aufklärung.  Innerhalb  der  einzelnen 
Länder  dieser  Romania  sind  die  nördlichen  Landesteile  mit  ihren  Metro- 
polen zu  dauernder  Hegemonie  gekommen:  Xordfrankreich  mit  Paris,  Xord- 
italien  mit  Florenz  und  Mailand,  Nordspanien  mit  Madrid  und  Barcelona.  Die 
südlichen  Gebiete  haben  nur  vorübergehend   eine  führende  Rolle  gespielt. 

In  diese  mächtige,  führende  Romania  drangen  mit  dem  iM.  Jahr- 
hundert germanische,  englische  und  deutsche,  Ideen  ein  und  in  der 
sogenannten  Romantik  trat  darauf  diese  Germania  ebenbürtig  neben  die 
Romania,  um  sich  mit  ihr  in  die  literarische  Hegemonie  des  19.  Jahr- 
hunderts zu  teilen.  Diese  Romantik  bedeutet  die  literarische  Befreiung 
Europas  von  der  Alleinherrschaft  des  I^teinertums,  die  Begründung  einer 
europäischen,  einer  Weltliteratur. 

Dreimal  haben  im  Laufe  von  anderthalb  Jahrtausenden  die  Germanen 
ihre  Hand  an  die  römisch -lateinische  Weltherrschaft  gelegt:  an  die 
politische  in  der  Völkerwanderung,  als  sie  das  kaiserUchc  imperiura 
romanum  zerstörten;  an  die  kirchliche  in  der  Reformation,  als  sie  das 
geistliche  imperium  romanum  durchbrachen;  und  um  die  Wende  des 
18.  Jahrhunderts,  als  sie  sich  dem  literarischen  imperium  romanum 
entwanden   und    die  große  Sezession   vollzogen,  die  zur  Romantik  führte. 

28* 


,^5  Heinrich  Morf.  Die  romanischen  Literaturen. 

Völkerwanderung,  Reformation  und  Romantik  sind  drei  große  Mark- 
steine in  den  Beziehungen  der  beiden  Welten,  der  lateinischen  und 
germanischen.  Diese  Marksteine  sind  freilich  von  ungleicher  Bedeutung 
für  das  Romanentum,  für  welches  die  Reformation  ja  nicht  direkt  fruchtbar 
geworden  ist.  An  Stelle  dieser  religiösen  Auflehnung  des  individuellen 
Gewissens  zeigt  die  Romania  eine  mehr  künstlerische  und  intellektuelle 
Revolution  in  der  Renaissance.  Die  Romania  blieb  eine  katholische 
Welt  mit  strengerer  geistiger  Disziplin.  Jederzeit  ist  ihr  am  Germanentum 
der  Individualismus  aufgefallen. 

Der  Völkerwanderung  verdankt  die  Romania  ihre  Entstehung;  aus 
der  Mischung  von  Lateinertum  und  Germanentum  sind  die  romanischen 
Nationen  hervorgegangen.  Die  germanischen  Minderheiten  lösten  sich  in 
den  neuen  romanischen  Volkstümem  auf  und  langsam  bildeten  sich  auf 
den  Trümmern  der  römischen  Welt  neue  Kulturen,  aus  deren  Mitte  sich 
mit  dem  ii.  Jahrhundert  Frankreich  zu  führender  Stellung  erhob.  Mit 
ungleichem  Eifer  beteiligten  sich  die  Romanen  Italiens  und  Hispaniens 
unter  Frankreichs  Leitung  an  dem  blühenden  mittelalterlichen  Schrifttum. 
Die  Romania  besuchte  gleichsam  eine  französische  Klosterschule. 

Dann  bezog  Italien  die  Universität  des  Rinascimento  und  studierte 
Philologie.  Unter  seiner  Führung  folgten  die  anderen,  Spanien  freilich 
nur  zögernd.  Es  wurde  die  Renaissance  die  Universitätszeit  Europas, 
während  der  die  Romanen  mehr  die  philologia  profana  und  die  Germanen 
die  philologia  sacra  studierten.  Es  war  eine  Zeit  reichen  Lernens  und 
Schaffens,  in  der  die  Romania  die  Grundlage  zu  ihrer  glänzenden  künst- 
lerischen Kultur  legte.  Doch  ward  die  Philologie  zur  Fessel  der  Kunst 
und  aus  der  Unselbständigkeit  erwuchs  die  Nachahmung.  Ihr  Fluch 
erfüllte  sich  im  Klassizismus,  mit  welchem  Frankreich  die  Führung  wieder 
übernommen  hatte. 

Die  Herrschaft  dieses  Klassizismus  ist  dann  durch  den  germanischen 
Geist  des  Individualismus  gestürzt  worden.  Nachdem  das  alte  Europa  in 
den  Erschütterungen  der  französischen  Revolution  zusammengebrochen 
war,  zog  dieser  Geist  in  die  Romania  ein.  In  dem  latinisierten  Europa 
des  aufgeklärten  Despotismus  und  des  Klassizismus  ging  die  politische 
Auflehnung  von  den  Franzosen  aus;  die  literarische  kam  von  den 
Deutschen  und  Engländern  und  eine  diente  der  anderen  als  Vehikel.  Den 
Geist  des  Individualismus,  den  die  Romania  zur  Zeit  der  Reformation 
abgelehnt  hatte,  hieß  sie  jetzt  willkommen  zum  Kampf  gegen  künstlerische 
Fesseln,  zum  Kampf  gegen  die  Nachahmung.  Selbständig,  eigenen  Rechtes 
verlangte  die  Poesie  zu  werden,  unbeschadet  der  Bewunderung  für  die 
unvergängliche  Schönheit  klassischer  Werke  antiker  und  neuerer  Zeit. 
Auf  die  „declaration  des  droits  de  l'homme"  folgte  die  Erklärung  der 
Rechte  des  Dichters.  So  bildete  sich  die  kosmopolitische  Freiheitslehre, 
welche  die  Romantik  heißt  und  auf  deren  Grundlage  sich  die  moderne 
Literatur   erhebt.     Frankreich   hat   die  Lehre    für  die  Romania   formuliert. 


F.  Das   19.  Jahrhundert.     II.  Die  Zeit  narh   1850.  , -,>, 

Italien  hat  sie  soinor  alten  klassischen  Tradition  assimiliert.  .Spanien  hat 
sie  in  seiner  eigenen  Literatur  wiedergetunclen.  Frankreich  selbst  hat  sie 
.so  weit  verwirklicht,  al.s  sich  mit  seiner  langen  kla.ssi«»chen  Schulung  vertrug. 
Denn  das  Ergebnis  dieser  Schulung:  Geradlinigkeit  {esprit  gvometriquc) 
und  Simplisnius;  methodischer  Aufbau,  Klarheit  und  Harmonie  des  Stils 
ist  nicht  einfach  ausgelöscht  worden.  Licht  und  Schatten  dieser  Eigen- 
schaften liegt  auch  noch  auf  Frankreichs  modernen  Büchern.  Und  da  bei 
diesen  Eigenschaften  das  Prosa  werk  besser  gedeiht  als  die  Dichtung,  so 
kämpfen  besonders  die  Lyriker  gegen  ihre  Herrschaft. 

Es  ist  der  Welt  Lauf,  daß  junge  Freiheiten  mit  der  Zeit  zu  alten 
Fesseln  werden.  Auf  dem  Boden  jeder  Freiheit  bildet  sich  eben  eine 
positive  Tradition  und  entstehen  Autoritäten.  Die  kommenden  Jungen 
empfinden  Tradition  und  Autoritäten  als  Fessel  und  schreiten  protestierend 
zur  Sezession.  Das  ist  der  Kreislauf  der  Kunst.  So  ging's  der  Romantik 
um  die  Mitte  des  Jahrhunderts;  so  dem  Naturalismus  am  Jahrhundertende. 
Das  Jahrhundert  schloß  mit  einer  allgemeinen  Sezession.  Nirgends  herrscht 
eine  bestimmte  Schule.  Die  romanische  Poesie  ist  ganz  individualistisch 
geworden,  der  Zeit  gewärtig,  da  ein  Großer  all  die  individualistische  Frei- 
heit in  neue  überragende  Schöpfungen  zwinge  und  eine  glorreiche  Tradi- 
tion schaffe. 

Am  lebhaftesten  und  ausgeprägtesten  ist  der  Verlauf  der  Dinge  in 
Frankreich,  dessen  Norden  innerhalb  der  Romania  immer  noch  unbestrittene 
F'ührerschaft  hat.  Es  ist  der  Teil  der  Romania,  der  in  der  Völkerwanderung 
die  stärkste  Germanisierung  erfuhr,  wo  über  die  alte,  völlig  dunkle  Unter- 
lage der  geheimnisvollen  Urbevölkerung  und  über  die  keltisch-romanische 
Kultur  sich  die  machtvolle  Invasion  der  FVanken  und  dann  die  Invasion 
der  Normannen  schob:  das  alte  Neustrien.  In  diesem  Neustrien  hat  sich 
eine  in  ihren  Komponenten  und  Verhältnissen  besonders  glückliche  Völker- 
mischung vollzogen,  die  zur  Macht  einer  vielhundertjährigen  Herrschaft 
geführt  hat. 

Eine  solche  Herrschaft  kann  in  der  modernen  Literatur  nicht  mehr 
bestehen.  Diese  gedeiht  im  freien  Wettbewerb  der  Völker,  wie  Wissen- 
schaft und  Technik.  Jedes  Volk  schafft  aus  dem  Eigenen  und  schafft 
damit  den  anderen  Anregungen.  Die  Geschichte  lehrt,  daß  jede  literarische 
Umwälzung,  die  zu  großen  Schöpfungen  geführt  hat,  ihren  Anstoß  von 
außen  bekam.  „Eine  jede  Literatur  ennuyiert  sich  zuletzt  in  sich  selbst, 
sagt  Goethe,  wenn  sie  nicht  durch  fremde  Teilnahme  wieder  aufgefrischt 
wird."  Gegen  solche  Auffrischung  mit  Worten  zu  streiten  ist  ebenso 
kurzsichtig  wie  erfolglos.  Spiritus  flat  ubi  vult,  und  literarische  Gast- 
freundschaft, die  dem  fremden  Kunstwerk  erwiesen  wird,  bereichert-  Unser 
Schrifttum  ist  reicher  geworden,  indem  es  Dante  und  .Shakespeare,  Cer- 
vantes und  Moliere  gastlich  aufgenommen  hat 

Die  Schöpfungen  des  Auslandes  mit  jenem  s}Tnpathischcn  Interesse 
zu  verfolgen,  dem  allein  ein  wirkliches  Verstehen  gelingt,  hat  uns  Goethe 


438  Heinrich  Morf:  Die  romanischen  Literaturen. 

gelehrt.  Daß  darob  die  bodenständige  Art  der  Nationalliteratur  nicht  Not 
zu  leiden  braucht,  zeigt  auch  die  Gegenwart:  zu  keiner  Zeit  ist  die 
literarische  Heimatkunst  mehr  gepflegt  worden  als  heute  im  Zeichen  der 
„Weltliteratur",  und  Meisterwerke  werden  auch  in  dieser  Literatur  nur 
dadurch  entstehen,  daß  der  Dichter  das  allgemein  Menschliche  auf  der 
Grundlage  des  speziellen  Erlebnisses  in  künstlerischer  Harmonie  gestaltet. 

Goethe  hat  uns  auch  gezeigt,  wie  mit  jenem  sympathischen  Interesse 
für  das  Fremde  sich  tiefe  Liebe  zum  Eigenen  verbinden  kann. 

Achtung  vor  dem  Fremden  und  Liebe  zum  Eigenen  —  in  solcher 
Empfindung  können  die  Völker  sich  auch  dann  begegnen,  wenn  materielle 
Interessen  sie  trennen.  Dieses  Empfinden  zu  wecken  und  zu  kräftigen  ist 
vor  allem  die  geschichtliche  Betrachtung  geeignet.  Ihr  gelten  die  voran- 
gehenden Seiten.  Aus  ihr  heraus  sind  sie  geschrieben,  sine  ira  et  studio, 
es  sei  denn  das  Studium  veri. 


Literatur. 

Während  wir  längst  eine  Geschichte  der  romanischen  Sprachen  besitzen,  gibt  es  noch 
keine  Darstellung,  die  dieses  Sprachgebiet  auch  als  eine  literarische  Einheit  zusammen- 
faßt. Die  sprachliche  Einheit  der  Westromanen  hat  schon  Dante  betont.  Ihre  litera- 
rische Zusammengehörigkeit  ist  zum  erstenmal  zum  Ausdruck  gekommen,  als  vor  vier  und 
einem  halben  Jahrhundert  der  Marques  von  S.\ntillana  seine  Übersicht  über  die  Poesie 
dieser  Romanen  {de  los  romancistas  ö  vulgares)  schrieb  (s.  oben  S.  203)  —  damals  waren 
Francisco  Imperial  und  Alain  Chartier  modern!  — ,  und  seither  haben  sie  nicht  aufgehört, 
sich  innerhalb  Europas  als  eine  literarische  Sonderwelt  zu  fühlen.  Doch  kam  in  der  literatur- 
geschichtlichen Forschung  dieser  interromanische  Standpunkt  nicht  zur  Geltung.  Erst  die 
Romantik  bringt  SlSMONDiS  De  la  litU'raiure  du  midi  de  l'Europe.  Dann  stellt  sich  aber 
mit  Frau  von  Stael  auch  gleich  die  weitere,  kosmopoUtische  Betrachtungsweise  und  der 
Begriff  einer  ,, europäischen"  —  d.  h.  romanisch -germanischen  —  Literatur  ein,  die  für  die 
Folgezeit  maßgebend  bleiben.  Bruneti^re  spricht  am  internationalen  Kongreß  für  historische 
Wissenschaften  1900  über  La  littcrature  europt'enne  {Annales,  Paris  1901,  6«  section). 

Der  interromanischen  Literaturforschung  dienen  seit  mehr  als  dreißig  Jahren  zwei 
Zeitschriften,  deren  Arbeitsgebiet  indessen  speziell  das  Mittelalter  ist:  die  Romania  {%t\\.  1872) 
und  die  Zeitschrift  f.  rom.  Philologie  (seit  1877).  Dazu  die  Rei'ue  des  langues  romancs 
(seit  1870),  die  auch  die  Neuzeit  berücksichtigt;  ebenso  VollmöLLERS  Romanische  For- 
schungen (seit  1881).  Die  Zeitschrift  gibt  jährlich  auch  einen  bibliographischen  Supplement- 
band heraus,  der  das  ganze  romanische  philologische  Schrifttum  bis  zur  Gegenwart  umfaßt.  Die 
lange  Reihe  dieser  Supplementbände  ermöglicht  eine  rasche  Orientierung  in  der  Fachliteratur 
der  letzten  dreißig  Jahre.  Nähere  Auskunft  über  den  Wert  dieser  Fachliteratur  gibt  VOLL- 
Möllers  Kritischer  fahresbericht  über  die  Fortschritte  der  roman.  Philologie  (seit  1890,  unter 
Mitwirkung  von  über  hundert  Fachgenossen).  Grübers  Grundriß  der  romanischen  Philo- 
logie stellt  die  romanischen  Literaturen  einzeln  dar  und  beschränkt  diese  Darstellung  zum 
Teil  auf  die  ältere  Zeit  (mit  reicher  Bibliographie).  Ein  Verzeichnis  der  Arbeiten,  welche 
Fragen  der  literarischen  Beziehungen  der  romanischen  Länder  unter  sich  und  mit  dem  Ausland 
beJiandeln,  geben  Betz,  La  littcrature  compart'e,  Straßburg  1902,  und  Jellineks  jährliche 
Bibliographie  der  vergl.  IJteraturgcschichte,  Berlin  (seit  1903).  —  Ausgaben:  W.  FOERSTERS 
Romanische  Bibliothek  (seit  1889);  Gesellschaft  für  romanische  Literatur  (seit  1903). 

Frankreich.  Histoire  de  la  langue  et  de  la  litti'rature  frant^aise  des  origines  <i  igoo 
publie'e  sous  la  direction  de  L.  PETIT  DE  JL'LLEVILLE,  Paris  1896 — 99,  acht  Bände  mit  unglcich- 
wertigen  Beiträgen:  I  u.  II:  Mittelalter;  III:  Renaissance;  IV  u.  V:  17.  Jahrb.;  VI:  18.  Jahrb.; 
VII  u.  VIII:  19.  Jahrh.  G.  Lanson,  Histoire  de  la  litt,  frani^aise^,  Paris  1906,  ist  ein  treff- 
liches Handbuch,  das  für  die  vier  letzten  Jahrhunderte  auf  Quellenstudien  beruht.  F.  Brune- 
Tl^iRK,  Manuel  de  fhist.  de  la  litt,  fran^aise,  Paris  1898,  nur  für  das  Gebiet  der  vier  letzten 
Jahrhunderte  von  selbständigem  Wert.  —  Seit  1894  erscheint  eine  Rnue  dhist.-lttl.  de  la 
France,  welche  in  Frankreich  die  Romania  literarhistorisch  ergänzt.  Dazu  in  Deutschland 
Behrens'  Zeitschrift  f.  franz.  Sprache  und  Literatur  (seit  1879).  Speziell  für  Südfrankreich : 
Annales  du  Midi  (seit  1888).  —  Sammlungen  literarhist.  Monographien:  Les  grands  ^crivains 
fran^is,  Üudes  sur  la  vie,  les  ceuvrcs  et  tinjluence  des  principaux  auteurs  dt  notre  littcrature. 


440 


Heinrich  Morf:  Literatur. 


bis  jetzt  über  fünfzig  Bände  (von  Rutebeuf  und  Villon  bis  Lamartine  und  Hugo)  usw.  — 
Die  Bibliotheque  de  bibliographies  critiques  publice  par  la  Sociiti  des  ettides  historiques  (seit 
1900)  umfaßt  auch  Schriftsteller.  Ausgaben:  Publications  de  la  Sociiti  des  anciens  textes 
fran^ais  (seit  1872);  W.  FOERSTERS  Altfranzösische  Bibliothek  (seit  188 1);  H.  Suchiers, 
Bibliotheca  Normannica  (seit  1879);  Societd  des  textes  frangais  moaernes  (seit  1905);  die 
Editions  der  Grands  ^crivains  de  la  Frattce,  die  Ausgaben  der  Bibliotheque  elzcvirienne 
(zirka  180  Bände)  usw.  Ferner  Textsammlungen,  die  sich  um  ein  bestimmtes  Zentrum 
gruppieren,  wie  z.  B.  die  Collection  inoliiresque,  1867  fF. 

Italien.  G.  Mazzoni,  Avviamento  allo  studio  critico  delle  lettere  italiane  *,  Firenze  1907.  — 
Bei  Vall.^RDI  in  Mailand  erscheint  seit  1898  eine  große  Storia  letteraria  d'Italia  scritta  da 
una  societä  di  professori  in  neun  Bänden,  jeder  von  einem  besonderen  Autor:  Letteratura 
romana  v.  Giussani;  Origini  della  lingua  v.  NOVATI;  Da?tte  v.  Zingarelli  mit  Le  vite  di 
Dante,  Petrarca,  Boccaccio  v.  Solerti;  Trecento  v.  VOLPl;  Quattrocento  v.  Rossi;  Cinque- 
cento v.  Flamini  ;  Seicento  v.  Belloni  ;  Settecento  v.  Concari  ;  Ottocento  v.  Mazzoni  ;  Origini 
und  Ottocento  sind  noch  unvollendet.  Das  Werk  bringt  ausgiebige  Literaturnachweise. 
A.  d'ANCONA  e  O.  Bacci,  Manuale  della  letteratura  italiana,  5  Bände  und  Supplem.,  Firenze 
1892 — 1904,  ist  ein  bequemes  und  verläßliches  Hilfsmittel,  eine  Chrestomathie  mit  guten 
Übersichten  und  wohldokumentierten  Charakteristiken  von  über  300  Schriftstellern  (keine 
lebenden).  —  Gioj-nale  storico  della  letteratu7'a  italiana  (seit  1882,  jährlich  2  Bände)  ist  ein 
eigentliches  Zentrum  der  literarhistorischen  Forschung  Italiens  und  bringt  auch  den  Inhalt  der 
übrigen  Zeitschriften.  Collezione  di  opere  inedite  (seit  1862);  Scelta  di  curiositä  letterarie  in- 
edite  0  rare  (etwa  250  Bände),  usw. 

Spanien  und  Portugal.  J.  Fitzmaurice -Kelly,  A  history  of  spattish  lit.,  1898;  in 
der  spanischen  (1900)  und  französ.  (1904)  Übersetzung  vermehrt  und  verbessert  (mit  aus- 
führhcher  Bibliographie).  Ph.  A.  Becker,  Geschichte  der  spattischen  Literatur,  Straßburg  1904. 
A.  Farinelli,  Espatia  y  su  literatura  en  el  extranjero  d  traves  los  siglos ,  Madrid  1902, 
mit  bibliogr.  Orientierung.  —  Revista  de  archivos ,  bibliotecas  y  museos  (seit  1870).  Literar- 
historisch-kritische Zeitschriften  haben  bislang  in  Spanien  nicht  zu  eigentlichem  Leben 
kommen  können.  In  Frankreich:  Revue  hispanique,  Paris  (seit  1894).  —  Biblioteca  de  autores 
espaholes  desde  la  fortnaciön  del  lenguaje  hasta  nuestros  dias,  Madrid  1846 — 80,  71  Bände 
(mit  nützlichem  Index  im  letzten  Band);  fortgesetzt  als  Nueva  biblioteca  (seit  1905).  Die 
Colecciön  de  escritores  castellanos  usw.  Es  gibt  zahlreiche  Sammlungen  seltener,  klassischer 
und  moderner  Texte.  Bibliotheca  hispanica  v.  Foulch^-Delbosc,  Paris  (seit  1900).  Die 
Colecciön  de  autores  espaholes  v.  F.  A.  Brockhaus,  Leipzig.  Die  eingehendste  deutsche 
Darstellung  der  portugiesischen  Literatur  geben  C.  Michaelis  De  Vasconcellos  und 
Th.  Braga  in  Gröbers  Grundriß  II,  2,  S.  129 — 381  (vgl.  dazu  Vollmöllers  Jahres- 
bericht, IV,  2,  190);  sie  reicht  bis  in  die  Mitte  des  19.  Jahrh.  Th.  Braga,  As  modernas 
ideias  na  literatura  portugueza,  Porto  1892,  stellt  die  Literatur  der  zweiten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts dar.  In  Gröbers  Gru?idriß  l\,  2,  S.  70 — 128,  die  katalanische  Literatur  von 
A.  Morel-Fatio;  der  neueren  Zeit  —  nach  dem  15.  Jahrh.  —  fallen  am  Schlüsse  nur  wenige 
Zeilen  zu.  Über  die  neueste  katalan.  Lit.  vgl.  ^loU-^iöiAXSS,  Jahresbericht,  Band  I,  VII  u.  VIII. 
Kürzlich  (1907)  ist  eine  literaturgeschichtliche  Zeitschrift,  Empori,  in  Barcelona  begründet 
worden. 

Rätien.  Die  rätische  Literatur  verzeichnet  bibhographisch  E.  BÖHMER  in  seinen 
Ro7nan.  Studien,  Band  VI,  1883.  Dargestellt  hat  diese  Literatur  C.  Decurtins  in  Gröbers 
Grundriß  III,  3,  S.  218 — 261.  Einen  großen  Teil  derselben  vereinigt  der  nämhche  in  seiner 
Rätoromanischen  Chrestomathie,  Erlangen,  seit  1888  (bis  jetzt  8  Bände). 

Rumänien.  Die  eingehende  Darstellung  des  rumänischen  Schrifttums  in  Gröbers 
Grundriß  II,  3,  S.  262 — 428  (v.  M.  Gaster)  reicht  nur  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrh. 
N.  lORGA,  Istoria  literaturii  romäne  in  secolul  al  XVIII i^"-,  Bukarest  1901,  2  voll. 
G.  Alexici,  Geschichte  der  rumän.  Literatur,  in  deutscher  Umarbeitung  v.  K.  Dieterich, 
Leipzig  1906,  umfaßt  auch  die  neueste  Zeit. 


Hkinrich  Mork;  Literatur. 


441 


S.  138  ff.     G.  Paris,  über  Romani,  Romania  usw.  in  Romania,  I.  i  fi^ 

S.  141.  Zum  Namen  Provincia,  Blanc  in  der  Revue  des  langes  romanes  J894, 
November.  Fr.  Nova  ri ,  L'influsso  del  pensiero  latitio  sopra  la  civiltä  italiana  del  medio 
ei'O*,  Milano  1899. 

S.  142.  Die  Sprache  der  alten  Grafschaft  Barcelona,  das  Katalanische,  erscheint  nach 
den  neuesten  Forschungen  nicht  als  ein  Ableger  Scptimaniens,  sondern  als  autochthone 
hispanische  Entwickelung,  und  der  katalanische  Dialekt  des  Roussillon  (Pyren($es  orientalcs) 
als  alter  hispanischer  Import. 

S.  143  ff.  Frankreichs  mittelalt.  Literatur  ist  am  ausführlichsten  dargestellt  in  der 
Histoire  lilWraire  de  la  France,  Paris  I733— 1906,  33  Bünde.  Eingehende  und  genaue 
Orientierung  bietet  —  bis  zum  15.  Jahrhundert  —  Gröber  im  Grundriß  d.  roman.  Philologie 
Band  II ',  433—1247  (1902),  Knapper:  G.  P.\R1S,  La  litt. /ran^.  au  moyen  dge*  (bis  1328), 
1905.  Gröber  und  Paris  geben  ausreichende  Literaturnachweise.  Paris"  Esquisse  hislorique 
ae  la  litt.  fr.  au  moyen  Age ,  1907,  umfaßt  auch  das  14.  und  15.  Jahrb.,  das  Paris  auch 
in  gesonderten  Aufsätzen  behandelt  hat  {La  pot'sie  du  moyen  äge ,  2.  Band,  1895;.  Petit 
DE  JULLEVILLE  widmet  dem  Mittelaher  zwei  von  acht  Bänden.  SucHlER,  in  Geschichte  der 
franz.  Litt,  von  H.  SucHiER  und  A.  BiRCH- Hirschfeld,  1900,  1—308,  behandelt  auch  die 
provenzalische  Literatur,  die  Stimming  in  GröBERS  Grundriß  II*,  1-69  speziell  dargestellt 
hat  (,bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters;.  G.  Paris,  Les  origines  de  la  poesie  lyrique  en  France 
au  moyen  dge,  im  foum.  des  Satuints  1892 — 93. 

S.  144.     H.  Reich,  Der  Mimus,  Berlin  1903. 

S.  145.  Die  Epenforschung  wird  in  neue  Bahnen  gelenkt  von  Ph.  A.  Becker,  Grund- 
riß der  altfranz.  Literatur  I.Teil,  Heidelberg  1907,  und  J.  Bi^:dier,  Les  Ugendes  ^iques, 
recherches  sur  la  formation  des  Chansons  de  geste ,  Paris  1908,  die  hier  leider  nicht  mehr 
haben  berücksichtigt  werden  können. 

S.  154.  Fr.  Diez,  Die  Poesie  der  Troubadours"^,  1882:  Beck,  Die  Melodien  der 
Troubadours,  Straßburg  1908;  Fr.  Diez,  Leben  und  Werke  der  Troubadours^,  1882.  —  Zur 
Kritik  der  alten  Troubadourbiographien:  ZlNG.\RELLl,  Ricerche  sulla  vita  di  Bern,  de 
Ventadorn ,   1905  (in  Studi  mediex'ali  I). 

S.  159.  Das  Französische  in  England:  D.  Behrens  in  Pauls  Grundriß  der  german. 
Philologie  V;  cf.  die  Verhandlungen  des  Pariser  Kongresses  von  1900  {Annales  internal, 
d histoire  Vh  section  1901  S.  43  ff.).  —  In  Italien:  P.  Meyer,  De  texpansion  de  la  langue  fr, 
en  Italie,  Roma  1904  {Atti  del  Congresso  intern,  di  Scienze  storiche,  vol.  IV;.  Die  Äußerung 
Chr^tiens  im  Cligh,  vers  30  ff.;  dazu  Moritz  von  Craon. 

S.  160.  Domina  multarum  cx'osit  nationum,  bei  AlMOlN,  Historia  Francorum ,  ed. 
Bouquet,  Hist.  de  la  Gaule,  III  (1741),  S.  28.  Zu  den  französischen  Liedern  in  Itahen  vgl. 
R.A.Meyer,  Franz.  Lieder  aus  d.  florent.  Handschrift  StrozziMagliab.  CL.  VII.  1040. 
Halle  1907. 

S.  162.  Zu  den  itahenischen  Anregungen  vgl.  K.  BURDACH,  Vom  Mittelalter  zur 
Reformation,  Brunn  1898,  und  Abhandig.  d.  k.  preuß.  Akad.  vom  Juni  1903.  —  Die  Volks- 
poesie: Paris,  Chansons  du  XV*  sihle  {Soc.  des  Anc.  textes ,   1875). 

S.  163 ff,    W.  Creizenach,  Geschichte  des  neuem  Dramas,  Halle  1893  ff. 

S.  i68ff.  A.  Gaspary,  Gesch.  der  ital.  Literatur.  I.  1885;  II.  1888  ^bis  zur  Gegen- 
reformation); ins  Ital.  übersetzt  mit  Ergänzungen)  von  V.  Rossi,  Turin  1887—1901  (die  Biblio- 
graphie ist  nachgeführt).  Nigra,  Canti  popolari  del  Piemonte ,  Turin  1888,  dazu  G.Paris 
wa  foum.  des  Sai>ants  1889.  —  A.  D'Ancona,   La  poesia  popolare  italiana"*,   Livomo   1906. 

S.  169.  K.  Vossler,  Wie  erklart  sich  der  spate  Beginn  der  Vulgarliteratur  in 
Italien.'  in  Zeitschr.f  vergl.  Lit.- Gesch.  1903. 

S.  170.  181.  A.  D'Ancona,  Origini  del  teatro  italiano*,  Turin  1891;  dazu  G.  PARIS  im 
foum.  des  Sarants  i8<»2. 

5.  171.  Die  neuere  Literatur  über  Dante  verzeichnen  Passeri.m  e  .Mazzi,  In 
deunnio  di  bibliografia  dantesca  1 891  — 1900,  Mailand  1905,  sowie  die  beiden  Dante -Zeit- 
schriften: Bullettino  della  Societä  danUsca  ^scit  1890)  und  Giornale  dantesco  ^seit  1893). 


442 


Heinrich  Morf:  Literatur. 


S.  172.  K.  Vossler,  Die  göttliche  Komödie,  I.  Band  (in  zwei  Teilen),  Heidelberg  1907, 
gibt  die  Entwickelungsgeschichte  des  Gedichts;  der  zweite  Band  soll  die  fortlaufende 
Erklärung  bringen. 

S.  174.     E.  Calvi,  Bibliografia  analitica  petrarchesca,  iSj-j — 1904,  Roma  1904. 

S.  176.  Die  Bibliographie  Boccaccios  ist  wenig  gepflegt  worden.  Jetzt  hat  G.  Traversari 
die  Veröffentlichung  einer  Bibliografia  boccaccesca  begonnen.  Erster  Band:  Scritti  inforno 
al  B.,  Cittä  di  Castello  1907. 

S.  182  f.  Zu  Pulci-Bojardo-Ariost  vgl.  MORF,  Vom  Rolandslied  zum  Orlaftdo  furioso 
in  Aus  Dicht,  und  Sprache  der  Romanen,  1903. 

S.  198.  Die  spanische  Sprache  in  Italien:  B.  Croce,  La  lingua  spagnitola  i?i  Italia, 
con  un'  appendice  di  A.  Farinelli,  Roma  1895. 

S.  199.  G.  Baist,  Die  spanische  Literatur  in  Gröbers  Grundriß  IP  reicht  bloß  bis 
zum  Ende  des  17.  Jahrh.  und  behandelt  dabei  die  Literatur  der  Habsburgerzeit  nur  anhangs- 
weise.    Von  gleichförmiger  Kürze  ist  Ph.  A.  BECKER. 

S.  201.  H.  Morf,  Die  sieben  Iti/anten  von  Lara  in  Aus  Dicht,  und  Sprache  der 
Romajien,   1903. 

S.  201,  203  f.  Eine  Geschichte  der  spanischen  Lyrik  stellen  die  Einleitungen  dar,  die 
Men^ndez  y  Pelayo  den  einzelnen  Abschnitten  seiner  Antologia  de  poetas  liricos  castellanos, 
Madrid  1890  ff.,  vorausschickt. 

S.  209.  Men]£ndez  y  Pelayo,  Origines  de  la  Novela  in  Nueva  Bibl.  de  autores 
espanoles  I,  Madrid  1905. 

S.  210.  A.  Morel -Fatio,  Cervantes  et  le  troisieme  centenaire  du  ,,Don  Quijote"  im 
Archiv  f.  d.  Stud.  der  neuern  Spr.  und  Lit.  CXVI,  340 — 361. 

S.  213.  Die  Nachahmungen  des  ,,D.  Quijote"  bei  Rius,  Bibliogr.  critica  de  Cervatites, 
Barcelona  1895  ff. ,  II,  255.  —  Das  grundlegende  Werk  für  die  Geschichte  des  span.  Theaters 
ist  immer  noch  Schacks  Gesch.  der  dram.  Lit.  und  Kutist  in  Spanien,  1845 — 46.  Im 
einzelnen  ist  es  durch  eine  eifrige  Detailforschung  überholt.  Wertvolle  Angaben  über 
schwer  erreichbare  Stücke  bei  Schaeffer,  Gesch.  des  span.  Nationaldramas ,  1890. 

S.  215.  Lopes  Werke  werden  seit  1890  von  der  spanischen  Akademie  (Menändez 
Y  Pelayo)  herausgegeben. 

S.  217.    A.  Farinelli,  Grillparzer  und  Lope,  Berhn  1894. 

S.  221  fif.  Petit  de  Julleville  Band  III.  Morf,  Geschichte  der  neuern  franz.  Lit. 
I.  Das  Zeitalter  der  Renaissance,  1898.  BRUNETli;RE,  Hist.  de  la  litt,  franqaise  classique, 
I.  Band,  De  Marot  ä  Mo7itaigne,  1904  (nicht  mehr  erschienen).  A.  Tilley,  The  litt,  of  the 
french  re?taissance ,  Cambridge  1904,  2  voll.  Revue  de  la  Renaissance,  Paris  1901  ff.  Die 
Revue  des  etudes  Rabelaisiennes  (seit  J903)  hat  das  Studium  Rabelais  völlig  erneut. 

S.  224.     P.Villey,  Les sources  et  l' Solution  des  ,, Essais"  de  Montaigne ,  Paris  1908,  2  voll. 

S.  228  f.  u.  235.     E.  RiGAL,  Le  theätre  franqais  avant  la  periode  classique,  1901. 

S.  229  ff.  Petit  de  Julleville,  Band  IV.  F.  Lotheissen,  Gesch.  der  franz.  Lit.  im 
17.  fahrh.^,  Wien  1897,  4  voll.  A.  DUPUY,  Hist.  de  la  litt,  frangaise  au  XVI I«  siede, 
Paris  1892. 

S.  231.     Brunot,  La  doctrifie  de  Malherbe,  Paris  1891. 

S.  235.     E.  Magne,  Scarron  et  son  milieu^,  Paris  1905. 

S.  235  f.  Zur  Dramaturgie  der  Zeit  vgl.  Archiv  f.  d.  Stud.  d.  neuern  Spr.  u.  Lit.  CXV, 
431  ff.     Zur  Würdigung  Comeilles:  Deutsche  Rundschau,  Juni  1906,  439  —  452. 

S.  239  ff.    Petit  de  Julleville,  Band  V. 

S.  239  f.  Seit  1900  erscheint  eine  Revue  Bossuet  (gegenwärtig  in  zwanglosen  Heften); 
ebenso  eine  Revue  Bourdaloue.   Verlaque,  Bibliographie  raisonnee  des  ccuvres  de  Bossuet,  1908. 

S.  244.  E.  RiGAL,  Moliere,  Paris  1908,  2  voll.  Die  Moli^re  gewidmete  Zeitschrift 
{Le  Molieriste)  ist  1889  eingegangen. 

S.  246.  Barberet,  Lesage  et  le  theätre  de  lafoire,  1889.  O.  Klingler,  Die  Co^nedie 
italienne  in  Paris,  Straßburg  1902.  V.  Waldberg,  Der  empfijidsa7ne  Roman  in  Frankreich. 
I.  Die  Anfänge  bis  zum  Beginne  des  iS.fahrh.,  Straßburg  1906. 


Heinrich  Mork    Literatur. 


U3 


5.^50.  /.u  loiitcncllc  und  Haylc;  Mork,  Drei  l'orpoiUn  der  /ran::  Auj  ki.nunti  '" 
Atis  Dkhl^.  u.  Spr.  ti.  Komanen,   1903,  240  fll. 

S.  25ift.  Tkih  i»E  Juixeville,  Band  \  I.  H.  Heitner,  Gesch.  d.  Jrans.  Litt,  im 
rtihtzehtiten  Jiihrh.^,  1894. 

S.  255.  Die  neueste  zusammenfassende  Darstellung  Voltaires  gibt  C.  Lanson,  V^oUaire, 
Paris  ii)o6. 

S.  260.  Jetzt  hat  ilie  Kousscauforschung  ein  Zentrum  gefunden  in  den  Annales  de  In 
Soci/t^  J.J.  Rousseiiti,  Ceni:vc,  seit  1905. 

S.  263.  J.  Texte,  /._/.  Rousseau  et  les  ori^^iius  du  cosmopolitisnte  litt/raires ,  l'aris  1895. 
V.  Rössel,  Hist.  des  relations  litt,  entre  la  France  et  t Allemagne ,  Paris  i8'»7.  HalüENS- 
percer,  üessner  en  France  in  der  Kex'ue  d'hist.  litt,  lie  la  France,  X  (1903;,  437.  Ders.: 
Youn}^  et  ses  „Xuits"  en  France  in  seinen  Etudes  d'hist.  litttlraire,  Paris  1907. 

S.  267.  Zu  Voltaires  tragischer  Kunst  vgl.  Mork,  Aus  Dicht^.  u.  Spr.  der  Romnncn, 
1903,  S.  265—299, 

S.  269.  O.  Zolunger  ,  L.S.  Mercier  als  Dramatiker  und  Dramaturg,  Straßburg  1 899, 
und  in  Zeitschr.  /.  frans.  Sprache  u.  Litt.,  XXV  (1902),  87  ff,  A.  Font,  Fan-art ,  l'op/ra 
comique  et  la  com/die  ■7'audeT.'ille  aux  17 "  et  18'  siicles ,  Paris  1894. 

S.  270.     A.  Haixays,  Beaumarchais ,  Paris  1897. 

S,  271.  Zur  Marseillaise  vgl.  J.  Tiersot,  Hist.  de  la  chanson  populaire  en  France,  1889, 
S.  281  f. 

S.  272.  Die  Abhandlung  Humboldts  neugedruckt  in  Zeitschr./.  vergl.  Literaturgeschichte, 
VII  (1894). 

S.  272  ff,     CONCARI,  II  settecento. 

S,  270,  Zu  den  dramaturgischen  Ideen  vgl.  A.  Farinelli  in  der  Rassegna  bibliografica 
(Ulla  lett.  itaJiana,  X  (1902),  p.  249  ff.  Bodmer  und  die  Italiener  von  L.  Donati  in  der 
Festschrift/.  /.  Bodmer,  Zürich   1900. 

S.  277.    E.  Bertana,   V'.Alßeri,  Turin  1902. 

S.  281.  Zum  Streit  um  die  Schriftsprache.  V.  ViVALDi,  Storia  delle  controi'ersie  intorno 
alla  nostra  lingua,  Catanzaro  1894  —  98,  3  voll.,  gibt  die  fast  unerreichbare  Literatur  dieses 
Streites  von  vier  Jahrhunderten.  Ossian:  K,  WeitnauER,  Ossian  in  d.  ital.  Lit.  bis  /Sj2, 
vorzulegend  bei  Monti ,  1905. 

S.  282.  Zur  Verfügung  des  Inquisitionstribunals  vgl.  Annales  de  la  soc.  /./.  Rousseau, 
I,  140.  Zum  ,,  Nordwind  '  vgl.  V.  ClAN,  Italia  e  Spagtia  nel  secolo  XVIII,  Torino  1896. 
Pestalozzi  in  Spanien,  vgl.  H.  MoRK,  Einige  Blatter  aus  Pestalozzis  Lebensgeschichte, 
Langensalza  1887. 

S.  283  flf.  Men^NDEZ  Y  Pel.\Vo,  Hist.  de  las  ideas  est^ticas  en  Espaha,  Band  III. 
Madrid  1880. 

S.  284  u.  348.     F.  I.  Wölk,  Ilistoire  de  la  litt,  br^silienne,  Berlin  1803. 

S.  287.  Über  die  literar.  Beziehungen  zu  Deutschland  vgl.  /\.  Farinelli.  in  der  Zeitschr. 
/.  vergl.  Lit.Geschichte ,  VIII  (i8<)4). 

S.  291,  Z,  II.     Das  Zitat  stammt  aus  KrumraCHER,  Bysant.  Zeitschri/t.  VIII.  557. 

S,  291.  Zur  Volksdichtung;  K.  Weigand  in  seinen  Büchern  über  die  Sprache  der 
Oiympo  •  Walachen  (1888)  und  über  die  Aromunen  (1895).  K.  DlETERlcH,  Dit  Volks- 
dichtung der  Balkanlander  in  ihren  gemeinsamen  Elementen  in  der  Zeitschr.  d.  \  'eretns  / 
Volkskunde,  1902.  Gegenwärtig  werden  die  \'olkslicdcr  mit  Unterstützung  der  Rr^'i^ning 
gesammelt  und  unter  der  Leitung  TociLESCUS  herausgegeben  (seit  1890}. 

S.  295.  Die  romantische  Literatur  Frankreichs  hat  noch  keine  zus.iiuiiicnn.injjinuu 
Sonderdarstellung  gefunden.  —  Petit  De  JulI-EVILLE,  Band  VII,  Les  Anna/es  romojitifues 
(seit  1904).  H.  Tmieme.  Guide  bibliographique  de  la  litt/rature  /ran^aise  de  iSoo  ä  igo6 
Paris,  1907,  gibt  die  Bibliographie  von  über  800  franz.  Autoren  des  19.  Jahrb. 

S.  295,  Z.  18.  Das  Zitat  stammt  aus  einer  späteren  Vorrede  (I8a8)  lum  GM4  du 
christianisme. 


444 


Heinrich  Morf:  Literatur. 


S.  296.  Chateaubriands  Mystifikationen:  J.  B^dier,  Ch.  eti  AmMque,  in  seinen  Etudes 
critiques,  1903;  weiteres  in  der  Revue  dhist.  littiraire  de  la  France  XIII  (1906),  228  ff. 

S.  299.  Zu  den  deutschen  Quellen  der  Stael,  F.  Walzel,  „De  l' Allemagne"  und 
W.  Schlegel,  Weimar  1898;  Joret  in  Rev.  dhist.  litt.  IX  (1902),  i — 28. 

S.  301  und  303.  Zum  deutschen  Einfluß:  J.  Texte  in  der  Rev.  dhist.  litt.  V  (1898), 
I — 53,  sowie  Einzelstudien  wie  Betz,  Heine  /«  Frankreich,  Zürich  1895;  Baldensperger, 
Goethe  c?i  France,  Paris  1904 — 07;  M.  Breuillac,  Hoffmann  en  France  in  der  Rev.  cThist. 
litt.  XIII  (1906)  427;  Baldensperger,  „Le'nore"  de  Bürger  dans  la  litt,  fratiqaise  in  seinen 
Etuaes  dhist.  littöraire,  Paris  1907;  etc.  H.  Bloesch,  Das  jutige  Deutschland  in  seinen  Be- 
ziehungen zu  Frankreich.     Bern  1903. 

S.  302.     W.  J.  Clark,  Byron  und  die  rotnantische  Poesie  in  Frankreich,  Leipzig  1901. 

S.  304.  Quinets  Äußerungen  in  seinen  Briefen  aus  Heidelberg  an  Michelet  (1831)  und 
in  seiner  Schrift  De  l' Allemagne  et  de  la  rdvolutiott,  1832. 

S.  306.  Zu  Goethe  und  Geoffroy  de  St-Hilaire  vgl.  Goethes  Unterhaltungen  tnit  Fr.  Soret, 
hg.  V.  Burkhardt,  1905  p.  120. 

S.  311  ff.  Hugos  kleine  literarische  Unehrlichkeiten  hat  Bmfi  aufgedeckt.  Näheres  bei 
Ganser,  Beiträge  zur  Beurteilung  des  Verhältnisses  von  Hugo  zu  Chateaubriand,  1900,  und 
Roedel,  Hugo  und  der  Conservateur  littiraire,  1902.  Vgl.  auch  Becker,  im  Archiv  f.  d. 
Stud.  d.  neuen  Spr.  CXVI,  327  ff, 

S.  315  ff.  Zur  Lyrik:  BRUNETifeRE,  L'e'volution  de  la  poesie  lyrique  en  France  au 
XIX e  siede.    Paris  1894.  2  voll. 

S.  316.     Lamartines  Äußerung  in  der  Vorrede  zu  den  Meditations. 

S.  319.     Über  Musset  vgl.  M.  Werner  in  der  Deutschen  Rundschau,  Juli  1908. 

S.  320.     Das  literarische  Lyon  nach  1830,  vgl.  Rev.  dhist.  litt.  XII,  359  ff. 

S.  321.     Maigron,  Le  roman  historique  ä  l'ipoque  romantique,  Paris   1898. 

S.  324.     Die  Zitate  aus  G.  Sand,  Histoire  ae  ma  vie,  IV,  135. 

S.  328.     Vigny  in  der  Vorrede  zu  Othello. 

S.  330.  Ch.-M.  Des  Granges,  La  comedie  et  les  mceurs  sous  la  Restauration  et  la 
Monarchie  de  Juillet,  Paris  1904. 

S.  332.  Italien.  Mazzoni,  L'ottocento.  ].  Luchaire,  Essai  sur  Devolution  intellectuelle 
de  r Italic  de  i8iß  ä  i8jo,  Paris  1906. 

S.  334  ff.  G.  A.  BORGESE,  Storia  della  critica  romantica  in  Italia,  Napoli  1905.  G.  MUONI, 
Lod.  di  Breme  e  le  prime  poleniiche  intorno  a  M"'<^  di  Stael  ed  al  romanticismo,  Milano  1902. 

S.  335  ff.  Das  Studium  Manzonis  hat  eine  neue  Grundlage  erhalten  durch  die  Ausgabe 
der  Opere  bei  Hoepli,  Mailand  1905  fif.,  die  auch  seine  Entwürfe  und  nachgelassenen  Schriften 
enthält.    Von  den  acht  Bänden  sind  drei  erschienen. 

S.  336.  F.  d'OviDIO,  Le  correzioni  ai  Promessi  Sposi  e  la  questione  della  lingua'^, 
Napoh  1895. 

S.  339.  P.  Heyse,  Itahen.  Dichter  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunderts,  Berhn  1889—1905, 
5  Bände,  Übersetzungen  und  Charakteristiken. 

S.  340.     Zu  Giraud:  T.  Gnoli,  Le  satire  di  G.  Giraud,  Roma  1904. 

S.  342.  Zu  Belli:  E.  BOVET,  Le  peuple  de  Rome  vers  1840,  d apres  les  sonnets  de 
G.  G.  Belli,  I.  Band,  Rome  1898. 

S.  344.  E.  Pineyro,  El  romanticismo  en  Espaha,  Paris,  o.  D.  Fr.  Blanco  Garcia, 
La  literatura  espatiola  en  el  siglo  XIX,  3  voll.     Madrid  1899 — 1904. 

S.  347.     Zur  portug.  Romantik,  vgl.  GröBERS  Grundriß  II,  2,  367  fif. 

S.  351.     Die  Stelle  aus  Pellico  im  Giornale  storico  della  lett.  italiana,  XLVII  (1906)  251. 

S.  351.  Frankreich.  Vgl.  Petit  de  Julleville,  Band  VIII.  Die  Bibliographie  gibt 
Thieme,  vgl.  zu  S.  295. 

S.  352.     Die  Stelle  aus  Ste-Beuve  in  seiner  Nouvelle  correspondance  p.  231. 

S.  353.    Berthelot  in  der  Revue  de  Paris  i.  Febr.  1905. 

S.  354  ff.  Die  Zitate  stammen  zumeist  aus  H.  Taine,  sa  vie  et  sa  correspondance, 
1904 — 07.  4  voll. 


Heinrich  Morf:  Literatur. 


445 


S.  3S5-     ZOLAS  Äußerung  über  Taine  in  Mes  Haines.  S.  209. 

S.  350.  Renans  wissenschaftliche  LcistunK'cn  charakterisiert  J.  I^akmesteteR  in  der 
Rei'ue  bUue,  Oktober  1803. 

S.  305  f.  R.  Fath,  Inßuence  de  la  science  sur  la  litlirature  fran^aise  daits  la  seconde 
moilU  du  XIX f  sihle,  Lausanne  1901. 

S.  368.     P.  Skippel,  Les  deux  Frances  et  leurs  origines  historiques ,  Paris  1905 

S.  370.  Von  Texte  stammen  auch  die  Abschnitte  über  Frankreichs  literanscnc 
Beziehungen  zum  Ausland  in  Pktit  De  Jli.levilij;,  z.  H.  VIll.  062—703. 

S.  370 — 78.  Eine  umfassende  Auswahl  moderner  französischer  Lyrik  geben  die  drei 
Bände  dtx  Antholof^ie  des  polUs /ram^ais  contemporains  (1866 — 1906)  vonG.WALCH,  Paris  o.  I). 

S.  372.     Zu  Leconte  und  Hugos  Ugende  vgl.  RiGAL,  Hugo  Poe le  ^ique,  Paris  1900,  S.  1  ff. 

S.  373.  Baudelaire  und  Poe  bei  Betz,  Studien  s.  vergl.  Literaturgeschichte  der  neuen 
Zeit,  Frankfurt  1902.  S.  16 — 52. 

S.  374.  Klinke,  Hoffmanns  Leben  und  Werke  vom  Standpunkte  eines  Irrenarztes. 
Braunschweig  1903.     S.  87. 

S.  375.  Wie  sehr  Amiel  die  Franzosen  beschäftigte,  zeigen  die  Artikel  von  Rena.n, 
Renouvier,  BRUNETlfeRE  etc.  Über  ihn  (Mitte  der  achtziger  Jahre). 

S.  376.  Zum  Vers  lihre  vgl.  Gladow,  Vom  franz.  Versbau  neuerer  Zeit,  in  den  Roman. 
Forschungen  Vollmöllers  XXII  (1906). 

S.  378.  SuUy  Prudhommes  Äußerung  in  der  Vorrede  zu  Walchs  Anthologie  des  poites 
fran^is  contemporains,  Paris  (1906). 

S.  379.     Belgien:  J.  BoUBf.E,  La  litt,  beige,  Bruxelles  1906. 

S.  379.  Mistral.  Sein  Wort  über  die  Albigenserkriegc  in  den  Anmerkungen  zum  Epos 
Calendau  (1867}.  Zu  Roumanille  vgl.  E.  RllTER  im  Bulletin  de  flnstitut  genevois,  XXXIII 
(1894.  Eine  wissenschaftliche  Darstellung  des  Felibrige  fehlt  noch.  Doch  gibt  es  gute 
Monographien  zu  einzelnen  Persönlichkeiten  und  Werken;  auch  fehlt  es  nicht  an  biblio- 
graphischen Arbeiten  (z.  B.  E.  Lek^vre,  Bibliogr.  mistralienne ,  Marseille  1903;  L'ann^e 
ßlibr^^nne  1904  ff.).  Die  franz.  Literarhistoriker  räumen  in  ihren  Histoires  de  la  litt.  Jran^aise 
dem  proven^alischen  Schrifttum  keinen  Platz  ein. 

S.  3S1.     Schweiz.     Ph.  Godet,  Hist.  litt,  de  la  Suisse  fran^aise,  Paris  1890. 

S.  381.     Kanada.     Ch.  ab  der  Halden,  Etudes  de  litt,  canadienne J'ran^aise,  Paris  1907. 

S.  38 2  ff.  Die  Äußerungen  Flauberts  stammen  fast  alle  aus  den  vier  Bänden  seiner 
Correspondance,  1830 — 1880  umfassend. 

S.  386  ff.  Zolas  kritisrhe  Äußerungen  sind  Mcs  Haines  ib66),  Le  roman  exp&imental 
(1880)  und  besonders  den  handschriftlichen  Notizen  entnommen,  die  Massis,  Comment 
E.  Zola   composait  ses  romans^  1906,  veröffentlicht  hat. 

S.  400—8.  Im  Zusammenhang  der  europäischen  Dramatik  stellt  R.  F.  ARNOLD  Ihis 
moderne  Drama,  Straßburg  1908,  auch  das  romanische  und  besonders  das  französische 
Schauspiel  dar  (mit  Bibliographie). 

S.  404.  Die  Zahlen  über  das  Th6Ätre-Libre  nach  seinem  gedruckten  Rechenschafts 
bericht  vom  Mai  1890. 

S.  409.     Petermann,  Der  deutsche  Buchhandel  und  seine  Abnehmer.    Dresden   190(1. 

S.  410 — 18.  Italien.  Eine  betjueme  übersieht  der  modernen  Literatur  mit  einer  chrono- 
logischen    Tabelle)     gibt     V.    FkkraRI,      Letteratura    italiana     moderna    e    con'  .' •, 

Mailand   1904   {Manuale  Iloepii).     Eine  Sammlung   von  zwei  Dutzend  Skizrcn  i;  o 

ristiken  enthält  La  litt,  italienne  daujourd'hui  von  M.  MURET,  1906. 

S.  419.  Zu  Garibaldi  und  dem  ,,Fior  tricolorc"  vgl.  CarDUCCI.  Aus«. im  (;ii  »Wiki-  m 
twei  Bänden,  Bologna  1903—05,  Poesie  p.  845;  Prose  p.  1348.  —  Das  Wort  Dantes  in 
De  vulgär i  eloquent ia  i,  0. 

S.  4 19 — 29.  Spanien.  Fn  zmaurice  •  Kelly,  /.///.  espagnole,  1 004  (vgl.  oben  S.  440,  reicht 
bis  zur  Gegenwart  Fr.  Blanco  Garcia  vgl.  xu  S.344).  Th.  Braga  vgl.  oben  S.440).  B.Tannen- 
BERG,  L'Espagne  litt^raire,  portraits  d'hier  et  d' aujourd' hui ,  Paris  1903. 

5.  431.     Zum  Krausismo  vgl.  MENtNDEZ  Y  Pu-AVO,  Htsl.  de  hu  ideas  tstdtieas,  IV,  40a  ff. 


aa()  Heinrich  Morf:  Literatur. 

S.  422.    Zu  Campoamor  vgl.  Revue  hispanique,  I,  238  fif. 

S.  423ff.  H.  Lyonnet,  Le  thiätre  en  Espagne,  Paris  1897.  A.  Gassier,  Le  thiätre 
espagnol,  Paris  1898.    Th.  Braga,  Hist.  do  ieatro  portiiguez,  Porto  1870. 

S.  426ff.     F.  Vezinet,  Les  maitres  du  roman  espagnol  coJitemporain ,  Paris  1907. 

S.  427.  Zu  Feman  Caballero  vgl.  A.  Morel- Fatio,  F.  C.  d' apres  sa  correspondance 
avec  A.  de  Latour  in  seinen  Etudes  sur  V Espagne,  III,  1904. 

S.  429.  Die  neuere  katalanische  Literatur  wird  von  Fr.  Blanco  Garcia  mitbehandelt, 
ebenso  wie  das  südamerikanische  Schrifttum.  Zum  mittelamerikanischen  vgl.  J.  Calcano, 
La  literatura  venezolana  en  el  siglo  XIX  in  Cultura  espanola,  Madrid,  Mayo  1907. 

S.  430.    Das  Zitat  aus  F.  Caballero  bei  Morel -Fatio,  1.  c.  p.  340. 

S.  430  ff.  O.  Densusianu,  Poesia  romänä  tn  sec.  al  XIXiea  jn  Noua  revista  romdnä, 
Bukarest,  III  (1902).  Th.  Cornel,  La  Roumanie  litteraire  d'aujourd'hui,  Paris  1903.  Über 
Eminescus  Leben  und  öffentliche  Tätigkeit  handelt  I.  Scurtu  im  Zehnten  Jahresbericht  des 
Inst,  für  rumän.  Sprache  zu  Leipzig,  1904,  S.  2540.;  über  seine  Stellung  zur  Romantik 
Sanielevici  in  der  Noua  rev.  rem.,  I  (1900). 


Dill  ROMANISCHEN  SPRACIIRN. 

Von 
Wilhelm  Mkyer-Lürke. 

Einleitung'.  Mit  einem  Geschick,  wie  es  in  der  uns  bekannten  Die roin«ni»cbfo 
Völkergeschichte  seinesgleichen  bisher  nicht  gefunden  hat,  haben  die  l^^r"cr  /^"^j*^^.^^ 
es  verstanden,  in  verhältnismäßig  kurzer  Zeit  ihre  Sprache  bei  fast  all  den  herrorc«-»»n6«i. 
verschiedenartigen  Völkern  zur  allgemein  gültigen  zu  machen,  die  sie  all- 
mählich ihrer  Herrschaft  unterworfen  haben.  Kulturell  gleich  oder  höher 
stehende  und  kulturell  zurückgebliebene,  sprachlich  nahverwandte  wie  die 
Osker  oder  die  Umbrer,  femerstehende  wie  die  Gallier,  gänzlich  unver- 
wandte wie  die  Etrusker  oder  die  Iberer,  sie  alle  haben  ihre  Idiome  zu- 
gunsten des  römischen  rasch  aufgegeben.  Und  so  gründlich  ist  die  Ro- 
manisierung  vor  sich  gegangen,  daß  noch  heute,  fast  anderthalb  Jahr- 
tausende nach  dem  Zerfall  des  Römerreiches,  der  gemeinsame  Ursprung 
der  in  Spanien,  Frankreich,  Italien  und  Rumänien  gesprochenen  Mundarten 
auch  von  einem  nicht  gerade  sprachgeschichtlich  geschulten  Auge  wahr- 
genommen werden  kann,  so  gründlich,  daß  anderseits  nur  sehr  geringe 
Spuren  der  vorrömischen  Sprachen  im  Romanischen  nachweisbar  sind. 
Man  hat  denn  auch  seit  dem  Wiederaufleben  wissenschaftlicher  Studien 
den  Zusammenhang  der  romanischen  Sprachen  unter  sich  und  mit  dem 
Lateinischen  bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  gcfülilt,  wissenschaftlich 
bewiesen  wurde  er  aber  erst  durch  Friedrich  Dicz  in  seiner  'Grammatik 
der  romanischen  .Sprachen  1836 — 1843',  Wohl  fehlte  es  nicht  an  Sonder- 
lingen und  wird  es  nie  an  solchen  fehlen,  die  z.  B.  wie  der  Abb6  Es- 
pagnolle  in  Frankreich  dicke  Bücher  schreiben,  um  zu  beweisen,  daß  das 
Französische  direkt  vom  Griechischen  stamme,  aber  solche  Abirrungen 
werden  heute  in  den  Fachkreisen  nicht  mehr  ernst  genommen,  weil  der 
lateinische  Ursprung  der  neulateinischen  Idiome  nicht  mehr  eine  Hypothese, 
sondern  eine  bewiesene  Tatsache  ist 

I.  Ausdehnung    und   Einteilung    der    romanischen    Sprachen.  v«»br««noc»- 
Die  geographische  Übereinstimmung  zwischen  dem  alten  'Orbis  Romanus*    ^|^^^^^,|^ 
und  der  heutigen  'Romania'  ist  nun  freilich  keino  vollständige,  vielmehr  sind      SptmcW«. 
einzelne  Grenzgebiete  teils  frühzeitig  abgebröckelt,  teils  nie  ganz  von  der 
römischen  Kultur  erfaßt  worden.  Da  ist  zunächst  Britannien  zu  nennen,  dessen 


4^8  Wilhelm  Meyer-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

räumliche  Trennung  von  dem  lateinischen  Festlande  von  vornherein  einer 
direkten  Kolonisierung  nicht  günstig  war,  das  lange  zu  halten  kein  po- 
litisches oder  militärisches  Interesse  gebot,  daher  die  römischen  Kolonien 
beim  Ansturm  der  Angeln  und  Sachsen  sich  selbst  überlassen  wurden  und 
untergehen  mußten.  Ebenfalls  die  räumliche  Absonderung  und  der  Mangel 
eines  römischen  Hinterlandes  werden  es  erklären,  daß  Nordafrika  nicht 
romanisch  geworden  ist,  obschon  man  nach  Maßgabe  der  ungewöhnlich 
großen  Zahl  von  da  gefundenen  Inschriften  und  der  reichen,  namentlich 
christlichen  Literatur,  die  hier  blühte,  eine  Intensität  römischen  Lebens 
voraussetzen  kann,  wie  sie  nirgendwo  stärker  gewesen  sein  wird.  Wenn 
ferner  Helvetien  zum  Teil  und  das  rechtsrheinische  Germanien  schon  in 
der  Völkerwanderung  ihren  römischen  Charakter  völlig  einbüßten,  so  liegt 
das  in  den  politischen  Verhältnissen  der  späteren  Kaiserzeit.  Ganz  anders 
standen  die  Dinge  im  Osten.  Griechenlands  Kultur  war  der  römischen  zu 
sehr  überlegen,  vor  allem  war  Griechenland  von  Rom  ohne  weiteres  als 
Lehrmeisterin  anerkannt,  seine  Sprache  in  Rom  hoch,  oft  höher  als  die 
eigene  geschätzt,  so  daß  wohl  nie  auch  nur  der  Versuch  gemacht  wurde,  bei 
den  Griechen  die  Reichssprache  in  demselben  Grade  zur  Geltung  zu  bringen 
wie  in  den  westlichen  Provinzen.  Nur  im  Norden  der  Balkanhalbinsel,  in 
lUyrien  und  jenseits  der  Donau  in  Dazien  herrschte  das  Latein,  aber  die 
Illyrer  sind  nur  halb  romanisiert  worden,  wie  die  Sprache  ihrer  Nach- 
kommen, der  Albanesen,  zeigt,  und  die  Kolonisten  Daziens  wurden  von  Marc 
Aurel  nach  Mösien  zurückgeführt. 
Verschiebungen  Außer  den  romanisicrten  Gegenden,    die  nie  romanisch  gewesen  sind, 

gibt  es  nun  auch  solche,  die  erst  in  nachrömischer  Zeit  romanisch  ge- 
worden, und  solche,  die,  einst  romanisch,  ihre  romanische  Sprache  wieder 
verloren  haben.  Vor  dem  Eindringen  der  Angeln  und  Sachsen  haben  sich 
Inselkelten  über  den  Kanal  geflüchtet  und  die  nach  ihnen  benannte  Halb- 
insel Bretagne  besetzt.  Zur  Zeit  ihrer  größten  Ausdehnung,  im  9.  Jahr- 
hundert, hatten  sie  die  Diözesen  Dol,  S.  Malo,  S.  Brieuc,  Tr^guier,  Cor- 
nouaille,  Vannes  und  die  Halbinsel  Guerande  fast  ganz  inne,  sind  dann  aber 
allmählich  wieder  zurückgedrängt  worden.  Wie  hier,  so  zeigt  das  Franzö- 
sische auch  gegenüber  dem  Flämischen  im  Departement  Nord  seine 
Ausbreitungsfähigkeit,  und  in  den  Reichslanden  ist  im  Mittelalter  das 
Niedtal  ganz  deutsch  gewesen,  während  heute  die  Nied  die  Sprachgrenze 
bildet.  In  der  Schweiz  dagegen  haben  nur  geringfügige  Besitzverschiebungen, 
bald  zugunsten  der  Deutschen,  bald  zugunsten  der  Franzosen  stattgefun- 
den, eine  starke  Einbuße  hat  das  Romanentum  einzig  in  Wallis  erlitten, 
das  noch  zur  Karolingerzeit  mit  dem  Urserental  romanisch  war,  so 
daß  also  die  sprachliche  Kontinuität  vom  Rhonetal  zum  Rheintal  noch  nicht 
unterbrochen  war.  Am  stärksten  ist  nun  aber  der  Verlust  im  Osten. 
Dalmatien  ist  heute  völlig  an  die  Slawen  verloren  gegangen  und  ob  die 
Rückeroberung  der  Städte  durch  die  Venetianerim  Mittelalter  lange  Be- 
stand haben  wird,  ist  zweifelhaft.     Auch  in  Istrien  dringen  die  Slawen  vor. 


der 
Sprachgrenzen 


I.  Ausdehnung  und  Einteilung  der  romanischen  Sprachen.  ^^g 

sie  bedrohen  selbst  Triest  und  das  halb  friaulische,  halb  venezianische 
Küstenland.  Forner  ist  die  Ostschweiz  mindestens  bis  zum  Wallensee, 
Chur,  Maycnffld,  das  Prättii»^au,  dann  Vorarlberg  und  das  Oberinntal  bis 
gegen  Innsbruck  zu,  Etsch-  und  Pustertal  erst  im  Laufe  der  letzten  sieben 
Jahrhunderte,  zum  Teil  erst  in  neuerer  und  neuester  Zeit  germanisiert 
worden,  und  die  Germanisierung  macht  namentlich  in  Graubünden  unauf- 
haltsame Fortschritte. 

Diesen  Einbußen  stehen  als  vorübergehende  Neuerwerbungen  Eng- 
land, als  bleibende  die  außereuropäischen  Kolonien  der  romanischen  Völker 
gegenüber.  Mit  der  Eroberung  Englands  durch  die  Normannen  wurde  das 
Französische  in  einer  Form,  die  man  anglonormannisch  oder  anglo- 
französisch  nennt,  bald  Reichs-,  Hof-  und  Literatursprache  und  blieb  es 
bis  ins  XIV.  Jahrhundert  hinein.  Außerhalb  Europa  herrscht  Französisch 
namentlich  in  Algier  und  in  Kanada,  Spanisch  in  Mexiko,  Kuba,  den 
kleinen  mittclamerikanischen  Staaten,  Chile,  Peru  und  Argentinien,  Portu- 
giesisch auf  Ceylon  und  in  Brasilien.  Ist  die  Sprache  hier  von  dem 
Mutteridiom  nicht  wesentlich  verschieden,  so  zeigen  dagegen  die  kreo- 
lischen Älundarten  eine  merkwürdige  Mischung  von  Romanisch  und  den 
Idiomen  der  Eingeborenen  oder  der  eingeführten  Neger,  die  namentlich  in 
der  Formenlehre  eine  ganz  eigenartige  ist  So  trifft  man  Negerfranzösisch 
auf  der  Insel  Mauritius,  in  Louisiana,  Haiti,  Martinique,  Cayenne,  auf  den 
Reunionsinseln;  Anamitofranzösisch  in  Cochinchina;  Malaiospanisch  auf  den 
Philippinen;  Negerspanisch  in  St.  Domingo  und  Trinidad;  Negerportugiesisch 
am  Kap  Verde  und  in  Senegambien;  Indoportugiesisch  in  Ceylon,  Cochin, 
Diu  und  Mangalore;  Malaioportugiesisch  in  Batavia  und  Tugu.  Der  Grad 
der  Mischung  ist  natürlich  ein  sehr  verschiedener. 

Die  Gliederung  der  romanischen  Sprachen  ist  darum  sehr  schwer,  weil  Di«  GUad««« 
es  bisher  an  deutlichen  Kriterien  für  die  Unterscheidung  von  Dialekt  und  "  ^^^^^^ 
Sprache  fehlte.  Als  Schriftsprachen  haben  sich  heraus  entwickelt:  Italienisch, 
Französisch,  Provenzalisch,  Spanisch,  Portugiesisch,  Rumänisch.  Allein  das 
Sardische  ist  durch  eine  ganze  Reihe  von  charakteristischen  Zügen  so 
durchaus  verschieden  vom  italienischen  Typus,  daß  man  es  füglich  als 
selbständiges  Glied  bezeichnen  kann,  dasselbe  gilt  von  den  Alpenmund- 
arten in  Graubünden,  Tirol  und  Friaul,  die  man  als  I^idinisch  oder  Räto- 
romanisch zusammenfaßt,  und  endlich  erweist  sich  das  jetzt  ausgestorbene 
Dalmatinische  als  ebenso  eigenartig,  so  daß  man  also  wohl  alles  Recht 
hat,  von  neun  romanischen  Sprachen  zu  reden. 

Betrachten  wir  die  sprachlichen  Verhältnisse  in  den  einzelnen  Gebieten  Di*  \u 
näher,  so  zeigt  vorab  Italien  auf  kleinem  Räume  eine  ungemein  große 
Zahl  unter  sich  stark  verschiedener  Mundarten.  Zunächst  ist  es  der  Apennin, 
der  eine  erste  Scheidelinie  bildet:  am  nördlichen  Abhang,  im  ganzen  Huß- 
gebiete  des  Po  und  noch  bis  über  Ancona  hinab  begegnen  tönende  Ver- 
schlußlaute statt  der  tonlosen:  ro(/<jf  roda  aus  lat  rvta,  einfache  Konso- 
nanten statt  der  doppelten,  am  Südabhange  von  Toskana  bis  hinunter  nach 

Dn  KvLTVR  Dc«  GionwAJiT.    I.  ii.  t.  29 


450  Wilhelm  Meyer -Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

Tarent  und  Sizilien  herrschen  die  tonlosen  und  gedehnten  Laute.  Im  Nor- 
den bilden  weiter  Piemontesisch,  Genuesisch,  Lombardisch,  Emilianisch  und 
Venezianisch  besondere  Gruppen,  und  zwar  werden  die  vier  ersten,  die 
unter  sich  nahe  zusammenhängen  und  in  manchen  Dingen  an  das  Fran- 
zösische gemahnen,  mitunter  als  'galloromanisch'  zusammengefaßt;  im 
Süden  kann  man  unterscheiden  das  Toskanische,  das  Römisch-Umbrische, 
das  Abruzzische,  das  Neapolitanische,  das  Tarentinische,  das  Kalabresische 
und  das  Sizilianische.  Wie  stark  die  Verschiedenheiten  sind,  mögen 
die  Reflexe  von  lat.  seta  und  cor  zeigen.  Sie  lauten  siz.  sita^  kori\ 
kalabr.  sita,  köre;  neap,  sete,  kore\  abruzz.  saity  kor;  röm.,  flor.  seta 
euere;  emil.  saida,  kor;  lomb.  seda,  kör;  gen.  säa,  ko,  piem.  seia,  kör; 
ven.  sedüy  kuor,  und  diese  Verschiedenheiten  sind  natürlich  noch  wesent- 
lich größer,  sobald  der  gesamte  Sprachbestand  verglichen  wird.  Über  das 
Alter  der  Differenzierungen  steht  nur  so  viel  fest,  daß  ums  Jahr  looo  die 
wesentlichen  Charakteristika  der  einzelnen  Gruppen  schon  größtenteils  be- 
standen haben,  so  daß  also  die  dialektische  Mannigfaltigkeit  hoch  hinauf- 
reicht. Die  starke  Lebensfähigkeit  der  Mundarten  zeigt  sich  auch  darin, 
daß  sie  zu  allen  Zeiten  literarisch  bearbeitet  worden  sind,  nicht  nur  im 
Mittelalter,  bevor  das  Toskanische  sich  als  Schriftsprache  überall  geltend 
machte,  sondern  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein.  Giovanni  Meli  (1740  — 18 15) 
in  Sizilien,  Carlo  Goldoni  (1707— 1793)  in  Venedig,  Carlo  Porta  (1776  — 182 1) 
in  Mailand,  Giuseppe  Gioachino  Belli  (1791  — 1863)  in  Rom,  der  erste  als 
Idyllendichter,  der  zweite  als  Dramatiker,  die  beiden  anderen  als  Satiriker, 
nehmen  in  der  Geschichte  des  italienischen  Schrifttums  eine  hervorragende 
Stelle  ein,  ihnen  gesellen  sich  zahlreiche  Schriftsteller  und  Dichter  von 
nur  lokaler  Bedeutung  zu,  außerdem  zeigen  die  vielen  Übersetzungen  von 
Stücken  namentlich  aus  der  Divina  Commedia  und  aus  dem  Orlando  furioso, 
wie  die  Schriftsprache  geradezu  als  etwas  Fremdes  und  nicht  eigentlich  als 
etwas  höher  zu  Bewertendes  empfunden  wurde. 
Sardinien.  Das  Sardischc,  namentlich  der  Dialekt   des  Zentrums,   zeichnet  sich 

durch  hohe  Altertümlichkeit  aus.  Noch  heute  sind  die  betonten  Vokale 
von  pilum  und  tela,  von  cruce  und  voce  usw.  geschieden:  sard.  pilu,  tela ; 
rüge,  voge  neben  ital.  pelo,  tela;  croce,  voce;  franz.  poil,  toile;  croix,  voix. 
Noch  heute  sagt  man  kelu  {coelum),  kentu  [centiim);  auch  servti,  servos 
deckt  sich  genauer  mit  lat.  servu{m),  servos,  als  franz.  ser/,  serfs  oder  span. 
siervo,  siervos.  Und  wie  die  Laute  vom  Lateinischen  sich  wenig  entfernt 
haben,  so  zeigt  der  Wortschatz  eine  Menge  von  Ausdrücken,  die  den 
anderen  romanischen  Sprachen  fehlen,  das  'Haus'  heißt  noch  domo  nicht 
casa  oder  mansio  (franz.  maison);  für  '^groß'  ist  mannu  aus  viagnus  ge- 
bräuchlich, nicht  grandis  usw.  Ein  eigenartiges  Gepräge  gibt  der  Mund- 
art auch  der  Artikel  sii,  sa  aus  ipsii,  ipsa  neben  ital.  z7,  /«,  franz.  le^  la, 
span.  el,  la  aus  illu,  illa,  freilich  ist  das  nicht  spezifisch  sardisch,  sondern 
findet  sich  auf  den  Balearen  und  an  der  Ostküste  der  iberischen  Halb- 
insel wieder. 


I.  Ausdehnung  und  Einteilung  der  romanischen  Sprachen.  451 

Au  Altertümlichkeit  scheint  das  Dalmatinische  dem  Sardischen  wenig  ünUMii-i. 
nachgestaiulcn  zu  haben.  Leider  kennen  wir  es  nur  aus  geringen  liruchstücken. 
In  den  mittelalterlichen  Urkunden  aus  Ragusa  und  im  heuligen  serbo- 
kroatischen Dialekte  von  Dalmatien  finden  sich  mancherlei  lateinische 
Wörter,  die  ihrer  lautlichen  Form  nach  nicht  die  unmittelbare  Umgestal- 
tung lateinischer  Grundlagen  sein  können,  sondern  eine  romanische  Mittel- 
stufe verlangen.  Ferner  wurde  noch  zu  Anfang  des  vorigen  Jahrhunderts 
auf  der  Insel  Veglia  ein  Dialekt  gesprochen,  der  vom  Venezianischen, 
Friaulischen  und  Rumänischen  durchaus  verschieden  ist  und  der  mit  den 
romanischen  Kiementen  des  Ragusäischen  das  Dalmatinische  repräsentiert. 
Der  letzte  Vegliote  ist  1898  gestorben.  Auch  hier  trifft  man  c  vor  e  als  k: 
caira  aus  cera,  und  überhaupt  wenig  Veränderungen  bei  den  Konsonanten, 
dafür  aber  um  so  größere  bei  den  betonten  Vokalen:  a  wird  zu  ua:  tual 
{talis)f  <*  zu  ai:  vaila  {vela)y  0  zu  au:  aiira  {Jiora)^  l  zu  ai:  vain  {vinum), 
ü  zu  oi:  ßoim  (flumen)  usw. 

Das  Rätoromanische  erstreckt  sich  über  Graubünden,  Tirol,  Friaul  d». 
und  von  da  südlich  in  die  istrische  Halbinsel  hinein,  wo  noch  zu  Anfang *^****^'**''**^^ 
des  19.  Jahrhunderts  in  Triest,  zu  Ende  in  Muggia  die  letzten  Spuren  vor 
dem  venezianischen  Idiome  verschwunden  sind,  das  in  Istrien  wie  in  Dal- 
matien frühzeitig  Fuß  faßte.  Diese  Mundarten  stehen  namentlich  durch 
die  Bewahrung  des  auslautenden  -s,  durch  die  Palatalisierung  des  c  vor  </, 
z.  B.  casa  'Haus'  aus  lat  casa,  zum  Teil  auch  durch  die  Diphthonge  ei  aus  i, 
ou  aus  ö  in  scharfem  Kontrast  zu  den  italienischen  Typen  Veneziens  und 
der  Lombardei,  stimmen  dagegen  in  den  genannten  und  anderen  Zügen 
zu  dem  Südostfranzösischen  des  Rhonetals.  Eine  politische  Einheit  zwischen 
den  verschiedenen  Gegenden  hat  nie  bestanden,  ein  Schrifttum  hat  sich 
seit  der  Reformation  nur  in  Graubünden  entwickelt,  dennoch  muß  ein  starker 
innerer  Zusammenhang  zwischen  den  Alpenvölkeni  und  ein  Gegensatz  zu 
den  Bewohnern  der  Ebene  bestanden  haben,  der  die  sprachliche  Eigentüm- 
lichkeit ermöglichte.  Ganz  besonders  groß  namentlich  im  Wortschatz  ist 
die  Übereinstimmung  zwischen  Graubünden  und  Frankreich,  so  zwar,  daß 
man  wohl  an  eine  direkte  Einwanderung  galloromanischer  Bevölkerung 
über  Furka-  und  Oberalppaß  und  Verschmelzung  mit  einer  sprachlich  eng- 
verwandten  rätoromanischen  denken  kann.  Bemerkenswert  ist,  daß  die 
Völkerwanderung  hier  geringe  Spuren  hinterlassen  hat:  germanische  Eigen- 
namen fehlen  und  von  dem  germano- romanischen  Wortschatze  ist  hier 
weniger  anzutreffen,  als  in  Frankreich  und  Italien.  Aber  später  hat  die 
politische  Unselbständigkeit  die  Widerstandsfähigkeit  stark  geschwächt 
Daß  im  Norden  das  Deutsche  große  Fortschritte  gemacht  hat,  ist  schon 
bemerkt  worden;  vom  Süden  gewinnen  Lombardisch  und  Venezianisch 
bedeutend  an  Boden.  Am  weitgehendsten  sind  natürlich  dank  den  poli- 
tischen Verhältnissen  und  der  geographischen  I^ge  die  Fortschritte  des 
Deutschen  in  Graubünden,  namentlich  äußern  sie  sich  auch  beim  roma- 
nischen Wortschatz  in  ganz  deutschen  Wendungen  und  Bedeutungen,  vgl. 

29* 


452  Wilhelm  Mever-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

ei  vo  bucca  Her  ad  ella  'es  geht  sie  nichts  an%  wo  Her  eigentlich  eine 
Präposition  im  Sinne  von  'an,  bei,  nach'  ist,  survir  ora  'ausdienen',  wo 
ora  franz.  hors  entspricht,  de  j  07ts  vegl  'drei  Jahre  alt.' 

Die  Mundarten  Frankreich  zerfallt  mindestens  seit  dem  8.  Jahrhundert  in  zwei  scharf 

Frankreichs,  getrennte  Gruppen,  das  Nordfranzösische  und  das  Südfranzösische  oder 
Provenzalische.  Jenes  liebt  Diphthonge,  dieses  meidet  sie,  vgl.  franz. 
avoir,  ficd,  sctcl,  coeur  neben  prov.  aver ,  pe,  sol,  cor  aus  lat.  habere,  pede, 
sollt,  cor  und  auch  franz.  vier  neben  prov.  mar  aus  inare.  Vom  Nord- 
französischen löst  sich  später  das  Südostfranzösische  ab,  das  den  größten  Teil 
der  französischen  Schweiz,  das  Lyonnais,  einen  Teil  des  Dauphin^  und 
Savoyen  umfaßt.  Zeigt  es  die  nämlichen  Diphthonge  zum  Teil  in  eigenartigen 
Weiterentwickelungen,  wie  das  Nordfranzösische,  so  ist  dagegen  a  geblieben: 
mar,  außer  nach  Palatalen:  cliicr  entsprechend  altfr.  chier  aus  caru. 
Natürlich  lassen  sich  innerhalb  dieser  Hauptsprachen  wieder  mancherlei 
Mundarten  unterscheiden,  doch  sind  die  Verschiedenheiten  nicht  so  tief- 
gehende wie  in  Italien,  namentlich  erweisen  sie  sich  in  viel  höherem 
Grade  als  Differenzierungen  einer  gemeinsamen,  vom  Lateinischen  schon 
entfernten  Grundform,  als  dies  in  Italien  der  Fall  ist.  Die  geringeren 
Unterschiede  haben  neben  anderen  Umständen  denn  auch  ein  rascheres 
Umsichgreifen  der  Schriftsprache  und  in  späterer  Zeit  den  Mangel  einer 
literarischen  Ausbildung  der  Dialekte  zur  Folge.  In  Südfrankreich  verhält 
es  sich  nicht  viel  anders:  nur  das  Gaskognische  nimmt  eine  Stelle  für  sich 
ein  und  zeigt  im  Wortschatz  und  im  Wandel  von  f  zu  h:  haba  aus  fava 
enge  Beziehungen  zum  Spanischen. 

Die  Mundarten  Ein  wescntUch   andcrcs  Bild  bietet  die  Iberische  Halbinsel.     Von 

Norden  nach  Süden  gehen  drei  unter  sich  stark  verschiedene  Sprachen 
parallel:  das  Katalonische  im  Osten,  das  Spanische  im  Zentrum,  das 
Portugiesische  im  Westen.  Nach  Wort-  und  Formenschatz  sind  die  zwei 
letzten  enger  miteinander  verwandt,  sie  bilden  das  Iberoromanische,  wo- 
gegen das  Katalonische  mit  dem  Provenzalischen,  namentlich  dem  der  Graf- 
schaft Roussillon,  zusammengehört.  Innerhalb  dieser  drei  Sprachgebiete 
sind  die  dialektischen  Verschiedenheiten  aber  ganz  unbedeutend.  Das 
erklärt  sich  wohl  am  besten  daraus,  daß  das  romanische  Element,  durch 
die  maurische  Invasion  zurückgedrängt,  erst  allmählich  vom  Norden  aus 
vordringend  die  Halbinsel  von  neuem  gewinnen  mußte,  auf  dem  engen 
Räume  im  Norden  bei  dem  durch  die  politischen  Verhältnisse  gegebenen 
engen  Zusammenhang  aber  eine  Dialektbildung  nicht  möglich  war.  Ob 
und  inwieweit  die  unter  maurischer  Herrschaft  lebenden,  ihr  romanisches 
Idiom  bewahrenden  Mozaraber  sich  von  den  reinen  Spaniern  sprachlich 
unterschieden  und  bei  der  Rückromanisierung  etwas  von  ihrer  sprachlichen 
Eigenart  beibehalten  haben,  ist  eine  noch  ungelöste  Frage.  Auch  das 
läßt  sich  noch  nicht  sagen,  weshalb  in  dem  Suebenreich  in  Galizien  das 
Romanische  sich  so  ganz  anders  entwickelte,  als  in  dem  Gotenreich  in 
Asturien,  wenn  man  auch  die  Tatsache  der  Differenzierung  bis  auf  einen 


der  Iberischen 
'  HalbinseL 


I.  Ausdehnung  und  Einteilung  der  romanischen  Sprachen.  akx 

gewissen    Grad    eben    mit    den    politischen    Gegensätzen    in    Verbindung 
bringen  kann. 

Endlich  das  Rumänische.    Heute  völlig  losgelöst  von  den  anderen  Ro- Dm  RnmiaiKW. 
manen  finden  sich  die  Rumänen  in  kompakter  Masse  im  Königreich  Rumänien, 
im  Hanat,  in  Siebonbürgon  und  in  der  Bukowina,  dann  inselartig  in  Maze- 
donien, in  Meglen,  in  der  \'al  d'Arsa  in  Istricn.  Sie  sind  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  nicht  die  Nachkommen  der  römischen  Kolonisten  Daziens,  viel- 
mehr weisen  sprachliche  und  geschichtliche  Tatsachen  darauf  hin,  daß  eine 
dichte,  expansionsfähige  und  expansionsbedürftige  romanische  Bevölkerung 
am  rechten  Donauiifer,  in  Mösien  gesessen  hat,  von  wo  sie  zu  nicht  mehr 
bestimmbaren  Zeiten  östlich  und  nördlich  gewandert  ist  und  ihre  heutigen 
Wohnsitze  eingenommen  hat,  vielleicht  zum  Teil  noch  auf  schwache  Reste 
stamm-  und  sprachenverwandter  \'ölker  treffend.     Ihre  Wanderzüge  haben 
sich  weit  nach  Galizien  und  Mähren  ausgedehnt;  der  Volksname  der  Huzulen 
(mm.  Hotzul  'der  Dieb')  im  östlichen  Galizien,  der  Ortsname  Walachisch- 
Meseritsch    in    Mähren  u.  a.    zeugen    davon.     Auch   nach  Westen   sind   sie 
gezogen  über    den  Karst   bis    nach    Istrien,    wo    sie    einst   viel    zahlreicher 
waren  als  heute.     Hat   die  räumliche  Trennung  auch  verschiedene  dialek- 
tische Entwickelung  gezeitigt,  so  daß  man  zwischen  Walachisch  oder  Dako- 
nimänisch,  Meglenisch,  Mazedorumänisch  (aromunisch)  und  Istrorumänisch 
unterscheiden   kann,   so   ist  dagegen  innerhalb   der   einzelnen  Gebiete    die 
sprachliche    Verschiedenheit   noch  geringer    als   auf  der   iberischen  Halb- 
insel.    Der  Gesamtcharakter   des  Rumänischen    ist    ein    ganz    eigenartiger, 
der  Wortschatz    ist  in    sehr    weitem  Umfange    mit    slawischen,   dann    auch 
mit  mag)'arischen,   türkischen    und   neugriechischen  Elementen    durchsetzt, 
die    letzteren    erscheinen    namentlich    bei    den    Balkanrumänen    ungemein 
zahlreich,   die  slawischen    überwuchern   das   Istrische    noch    viel   mehr    als 
das  Walachische,  während  allerdings  die  türkischen  dem  Istrischen  völlig 
abgehen,  was  auf  das  Alter  der  Auswanderung   einen  Schluß  ziehen  läßt 
Auch    slawische   Suffixe    sind    eingedrungen,    anderweitige   slawische    Ein- 
flüsse etwa  auf  die  Formenlehre  oder  Syntax  dagegen  kaum  nachzuweisen. 
Wohl  aber   zeigt   das  Rumänische   eine  Anzahl    von  Charakteristiken,   die 
den    anderen    Romanen   ganz   oder   fast   ganz    fehlen,   dafür   aber   in   bald 
größerem  bald  geringerem  Grade  im  Neugriechischen,  Albanesischen  und 
Bulgarischen  wiederkehren.     Dahin  gehört  vor  allem  die  Nachstellung  des 
Artikels:  rum.  calul  'das  Pferd'  gegenüber  ital.  il  cavallo,  franz.  Ic  chcval, 
span.  cl  cavallü,  ebenso  alb.  kal-i,  bulg.  kon-it;  die  Bildung  des  Futurums 
mit  'wollen':  rum.  cänta  vohi  wie  ngr.  Ga  (aus  OAuj  va)  äbuj,  südalb.  Jo  /^ 
k^n^iön  gegenüber  dem  cantarc  habco  der   anderen   romanischen  Sprachen; 
die     weitgehende,      im     Albanesischen     und     Neugriechischen     bis     zum 
völligen  Untergang  führende  Verdrängung  des  Infinitivs  durch  volle  Sätze: 
'ich  will,  ich  kann,   daß  ich  komme',   statt  'ich  will,   kann  kommen*,   eine 
Erscheinung,  die  auch  auf  dem  süditalienischen  Festlande  Entsprechungen 
findet     Hat   man    früher  geglaubt,   alle   diese   Eigentümlichkeiten   auf  die 


454  Wilhelm  Meyer-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

Einwirkung  einer  vorrömischen  Sprache  zurückführen  zu  dürfen,  so  sieht 
man  darin  jetzt  mit  mehr  Recht  zu  verschiedenen  Zeiten  entstandene  und 
nicht  notwendigerweise  von  demselben  Punkte  ausgehende  Sprach- 
strömungen, die  sich  allmählich  über  die  vier  geographisch  und  kulturell 
eng  zusammengehörigen  Völker  ausgebreitet  haben. 

schriftiateinisch  ü.  Das  Verhältnis  von  Lateinisch  und  Romanisch.  Wenn  die 
"°^  ^°°"*^'^^' romanischen  Sprachen  ihre  Quelle  zweifellos  im  Latein  haben,  so  ergibt 
sich  doch  bei  näherer  Betrachtung,  daß  die  Form,  auf  der  sie  beruhen,  in 
vielen  Fällen  nicht  übereinstimmt  mit  der  Gestalt  des  Lateinischen,  die 
wir  aus  unseren  Klassikerausgaben  kennen.  Ital.  avere  ave?ia,  frz.  avoir 
avoine,  span.  Iiabcr,  gesprochen  aver  avena,  portug.  havcr  aveia  lassen  nicht 
ahnen,  daß  der  mittlere  Konsonant  der  beiden  Wörter  im  Lateinischen  ein 
verschiedener  war:  habere  ave7ta;  umgekehrt  zeigen  ital.  cinque  guindici, 
frz.  ci7iq  quinze,  span.  ci7ico  quince,  daß  die  Gleichmäßigkeit  der  Anlaute 
von  lat.  quinque  und  quindecim  zerstört  wurde,  so  zwar,  daß  cinque  an  Stelle 
von  quinque  getreten  ist.  Die  Erklärung  dafür  liegt  darin,  daß  die  roma- 
nischen Sprachen  das  gesprochene  Latein  darstellen,  unsere  Klassiker  die' 
Schriftsprache  in  einer  streng  normierten  Form,  die  wie  alle  Schriftsprachen 
ihren  Charakter  beibehielt,  auch  wenn  in  der  gesprochenen  Sprache  ziem- 
lich tiefgehende  Veränderungen  vor  sich  gegangen  waren.  Da  die  durch 
das  Romanische  geforderten  Abweichungen  vom  klassischen  Latein  zum  Teil 
sich  mit  den  Notizen  decken,  die  die  alten  Rhetoriker  und  Grammatiker 
über  eine  vulgäre,  in  sorgfältigem  Schriftgebrauch  und  daran  sich  an- 
schließender gewählter  Rede  zu  meidende  Sprechweise  gaben,  so  pflegte 
und  pflegt  man  mehrfach  auch  heute  noch  von  '^Vulgärlatein'  als  der 
Grundlage  der  romanischen  Sprachen  zu  reden.  Freilich  ist  es  um  so 
schwerer,  für  den  Begriff  'Vulgärlatein'  eine  befriedigende  Definition  zu 
geben,  weil  auch  der  dazu  in  Gegensatz  gestellte  des  'klassischen  Lateins' 
ein  ziemlich  vager  und  willkürlicher  ist.  Die  vielfachen  Bevölkerungs- 
verschiebungen, wie  sie  die  römische  Verwaltung  mit  ihren  Kolonien,  mit 
ihrem  Militär-  und  Veteranenwesen  mit  sich  brachte,  hatten  zur  Folge,  daß 
zu  Anfang  der  Kaiserzeit  fast  auf  dem  ganzen  Gebiete  der  lateinischen 
Sprache  ein  ziemlich  gleichmäßiges  Idiom  gesprochen  wurde,  das  im  großen 
und  ganzen  dem  der  Schriftsprache  entsprach,  immerhin  mit  den  —  je  nach 
dem  Bildungsgrade  des  einzelnen  —  größeren  oder  geringeren  Verschieden- 
heiten, die  stets  zwischen  Schriftsprache  und  Umgangssprache,  zwischen 
der  Redeweise  der  einzelnen  Gesellschaftsklassen  bestehen.  Im  Laufe  der 
Zeit  haben  sich  dann  mancherlei  Veränderungen  vollzogen,  also  z.  B.  der 
Wandel  von  zwischenvokalischem  b  7m  v,  ohne  daß  die  festgefügte  Schrift- 
sprache davon  Notiz  genommen  hätte,  während  man  wohl  annehmen  kann, 
daß  bald  alle  Kreise  in  der  Alltagssprache  {h)avere  statt  habere  usw.  sprachen. 
Etwas  leichter  als  lautliche  mochten  formale  Umgestaltung  fii  ihren  Einzug 
auch  in   die  Literatursprache   finden,   noch   leichter  Wortbedeutungen  und 


II.  Das  Verhältnis  von  Latcinisrh  und  Romanisch.  <ec 

Wortfüt^unjren,  wie  man  denn  in  der  Tat  romani.sche  Abweichungen 
vom  laleini.schen  Typus  der  klassischen  Zeit  auf  den  letzteren  Gebieten 
viel  eher  nachweisen  kann.  Daß  auch  nicht  der  gesamte  römische  Wort- 
schatz in  unserer  Literatur  enthalten  ist,  ist  von  vornherein  anzunehmen, 
na^ientlich  dürfte  die  Terminologie  der  einzelnen  Handwerke  viele  uns 
nicht  überlieferte  Ausdrücke  enthalten  haben,  und  man  kann  immerhin  die 
Frage  aufwerfen,  ob  und  inwieweit  eine  Ergänzung  von  selten  des  Roma- 
ni.schen  möglich  sei.  Mit  etwelchcr  Sicherheit  kann  man  z.  B.  sagen,  daß 
ital.  piallarc  'hobeln',  woher  pialln  'der  Hobel',  ein  lateinisches  planularc 
voraussetzt,  das  zweifellos  dieselbe  Bedeutung  gehabt  hat,  da  vom  for- 
mellen Standpunkte  aus  eine  entsprechende  italienische  Weiterbildung  von 
piano  aus  pianolarc  gelautet  hätte,  und  da  vom  begrifflichen  aus  planulnrt 
zwar  jedes  beliebige  Glattmachen,  Ebnen  bedeuten  kann,  aber  doch  die 
spezielle  Bedeutung  gehabt  haben  wird,  da  die  Übertragung  von  einer 
anderen  Technik  auf  die  des  'Glättens'  des  Holzes  sehr  wenig  wahr- 
scheinlich ist. 

Hat  man  nun  einmal  erkannt,  daß  aus  den  romanischen  Formen  die  Aitutcini«:h 
Lücken  der  lateinischen  Überlieferung  bis  zu  einem  gewissen  Grad  aus- ""*  **°'"°'*'''- 
gefüllt  werden  können,  so  begreift  sich  leicht,  daß  man  mehrfach  versucht 
hat,  im  Romanischen  altertümliche  Formen  des  Lateinischen  wiederzufinden, 
die  die  klassische  Sprache  verschmäht  hat.  In  der  Tat  stehen  sich  z.  B. 
auf  der  einen  Seite  altlat.  arger ^  ital.  argine ,  span.  arcen^  auf  der  anderen 
Seite  kl.  lat.  agger  gegenüber.  Allein  in  dem  Verhältnis  zwischen  arger 
und  agger  liegt  nicht  eine  organische  Entwickelung  vor,  sondern  eine 
Umdeutung  von  arger  nach  aggerere.,  eine  Umdeutung,  die  die  Schrift- 
sprache akzeptierte  und  sanktionierte,  die  darum  aber  keineswegs  allen 
Volksschichten  angehört  zu  haben  braucht.  Und  so  erklärt  es  sich  in  allen 
ähnlichen  einigermaßen  sicheren  Fällen;  analogische,  volksetymologische 
Umgestaltungen  sind  nicht  immer  durchgeführt:  in  den  einen  Kreisen  bleibt 
die  organische  Form,  in  den  anderen  die  neue,  und  dementsprechend  ist 
bald  die  eine  bald  die  andere  Sieger  geblieben,  ja  es  können  sogar  beide 
fortleben,  wie  dies  unter  anderem  der  F'all  ist  bei  glomus  *glcmeris^  das  in 
der  klassischen  Sprache  zu  glomus  glomeris  vereinfacht  wurde,  \ia[.  gJiiomo^ 
das  aber  ebensogut  zu  *glemus  *glemeris  ausgeglichen  werden  konnte  und 
es  auch  tatsächlich  ist:  venez.  gemo.  Die  Fälle,  wo  das  Romanische  direkt 
altlateinische  F^ormen  bewahrt  hat,  sind  nun  aber  im  Vergleich  zu  denen, 
wo  es  auch  analogische  Umbildung  aus  der  klassischen  Zeit  fortsetzt,  so 
wenig  zahlreich,  daß  man  sie  nur,  wenn  jede  andere  Erklärung  versagt, 
mit  etwelcher  Sicherheit  annehmen  darf. 

Kommt  man  also  immer  wieder  darauf,  die  Sprache  des  ersten  Christ-     yxtA,^  dM 
liehen  Jahrhunderts  in  dem  im  ganzen  treuen  Bilde  der  damaligen  Schrift- ^-J^''^!,^^^^ 
spräche  als  Grundlage   der  romanischen   Sprachen   anzusetzen,   so  hat  nun       "^  die 
der    Umstand,    daß    trotz    der    immer    weitergehenden    Sprachveränderung  schnftsprachrn 
jener   Tj^pus    durch    fast    ein    Jahrtausend    die    einzige    Form    schriftlichen  voik«!^«cben. 


.c6  Wilhelm  Mever-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

Ausdruckes  war,  und  daß  die  Kirche,  der  Staat  und  die  Gelehrten  bis  ins 
17.  Jahrhundert  in  allerdings  mehr  und  mehr  abnehmendem  Umfange  sich 
seiner  in  Schrift  und  Rede  bedienten,  einen  merkwürdigen  Einfluß  auf  die 
Volkssprache  ausgeübt.  Aus  jenen  schriftkundigen  Kreisen  nämlich  flössen 
immer  und  immer  wieder  Wörter  in  der  unveränderten  Form  hinüber  in 
den  allgemeinen  Gebrauch,  fanden  hier  Bürgerrecht  und  wurden  teils  in 
veränderter  Bedeutung  neben  der  alten  verwendet,  teils  blieben  sie 
allein  übrig.  Lat.  pensare  'abwägen'  wurde  schon  zu  Quintilians  Zeiten 
pesare  gesprochen  und  lebt  in  dieser  Form  ununterbrochen  bis  heute:  ital. 
pesare,  frz.  peser  in  demselben  Sinne.  In  den  Kreisen  der  Gelehrten  aber 
nahm  pensare  die  abstrakte  Bedeutung  Menken'  an,  und  in  diesen  Kreisen 
wurde  unter  Eindruck  des  Schriftbildes  auch  pensare  gesprochen.  Später 
drang  dann  peiisare  wieder  in  dieser  speziellen  Bedeutung  in  die  Volks- 
sprache: ital.  pensare^  frz.  penser ^  und  es  wurde  namentlich  in  Frankreich  so 
heimisch,  daß  es  auch  andere  Verwendungen  erfuhr:  es  bedeutete  'denken 
für  jemanden,  sorgen  für  jemanden',  dann  konkreter  'einen  Elranken,  einen 
Verwundeten  pflegen',  schUeßlich  'eine  Wunde  verbinden',  wofür  die  spätere 
Orthographie  ein  anderes  Schriftbild  wählte:  pariser.  Die  Zahl  dieser  'Buch- 
wörter', 'gelehrten  Wörter',  wie  man  sie  nennt,  ist  in  allen  romanischen 
Idiomen  außer  dem  Rumänischen  ungemein  groß  und  sie  nimmt  von  Jahr- 
hundert zu  Jahrhundert  zu;  die  Sprache,  speziell  die  Schriftsprache  kann 
dadurch  eine  Bereicherung  aus  einem  immerhin  eigenen  Stoffe  erreichen, 
wie  es  dem  Deutschen  nie  möghch  ist,  da  hier  die  lateinischen  Fremd- 
wörter doch  eben  ein  fremderes  Gepräge  haben  und  behalten.  Ital.  giu- 
stizia,  in.  justice  sind  zweifellos  ebensogut  fremd,  d.  h.  nicht  von  jeher  im 
Italienischen  und  Französischen  vorhandene  Wörter  wie  'Justiz'  im 
Deutschen,  aber  sie  haben  ihre  Anklänge  nicht  nur  an  güisfo,  juste,  die 
auch  nicht  Erb  Wörter  sind,  sondern  zx\.  giudice  giudicare^  juge  juger\  docteur 
zeigt  in  seinem  et  eine  Lautgruppe,  die  im  Französischen  ebenso  fremd  ist 
wie  kt  in  deutschem  Doktor^  aber  die  Endung  -eiir  ist  in  zahlreichen  Erb- 
worten vorhanden,  so  daß  dadurch  der  Eindruck  des  Fremden  stark  ver- 
wischt ist. 

in.  Das  Romanische  und  die  nichtlateinischen  Sprachen 
innerhalb  des  romanischen  Gebietes.  Wenn  das  Lateinische  das 
wesentlichste  Element  der  romanischen  Sprachen  bildet,  so  kann  man  doch 
von  vornherein  voraussetzen,  daß  die  vorrömischen,  dann  aber  romanisierten 
und  die  später  in  das  römische  Reich  eingedrungenen  und  in  Römern 
oder  Romanen  aufgegangenen  fremden  Völker  Spuren  ihrer  sprachlichen 
Eigenart  hinterlassen  haben.  Man  muß  zum  mindesten  die  Frage  auf- 
werfen, ob  sich  in  den  mittel-  und  süditalienischen  Mundarten  nicht  direkte 
oder  indirekte  Einflüsse  des  Etruskischen,  Umbrischen,  Oskischen  usw. 
nachweisen  lassen,  in  den  norditalienischen  und  in  Frankreich  des  Galli- 
schen,  in    Spanien    und   Portugal    des   Iberischen;    ob    die   Herrschaft  der 


III.  Pas  Romanische  u.  d.  nichtlatcinischen  Sprachen  innerhalb  d.  romanisch.  Gebietes.     457 

Germanen  fast  auf  dem  ganzen  romanischen  Gebiet,  oder  ob  die  der 
Araber  auf  der  Iberi.schen  Halbinsel  und  in  Sizilien  auch  in  der  Sprache 
in  größoroni  Umfang-c  nachwei.sbar  .sei.  Die  Beantwortung  die.ser  Fragen 
ist  an  sich  schwierig,  und  sie  wird  es  noch  mehr  dadurch,  daß  uns  die 
vorrömischen  Idiome  sehr  unvollkommen,  manche  wie  z.  li.  das  Iberi.scho 
und  das  Rätische  soviel  wie  gar  nicht  bekannt  sind.  Zwcir  das  eine 
scheint  schon  jetzt  sicher  zu  sein,  daß  die  romanische  Formenlehre  voll- 
ständig unberührt  geblieben  ist,  während  im  Wortschatz  das  fremde  Element 
am  sichtbarsten  i.st.  Die  Beurteilung  der  Syntax  und  der  Wortbedeutung 
entzieht  sich  uns,  da  wir  darüber  aus  dem  Gallischen  nichts,  aus  dem 
Oskischen  und  Umbrischen  nur  Unwesentliches  wissen.  Dagegen  sind  wir 
über  das  Laut.sy.stem  dieser  Sprachen  besser  unterrichtet,  und  hier  i.st  es  denn 
auch,   wo  die  Forschung  zunäch.st  und  mit  einigem   Erfolg  eingesetzt  hat 

Der  Gedanke,  daß  bei  der  Romanisierung  die  verschiedenen  fremden  Keiti«:be  Eia- 
Völker  das  Lateinische  auf  Grundlage  ihrer  eigenen  Artikulationsart  aus-  i^^^^ 
gesprochen  haben,  und  daß  daraus  die  Verschiedenheit  der  romanischen 
Sprachen  gegenüber  dem  einen  Latein  entstanden  sei,  liegt  ja  in  der  Tat 
nahe  genug.  Allein  wenn  man  der  Sache  tiefer  auf  den  Grund  geht,  so 
ergibt  sich  bald,  daß  ein  Beweis  dieser  Annahme  durch  die  Tatsachen 
fast  unmöglich  ist.  Lat.  //  wird  in  Süd-  und  Xordfrankrcich,  in  Piemont, 
Genua,  in  der  Lombardei  und  in  Graubünden  zu  ü  und  schon  längst  hat 
man  darin  einen  Einfluß  der  Gallier  gesehen,  da  ja  das  Verbreitungsgebiet 
des  //  .sich  ungefähr  mit  dem  der  Gallier  deckte.  Allerdings  sehr  ungefähr: 
denn  die  Ligurer  waren  keine  Gallier,  während  das  Genuesische  //  spricht, 
und  die  vorrömischen  Bewohner  Bononias  waren  es,  während  das  Bolo- 
gTiesische  wie  überhaupt  das  Emilianische,  vom  äußersten  Norden  abgesehen, 
kein  ü  kennt  Ein  anderes  Beweismittel  aber  als  das  geographische  haben 
wir  nicht,  da  uns  jeder  Anhaltspunkt  für  die  Aussprache  des  u  als  ü  im 
Gallischen  fehlt  Ein  anderes  scheint  sicherer  zu  sein.  Nach  Maßgabe 
der  gallischen  Inschriften  ist  c/  schon  früh  zu  c///  geworden,  und  ebenso  ist 
zwischen  lat.  /tw/u  und  frz.  /ai/  eine  Stufe  fachtu  anzunehmen.  Da  ist  nun 
denkbar,  daß  die  Gallier  auch  beim  Lateinsprechen  nach  ihrer  Gewohnheit 
vor  folgendem  /  nicht  einen  Verschlußlaut,  sondern  nur  einen  Reibelaut 
gebildet  haben  und  daß  ihnen  darin  die  Römer  in  Gallien,  mit  denen 
sie  zusammenlebten,  gefolgt  seien:  es  ist  denkbar,  aber  man  darf  doch 
nicht  übersehen,  daß  der  Wandel  von  et  zu  cht  eine  jener  Erscheinungen 
ist,  die  auf  den  verschiedensten  Sprachgebieten,  z.  B.  im  Neugriechischen, 
im  Albanesischen,  im  Spanischen  usw.  auftreten,  so  daß  für  Frankreich 
ein  Anstoß  von  Seiten  der  Gallier  wenigstens  nicht  nötig  ist 

Etwas  mehr  bieten  die  itahenischen  Mundarten  im  Vergleich  mit  dem  Oddach«.  «■• 
Oskischen    und    Umbrischen.      Der   Wandel    von    nd   zu    //«:    quantto    tur  ^  t„,„j„^ 
quando^   von  wr,  ///,  ////  zu  ng^  nJ^   mb'.  trougo  für  tromo,  tattdo  für  tanto^  dw  if h— twrW« 
tembo  für  tcmpo,  von  d  zu  r:  rare  für  darc  findet  sich  weit  über  Mittel-  und     **'»»*'*~^ 
Süditalien,  und  die  erste  der  drei  Erscheinungen  ist  auch  oskisch-umbrisch, 


4=8  Wilhelm  Meyer -Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

die  beiden  anderen  sind  umbrisch.  Das  Verbreitungsgebiet  der  Phoneme 
ist  heute  freilich  ein  wesentUch  größeres  als  in  alter  Zeit,  aber  doch  wird 
man  sich  des  Gedankens  nicht  erwehren  können,  daß  hier  ein  direkter 
Zusammenhang  besteht.  Aber  gerade  das,  was  den  italienischen  Mundarten 
das  charakteristische  Gepräge  gibt,  die  eigentümlichen  Ausgestaltungen 
des  Vokalismus,  die  mancherlei  Diphthonge  —  gerade  das  hat  an  den 
vorrömischen  Idiomen  keinen  Anhaltspunkt.  Es  sind  also  nur  Neben- 
sächlichkeiten, Kleinlichkeiten,  nichts  von  dem,  was  man  als  das  Konsti- 
tutive bezeichnen  kann. 
Einfluß  Anders  liegen   die   Dinge   beim  Wortschatz.      Hier   handelt  es    sich 

im  Wortschatz,  ^umcist  darum,  daß  Kulturgegenstände  und  was  mit  ihnen  zusammenhängt, 
ihren  Xamen  beibehalten,  weil  der  fremde  Eroberer  den  entsprechenden 
Gegenstand  überhaupt  nicht  hat  oder  in  einer  Form,  die  von  der  ein- 
heimischen verschieden  ist  und  sie  nicht  zu  verdrängen  vermag.  Bemerkens- 
werterweise ist  es  bisher  nicht  möglich  gewesen,  innerhalb  des  oskisch- 
umbrischen  Gebietes  derartige  die  römische  Kultur  überlebende  Begriffe 
nachzuweisen.  Freilich  sagt  der  Neapolitaner  morfende  für  'Schneidezähne', 
bifolco  ist  allgemein  für  lat.  hiihiilcus^  und  so  gibt  es  noch  einige  Wörter, 
deren  f  statt  h  oder  d  oskisch-umbrischer  Lautung  entspricht:  es  sind 
nicht  eigentliche  Entlehnungen,  es  sind  nur  Beispiele  dafür,  daß  im  Kampfe 
zwischen  der  römischen  und  der  fast  gleichlautenden  nichtrömischen  Form 
die  letztere  geblieben  ist. 
GaUische  In  Frankreich  dagegen,  dann  auch  in  Oberitalien,  in  geringerem  Um- 

Wörter.  fange  in  Mittelitalien  und  am  wenigsten  auf  der  Iberischen  Halbinsel  treffen 
wir  nun  wirkliche  gallische  Wörter,  die  verschiedenen  Sphären  angehören. 
Die  carruca,  der  gallische  Pflug,  hat  das  römische  aratrum  in  Italien  nicht  zu 
verdrängen  vermocht  (ital.  araio),  in  Frankreich  aber  ist  umgekehrt  aratrum, 
das  in  altfrz.  arere  noch  erscheint,  vor  charrue  zurückgetreten,  und  zu 
charrue  gesellt  sich  soc  Tflugschar'  und  altfrz.  raie,  neufrz.  rayon  'Furche', 
die  beide  gallischen  Ursprungs  sind.  Zur  Landwirtschaft  gehört  auch 
banne  'Korbwagen',  vouge  'Rebmesser',  marne  'Mergel'  u.  a.  Eine  andere 
Gruppe  wird  durch  cervoise  'Bier',  brais  'Malz'  und  lie  'Hefe'  gebildet,  und 
so  ließen  sich  noch  manche  andere  anführen.  Auch  geographische  Gattungs- 
begriffe bleiben:  savoy.  na  'Bach',  lomb.  frut,  fruva  'Bergbach',  altfrz.  rin 
'Bach'  entstammen  dem  Gallischen:  sie  sind  Bezeichnungen,  die  den  Orts- 
namen sich  nähern,  also  am  Boden  festgewachsen  und  dadurch  widerstands- 
fähiger sind.  Aus  ähnlichem  Grunde  mögen  diene  und  verne  sich  gegen- 
über quercus  und  alnus  behauptet  haben. 
Iberische  Daß   in   derselben  Weise   iberische    Reste   im  Spanischen,  rätische   in 

Einflüsse,  ^gjj  Alpcnmundartcn,  dakische  im  Rumänischen  geblieben  seien,  ist  an 
sich  denkbar,  aber  schwer  nachzuweisen,  da  uns  die  betreffenden  Sprachen 
ganz  oder  fast  ganz  unbekannt  sind.  Das  paramus  einer  lateinischen  In- 
schrift ist  ja  wohl  zweifellos  identisch  mit  span.  j2^a>^;//c  'die  Ebene'  und  ist 
unrömisch;  auch  sonst  mag  die  eine  und  andere  Übereinstimmung  zwischen 


III.  Das  Romanische  u.  d.  nichtlatcinischen  Sprachen  innerhalb  d.  romanisch.  Gebietes,     «eg 

Spanisch  und  Baskisch  auf  das  Iberische  zurückgehen,  doch  ist  bei  solchen 
Vergleichen  um  so  mehr  Vorsicht  j^febotcn,  weil  der  haskische  Wortschat/ 
in  hohem  Grade  von  spanischen  Kiementen   durchsetzt  ist. 

Endlich  mag  von  den  vorrömischen  Sprachen  noch  das  Griechische  Grt««iii«:he 
erwähnt  werden.  Auch  hier  handelt  es  sich  selbst  in  Süditalien,  der  *'*^•^••• 
einstigen  Magna  Graecia,  und  in  Sizilien  nur  um  lexikographi.sche  Einflüsse, 
d.  h.  also  um  Kulturverschiedenheiten.  Bemerkenswert  ist,  daß  näch.st 
Süditalien  die  größte  Zahl  alter  griechischer  Wörter  auf  der  Iberischen 
Halbinsel  anzutreffen  ist.  Daß  auch  von  Massilia  aus  ein  erheblicher  Ein- 
fluß noch  auf  das  Römische  und  dann  also  auf  das  Südfranzösische  statt- 
gefunden habe,  ist  zweifelhaft,  jedenfalls,  wenn  man  von  den  Phantastereien 
kritikloser  Dilettanten  absieht,  bisher  nicht  nachgewiesen. 

Sehr  intensiv  und  lange  andauernd  ist  der  germanische  Einfluß,  GermamKh«' 
ersichtlich  wiederum  vor  allem  im  Wortschatz.  Nur  Xordfrankrcich  ver-  '■^'''''^•»*' 
dankt  den  Germanen  auch  einen  neuen  Laut,  das  //;  aber  mit  ver- 
schwindend geringen  Ausnahmen  erscheint  dieser  Laut  ausschließlich 
in  Wörtern  germanischen  Ursprungs,  so  daß  die  Verschiedenheit  zwischen 
dem  Französischen  und  den  anderen  romanischen  Sprachen  sich  darauf 
beschränkt,  daß  jenes  den  fremden  Laut  beibehält,  diese  ihn  einfach 
weglassen:  frz.  hcaumc^  ital.  clmo^  span.  yclmo.  Fremd  war  den  Romanen 
auch  der  Laut  des  germanischen  «•;  sie  ersetzten  ihn  durch  gu^  woraus 
neufrz.  g\  ital.  guardarcy  span.  guardar^  frz.  garder.  Dafür  ist,  wie  gesagt, 
die  Durchsetzung  des  Wortschatzes  eine  recht  bedeutende,  wobei  nur 
nach  verschiedenen  Seiten  hin  Abstufungen  zu  machen  sind.  Schon  in 
römischer  Zeit  haben  die  Soldaten  den  einen  und  anderen  Ausdruck  von 
ihren  germanischen  Lagergenossen  übernommen,  und  solche  Ausdrücke 
konnten  dann  bald  im  ganzen  Reiche  zirkulieren.  Immerhin  ist  es  von 
nicht  zu  unterschätzender  Wichtigkeit  festzustellen,  daß  keiner  dieser  direkt 
germanischen  Ausdrücke  im  Rumänischen  zu  finden  ist,  noch  auch  Bildungen 
von  der  Art  von  cotnpanio,  'der  Brotgenosse',  das  als  Übersetzung  eines 
germ.  gahlaifs  zu  combibo  getreten  ist.  Dann  haben  die  einzelnen  Stämme 
während  der  Völkerwanderung  bei  der  Romanisierung  in  ähnlicher  Weise 
wie  früher  die  Keltoromanen  einen  Teil  ihres  Wortschatzes  beibehalten, 
nur  ist  dieser  Teil  ein  viel  größerer,  weil  die  Kulturelemente,  die  die 
Römer  und  Romanen  von  den  Germanen  übcrnonmien  haben,  zahlreicher 
sind.  Und  zwar  ist  es  nicht  nur  das  Kriegswesen,  ist  nicht  nur  der  Helm: 
frz.  heaumc^  die  Brünne:  altfrz.  brognCy  der  Halsberg:  altfrz.  hiiusbt'rc,  das 
flammende  Schwert  bratulon  mit  dem  Schwertgriff":  altfrz.  luut,  der  Spieß: 
altfrz.  espicut  und  der  'Strahl':  ital.  stralo  und  mit  anderem  Worte  frz. 
diird^  es  sind  nicht  nur  die  Bezeichnungen  staatlicher  Einrichtungen,  auch 
die  Frauenbeschäftigung,  heitere  und  ernste,  spielt  eine  Rolle:  die  beiden 
Verba  des  Tanzens:  dttnscr  und  altfrz.  trc schier  sind  germanischen  Ur- 
sprungs, aber  nicht  minder  broder^  ital.  brustare  und  guipcr  *mit  Seide 
überspinnen',  buer  ' bauchen ', ^<f<r//^T  'waschen'.  Dann  gehören  hierher /£?<«//<' 


^60  Wilhelm  Meyer-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

*Tuch',  guimpe  'Schleier',  fände  'Saum',  huvet  'Haube',  gueurle  'Gürtel' 
und  in  diesem  Zusammenhang  erklären  sich  die  zum  Kleiderfärben  ge- 
brauchten Pflanzen:  gtilde  'Waid',  garancc  'Krapp'  und  vielleicht  auch 
die  Farbennamen:  bleu,  blond,  blanc,  brun,  gris.  Den  Steinbau  lernten  die 
Germanen  von  den  Römern  {\g\.  Äfazier  aus  viurus,  Ziegel  aus  legula  usw.), 
sie  haben  aber  daneben  ihre  Lehmhütten  und  ihre  geflochtenen  Häuser 
beibehalten,  vgl.  frz.  magoiiy  eigentlich  'der  Klneter',  bätir  'bauen'  aus 
bastjan  'mit  Bast  arbeiten,  flechten',  hoiirder  'grob  übertünchen'  zu 
altfrz.  Jwrde  'Schranke',  kor  der  'schützen',  alle  drei  zu  deutschem  'Hürde, 
Hurd'  gehörig.  Das  Fischen  war  natürlich  schon  eine  römische  Be- 
schäftigung, aber  den  'Brassen',  frz.  breme  aus  germ.  brahsimo  und  die 
'Asche',  ital.  l-asca,  dürften  erst  die  Germanen  geschätzt  haben,  daher  der 
Name,  den  sie  gebrauchten,  übriggeblieben  ist.  Auch  hierin  zeigt  Nord- 
frankreich den  stärksten  Prozentsatz  des  fremden  Elementes,  und  zwar 
namentlich  in  fränkischer  und  althochdeutscher  Gestalt;  Italien  weist  be- 
deutend weniger  auf,  und  zwar  ostgotisches  und  vorab  langobardisches;  die 
Iberische  Halbinsel  endlich  kennt  nur  vereinzeltes  westgotisches,  darunter 
luva  'Handschuh'  und  merkwürdigerweise  galiz.  laverca  'Lerche',  dann 
indirekt  tizona  'Schwert,  Degen'  zu  tizon  'Feuerbrand',  lat.  titio,  offen- 
bar in  Nachahmung  der  Doppelbe deutung  des  altgerm.  'brand'. 
Arabische  Noch   oberflächlicher,    noch   viel   mehr    den  Stempel    fremder  Kultur 

Einflüsse,  ^-j-^g^jj^^  js^^  ^^^  jig  Araber  in  Spanien  und  in  geringerem  Umfange  in 
Portugal,  anderseits  in  Sizilien  an  Sprachstoff  zurückgelassen  haben.  Es 
sind  die  Bezeichnungen  für  Ämter  und  Würden,  wie  alcalde  'der  Richter', 
Maße  und  Gewichte:  quintal  'Zentner',  Ausdrücke  der  Heilkunde,  der 
Mathematik,  Astronomie,  Musik,  in  bescheidenem  Maße  das  Kriegswesen 
und  Pflanzenbezeichnungen:  aceihma  'Olive',  aceite  'Ol',  bellota  'die  Eichel', 
alerce  'die  Lärche';  auf  die  berühmten  Bewässerungsanlagen,  die  nament- 
lich in  Andalusien  bis  heute  sich  erhalten  haben,  weisen  acequia  'Be- 
wässerungskanal' und  anoria  'Schöpfrad'  usw.  Entsprechend  der  Tat- 
sache, daß  die  Entwickelung  des  Spanischen  im  ganzen  abgeschlossen 
war,  als  der  Maureneinbruch  stattfand,  ist  dieses  maurische  Element  fast 
gar  nicht  verändert  worden,  also  auch  viel  leichter  erkennbar  als  das 
ältere  germanische. 


Die  Entstehung  IV.    Die  Entstehung   der  romanischen  Sprachen.     Wenn  somit 

der  romanischen  ^^^  Einfluß   dcr  Völker,   die,   mit  den  Römern  verschmelzend,   die   neuen 

sprachen.  '  '  ' 

Nationen  der  Romanen  hervorgebracht  haben,  auf  die  Sprachentwickelung 
ein  geringer  und  ziemlich  äußerlicher  ist,  so  kann  er  offenbar  nicht  ge- 
nügen, um  die  Verschiedenheit  der  romanischen  Sprachen  zu  erklären,  und 
man  muß  sich  nach  anderen  Gründen  zur  Deutung  dieser  immerhin  auf- 
fälligen Erscheinung  umsehen.  Die  Romanisierung  ist  bekanntlich  in  den 
einzelnen  Provinzen  in  sehr  verschiedenen  Zeiten  vor  sich  gegangen:  erst 
ist    Sardinien    unterworfen    worden,   dann   Spanien,    später   Südfrankreich, 


IV.  Die  Entstehung  der  romanischen  Sprachen.     V.  Der  Wortschatz.  461 

weiter  Nordfrankreich,  zuletzt  Dakien.  In  diesem  Zeiträume,  der  über 
300  Jahre  umfaßt,  hat  das  Lateinische  in  Italien  sich  vielfach  verändert,  so 
daß  also  /..  H.  nach  Sardinien  oder  nach  Spanien  eine  wesentlich  ältere 
Sprache  importiert  wurde  als  etwa  nach  Dakien.  Die  Verschiedenheiten, 
die  dadurch  in  den  einzelnen  Provinzen  entstanden,  wurden  freilich  sehr 
stark  durch  die  schon  oben  erwähnten  militärischen  Transloziorunj^en 
paralysiert,  aber  ein  g^ewisser  Rest  konnte  doch  bleiben  und  i.st  tatsächlich 
geblieben.  Noch  wesentlicher  aber  ist  folgendes.  Wo  kirchliche,  politische 
oder  natürliche  Grenzen  dem  Verkehre  ein  Hindernis  bieten,  da  finden 
sich  auch  Sprachdifferenzierungen  ein;  wo  gegenseitiger  Verkehr  herrscht, 
gleichen  sich  Verschiedenheiten  aus.  Die  kirchlichen  Grenzen  im  Mittel- 
alter deckten  sich  vielfach  mit  den  Völker-  und  Gaugrenzen  aus  vor- 
römischer  Zeit,  und  zwar  hauptsächlich  darum,  weil  trotz  der  Romani- 
sierung  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit  der  alten  Stämme  blieb  und 
die  Kirche  diesem  Zustande  Rechnung  trug.  Daraus  folgt  unmittelbar, 
daß  die  heutigen  romanischen  Sprach-  und  Dialektgruppen  mehrfach  sich 
mit  den  vorrömischen  Völkergruppen  decken,  ohne  daß  doch  ein  direkter 
sprachlicher  Einfluß  nachweisbar  wäre.  So  erklärt  sich  einerseits  die  ge- 
ringe Dialektbildung  bei  den  wandernden  Rumänen,  anderseits  die  sehr 
starke  Differenzierung  in  den  wenig  zugänglichen  Tälern  Graubündens,  die 
erst  in  neuer  Zeit  schwindet,  wo  Eisenbahn-  und  Straßenbauten  und  die 
Touristik  eine  größere  Beweglichkeit  der  Bevölkerung  und  einen  Ausgleich 
der  Mundarten  mit  sich  bringen.  So  scheint  die  Loslösung  der  südost- 
französischen Mundarten  von  den  nordfranzösischen  mit  der  Gründung  und 
der  Selbständigkeit  des  burgundischen  Königreichs  zusammenzuhängen; 
das  bunte  Bild,  das  uns  die  'Italia  dialettale'  zeigt,  stimmt  mit  dem  nicht 
weniger  bunten  der  vorrömischen  sprachlichen  und  politischen  und  der 
mittelalterlichen  politischen  überein.  Eine  Geschichte  der  romanischen 
Sprachen  und  Mundarten  wird  also  dereinst  eine  Verkehrsge.schichte 
werden,  die  die  politische  und  administrative  Geschichte  ergänzen  und 
vertiefen  kann,  letzteres  insofern,  als  sie  zeigt,  wieweit  admini.strative 
Zusammenlegungen  und  Trennungen  wirklich  auf  die  Bevölkerung  gewirkt 
haben. 

V.  Der  Wortschatz.  Noch  weitere  Probleme  bietet  die  Wort-  wonccchichw 
geschichte;  sie  wächst  sich  aus  zur  Kulturgeschichte.  Wenn  wir  näher  ]^^  JJ"^*^'" 
zusehen,  so  finden  wir  in  jeder  der  romanischen  Sprachen  zahlreiche  Ent- 
lehnungen aus  den  anderen,  in  den  Schriftsprachen  aus  C^qw  Mundarten, 
und  wir  können  sagen,  daß,  wo  es  sich  um  Sachbezeichnungen  handelt, 
dann  auch  stets  die  Sache  in  einer  bestimmten  Form  entlehnt  ist;  wo  um 
abstrakte  Begriffe,  die  empfangende  Sprache  in  gewissen  maßgebenden 
Kreisen  als  die  minderwertige  empfunden  wurde,  die  man  durch  die 
fremden  Anlehen  zu  veredeln  glaubte.  Von  Frankreich,  vor  allem  von 
Nordfrankreich,  haben  zu  verschiedenen  Zeiten  mächtige  Kulturwellen  über 


fr»ch)chte>. 


i52  Wilhelm  Meyer -Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

die  Westalpen  nach  Italien,  über  die  Pyrenäen  nach  Spanien  und  über 
den  Rhein  nach  Deutschland  hinübergeschlagen,  und  sie  haben  eine  ent- 
sprechende Menge  von  Sprachmaterial  mit  sich  geführt.  Die  Übereinstun 
mung  zwischen  Deutsch  und  Romanisch  ist  dabei  beachtenswert:  ital. 
bastia  ist  so  gut  aus  altfrz.  hastie  entlehnt,  wie  deutsch  bastei)  altportug. 
saliiar  ^grüßen'  aus  zMxz.  sahtcr  wie  m}ciA.s alliieren.  So  weist  fast  die  ganze 
Terminologie  des  höfischen  Lebens  deutlich  nach  Nordfrankreich  hin.  Aber 
vom  14.— 1 6.  Jahrhundert  ist  umgekehrt  Italien  namentlich  im  Heerwesen 
vielfach  tonangebend  gewesen:  bastia  kehrte  wieder  nach  Frankreich  zurück 
dilsbasHllc,  6.er  pugnale,  pugnä,  pugnar  der  berühmten  lombardischen  Waffen- 
fabriken wurde  als  poignard  übernommen  und  verdrängte  das  alte  echt 
französische  poigniel  usw.  Auch  für  die  Marineausdrücke  sind  es  vor- 
wiegend die  italienischen  Hafenstädte,  dann  auch  Marseille,  die  die  Aus- 
drücke liefern:  \\.2\.  prua^  iri.  proiie  aus  prora  ' Schiffsvorderteil '  ist  genue- 
sischen Ursprungs;  Udo  und  molo  venezianischen;  span.  mezana,  hol!.,  deutsch 
'Besanmast'  stammen  vom  ital.  mezzana  u.  a.  Aus  der  Glanzzeit  Portugals, 
da  die  westlichsten  der  Romanen  als  Seefahrer  und  Entdecker  den  Ge- 
sichtskreis der  Alten  Welt  ins  ungemessene  erweiterten,  ist  portug.  feitigo 
(lat.  facticius)  als  fetiche,  feticcio  'Fetisch'  weiter  gewandert.  Was  wir 
hier  auf  weitem  Gebiete  sehen,  wiederholt  sich  auf  engerem:  frz.  beurre 
statt  älterem  bure  ist  eine  Form,  die  in  östlichen  Mundarten  korrekt,  von 
da  mit  der  Sache  nach  Paris  und  in  die  Schriftsprache  gekommen  ist; 
vieleze  'Lärche'  ist  ein  savoyisches  Wort,  dessen  Aufnahme  sich  daraus 
erklärt,  daß  die  Lärche  in  der  Ile  de  France  eigentlich  nicht  zu  Hause  ist; 
cudet  ist  ein  bearnisches  Wort  zur  Bezeichnung  des  jüngeren  erblosen 
Sohnes,  der  bei  Hof  sein  Glück  versucht,  der  Typus,  der  durch  De  Vignys 
Cinq  Mars  bekannt  geworden  ist,  und  erst  nach  und  nach  tritt  es  an  Stelle 
von  pidne  in  -  Gegensatz  zu  aine  usw. 

VI.  Die  Namenkunde.  Einen  besonderen  Teil  der  Wortkunde  bildet 
Italiens,  vor-  ^^^  Erforschuug  dcr  Ortsnamen  und  der  Eigennamen.  Man  kann  von 
'  TamL.  ^  vornherein  erwarten,  daß  in  der  Toponomastik  die  Spuren  der  vorrömischen 
Völkerschaften  am  deuthchsten  zu  finden  sind.  In  der  Tat  gibt  z.  B. 
Arestaffele  (Provinz  Molise,  Italien)  ein  osk.  ar  Stafelo  'bei  den  Ställen', 
lat.  ad  Stablila  denkbar  genau  wieder;  der  Städtename  Nepi  steht  etrusk. 
Neped  näher  als  lat.  Nepete^  der  Flußname  Amasena  weist  mit  seinem  s 
zwischen  Vokalen  statt  r  auf  die  Sprache  der  Volsker.  Aber  das  oskische 
Städtchen  Stabiae  hat  seinen  oskischen  Namen  Stafias  völlig  gegen  den 
römischen  vertauscht,  Stabbia:  hier  ist  also  die  Latinisierung  und  das 
Bewußtsein,  daß  eigenem  /  in  der  Staatssprache  b  entspreche,  stark  genug 
gewesen,  um  die  alte  Form  zu  verdrängen.  In  Norditalien  haben  alle 
größeren  Städte  ihre  Bezeichnungen  selbstverständlich  bewahrt.  Die 
GalUer  haben  etrusk.  Felsina  durch  Bononia  ersetzt,  die  Römer  haben 
an    Bononia^   heute   Bologna^    ebensowenig    gerüttelt    wie  an  Mediolanum, 


Die  Ortsnamen 


VI.  Die  Namenkunde.  ^(j. 

Milanoy  das  man  passend  als  'Mittenfelde'  erklärt  (lannm  wäre  die  )^al- 
lische  Entsprechung  von  lat  planum),  Genua  Gencnui,  Padova  I\uiua^  Ber- 
gamum  licrgamo  usw. 

Zu  diesen  vorrömischen  Namen  gesellen  sich  nun  im  I^ufe  der  Romani-  lUoiiKb« 
sierung  zahlreiche  römische,  unter  denen  die  über  ganz  Italien  und  Süd- ^^*'**'*"'*** 
Frankreich  verbreiteten  auf  -anu,  -ana,  bzw.  -an  besonders  zahlreich  sind, 
also  Namen  wie  Gavignano  aus  Gabinianumy  Viggiano  aus  Vibianum  usw. 
Bei  diesen  handelt  es  sich  ursprünglich  um  Höfe,  die  nach  dem  Besitzer 
benannt  sind,  daher  der  Stamm  ein  Nomen  gentile  enthält,  Höfe,  die  sich 
später  zu  Dörfern  herausgewachsen  haben.  In  römische  Zeit  fallen  weiter 
die  verschiedenen  Coßcnti  u.  dgl.  in  Italien,  Cuufulan,  Cuu/oulans  u.  dgl. 
in  Frankreich,  Confrentes  in  Spanien,  die  alle  auf  conflucntes  zurückgehend 
unserem  'Gmünd'  entsprechen  und  darum  hohen  Alters  sein  müssen,  weil 
im  Romanischen  conflucntes  als  Adjektivum  oder  als  Appellativum  nicht 
mehr  lebt.  Mehr  außerhalb  des  alten  Italien  begegnen  uns  Carobbio  im  Po- 
gebiet,  Codroi p  in  Friaul,  Carouge,  Caroi  in  Frankreich  öfter,  vom  lat. 
Qutidruviumy  also  zunächst  Poststationen  und  Wirtshäuser  an  Kreuzwegen, 
speziell  an  dem  von  den  Römern  angelegten  Straßennetz.  Ebenfalls  nicht 
im  eigentlichen  Italien  trifft  man  Aosta  aus  Augusta,  Antun  aus  Augusto' 
dununiy  Saragossa  aus  Caesar  .lugusta  u.  dgl.  —  Auf  die  vorrömische  und 
römische  Schicht  folgt  in  Italien  die  germanische.  In  den  ziemlich  häufigen  GermanUcho 
Sarmazza  aus  Sarmatia,  in  Zebedo  aus  Gepidcs  in  der  Lombardei  hat  man  O'^*»''^™«- 
vielleicht  noch  in  römischer  Zeit  auf  römische  Anordnung  hin  erfolgte 
Kolonien  von  Sarmaten  und  Gepiden  zu  sehen.  Aber  die  weit  über  die 
Halbinsel  zerstreuten  Fara  enthalten  das  langob.  Wort  fara  'Geschlecht' 
und  Castel  Gandol/Of  Gamberaldi  aus  Campus  Araldiy  Monte -Gundi  u.  dgl. 
brauchen  zwar  keine  langobardischen  Gründungen  zu  sein,  da  frühzeitig 
auch  die  vornehmen  Italiener  langobardische  Namen  angenommen  haben, 
können  aber  doch  ihrer  Entstehung  nach  nicht  vor  die  Langobardenzeit 
fallen,  und  daß  sie  nicht  ausschließlich  Italienern  zuzuschreiben  .sind,  ergibt 
sich  schon  daraus,  daß  ihre  Zahl  nach  dem  Süden  zu  abnimmt.  Hier  im 
Süden,  namentlich  im  Südosten,  begegnet  uns  ein  anderes  fremdes  Element 
Bei  näherem  Zuschauen  überrascht  nämlich  der  große  Prozentsatz  von  omstucb* 
Dörfern,  die  nach  Heiligennamen,  also  offenbar  nach  den  Kirchen  genannt  ^"■"■'■"" 
oder  um  die  Kirchen  herum  entstanden  sind.  Spielen  diese  Namen  im 
ganzen  christlichen  Europa  eine  gewisse  Rolle,  so  ist  doch  ihre  Wichtig- 
keit an  manchen  Orten  eine  geringere,  an  anderen  eine  größere.  Es  ist 
vor  allem  das  Gebiet  der  griechischen  Kirche,  wo  das  christliche  Element 
die  ganze  Toponomastik  durchtränkt  hat.  Seit  dem  6.  Jahrhundert  beginnt 
man  auf  dem  Balkan  zahlreiche  alte  Orte  nach  griechischen  Heiligen  um- 
zunennen, und  vom  Balkan  geht  diese  Mode  weiter  auch  auf  diejenigen 
Teile  der  Apenninischen  Halbinsel  über,  die  dem  Kulturkreis  der  grie- 
chischen Kirche  unterworfen  waren,  und  gab  ihr  ein  Gepräge,  das  bis 
heute  bleibt,   wo   doch  längst  die  römische  Kirche  wieder  allein  herrscht 


^64  Wilhelm  Meyer-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

Gallische  Das    galUsche    und    ligurische    Oberitalien   kann    seinen   vorrömischen 

und  ligunsche  (^j^^rakter  nicht  efanz  verleugfnen,  wenn  es  ihn  auch  freilich  nicht  so  offen 

Ortsnamen.  °  o  7 

an  der  Stirne  trägt  wie  die  Gallia  transalpina.  Neben  oder  statt  der  -ano- 
Orte  begegnen  hier  -aco-  und  -asco-OT{.e,  so  zwar,  daß  -asco  namentlich  im 
Ligurergebiete  heimisch  ist,  -aco  (lomb.  z.T.  irrtümlicherweise  afe^  friaul.  acco 
geschrieben)  im  Gallierlande.  Der  Stamm  dieser  Namen  ist  aber  durchaus 
oder  doch  fast  durchaus  Lateinisch,  so  daß  also  nicht  römische  Gründungen 
vorliegen,  sondern  Höfe,  sei  es  von  Römern,  sei  es  von  Kelten  oder  Ligu- 
rern,   die  dem  Hofe  den  Namen  ihres  römischen  Patrons  zugrunde  legten. 

Die  Ortsnamen  Ganz    andcrs   liegen   die    Dinge   in   Frankreich.     Hier  treffen   wir   die 

aiuscheTorts-  fielen  Co7ide,  Condat  aus  gall.  Co7tdate,  das  begrifflich  genau  dem  vorhin 
namen.  erwähnten  Confluentes  entspricht;  Artliie{s)  aus  gall.  are  tegias  bei  den 
Hütten,  Moiliens,  Meilan  u.  dgl.  aus  Älediolanum;  dann  die  zahlreichen 
Namen  auf  {d)un,  {d)on  wie  Mellmi  SiMS  Metlodtimim,  Yverdo7i  aus  Eburodu7iumy 
Lyon  aus  Lugdunum,  also  gall.  dunum  ^Berg,  Burg';  auf  -crre^  -eurre  aus 
d-duriuti  'Thor',  z.  B.  Auxerre  aus  Aiitessioduricm;  Brive  aus  briva  'Brücke' 
und  vieles  andere,  was  zum  größten  Teil  vorrömisch  ist,  wobei  noch  be- 
merkt werden  mag,  daß  nach  Maßgabe  der  heutigen  Namen  die  Zahl 
dieser  Ortschaften  nicht  unwesentlich  größer  war,  als  man  nach  den 
antiken  Quellen  für  die  Geographie  Galliens  annehmen  mußte.  Daß  die 
eine  und  andere  Gründung  erst  römisch  ist,  zeigt  Autun  aus  Augustodunum, 
und  daß  während  der  zweisprachlichen  Zeit  manche  der  zweistämmigen 
Bildungen  in  ihrer  Bedeutung  völlig  klar  waren,  ergibt  sich  daraus,  daß 
Isarobriva  heute  Ponthoise  [Pons  Isarae)  lautet,  und  daß  Chäteaudun  in 
seinem  ersten  Teil  die  lateinische  Übersetzung  des  zweiten,  gallischen  ent- 
hält. Sodann  ist  Frankreich  ganz  eigentlich  das  Land  der  aco -Orte:  süd- 
frz.  -ac,  nordfrz.  -y.  Zeigt  sich  hierin  schon  ein  starker  römischer  Einfluß, 
so  kommt  er  weiter  auch  darin  zur  Geltung,  daß  die  Hauptstadt  des 
Gaues  nach  dem  Volke  benannt  wird:  Parisiis,  heute  Paris  statt  Lutetia  Pari- 
siorum,  so  nun  Reims,  die  Hauptstadt  der  Rejni,  Langres  der  Lingones, 
Troyes  der  Tricasses  usw.  Die  weitere  Entwickelung  ist  dieselbe  wie  in 
Germanische  Italien:  Samiaise  aus  Sarmatia  ist  eine  von  Römern  nach  Gallien  gebrachte 
namen.  Saj-j^atcnkolonie;  die  verschiedenen  Bazouches  aus  basilica  sind  römisch, 
vielleicht  christlich,  dann  aber  älter  als  die  Zeit,  wo  ecclesia  an  Stelle  von 
basiliccT getreten  ist.  Dann  folgen  die  Germanen,  die  nun  namentlich  im 
nördlichen  Frankreich  eine  große  Rolle  spielen.  Ist  Mont-didier  aus 
Monte  Desiderii  auch  nach  der  Wortstellung  lateinisch-romanisch,  so  sind 
dagegen  die  vielen  Bildungen  auf  -court  'Hof,  -bourg  'Burg',  -mlle  'Hof, 
-viller,  -villard  'Weiler'  mit  einem  Eigennamen  im  ersten  Teile  nach  der 
Stellung  der  beiden  Komponenten  deutsche  Gründungen,  und  damit  stimmt 
auch  ihre  Verbreitung. 

Die  Ortsnamen  Auf  der  Iberischcn  Halbinsel  zeigen  sich  keltische  Spuren:   Coimbra 

Halbinsel.^"  ^^^  Conimbriga,  aber  keine  -«t(?-Namen;  starke  Umgestaltungen  der  römi- 
schen bzw.  vorrömischen  Formen  im  Munde  der  Araber:  Sevilla  aus  His- 


\'I.  Die  Namenkunde. 


465 


palis,  ydiiva  aus  Stjrtabis,  Saraj^ossa  aus  Carsarau^usta  sind  aus  rein  roma- 
nischer Sprarhontwickelunßf  undenkbar.  Dazu  kommen  bis  in  den  äußersten 
Norden  rein  arabische  Bezeichnunj^en:  Alcala  'Hurj^',  Ahdtitara  'Hrücke*, 
Mediud  'Stadt',  ja  sogar  die  Flüsse  tragen  den  Stempel  der  Fremden- 
herrschaft an  sich:  Guadolquivir^  Guadiana  usw.,  während  sonst  gerade 
an  den  Flüssen  selbst  die  Römer  wenig,  die  Germanen  gar  nichts  geändert 
haben.  Gegenüber  diesem  ungemein  starken  arabischen  Einschlag  ist  der 
germanische  unbedeutend.  Nicht  als  ob  er  ganz  fehle,  gerade  die  nörd- 
lichen Provinzen  zeigen  z.  B.  recht  viele  Dörfer,  deren  Xamen  auf  wi/, 
■mir  entsprechend  got.  -mirs  ausgehen,  aber  vif>  <:\wi\  alle  klein  geblieben, 
sind  Höfe,  nicht  Burgen  oder  Städte. 

Daß  es  endlich  überall  Namen  gibt,  die  als  rein  romanische  zu  be- 
zeichnen sind,  Namen  wie  Xruvfvillt-,  Beauforty  Fcrrit'rc  usw.,  ist  selbst- 
verständlich. 

Man  sieht,  wie  an  Hand  der  sprachlichen  Untersuchung  der  Ortsnamen 
die  ganze  Siedelungsgeschichte  von  dem  Eindringen  der  Römer  bis  auf 
heute  dargestellt  oder  zum  mindesten  in  vielen  Punkten  ergänzt  und  er- 
weitert werden  kann.  Vollends  die  Bewegungen  an  der  Sprachgrenze 
werden  nur  auf  diesem  Wege  einigemiaßen  verfolgt  werden  können. 
N'ergleicht  man  z.  B.  das  Verhältnis  romanischer  und  germanischer  Orts- 
und Flußnamen  im  jetzt  ganz  deutschen  Kanton  St.  Gallen,  so  kann  man 
beobachten,  daß  die  Deutschen  längs  der  Flüsse  vorgerückt  sind,  die 
Romanen  sich  in  die  Berge  zurückgezogen  haben;  im  deutschen  Inntal 
tragen  die  Alpen  und  Wiesen,  die  Südsonne  haben,  romanische  Namen, 
die  schattigen  auf  der  Nordseite  germanische:  diese  waren  frei,  unbebaut 
oder  nicht  umworben,  als  die  Deutschen  einzogen,  während  die  alt- 
eingesessenen Romanen  jene  hatten  und  hielten  usw. 

Im  Gegensatz  zu  den  Ortsnamen  zeigen  nun  die  Personennamen  nicht  Dk 
nur  fast  nichts  Vorrömisches,  sondern  auch  wenig  Römisches,  soweit  nicht  das 
Christentum  das  Römertum  in  sich  aufgenommen  und  gehalten  hat.  Das 
römische  Dreinamensystem,  ein  Ausfluß  der  altrömischen  Staatsverfassung, 
mußte  bei  dem  völligen  Umschwung  der  Gesellschaftsordnung  in  der 
Kaiserzeit  der  Vergessenheit  anheimfallen,  verschwanden  ja  doch  nach 
und  nach  die  alten  Geschlechter,  die  es  hochhielten,  und  war  es  den 
Italikem  fast  ganz,  den  semitischen  und  griechischen  Christen,  die  bald 
einen  so  großen  Einfluß  gewinnen  sollten,  ganz  fremd.  Der  Rufname 
genügte,  höchstens  wurde  ihm,  wo  es  not  tat,  als  unterscheidendes  Merk- 
mal der  Vatersname  oder  ein  Beiname,  zumeist  ein  Neckname,  hinzugefugt; 
mit  der  Verstaatlichung  des  Christentums  werden  die  Namen  mehr  und 
mehr  christlich:  hebräisch,  griechisch,  römisch,  und  sie  wären  es  mit  der 
Zeit  ganz  geworden,  hätten  nicht  die  Romanen  überall  da,  wo  die  (ier- 
manen  herrschten,  die  Namen  der  Herrscher  anzunehmen  bald  mit  größerem 
bald  mit  geringerem  Eifer  sich  bemüht  Da  nun  aber  umgekehrt  die  ver- 
christlichten    und    romanisierten    Germanen    sich    auch    christliche    Xamen 

I>ri     K1ITI-«    DtH    OlOt<<WA«T       I     11.     I  IQ 


^66  Wilhelm  Meyer-Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

beilegten,  so  ergibt  sich  für  das  romanische  Mittelalter  eine  Mischung 
christlicher  und  germanischer  Namen. 

Gennanische  Dabei  Verhalten  sich  freilich  die  verschiedenen  Gegenden  verschieden. 

Eigennameu  Rumänien,  Dalmaticn,  Rätien  und  Sardinien  zeigen  keine  oder  fast  keine 
germanischen  Elemente,  dafür  trifft  man  hier  altrömische  in  viel  weiterem 
Umfange  als  anderswo,  wie  denn  auch  in  Süditalien  das  altlateinische 
Element  eine  ziemlich  hervorragende  Rolle  spielt;  findet  man  doch  noch 
im  12.  Jahrhundert  Cecero.  Sonst  begegnen  in  Italien  zahlreiche  lango- 
bardische  Namen,  wogegen  bemerkenswerterweise  die  Westgoten  keine 
Spuren  hinterlassen  haben,  und  zwar  ist  der  Einfluß  der  Langobarden 
naturgemäß  im  Norden  und  in  Toskana  besonders  stark.  Dann  folgt  eine 
nicht  viel  schwächere  fränkische  Schicht,  der  unter  anderem  Ugo  mit 
seiner  Sippe  und  die  große  Klasse  auf  -ieri^  wie  Gualtieri  usw.,  angehören. 
In  Frankreich  sollte  man  entsprechend  im  Norden  fränkische,  im  Osten 
burgundische,  im  Süden  westgotische  Formen  antreffen.  Legt  man  aber 
als  Charakteristikum  etwa  die  Namen  auf  got.  -mers^  später  -tnirs.,  fränk. 
-mar  zugrunde,  so  macht  man  die  überraschende  Wahrnehmung,  daß  zwar 
die  lateinischen  Urkunden  des  Südens  bis  ums  Jahr  looo  -Ä^2>-Namen 
haben,  daß  aber  das  Provenzalische  nur  -mar  kennt:  Azemar  aus  fränk. 
Hademar,  nicht  aus  got.  Hapumirs  usw.  Man  sieht  also,  daß  die  Vor- 
herrschaft der  Franken  bald  so  gewaltig  wurde,  daß  sie  auf  demjenigen 
Gebiete  der  Sprache,  in  dem  am  deutlichsten  die  Machtverhältnisse  der  Völker 
zum  Ausdruck  kommen,  die  Goten  völlig  verwischte.  Ganz  anders  im  alten 
Sueben-  und  Westgotenreiche  in  Spanien;  da  wimmelt  es  nun  von  Namen, 
die  ausgesprochen  westgotische  Gestalt  zeigen,  Namen  auf  -mir.,  oder 
Namen  wie  Elvira,  das  nach  spanischen  Lautgesetzen  aus  älterem  Gelvira 
entstanden  ein  got.  Gailavera  darstellt  usw.  Entsprechend  den  historischen 
Verhältnissen  ist  ein  fränkischer  Nachschub  wie  in  Italien  nicht  zu  kon- 
statieren, doch  zeugen  vereinzelte  Namen  von  den  Beziehungen,  die  wäh- 
rend der  Völkerwanderung  und  später  zwischen  den  verschiedenen  Ger- 
manenstämmen diesseits  und  jenseits  der  Pyrenäen  bestanden  haben. 

christüche  Das  christliche  Element  zeigt  deutlich  die  christliche  Ethik  und  zeigt 

igenaamen.  g^^mmatisch  Bildungen,  die  ganz  unrömisch  sich  als  Übersetzungen  fremden 
Gutes  kennzeichnen:  Justus,  Bona^  Spes,  Gaudia  (griech.  Hedone),  Desideriusy 
Gustabilis^  Delectus ,  dann  Benedictus^  Benenatus,  Bonaßdes  sind  ihrem 
Inhalte  nach,  Adeodatus,  später  Deodaftis,  Credindeus,  Spesi7ideo,  Deusdedif 
(südfrz.  Daudet)  ihrer  Form  nach  für  einen  heidnischen  Römer  unver- 
ständlich. In  Süditalien,  wo  sich  der  Einfluß  der  griechischen  Kirche  noch 
stärker  fühlbar  macht  (S.  463),  begegnen  uns  nicht  nur  griechische 
Heiligennamen,  sondern  auch  Bildungen  wie  Grisoiohannes,  Hieraviariay 
PetronakiSy  hier  ist  Vivtcs  als  Übersetzung  von  Zosimus,  Domnus  als 
Übersetzung  von  Kyriakus  besonders  zu  Hause,  hier  begegnet  uns  wie  in 
Rumänien  die  Santa  Vener e^  worin  aber  keineswegs  eine  vorchristliche 
Venus y  sondern  die  Übersetzung  von  griech.  Paraskeue,  Namen  einer  Hei- 


VI.  Die  Namenkunde. 


467 


ligen    und    zujäfleich  Bezeichnung"   des   .sechsten   Wochentaj,(es,   spätrömi.sch 
Dies    IV/itris,  zu  .sehen  ist. 

Einzahle    dieser    christUchen    Xanien    machen    den    lundruck    von    Zu-     KrtmioacMi 
.sammensetzung^en  oder  sind  es  tatsächlich:  Jitnc-dictuSy  Christo-phorwi.  eben.so    t*'^"»*^'»^ 
verhalt    es   sich    mit   den   meisten   germanischen:    Adal-bcrt,    /ialiiuin  usw.       n.»«. 
Da    man    nun    aber    die    Bedeutung    der    beiden  Bestandteile    längst  nicht 
mehr  verstand,  so  vertauschte  man  die  beiden  Glieder  beliebig  und  bekam 
so    ein    bequemes    unil    unerschöpfliches    Mittel,    die    Zahl    der  Namen    ins 
unendliche  zu  vermehren.     So  entstehen   Christv-pirius  oder  Christo -hildii^ 
Restitutus  wird  ähnlich  zerlegt  in  zwei  Teile  und  man  bildet  Rcst-valdu<;, 
Reste -mundus\  diuS  Bene- natus,  Benc  -dictiis  baut  sich  Berte -christus  auf  usw. 

Auch  in  den  Kosenamen  zeigen  sich  die  zwei  Elemente.  Wenn  in  Kot«iaMM. 
Italien  und  Dalmatien  -uliis  das  beliebteste  Suffix  ist,  .so  wird  man  nicht 
zögern,  darin  das  lateinische  -idiis  zu  sehen:  Ug-ol-ino  ist  also  nur  in  der 
Stammsilbe  ursprünglich  germanisch;  und  wenn  der  Italiener  bei  den 
filiformen  die  betonte  Silbe  wahrt  und  alle  anderen  vemachlä-ssigt,  so 
zeigt  sich  auch  hier  die  lateinische  Betonung:  Gigi  aus  Luigiy  V^anno 
aus  Gim'anni,  Pcppc  aus  Giuseppe.  Aber  ^Ubizzi^  Benizzo  auf  Lango- 
bardengebiet zeigen  dasselbe  germanische  Suffix,  das  bei  Heinz ^  Frits, 
Kunz  usw.  noch  heute  bei  uns  gang  und  gäbe  ist  und  das  in  Benizzo  zu 
benedictus  also  auch  bei  christlichen  Xamen  auftritt.  Im  Gegensatz  zu 
den  italienischen  P'ormen  stehen  Gabro  aus  Gabriel^  Bene  aus  Benedictus 
bei  den  Romanen  im  Mittelalter  in  den  Städten  Dalmatiens,  also  mit  Fest- 
halten an  der  ersten  Silbe  nach  slawischem  Prinzip.  Wieder  anders  tritt 
in  Frankreich  Rob-in  zu  Robert^  Cat-on  zu  Catharine^  Guill-on^  Guill-ot  zu 
Guillanme ^  Did-ot  zu  Didier  {Desiderius),  d.  h.  die  erste  Silbe  bleibt, 
idles  Folgende  wird  weggeworfen  und  durch  ein  Kosesuffix  ersetzt,  also 
wieder  eine  Hervorhebung  der  ersten  Silbe,  die  nicht  romanisch,  sondern 
germanisch  ist.  Endlich  auf  der  Iberischen  Halbinsel  ist  im  Mittelalter  das 
got.  -ild  das  beliebte.ste  Kosesuffix.  So  spiegeln  sich  in  den  Xamen  die 
Völkerkreuzungen  wider,  aus  denen  die  romanischen  Nationen  ent- 
standen sind. 

Völlig  unaufgeklärt  ist  die  Entstehung  und  Entwickelung  der  Ge-  du  G«KiaKki»- 
schlechtsnamen.  Daß  sie  zunäch.st  aus  Beinamen  hervorgegangeui  sind,  ist  '^'*^ 
selbstverständlich,  aber  die  sozialen  Verhältni.sse,  die  es  mit  sich  brachten, 
daß  der  Beiname  eines  einzelnen  zum  Sippennamen  wurde,  sind  noch 
fast  nirgends  klargelegt.  .\urh  hier  be.stehen  tiefgehende  Verschieden- 
heiten. Xur  die  Iberische  Halbinsel  besitzt  ein  ausgebildetes  System  von 
Patronymiken:  Enriques  ist  zunächst  der  Sohn  eines  Knrigue,  V'elasqius 
der  eines  V'elasco  usw.;  nur  Italien  zeigt  auch  durch  die  äußere  Form,  das 
Plural -r-  Tassoni,  Alighieri^  daß  der  Geschlechtsname  mehreren  Personen 
angehört  usw.  Mehr  noch  als  die  Rufnamen  wandern  die  Ge.schlechLs- 
namen  von  Ort  zu  Ort,  und  eine  sorgfältige  .sprachliche  Untersuchung  wird 
namentlich  in  neueren  Jahrhunderten  zeigen  können,  w^ie  manche  Familien 

30* 


a68  Wilhelm  Meyer -Lübke:  Die  romanischen  Sprachen. 

da  nicht  bodenständig  sind,  wo  sie  uns  entgegentreten.  Daß  Faure  die 
südfranzösische  Form  von  nordfrz.  fevre,  lat.  faber;  daß  Loubet  das  Dimi- 
nutivum  zu  südfrz.  loitp  (Wolf)  ist,  das  im  Norden  Louvet  lautet,  sind  offen- 
kundige Belege  dafür. 

Die  italienische  VII.  Die  Entstehung    der   romanischen  Schriftsprachen.     Als 

Schriftsprache,  j^g^^te  ist  noch  die  Frage  nach  der  Entstehung  der  romanischen  Schrift- 
sprachen aufzuwerfen.  Die  Verhältnisse  sind  hier  sehr  ungleich.  Hat  in 
Italien  das  glänzende  Dichterdreigestirn  Dante,  Boccaccio,  Petrarca  durch 
die  Form  nicht  weniger  als  durch  den  Inhalt  seiner  Schöpfungen  einem 
veredelten  Toskanisch  volles  Anrecht  verschafft,  überall  da  Verwendung 
zu  finden,  wo  künstlerisch- literarisches  Schaffen  versucht,  dann  überhaupt, 
wo  schriftlicher  Verkehr  stattfinden  sollte,  so  fehlten  doch  in  dem  in  so 
und  so  viel  voneinander  unabhängige  Städte  und  Städtchen  zerfallenden 
Lande  die  Bedingungen,  fehlte  auch  das  Bedürfnis  zu  einer  Gemeinsprache. 
In  der  Tat  sehen  wir  denn  auch,  wie  ungefähr  gleichzeitig  oder  doch 
wenig  später  in  den  großen  literarischen  Zentren  der  Poebene  der  Ver- 
such gemacht  wurde,  unter  Beibehaltung  der  gemeinsamen  und  Unter- 
drückung allzu  spezifischer  Merkmale  der  einzelnen  Mundarten  eine  überall 
gleichmäßige  und  darum  überall  verstandene  Form  sprachlichen  Ausdruckes 
zu  finden.  Da  kam  mitten  hinein  die  Verlatinisierung  des  Italienischen 
durch  die  Renaissance:  die  literarisch  tonangebenden  Kreise  schrieben 
und  dichteten  Latein  in  Neapel  wie  in  Ferrara,  in  Este  wie  in  Florenz, 
in  Rom  wie  in  Bologna.  Dadurch  erst  erwachte  in  diesen  Kreisen  das 
Gefühl  für  die  Zusammengehörigkeit,  das  Bedürfnis  eines  gegenseitigen 
Verkehrs  auf  gleicher  sprachlicher  Grundlage,  so  daß,  als  die  Klleinkinder- 
krankheit  des  Latinismus  überwunden  war,  nun  eine  italienische  Schrift- 
sprache aufkam,  die  naturgemäß  nur  die  der  größten  Dichter,  also  die 
toskanische,  sein  konnte,  wie  sie  die  Trecentisten  geschaffen  hatten. 
Die  französische  Anders  in  Frankreich.    Soweit  die  südfranzösische  Troubadourdichtung 

Schriftsprache.  ^^^^  gleichmäßige  Sprache  zeigt,  weist  sie  nach  dem  Nordwesten,  wo  die 
Wiege  dieser  Dichtung  gestanden  hat.  In  Nordfrankreich  aber  bewahrt  zu- 
nächst jede  Provinz  auch  in  ihrer  literarischen  Produktion  ihren  Dialekt,  ja  man 
kann  ohne  Übertreibung  sagen,  daß  gerade  Paris  vor  den  anderen  Gegen- 
den zurücksteht.  Eine  große  Zahl  der  Epen  ist  in  der  Pikardie  entstanden, 
die  Normandie  weist  namentlich  Reimchroniken  auf,  eine  eigene  Art  der 
Lyrik  ist  wallonisch,  der  größte  Erzähler  des  Mittelalters,  Chr^tien  von 
Troyes,  schreibt  die  Mundart  der  Champagne  usw.  Wenn  nun  trotzdem  schon 
im  13.  Jahrhundert  sich  die  ersten  Spuren  davon  zeigen,  daß  einzelne 
Dichter,  den  Dialekt  ihrer  Heimat  verschmähend,  die  Sprache  von  Paris  zu 
schreiben  sich  bemühen,  wenn  die  Zahl  solcher  Dichter  im  14.  rasch  zu- 
nimmt, so  daß  man  schon  im  15.  fast  iiur  noch  das  Idiom  der  Ile  de  France, 
genauer  das  der  höheren  Pariser  Kreise  als  Schriftsprache  antrifft,  so 
hängt   dies    offenbar   ausschließlich   mit   dem  kulturellen    Übergewicht  zu- 


\'1I.  Die  Entstehung  der  romanischen  Schriftsprachen.  ^69 

sammen,  das  die  Hauptstadt  in  einem  infolge  verschiedener  Umstände  von 
früh  an  in  unj^owühnHchem  Grade  zur  ZentraHsation  ncij^enden  I^nde  ge- 
winnen konnte.  Wohl  besteht  noch  heute  zwischen  der  Pariser  Vulgär- 
sprache und  der  Redeweise  der  höheren  Stände,  die  sich  in  der  Schrift 
widerspiegelt,  eine  Verschiedenheit,  und  es  ist  anzunehmen,  daß  eine 
darauf  gerichtete  Untersuchung  doch  wohl  zeigen  würde,  daß  die  west- 
französische Herkunft  so  vieler  tonangebender  Scliriftsteller  des  i(>.  Jahr- 
hunderts auch  in  ihrem  sprachlichen  Ausdrucke  sich  gelegentlich  widerspiegelt, 
aber  es  ist  ein  Beweis  der  gewaltigen  Assimilationskraft  von  Paris,  daß 
trotzdem  auch  diese  Westfranzosen  der  Schriftsprache  einen  direkt  anderen 
Charakter  aufzudrücken  nicht  vermochten  und  es  auch  nicht  anstrebten. 

Auf  rätischem  Sprachgebiete   ist  es  zu  einer  Schriftsprache  nicht  ge-  rh«.  scknh- 
kommen.     Die    Reformation    zeitigte    in    Graubünden    ein    ziemlich  reiches    »p"^"^  •" 
Schrifttum,  das  bis  heute  weiterlebt,  sich  auch  einiger  nicht  unbedeutender    and  titol 
Dichter    rühmen    kann.     Aber   noch    heute   schreibt   der  Oberländer   ober- 
ländisch,   der  Oberengadiner  oberengadinisch,   der   Unterengadiner   unter- 
engadinisch,  und  gelegentliche  Versuche,  eine  Art  Einheit  zu  erzielen,  sind 
völlig  gescheitert:  es  fehlt  ein  politisches  oder  literarisches  oder  kulturelles 
Übergewicht    einer   Gegend    über   die   andere.     Und    der   Versuch   Altons, 
für  Welschtirol    eine    Art    Schriftsprache    zu    schaffen,    mußte    auch    daran 
scheitern,  daß  ein  Bedürfnis  danach  völlig  fehlte. 

Auf  der  Iberischen   Halbinsel   war   die   Erhebung   der  Mundart  einer  du>  scknft- 
einzelnen    Gegend    zur   Allgemeingültigkeit    um    so  leichter  möglich,   weil  /''"f'^ " 
hier    die    sprachlichen    Verschiedenheiten    besonders    kleine    sind    (S.  452).     Porta«^ 
Daß   dabei    das    politische  Zentrum   maßgebend    war,   ist  natürlich.     So  ist 
das    Kastillanische     zur    spanischen    Gemeinsprache    geworden,    so    ist    in 
Portugal  die  galizische  Hofpoesie  mit  dem  \'ordringen  der  Macht  zur  portu- 
giesischen geworden.    Die  eigentümliche  Art  und  Weise,  wie  das  Romanen- 
tum  den    verlorenen  Boden  den  Mauren  wieder  abgewann,  gestaltete  hier 
das  Problem  der  Schriftsprache  auch  wesentlich  einfacher. 

Endlich  in  Rumänien  sind  es  zunächst  auch  die  politischen  Verhältnisse,  ih«.  ramirnKb« 
die  nur  für  die  linksdanubischen  vStämme  jenen  Grad  von  Kultur  emiög-  ^<^''^»»rf»<^ 
lichten,  der  die  Verwendung  schriftlichen  Sprachaustausches  in  weiterem 
Umfange  bedingt,  und  da  ist  es  im  ganzen  die  Moldau,  deren  Fürsten 
schon  früh  ein  politisches  und  geistiges  Übergewicht  gewannen.  Auch 
hier  freilich  ist  die  P>age  eine  wenig  interessante,  da  die  Sprachverschieden- 
heiten so  unbedeutend  sind. 

Wie  innerhalb  der  einzelnen  Schriftsprachen  die  verschiedenen  Ten- 
denzen wechseln:  bald  übertriebene  Anlehnung  an  das  Lateinische,  bald 
Nachahmung  einer  der  anderen  Sprachen,  bald  übertriebener  Purismus; 
das  eine  Mal  eine  demokratische  vStrömung,  das  andere  eine  aristokratische 
—  das  sind  Dinge,  die  so  eng  mit  den  literarischen  Strönmngen  verknüpft 
sind,  daß  sie  nicht  mehr  als  Hauptaufgaben  der  Sprachgeschichte,  sondern 
als  Nebenaufgaben  der  Literaturgeschichte  zu  betrachten  sind. 


Literatur. 

Die  meisten  hier  besprochenen  Fragen  sind  eingehend  und  mit  reichen  Literaturangaben 
behandelt  in 

W.  Me\"ER  -  LÜBKE ,  Einführung  in  die  romanische  Sprachwissenschaft.     1901. 

G.  Gröber,  Grundriß  der  romanischen  Philologie  I.  Bd.  2.  Aufl.  1904. 

Die  romanische  Sprachwissenschaft  ist  begründet  worden  von 

F.  DiEZ,  Grammatik  der  romanischen  Sprachen  i.  Aufl.  1836;  3.  Aufl.  1870  —  73; 
5.  (Titel-) Aufl.  1882. 

F.  DiEZ,  Etymologisches  Wörterbuch  der  romanischen  Sprachen  i.  Aufl.  1856;  5.  Aufl. 
mit  Anhang  von  F.  Scheler  1887. 

Die  vergleichende  Grammatik  sucht  nach  dem  heutigen  Standpunkte  der  Wissenschaft 
darzustellen 

W.  Me\^R-Lübke,  Grammatik  der  romanischen  Sprachen  I  —  IV  1890  — 1902. 

Einen  ersten  Versuch,  das  lateinische  Wörterbuch  aus  den  romanischen  Sprachen  zu 
ergänzen,  macht 

G.  Gröber,  'Vulgärlateinische  Substrate  romanischer  Wörter'  im  Archiv  für  lateinische 
Lexikographie  I  —  VII. 

S.  449.  Zu  den  italienischen  Dialekten  vgl.  auch  G.  J.  ASCOLI,  L'Italia  dialettale  im 
Archivio  Glottologico  Italiano  VIII  98 — 128. 

S.  451.  M.  Bartoli,  Das  Dalmatinische  (Schriften  der  Balkankommission  Heft  IV 
und  V.    Wien  1906). 

S.  451.  ASCOLI,  Saggi  ladini  im  Arch.  Glott.  Ital.  I  und  VII. 

S.  452.  Für  die  modern  französischen  Mundarten  liefert  ein  unvergleichliches  Material  der 
monumentale  Atlas  linguistique  de  la  France  von  J.  GillierON  und  E.  Edmont. 

S.  463.  K.  Jirecek,  Das  christliche  Element  in  der  topographischen  Nomenklatur  der 
Balkanländer.  (Sitzungsberichte  der  phil.-hist.  Klasse  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in 
Wien  136.) 

Das  Manuskript  der  vorliegenden  Arbeit  ist  Anfang  November  1904  abgeliefert  und 
nicht  mehr  umgeändert  worden. 


REGISTER. 


\'on  Dr.  Richard  Böhme. 


B«i  mehrfach  angcnihrten  Namen  und  Srichworten  lind  die  HauptsteUen  dorch  einen  Stern  bezeichnet. 


A. 

Abälard.     247. 

»Abbesse  de  Jouarre«  von  Renan.     408. 
Aber>'stwith ,  Philosophische  Fakultät  in.    29. 
Absolutismus,     Kirchlicher,    staatlicher    und 

künstlerischer,  in  Frankreich.     239  ff. 
Acaddmie  Franqaisc.     232. 
■aco-  und  öj^^j- Ortsnamen.     464. 
Adam,  Juliette.     351.  352. 

—  P.     393. 

Adam,  der  Schöffe.     156.  165. 

Adamnan,  Abt  von  lona.     88.   115. 

Addison,  Thomas.     107. 

»Adelchi«  Manzonis.     338. 

Adhamar,  Guillem.     123. 

»Adolphe«  von  Constant.     326. 

».Adone«  Marinis.     194. 

»Adozinda«   von  Garrett.     347. 

Adrian  und  Ipotis.     120. 

Aed,  König  von  Leinster.     50.  81.  94. 

Aeneas,  Sage  von.     149. 

Aencis,  Irische  Prosaübersetzung  der.    80   85. 

Asop,  Walisischer.     121. 

—  in  der  französischen  Literatur.     1 53. 
Afrancesados.     285  f. 

lAglavaine  et  St^lysette«  von  Maeterlinck.  407. 

Agnes  von  Poitiers.     \^z.   154. 

Aguilera,  Ventura  Ruiz.     423. 

Aidan,  König  von  Dalriada.     115. 

Ailbe.     90. 

>Ailill  Angubas  Siechbett«.     68. 

Airbcrtach  mac  Cosse-dobräin.     qo.  92. 

>Aircs  murcianos«  Medinas.     423. 

ais  slde.     83 

Akademie,  Florentiner.     179. 

—  —  s.  auch  Crusca. 
— ,  Neapclcr      180.   182. 

— ,  Königliche  portugiesische.     283. 
— ,  Königliche  spanische.     283. 
— ,  Spanische  Meistersinger-.     :o6. 


.Man  mac  Ruaraidh.     loi. 

Alarcön,  Pedro  Antonio  de.     237.  428. 

Alas,  L.     421. 

Alba.     144. 

Albaner.     98. 

Albanesisch.     453. 

Albanien.     24.  102. 

Alberti,  Leon  Battista.     180.     181, 

Albigenser.     141.   157. 

»Albin  and  the  daughter  of  May«.     99, 

Alcahi      465. 

»Alcalde  von  Zalamea,  Der*   Calderöns,    219. 

Alcdntara.     465. 

Alcluith.     24. 

Alcuin,     89. 

Aidhelm.     6. 

Alecsandri,  Vasile.     431.  •432.  433. 

Alembert,  Jean  d'.     259. 

Aleman,  .Mateo.     210. 

Alexander  der  Große.    16.  35.  30.  02.  85.  115. 

Alexanderroman.     292. 

Alexandriner.     201.  227. 

Alfieri,  Graf  Vittorio.     •277.   281.  293.  333. 

Alfonso,  der  Sarazenenbesieger.     200.  202. 

Alfons  -\    von  Spanien,  der  Gelehrte.     201. 

Algaroti,  Graf  Francesco.     279. 

Alicnor  von  Poitiers.     149.   150.  154. 

Alix  von  Blois      150. 

AUagamhnaScnörachs.UntcrhaltungdcrAltcn. 

»Allcmag^c.  De  1'«  von  Fr.  von  Stacl.     298. 

•2"9    334 
Almham,  Burg.     102. 
Alphabet,   Lateinisches.     Seine   Annahme   m 

Rumänien      293. 
»Alphabete«,  Irische.     89. 
Altirisch.      11.  40. 

— .  Einfluß  des  Christentums  auf  das.     89. 
Altkeltisch      •3^  ff   43 
Altlateinisch,  Verhältnis  des,  zum  Romanischen. 

455- 


472 


Register. 


Alton.     469. 

>Amadis«.      151.    188.    202.    209.    210.    222. 

228. 
»Amantes  de  Teruel«  von  Haxtzenbusch.    345. 
Ambicatus.     34. 
Amicis,  Edmondo  de.     411. 
Amiel,  Henri -Frdderic.     357.  *375.  381. 
»Aminta«  Tassos.     190.  192. 
Amis  und  Amiles.     121. 
Ammianus  Marcellinus.     50.  55. 
»Ammonitori ,  Gli«  von  Cena.     415. 
».Amorosa  Visione«  Boccaccios.     177. 
>Amphitryon«  Moli^res.     244. 
Amra  Conroi  m.  Dairi.     46. 
Amyot,  Jacques.     222.  224.  232. 
Anachoret,  Der,  von  Llandewivrewi.     114. 
Anamitofranzösisch.     449. 
Ancey.     404. 

»Andacht  zum  Kreuze«  Calderöns.     220. 
Anegray.     5. 

Aneurin.     52.  114.  115.  119. 
Angeln.     12.  18.  24.  49.  52.  53.  60.  139. 
Anglonormannen.     20.  53. 
Anglesea.     47. 
Anluan.     65. 
Annalen  der  vier  Meister.     51.  86. 

—  Tigernachs.     85. 

—  von    Boyle,    Clonmacnois,    Innisfallen, 
Ulster.     86. 

Annales  de  Bretagne.     136. 

Annunzio,  Gabriele  d'.     414.  418.  419. 

a«ö- Ortsnamen.     463. 

Anthologien,  Schottisch -gähsche.     103. 

Antoine,  Direktor  des  Theätre  libre.     404. 

>Antologia«,  Florentiner.     334.  335.  339. 

»Antony«  von  Dumas.     328. 

Apollonius.     149. 

>> Apolls  Lorbeerkranz«.  Lopes'de  Vega.     216. 

»Apostelgeschichte«  von  Arnoul  Greban.    166. 

Apuleius.     150. 

Araber.     141.  142. 

Arabische  Wörter  im  romanischen  Wortschatz. 

460. 
Aragon,  Königreich  von.     142. 
Aranda.     282. 
»Araucana«  Ercillas.     206. 
Araujo.  Manoel  de.     422. 
»Arcadia«  Sannazaros.     182.  191.  209. 
Arcadia,  Akademie  der.     275.  279.  280. 
— ,  Portugiesische.     284. 

—  Ultramarina.     284. 
Archaiology,  Myvyrian.     114. 
ardfili.     57. 

Aremorica.     12.  40.   132.  139. 

Aretino,  Pietro.     188.  189.  •191.  238. 

Argenson,  Antoine  Ren^  de  Voyer-.     259. 

Argyll.     19. 

— ,  Gräfin  Isabel  von.     99. 


Ariosto,  Lodovico.     183.   189.  192.  198.  206. 
210.  211.  215.  220.  229.  248. 

Aristoteles.  187.  189.  193.  196.  197.  235.  276. 

»Arl^sienne«  Daudets.     403. 

Armagh,  Buch  von.     79. 

— ,  Kloster.     4. 

»Arnaldo  da  Brescia«  Niccolinis.     340, 

Arnault.     287. 

Arnold,  Matthew.     77. 

Aromunisch.     453. 

arrajie.     1 1  o. 

Arras.     156.  165. 

Arrianus.     35. 

»Art  poätique«  Boileaus.     241. 

Verlaines.     377. 

Arte  mayor.     200. 

»Arte  nueva«  Lopes  de  Vega.     216. 

Arthur,  Fürst.     115, 

Arthursage.     *I2.    45.    46.    60.    63.  85.   117. 
118.  119.  150. 

»Arthurs  Eberjagd«.     59.  62. 

Artikel  in  den   romanischen  Sprachen.     450. 

Ascoli,  Graziadio  Isaia.     336. 

Astronomie,  Altirische.     92. 

»Ateneo«  von  Madrid.     344. 

Athenaeus.     50. 

Aubanel,  Theodore.     379.  381. 

Auber,  Daniel  Frangois  Esprit.     303. 

Aubignac,  Abbe  d'.     237. 

Aucassin  und  Nicolette.     149. 

Auferstehungsspiel,  Erstes  französisches.  164. 

Aufklärung  in  Frankreich.     252  fif. 

Augier,  Emile.     *40o.  406.  417.  424. 

Augtista   und   Zusammensetzungen    als  Orts- 
namen.    463. 

Augustinus.     139.  175.  230. 

Augustinus'  Sohloquia.     80. 

Augustus.  17. 

Auto.     213.  214. 

—  sacramental      285. 

/>Autre  danger,  L'«  von  Donnay.     330, 

Auvergne,  Peire  von.     155. 

»Avare«  Moheres.     244. 

»Avaries,  Les«  von  Brieux.     406. 

»Avenir  de  la  science«  von  Renan.  307.  351. 
358. 

»Aventuri^re,  L'«  Augiers.     401. 

»Aveugles,  Les«  von  Maeterlinck.     407. 

Avicenna.     92. 

Avignon.     161. 

Ayala,  Lopez  de.     201,  424. 

Azegho,  Massimo  Taparelli  Marchese  d'.  339. 

Azevedo.     207. 

»Aziyad^«  von  Loti.     397. 


Bacon,  Francis. 
Baif.     226. 


256. 


Register. 


473 


liaile  in  Siili/.     87. 

IJalkanlialbinscl,  Bevölkerung  der.     139. 

Balladen,  Bretonische.     lJ4f. 

— ,  Französische.     100. 

— ,  Irische.     63.  8a. 

— ,  Mannische,     m. 

— ,  Ossiantsche.     •lui.   108.    m. 

— ,  Schottische  Volks-,     luo. 

Ballata.     168.   169    182. 

Ballett       24  5- 

lialiac,  Honorö  de.     232.   234.  307.  314    321. 

•3^-  336.  382   384-  387-  393.  yn-  4^0- 
4:6. 

Bangor,  Kloster.     4.  5. 

— ,  Philosophische  F"akultät  in.     29. 

Banville,  Th<fodore  de.     315.  •370.  377- 

Barante,  Frosper.     302. 

Barbara,  Mysterium  der  heiligen.     133. 

Barbaren.     13g.   140. 

Barbier,  Henry.     '320.  423. 

> Barbier  von  Sevilla«  Beaumarchais'.     270. 

Barbour.     41. 

Barcelona,  Grafschaft  von.      142. 

bard  tculu.     51. 

—  kade)Tyauc.     51.  52.   54. 

Barden.     33.    46.    47.    '49.    58.    59.    60.  80. 

93    ''8    9f> 
— ,  Schottische.     103  ft 
— ,  Walisische.     114.   115.  'iig.   121. 
Bardenliteratur,  Gälische.     26.  81.  94. 
»Bardcnschule,  Die«.     54. 
Baretti,  Giuseppe  Marc.  Ant.     •  280.  284. 
Barlaam  und  Josaphat.     2(>2. 
»Barraca,  La«  von  Ib.ifiez.     429. 
Barrili,  Antonio  Giulio.     415. 
Barrow.     uo. 
Bartholomäusnacht      229. 
Ban.     55 

Basarabescu.     432. 
Basilius.     4. 

Batteux,  Charles  Lc.     255. 
Bauilflaire.  Charles.     319    357    '373    408. 
Baudouin  de  Guincs.     144. 
Baxter,  Richard.     109. 
Bayle,  Pierre      250.  252.  283. 
Bazard,  Saint  Amand.     300. 
HasoUikes.     404. 
Beatnce  Dantes.     171.   172.   173. 
Beatrix  von  Burgund.     130    152.  i 

Beaumarchais,!*  Aug  Caron  de.  269.  •270,  285.   [ 
Bcccaria,  Ccsare  Marches«  di  Ik)nesana.     274. 
Becker,  Nikolaus.     304. 
Bocket.  Thomas.     131. 
Becquc,   Henri.     '403    406. 
Ikfcquer,  Guslavo  Adolfo.     422. 
Beda      44    ^o.  hv   ii^. 

Beethoven,  Ludwig  van.     310.  I 

»Belgique,  La  jeune«.     379. 


»Belle  dame  sans  mcrci«.     161. 

»Belle  Hdlöne«  von  Oflenbach      400. 

Bdleau.     227. 

Belli,  Giuseppe  Gioachino.     342    450. 

»bellum  .Miathorum«.     115. 

Bembo,  Pietro.     •  186.   18».   191. 

Benavente,  J.     218.  280.  426. 

Benott  aus  der  Touraine.     149.   151 

Benseradc.     400. 

Bcowulf.     63. 

Bdrangcr,  Pierre  Jean  de.    301.  308.  '^is. 

Bcrchct,  Giovanni      332.  •334. 

♦  Bercnicc«   Racines.     242. 

Bergamum.     403. 

Bergerac  s.  Cyrano  de  B. 

Bemard,  Claude.     352. 

Bemardo  del  Carpio.     2l»o.  206. 

Bemart  von  \'cntadour.     154.   155.   156. 

Bemi,  Francesco.     191.  235. 

Bernicia.     24. 

Bersezio,  V'ittorio.     416. 

Berthclot,  Marcellin  Pierre  Eugöne.     353. 

Bertöla.     281. 

Bertolazzi,  Carlo.     4x6. 

Bertrand  de  Bar.     147. 

Beuno,  Leben  des.     120. 

Beyle,  Henri  (Stendhal).    298.  302.  321.  •326. 

349.  356.  3«»5- 
Bibel,  Kymrische.     •29.  42.   128. 
Bibelübersetzung,  Bretonische.     130. 
— ,  Irisch  gälische.     40. 
— ,  Manx  •  gälische.     41.   110. 
— ,  Schottisch  gälische.     109. 
Bibelkommentarc,  Irische.     89. 
»Bicnfaitcurs,  Les«  von  Brieux.     406. 
»Birlinn  Clainn  Ranald«    Macdonalds.     106. 
Bituitus,  König  der  Arvcmer.     30. 
Bleddin  ab  Cynv>'n.      110. 
Bledhericus  F"abulator.     ^9. 
Bobbio,  Kloster.     6. 
— ,  Klosterbibliothek  vdd       j     10. 
Bobo.     213.  217. 
Boccaccio,  Giovanni.   1-3.  i.K>i.  172.  174.  175. 

•  176.    178.    179.   180.   182.   184.   186    188. 
348.  4Ü8. 

Boccalini.     i<>7. 

Bodel,  Jean.     •156.   165. 

Bodin,  Jean.     224. 

Bodmer,  Johann  Jakob.     2^4.   35t).   176. 

Bohl    de  Faber,  Johann  Nicolaus      343.  344 

427- 
Börne,  Ludwig.     304. 
Boethius.     80.   171. 
Boileau.  Nicolas.    230.    in     *24i-  243     >4<>- 

248.   350    2$t.  267.  276.  28$    187.  397.  3t3. 

313    344    383 
Bojardo,    Mateo  Man»    Graf  von  Scandiano. 

*  183.    184.    3IO.    311. 


474 


Register. 


Bolintineanu ,  Dimitrie.     432. 

Bologna.     170. 

»Bom-senso  e  bom-gosto«.     421. 

Bonifatius      7. 

Bonifaz  VIII.,  Papst.     171.  172. 

Bononia.     462. 

Borgia,  Cesare.     185. 

— ,  Lucrezia.     184.  186. 

Born,  Bertran  von.     155. 

Bomeil,  Giraut  von.     155. 

Börotna.     86. 

Boscän,  Juan.     204. 

»Bosporusblumen«  von  Bolintineanu.     433. 

Bossuet,  Jean-Benigne.     172.  *  239.  242.  250. 

257.  284.  304.  3Ü1.  383, 
Bosworth,  Schlacht  bei.     53. 
Boucher,  Frangois.     252. 
Bouchor,  Maurice.     409. 
Boudica.     47.  52. 
Bouhours,  Dominique.     251. 
»Boule  de  suif«  Maupassants.     390. 
Bourdaloue,  Louis.     240. 
-bourg  in  Ortsnamen.     464. 
»Bourgeois  gentilhomme«  Moliferes.     244. 
Bourget,    Paul.     353.    *  357.    393-  *  395-  398. 

399-  414- 
Boursault,  Edme.     245. 
Bovon  de  Hanstone.     63.  85.  121.  147. 
Bracco,  Roberto.     417. 
Braga,  Th.     420.  422. 
Brans  Meerfahrt.     95. 

Branvven,  Tochter  des  Llyr.     62.  117.   118. 
»Brasilianas<^^  von  Porto  Alegre.     348. 
Brasihen,  Literatur  von.     284.  348. 
brawdivr.     58. 
Bregenz.     5. 
Brehon  Laws.     87. 
Breitinger,  Johann  Jacob.     276. 
Breiz.     13.  19.  134. 
Brendans  Meerfahrt.     90. 
Brennus.     17. 
Bretagne.    3.  12.  19.  *30.  40.  42.  45.  47.  54. 

55.  60.  64.  70.  *I32.  448. 
Breton  de  los  Herreros,  Manuel.    *  346.  400. 
Bretonen.     *ii.     19.    31.    33.   34.   40.  70.  71. 

72- 
Bretonisch.     31.  41.  42.  132. 
— ,  Dialekte  des.     42. 
brezoneka.     19.  40 
Brian  von  Boroma.     86. 
Brief  in  der  französischen  Literatur.     234. 
»Briefe,  Die  gelehrten«  Feijoos.     283. 
Brieuc,  St ,  Diözese.     31.  134.  448. 
Brieux,  Eugfene.     406. 
briga.     36. 
Brighella.     190. 
Brigitta,  Die  heilige.     91. 
»Brises  d'Orient«  von  Bolintineanu.     432. 


Britannien,    Briten.     3.  4.  12.  17.  18.  24.  28. 

30.  43.  47-   52.  58.  60.  86.  139.  141.  448. 
brithetn.     57.  87.  88. 
Brizeux,  Auguste.     136.  320. 
Bruneti^re,  Ferdinand.     353.   *36i.  365.  368. 

370.  384.  389.  439. 
Brunetto  Latini  s.  Latini. 
Bruno,  Giordano.     196. 
Brut,  Roman  de.     63. 

—  (Historia  Bruti).     120. 

—  Tysilio.     120. 

Buch   des   Anachoreten    von    Llandewivrewi. 
114. 

—  Aneurins.     114. 

— ,  Das  schwarze,  von  Carmarthen.    114.  115. 

— ,  — ,  von  Chirk.     116. 

— ,  Das  rote,    von    Hergest.     114.    117.    121. 

125. 

—  der  bunten  Kuh.     82. 

—  von  Leinster.     82. 

— ,  Rotes  und  Schwarzes,  der  Macvurichs.  98. 

» —  der  Rechte«,  Irisches.     88. 

— ,  Das  weiße,  des  Rhydderch.     114.  117. 

—  Taliessins.     114. 

» —  des  Teilo<'''.     120. 

Buchanan,  Dugald.     109. 

Buckle,  Thomas.     354. 

Büchner,  Ludwig.     352. 

Bürger,    Gottfried   August.      100.    300.    303. 

334-  339. 
BufFon,     George-Louis    Leclerc    comte      de. 

259. 
Buhez  mabden.     133. 
Bulgarisch.     453. 
Buloz,  Frangois.     311. 
Bunyan,  John.     109. 
Burckhardt,  Jakob.     329. 
»Burgraves«  von  V.  Hugo.     329. 
Burgunder.     141. 
Burke.     21. 

Burleske,  Italienische.     191. 
Butti,  Enrico  Annibale.      417. 
Byron,  Lord  George  Gordon  Noel.    266.  298. 

300.  302.  315.  316.  319.  335-  339.  341-  347- 

348. 
Byzanz.     17.   142.   149. 

c. 

Caballero,  Fernan.     *427.  429.  430. 

Cabestaing,  Guillem  von.     155. 

Cadalso,  Don  Jos^  de.     283.  287. 

Cadec,  J.     133. 

Caderas,  Gian  Frederic.     434. 

Cadiou.     55. 

Cadwaladr.     53. 

Cadwallon.     52. 

Caesar,  C.  lulius.     17.  46.  47.  52.  58.  84.  92. 


Register. 


475 


)Cäsar€  Scudtfrys.     23-;. 
tCaJfhi.     275. 
Cailte.     102. 
Qün  Adamnain.     88. 

—  Domnai^.     88. 

»^  ira<  (franz.  Volkslied).     271. 

—  Carduccis.     411. 
Calas,  Jean.     256. 

Calderon  de  la  Barca,  Don  Pedro.    •219,  284. 

a«5    343-  34(>-  4-0. 
— ,  Don  Serafin  Estöbanez  (El  Solttario).    346. 
Caled\'Avlch,  Arthurs  Schwert.     118. 
Calcpio.     270. 
Calisto  und  Melibea.     214. 
»Calomnic,  La«>  von  Scribe.     331. 
Calum-Cillc  s.  Columba 
Calvin,  Johannes.     98.  *  222. 

>  Camaraderie ,  La»  von  Scribe.     33t. 
Cameron,  AI.     loi. 

Camlan,  Schlacht  von.     115. 

Camöcs,  Luis  de.     204,  •  200.  207. 

»Camöes«  von  Garrett.     347. 

Campbell,  J.  K.     101.  108. 

Campoamor,  Don  Ramon  de.     422  f. 

Campomanes,  Pedro  Rodriguez  Graf  von.   282. 

Cancioneiros,  Portugiesische.     202.  203. 

>Cancionero  general«'.     202. 

Canova,  Antonio.     281. 

Cantar  de  gesta.     200  f. 

Cantü,  Cesare.     410. 

>Canzoni«   Leopardis.     341. 

>Canzoniere*  Petrarcas.     174    *i70. 

Caoch  O'Cluain.     101. 

Caporali,  Cesare.     191.  235. 

Capponi,  Gino.     339. 

»Caprices  de  Marianne*    von  A.  de  Musset. 

Ml 
Caracalla      138. 

>  Caractt^res  *  La  Bruy^res.     240. 
Caradog  von  Llangarvan.     120. 
Caragiale,  loan  Luca.     432.  434. 
Caratnia      88. 

Cardiff,  Philosophische  Fakultät  in.     29. 

— ,  Nationalfest  in.     71. 

Carducci,  Giosuö.     334.  •411.  414.  410. 

Carew,  R.     131. 

Caritco  (Ucnedetto  GarethV     182. 

Carlisle.     24. 

»Carlos  II.«  von  Zriratc.     346. 

Carlylc,  Thomas.     2^4.  354.  370. 

»Carmagnola,  Der  (iraf«  Manzonis.     338. 

»Carmen«   M(5rimccs.     323. 

Carmichael,  AI.     icS. 

Camarvon.  Nationalfcst  in.     71. 

Carols  in  Manx.     iio. 

Carpre,  Sohn  Cormacs  mar  Airt.     u} 

Carswell,  John.     98.  loi. 

Cartigny,  Jean  de.     i  ?- 


Castclar,  Emilio.     4  21. 

Castclnuovo,  Enricu.     415. 

Castelvetro      187. 

»Castelvines   y   Montescs«    Lopes    de   Vega. 

217. 
Castiglione,  Graf  Haldassare.   •  180.  2«j8    226. 
Castillcjo,  Cristobal  dcl      204. 
Castro,  (»uillen  de.     •2i<).   220. 

♦  Catedral,  1-a«  von  IbAnez.     429. 
Caterina  da  Sicna.     208. 

Cathal  C)c  mac  Magnusa      86. 

Catharina,    Vita   der    heiligen       120   (walis ). 

133  (breton.). 
Cathbad.     68.  84. 

Catholicon  des  Jehan  Lagadcuc.     i  ^3. 
Catoc,  Der  weise.     127. 
Catos  Distichen.     115. 
Catraeth.     115. 
CatuUus,  C.  Valerius.     183. 
»Cavalier  d'industria«  von  Martini.     417. 
»Cavalleria  rusticana«  Vergas.     416. 
Cavallotti,  Feiice      4n- 
Cavour,  Graf  Camillo  Benso  di.     410. 
C^ard.     404. 

» Celestina  <if  von  Rojas.     214. 
Cellachän  von  Cashel.     86. 
Cellini,  Benvenuto.     186. 
Celtic  Magazine.     100. 
Cena,  G.     41 > 

Cerball,  König  von  Leinster.     94. 
Cermna      88. 
Cervantes,   Miguel  de.     202.  205.  •  210.  235. 

=83.  437- 
Cesarotti,  Melchiorre.     281    287.  336. 
Cet  mac  Matach.     65. 
Chamfort,  Nicolas  Sebastien.     271. 
•»Champion  des  dames»  von  Martin  le  Franc. 

161. 
Champsaur      .>7v 

»Chandelier«   von  A.  de  Musset.     331. 
Chanson.     144. 
—  de  geste.     'mS-   151.   100. 
Chansons  d"histoire.     143. 

♦  —  des  rues  et  des  bois«  V.  Hugos.     317. 
>Chant  du  d<5part«  von  J.  Ch^nier  und  M^hul 

271. 
Chapelain,  Jean.     232.  2^0. 
Chardin,  Jean  Simdon.     264. 
»Charlotte  Corday*  Ponsards.     329. 
Charron,  Pierre.     225. 
Chartier,  Alain.     •loi.   i<«2    439. 
»Chartreuse.  La.  de  Parme«  Stendhals.  326. 
Chateaubriand.    Fran^ois  Ken^    vicomte    de. 

266.    •200.    300.    301.    308.   312.    315.    316. 

.^13    .U7    344-  349.  3<»l- 
CMtitfaudun.     464. 
ChÄtcIame  von  Vcrgy.     149 
»rhAtiments«  V   Hugos.     317. 


476 


Register. 


»Chatterton«  von  A.  de  Viguy.     328. 
Chaucer,  Geoflfrey.     177. 
ChenedoUe,  Charles  Lioult  de.     299.  302, 
Chenier,    Andre.      265.    312.    316.    319.   333. 

371.  372. 
— ,  Joseph.     271. 
Cherbuhez,  Victor.     393. 
ehester.     18. 

Chiabrera,  Gabriello.     195.   197. 
»Chouans,  Les«  von  Balzac.     325. 
Chrestien  von  Troyes.    15.  60.  63.  117.  *i50. 

156.  159.  468. 
Christentum,  seine  Einführung  in  Irland.     4. 

49.  88. 
— ,   sein  Einfluß    auf  Orts-,    bzw.  Personen- 
namen.    463.  466. 
Christian,  Th.     iii. 
Christine  von  Pisan.     161.  162. 
Chroniken,  Rumänische.     292. 
— ,  Spanische.     201. 
»Chronique  du  r^gne  de  Charles  IX.«    Meri- 

mees.     322. 
Chrotta  Britannica.     50. 
Cicero,  M.  TuUius.    10.  80.  175.  178.  186.  193. 
Cid   Campeador.      201.    204.    219,    220.    236. 
— ,  Erster  Druck  des  Cantar  vom.     283. 
Cimabue,  Ceanni.     170. 
Cimbäed  von  Ulster.     85. 
»Cinna«  Comeilles.     236. 
»Cinq-Mars«  von  A.  de  Vigny.     322.  328. 
»Cite  antique,  La«  von  Fustel  de  Coulanges. 

♦367.  368. 
»Cittä  morta«  d'Annunzios.     418. 
Civitas  Dei.     140.  141. 
claidheamh  Soluis,  An.     34. 
Clanverfassung,  Schottische.     103.  105. 
Clarin  =  L.  Alas. 
Clark.     102. 
Claudius,  Kaiser.     47. 
— ,  Bischof  von  Turin.     4.  7, 
Clavijo,  Jose.     285. 
Clemens  der  Ire.     *6.  11. 
»Clemenza  di  Tito«  Metastasios.     277. 
Cleomades.     149. 
der,  clerddyn,  clerwr.     52. 
Clonmacnois,  Kloster.     4.  85. 
Clontarf,  Schlacht  von.     86.  94. 
Codex  Demetianus,  Gwentianus,  Venedotianus. 

116. 
Coelbren  y  beirdd.     125. 
Coimbra.     464. 
Coimbra,  Schule  von.     421. 
Coinneach  Odhar.     108. 
Colgu  von  Clonmacnois.     89. 
Cohnde,  Rumänische.     291. 
College  de  France.     221. 
CoUetet.     233. 
Colman.     6. 


»Colomba«  M^rimdes.     323. 

Colonna,  Vittoria.     188. 

Columba,  Der  heilige.     91.  108.   116. 

Columban.     5.  6.  11.  19. 

»Come  le  foghe«  Giacosas.     417. 

Comedia,  Spanische      *2i6.  220.  285. 

»Comedie  humaine«  von  Balzac.     325  f. 

»Comedie  nouvelle«.     406. 

Comgall.     90. 

Commedia  dell'arte.     190.  228.  278. 

» —  divina«  Dantes.    171,  *I72.  187. 

Commines,  Philippe  de.     161. 

Compagni,  Dino.     170. 

Companhia  von  Toulouse.     157. 

Comte,  Auguste.     *3o6.  351.  369. 

Conall  Cernach.     65.  69.  84. 

Conan.     102. 

Conceptismo.     205.  208.  422. 

Conchobar.     35.  65.  68.  84.  loi.  118. 

»Concihatore«.     334. 

Condorcet,  Nicolas  Caritat,  marquis  de.    253. 

271.  353. 
»  Confessions  «  Rousseaus.     261. 
Confluentes.     463. 

Confr^rie  de  la  Passion,  Pariser.     165. 
»Conjuracion  de  Venecia«  von  Martfnez.    345. 
Conn  der  Hundertschlachtige.     87. 
Connacht.     84. 
Connaught.     20. 
Connradh  na  Gaedhilge.     23. 
Constant,  Benjamin.     326. 
Constanza  von  Aragonien.     169. 
»Consuelo«  von  Ayala.     424. 
»Contemplations«  V.  Hugos.     317. 
» Contemporains ,    Les«    von   Lemaitre.     364. 
Contes  ddvots.     151. 

—  de  Fees.     248. 
Conti,     276. 

»Contrat  social«  Rousseaus.     261.     262. 
»Convivio«  Dantes.     171. 
»Convorbiri  literare«.     433. 
Coppde,  Frangois.     315. 
»Corbaccio«  Boccaccios      177. 
»Corbeaux«  von  H.  Becque.     403. 
»Corinne«  von  Fr.  von  Stael.     298. 
Cormac  mac  Airt.  84.  93.   102. 

—  —  Cuilennäin.     91.  92. 
— ,  Lexikograph.     104 

Corneille,   Pierre.     219.  220.    *236.  237.  241. 

242.  243.  278.   329.  354. 
Comouaille,  Diözese.     448. 
— ,  Literaturdialekt  von.     42. 
Comwall.     12    19.  *3o.  40.  45.  47.  *i3r. 
Cort^s,  Donoso.     419. 

»Cortigiano«    Castighones.     *  186.    208.    226. 
Cosbuc,  G.     431.  »434.  435. 
Cossa,  Pietro.     417. 
Courbet,  Gustave.     382.  387. 


Register. 


477 


Courier,  Paul  Louis.     •305.  343. 

»Course  du  flambeau«  von  Hervieu.     406. 

Courteline.     405. 

Cousin,  Victor.     303.  •306    313. 

»Crainquebillc«   von  A.  France.     405. 

»Creacion  del  Mundo*   Azevedos.     207. 

Crescimbcni,  Giovanni  Mario  de.     275. 

Crespi.     410. 

>Critique  scientifique«  Hennequins.     356. 

Croce,  Bencdetto.     410. 

Cromwell,  Oliver.     20.  32.  159. 

»_«  von  V.  Hugo.     ,-,ii.  312.  313.  335. 

»Crönica  general«-  Alfons'  X.     201.  202.  204. 

Crusca,  Akademie   der.     187.    194.  275.  281. 

334    33^^- 
Cruz,  Juan  de  la.     207. 
— ,  Ramön  de  la.     *  286.  287. 
Cuairtear  nan  gleann.     109. 
Cuchulinn.     69.  84.  93.  lOi.  118. 
Cuchulinnsage.     4-;.    46.    62.   63.    64.   60.   68. 

73-  84 
Cueva,  Juan  de  la.     215. 
Culloden,  Schlacht  bei.     26.  104.  105. 
Culteranismo.     '205    207.  233. 
Cumberland      45. 
Cunedda,  Fürst.     115. 
Curel,  Fran^ois  de.     406.  *407. 
Ciiröi  mac  üdire.     46.  115. 
Cuvier,  Georges.     306. 
cyfarwyd.     60 
Cynddelw.     ♦119.  123. 
Cynfeirdd.     52. 
Cynwal,  William.     124. 
Cyrano  de  Bergerac.     230.  234. 
»CyranodeBergerac*^  von  Rostand.  •408.426. 
Cyvnerth.     iid. 
Cyvrinach  beirdd  ynys  Prydain.     125. 


D. 

Dacien.     138.  139.  448. 

Dänen.     20.   118. 

Dafydd  Llwyd.     53. 

Dakorumänisch.     453. 

Dali,  Ailean.     107. 

Dallän  mac  Möre.     94. 

Dalmatien,  Sprachverschicbungen  in.     448. 

Dalmatinisch      451. 

>Dame  aux  cam^lias«  Dumas'.     401. 

>Dhna  Oiscin«.   •  loo. 

Dancourt  fp'lorent  Carton).     245. 

Daniel,  Arn.iut.     155. 

>  Daniele  Cortis«  von  F'ogazzaro.     415 

Dante  Alighieri.     118.  127.  156.  159.  162.  i68. 

169.   •171.    177.    178.    181.    184.    187.    194. 

198.  203.  223.  232.  253.  256.  263.  279.  280. 

»98.  332   333    n^   343-  418.  437.  439.  468. 
Dares  Phrygius.     67.  120. 


Darwin,  Charles.      ^:;i.  361.  362.  368. 

Daudet,  Alphonse.     '394.  399.  403. 

Daurat.     226.   227. 

David,  Leben  des  heiligen.     120. 

— ,  Jacques  Louis.     264. 

Davies,  John.     128. 

— ,  R.     128. 

Davydd  Bcnvras.     119. 

—  Ddu.     125. 

—  ab  Edmund.     \i\.  125. 
— ,  Edward.     I2S- 

—  ab  Gwilym.     121  f. 

—  Nanmor.     124. 
Dazien  s.  Dacien, 

Dean's  Book.     *99.  101.   108. 

D^cadents.     374.  375. 

*Decameron«;  Boccaccios.     177  f. 

Deer,  Kloster.     98. 

»Defense  et  illustration  de  la  langue  fran- 
9aise«.     226. 

Degerando.     299. 

Deirdre.     98.  loi.  118. 

Delacroix,  Ferdinand-Victor-Eug^ne.     303. 

Deledda,  Grazia.     415. 

Delille,  Jacques.     265.     279. 

Delphi.     17 

»Delphine«  von  Fr.  von  Stael.     298. 

»Demi-monde,  Le«  von  Dumas.     402. 

»Demoiselles,  Les,  de  St.-Cyr«  Dumas'.    327 

Densusianu,  O.     433. 

Depping.     343. 

Dertgira  nauscha.     290. 

Desbordes-Valmore,  Marceline.     320. 

Descartes,   Ren^.     196.   •230.    233.  250.  252. 

Deschamps,  Emile.     320. 

— ,  Eustache.     160. 

Desmarais.     285. 

Dessi.  Geschichte  des  Clans  der.     86. 

*Desteaptä-te,  Romlne!«  von  Murejianu. 
430. 

Destouches,  Philippe  Nericault.     245.  268. 

Deus,  Joao  de.     421. 

Deutsche  Literatur,  ihr  Einfluß  auf  die  fran- 
zösische.    264.  303  f.  368. 

— ,  —  auf  Italien.     281. 

»Deutschland,  über«  s.  »AUemagne.  De  1  • 

* — ,  Das  junge«.     304. 

Devonshire.     19.  30. 

Dialektdichtung,  Italienische,  im  10.  Jahr 
hundert.     342.  410. 

Dialekte  des  Altkcltischcn.     39 

—  des  Inselkehischen.     42. 

—  Frankreichs.     4>a. 

—  der  iberischen  Halbinsel.     4f>2. 
»Dialoge  de  la  lengua«    von  J.   de   Vald^s 

207. 
»Diana,  Die  sieben  Bücher  von  der«  Monte- 
mayors.     *  209.  228. 


478 


Register. 


Diancecht      80. 

»Diario   de  los  Literatos  de  Espana«.     283. 

Dichten,  Das  dunkle.     155. 

Dickens,  Charles.     356.  369.  395. 

Dictys  Cretensis.     67. 

Dicuil,  der  Ire.     7.  89. 

Diderot,    Denis.     252.   254.   255.    *258.    259. 

264.  2ü6.  269.  278.  285.  352. 
Dido.     229. 
»  —  «  Scuderys.     236. 
Dierx,  Leon.     373. 
Diez,  Friedrich.     447. 
Dind-senchas.     83. 
Diniz,  Julio.     428. 

—  von  Portugal.     202. 
Dinoot.     44. 

Diodor.     50.  55. 

Dionysius  Areopagita.     8. 

Dioscorides      92. 

»Diritti  deiranima<';  Giacosas.     417. 

»Disciple,  Le<''  von  Bourget.     396. 

Disciplina  clericalis.     200. 

»Discorsi«  Tassos.     193.  194. 

»Discours  de  combat«  Bruneti^res.     362. 

»Dix  ans  de  la  vie  d'une  femme«  von  Scribe. 

33  I; 

Doctrinal  ar  Christienian.     133. 

Doinä,  Rumänisches.     291. 

Dol,  Diözese.     31.  448. 

»Doloras«  Campoamors.     422. 

Domhnall  Gorm.     104. 

^) Dominique«  von  Fromentin.     393. 

Demnach  Mör  5  Dälaig.     91. 

Domnall  mac  Muirchertaig.     57. 

>Don  Alvaro«  von  Saavedra.     345. 

Donati,  Gemma.     171. 

Donaukelten,    Bündnis    der,    mit    Alexander 

dem  Großen.     35. 
Don  Juan.     219. 

»Don  Juan  Tenorio«  ZorriUas.     349. 
»Donna  Branca«  von  Garrett.     347.  349. 
»Donna  gentile  e  pietosa«.     172. 
»Dona  Perfecta«  von  Galdös.     426. 
Donnay,  Maurice.     330.  *  406. 
Donn  Christian,  William.     11 1. 
Donnchadh  Bän  nan  öran.     106. 
/>Don  Quijote«'.     151    235. 

—  Cervantes'.     210.  *2ii.  228. 
Doon  de  Mayence.     147. 
Dosparth  Caervyrddin.     125. 

—  Edeym.     125. 

—  Morgan  wg.     125. 
Dostojewski,  Fedor.     369.  394.  414. 
»Drama  nuevo«  von  Tamayo  y  Baus.     424. 
drame  symbolique.     407. 

»Drames  philosophiques«  von  Renan.     408. 
»Dreispitz«  Alarcöns.     428. 
Drucke,  Schottisch -gälische.     103. 


Druiden.     35.  46.  *47.   58.  83. 

»Duanaire  Fhinn«.     loi. 

Dubartas,   Guillaume  de  Salluste.     193.   207. 

228. 
Du  Bellay,  Joachim.  226.  227    251.  264.  372, 
Dublin.     24.  34.  71.  72.  86. 
Dubos.     255. 

Dulaurens  de  la  Barre.     136. 
Dumas    Fils,    Alexandre.      330.    *4oo.    417. 

424. 
Dumas  P^re,    Alexandre.      247.    *323.    *327. 

345-  349-  370. 
Duncan  Macrae  von  Inverinate.     103. 
Dungal.     4.  *7.  9. 
Dunlethglaisse,  Gehölz  von.     5. 
dünon      36. 
Dupont,  Pierre.     320. 
Durän,  Agustin.     343.  344. 
Dyvnwal  ab  Moelmud.     116. 


E. 

Eadmund  von  England.     24. 

Ebel,  Hermann.     74. 

Echegaray,  Jose.     425. 

Echtra.     83. 

»Economie  politique«  Montchr^tiens.     225. 

»Ecole  du  bon-sens«.     330. 

Edeyrn  der  Goldzungige.     125. 

Eduard  I.     116. 

Eduard  III.     124. 

»Education  sentimentale«  von  Flaubert.  383, 

Edwards,  Thomas.     126. 

»Eglise  scientifique«.     353. 

egnat.     58 

Eid,  Keltischer.     35.  36. 

Eide,  Französische,  der  Söhne  Ludwigs  des 
Frommen.     142. 

Eigennamen  s.  Personennamen. 

Einheiten,  Streit  um  die,  auf  der  französischen 
Bühne.     235.     249 

Einsiedlerlieder,  Irische.     92. 

Einzelepisoden  der  keltischen  Prosaerzäh- 
lungen.    65. 

Eisteddfod.     53.  71. 

»Eisteddvod  dadeni«.     121. 

Ekkehart  von  St.  Gallen.     9. 

Eklektizismus.     *3o6.  356. 

»Elegie  der  Aigennach«  Macdonalds.     105. 

Elegien  der  schottischen  Barden.     104. 

Elidr  Sais.     119. 

Eliot,  George.     324.  369. 

Elisabeth  von  England.     20.   29.   51.    53.  87. 

»EUiant,  Pest  von«.     135. 

»Eloquentia,  De  vulgari«  Dantes.    172.   187. 

Emain  Macha.     84. 

»Emaux  et  Camees«  von  Th  Gautier.     320. 

»Emile«  Rousseaus.     201.  262. 


Register. 


479 


Eminescu,  Michail.     431.  *43J. 

Empis,  Adolphe.     330. 

»Empreintc,  L'«  von  Estauni^.     397. 

Encina,  Juan  de  la.     213.  214. 

»Encyclopcdie«  Diderots.     258.  *259. 

Enfantin,  Prosper.     306. 

England      142.   147.  159. 

— ,  Einfluß  von,  auf  die  französische  Literatur. 

— ,  Eindringen   der  romanischen  Sprache  in. 

449 
Ennius,  Louis.     134. 

»Ensayo  sobre  el  catolicismo  *  Cortds'.    419. 
Entremeses.     214. 
Enzo  der  Hohenstaufe.     169. 
Eo  oder  Hi,  Insel.     19.  25.  108. 
Epik,  Altirische.     82  ff. 
— ,  Französische.     228.  246.  265. 
— ,  Italienische.     172.  182.  183.  188.  192.  194. 
— ,  Keltische      61  ff. 
— ,  Spanische.     204.  206. 
Epikur.     179. 
>Episodios  nacionales«  von  Galdos.     426. 

♦  Epoque,  Une«  von  Margueritte.     393. 
Erbauungsschriften,  Altirische.     80. 
Ercilla,  Alonso  de.     206. 

Ercole  I.  von  Este.     183. 

Erec      13. 

»Ermitage,  L'«.     370.  378. 

■»Erse«.     40. 

.>Eruditos  ä  la  violeta«  Cadalsos.     283. 

»  Escenas  andaluzas  «  und  »  matritenses  <<.  346. 

Escobar,  Antonio.     207. 

EspagnoUe ,  Abbe.     447. 

»  Espafioles  celebres  «  Quintanas.     343. 

•.Esprit,  De  l'«  Helvetius'.     259. 

♦  —  des  lois<'   Montesquieus.     259. 
Espronceda,  Jose.     *346.  349. 

»Essai    sur   l'indifference«    von    Lamennais. 

361. 
» —  sur  l'inegalite  des  races  humaines«  von 

Gobineau.     366. 
» —  sur  les  moeurs  et  l'esprit  des   nations<r 

Voltaires      257. 

♦  Essais«  Montaignes.     224. 

» —  d'un  jeune  Barde  <<  von  Nodier.     302. 
» —  de  Psychologie  contemporaine«  Bourgets. 

357. 
Estaunid.     397. 
Estienne,  H.     227. 

» Estrella  von  Sevilla«  Lopes  de  Vega.    217. 
»Etape,  L'«   Bourgets.     3^6. 
Etrusker.     35. 

«Etudes  de  la  nature«  St.  Pierres.     263. 
euhages      55. 
Euripides.     188.  229.  301. 
»Euryalus    und    Lucretia,    Geschichte    vom 

Liebespaar«  von  Pius  II.     179. 


Eustache  le  Moine.     151. 

Eutychius.     80. 

Evangeliarium,     Lateinisches,     des    9    Jahr 

hunderts.     98. 
»Evangöliste«  von  Daudet      395. 
»Evangiles,  Les  quatre*  Zolas.     389. 
Evans,  Evan  =  leuan  Brydydd  Hir.     114. 
— ,  Silvan.     128. 
—  Theoph.     127. 
»Evasion,  L'«  von  Brieu.x      406. 
»Evolution   de   la   critique   depuis  la  renais- 

sance-^  von  Bruneti^re.     362. 


F. 

Fabel,  Französische.     160.  247. 
— ,  Spanische.     28O. 
Fabliau.     1^2.  162.  247. 
Fabre,  Ferdinand.     392. 
Faguet,  Emile.     364. 
Fäinne  an  lae.     34. 
faith.     56. 

»Fantasio«  von  A.  de  Musset.     331. 
Farce.     166.  167.  235. 
Farina,  Salvatore.     415. 
Faro-Lied      143. 
Farsa.     189.  213.  214. 
»Fatalith<<  Ada  Negris. 
Fauchet,  Claude      221. 
Fauriel,  Claude  Charles. 
Favart,  Charles  Simon. 
Fear  tathaich  nam  Beann. 
Feensage,  Irische.     83. 
Feijöo.     *283.  287. 
Felibre.     379. 
felire.     90. 

»Femmes  savantes«  Moliercs.     244.  245. 
Fenelon,   Frangois  de  Salignac  de  Lamothe- 

239.  »240    249.  250.  252.  284. 
Fenius  der  Alte.     83. 
Ferdinand  von  Aragon.     199. 

—  I    von  Neapel.     182. 

—  VII.  von  Spanien.     344. 
Fergus.     102.  118. 
Ferloga.     65. 

»Ferment,  Le<<'  von  Estaunid.     397. 
F'ernaig- Handschrift.     103. 
Ferrara.     179    183. 
Ferrari,  Paolo.     417. 
Ferreira,  Jorge.     215. 
*Fest  des  Bricriu«.     66.  67.  09. 
Fcuillet,  Octave.     392. 
Fiabe      278.  279. 
Fiamctta.     177.  179. 
/lann.     84.  102.  104,  108.   iii. 
P'ichte,  Johann  Gottlieb.     263.  299. 
F'icino,  Marsiglio.     179. 
Fielding,  John.     213. 


413- 

302.  335-  •338- 
269. 
109. 


48o 


Register. 


Fierabras.     85. 

^Figaros  Hochzeit  oder  der  tolle  Tag«  Beau- 
marchais'.    270. 

^Figlia  di  Jorio«  d'Annunzios.     418. 

Figueira,  Guillem.     155. 

Pili.     50.  56.  »sy.  61.  82.  87.  88.  93. 

»Filocolo«  Boccaccios.     177. 

Fingal  =  Finn  mac  Cumaill. 

»Fingal«.    100. 

Fingen  mac  Flainn.     94. 

Finlay  mac  Nah  von  Boquhan.     99. 

Finn  mac  Cumaill.     84    102. 

Finn  mac  Nuadha.     102. 

Finn -Ossiansage.     45.  46.  64.  82.  *84. 

Fir  Ardda,  Clan  der.    94. 

Firth  of  Forth  und  Firth  of  Clyde.  17.  18. 
24.  25.  115. 

Flaubert,  Gustave.  322.  323.  355.  371.  *382. 
386.  390.  391    392.  394.  395.  408. 

»Fleurs  du  mal«  Baudelaires.     373.  374. 

Floire  et  Blanchefleur.     149.  177. 

Florenz.     170.  179.  181.  334.  339. 

»  — ,  Geschichte  von«  Machiavellis.     185. 

Florian,  Jean- Pierre  Claris.     287. 

Fogazzaro,  Antonio.     411.  414.  *4I5. 

Folengo,  Teofilo.     191. 

Folklore,  Bretonische.     136. 

— ,  Mannische,     iii. 

Fomori.     83. 

Fontaines.     5. 

Fontenelle,  Bernard  le  Bovier.     250. 

Forains  des  französischen  Theaters.     246, 

»Force,    La,    des    choses«    von   Marg^eritte. 

393- 

ForgoU.     58. 

Foscolo,  Ugo.  *I93.  266.  274.  *ll^.  335. 
349. 

»Fossiles«  von  Curel.     406.  *407. 

Fothad  na  Canoine.     91. 

Fouillee,  Alfred.     366. 

»Fourchambault«  Augiers.     401.  402. 

France,  Anatole.     *364.  368.  389.  *398.  405. 

»Francesca  da  Rimini«  d'Annunzios.     418. 

Francia.     140.  141.  142.   143 

»Franciade«  Ronsards.     228. 

»Francilion«  von  Dumas.     402, 

»Frangois  le  Champi«  von  G.  Sand.     324. 

Franken.     139.   140.  141. 

Frankreich.     141.  142.  *I43.   159.  *22i. 

— ,  Mundarten  von.     452. 

— ,  Einfluß  von,  auf  die  italienische  Renais- 
sance-Literatur.    188. 

— ,  — ,  auf  die  spanische  erzählende  und  lehr- 
hafte Kunstdichtung.     201. 

— ,  beeinflußt  durch  die  deutsche  Literatur. 
264.  303 f.  368. 

Franz  L  von  Castilien.     186. 

—  L  von  Frankreich.     221. 


Franziskaner.     168.  170. 

Franzosen.     140. 

Fraoch,  Ballade  von.     99.  loi. 

Frauenfrage    in    der    französischen  Literatur. 

157.  161    222.  223. 
»Frauenschule«  Moliäres.  244. 
»Fray  Gerundio,   Historia  del  famoso  predi- 

cador«  Islas.     284. 
Frechette,  L      381 

»Frei  Luiz  de  Sousa«  von  Garrett.     348. 
Frenssen,  Gustav!     415. 
Friedrich  Barbarossa.     150.  152. 
Friedrich  IL,  Kaiser.     155.  156.  169.  170. 
—  der  Große.     250.  255.  256.  258.  259.  265. 

272.  322. 
Froissart,  Jean.     160. 
Fromentin,  Eugene.     393. 
Frugoni,  Carlo  Innocenzio.     276.  279. 
Fucini,  Renato.     *4i5    416. 
Falko,  Not  und  Versöhnung  des  Barons.    151. 
Fustel   de   Coulanges,    Numa  Denis.     '^367. 

368. 

G. 

Gabriel.     290. 

»Gabrielle«  Augiers.     401. 

Galen.     98. 

Gaelic  League.     23. 

Gaelisch.     25.  ^40. 

Gaidheal,  An.     109. 

Gaidoz,  Henri.     74.   136. 

»  Galan tuomo  per  transazione«  Girauds.    340. 

»Galatea«  Cervantes'.     211. 

Galaterreich.     17 

Galdos,  Perez.     426. 

»Galeoto,  El  gran«  Echegarays.     425. 

Galiani,  Fernando.     273. 

Gahano,  Alcalä.     344.  349. 

Galilei,  Galileo.     196.  274. 

Galizien,  Königreich  von.     142. 

Galland,  Antoine.     249. 

Gallego,  Juan  Nicasio.     287. 

Gallen,  Abtei  St.     6.  *7. 

— ,  Klosterbibliothek  von  St.     9.  10. 

Gallien.     47.  49.  56.  58. 

Gallier,    Einfluß    der,    auf  die   französischen 

Ortsnamen.     464. 
Gallina,  Giacomo.     416. 
Gallische  Wörter  im  romanischen  Wortschatz. 

458. 
Gallus.     5.  6. 
Ganea,  Nicu.     432. 
Garadh.     1 1 1 . 

Garcfa  y  Tassara,  Gabriel.     423. 
Garcilaso  de  la  Vega.     *204.  287. 
»Gargantua   et   de  Pantagruel,    La  vie   de« 

Rabelais*.     223. 
Garibaldi,  Giuseppe.     410.     419. 


Register. 


481 


Garrctt.  J.  B  de  Almcida.     •347-  349- 
Gaskognisch.     4^2. 
Gasscndi ,  Pierre.     2!;2. 
»Gatomaquia«   Lopes  de  Vega,     215. 
Gauticr.  Thöophile.    303.  313.  •320.  323.  370. 

371.  373.  374    375- 

—  von  Arras.     150. 
»Gaviota«  von  Caballero.     427. 
>Ga2ette  de  France c.     231.   235. 
Gedichte,  Altirische.     81. 

— ,  Älteste  kymrische.     114. 
Gegenreformation.     238. 

—  in  Frankreich.     224.  230. 
»Geistliche  Fuhrer,  Der*,  Molinas.     208. 
Geistliche  irische  Literatur.     88  ff. 
Gelehrte  Literatur,  Irische.     91  ff- 
Gelehrtenlatein,    sein   Einfluß    auf   die   roma- 
nischen Sprachen.     4-;6. 

Geliert,  Christian  Fürchtegott.     204. 
»Gendre  de  M.  Poirier«  Augiers.     401. 
>G<5nie    du    Christianisme«     Chateaubriands. 

296.  '207.  301. 
Genua.     463. 

Geographie,  Altirische.     92. 
Geraint  Vardd  Glas.     125. 
»Gericht,  Das  jüngste«,  von  Buchanan     109. 
Germanen,  Germanien,      ii.    17.    18.  34.    56. 

61.  139    140.  448. 

—  Einfluß  der,  auf  Orts-,  bzw.  Personennamen. 
403.  464.  406. 

Germanische  Wörter  im  romanischen  Wort- 
schatz.    459  f. 

>Germmie  Lacerteux«,  von  E.  und  J.  Goncourt. 
385.  387.  404. 

>GcrusaIemme  Uberata*  Tassos.     •192.  194. 

»Geschichte  vom  Schwein   des  Mac  Däthö«. 

65 

Geschichtsliteratur,  Französische  im  19.  Jahr- 
hundert.    307  ff.  366  f. 

— ,  Irische.     85 ff 

— ,  Italienische.     170.   1840.   273. 

— ,  Rumänische.     202. 

— ,  Walisische.     120     127. 

Geschlechtsnamen,  Romanische.     407. 

Gesetze,  Kymrische,  des  Hywel  dda.  48. 
•116. 

Gespräch  der  Alten  s.  Unterhaltung  der  Alten. 

Geßncr,  Salomon.     2^4    2;;8.  281.  287. 

Gherardi  del  Testa,  Tommaso.     416. 

Gherea.    431.  4^ 

Giacomo,  Salvatore  di.     416. 

Giacosa,  Giuseppe.     '417.  423. 

Giannone,  Pietro.     273. 

»Gil  Blas,  Histoire  de«  Lesages.     265. 

Gildas.     48. 

Gilla  Brigde  mac  Conmide.     91. 

—  Caluim  mac  an  OUaimh      idi 

Gilvaelhwy.     60. 

Dn  KvLTvm  oam  Gbcvcwart.    I.  11.  1. 


Gil  y  Carrasco,  E.     347. 

»Giomale    della    Ictteratura   straniera«.     281. 

»Giovine  Italia«   Mazzinis.     332. 

»Giomof   Pannis.     i'-ij 

Giotto.     170. 

Giraldi,  Giovanni  Battista.     188. 

Giraldus  Cambrensis.     48.    5:.    59.    iio.    117. 

Girardin,  Emile  de      303. 

Girart  de  Vienne.     146. 

Giraud,  Graf  Giovanni.     340. 

Giudice,  Paolo  Emiliani.     332. 

Giusti,  Giuseppe.     198.  340. 

Glashtin.     1 1 1 . 

Glencoe,  Blutbad  von.     104. 

»Globe,  Le».     311. 

Glossen,  Altirische.     80. 

Gluck,  Christoph  W    Ritter  von.     270. 

Gnomen -Literatur,  Altirische.     92  f. 

Gobineau ,  Graf  Joseph  Arthur.     366.  408. 

Gododin ,  kymnsches  Bardenlied.     1 1 5. 

Godoy,  Manuel  de.     282. 

Goethe,  Johann  Wolfgang.  100.  140.  210 
232.  253.  254.  255.  258.  263.  264.  268.  269 
276.  279.  281.  288.  294.  297.  299.  300.  301 
303  306.  311.  322.  332.  333.  335.  338.  347 
350.  352-  354-  370.  395-  4«-  414  431.  437 
438. 

Gogol,  Nikolaus.     323. 

Goibniu.     80. 

Göidel  der  Junge.     83. 

Goldoni,   Carlo.     '278.    279.    285.    280.    340. 
346    416.  450. 

Gell.     102. 

Gömez  de  Avellaneda,  Gertrudis.     347. 

Goncourt,  Edmond  und  Jules  de.     •385.  394. 
398.  403.  404. 

Gongora,  Luis  de.     205.  200.   235. 

Gorki,  Maxim.     370. 

Goronwy  Owen.     53.   123.   *iib. 

Goten.     141. 

Gotik.      1 59. 

Gottesurteile,  Irischer  Traktat  über  12  Arten. 

88. 
Gottfried  von  Bouillon.     147. 

—  von  Straßburg.     »5.   152. 
Gotthelf,  Jeremias.     427. 
Gottsched,  Johann  Christoph.     204. 
Goumay,  Marie  de.     •232.  300. 
Goya,  Franc.  Josö  de.     aSo. 
Gozzi,  Carlo.     254.  •278. 

—  Gasparo.     275.  279. 
Gracidn,  Balthasar.     •ao8.  140. 
Gradoso.     217.  218.  237. 

Gradlonus  magnus  de  Finibus  temc     13. 
Graf,  Arturo.     413. 

»Graf  von  Monte  Christo«  Dumas'.     323. 
Gral,   Heilige   s    Rom.in   du   Ouctc   du  Saint 
Gr^aL     118. 

3» 


48: 


Register. 


Grammatik,  Altirische.     92. 

—  der  walisischen  Barden.     125. 
Granada.     199. 

Grattan,  Henry.     21. 

Gravina,  Gianvincenzo.     *275.  276.  285. 

Gray,  Thomas.     264.  281.  287. 

Greban,  Amoul.     106. 

Gregh,  F.     37^^- 

Gregor  der  Große,  Papst.     4. 

—  von  Tours.     3.  4. 
Greuze,  Jean-Baptiste.     264. 
Grey,  Th.     119. 

Griechen.     Griechenland.     34.  448. 
Griechische  Wörter    im    romanischen  Wort- 
schatz.    459. 
Gnllparzer,  Franz.     217. 
Grimm,  Jakob.     309.  310.  343. 
— ,  Frederic  baron  de.     311. 
»Gritos   de   combate«   von   Nunez   de  Arce. 

423. 
Gruffydd  ab  Addav.     122. 

—  ab  Arthur.     120. 

—  ab  Cynan.     46.  52.  120.  125. 

—  EHs.     127. 

—  Gryg.     122. 

—  Hiraethog.     124.  127. 

—  Llwyd  ab  Davydd  ab  Einion.     124. 

—  ab  Rhys.     46. 
— ,  Roberts.     125. 

—  ab  yr  Ynad  Goch.     119. 
Guadalquivir.     465. 
Guadiana.     465. 

Guarini,  Giovanni  Battista.     190.   195. 

Gueguen,  Abbe.     135. 

Guerande,  Halbinsel.     448. 

Gu^nn,  Gh.     378. 

»Guerras  civiles  de  Granada«  de  Hitas.     209, 

Guerrazzi,  Francesco  Domenico.     340. 

Guerrini,  O.     4i3- 

Guevara,  Antonio  de.     208. 

— ,  Velez  de.     208.  346. 

Guicciardini ,  Francesco.     186. 

Guillome,  Abbe.     136. 

Guimerä.     425. 

>Guingamp,  Die  Belagerung  von«.     135. 

Guinglan.     133. 

Guizot,  Frangois- Pierre.    302.  305.  306.  *307. 

3". 

Gutierrez,  A.  Garcfa.     345. 

Guttinguer,  Ulric.     314. 

Gutto  y  Glyn.     124. 

Gutyn  Owen.     58.  124.  125. 

Guy  de  Warwick.     63.  85. 

Guyau,  Jean -Marie.     366. 

>>Guzman  de  Alfarache«  Alemans.     210. 

Gwalchmai.     119. 

Gwendydd.     116. 

Gwenvrewi,  Leben  der  heiligen.     120. 


Gwerziou  s.  Volkslied,  Bretonisches. 
Gwilym  Ddu.     119. 
Gwydyon.     60. 
Gwynn  ab  Nudd.     102. 

H. 

Haeckel,  Ernst.     362. 

Hagiologie,  Irische.     90. 

— ,  Walisische.     120. 

Haimonskinder.     146. 

Haldvy,  Ludovic.     400. 

»Han  d'Islande«  von  V.  Hugo.     322. 

»Handorakel«  Graciäns.     208. 

Handschriften,  Irische.     9. 

— ,  Schottisch- gälische.     98.  103. 

Hardy,  Alexandre.     218.  229. 

»Harmonies«  St.  Pierres.     263. 

» —  poetiques  et  religieuses«  von  Lamartine. 

315- 

Harnack,  Adolf.     359. 

»Harpa  do  crente«.     348 

Hartmann  von  Aue.     15.  152. 

Hartzenbusch,  Eugenio.     344.  345.  346. 

Hasdeu,  Bogdan  Petriceicu.     432.  433. 

Hauptmann,  Gerhart.     404. 

»Haz  de  lena«  von  Nunez  de  Arce.     423. 

»Heaulmiere,  La  belle«,  von  Villon.     95. 

Hebriden.     103 

Hegel,   Georg  Wilhelm  Friedrich.     306.  354. 

368. 
»Heilige,  Der«  von  Fogazzaro.     415. 
Heiligennamen  als  Ortsnamen.     463. 
Heimatkunde,  Französische.     379  f. 
Heine,    Heinrich.     155.    232.    301.    303.    304. 

320.  351.  356.  375.  412-  422.  431. 
Heinrich  III.,  Kaiser.     152. 

—  Vir,  Kaiser.     170. 

—  VII.  von  England      28.  53.  58.  124. 

—  VIII.  von  England.     53. 

—  II.  von  Frankreich.     117.    148.    154.    223. 
227.  245. 

—  IV.  von  Frankreich.     194.  221.  224. 

—  von  Veldeke.     152. 

Heldenepos,  Französisches.     *I45.    151.   160. 

— ,  Spanisches.     200  f. 

Heldenlied,  Irisches.     63. 

— ,  Schottisches.     10 1. 

Heldensage,  Irische.     83.  *84. 

— ,  Italienische.     180. 

— ,  Keltische.     12  fif.  61  ff.  63.  66.  69.  72. 

Heliand.     63. 

Heliodoros.     85.     211. 

Heloise.     247. 

»H^loise,    Nouvelle«    Rousseaus.     246.    26  r. 

*266. 
Helvetius,  Claude -Adrien.     259. 
Hennequin,  Alfred.     356. 


Register. 


483 


Henni({ue.     4U4. 

♦  Henri  III  et  sa  cour<  Dumas'.     327. 
»Hcnriade*  Voltaires.     2b>,. 

Hcnr)',  AbW.     135. 

Hcptaincron.     227. 

Herbot  von  Friular.     152. 

Hcrculano,  Alexandre  H.  de  Carvalho  e  Araujo. 

348- 
Herder,  Johann  Gottfried.    100,  255.  263.  300. 

303    31;.  412. 
Hcredia,  Jose  Maria  de.     344.  373. 
Hercford,  Grafschaft.     :8 
Hergcst.      114. 

♦  Hermitc  de  la  Chaussöe  d'Antin  «  Jouys.   340. 
»Hernani«,  von  V.  Hugo.     328, 
»Herodias*  von  G.  Flaubert.     323.  384.  408. 
Herrcra,  Fernando  de.     204. 

HerN'ieu,  Paul      397.  •406. 

♦  Herz,  Ein  einfältiges«  von  Flaubert.  384. 
Herzmäre.     149. 

Hibemia.     18. 

»Hiempsalf,  Tragödie.     181. 

Hieronymus.     17.  80.  85. 

Highland  Monthly.     109. 

Hildebrandslied.     63. 

Hildesley,  Bischof.     27.   iio. 

Hill,  Th.     IUI. 

Hirta  oder  St.  Kilda,  Insel.     107. 

♦  Histoire  contemporaine*  von  France.  399. 
»Histoire  de  France«  von  Michelet  300 f. 
»Histoire  de  la  literature  anglaise«.  von  Taine. 

368. 

♦  Histoire    de    la    litterature   fran^aise   depuis 

les  origines«  von  Faguet.     364. 

♦  Histoire   des   institutions   politiques  de  l'an- 

cienne  France«   von   Fustel  de  Coulanges. 

367. 
»Histoire   naturelle   g<5n<5rale  et  particuli«^re « 

Buffons.     259. 
«Histoire  des  origines  du  christianisme «  von 

Renan.     358.  361. 

♦  Histoire    du    peuple    d'IsracU    von    Renan. 

3>8    359. 
»Histoire    po<5tique    de    Charlemagne «     von 

Paris.     368. 
Historia  Brittonum.     45.   110.   117. 
Historia  regum  Britanniae.     59.  62.   120. 
Hita,  Pcrcz  de.     209. 
Hochschotten  s,  Schotten. 
Hocl,  Brctoncnhentog.     sS- 
HofTmann.    Hrnst    Theodor    Amadeus.      303. 

374-  422. 
— ,  F.  B.     301. 

♦  Hofmeister  in  Nöten«   Girauds      340. 
Holbach,  Paul   Henri  Thiry  baron  d*.     »59. 
Homer.     63.    173.    175.    188.    192.    197.    228. 

2:9.  242.  246.  24g.  250.  255.  333. 

♦  Horatier«  Comeilles.     230. 


Horatius  Flaccus,  Q.     4.    10.    183.    188.    193. 

220.    22<).    241.    2^0     421. 

»Horla,  Le<  von  Maupassant      3<;8 

Huct,  Pierre  Daniel      240.    285. 

Hughes,  Richard.     126. 

Hugo,  Victor.  140.  147.  302.  308.  310.  •311. 
3M  •317-  321  312-  •3»8  335  339.  344- 
345-  347.  348  340.  354-  370-  371  372.  37S. 
381.   383.   3»7-  388.  412-  431- 

Humanismus,  Italienischer,     '174.  178. 

Humboldt,  Wilhelm  von.     272.  299. 

Huntingdon,  Henry  von.     121. 

Huon.     146. 

Huonder,  Ant.     4^.  435. 

Hurtado  de  Mcndoza,  Diego.     219. 

Huysmans,  Joris  Karl.     393.  •394. 

Huzulen.     4v?. 

Hyde,  Douglas.     ^5. 

Hymnen,  Altirische.     81. 

— ,  Schottisch  gälische.     ioq. 

H>'wel  dda,  Kymrische  Gesetze  des.  48.   116. 

Hy>N'el,  Sohn  Owain  Gwynedds.     119. 

—  ab  Tudur.     122. 

—  Veddyg  ab  Rhys.     121 

I. 

lain  Lom  Mantach.     104 

Ibäfiez,  Blasco.     429, 

Iberische  Wörter  im  romanischen  Wortschatz. 

458- 
Ibsen,  Henrik.    369.  370.  402.  403.  404.  406. 

414.  417.  426. 
leuan  Brydydd  Hir.     114. 
Ilias,  Gälische  Übersetzung  der.     108. 
— ,  La  Mottes  Übersetzung  der.     249. 
♦  nie  et  Galeron«.     150. 
Illyrier.     35.  448. 

Image  mundi  iles  Henry  von  Huntingdon.   121. 
Imhtis  /orosna.      U14. 
Imperial,  Francisco.     439. 
Impressionismus.     364.  305. 
»Impressions  de  lh<5.itre*  von  Lcmaltre.  364. 
»Indiana«   von  G.  Sand.     323. 
»Indicatore  Livomese«.     340. 
Indoportugiesisch.     449. 
»Ines  de  Castro*  Ferreiras.     21  >. 
»Inni  sacri«   Manionis.     337.  341.  All. 
»Inno  a  Satana«  von  Carducci      411. 
»Innoccnte,  L'<  d'Annunxios.     414 
Innse  Gall.     103. 

Inquisition.     20O.  203.   207.   210    220. 
Inselkeltisch.     •17.  3''-  37-  3»    •40- 
»Intelligenz  der  niumen«  von  Maeterlinck.  408. 
Intcrludrs      1:6. 
»Intrndurtion  il  la  m^decine  exp^mentalc« 

Ikmards,     352. 
»—  li  la  vie  dövote«  Fr.  de  Sales'      224. 

3f 


484 


Register. 


»Intruse,  L'«  von  Maeterlinck.     407. 

Inverkeithing,  Schlacht  von.     104. 

Inverlochy,  Schlacht  von.     104. 

lolo  Goch.     122.  123.  124.  126. 

lorwerth  ab  Madog.     116.  117. 

—  V>Tiglwyd.     126. 

losif.     431.  *434. 

Iren.  33.  34.  38.  43.  46.  56.  60.  *6i.  66. 
67.  68.  70.  71.  72.  89. 

— ,  Anteil  der,  an  der  Erhaltung  älterer 
Literatur.     9  ff. 

— ,  Einfluß  der,  auf  germanische  und  roma- 
nische Kulturentwickelung.     3  ff. 

Iriarte,  Tomas  de.     286. 

Irisch  im  19.  Jahrhundert.     *2i.   33.   34.   38. 

43- 
Irish  lang^age,   Society   for  the  preservation 

of  the,  as  a  spoken  language.     23. 
Irland.    3.  4.  6.  *i9.  40.  41.  45.  48.  50.  56f. 

60.  61.  62.  70.  72.  79.  83.  86.  98. 
Isabella  von  Castilien.     186.  199. 
»Iscio  d'or,  Lis«  Mistrals.     380. 
Isembart,  Epos  vom  Recken.     145. 
Isidor.     80.  92. 

»Isidro«  Lopes  de  Vega.     215. 
Isla,  Jose  Francisco.     *  284.  287. 
Istrien,  Sprachverschiebungen  in.     448. 
Istrorumänisch.     453. 
Italien.     142 

— ,  Mundarten  von.     449. 
— ,  Einfluß  von,  auf  die  spanische  Literatur. 

202  f. 
— ,  Französischer  Einfluß  in.     272 f. 
— ,  Germanischer  Einfluß  in.     141. 
Italiener.     140. 

» Itineraire  <•-  Chateaubriands.     296. 
Ivor  Hael.     121. 

J. 

Jacobi,  H.     299. 

»Jacopo   Ortis'    letzte   Briefe«-    von   Foscolo. 

332 
Jacopone  von  Todi.     170. 
»Jacquerie,  La«  Merimees.     322. 
»Jacques«  von  G.  Sand.     323. 
Jaffrennou,  F.     136. 
Jamnes.     49. 
Jansenismus.     207.  *  230. 
»Jardin  de  los  poetas«  von  Reina.     423. 
Jean  Paul      303. 
»Jean  de  Paris«.     162. 
Jeanne  d'Arc.     161    229. 
Jenatsch,  Jürg      289. 
Jenkins  von  Alverton,  James.     132. 
Jenner,  H      iii.  132. 

»Jerusalem  conquistada«  Lopes  de  Vega.  215. 
Jesuitenfrage  in  Frankreich.     305. 
Jeux  floraux.     157. 


Jochs  florals.     199. 

Joculator  scenicus  (Jongleur).     144. 

Jodelle,  Etienne.     227. 

Johannes  Comubiensis.     116.  131. 

—  Eriugena.     *8.  11. 
Johnson,  Samuel.     103. 

»Joies  de  mariage,  Les  quinze«.     161. 

Joinville,  Seneschall.     159. 

Jongleurtheater.     165.  167. 

Jordan  von  Halston,  Will.     132. 

Jorga,  Nie.     433.  434. 

Jornada.     215. 

Jose  I.  von  Portugal.     282. 

Josephus.     85. 

»Journal  des  Goncourt«.     386. 

»Journal  intime«  Amieis.     375. 

Journalistik,  Französische  politische.     305. 

Jouy,  Victor  Joseph  de.     346. 

Jovellanos,  Gaspar  Melchor.     285.  287. 

»Joyzelle«  von  Maeterlinck.     408. 

Juan  Manuel,  Don.     202. 

Julianus  Apostata.     4. 

Julirevolution.     303, 

JuUien,  Jean.     404. 

»Junimea«.     433. 

Juvenalis,  D.  Junius.     10.  241. 

Juvencus.     115. 

K. 

Kästner,  Abraham  Gotthelf.     264. 
Kahn,  G.     376, 

Kaisertum,  Französisches.     295. 
Kaledonien.     17. 

»Kameliendame«  von  Dumas  fils.     330. 
»Kampf  der  Galen  gegen  die  Nordleute«.  86. 
Kanada.     33. 
— ,  Literatur  von.     381. 
Kant,  Immanuel.     263.  295.  306. 
Kanzelberedsamkeit,  Spanische,   im  18.  Jahr- 
hundert.    284. 
Karadoc  Briebras.     13. 
Karl  der  Große.     6.   145.  146.  200. 

—  —  und  Roland.     121. 

—  der  Kahle.     8.  9.  140. 
Karl  II.  von  England.     104. 

Karl  VIII.  von  Frankreich.     184.  221. 

Karl  IX.  von  Frankreich,     227. 

Karl  von  Orleans.     *i6i.  162. 

Karl  II.  von  Spanien.     220. 

Karl  III.  von  Spanien.     282,  283. 

Karl  V.,  der  Weise.     160. 

Karl  Eduard,  Prinz.     105. 

Karlamag^ius-Saga.     148. 

Karlsepos.     145.  147.   169.   180, 

Karlssage.     13.  206. 

Karolingerreich ,  Irische  Gelehrte  im.     6  ff. 

Karthager.     35. 


Register. 


485 


Kastilien,  Königreich  von.     14:. 
Katalonien.     143.   199. 
Katalanisch.     4f;2. 

»Kaufmann  von  London«.  LiUo;..     :69. 
Kcatin^'.  (icoffrcy.      22.  8v 
Kcij-wyn.  J       13;. 
Keller.  Gottfried.     178.   213.  4^ 
Kelly,  J.      110. 
Kelten.     40.   139. 
— ,  Kaiserreich  der.     34. 
— ,  Siue  der.     10. 
— ,  Britische    und    irische,     in    Man    und    in 

Wales.     27. 
— ,    EinHuß    britischer,    auf  die   Literatur   im 

Mittelalter.     1 1  ff. 
Keltcntum ,  An^jchliche  Einheit  des  heutigen. 

7»- 
Keltische  Sprachen,     id.  •loflT.  34  ff. 

—  —  im  Auslande.     32  ff. 

—  — ,    Einfluß    der,    im    romanischen    Laut 
System.     4|;7. 

Kendal'ch.     71. 

Kcnncth  mac  Alpin.     2.} 

Kilian,  der  Ire.     0. 

Kilkcnny,  Statut  von.     10. 

Killikrankie,  Schlacht  von.     104. 

Kilt,  I'iktisches.     105. 

Kipling,  Rudyard.     370. 

Kirchendisziplin  von  Barrow  und  Wilson,    iio. 

Kirchenkampfe     Frankreichs     im     19.    Jahr- 
hundert.    304  f. 

Kirchenlied,  Rälisches      290. 

Kirkc,  Robert.     40. 

Klassizismus      430. 
-,  Französischer.     •230.   238.   241fr. 

— ,  Italienischer.      186. 

Kleinasien.     17. 

Kleopatra.     2  2<». 

Klinger,  Friedrich  Maximilian  von.     300. 

Klopstock,  Friedrich  Gottlob.     300.  316. 

Klostcrschulen,  Irische.     4. 

Knox,  John.     98. 

Konigschroniken.  Französische.     lOo. 

Kolumbus,  Christoph.     i<>9.     200. 

Konrad  von  Wurzburg.      152. 

Konradin  von  Schwaben.     169    170. 

Konsonantismus  des  Altkeltischcn.     37. 
des  Irischen  und  Britischen.     43. 

Komisch      '30.  40,  41.  42. 

Kosenamen,  Romanische.     467, 

Kotzcbue.  August  Fr.  Ferdinand  v.     288. 

Krause,   H.  J.  Fr.     421. 

Kreuzzuge.     141. 

Krcuzzugscpos,  Französisches.     147. 

Kritik,    Literarische.      231.     350.    361.    •36a 
410.   421. 

KuUiwchs  Werbung  um  Olwcn.     117.  118. 

Kurth,  Godcfroid.     379. 


Kymri.     24.  33.  "oi.  70.   114 
Kymrisch.     28 f.  38.  44».  41.  42.  92. 

L. 

>Lh-bas<  von  Huysmans.     394. 

Labirhe,  Eugene.     41  >o. 

La  Bruyörc,  Jean  de.     24«j.   245. 

La  Qdpren^de,  Gauticr  de  Costc»,    .Seigneur 

de.     234. 
La  Chaussee,  Pierre  Claude  Nivelle  de      i')« 

285. 
Lacordairc,  Jean  Baptiste.     305. 
Lactantius.     80. 

»Lästerung  Morags«   Macdonalds.     105. 
Lafayettc ,  Marie  von.     247. 
Lafontame,   Jean    de.     130.    '247.    286.    355. 

376. 
Lagadcur,  Jchan.      133. 
Laharpc,  Jcan-Fran^ois  de.     2O4. 
lais  bretons.     55. 
Lamartine,    Alphonse    de.       302.     303.    305. 

312.  •315.  321.  34C'.  34''    37'.  37:   376.432- 
Lamennais,  Hugues  Felicitc  Robert  de.    304. 

307.  324.  337-   348    361. 
La  Mettrie,  Julien  Offroy  de.  2^4.  258.  259.  260. 
La  Motte,  Antoine  Houdart  de.     249. 
»Lances  de  honor«  von  Tamayo  y  Baus.   424. 
Landlordpolitik  in  Schottland.     26.  32. 
Langobarden.     139.   140. 
Langres.     464. 
Laprade,  Victor  de.     320. 
Lara,  Familie.     2oi. 
La    Rochefoucauld,    Fran^ois   de      186    231. 

24^'.  341. 
Larra,  Jose  de.     343.  345.   348. 
Latein   als  Reichssprachc.     138. 

—  als  Humanistensprache.     178. 

— ,  Verhältnis  von,  und  Romanisch.     454 

Latini,  Brunetto.     159. 

Latinismus,  Französischer.     \bo. 

Lauda.      170. 

Laura  Petrarcas.     175. 

Lautsystem.    Romanisches,   beeinflußt    durch 

Keltisch,  Oskisch,  Umbrisch.     4S7f. 
Lavatcr .  Johann  Caspar      140 
Law,  John.     252. 
Laws  of  Ireland,  Ancicnt.     87. 
»Lazarillo  de  Tormes«.     210. 
»Leben  zu  Algier«   Cervantes".     3il. 
»Leben  der  Bienen«    von  Maeterimck.     408. 
»Leben,  Das,  ein  Traum  •   rjl<!rr.>n^      uo. 
Leber  na  Huidre.     82. 

—  Gabftla      83. 

Le  Brai.  A      135    136. 
Le  Coal      136 

Leconte  de  Lisle.  Charles  Manc  Rctu?     •371. 
373    377.  3»4    4i3. 


486 


Register. 


»Legende  de  Saint  Julien  «  von  Flaubert.    384. 
»Legende  des  Si^cles«^^  V.  Hugos.    317.  329. 

37=- 
Leges  Barbarorum.     140. 
Legonidec,  P.     136. 
Legouve,  Emest.     333. 
Leibniz,  Gottfried  Wilhelm.     239.  250. 
Leinster.     20.  84.  86. 
Lejean,  G.     135. 
»Lelia«^  von  G.  Sand.     323. 
Lemaltre,  Jules.     364.  365.  368.  370.  401. 
Lemercier,  Louis  Jean  Nepomuc^ne.     302. 
Lemnius,  Simon.     289. 
Lemonnier,  Camille.     379. 
Lenau ,  Nikolaus.     431. 
Leo  X.,  Papst.     181.  184. 
Leon,  Königreich  von.     142. 
Leon,  Literaturdialekt  von  St.  Paul  de.     42. 

43.  55- 
Leonardo  da  Vinci  s.  Vinci,  Leonardo  da. 
Leoncavallo,  Ruggiero,     425. 
Leopardi,    Giacomo    Graf.      280.    334.    335. 

*34i.  350. 
Lesage,   Alain  Rene.     209.   245     246.    *265. 

330. 
Lessing,    Gotthold  Ephraim.     254.   255.   257. 

258.  264.  269.  276.  278.  288.  301. 
Lessona.     410.  418. 
>>Lettres  portugaises«.     247. 
»Lettres  provinciales «  Pascals.     230. 
Lewis.     271. 
— .     302. 

—  Glyn  Cothi.     124. 
»Leyenda  del  Cid«  Zorrillas.     349. 
Liadain  und  Curithir,  Liebesgeschichte   von. 

95. 
//Liaison,  Une«  von  Mazeres  und  Empis.   330. 
Liber  Capturarum.     83. 

—  Hymnorum.     79.  *8o. 

»Libro  de  buen  amor«  von  J.  Ruiz.     201. 

Liebeslied,  Wahsisches.     119.  122. 

»Liebeswahnsinn«  von  Tamayo  y  Baus.    424. 

LiUo,  George.     263.  269. 

Lindocolonia.     44. 

»Liquidation  htteraire«  Ulbachs.     382. 

Lismore,  Kloster.     4.  99. 

Litavia.     132. 

Literatur,  Brasilianische.     348. 

— .  Bretonische.     132. 

— ,  Französische.     143  ff.  220  ff.  351  ff. 

— ,  Irisch -gälische.     78  ff. 

— ,  Itahenische.     168  ff.  332  ff.  410  ff. 

— ,  Komische,     131. 

— ,  Kymrische  (wahsische).     114  ff. 

— ,  Manx-.     HO  f. 

— ,  Portugiesische.     199  ff.  347  ff.  419  ff. 

— ,  Rätische.     288  ff.  434  ff. 

— ,  Rumänische.     290  ff.  430  ff. 


233- 

52.  119. 
122. 
59. 


Literatur,  Schottisch -gälische.     98  ff. 
— ,  Spanische.     199  ff.  342  ff.  419  ff. 
»Literature,  De  la«  von  Fr.  von  Stael.     299. 
Literaturen,  Die  keltischen.     46  ff. 
— ,  Die  romanischen.     138  ff. 
Literaturgeschichte  in  Frankreich.     355.  362. 

—  in  Italien.     410. 

Literaturkreis,     Gälischer    und    britisch -kel- 
tischer.    44  f. 
Liutprand.     140. 
Liverpool.     33. 
Livingstone,  W.     108. 
Livius,  T.     34.  175,  178. 
Livomo.     340. 
Llewelyn  von  Nordwales. 

—  ab  Gwilym  Vychan. 
Llewis  Glyn  Cothi.     53. 
Lleyn,  William.     124. 
Llud  und  Llevelys.     117. 
Llwyd,  Edward.     131.  132. 
— ,  Morgan.     127. 
Llywarch  ab  Llywelyn.     119. 

—  Hen.     52.  114.  *ii5. 
Llywelyn  der  Große.     119. 

—  Goch  ab  Meurig  Hen.     124. 

—  Sion.     125. 

Locke,  John.     239.  252.  253.  256.  257. 

Loegaire  der  Siegreiche.     69.  84. 

Lohengrin.     148. 

Lombroso,  Cesare.     410. 

London.     25.  33. 

Lope  de  Vega  s.  Vega  Carpio ,  Felix  Lope  de. 

Lorris,  Guillaume  de.     158. 

Lothringerepos.     146.     201. 

Loti,  Pierre.     *  397.  399. 

/>  Lorenzaccio  (^^  von  A.  de  Musset.     332. 

Lovernios,  König  der  Arvemer.     50. 

Lovesongs  of  Connacht.     95. 

Loyola,  Ignaz  von.     210.  220. 

»Lucanor,  El  conde«.     202. 

Lucanus.     47.  85.  205. 

»Lucrece^-^  Ponsards.     329. 

Lucretius  Carus.     196. 

Ludwig  VII.  von  Frankreich. 

Ludwig  XIII.  von  Frankreich. 

Ludwig  XIV.  von  Frankreich. 

254.  400. 
Ludwig  XVI.  von  Frankreich. 
Ludwigslied.     145. 
Lugaid,  Pflegesohn  Cuchulinns.     93. 
Lugdunum.     464. 
Luis  de  Granada.     207. 

—  de  Leon.     204. 
LuU,  Ramon.     199. 
LuUy,  Jean-Baptiste.     400. 
»Lusfadas^''  Camöes'.     206. 
Luther,  Martin.     221.  222.  290.  309.  423. 
Luxeuil.     5. 


154- 
194. 

239.  246.  250. 
270. 


Register. 


487 


Luzdn,  Don  Ignacio  de.     •:84.  287.  344- 

Luzel,  F.  M.     13.V  136. 

Lyon.     221.  226. 

Lyrik,  Bretonische,     ijv 

— ,   Französische.      153  ff.     234.     264.     3isff 

370  ff. 
— ,  Irische  geistliche.     91- 
— ,  Irische  weltliche.     93  ff. 
— ,  Italicnische.     lOq  f.   188.   i9>;.  411. 
— ,  Spanische.     201  f.    203  f.   206.  287.  i^bfl. 

421. 
»Lys  rouge«  von  A.  France.     405. 

M. 

Mabinogion,    Mabinogionsage.     45.    46.     59. 

60.  62.  05.  'ii;. 
Mac  Cumin,  Mosinu.     5. 
— ,  Mocuoroc,  Semon.     5. 
>Macias«^  von  Larra.     345. 
Mac  Liac.     94. 

—  Mhaigstir  Alasdair.     10  v 
Mac-Talla      33. 
Maccallum  von  Arisaig.     108. 
Maccodrum,  John.     106. 

Macdonald,  Alexander  =  Mac  Mhaigstir  Alas- 
dair.    105. 
— ,  John  =  lain  Lom  Mantach.     104. 
— ,  Patrick.     107. 
— ,  Ranald.     103. 

—  von  Keppoch.     104. 
Macgregor,  James      99, 

Machiavelli,  Lodovico.     181.  *  it<4.  186.  187. 

189.   209.  222.  224. 
Macintyre,    Duncan  =  DonnChadh   Bän    nan 

öran.     loO. 
Mackay,  John.     105. 
— ,  Robert  =  Rob  Donn.     107. 
Mackenzie,  Angus.     109. 
-,  J.     108. 

Mackellar,  David.     109. 
Maclachlan,  Ewen.     108. 
Maclean,  Hector.     103. 
Macleod,  D.     108. 
— ,  Mary.     104. 
— ,  Neil.     107. 
— ,  Norman.     icK). 
Macphadyen,  John.     107. 
Macphcrson,  James.     *q<).   106.  114.  264. 
— ,  Slar>'.     107. 

Mac\Tjrichs,  Hausbarden  der  Macdonalds.  98. 
>Madame  Bovary«  von  Haubert.    '382.  384. 
>  Madame  Caverlet«  Augiers.     402 
Madoc.     32. 

Madog  von  Powys.     117. 
—  Benvras      122.  123. 
_  Dwygraig.     123. 
Madrid.     205. 


.Madrigal,     168. 

.Maelisu  hOa  Brolchain.     81.  91. 

Mäcl-Muirc  hOa  Moirln.     91. 

—  0  Lennam.     91. 

*  Männerschule'  Moliöres.     244.  285. 

Märchen,  Bretonischc.     136. 

— ,  Französische.     248. 

— ,  Italienische.     188. 

— ,  Mannische,     in. 

— ,  Schottische.     107  f 

— ,  Walisische,     1:8 

Maeterlinck,  Maurice.     407. 

Maffei ,  Francesco  .Scipione ,  Marchcse.     276. 

Magalhäes,     Domingo    Jos^*    Gon(;alvez    de, 

•348.  35'^- 
•> Magier,  Der  wundertätige*   Calderöns.  220. 
Magnus  Barbein.     102. 
magus  =  Feld.     36. 

—  =  Zauberer.     49. 
Mailand.     179.  183.  274.  334. 
Maior,  F.     293. 
Maiorescu,  Titus.     431.  '433. 
Mairet,  Jean  de.     235. 

Maistre ,  Graf  Joseph  de.     '304.  337.  419.  420. 
»Mattres  d'autrefois-r  von  Fromentin.     393. 
>Ma  jeunesse«  von  Michelet.     309. 
»Malade  imaginaire«  MolitJres.     244. 
Malaio- Spanisch  und  -Portugiesisch.     449 
Malcolm  Cenmor.     25. 

—  von  Schottland.     24. 
Malebranche,  Nicolas.     250. 

Malherbe,  Fran^ois  de.    228.  •231.  233.  241. 
247.     250. 

Mallarmd,  Stephane.     373.  •377- 

Malmiginati.     194, 

Mameli,  G.     339. 

Malo,  St.,  Diözese.     31.  448. 

Mambres.     49. 

Man,  Insel.     19.  '27.  40.  41.  110. 

— ,  — ,  Gedichte  auf  die.     11 1. 

Manannan  mac  Lir.     in, 

Manawyddan,   Sohn  des  L1>t.     62    117.  118. 

Manchln.     <»o. 

»Mandragola*  Machiavellis.     189. 

Manct,  Edouard.     387. 

Manfred  der  Hohenstaufe.     169. 

Manoli,  Lied  von.     291. 

»Manon  Lescaut«   Prdvosts.     :66. 
I    Man.x.     27.   MO. 

1    Manzoni,  Alessandro.     *  i^».  30=-  *335-  336. 
I         •3.W     34'-  349-  411-  415    4««'    4l8- 
j    Mapes,  Walter.     n8. 

Marcellus.  Abt  von  St.  Gallen.     8. 

Marcus,  Mönch      90. 

Margareta,  Vita  der  heiligen      120 

Margarete,   Enkelin  Eduards  des  Bekenners. 

—  von  Navarra,     222. 


488 


Register. 


>Margarita  la  tomera«  Zorrillas.     349. 

Margueritte,  Paul.     393. 

Maria  von  Portugal.     284. 

— ,  Gedicht  vom  Transitus  der  Jungfrau.  133. 

—  in  den  Contes  d^vots.     151. 
Maria  d'Aquino.     177. 

>Mariage  d'argent«  von  Scribe.     331. 

Mariana,  Juan  de.     207. 

Marianus  Scottus.     10. 

Marie  de  France.     133.  149.  153. 

—  von  Troyes.     150    154.  156. 
Marienklage,  Französische.     165, 
— ,  Italienische.     170. 

Marini,  Gianbattista.     194.  198.  234.  414. 

Marivau.x,  Pierre  de.     '265.  268. 

Marmier,  Xavier.     303. 

Marot,  Clement.     225.  230.  372. 

>  Marseillaise «  Rouget  de  Lisle's.     271. 

Martialis.     10. 

Martin,  M.     104. 

Martin  le  Franc.     161. 

Martinez  de  la  Rosa.     344.  345. 

Martini,  Ferdinande.     417. 

»Martyrs,  Les«  Chateaubriands.     298. 

Marwnat  Corroi  m.  Dayry.     46. 

Massillon,  Jean.     252. 

>Mateo  Falcone«  Merimees.     322.  323. 

»Materia  di  Bretagna«      183. 

—  di  Francia«.     180.   183. 
/>Matemitä«  Ada  Negris.     414. 

»Math  der  Sohn  von  Mathonwy«.   60.  62.  117. 

Mathematik,  Altirische.     92, 

Matthäusevangelium.     80. 

Maturin,  Ch.  R.     302.     312. 

Maunoir,  Julien.     133. 

Maupassant,  Guy  de.  *390.  392   395    398.  399. 

414-  415-  432. 
Maxen  Wledig,   Traum  des.     117. 
»Maximes«  La  Rochefoucaulds.     240. 
Maynooth,  Priesterseminar.     *2i,   22.  23.  29. 
Mazarin,  Jules.     229.  245. 
Mazedonien.     17. 
Mazäres.     330. 

Mazzini,  Giuseppe.    332.  334.  340. 
>Med^e«  Comeilles.     236. 
Medici,  Cosimo  und  Lorenzo  von.     179. 
— ,  Piero.     181. 

— ,  Lorenzo  il  Magnifico  von.     181. 
Medina..     465. 
Medina.     423. 
Mediolanum.     462. 

>M^ditations  poetiques«  Lamartines.     315. 
Medizin,  Altirische.     92. 
— ,  Walisische.     120  f. 
Medraut.     115.  118. 
*  Medusa«  Grafs.     413. 
Meerfahrt  Brans.     95. 
—  Brendans.     90. 


Meglenisch.     453. 

M^hul.     271. 

Meilhac,  Henri.     400. 

Meister,  Die  sieben  weisen.     149.  292. 

Meistersang.     157.  160.  199.  225. 

Mel^ndez  Valdds,  J.     287. 

Meli,  Giovanni.     450. 

»Melusine«  von  H.  Gaidoz.     136. 

»Memoiren  eines  Siebzigers«  von  Romanos. 

420. 
»M6moires    d'outre-tombe«    Chateaubriands. 

296. 
»Manage,  En«  von  Huysmans.    394. 
Mend^s,  CatuUe.     372. 
»Mendigo«  von  Espronceda.     347. 
Men^ndez  y  Pelayo,  Marcelino.     420. 
Menestrel.     146. 

»Mensonges«  von  Bourget.     396.  398. 
Mercantini.     410. 
Mercien.     27. 

Mercier,  S.     264.  •269.  270. 
»Mercure  de  France«.     370.  378. 
»M^re,    La,    et   la   fille«    von   Maz^res   und 

Empis.     330. 
Meriadek,  Leben  und  Tod  des  heiligen.    132. 
M^rimde,  Prosper.     302.  *322.  345. 
Merhnus.     116. 
Mesca  Ulad.     118. 

Metastasio,   Pietro  Antonio  Domenico  Bona- 
ventura.    *276.  278.  286 
»Methode  scientifique  de  l'histoire  litt^raire« 

Renards.     356. 
Metrik,  Altirische  kirchliche.     81.  92. 
— ,  Schottische.     103. 

—  der  späteren  walisischen  Bardenpoesie.  121. 
Meun,  Jean  de.     158.  161. 
Meunier,  Constantin.     379. 
Meyer,  Konrad  Ferdinand.     322. 
»Michel  Pauper«  von  Becque.     403. 
Michelangelo  Buonaroti.     174.   176.  188.  192. 
Michelet,  Jules.     *274.   303.   305.  •309.  354. 

366.  372. 
Mignet,  Frangois.     307. 
-mil,  -mir  m  Ortsnamen.     465. 
Milä  y  Fontanals.     420. 
Milin.     136. 

Mill,  John  Stuart.     354.  368. 
Millevoye,  Charles.     302.  344.  349. 
Milton,  John.     11 1.  127.  287.  316. 
Mimus.     144. 
Minne.     150.  170. 
Minnesang.     •153.  156.  176.  202. 
Mirabeau,  Honor^  -  Gabriel  Riquetti,  comte  de. 

185.  271. 
Mirakelspiel.     165. 
Miranda,  Franc,  de  S4  de.     204. 
»Miranda«  von  Fogazzaro.     415. 
»Mir^io«  Mistrals.     379. 


Register. 


489 


>Misanthrope«   Moli^res.     244.  245. 

>Mis<?rables,  Lcs«  von  V.  Hugo.     322. 

Mission,  Irische,  auf  dem  Kontinent,     s  ff- 

»Miss  Sara  Sanipsonc  Lessings.     :09. 

Mistral,  Freden.     28<).  •379. 

Mittelirisch.     40. 

»Mt)ccdades€  de  Castros.     •219.  220. 

Mochutu.     90 

Mod.     71. 

Mönchsrcgcln,  Irische,     qo. 

Moengal   •=.   Abt     Marcellus     der    St.    Galler 

Klosterschule.     *8.  9.   10. 
Moesia  Superior.     139. 
»Moine,  Le«  Lewis".     271. 
Moliöre,  Jean  ■  Baptiste    Poquelin    (de).     219. 

220.    233.    237.    238.    241.   242.    »244.    268. 

27».  285.  376    437- 
Molina.     207    208. 
Moling,  Der  heilige.     91. 
Monapia  —  Man.     27. 
»Monarchia,  De*  Dantes.     172. 
»Monarchie  de  France,  La  grande«  Seyssels. 

222. 
»Monde  oü  Ton  s'ennuie*  von  Pailleron.  403. 
»Mondo  creato,  II «  Tassos.     193. 
Mongan,  König  von  Ulster. 
Monismus.     352.  306. 
Monmouth,  Gottfried  von. 
— ,  Galfried.     62    120. 
Monmouthshire,  Grafschaft. 
»Monsü  Travel«  Bersezios. 
Montaigne,  Michel  de    *  224.  227.  232.  253.  362. 
Monichretien.     225. 
Montdidier.     464. 
Montegön.     287. 
Montögut.     3b8. 
Montemayor,  Jorge  de.     209. 
Montesquieu,  Charles  Sccondat  de.  252.  '254. 

2S9    274-   =»7    35.V 
Montglane,  Haus.     147. 
Monti,  Vinccnzo.     276. 

33>  336. 
Montrose.  Graf     98. 
Morag.     105. 

»Morale  cattolica«,  Manzonis. 
Moralit(fs.     107 
Morann  mac  Möin.     93.  118. 
Moratin,  Nie.     *  t^t^.  287.  346. 
Morbihan,  Dialekt  von.     42.  43. 
Moreau,  H<'g«fsippe.     320. 
Moreto,  Don  Agustin      219. 
Morgan.  William.     128. 
•  Morgante  Maggiore«  Pulcis.     182. 
Morganwg,  Jolo.     48.  54. 
Morgenau.     116. 
Morison,  John.     109. 
— ,  Roderick.     105. 
»Bioro  exp6sito<  A.  de  Saavedras.  344.  34b. 


58- 

14.  I.S. 

28. 
41b. 


!8o.    •281.   288.  332. 


337- 


Morris,  Hugh.     120. 

>Mort  du  loup<  Vignys.     372. 

Monis,  Thomas.     222. 

Morvudd.     122. 

Mosso,  Angelo.     41a. 

Mozaraber.     452. 

Mozart,  Wolfgang  Amadeus.     270. 

»Muhsale  des  Persiles«  von  Cervantes.    211. 

Müller,  J.  von.     299. 

»Mündel  des  Pfarrers«   von  Diniz.     4x8. 

»Musserkrieg«  Travers'.     289. 

Munster.     20.  84.  86. 

Muoth.     434. 

Muralt.     252. 

Muratori,  Lodovico  Antonio.     273. 

Muresianu.     430. 

Murillo,  Bartolomd  Estcban.     220. 

Musik-  und  Sängerfeste  in  Wales.     53.  06. 

Musikdrama.     163. 

»Musketiere,  Drei«  Dumas'.     323. 

Mussato.     180. 

»Mußestunden  spanischer  Emigranten«.  344. 

Musset,  Alfred  de.  304.  313.  314.  '319.  32'- 

*},7,i-  347-  34«-  349.  372.  375. 
Myrddin.     iio.   118. 
»Myricae«  Pascolis.     413. 
»Mystöre  du  Vieux  Testament«.     160. 
Mysterien.     120.  131.  133.  i6s  f.  228. 
Mysterium,  Komisches,  von  der  ErschafTung 

der  Welt  bis  zur  Sintflut.     132. 
Mystiker,  Die  spanischen.     207. 
Mythologie,  Irische.     83. 


N. 

Nacht,  Gallands  Übersetzung  von  1001.     249. 

Nad.  ton(?).     132. 

Namenkunde,  Romanische.     462. 

»Nana«,  von  Zola.     385.  395. 

Nantes.     31.  55. 

— ,  Edikt  von.     221.  239. 

Napoleon  I.     281.  295.  303.  393. 

Napoleon  III.     303.  308.  400. 

»Natchez,  Les«  Chateaubriands.     296. 

NaturaUsmus.  351.  364.  308.  369.  372-  '382.427. 

Navarra,  Königreich  von.     143. 

Neapel.     177.  179.   182. 

Neger  Spanisch,    Portugiesisch  und    Frantö- 

sisch.     449. 
Negri,  Ada.     413 
Nennius.     12.  45.  59    83 
Neoklassizismus ,  Französischer.     204. 
— ,  Italienischer.     279. 
Nero,  Kaiser.     47. 
Nerval.  G^rard  de.     303. 
Neugriechisch.     4^3. 
Neustrien.     140.  143. 
»Neveu  de  Rameau,  Lc«.   Didctois.     2>.-» 


490 


Register. 


Newton,  Isaac.     252.  253.  256.  274. 

Nlall,  König.     94. 

Niccolini,  Giovanni  Battista.     339-  *340. 

Nicolay.     299. 

Niebuhr,  Barthold  Georg.     309. 

Nietzsche,  Friedrich.     327.  368.  370.  414. 

Nievo,  Ippolito.     339. 

Nodier,  Charles.     302. 

Nominöe,  Graf.     30. 

Nonn,  Leben  der  heiligen.     133. 

Nordafrika.     448. 

Nordbritannien,  Das  Keltische  in.     24. 

Nordfrankreich,  Germanischer  Einfluß  in.  140. 

Nordfranzösisch.     452. 

Normannen.     24.  31.  140.  141. 

Northumberland.     25. 

Norweger.     20.  64.  118. 

Notker  von  St.  Gallen.     8. 

»Notre  Dame  de  Paris«  von  V.  Hugo.     322. 

»Nouvelles  nouvelles,  Cent«.     162. 

Novae,  Zyklus  von  der  Sippe.     291. 

Novalis.     301. 

»Novelas  contemporaneas«  von  Galdös.    426. 

»Novelas  ejemplares«  Cervantes'.     211. 

Novelle,  Französische.     162.  247.  265. 

— ,  Italienische.     170.  177.  180.  188. 

»nueva  maestria«.     201. 

»Numancia«  Cervantes'.     211. 

Nunez  de  Arce,  Don  Caspar.     423. 

o. 

»Obermann«  von  Senancourt.     302. 
O'Clery,  Michael.     86. 
»Ödes  et  ballades«  von  V.  Hugo.     312. 
»Odi  barbare«  Carduccis.     412. 
Odyssee,  Altirischer  Auszug  aus  der.     85. 
Offa  von  Mercien.     27.  28, 
Offas  Wall.     28. 
Offenbach,  Jacques.     330.  400. 
Ogier.     146. 

O'Higgins,  Bardenfamihe.     51. 
Ohnet,  Georges.     365. 
Öingus.     90. 
Oireachtas.     71. 
»Oiseau«  Michelets.     372. 
Olivier,  Juste.     320. 
ollam.     57. 
O'Mulconry.     92. 
O'Neill,  John.     23. 
Oper.     196.  199.  *245.  270. 
Operette.     246.  269.  400. 
Orange,  Wilhelm  von.     147. 
Orcagna,  Andrea.     174. 
Ordinalia,  Komische.     131. 
»Orientales«  V.  Hugos.     317. 
»Origines     de    la    France     contemporaine« 
Taines.     355.  356.  361. 


»Orlando«,  anonym.     181. 

» —  furioso«  Ariosts.     184. 

» —  innamorato«  Bojardos.     183. 

Orosius.     80.  85. 

Orree  Beg.     iii. 

Orthographie  des  Inselkeltischen.     41. 

— ,  Rumänische.     293. 

Ortsnamen  Frankreichs.     464. 

—  der  iberischen  Halbinsel.     464  f. 

—  Italiens.     462  ff. 
Oscar  mac  Oisin.     73. 
Oscar,  Enkel  Finns.     84.  102. 

Oskisch,    Einfluß    des,    im    Lautsystem    der 

italienischen  Mundarten.     457. 
»Osservatore«.     275. 
Ossian  (Oisln,  Oisean),  der  Sohn  Finns.     84. 

100.   loi.   *i02.    116.    118.   264.    281.   287. 

295    315-  346. 
Ossiansage.     45.  64. 
Osterspiele.     163.  213. 
Otfrid.     90. 

Ottava  rima.     168.  170.  177.  180.  182. 
Ovidius  Naso,  P.     4.  10.   149.   150.  154.  160. 
Owain  Cyveiliog.     119. 
Owein  Gwynedd.     33.  119. 
Owen,  Daniel.     66. 

—  Glendower.     124. 

—  ap  Meredydd  ap  Tudor.     28.  58. 

P. 

Padua.     463. 

Pailleron,  Edouard.     *403.  426. 

»Palais  nomades«  Kahns.     376. 

Palladius.     86. 

»Palmeirim  de  Inglaterra«.     209. 

Panard,  Charles  Fr.     269. 

Pankeltismus.     69  f. 

Pann,  A.     292. 

»Panorama«  Herculanos.     348. 

Pantomime.     163.  166.  170. 

Panzacchi.     413. 

Pardo  Bazän,  Emilia.     421.  427.  428. 

Parini,  Giuseppe.     *28o.  333 

Paris.     156.  161.  221.  228.  349.  464. 

Paris,  Gaston.     352.  »356.  365.  368. 

»Parisienne«  von  Becque.     403. 

»Parnaso  portuguez  modemo«.     422. 

Pamasse.     *3i4-  329-  370-  *372.  4ii- 

»Pamasso  lusitano«.     347.  349. 

Pamy,    Evariste    Desire    Desforges   Vicomte 

de.     2G4. 
»Paroles  d'un  croyant«  von  Lamennais.    305. 
Parry,  Richard.     128. 
»Partenopeu  de  Blois«.     150. 
»Partita  a  scacchi«  Giacosas.     417. 
Pascal,    Blaise.     •230.    233.    239.    297.    341. 

358.  374- 
Pascarella,  Cesare.     342.  416.  419. 


Register. 


49' 


Pascoli,  Giovanni.     •413.  414.  4'9- 

Pasos.     214. 

Pasquicr,  Klicnnc  Denis,     ui. 

Passion,  Komische.     132. 

Passionsspiel,  Französisches.     105  f. 

Pasteur,  Louis      38Ü. 

»Pastor  ßdo«  Guarinis.     190. 

Pastorale.     190  f.  195.   199. 

Pastourelle.     144.  165.  229.  235. 

Pathelin,  Maistre.     133.   167. 

Patrick.    Der   heilige.     84.   89.   91.    102.   iii. 

120.   134. 
Patriotismus    in   der    modernen    italienischen 

Literatur.     418. 
Paul  IL.  Papst.     170. 
»Paul  et  Virginie*  St.  Picrres.     267. 
Paullinus  Nolanus.     47. 
Paulusbriefe.     Sd. 
Pavia,  Akademie  von.     7. 
»Pöcheurs  d'lslande*  von  Loti.     398. 
»Peintre  de  Saltzbourg«  von  Nodier.     302. 
»Peints  par  eu.\-mcmesc  von  Hervieu.     397. 
Pelagius.     80. 

»Pelayo«  von  Elspronceda.     346. 
Pellico,  Silvio.     334.  337    351. 
»Penas  arriba»  Peredas.     428. 
Penguem,  J.  de.     135. 
»Pensees  sur  la  religion*  Pascals.     231. 
»Pensieri*  Lcopardis.     341. 
» —  diversi«  Tassonis.     107. 
Pentraeth,  Dolly.     30. 
»Pepita  Jiraenez«  \'aleras.     •426.  429. 
Perceval  le  Gallois.     118. 
Percy,  Thomas.     264. 
Pereda,  Josd  Maria  de.     426.  427.  •428. 
»Pore  Goriot*  von  Balzac.     325. 
Pcrcgrinatio  des  Odoricus.     121. 
Perez,  Antonio      208.  234. 
Pergolese,  Giovanni  Battista.     270. 
Perrault,  Charles.     197.  248.  249. 
— .  a.     233.  248. 
Persius  P'laccus,  A.     10. 
Personennamen ,  Romanische.     465  ff. 
Perticari.     336. 

Pestalozzi,  Johann   Heinrich.     202.   282.  310. 
»Petit  chose.  Lct  von  Daudet.     395. 
Petrarca.    Francesco.     123.    162.    •174.    178. 

180.   181.  182.  184.  180.  188.  197    198.  203. 

227.  229    233.  23«.  241.  315-  34»-  408. 
Petrarkismus.     238. 
Petri,  Adam.     40. 

»Pfade  des  Urteils,  Die  fünfc  Cermnas.     88. 
Philipp  II    von  Mazedonien.     36. 
—  von  Spanien.     203.  308. 
Philipp  IV.  von  Spanien.     218    220.  284. 
Philipps,  John.     27.   110. 
»Philosophc  Sans  le  savoir«   Sedaines.     269. 
Philosophie.  /Mlirische.     02. 


Philosophie,  Französische  im  i<).  Jahrhundert. 
300.  366 

Phynnoddaree.     iii. 

Physiükratcn      "25^  274. 

»Piaceret  d'Annunzios.     414. 

Pico  della  Mirandola,  Giovanni.     17g. 

Pier  delle  Vigne.     109. 

Pikten.     17.   I».   19.  24.   II V 

»Pilger,  Der,  in  seiner  Heimat«  Lopes  de 
Vega      215. 

Pindar.     188.  226.  229.  241.  250. 

»  Pinto  ♦  von  Lemercier.     302. 

Pippin.     0.  7. 

»Pirata«   von  Espronccda.     347. 

»Piü  che  l'amore*   d'Annunzios.     418. 

Pius  IL,  Papst.     179. 

Pixdr^court.     302.  329.  345. 

Plato.     175.  181.  223.  359. 

Plautus,  T.  Maccius.     183.  215.  229.  244. 

Plcjade.     227.  229.  230. 

Plinius  der  Ältere.     47. 

Plutarch.     222.  224. 

Poe,  Edgar  Allen.     350.  369.  373. 

»Po^mc  en  prose«.     303. 

«Poi;mes  antiques«  und  *Poi;mes  barbares« 
von  Leconte  de  Lisle.     371. 

»Poi;mes  dorcs«,  von  France.    399. 

»Poi;mes  en  prose,  Petits*  Baudelaires.     373. 

»Poesie  nouvellc«.     375  ff. 

♦Poesie  scelte*,  Fogazzaros.     414. 

»Po^sies«  von  Th.  Gautier.     320. 

»Poetica«  Luzins.     284. 

Poggio,  Gi;m  Francesco.     178. 

»Polemiche«   Carduccis.     411. 

»Politik  Gottes«  Quevedos.     209. 

Poliziano,  Angelo.     181.  1S2.  204.  220. 

Polo,  Marco.     159. 

Pombal.  Sebastiäo  Josö  de  Carvalho  e  McUo. 
Marquis  von.     282. 

Pomponius  Mela.     47. 

Ponsard,  Franijois.     '329.     424. 

Pontano,  Giovanni  Gioviano.      180. 

Pontellus.     S5. 

Pope,  Alexander.     256.  287. 

Porta,  Carlo.     342.  4S'»- 

Porto  Alegre.     348. 

Portoriche.     400. 

Port-Royal.  Kloster.     230.  354. 

Portugal.     199.  200.  203. 

— ,  Französischer  Einfluß  in.  im  18.  Jahr- 
hundert.    2S3  f. 

Portugiesisch.     4S-- 

Posidonius.     50. 

Posilivismus.     •306.  35O.  360.  301.  36O. 

Possenspiel.  It.ilienischcs.     168. 

Pouvillon.  Emile.     392. 

Präraffaeliten.     369.  375. 

Praga.     417- 


492 


Register. 


Prati,  Giovanni.     339.  411. 

Predigt  s.  Kanzelberedsamkeit. 

»Pratique  du  theätre«  d'Aubignacs.     237. 

»Prdcieuses«  Moli&res.     244. 

Preislieder,   Bardische.     50.  61.  81. 

Presse,  Französische.     271. 

Prevost,  Marcel.     396. 

Prevost  d'Exilles,  Antoine,  l'abbe.     256.  *265. 

Prevost-Paradol ,  Lucien  Anatole.     366. 

Preziosität  in  Frankreich.     233.  *237. 

—  in  Spanien.     284. 
Price,  Edmund.     124.     128. 
• — ,  Thomas.     124.  127. 
Prichard,  Rhys.     128. 
»Prigioni,  Le  mie«  Pellicos.     337. 
»Princesse  de  Cl^ves«  Marie  von  Lafayettes. 

247. 
»Principe«  MachiaveUis.     185.  222. 
»Prinzipien  und  Pflichten  des  Christen«  von 

Wilson,     iio. 
Priscian.     80. 

»Promessi  Sposi«  Manzonis.     336.  337.  *338. 
Prophetia  Ambrosi  Merlini  de  septem  regibus. 

131- 
»Proposta  manzoniana«.     336. 
»Proposta«  Montis.     336. 
Prosa  in    der  mittelalterlichen   französischen 

Literatur.     158  ff. 

—  in  der  italienischen  Literatur  des  16.  Jahr- 
hunderts.    196. 

—  in  der  itahenischen  Renaissance-Literatur. 
184  ff. 

—  in  der  spanischen  Literatur.     202.  207. 
Prosaerzählung,  Irische  und  kymrische.     61. 
Prosaroman,  Keltischer.     64.  65. 
»Proscrits«  von  Nodier.     302. 

Prosodie  der  walisischen  Barden.     125. 

Proudhon,  Pierre  Joseph.     306. 

Proux,  Prosper.     136. 

»Proverbes«  von  A.  de  Musset.     331. 

»Proverb i«  von  Martini.     417. 

»Proverbios  morales«  von  Sem  Tob.     423. 

Provincia  (Provence).     141.  143. 

Provinciales.     141. 

»Prozente«  von  Ayala.     424. 

Priifungsbuch  lorwerths.     117. 

Pryderi.     60. 

Prydydd  y  Moch  =  Llywarch  ab  Llywelyn. 

Prys,  Prime  des  Sir  John.     127. 

Psalmenkommentare.     80.  89. 

Psalmenübersetzung,  Schottisch-gälische.    109. 

»PuceUe  d'Orleans«  Voltaires.     265. 

Pughe,  William  Owen.     127. 

Pulci,  Luigi.     181.  •182.  183. 

Pulcinella.     190. 

Purgatorium  Patricii.     72. 

Purismus,  Französischer.     232. 

— ,  Italienischer.     187. 


Puschkin,  Alex.  Sergej ewitsch.     323. 

Puys,  literarische  Gesellschaften.     156.   160. 

225. 
Pwyll,  Prinz  von  Dyfed.     62.  117. 
Pyramus  und  Thisbe.     206. 

Q. 

Quadruvium.     463. 

Quellien,  N.     136. 

Quental,  A.  de.     421. 

Querelle  des  Anciens  et  des  Modernes.    249. 

Quevedo    ViUegas,    Francisco    de.     128.  205. 

*208. 

Quinault,  Philippe.     237.  242.  243. 

Quinet,  Edgar.     303.  ♦304.  305.  315.  348.  354. 

Quintana,  Manuel  Josd.     288.  343. 

R. 

Rabelais,  Frangois.    207.  222.  *223.  225.  230. 
»Rache,  Die,  für  Christi  Blut«.     90. 
Rachel  (Felix),  Elisa.     329. 
Racine,  Jean.      230.  237.  241.  *242.  246.  250. 

277.  301.  312.  329.  354. 
Radcliffe,  Anna.     271.  302, 
»Raeteis«  Lemnius'.     289. 
Rätien.     288.  434. 
Rätoromanisch.     451. 
Rafael.     187. 

»Ragione  poetica«  Gravinas.     276. 
Ramus,  Petrus.     222. 
Rannaigecht.     115.  126. 

Rappresentazione,  Sacra.     181.  182.  189.  190. 
Ratpert  von  St.  Gallen.     8. 
Raynouard,  Frangois.     302. 
»Reali  di  Francia«.     180. 
Rechtschreibung  s.  Orthographie. 
Rechtsliteratur,  Irische.     87  ff. 
»Recueillements    poetiques«    von  Lamartine. 

316. 
»Recuerdos  del  tempo  viejo«  Zorrillas.     420. 
»Reden  über  Livius«  MachiaveUis.     185. 
Rees,  Daniel.     127. 
Reformation.     436. 

—  in  Frankreich.     222. 

— ,  Einfluß    der,    auf  die   keltischen  Idiome. 

25.  40. 
— ,  — ,  auf  das  Keltentum  Irlands.     51. 
— ,  — ,  auf  die  Insel  Man.     iio. 

—  in  Spanien.     220. 
Refugies.     239. 
Regnard,  Jean.     245. 
Rdgnier,  H.     377.  378. 
Reid,  Thomas.     295. 
Reims.     464. 

Reina,  M.     423. 

Religiöse  Literatur,  Bretonische.     133.  136. 

— ,  Komische.     132. 


Register. 


493 


Religiöse  Literatur,  Schottisch-gälische.     109. 

— ,  Walisische.     120.  128. 

Rembrandt,  HarmensE.     354. 

Remusat,  Charles  de.     311. 

Renaissance.     'iSi.  238.  436. 

— ,  Französische.     *22i.  252. 

^Renaissance«  von  Gobineau.     408. 

Renan,    Emest.      303.    307.    351.    353.    354. 

•.>57-  362.  367-  368.  399-  408.  410. 
Renard,  G.     356. 
Renard,  Roman  de.     152.  153. 
Renaut  de  Montauban.     146. 
Renduel,  Verlag.     311. 
>Rene<<:  von  Chateaubriand.     333. 
Rennes.     31. 

»Repas  du  lion«  von  Curel.     407. 
»Republique,  La«:  Bodins.     224. 
R^tif  de  la  Bretonne.     *267.  390. 
Retz,  Kardinal  von.     231. 
Revolution,  Französische.     270  f. 
»Revue  critique«.     352. 
»Revue  des  deux  mondes«.     311.  378.  414. 
»Revue  de  Paris«.     311.  382. 
Rhein.     139.   140. 

Rh^torique,  Rh^toriqueurs.     162.  225, 
Rhiwallon.     121. 

»Rhonabwys  Traum«.     60.  62.  117.   118. 
Rhydderch  in  Peniarth.     114. 
Rhys  Cain.     125. 
Rhys  Goch  Eryri.     124. 
Rhys  Goch  ab  Rhiccerd.     122. 
Rhys  ab  Gruffydd.     46.  116. 
Rhys  Meigen.     123. 
Rhys  ab  Tewdwr.     14. 
»Ricahembra«  von  Tamayo  y  Baus.     424. 
Ricemarchus.     120. 
Richard  IlL     53. 

Richard  Löwenherz'  Kreuzfahrt.     151.  154. 
Richardson,  Samuel.     263.  265.  278. 
Richelieu,   Armand  Duplessis  Duo   de.     229. 

232.  236.  239.  254. 
Richepin,  Jean.     378. 
Richeut  und  ihr  Sohn.     152. 
Richter  in  Wales.     58. 
»Rime«  Tassos.     192. 
»Rime«    und     >)Rime   nuove«   von   Carducci. 

411.  412. 
T>Rime  e  Ritmi«  Carduccis.     413. 
^Rinderraub    von    Cualnge«.      35.   so.  66.  68. 

69.  84.  95. 
Rinuccini.     196. 
Risorgimento.     273.  280. 
Rivarol.     253.  272. 
Riwal.     133. 
Rob  Donn.     107. 
Robert  von  Neapel.     177. 
Robin  Ddu.     124. 
Rod,  Edouard.     393.  •394. 


Rodenbach,  Georges.     379. 

Römer.     17.  i8.  3v   138.  447. 

Rojas,  Fernando  de.     210.  219.  235. 

Roland.     146.  200. 

Rolandslied.     147.  148.   159.  182.  200.  201. 

Rom.     140.   179.  410. 

Romains  des  französischen  Theaters.     246. 

Roman,  Französischer.     i4Sflr.  160.  228.  234. 

24O.  265.  321  ff.  382 ff. 
— ,  Italienischer.     41 5  ff. 
— ,  Spanischer.     210.  426. 
— ,   —   und   italienischer  Ritter-  und  Hirten-. 

187.  199.  202.  209. 
»Roman  comique,  Le«  Scarrons.     235. 
»Roman  de  la  Momie«  von  Th.  Gautier.    323. 
Roman  des  Qucte  du  Saint  Greal.     118. 
»Roman  russe,  Le«  von  Vogii^.     369. 
»Romancero  general«  Duräns.     343. 
Romanen.     11. 
Romanesca,  Die.     190. 
Romania,  Entstehung  der.     138. 
— ,  Ausdehnung  der.     447. 
Romanisch,  Verhältnis  von,  und  Latein.    454. 
Romanos,  Mesonero.     346.  420. 
Romantik.     435.  436, 

—  in  Frankreich.     295  fr. 

—  in  Italien.     334 ff. 

—  in  Portugal.     347  ff. 

—  in  Spanien.     344  ff. 
Romanze.     168.  20 j.  201.  204. 
Romanzen-Sammlungen,  Spanische.     343. 
Ronsard,    Pierre.     226.    227.    228.    249.    251. 

265.  311.  317-  319.  371-  37=- 
Rosa,  Salvatore.     197. 

»Rose,  Die«,  Romanzyklus  d'Annunzios.    414. 
Rosenroman.     158.  223. 
Rosmini,  Antonio  Graf,     335.  416. 
Rosny,  J.-H.     393. 
Ross,  Th.     100. 
— ,  William.     107. 

Ross  Ahthre,  Klosterschule  von.     90. 
Rosselli,  Frau.     417. 
Rossini,  Gioachino  Antonio.     303. 
Rostand,  Edmond.     '408.  426. 
Rotrou,  Jean  de.     236. 
»Rouge,  Le,  et  le  noir«  Stendhals.     326. 
Rouget  de  Lisle,  Joseph.     271. 
»Rougon  Macquart«  Zolas.     386.  *388.  390. 
Roumanille,  Joseph.     320.  379.  380. 
Rousseau,  Jean-Jacques.    •22-;.  252.  254.  •260. 

204.  266.  269.  270.  272.  274.  282.  315.  324. 

320.  333.  354. 
Rovetta,  G.     417. 
RoyerCoUard ,  Pierre  Paul.     305. 
Rudel,  Jaufr^.     155,  156. 
Rudolf  von  Ems.     152 
Rueda,  Lope  de.     214. 
Ruiz,  Juan.     201. 


494 


Register. 


Rumänien.     290.  430. 

Rumänisch.     453. 

Ruman  mac  Colmain.     94. 

Rußland,  Einfluß   von,    auf  die   französische 

Literatur.     369. 
Rutebeuf.     *i56.  165. 
Rutter,  Archidiakonus.     11 1. 
»Ruy  Blas«  von  V.  Hugo.     329. 
Ruzzante.     189. 

S. 

Saavedra,  Angel  de,  Herzog  von  Rivas.    344. 

*345-  346.  349- 
Sacchetti.     180. 

Sachsen.    12    18.  19.  30.  52.  53.  60.  99.  115. 
Sängerschule,  St.  Gallener.     8. 
Sagas,  Isländische.     64. 
Sagen,  Irische.     82  ff. 
— ,  Kymrische.     117  f. 
Sagenerzählung  in  der  Bretagne.     60. 

—  in  Irland.     67  f.  80. 

—  in  Wales.     59. 
Sainete.     286.  287.  425. 
Saint  -  Amant.     234. 

Sainte-Beuve,    Charles   Augustin.     311.   313. 

*3i9    352.  *353.  356.  421. 
St-Evremond.     249. 
Saint  -  Hilaire ,  Geoffroy  de.     306. 
St.  Pierre,  Bemardin  de.     263.  267. 
Saint -Simon,   Claude  Henri  Comte  de.     306. 
»Salammbo«  von  G.  Flaubert.     323.   *384. 
Sales,  Frangois  de.     224. 
Salesbury,  William.     128. 
Salmantiner.     287. 
»Salome«  von  Wilde.     408, 
Salons,  Französische.     253. 
»Saltair  na  Rann«,     go. 
Saltrey,  Henry  (?)  von.     120. 
Salvä.     343. 
Samain,  A.     378. 
»Sämänätorül«.     433. 
Sammelhandschriften,  Altirische.     79. 
Sancho  Panza.     212. 
Sanctis,  Francesco  De.     410. 
Sand,  George.  319.  320.  321.  *323.  345.  346. 

383.  384.  392 
»Sang  des  Lateinervolkes«  von  Alecsandri.  432. 
Sannazaro,  Jacopo.     182.  191.  209. 
Santillana,  Inigo  Lopez  de  Mendoza,  Marques 

von.     203.  439. 
Sanz,  Julian.     421. 
»Sapho«  von  Daudet.     395. 
Saragossa.     463. 
Sarcey,  Francisque.     403.  404. 
Sardisch.     450. 
Sardou,  Victorien.     400. 
Sarmatia.     463.  464. 
»Satire  Menippee«.     224. 


»Satires«  Boileaus.     241. 

Saucourt,  Schlacht  von.     145. 

Savonarola,  Girolamo.     180. 

Scarron,  Paul.     210.  235.  237.  244.  247. 

scelide.     57.  61.  62. 

»Schädel,  Der«  von  Buchanan.     109. 

Schauspiel  s.  Theater. 

Scheffel,  Joseph  Victor.     8. 

Schelling,    Friedrich   Wilhelm  Joseph.      306. 

Schelmenroman,  Spanischer.     210.   228.   235. 

Schenkung  Konstantins.     179. 

Scherer,  Edmond.     352.  *369. 

Schiller,  Friedrich.     140.    258.  263.  267.  288. 

299.  300.  301.  302.  303.  327.  423.  424. 
Schincai.    292. 

»Schlacht  von  Finnträig«.     66.  95. 
» Schlaf barden.  Die  Gesichte  des«  von  Wynne. 

128. 
Schlegel,    August   Wilhelm.      299.    301.    344. 
Schleiermacher,  Friedrich  Ernst  Daniel.    297. 
Schnaderhüpfel.     200. 
Schneider,  Sascha.     407. 
Schopenhauer,  Arthur.     208.  368. 
Schotten.     33.  40.  70.  71.  72. 
Schottische  oder  albanogälische  Sprache.    102. 
Schottland,    Das   Keltische   in.     *24.  40.  41. 

51.  70.  98. 
Schrift,  Altbritische.     125. 
— ,  Irische.     9. 
— ,  Schottische.     98. 
Schriftlateinisch.     454. 

Schriftsprache,  Französische.    150.   162.  *468. 
— ,  Italienische.     186  f.  336.  *468. 
— ,  Rumänische.     431.  469. 
—  in  Spanien  und  Portugal;   in  Graubünden 

und  Tirol.     469. 
»Schuster  und  König«  ZorriUas.     349 
Schwanenritter ,  Mythus  vom.     147. 
Schwank  in  der  französischen  Literatur.    152. 
Schweiz,  Literatur  der  französischen.     381. 
— ,  Sprachverschiebungen  in  der.     448. 
»Schwertfeger,  Der,  vonSantarem«  von  Garrett. 

347. 
Scott,  Walter.     52.  160.  302.  308.  312.  *32i. 

325.  335-  339-  344-  346- 
Scotti,  Scottia.     18.  19. 
Scottia  minor.     19.  24.  25.  98. 
Scribe,  Eugene.     327.  *330.  400. 
Scuap  Chräbuid  (Scopa  Devotionis)  von  Colgfu. 

89.^ 
Scudery,  Madeleine  de.     234.  235.  236. 
Scuola  siciliana.     169. 
Seaan  von  Knoidart.     99. 
Seaforths,  Clan  der.     105. 
Seandäna  von  J.  Smith.     102. 
»Secchia  rapita«  Tassonis.     195. 
Secentismo.     194.  196.  *I97.  275. 
Second  sight.     108. 


Register. 


495 


»Secretum  meuin«  Petrarcas.     17s. 

Sedaine,  Michel  Jean.     269.  285. 

Sedulius  Scottus.     8.  8q. 

Seetreffen  zwischen  Elliot  und  Thurot,  Gedicht 
über  ein.     iii. 

Seiscentismo.     207. 

»Semaine,  La«  Dubartas'.     228. 

Sem  Tob.     423. 

Senancourt.     302. 

sencha.     57. 

Sencha,  Richter.     84. 

Senchan  Torpeist.     51. 

Seneca.    18S.  193.  205.  215.  229.  241.  242.  250. 

*Sepolcri<.<  Foscolos.     333. 

Septimius  Severus.  138. 

»  Sepulture  «  Legouv^s      333. 

Sepülveda.     204. 

Serao,  Matilde.     415. 

Serapion.     92. 

»Servitude  et  grandeur  militaires«  von  A.  de 
Vigny.     322. 

Servius  80. 

Sestine.     155. 

Settembrini,  Luigi.     410. 

S^ve.     226. 

Sevembucht.     18.  bi. 

Severuswall.     18. 

Sevilla.     220. 

Sevilla.     464. 

Seyssel.     222. 

Shakespeare,  William.  51.  218.  232.  243. 
252.  254.  256.  263.  267.  268.  276.  280.  285. 
297.  302.  303.  312.  327.  328.  331.  354.  408. 
420.  437. 

.Shelley,  Percy  Bysshe.     414. 

Sheriffmuir,  Schlacht  von.     104. 

Shropshire,  Grafschaft.     28. 

Sidneys    .>Arcadia«.     234. 

Siebenbürgen.     431. 

Sigmondi.     439. 

Signorelli,    Luca.     174. 

»Silvanirec   Mairets.     235. 

Simwnt  Vychan.     124.  125. 

Sinclair,  A.  Maclean.     103. 

Singspiel,  Französisches.     269. 

— ,  Spanisches.     286. 

Sinlan,  .Abt  von  Bangor.     5. 

Siön  Kent.     124. 

Siön  Tudur.     124. 

Sirmium.     139. 

Sirventes.     144.  155.    156. 

Sittenkomödie  s.  Tendenzdrama. 

Skandinavien ,  Einfluß  von ,  auf  die  franzö- 
sische Literatur.     369. 

Skene,  W.  J.     11«;. 

»skimble-skamble«'.     116. 

Skolien,  Walisische.     127. 

Smith,  J.     102.  108. 


Soci^t^  polie  in  Frankreich.     233.  235. 
>Soeur   Philomt!;nc<'  von  E.  und  J.  (joncourt. 

3«.S. 
Somerset.     30. 

Sonett.     168.  169.  182.  226.  241. 
Soniou  s.  Volkslied,  Bretonisches. 
Sophokles.     188.  241.  242.  250.  420. 
Sophonisbe.     229. 

—  Mairets.     235. 

;•>  Sotilega  <^  Peredas.     427.  428. 

Sotties.     167. 

Soulary.     320. 

Souvestre,  Emile.     136. 

Sozialismus  in  der  französischen  Literatur.  306. 

Spanien.     142.  200.  419  ff. 

— ,  Mundarten  von.     452. 

— ,  Einfluß  von,  auf  die  italienische  Literatur. 

187.  19«. 
— ,  Französischer  Einfluß  auf.     282. 
— ,  Germanischer  Einfluß  auf.     141. 
Spanier.     140. 
Spanisch.     452. 
»Spectacle  dans  un  fauteuiU'  von  A.  de  Musset. 

331- 
»Spectator«.     254. 
Spencer,  Herbert.     368. 
»Spiegel  der  Beichte«.     133. 
»Spiegel  des  Todes«.     133. 
Spottlieder,  Bardische.     50. 
— ,  Französische.     144. 
Sprachen,  Die  romanischen.     142.  '447  ff. 
Sprachverein,  Italienischer.     419. 
Sprichwörter,  Mannische,     iii. 
— ,  Schottische.     108. 
— ,  WaHsische.     127. 
Stabiae.     462. 
Stael,    Germaine   Necker   baronne   de.      254. 

250.    260.    272.    294.   295.   •298.    31 -•   334- 

337-  349-  352.  369.  397-  43<'- 
Stammesgeschichten,  Irische.     80. 
Statius,  P.  Papinius.     149. 
Statuta  de  Rothelan.     iio. 
Stegreifdichtung,  Italienische.     198. 
Stegreifposse,  Italienische.     195.   199.  214. 
»Stello«  von  A.  de  Vigny.     322.  328. 
Stendhal  s.  Beyle,  Henri.     298. 
»Stern,  Der,«  von  Eminescu.    434. 
Sterne,  Lawrence.     203. 
Stewart  von  Killin,  James.     109. 

—  von  Luss,  John.     109. 

Stil,  Der  süße,  neue.     170.  171. 

Stokes,  Whitley.     74. 

Stone,  Jerome.     'og.  100. 

»Storia    dcUa    letteratura    italiana«    von   De 

Sanctis.     410. 
/•Storia    delle    Belle    Letterc    in    Italia«    von 

Giudice.     332. 
> Stoßkarren  des  Essigmannes«  Merciers.   209. 


496 


Register. 


Stowe  Missal.     79. 

Strabo.     55.  56. 

Straparola.     188. 

Strauß,  David  Friedrich.     358. 

Streitgedicht,    Höfisches   französisches.     144. 

Strophe,  Irische.     63. 

Stuart,  John  Roy.  105. 

Stuarts,  Haus  der.     26. 

Südfrankreich,  Germanischer  Einfluß  in.    141. 

Südfranzösisch.     452. 

Sully  -  Prudhomme ,     Rene  -  Frangois  -  Arm  and. 

317-  *373-  378.  400. 
»Suspiros  e  saudades«  Magalhäes'.    348.  350. 
Swift,  Jonathan.     256. 
»Syllabus«.     368. 
Symbohsten.     375.  407. 
»Systeme  de  la  nature«  Holbachs.     259. 


T. 

Tacitus,  P.  Comehus.     56.  256. 

Tadg  Mör  hüa  Cellaig  (O'Kelly).     9-^^. 

Taglied.     144. 

Taillandier,  Saint-Rene.     303.  368. 

Täin  Bö  Cüalngi  s.  Rinderraub  von  Cualnge. 

Taine,  Hippolyte.     306.  308.  327.  *354.   357. 

361.  362.  365.  367.  368.  387.  396. 
Taldir  =  F.  Jaffrennou. 
Tahessin.     46.  52.  114.  *ii5.  116.  119. 
Tamayo  y  Baus,  Manuel.     424. 
Tansillo.     188.  195. 
Tanz  im  alten  Frankreich.     143. 
Tartanplaid.     105. 
»Tartuffe«  MoH^res.     244.  245. 
Tasso,  Torquato.     188.    190.    *I92.    194.  195. 

206.  207.  215.  220.  277.  287. 
Tassoni,  Alessandro.    193.  195.  *I96.  198.  233. 
Taylor.     254. 

Teachdaire  gaelach,  An.     109. 
»Teatro   espanol  anterior  ä  Lope«  Böhls  de 

Faber.     344. 
Tecosca  Cormaic.     93. 
»Telemach«  Fenelons.     240.  249.  252. 
»Temora«.     100. 

»Temps,  Le,  et  la  vie«  von  Adam.     393. 
Tendenzdrama.     401  f.  406.  417. 
Tennyson,  Alfred  Lord.     16. 
Terentius  Afer,  P.     10.   183.  215.  229. 
Teresa  de  Jesus.     207.  208. 
Teresah,  Frau.     417. 
»Terra,  La,  dei  morti«  Giustis.     340. 
»Terre,  La«  von  Zola.     398. 
Terzine.     168. 

Testament,  Altes,  in  bretonischer  Sprache.  136. 
— ,  — ,  in  irisch-gälischer  Sprache.     90. 
— ,  — ,  in  kornischer  Sprache.     132. 
— ,  — ,  in  Manx.     iio. 
— ,  — ,  in  schottisch-gähscher  Sprache.  41. 109. 


Testament,  Neues,   in  bretonischer  Sprache. 

136. 

-,  in  irisch-gälischer  Sprache.     40.  90. 

-,  in  komischer  Sprache.     132. 

-,  Luthers  Übersetzung.     40. 

-,  in  Manx.     iio. 

-,   in  schottisch -gälischer  Sprache.     41. 

109. 
— ,  — ,  in  walisischer  Sprache.     128. 
»Testament,  Das,  des  Morann  mac  Möin  an 

seinen  Sohn  Feradach«.     93. 
»Teufel,    Der    hinkende«    V.    de    Guevaras. 

208. 
Texte,  J.     370. 

Theater,  Bretonisches.     133.  134. 
— ,  Deutsches.     300. 
— ,  Französisches.     i62ff.   228ff.   235f.  242ff. 

267  ff.  327  ff.  400 ff. 
— ,  Hof-,  zu  Ferrara.     183. 
— ,  ItaUenisches.     181.    i88ff.   195.   276.    338. 

340    416. 
— ,  Komisches.  131. 
— ,  Rätisches.     290. 
— ,  Rumänisches.     293. 
— ,  Spanisches.     213 ff.  284ff.  345 ff.  423 ff. 
— ,  Waüsisches.     125 f. 
»Theätre,  Du«  Merciers.     269. 
»Theätre  en  liberte«  von  V.  Hugo.     329. 
Theatre-libre  Antoines.     404. 
Theätre  de  l'CEuvre.     405. 
Theben,  Sage  von.     149. 
Thermopylen.     17. 
Thesenstück  s.  Tendenzdrama. 
Thessalien.     17. 
Theuriet,  Andrd.     392. 
Thibaut  IV.,  König  von  Navarra.     156. 
Thierry,  Augustin.     *3o8.  366. 
Thiers,  Louis -Adolphe.     305.  '307.  311 
Thomson,  James.     263. 
Thrakien.     17. 
Tiberius,  Kaiser.     47. 
Tieck,  Ludwig.     301. 
Tierepos,  Französisches.     152. 
Tiermärchen,  Tiersage.     153. 
Tigernach,  Abt  von  Clonmacnois.     85.  86. 
Tillier,  Claude.     305. 
Tiraboschi,  Girolamo.     273. 
»Tirant  lo  blanch«.     199. 
Tirso  de  MoUna.     219.  346.  347. 
Tizian,  Vecellio.     187.  192. 
Tocqueville,  Alexis,  de.     *3o8.  367. 
Tod  der  Söhne  Uisnechs   und   der  schönen 

Deirdre.     98. 
Toleranzedikt  s,  Nantes,  Edikt  von. 
Tolstoi,  Leo  Graf.     324.  356.   369.   370.   389. 

404.  414. 
Tommaseo,  Niccolo.     339.  *340. 
Torna,  Barde.     94. 


Rcffister. 


497 


Torrcs  de  Naharro,  Bartolom^.     214.  215. 

Torrien,  A.     ißo. 

Totcnklagc  um  Curoi  mac  Dari.     4(1.  1 1  5. 

—  um  Köniy  Niall.  .  94. 

—  um  Tadg  Mör  hOa  Cellaig.     04 
Totentanz.     160. 

Totman.     0. 

Toulouse,  Dr.     366.  340. 

Traditionalismus.     396. 

»Tränen  des  heiligen  Petrus«  Tansillos.     193. 

Tragikomödie.     229.  23?;.  237. 

Tragödie  s.  Theater. 

Transactions  of  the  Gaelic  Society  of  Invcmess. 

109. 
Traum  des  Maxen  Wledig.     117. 

—  des  Rhonabwy.     117. 
Travers.     2S9. 

»Tresor  du  felibrige«   Mistrals.     380. 
Trcguier.     42.   134.  448. 
Triaden,  Altirische  gnomische.     93. 
-,  Walisische.     127. 
triban.     115. 

*Trionfi«  Petrarcas.     174. 
»Trionfo  della  morte«'  d'Annunzios.     414. 
Trissino,  Giangiorgio,  löy.  •ib8.  191.  192.  229. 
Tristan  und  Isolde.     118.  148. 
»Tristi  amori<,'   Giacosas.     417. 
»Trois  fiUes,  Les,  de  M.  Dupont«  von  Brieux. 

406. 
Troja,  Geschichte  von.     149.  292. 
«.Trophees,  Les«  von  Heredia.     373. 
Troubadours.     •154.   i'i9.  202.  468. 
Troude,     136. 
Trouv^res.     1 56. 
•Trovador«   von  Gutierrez.     343. 
Trovatori.     109. 
Troyes.     464. 
Trubert.     152. 

»Trunkenheit  der  Ulsterleute«.     69. 
Tschudi,  Aegidius.     288. 
TQatha  De  Donann.     80.  83. 
Tudur  Aled      124. 
Tuotilo  von  St.  Gallen.     8. 
Turgenieff,  Iwan.     323.   324.  357.   3O9. 
Turlogh  O'Carolan.     51. 
Turoldus.     147. 
Tyard.     226.  227. 
Tynwald.     27 

U. 

Übersetzungen    der   antiken   Literatur,    Fran- 
zösische.    222. 
-  der  Ii^annati,  Fraruösische.     220. 
— ,  Rumänische.     293. 
Uhland,  Ludwig.     153.  303.  30»».  431. 
Uisnech.     98. 
Ulbach,  Louis.     382. 
Ulster.     20.  83.  86.   101. 

Dn  Kultur  diu  Giocmwart     I.  it.  i. 


Umbrisch,   Einfluß   des,    \m   Lautsystem   der 

italienischen  Mundarten  437. 
vUniversalthcater*  Keijöos.  283. 
»Unmöglichste    von   allen.     Das«    Lopcs    de 

Vega.     217. 
»Unterhaltsame  Reise«  Rojas'.     210. 
»Unterhaltung  der  Alten,  Die«.     68.  85.  95. 
Urard  mac  Coise.     57. 
I    Urien  Reged.     115. 
»Urteile,  Falsche«  Caratnias      88. 
»Utopia«  Morus".     222. 


Väcärescu,  J.     293. 

Valdds,  Juan  de.     i88.  207.  210. 

— ,  A.  Palacio.     427. 

Valencia.     142. 

»Valentine«  von  G    Sand.     323. 

Valera,  Juan.     426. 

Valla,  Lorenzo      179. 

Valladolid.     220. 

.>Valsoldao   von  Fogazzaro      413. 

Vandalen.     139. 

Vanini.     196. 

Vannes,  Diözese.     31.  43.   134.  448. 

Varano.     2tSo. 

Vaten.     35.  46.  47.  »33. 

Vaudeville.     165.  218.  246.  330. 

Vaugelas.     232. 

Vaughan,  Robert.     114. 

Vauvenargues ,    Luc   de  Ciapier,   marquis  de. 

200. 
Vega  Carpio,  Felix  Lope  de.     193.  205.  210. 

•215.    2iq.    220.    238.    2S4.    285.    423. 

»Veglie,  Le,  di  Neri«   von  Fucini.     413. 

Vegliotisch.     451. 

Veilchenroman.     149 

vehs.     56. 

Venantius  Fortunatus.     50. 

»Venus  d'Ille*'  Merimees.     322. 

»Verbrechen  des  Philologen  Sylvestre  Bon- 
nard«, von  France.     399. 

Verdi,  Giuseppe.     345. 

Verga,  Giovanni.     415.  416. 

.>\'ergangene  Tage«  von  Ganca.     432 

VergiUus  Maro,  F.  4.  10.  67.  80.  85.  130. 
149.  173.  175.  178.  188.  192.  193.  2o6.  228. 
224.  246.  250.  279. 

Verhaeren,  Emile.     379. 

Verismus.     333.  415. 

Verlaine,  Paul.     373.  370.  '377. 

»Verre  d'eau,  Le«   von  Scribe.     330. 

Verri.     275. 

vers  libres.     376. 

Verso  sciolto.     279.   280.   333. 

Verv-ins,  Friede  von.     221. 
»Verwandlungslied«   der  Magal^.     289 


498 


Register. 


Vespasian.     47. 

Viaud,  Julien  =  Loti,  Pierre. 

Vicente,  Gil.     213.  214. 

Vico,  Giovanni  Battista.     273.  309. 

Victor  Emanuel  von  Italien.     410. 

Victoria,  Tagebücher  der  Königin.     109. 

Vidal,  Peire.     155. 

»Vie  de  Jesus«  Renans.     358.  361.  368. 

»Vie  litteraire,  La«  von  France.     364. 

»Vie  parisienne«  von  Offenbach.     400. 

Viele-Griffin.     378. 

Vierzehnsilbler,  Spanischer.     200.  201. 

Vigny,  Alfred  de.     *3i6.  321.  322.  327.  *328. 

341-  372.  433-  462. 
Vikinger.     63.  68.  81.  84.  86. 
Villani,  Giovanni.     170. 
-villard,  -ville,  -viller  in  Ortsnamen.     464. 
Villemain,  Abel  Frangois.     301.  306. 
Villemarqu^,  Th.  H.  de  la.     134. 
Villers,  Charles.     264.  299.  349. 
»Villes,  Les  trois«  Zolas.     389. 
Villon,  Frangois.     95    *i6i. 
Vinci,  Leonardo  da.     183. 
Vinet,  Alexandre.     369  f. 
»Vinti,  I«  Vergas.     415. 
»Vip^re«  Lecontes.     372. 
Virgil,  der  Ire,  der  Geometer     7. 
»Virginia«  von  Tamayo  y  Baus     424. 
Visio  Fursaei  und  V.  Tnugdah.     72.  90. 

—  Fulberti.     124. 

»Vision  de  fray  Martin«  von  Nunez  de  Arce. 

423- 
»Vision  des  Mac  Conglinne«.     90. 
Visionen    in  der  Literatur  Irlands.      72     87. 

90. 
»Visioni«  Varanos.     280. 
»Visions,  Les«,  Lamartines.     315. 
»Vita  nuova«  Dantes.     171.  176. 
Vives,  Luis.     220. 
Vlähutä,  A.     434. 
Völkerwanderung.     435.  436.  451. 
Vogüe,  Melchior  de.     369.  409. 
Voiture,  Vincent  de.     234. 
Vokahsmus  des  Altkeltischen.     37. 

—  des  Irischen  und  Britischen.     43. 
»Volere  e  potere«  Lessonas.     418. 
VolksHed,  Bretonisches.     135 f. 

— ,  Französisches.     162.  376. 

— ,  Irisches.     95. 

— ,  Italienisches.     168. 

— ,  Rätisches.     289. 

— ,  Schottisches.     99.  100.  107. 

Volksliteratur,  Deutsche.     300. 

— ,  Französische  mittelalterhche.     143. 

— ,  ItaUenische  mittelalterhche.     168. 

— ,  —  des  Humanismus.     180. 

— ,  Rumänische,     291  f.     432. 

— ,  Spanische  mittelalterhche.     200. 


Voltaire,  Frangois  Marie  Arouet.     230.  232. 

252.  253.   254.   *255.    259.    265.   267f.    274. 

276.  278.  280.  282.  293.  352. 
»Voyage  en  Amerique«  Chateaubriands     296. 
»Voyage  de  M.  Perrichon«  von  Labiche     400. 
»Voz  do  propheta«  von  Herculano.     348. 
Vulgärlatein.     454. 

w. 

Wace.     15.  60.  63. 

Wagner,  Richard.     16    308.  373.  376. 

»Wahnsinn    oder    Heiligkeit?«     Echegarays. 

425- 
Walachisch.     453. 
Wales.     12.    19.   *27.   40.   42.  45.  47.  51.  54. 

58.  60.  61.  62.  70.  71.  72. 
WaHser  s.  Kymren. 
Wallace,  William.     41. 
Walther  von  der  Vogelweide.     157. 
»Wanderung  der  lästigen  Schar,  Die«.     51. 
Watteau,  Antoine.     251 
Weihnachtsspiel.     164.  213. 
Weisen,  Die  sieben,  von  Rom.     121. 
W^elsche.     139.  140.  s.  auch  Wales. 
»Welt,    Kleine,    der    Gegenwart«    und    »der 

Väter«  von  Fogazzaro.     415. 
Weltliteratur.     294.  350. 
Weltschmerz.     266. 
»Werben  um  Etain,  Das«.     68. 
Werner,  Zacharias.     300.  301.  302. 
»Werther«  Goethes.     266.  332.  344. 
Westgoten.     139.  140.  141. 
Widmann,  Josef  Victor.     316. 
Wieland,  Christoph  Martin.     281.  299. 
Wilde,  Oskar     408. 
Wilhelm  der  Eroberer.     14.  15. 
Wilhelm  von  Poitiers.     153. 
Willehalm.     148. 
Williams,  Edward.     48.  125. 
— ,  William.     128, 
Wilson,  Th.     iio. 

Winckelmann,  Johann  Joachim.     264. 
»Winter,  Der«  von  Buchanan.     109. 
Wörterbuch  der  Academie  Frangaise.     232. 
—  der  Königl.  spanischen  Akademie.     283. 
Wolfram  von  Eschenbach.     15.  148.  152 
Wortschatz,  Gallische,  iberische,  griechische, 

germanische    und    arabische    Einflüsse    im 

romanischen.     458  ff. 
— ,  Romanischer,     461  f. 
»Wunsch,  Der,  des  alten  Barden«.     102. 
Wyn,  Eifion.     77. 
Wynne,  Ellis.     128. 


Young,  Bischof.     loi. 
— ,  Edward.     264.  287. 
ystorawr.     59. 


Repister. 


Zacharias,  Papst.     7. 
Zarte.     190.  217. 
Zanella,  Giacomo.     411. 
Zdrate,  Gil  de.     345. 
Zarzuela.     2S6.     425- 
Zeitschriften,  Gälische.     100. 
Zeitungen,  Französische.     231. 
— ,  — ,  im   19.  Jahrhundert.     311. 
Zendrini,  Bernardino.     411. 


499 


09. 


»Zerstörung    von    Da    Dergas    Palast«. 

72- 
»Zerstörung  Trojas,  Die*.     62.  85. 

Zeuß,  Caspar.     3.  11.  74. 

Zola,   Emile.     314.   320.   336.  353.  355.  368. 

385.   »380.    391.  392.    393.    398.   403.  414- 

41S.  427-  429. 
Zorrilla,  Jos^.     '348.  350.  420.  423. 
Zschokkc,  Johann  Heinrich  Daniel.     302. 
»Zunge,  Die  ewig  neue«.     90. 


Seite 

154  Zeile 

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200 

324      ,. 

330      „ 

34t>      .. 

348      „ 

34«  ff.  lie 

ERRATA. 

7  u.  10  lies  Ludwig  VII.  statt  VI. 
30  Compostela  statt  -ella. 
27  lies  Eliot  statt  Elliot. 
35  (1852)  statt  (1892). 
35  den  Sänger  statt  dem  Sänger. 
20  lies  Magalhäes  statt  Magelhäcs;  ebenso  350;  i. 


Druck  von  B.  G.  Teubner  in  Dresden. 


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