BOSTOISI
MEDicAi Library
8 TBE Fenway
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IvfeisBiibadi Rif&Ttti&CoMinchßTi
WIENER MÄDCHEN.
Pliotograpliei nacK deia Le"berL .
Die Schönheit
des
Weiblichen Körpers
Von
D'- C. H. ST RATZ.
DEN MUTTERN, ÄRZTEN UND KUNSTLERN
GEWIDMET.
Mit 128 theils farbigen Abbildungen im Text tiitd 4. Tafeln in Heliog7'avüre.
ACSTE AUFLAGE,
STUTTGART.
VERLAG VON FERDLNAND ENKE.
igoo.
9.fL
ö ■ /'
Druck der Union Deutsche Verlagsgesellscliaft in Stuttgart.
Vorwort.
■ Wer ein neues Haus bauen will, liat eine schwere Arbeit zu
verricliten. Von überall lier muss er die Steine und die Balken
berbeitragen, und er ist den freundlicben Menschen dankbar, die
ihm dabei geholfen haben. Wenn endlicli das Haus dastebt, dann
ist es nocb lange nicht fertig, bier hat die Mauer einen Riss be-
kommen und dort hat sieb ein Gewölbe gesenkt, und Jabre vergeben,
ehe er das Gebäude wohnlich eingerichtet hat, zur Freude für sich
und andere.
leb habe versucht, der lebenden weiblichen Schönheit einen
Tempel zu erricbten im Reiche der Gedanken; die Bausteine haben
mir der Arzt, der Anatom und der Künstler geliefert.
Mit freundlicbem Dank an diejenigen, die mir gebolfen, über-
gebe icb das Werk, so wie es ist, der Oeffentlichkeit und hoffe, dass
es Beifall finden wird und mir Freunde erwirbt, die geneigt sind,
es zu verbessern, zu erweitern und zu vervollständigen.
Ich habe eine mebr allgemeinverständliche Form gewäblt, da
der Inhalt, wie mir scheint, auch weitere Kreise als die rein wissen-
schaftlichen zu fesseln berufen ist. Dies Bucb ist den Müttern, den
Aerzten und Künstlern gewidmet.
Habeat suum fatum.
den Haag-Scheveningen, Juni 1898.
O. H. Stratz.
Vorwort ziu' dritten Auflage.
Die Herren Alexandre, Theodor Alt, E. Arning, W. Auberlen,
Alfred Enke, G. Fritsch, A. A. G. Guye, E. Juhl, R. von Lariscb,
A. Lopez Suasso, H. W. Mesdag, Frau Mesdag-van Houten, W. Mi-
chaelis, Job. Ranke, P. Rieber u. A., sowie mein Bruder Rudolf Stratz
haben mich in liebenswürdigster Weise mit Rath und That unter-
stützt, so dass es mir möglich wurde, Manches zu verbessern und
zu vervollständigen.
IV Vorwort.
Wessen der Kürze der Zeit ist der neue Abschnitt über Rassen-
scbönheit etwas dürftig ausgefallen. Gerade dafür ist ja ein grosses
und gutes Material nötbig.
Indem ich den genannten Herren an dieser Stelle meinen herz-
lichen Dank abstatte, wende ich mich zugleich an alle Leser mit
der Bitte, durch freundliche Winke und Beiträge den Werth meines
Buches erhöhen zu helfen.
den Haag, Mai 1899. C. H. StratZ.
Vorwort zur siebenten Auflage.
Ausser den Genannten haben die Herren G. J. S. van Berckel,
G. Eberlein, Enklaar van Guericke, Estinger, E. Hagen, C. Faber,
Livius Fürst, Gustav Klein, C. Kraay, Kuhn-Faber, Leopold Meyer,
Th. Molkenboer, Schmeltz, E. Selenka u. A. durch ihre freundliche
Beihülfe mir ermöglicht, noch weitere Verbesserungen und Be-
richtigungen vorzunehmen, unter denen ich namentlich hervorheben
möchte, dass alle mir von einer Londoner Firma gelieferten englischen
Modelle sich als „Made in Germany" entpuppt haben. Um Andere
vor ähnlichem L-rthum zu behüten, habe ich alle mir bekannten
zuverlässigen Kunstverlage in Actstudien namhaft gemacht und den
Rest verschwiegen.
Den Herren, die mich so liebenswürdig unterstützt, dem Publi-
kum, das mein Buch so freundlich empfangen, und der Kritik, die
es trotz mancher Fehler so günstig beurtheilt hat, gebührt mein
herzlichster Dank, vor allen aber dem Verleger, der keine Mühe und
Kosten scheute, die Ausstattung so tadellos wie möglich zu gestalten.
Die Zahl der Abbildungen [ist von 72 in der ersten Auflage
auf 132 vermehrt worden, worunter 77 Originalaufnahmen nach
dem Leben.
Nebst zahlreichen äusserst schmeichelhaften Zuschriften aus
Künstlerkreisen ist namentlich die Zustimmung der Frauen selbst,
für deren Wohl ich schrieb, mein schönster Lohn gewesen.
den Haag, 18. Januar 1900.
C. H. Stratz.
Inhalt.
Seite
Einleitung 1
I. Der moderne Schönheitsbegriff 4
II. Darstellung weiblicher Schönheit durch die bildende Kunst ... 13
III. Weibliche Schönheit in der Literatur 25
IV. Proportionslehre und Canon 34
V. Einfluss der Entwickelung , Ernährung und Lebensweise auf den
Körper 46
VI. Einfluss von Geschlecht, Lebensalter und Erblichkeit 54
VII. Einfluss von Krankheiten auf die Körperform 63
VIII. Einfluss der Kleider auf die Körperform 73
IX. Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichts-
punkten 82
X. Beurtheilung der einzelnen Körpertheile 95
a) Kopf 96
b) Rumpf 110
Der Rurnpf als Ganzes 111
Die einzelnen Theile des Rumpfes .117
Brust 117
Bauch 128
Rücken 137
Die Verbindungen des Rumpfes mit Kopf und Gliedmassen 143
Hals 144
Schultern 149
Hüften und Gesäss 151
VI Inhalt.
Seite
c) Obere Gliedmassen 158
Arm 159
Hand 164
d) Untere Gliedmassen 166
Bein 167
Fuss 172
XL Ueberblick der gegebenen Bedingungen normaler Körperbildung,
Masse und Proportionen. Fehler und Vorzüge 175
XII. Praktische Verwerthung der wissenschaftlichen Auffassung weib-
licher Schönheit 180
XIII. Verwerthung in der Kunst und Kunstkritik. Modelle 195
XIV. Vorschriften zur Erhaltung und Förderung weiblicher Schönheit . 201
XV. Weibliche Rassenschönheit 208
Verzeichniss der Abbildungen.
Seite
Fig. 1. Vaticanisclie Venus 10
., 2. La danseuse von Falguiere 11
„ 3 a und b. Aphrodite diadumene vom Esquilin 16, 17
., 4. Alma Tadema. „Ein Bildhauermodell" 18
„ 5. ISjähriges Judenmädchen 19
., 6. Venus von Botticelli 22
„ 7. Bildniss der Jeanne d' Aragon im Louvre 33
„ 8. Canon von G. Fritscli und Merkel'sche Normalgestalt 40
^ 9- Weibliche Normalfigur nach Richer 42
„ 10. Sarpi, javanisches Mädchen von etwa 18 Jahren 42
„ 11. Weibliche Normalfigur nach Hay .45
, 12. Weibliche Normalfigur nach Thomson 45
„ 18. Kopf eines menschlichen Embryo aus der sechsten Woche (schema-
tisch nach Gegenbauer und Häckel) 47
„ 14. Kopf einer jungen Pariserin mit feingeschnittenem Mund ... 48
„ 15. Kleines Mädchen mit X-Beinen (Genu valgum) nach Hoffa ... 50
„ 16. Infantilismus der Frau nach Meige 56
„ 17. Mädchen von 12 Va Jahren aus München . 57
„ 18. Schönheitscurve. Beaute du diable 58
„ 19. Mädchen mit deutlichen Zeichen überstandener Rhachitis ... 66
„ 20. Mädchen mit Spuren überstandener Rhachitis 67
„ 21. Myopathie primitive progressive nach Londe und Meige ... 68
„ 22. Mädchen von 26 Jahren mit kräftig entwickelter Muskulatur
(Berlinerin) 69
„ 23. 20jähriges Mädchen mit phthisischem Habitus (Holländerin) . . 71
„ 24. Javanisches Mädchen, das nie ein Corset getragen hat . . . . 75
„ 25. Gypsabguss nach der Leiche einer jugendlichen Selbstmörderin . 76
„ 26. Mädchentorso ohne Schnürfurche (Wienerin) 77
;, 27. Mädchen mit deutlicher Schnürfurche (Oesterreicherin) .... 78
YIJI Verzeichniss der Abbildungen.
Seite
Fig. 28. Mädchen mit sehr starker Einschnürung 79
„ 29. Druckfurchen der Strumpfbänder unterhalb der Kniee bei einem
23jährigen Mädchen 81
„ 30. Symmetrische Körperhaltung 84
,, 81. Männliche Normalgestalt nach Merkel 86
„ 32. Weibliche Normalgestalt nach Merkel 86
„ 33. Männliche Normalgestalt von hinten nach Merkel ..... 87
., 34. Weibliche Normalgestalt von hinten nach Merkel 87
, 35. Weiblicher und männlicher Torso im Profil nach Thomson . . 89
„ 36. Weiblicher und männlicher Schädel. Modificirt nach Ecker . . 96
„ 37. Kopf eines Embryo aus der sechsten Woche 98
, 38. Schädel eines Neugeborenen 100
„ 39. Schädel einer Frau mit schmalem und langem Oberkiefer . . 100
„ 40. Schädel einer Frau mit kurzem und breitem Oberkiefer . . . 100
„ 41. Mädchen von 15 Jahren aus Wien mit Grübchen im Kinn, reinem
Gesichtsoval, weichem Mund, Schönheitsfalten über den Augen
und reichem Haupthaar 105
„ 42. Weiblicher Kopf mit guten Proportionen und gut gebautem Auge 108
„ 43. Schöngebildetes Ohr (nach Langer) 109
„ 44. Rumpfskelet eines 25jährigen Mädchens, durch Schnüren ver-
unstaltet (nach Rüdinger) 112
, 45. Muskulatur des weiblichen Torso von vorn 114
„ 46. Muskulatur des weiblichen Rückens 115
„ 47. Rückansicht von Mann und Frau nach Richer zur Vergleichung
der Vertheilung des Fettpolsters 116
„ 48. 14jähriges Mädchen mit guter Absetzung der Brust gegen die
vordere Achselgrenze rechts (Oesterreicherin) 121
„ 49. Gut gebaute Brust . 123
„ 50. Schlecht gebaute Brust 125
„ 51. Vollentwickelte Brust einer beaute du diable (Böhmin) .... 127
„ 52. Weibliches Becken 129
„ 53. Wellenlinie des RumjDfes im Profil 132
, 54. Weiblicher Körper mit schönen Grenzlinien zwischen Rumpf und
Schenkeln (Oesterreicherin) 135
,, 55. Runder Rücken nach Hoffa 137
, 56. Tiefstand der rechten Schulter bei beginnender Rückgratsver-
krümmung bei einem 23jährigen Mädchen von holländisch-
englischer Abkunft 139
„ 57. Schön modellirter Rücken eines javanischen Mädchens .... 141
„ 58. Rücken einer Pariserin, durch Schnüren verflacht 142
„ 59. Rücken eines Mädchens aus Scheveningen mit gut gebildeten
Kreuzgrübchen 143
Verzeiclmiss der Abbildungen. IX
Seite
Fig. 60. Weiblicher Hals und Schulter im Profil 145
„ 61. Hautfalten über der (linken) Hüfte bei geneigter Haltung des
Beckens 152
„ 62. Verlorenes Profil von Figur 54 mit schönen Hüften 153
„ 63. Abrundung der Hüfte bei einer jungen Wienerin 154
„ 64. Mädchen aus Samoa (Rückansicht) 156
„ 65. Erste Zeichen des Verwelkens 157
^ 66. Spitzer Ellenbogen 160
„ 67. Armaxe in Pronation und Supination 161
T, 68. Schön gerundeter Arm (Münchnerin) 168
„ 69. Schön gebauter Arm und Schulter (Schwäbin) 164
, 70. Kräftigeweiblich geformte Arme und Hände eines Wiener Mädchens 165
, 71. Bestimmung der Geradheit des Beines nach Mikulicz .... 170
, 72. Brücke'sche Linie 170
„ 73. Schöngeformte Waden und Füsse 172
„ 74. Abdrücke vom normalen und von Plattfüssen nach Volkmann . 173
fl 75. Bestimmung des Wiener Mädchens nach Kopflängen . . . . 186
, 76. Bestimmung des Wiener Mädchens nach dem Modulus von Fritsch 187
„ 77. 17jährige Berlinerin nach einer Aufnahme von G. Fritsch . . 190
„ 78. Dieselbe von hinten 191
„ 79. Proportionen von Margarethe, verglichen mit dem Canon von
Fritsch 192
, 80. Dioptrische Profilzeichnung nach Kopflängen 193
„ 81. Münchener Modell von 17 Jahren mit russischem Windhund . . 200
„ 82. Indische Gurita 204
„ 83. Japanisches Mädchen aus Kobe im Bade 209
„ 84. Satidja. 20jähriges Mädchen aus Java 210
T, 85. Mädchen aus dem Kongostaat 212
^ 86. Arabisches Mädchen aus Kairo 215
„ 87. 14jährige Perserin von gutem Stande im Nationalcostüm . . . 216
„ 88. 22jährige Perserin 218
„ 89. Kurdische Frauen 219
„ 90. Kopf einer 20jährigen Maurin aus Algier 220
„ 91. 22j ähriges Mädchen aus Scheveningen 222
„ 92. Dieselbe entkleidet 223
„ 93. Canon des Mädchens aus Scheveningen 224
„ 94. Mädchen aus Brüssel 227
„ 95. Bestimmung des Brüsseler Mädchens nach Kopflängen .... 228
„ 96. Spanierin. Mädchen aus Barcelona 229
„ 97. Bestimmung des spanischen Mädchens nach Kopflängen . . , 230
, 98. Sevillana 232
„ 99. Dame aus Valencia 283
X Verzeichniss der Abbildungen.
Seite
Fig. 100. Proportionen von Clara de Chimay 235
„ 101. 20jäliriges Mädchen aus Paris 236
, 102. Proportionen des Pariser Mädchens 237
„ 103. lejähriges Münchener Mädchen 239
„ 104. Münchener Mädchen von 17 Jahren 240
„ 105. 20jähriges Mädchen vom Rhein 241
„ 106. Proportionen der Rheinländerin 242
, 107. Rückansicht von Fig. 105 ... 243
„ 108. Mädchen aus Wien von 17 Jahren mit völlig normalen Proportionen 245
„ 109. Dieselbe von hinten 246
„ 110. Dieselbe im Profil 247
„ 111. Proportionen der 17jährigen Wienerin 248
„ 112. Kopf einer Oesterreicherin 249
„ 1 13. Kopf des Wiener Mädchens Tafel I, 3 Jahre später .... 250
„ 114. Süditalienerin J. Viti 252
„ 115. Proportionen der J. Viti 253
„ 116. Süditalienerin. Junges Mädchen von 13 Jahren 254
„ 117. Norditalienerin. Mädchen aus Mailand (nach dem Leben) . . 255
„ 118. Proportionen des Mailänder Mädchens 256
„ 119. Russisches Mädchen aus St. Petersburg 258
„ 120. Schwarzhaarige Dänin 259
„ 121. Proportionen der schwarzhaarigen Dänin 260
„ 122. Rothhaarige Dänin 261
„ 123. 18jähriges Mädchen von chinesisch-malaischer Abkunft . . . 262
fl 124. 17jähriges Mädchen von Singapore. Mischrasse: Tamil und
Malaiin 263
, 125. Rückansicht von Fig. 124 264
„ 126. 23jähriges Mädchen von niederländisch-französischer Abkunft . 265
„ 127. Canon des Mädchens von gemischter Rasse Fig. 126 .... 266
„ 128. Mädchen aus Samoa in Blumenschmuck 267
Verzeichniss der Tafeln.
Tafel I. Wiener Mädchen nach dem Leben.
Tafel IL Böhmisches Mädchen nach dem Leben.
Tafel III. Junges Mädchen. Originalzeichnung von Frau Cornelia Paczka.
Tafel IV. Rückansicht derselben.
Gredankengang.
Um lebende weibliclie Scliönheit objectiv zu beurtheilen, muss
man auf negativem Wege vorgehen: die Fehler ausmerzen. Dann
findet man, dass Scbönbeit höchste Gesundheit ist (Einleitung). Bis-
her beurtheilte man nur Gresicht und Hände nach dem lebenden
Weibe, den übrigen Körper nach Darstellungen der bildenden Kunst
(Cap. I). Darstellung des weiblichen Körpers in der Kunst ist tra-
ditionell, bedingt durch Mode, Kunstzweck, und darum nicht mass-
gebend (Cap. II). Darstellung weiblicher Schönheit in der Literatur
hat nur historischen Werth, mit Ausnahme der Bestrebungen, eine
gewisse Gesetzmässigkeit in den Verhältnissen nachzuweisen (Cap. III).
Bei der Beurtheilung des lebenden weiblichen Körpers haben
wir auszuschliessen die Fehler, bedingt durch:
1. unrichtige Proportionen (Cap. IV),
2. mangelhafte Entwickelung , schlechte Ernährung und un-
richtige Lebensweise (Cap. V),
3. schlechte Ausprägung des Geschlechtscharakters, das Alter
und die Erblichkeit (Cap. VI),
4. Krankheiten (Cap. VII),
5. Kleidung (Cap. VIII).
Legen wir diesen Massstab im allgemeinen (Cap. IX) und im
besonderen (Cap. X) an, so kommen wir zu einer Reihe von Er-
scheinungen, deren Anwesenheit ein Fehler, deren Abwesenheit ein
Vorzug ist. Individualität wird bedingt durch geringe Abweichungen
innerhalb der gesetzmässigen Grenzen.
XII Gedankengang.
Dieser Massstab ist verwertlibar zur Beurtheilung lebender
weiblicher Schönbeit (Cap. XII) und zur Beurtbeilung von Kunst-
werken (Cap, XIII). Er kann als Richtschnur dienen zur Erziehung
und Lebensweise des Weibes, da höchste Gesundheit und Schönheit
sich decken (Cap. XIV).
Auf demselben Wege, durch Ausschluss fehlerhafter Individuen,
kann man auch zur Bestimmung der weiblichen Rassenschönheit
kommen (Cap. XV).
Einleitung.
Des Weibes Leib ist ein Gediclit,
Das Grott der Herr geschrieben
Ins grosse Stammbucli der Natur,
Als ihn der G-eist getrieben.
(Heine.)
eit Menschengedenken haben' Tausende von Dichtern, von
Malern und Bildhauern die Schönheit des Weibes in Wort
und Bild verherrlicht, selbst ernste Gelehrte haben sich
nicht gescheut, Theorien über das weibliche Schönheitsideal zu-
sammenzustellen; und die Menge bewundert ihre Werke und betet
ihnen nach. Dabei vergisst sie aber, dass die allmächtige Natur
in ihrer unerschöpflichen Kraft täglich weibliche Wesen erstehen
lässt, die weit schöner sind, als alles, was Kunst und Wissenschaft
je hervorgebracht, an denen die meisten achtungslos vorübergehen,
weil kein Kundiger ihnen zuruft: Seht hier die lebende Schönheit
in Fleisch und Blut.
„Darum sieh die Natur fleissig an" — schreibt Albrecht Dürer ^)
im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts — „richte dich danach und
geh nicht von ihr ab in deinem Gutdünken , dass du meinest , du
wollest das Bessere von dir selbst finden, denn du würdest verführt.
Denn wahrhaftig steckt die Kunst in der Natur ; wer sie heraus
kann reissen, der hat sie. Ueberkommst du sie, so wird sie dir
viel Fehls nehmen in deinem Werk. Aber je genauer dein Werk
dem Leben gemäss ist in seiner Gestalt, desto besser erscheint dein
Werk. Und dies ist wahr; darum nimm dir nimmermehr vor, dass
1) Proportionslehre, III. Theil, 1523.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers,
Einleitung.
du etwas Besseres mögest oder wollest machen, als Gott es seiner
erschaffenen Kreatur zu wirken Kraft gegeben, denn dein Ver-
mögen ist kraftlos gegen Gottes Schaffen."
Dank der Photographie und der Verbesserung in der Technik
der anderen vervielfältigenden Künste sind wir heute in der Lage,
wenigstens die äusseren Formen lebender Schönheit mit wissen-
schaftlicher Genauigkeit festzuhalten.
Brücke^) war der erste, der sich dieses Mittels bediente, ihm
folgte Thomson^). Richer^), der künstlerische, selbst gefertigte
Zeichnungen nach dem lebenden Modell giebt, hat dieselben eben-
falls durch photographische Aufnahmen wissenschaftlich sicher
gestellt.
Bei diesen und allen ähnlichen älteren und neueren Werken,
die sich in mehr wissenschaftlicher Weise mit der weiblichen Schön-
heit beschäftigen, sind mir indessen zwei Thatsachen, oder, wenn
man will, Mängel aufgefallen. Zunächst beschäftigen dieselben sich
nicht mit dem schönen Körper als solchem, sondern nur in Be-
ziehung zu den Nachbildungen desselben durch die Kunst; dann
aber werden wohl sehr sorgfältig alle anatomischen Thatsachen be-
handelt , die pathologischen Thatsachen jedoch , die durch Krank-
heiten und unrichtige Lebensweise bedingten Veränderungen des
Körpers, werden nur sehr flüchtig gestreift.
Ich habe einen neuen Weg zur Beurtheilung menschlicher
Schönheit einzuschlagen versucht, indem ich neben den Standpunkt
des Künstlers und des Anatomen den des Arztes stellte, indem ich
statt an Bildern und Leichen meine Beobachtungen so viel wie mög-
lich am lebenden Körper machte , und diesen an und für sich als
Hauptsache, und nicht nur als Gegenstand künstlerischer Darstellung
betrachtete. Dass ich mich dabei allein auf den weiblichen Körper
beschränkte, erklärt sich daraus, dass mir als Frauenarzt kein
grösseres männliches Material zur Verfügung stand.
Zahlreiche Schriften anderer , namentlich die der Anthro-
pologen , kamen mir zu statten bei meinen Untersuchungen , die
^) Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt, 1890.
^) Handbook of anatomy for art students, 1896.
^) Anatomie artistique, 1890.
Einleitung.
micli nacli fünf zelinj ähriger Arbeit zu dem Ergebniss gebracht
haben, dass wir nur auf negativem Wege, d. h. durch Aus-
schhiss krankhafter Einflüsse , aller durch fehlerhafte Kleidung,
durch Erblichkeit, unrichtige Ernährung und unzweckmässige Lebens-
weise bedingten Verunstaltungen des Körpers zu einer Normal-
gestalt, zu einem Schönheitsideal gelangen können , das dann aller-
dings individuell sehr verschieden sein kann , aber doch stets
unveränderlichen Gesetzen unterworfen ist; denn vollendete
Schönheit und vollkommene Gesundheit decken sich.
Dadurch allein erhalten wir einen festen, auf Thatsachen
beruhenden Massstab , den wir , unabhängig vom individuellen,
unberechenbaren Geschmack, anlegen können.
Ausserdem aber liegt, glaube ich, auch ein gewisser prakti-
scher Werth in meinen Untersuchungen, da sich aus ihnen ergiebt,
dass wir, namentlich bei der heranwachsenden Jugend, sehr wohl
im Stande sind, mit der Gesundheit zugleich auch die Schönheit
des Körpers zu erhöhen und zu veredeln.
Bevor ich jedoch daran gehe, die bekannten Thatsachen, ver-
mehrt durch eigene Beobachtungen, von diesem neuen Standpunkte
aus zu betrachten, muss ich, des besseren Verständnisses halber, in
grossen Zügen die verschiedenen Wege besprechen, auf denen man
bisher das Schönheitsideal zu erreichen gesucht hat, und vor allen
Dingen den modernen Schönheitsbegriff und die Umstände, die zu
seiner Bildung beigetragen haben, kritisch beleuchten.
I.
Der moderne Schönheitsbegriff.
Der moderne europäisclie Menscli kennt vom lebenden weib-
lichen Körper so gut als nichts. Er sieht nur Gesicht und Hände,
bei festlichen Gelegenheiten Arme und Schultern. Nur einen oder
einige wenige weibliche Körper sieht er entkleidet, und auch diese
meist unter Umständen, die ihm ein nüchternes, unbeeinflusstes Ur-
theil unmöglich machen oder doch trüben ; denn Liebe macht blind,
lieber Gesicht und Hände kann er sich allerdings ein selbst-
ständiges Urtheil bilden, was er vom übrigen Körper weiss, ist der
Gesammteindruck der Erinnerungsbilder von Darstellungen desselben
durch die bildende Kunst; Beobachtungen an dem lebenden Weibe
sj)ielen dabei eine ganz untergeordnete Rolle. Demnach beruht das
Schönheitsideal des modernen Europäers grösstentheils auf durch die
Kunst vermittelten Eindrücken. Eine Ausnahme hiervon macht der
Künstler und der Arzt.
Den unmittelbaren Eindruck, den der erste Anblick eines
nackten weiblichen Körpers auf den Beschauer ausübt, hat Goethe,
der grosse Psychologe, in trejßPlicher Weise geschildert ^).
„Sie brachte mich darauf in ein kleines, artig meublirtes
Zimmer; ein sauberer Teppich deckte den Fussboden, in einer Art
von Nische stand ein sehr reinliches Bett, zu der Seite des Hauptes
eine Toilette mit aufgestelltem Spiegel, und zu den Füssen ein
Gueridon mit einem dreiarmiffen Leuchter, auf dem schöne helle
^) Briefe aus der Schweiz. Erste Abtheilung. Cotta 4, p. 469.
Der moderne Schönheitsbegriff.
Kerzen brannten. Auch auf der Toilette brannten zwei Lichter.
Ein erloschenes Kaminfeuer hatte die Stube durchaus erwärmt. Die
Alte wies mir einen Sessel an, dem Bette gegenüber am Kamin,
und entfernte sich.
„Es währte nicht lange, so kam zu der entgegengesetzten Thüre
ein grosses, herrlich gebildetes, schönes Frauenzimmer heraus; ihre
Kleidung unterschied sich nicht von der gewöhnlichen. Sie schien
mich nicht zu bemerken, warf ihren schwarzen Mantel ab und setzte
sich vor die Toilette. Sie nahm eine grosse Haube, die ihr Gesicht
bedeckt hatte, vom Ko]3f'e : eine schöne, regelmässige Bildung zeigte
sich, braune Haare mit vielen und grossen Locken rollten auf die
Schultern herunter. Sie fing an, sich auszukleiden; welch eine
wunderliche Empfindung, da ein Stück nach dem anderen herabfiel,
und die Natur , von der fremden Hülle entkleidet , mir als fremd
schien und beinahe, möcht' ich sagen, mir einen schauerlichen Ein-
druck machte.
„Ach, mein Freund, ist es nicht mit unseren Meinungen, unsei-en
Vorurtheilen , Einrichtungen, Gesetzen und Grillen auch so? Er-
schrecken wir nicht, wenn eine von diesen fremden, ungehörigen,
unwahren Umgebungen uns entzogen wird und irgend ein Theil
unserer wahren Natur entblösst dastehen soll? Wir schaudern, wir
schämen uns. —
„Soll ich dir's gestehen, ich konnte mich nicht in den herr-
lichen Körper finden, da die letzte Hülle herabfiel! Was sehen wir
an den Weibern? Was für Weiber gefallen uns, und wie confundiren
wir alle Begriffe? Ein kleiner Schuh sieht gut aus, und wir rufen:
welch ein schöner kleiner Fuss! Ein schmaler Schnürleib hat etwas
Elegantes, und wir preisen die schöne Taille.
„Ich beschreibe dir meine Reflectionen, weil ich dir mit Worten
die Reihe von entzückenden Bildern nicht darstellen kann, die mich
das schöne Mädchen mit Anstand und Artigkeit sehen Hess. — Alle
Bewegungen folgten ''so natürlich auf einander, und doch schienen
sie so studirt zu sein. Reizend war sie, indem sie sich entkleidete,
schön, herrlich schön, als das letzte Gewand fiel. Sie stand, wie
Minerva vor Paris mochte gestanden haben."
Dieses Gefühl von Schauder, das Goethe so richtig hervorhebt,
Q Der moderne Schönheitsbegriff.
eine Mischung von Schrecken über den ungewohnten Anblick und
einer gCAvissen sinnlichen Erregung, hat auch der Arzt vor seinem
ersten weiblichen Patienten, der Künstler vor seinem ersten weib-
lichen Modell. Es verschwindet, sobald der Künstler nur das Schöne,
der Arzt nur das Menschliche sieht; und es erlischt sehr rasch bei
der Grewöhnung an den Anblick des Nackten.
In unserer Zeit, wo selbst die Vertreter des deutschen Volkes
sich nicht scheuten, das Bild der Wahrheit aus ihrer Mitte zu ver-
bannen, weil es nackt war ^), sind manche leicht geneigt, Nacktheit
und Unsittlichkeit für dasselbe zu halten. Das ist jedoch ein grosser
Irrthum, Nicht das Nackte ist unsittlich, sondern die Augen des
Beschauers. Derjenige, der im nackten Körper nur das Weib sieht,
der über den ersten sinnlichen Eindruck nicht hinauskommt , und
sich von ihm beherrschen lässt, ist unsittlich und überträgt seine
eigene UnvoUkommenheit auf den Gegenstand, den er betrachtet.
Die Bekleidung hat mit der Sittlichkeit nichts zu thun, sondern
nur mit der Schicklichkeit, mit der Mode. Eine Entblössung, die von
der Mode vorgeschrieben ist, wird niemals als unsittlich empfunden.
Wer Gelegenheit gehabt hat, unter Völkern zu leben, die ganz
oder theilweise nackt gehen, wird bald gewahr, dass die Kleidung
mit der Sittlichkeit in gar keinem Zusammenhang steht, und sehr
bald bemerkt er die Erweiterung seiner beschränkten europäischen
Auffassung an sich selbst.
Sehr treffend schildert von den Steinen -) seine diesbezüglichen
Eindrücke in Amerika.
Als ich im Jahre 1890 das Innere Javas bereiste, begegnete
ich bei Singaparna eines Morgens grossen Scharen von älteren und
jüngeren Weibern, die, bis zum Gürtel entblösst, zum Markte zogen.
Der erste Eindruck war dasselbe von Goethe beschriebene Gefühl
von Schauder, verursacht durch den Anblick weiblicher Nacktheit
in für mich neuer Umgebung und in so grosser Masse. Bald aber
gewann trotz manchem wirklich klassisch schön gebauten Mädchen-
torso die Abscheu vor dem vielen Hässlichen, was hier in aller Un-
') Vor Eröffnung des neuen Reichstagsgebäudes anno domini 1895.
-) Unter den Naturvölkern Centralbrasiliens, 1894.
Der moderne Schönheitsbegriff. 7
scliuld gezeigt wurde, die Oberhand, und ich begriff auf einmal,
warum die meisten Weiber sich lieber verhüllen, wenn die Mode es
ihnen gestattet.
Eigenthümlich sind die Verschiebungen, die das Schicklich-
keitsgefühl unter dem Drang der Umstände erleiden kann. Ein
europäisches Mädchen erröthet, wenn man sie in der Nachtjacke
überrascht, aber sie zeigt sich decolletirt auf jedem Balle. Eine
Frau im dunklen Kleide fühlt sich unter Balltoiletten, ein Herr im
Gehrock unter Fräcken in hohem Masse unbehaglich.
In Batavia, wo alle Damen ihre blossen Füsse in kleine gold-
gestickte Schuhe stecken, fand man es höchst unpassend, als eine
Dame sich im Hotel zeigte, die ihre Beine in blauseidene Strümpfe
gehüllt hatte, und gerade durch die Verhüllung die Aufmei'ksamkeit
auf diesen Theil ihres Körpers lenkte.
Ein Kind erröthet nicht, wenn man es nackt sieht, wohl aber,
wenn es bei einer Lüge ertappt wird. Ein wohlerzogenes junges
Mädchen wird nicht leicht bei einer Lüge erröthen, wohl aber,
wenn ein Theil seines Körpers entblösst wird. Die sogenannte Bil-
dung hat das Schamgefühl der Seele auf den Körper übertragen.
Ich halte es für überflüssig, die angeführten Beispiele mit noch
weiteren zu vermehren '^) und glaube zu dem Schlüsse berechtigt zu
sein, dass unser Sittlichkeitsgefühl angeboren ist, unser Schicklich-
keitsgefühl hingegen ganz und gar abhängig ist von den in unserer
Umgebung herrschenden Grewohnheiten und Gebräuchen.
In der Natur verurtheilen wir in Europa unbewusst das Nackte,
in der Kunst aber halten wir die Darstellung desselben für erlaubt
und haben es allzeit vor Augen. Deshalb legen wir, die Natur
nicht kennend, an die Schönheit des weiblichen Körpers den Mass-
stab an, der uns aus Kunstwerken geläufig geworden ist. Dabei
geben wir uns jedoch wiederum keine Rechenschaft davon, dass auch
die Auffassung des Weibes in der Kunst einer gewissen Mode, einer
Tradition unterliegt, die mit dem Schönheitsbegriff als solchem gar
nichts zu thun hat und nicht ohne weiteres ins Leben übertragen
werden kann.
1) Siehe Ploss-Bartels, Das Weib. 1897, I, p. 359 ff.
3 Der moderne Schönheitsbegriff.
Wir finden die Venus von Milo schön, so wie sie ist. Wäre
sie aber nach der heutigen Mode gekleidet, so würden wir ihre
Figur abscheulich finden, denn unter den Kleidern würde die Taille
der Venus noch beträchtlich an Breite zunehmen.
Wenn wir nun einerseits die Venus von Milo, andererseits eine
feine Taille schön finden, so müssen wir daraus folgern, dass alle
schlanken Frauen entkleidet hässlich sind, da sie die Vollkommen-
heit der Venus nicht besitzen.
Dies ist jedoch nicht der Fall, wie die Erfahrung bestätigt.
Der weitere Schluss ist demnach, dass jemand, der die ganze Venus
von Milo auswendig kennt, doch nicht im Stande oder berechtigt
ist, irgend welchen Rückschluss auf den Körper einer lebenden be-
kleideten Frau zu machen.
Aber noch mehr; wir nehmen selbst, ohne es zu wissen, alt-
griechische Moden als Massstab zur Beurtheilung moderner Kunst-
werke und auch des Lebens, wo uns dies nackt entgegentritt.
Nur zwei Beispiele:
In der ganzen klassischen Kunst, soweit wir sie kennen, finden
sich nur zwei Bildwerke eines nackten Mannes mit einem Schnurr-
bart, nämlich der sterbende Gallier und der Gallier in der Gruppe
Arria und Paetus. Alle anderen Figuren sind mit vollem Bart oder
bartlos dargestellt. Weder bei den Griechen noch bei den Römern
war es Mode, einen Schnurrbart zu tragen; in den genannten Statuen
ist gerade dadurch der Barbar charakterisirt. Trotzdem bei uns
Tausende von Schnurrbärten im täglichen Leben angetroffen werden,
finden wir sie, ausser bei Portraitstatuen, kaum in der Kunst. Wenn
wir sie zusammen bei einem unbekleideten Körper antreffen, befremden
sie unser Gefühl, wir sehen nicht den nackten, sondern den entkleideten
Mann, weil — die altgriechische Mode den Schnurrbart verurtheilte.
Ein weiteres Beispiel ist die Darstellung des nackten weib-
lichen Körpers in der Kunst. Er wird stets ohne jegliche Körper-
behaarung nachgebildet. Weil sie hässlich ist? Nein, weil es bei
den alten Griechen und Römern, wie noch jetzt bei allen orientali-
schen Völkern, Sitte war, dass die Frauen die Haare ihres Körpers
künstlich entfernten. Dies geht hervor aus den bekannten Stellen
in Martial II und Ovid's Ars amatoria. Ein weiterer Hinweis findet
Der moderne Schönheitsbegriff. 9
sich in dem 103. Gresang der Bilitis^), wo als Merkwürdigkeit von
den Priesterinnen der Astarte gesagt wird: „Sie ziehen sich niemals
ihre Haare aus, auf dass das dunkle Dreieck der Göttin ihren Unter-
leib zeichne, wie einen Tempel."
Trotzdem die Mode des Epilirens seit Jahrhunderten bei uns
nicht mehr besteht, hat die Kunst sie doch beibehalten und damit
auf das Schönheitsideal der modernen Menschen übertragen.
Wie sehr nicht nur der einzelne Mensch, sondern die ganze
sogenannte „öffentliche Meinung" durch den äusseren Schein urtheils-
los beeinflusst wird, ersieht man am besten aus einer Vergleichung
von Fig. 1 und Fig. 2.
Fig. 1 ist eine Reproduction der aus ihrem Blechgewande be-
freiten vaticanischen Venus ^), Fig. 2 Falguiere's bekannte Portrait-
statue der Cleo de Merode, die als eine der schönsten jetzt leben-
den Frauen gefeiert wird.
Die Statue der Venus entspricht allen Anforderungen, die wir
an einen normalen weiblichen Körper stellen können. — Bei der
Tänzerin bemerkt man : künstlich durch Kleidung zusammengedrück-
ten unteren ■ Brustumfang, fehlerhaften Ansatz der Brust, fehlerhafte
Kniestellung, zu schweres Sprunggelenk^).
Der moderne Schönheitsbegriff setzt sich demnach zusammen
aus einer durch tägliche Uebung ermöglichten Kenntniss des Kopfes,
der Hände und der Arme, und bezüglich des übrigen Körpers aus
einem Sammelbegriff, den Reproductionen des nackten Weibes durch
die Kunst entnommen.
^) Louys, Les cliansons de Bilitis, 1897. Heim, Bilitis' sämmtliche Lieder,
1894. Manche halten die Chansons de Bilitis für eine Mj'stification. Ich ent-
halte mich eines Urtheils : gleichviel, ob acht, ob unächt, unzweifelhaft zeugen
sie von einer genauen Bekanntschaft des Verfassers mit den authentischen
Daten des Alterthums.
^) Es ist das grosse Verdienst von Michaelis, dass sie in diesem Zustande
dem Publicum bekannt gemacht wurde. Das Kensingtonmuseum besitzt einen
Gjpsabguss nach dem Original, ein zweiter Gypsabguss befindet sich in München.
Vgl. Bruckmann, Denkmäler griechischer und römischer Plastik, und SjDringer's
Kunstgeschichte, Bd. I, 4. Aufl., 1895. — Professor W. Michaelis schreibt mir:
Ein dem Vernehmen nach sehr viel schöneres Exemplar steht noch in den
vaticanischen Magazinen, ein Bronzeabguss davon in Paris.
^) Vgl. L. Pfeiffer, Angewandte Anatomie, 1899.
10
Der modern« SchönheitsbesfrifF.
Fig. 1. Vaticaiiisclie Venus.
Das allgemeine Urtheil über Frauenscliönlieit ist somit kein sacli-
verständiges, sondern ein indirectes, das einerseits durch nicht natur-
Der moderne Schönheitsbegriif.
11
Fig. 2. La danseuse von Falguiere.
Nach einer PliotograpMe von Braun, Clement & Cie. in Dornacli i.E., Paris und New-York.
getreue Vorstellung des Körpers, andererseits durch. Corsets, Schuhe
und Kleidung getäuscht, sich falsche und unnatürliche Ideale schafft.
12 ' Der moderne Schönheitsbegriff.
Alles bisher Gesagte bezielit sich hauptsächlich, auf die Schön-
heit der Form. Dass in Beziehung auf die Schönheit der Farbe es
noch viel schwieriger ist, ein objectives Urtheil zu haben, weiss
jeder, der sich einigermassen mit der Farbenlehre und der Function
des menschlichen Auges beschäftigt hat, niemand weiss es besser,
als die Frauen selbst, die durch richtige Auswahl der sie umgeben-
den Farben instinctiv ihre Reize zu erhöhen, ihre Fehler zu ver-
bergen wissen. Noch schwieriger ist es, die Schönheit der Be-
wegungen zu analysiren, deren meiste uns durch die 'Kleidung
verborgen werden.
Doch wir müssen noch eine weitere Einschränkung machen.
Selbst das Wenige, was man täglich vom weiblichen Körper sehen
kann, wird von den meisten nicht mit der nöthigen Aufmerksamkeit
betrachtet, weil ihr Blick nicht geübt ist. Man vergegenwärtige
sich die Gesichtszüge, die Haare, die Augen, die Hände abwesender
Personen, mit denen man täglich zusammentrifft. Von der grösseren
Mehrzahl ist man nicht im Stande, die Farbe der Haare und Augen,
die Form von Nase und Mund im Gedächtniss wiederzufinden, es
sei denn, dass dieselben durch ganz aussergewöhnliche Bildung einen
tieferen Eindruck hinterlassen haben.
Die Ohren nun gar, die doch recht viel zum Gesichtsausdruck
beitragen, werden meistens nur äusserst oberflächlich betrachtet; von
der Form der Hände berichtet uns Mantegazza ^), dass selbst Malern
unbekannt war, ob ihr zweiter Finger länger war als ihr vierter.
Es wird also im allgemeinen selbst über Kopf, Gesicht und
Hand^nur oberflächlich geurtheilt, trotzdem wir täglich in der Lage
sind, diese Theile in grösserer Zahl betrachten zu können; auf die
übrigen Theile des Körpers kann nur ein geübter Beobachter aus
Gang und Haltung gewisse Rückschlüsse machen ; meist jedoch be-
gnügt man sich mit einer unbestimmten Auffassung, die aus der auch
meist oberflächlichen Betrachtung von Kunstwerken abgeleitet ist.
Um diesem Elemente in der modernen Auffassung gerecht zu
werden, sind wir verpflichtet, die Darstellung weiblicher Schönheit
durch die bildende Kunst zu analysiren.
^) Physiologie des Weibes. Deutsch von Teuscher, 1894, p. 52.
Weibliche Schönheit in der Kunst. 13
II.
Darstellung weiblicher Schönheit durch die
bildende Kunst.
Die Blüthezeit der griechisclien Kunst hat einen so mächtigen
Einfluss auf das moderne Schönheitsideal geübt, dass selbst Zu-
fälligkeiten der damaligen Mode unbewusst in dieses herübergenom-
men werden.
Unstreitig hat die Bildhauerkunst zur Zeit des Phidias, des
Polyklet und Praxiteles ihre höchste Stufe erreicht, und es ist noch
die Frage, ob sie sich jemals der damaligen Höhe wird nähern
können. Es ist darum auch ganz natürlich, dass die alt griechische
Kunst auf alle späteren Kunstepochen als unerreichtes Vorbild ein-
gewirkt hat.
Ausser der griechischen Kunst, auf die ein Jahrhunderte
dauernder Schlummer folgte, ist es namentlich die Renaissance, die
wir hier zu besprechen haben. Alle orientalischen Elemente, die in
der Kunstgeschichte berücksichtigt werden müssen, haben mit der
Gestaltung des weiblichen Körpers nichts zu thun. Ebensowenig
hat sich der japanische Einfluss in der Kunst so weit geltend ge-
macht, dass er in dieser Beziehung eine Besprechung verdient.
Die altgriechische Kunst schöpfte ihre Motive unmittelbar aus
dem Leben. Weder rauhe Witterung noch körperliche Gebrechen
veranlassten die damalige Bevölkerung Griechenlands , ihre schönen
Gestalten mit Gewändern zu verhüllen, und dadurch war die erste
Grundbedingung für den schafiPenden Künstler, das tägliche Studium
und die Vergieichung der verschiedenen Formen des nackten Körpers
in seiner vollkommensten Gestaltung, gegeben.
Durch fortgesetzte Uebun^ des Auges konnte sich somit der
damalige Künstler ein Idealbild erschaffen, zu dessen Verwirklichung
ihm die schönsten Modelle in reichster Auswahl zur Verfügung
standen.
Aber auch sein Publicum, die ganze damals lebende Mensch-
j[4 Weibliche Schönheit in der Kunst.
heit, sah. den nackten Körper täglicli und kannte ihn, so dass von
künstlerischen Leistungen viel mehr gefordert werden konnte und
diese viel sachverständigere Anerkennung fanden, als heutzutage
der Fall ist gegenüber einem Publicum, das den menschlichen Körper
nicht kennt.
In äusserst scharfsinniger Weise hat vor kurzem Richer^)
nachgewiesen, wie sehr der künstleriscbe Blick der alten griechi-
schen Künstler allen Epigonen überlegen war.
Wo er von der Darstellung der Bewegung spricht und darauf
aufmerksam macht, dass wir, dank der modernen Wissenschaft, in
der Lage sind, durch Momentaufnahmen jede einzelne Phase der
Bewegung im Bilde festzuhalten, hebt er hervor, dass die meisten
späteren Künstler, einer unbewussten Tradition folgend, niemals
gehende oder laufende, soüdern stets nur schwebende oder fallende
Figuren dargestellt haben. Alle griechischen Figuren aber, von den
Tyrannenmördern bis zum tanzenden Faun, erwiesen sich als richtige
Reproductionen völlig naturwalirer Stellungen.
Ausser ihrem wunderbar geschärften künstlerischen Blick, ausser
der Anzahl zählreicher hervorragend schöner Modelle verfügten die
Grriechen noch über ein drittes Mittel zur Naturtreue ihrer Dar-
stellungen: den Gypsabguss nach dem Leben. Nach Plinius^)
war Lysikrates der erste, der dieses Hülfsmittel in die bildende
Kunst eingeführt hat.
Anatomie war den griechischen Künstlern bis zur alexandrini-
schen Schule unbekannt, wie Chereau^) und Langer*) überzeugend
nachgewiesen haben.
Langer hebt hervor, dass die besten antiken Bilder die ruhig
gehaltenen sind, „deren Muskelmechanismus versteckt ist". „Da-
gegen ist an bewegten Bildwerken so Manches auszusetzen, Fehler-
haftes, Unverstandenes. Die Muskelerhabenheiten finden sich mit-
unter unrichtig gruppirt, ein anderes Mal sind Muskelerhabenheiten
\) Dialogue sur l'art et la science. — La nouvelle revue, Tome 107 et s.
19. anneo. La revue de Fart ancien et moderne, 1897, fasc. 3 et 4.
^) Citirt bei Langer.
^) Dictionnaire encyclopedique des sciences medicales.
') Anatomie der äusseren Formen des menschlichen Körpers, 1884, p. 30 ff.
Weibliche Schönheit in der Kunst. 15
untermisclit und unterschiedslos wie Hautfalten und Skeleterhaben-
heiten behandelt. Was an solchen Bildwerken ungetheilte und ge-
rechtfertigte Bewunderung erregt, das ist die Bewegung, und diese
liegt viel mehr in der Gliederung als in der Muskulatur."
Mit anderen Worten will Langer dadurch wohl ausdrücken,
dass trotz untergeordneter anatomischer Fehler der Allgemeineindruck
bewegter Figuren stets ein naturwahrer ist; Richer hat, wie gesagt,
die Naturtreue derselben durch Controle mit Momentphotographien
direct nachgewiesen.
Da nun aber bewegte Figuren am schwierigsten darzustellen
sind, weil man nicht im Stande ist, ein Modell in der gewünschten
Stellung zu fixiren, so ist diese gleichmässige Anerkennung von den
verschiedensten Beurtheilern nur wieder ein neuer Beweis für die
ausserordentliche Schärfe, mit der die antiken Künstler beobachteten-^).
Wenn nun auch ihr künstlerisch geschulte]' Blick und die grosse
Zahl schöner Modelle den antiken Meistern trotz ihrer ünkenntniss
der Anatomie die herrlichsten Schöpfungen ermöglichte, so war doch
die absolut naturgetreue Wiedergabe der menschlichen Gestalt keines-
wegs der Endzweck ihrer Kunst.
Wir dürfen nicht vergessen, dass bei den Griechen die Kunst
im Dienste ihrer Religion stand, welche ihnen, in grösserer Ab-
wechselung allerdings als die christliche, die Themas für die meisten
ihrer Darstellungen vorschrieb. Der griechische Künstler, der Götter
darstellte, war somit gezwungen, seine Gestalten zu idealisiren und
dadurch von der Natur abzuweichen.
Dass dabei das Modell keineswegs eine untergeordnete Rolle
spielte, beweist das Beispiel des Praxiteles, welcher im Tempel zu
Thespiae neben der Aphrodite aus Dankbarkeit die nackte Portrait-
statue der Phryne aufstellte; andererseits aber beweist gerade dies
Beispiel, dass es sich nicht um naturgetreue Wiedergabe selbst des
schönsten Modells handelte; denn sonst wäre dieser Weiheact des
^) Es ist mir aufgefallen, dass auch die japanischen Künstler viel schärfer
beobachten, als unsere Künstler und wir mit ihnen gewohnt sind: In europäischen
Bildern findet man stets schwebende, niemals fliegende Vögel. Japanische Dar-
stellungen fliegender Vögel, die uns auf den ersten Blick unnatürlich ei'scheinen,
erweisen sich beim Vergleich mit Momentaufnahmen als völlig naturgetreu.
16
Weibliche Schönheit in der Kunst.
Fis.
grossen Künstlers, die Gegen-
überstellung von Göttin und
Weib, nicbt verständlich.
Es bandelte sieb für den
griecbiscben Künstler darum,
das Modell den Traditionen
der darzustellenden Götter-
figur anzupassen, das Indi-
viduelle gewissermassen zu
scbematisiren, den göttlicben
Typus mit grösstmögiicber
Naturtreue zu vereinen.
Aber nicht nur der reli-
giöse Zweck des Kunst-
werkes, sondern auch der für
dasselbe bestimmte Standort
zwang den Künstler, von der
Natur abzuweichen.
Eine auf hohem Fuss-
stück stehende Figur, in na-
türlichen Verhältnissen aus-
geführt, erscheint dem Be-
schauer gedrungen und un-
ansehnlich, wovon wir uns
jederzeit überzeugen können,
wenn wir Menschen von
unten herauf betrachten. In
solchen Fällen muss der
Künstler die Längenmasse
auf Kosten der Breitenmasse
unnatürlich und unsrleich-
ia. Apliruditb diadumeue vom Estiuiliii.
massig vergrössern. Beim Anblick von vorn müssen alle näher-
liegenden Theile im Verhältniss verkleinert, alle entfernter liegenden
Theile vergrössert werden; auch davon können wir uns leicht über-
zeugen, wenn wir auf die Fehler achten, die bei unrichtig ein-
gestellten photographischen Aufnahmen vorkommen können.
Weibliche Schönheit in der Kunst.
17
Bei einer Aufstel-
lung im Tempel endlich
muss das Bild mit der
Umgebung architekto-
nisch harmoniren , und
wird dadurch von einer
ganzen Zahl von Gesetzen
abhängig, die die Form in
der verschiedensten Weise
beeinflussen können.
Die Berücksichti-
gung aller dieser Mo-
mente verlangte eine
grosse Uebung und Er-
fahrung , sie veranlasste
die Ausbildung einer ge-
wissen Systematik der
Verhältnisse der einzel-
nen Körpertheile unter
sich , einer Proportions-
lehre, die demnach auch,
wie zu erwarten ist, und
wie durch zahlreiche Mes-
sungen aus späterer Zeit
bestätigt wurde, keines-
wegs stets den Propor-
tionen lebender Menschen
entspricht.
In allen antiken
Bildwerken lebt also die
ewig menschliche Schön-
heit, jedoch beeinflusst durch Tradition, Standort und den Charakter
der darzustellenden Persönlichkeit.
Nur ein Beispiel: Fig. 3 stellt die Aphrodite diadumene vom
Esquilin vor, Fig. 4 Alma Tadema's bekanntes Modell des Bildhauers,
Fig. 5 ein löjähriges Judenmädchen, das ziemlich normal gebaut ist.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 2
Fig. 3b. Aphrodite diadumene vom Esquilin.
18
Weibliche Schönheit in der Kunst.
Bei der ersteren be-
weisen die im Verhältniss
zum Rumpf etwas zu langen
Beine, dass die Figur für
ein Postament berechnet
war; der etwas nach hin-
ten geneigte Oberkörper ist
verglichen mit der nach
vorn tretenden Bauch- und
Lendengegend schwerer
gearbeitet, das Haupt re-
präsentirt deutlich den
archaistischen Typus und
ist verhältnissmässig grös-
ser als bei anderen antiken
Statuen. Der Allgemein-
eindruck der ganzen Figur
ist der eines jungen Mäd-
chens , halb Kind , halb
Weib, in der allerersten
Blüthe , einer noch nicht
völlig geöffneten Knospe.
Alma Tadema, der das
Modell zur esquilinischen
Venus in seinem Bilde
geben wollte, hat die ganze
Figur gestreckt, das Con-
ventionelle daraus entfernt ;
das Verhältniss von Brust
und Unterleib entspricht
mehr dem der Erwach-
senen, der Nabel steht tiefer, die Brüste sind stärker entwickelt, der
Kopf ist kleiner; das ganze Mädchen ist älter und schlanker ge-
worden, hat jedoch eine weniger gut entwickelte Muskulatur und
keinen so schön geformten Brustkasten, wie die Statue. Bei der
jungen Jüdin dagegen finden sich annähernd dieselben Formen ins
Fig. i. Alma Tadema
Mit Genelimisun
„Ein LüklliaiierinodeU''
der Photographischen Gesellschaft
in Berlin.
"Weibliche Schönheit in der Kunst.
19
MenscUictie übertragen,
mit dem Unterscliiecl je-
doch, dass sie hier mehr
durch Fettablageruno- und
nicht durch die Musku-
latur in erster Linie ge-
bildet werden. Das Ver-
hältniss zwischen Kopf und
übrigem Körper stimmt
mehr überein mit der
Statue als mit dem Bilde
Tadema's.
Abgesehen von dem
Liebreiz dieses Bildes müs-
sen wir doch erkennen, dass
der griechische Meister
niemals mit Tadema's Mo-
dell seine Statue hätte
machen können; die Ver-
gleichung mit dem leben-
den Mädchen lehrt uns,
dass er ein ähnliches halb-
entwickeltes Geschöpf zum
Vorbild gehabt hat, jedoch
mit breiterem Brustkorb
und kräftigerer Muskula-
tur, einen jener gedrun-
genen, durch und durch
gesunden Backfische, aus
denen sich nach erfolgter
Streckung die schönsten
Frauengestalten entwickeln. Auch die im Gegensatz zur Tradition
übermässige Grösse des Kopfes spricht für das sehr jugendliche
Alter der Statue , die ich darum' auch nicht als Aphrodite be-
zeichnen möchte; wenn es überhaupt eine Göttin ist, dann ist es
eine sehr jugendliche Psyche.
Fig. 5. 15jähi'iges Judenmädclien.
20 Weibliche Schönheit in der Kunst.
Am 14. August 1485 wurde von Arbeitern auf der Via Appia
ein marmorner Sarg ausgegraben, der die einbalsamirte Leiche eines
jungen Mädchens enthielt. Dieselbe war von wunderbarer Schönheit
und so gut erhalten, dass sie den Schein des Lebens erweckte-^).
Der Zulauf des Volkes war so gross, dass Papst Innocenz VIII. die
Leiche heimlich wegnehmen und begraben liess, weil er die Con-
currenz dieses Heidenkindes für seine Heiligen fürchtete.
„Mais," fügt Vachon hinzu ^), „la papaute eut beau faire enfuir
profondement dans la terre cette chair de femme, ä demi vivante,
jeter au ruisseau cette ephemere fleur humaine — eclose de nouveau
pendant quelques heures aux rayons du soleil, apres une nuit de
plusieurs siecles: l'antiquite etait ressuscitee pour toujours dans l'ecla-
tante renaissance de l'Art, qui avait su arracher aux ruines et aux
tombeaux le secret de la Grace et de la Beaute."
Auf den Trümmern der klassischen Kunst erhob sich das
Gebäude der Renaissance ; die Ueberreste früherer Grösse wurden zur
Offenbarung für eine neue Blüthezeit der Kunst.
Die klassische Schönheit aber hat nicht ein einziges ihrer
Werke erreicht, geschweige denn übertroffen, weil den Epigonen die
reichste Quelle, aus der die Alten schöpften, versiegt war : der täg-
liche Anblick des nackten Körpers in tausenderlei Gestaltung und
der dadurch geschärfte künstlerische Blick.
Gerade die besten der späteren Meister sahen dies am besten
ein und suchten diesem Mangel dadurch abzuhelfen , dass sie die
intuitive Nachahmung schöner Formen durch wissenschaftliche Er-
gründung derselben, durch anatomische Studien zu ersetzen suchten.
Duval und BicaP) haben mit kritischer Sorgfalt die anatomi-
schen Studien, welche die meisten Künstler gemeinschaftlich mit
Aerzten betrieben, zusammengestellt und mit vorzüglichen Nach-
bildungen illustrirt. Unter den Künstlern finden sich Leonardo da
Vinci, Michel Angelo, Raphael, Bandinelli, Cellini, Titian, Carracci,
Rubens, Rembrandt, Dürer und zahlreiche andere.
^) Lettre de Bartholomaeus Fontius ä Francesco EUachette, traduite et
analysee par Hubert Janitscheck. L'art, Tome IV.
^) La femme dans Tart, 1891, p. 194.
^) L'anatomie des Maitres. Histoire de Tanatomie plastique, 1890.
"Weibliche Schönheit in der Kunst. 21
Wenn einerseits auch diese Erweiterung ihrer Kenntnisse den
grossen Künstlern ermöglichte, fehlerhafte Modelle in ihren Werken
zu verbessern, so lag andererseits die Gefahr nahe, dass manche,
gerade durch diese Kenntnisse verleitet, mehr in ihre Gestalten hinein-
legten, als wirklich zu sehen war, gewissermassen die Natur über-
boten, ohne dieselbe schöner zu machen. Dieser Gefahr sind auch
grosse Meister nicht entgangen ^).
Suchten sie sich durch treue Nachahmung der Natur vor
dieser Gefahr zu schützen, so drohte die Möglichkeit, dass sie un-
bewusst Fehler des Modells in ihre Werke übertrugen, und zwar
um so mehr, als es nicht jedem glückte, vollendet schöne Modelle
zu finden.
Aber nicht nur der Künstler, sondern auch das Publicum war
des täglichen Anblicks des Nackten entwöhnt, und so ist es zu
erklären, dass beide, Künstler sowohl als Publicum, minder wähle-
risch wurden und auch mit minder Schönem vorlieb nahmen wo
es sich bot.
Mehr und mehr tritt die Individualität des Künstlers in den
Vordergrund, und grosse Vorzüge in der Technik oder in der Auf-
fassung sind im Stande, ganze Generationen für absichtliche und
unabsichtliche Fehler anderer Art blind zu machen.
Es ist nicht meine Absicht, hier eine ausführliche Kritik der
Kunst und der Kunstgeschichte der Renaissance zu schreiben; für
meinen Zweck genügt es, an einem beliebigen Beispiel nachzuweisen,
wie selbst Kenner sich durch die herrschende Strömung zu irrigen
Auffassungen hinreissen lassen können.
Ich wähle dafür die florentinische Venus von Sandro Botticelli,
der gerade in letzter Zeit von den Präraphaeliten mit ungetheilter
Bewunderung auf den Thron erhoben wurde.
Brücke hat bereits auf einige anatomische Fehler dieser Venus
aufmerksam gemacht (1. c. p. 25, 62, 81). UUman, einer der besten
unter den Biographen Botticelli's , erkennt die anatomischen Fehler
auch als solche an. Er führt die Verse Poliziano's an , die wahr-
^) Vgl. Henke, Die Menschen des Michel Angelo im Vergleich mit der
Antike. Rostock 1892.
22
Weibliche Schönheit in der Kunst.
Fig. 6. Venus von Botticelli.
scheinlich der Darstellung zu Grunde lagen, er bespricht ausführlich
und sachlich die Möglichkeit, ob Simonetta Catanea, die Geliebte
des Giuliano di Medici , als Modell zur Venus gedient habe , und
Weibliclie Schönheit in der Kunst. 23
entscileidet sich, im verneinenden Sinne, da das einzige autlientisclie
Bildniss der Simonetta nickt mit dem Gresichte der Venus völlig
übereinstimme ^).
Man vergleiche hiermit den Erguss von Ernst Steinmann ^):
„Frau Schönheit ist's,
Von deren Lobgesang
Noch zittert Herz und Hand,
Die du so oft erkannt
Am fliegend goldnen Haar,
Am flatternden Gewand."
„Mit diesen Versen aus einem Schönheitshymnus Rossetti's lässt sich
der poetische Zauber , welcher die Geburt der schaumgeborenen
Aphrodite umschwebt, vielleicht am ersten in Worte fassen.
Leise plätschernd umspielen die Wogen das schwankende Fahrzeug,
auf dessen Rand die reizende Liebesgöttin steht, Brust und Schoss
mit keuscher Gebärde bedeckend. Eine unendliche Fülle goldenen
Haares umflattert die Himmlische. — Man hat diese Gestalt
mit Recht als das schönste Venusbild der neueren Kunst gepriesen,
es lässt sich wohl überhaupt nur mit der schlummernden Venus des
Giorgione vergleichen, wo uns ebenso die Reinheit der Seele entzückt,
die in der keuschen Hülle eines vollendet schönen Weibes Wohnung
genommen hat. Wie eine Sage aus dem goldenen Zeitalter, das
Marsilio Ficino in seinen Briefen mit so glühenden Farben geschildert
hat, redet dies Bild zu uns, vor welchem sich der Beschauer bald als
unberufener Zeuge eines der heiligen Geheimnisse fühlt, welche die
Natur im grossen Buche ihrer Wunder verborgen hat. So wahr ist
dieser Vorgang geschildert, so lebendig wirkt der jungfräuliche Reiz
der athmenden Göttin u. s. w."
Diese ganze Expectoration, bei der ich noch alles nicht direct
auf die Venus Bezügliche wegliess, wird durch das beigefügte Bild
noch überflüssiger gemacht.
Schreibt man so Kunstgeschichte? Ich glaube nicht.
Ich möchte diesen Tiraden das Folgende gegenüberstellen.
') UUman, Botticelli, p. 102.
^) Künstlermonographien von Knackfuss, 24, 1897.
24 "Weibliche Schönheit in der Kunst.
Die Figur der Yenus von Sandro Botticelli ist erfüllt von einem
zarten, wehmütliigen Liebreiz, der einen tiefen Eindruck macht.
Betrachtet man die Figur näher, so findet man in dem langen,
schmalen Halse, den stark abfallenden Schultern, dem schmalen
eingesunkenen Brustkasten, dem dadurch [bedingten Tiefstand und
der geringeren Divergenz der Brüste den ausgeprägten Typus der
Schwindsüchtigen v^^ieder, der, wie im Leben, so auch in der bild-
lichen Darstellung durch seine tieftraurige Schönheit das innige Mit-
gefühl des Beschauers erregt.
Wenn wir bedenken, dass Simonetta Catanea im Jahre 1453
geboren ist, und, nachdem sie sich .1468 mit Marco Vespucci ver-
heirathet hatte, bereits im Jahre 1476, noch nicht dreiundzwanzig
Jahre alt, an Schwindsucht starb, so ist es mehr als wahrscheinlich,
dass sie , wie einige Autoren annehmen , wirklich als Modell 'zu
Botticelli's Venus gestanden hat, und dass der Künstler aus leicht
begreiflichen Gründen nur das Gesicht etwas verändert hat ^).
Botticelli hat also den Typus einer schönen Schwind-
süchtigen zu seinem Ideal gemacht, ohne dass er es
wusste. Seine Bewunderer und Nachfolger aber wussten
dies auch nicht und haben, seinen Idealen nachstrebend,
ihren gesunden Modellen das Gepräge der Schwindsucht
aufgedrückt und so unwahre Mischgestalten geschaffen.
Bei Burne Jones , emem der grössten Präraphaeliten , ist der Con-
flict besonders deutlich. In seinen Acten finden sich gesunde
Menschen ^) , auf seinen Gemälden sind sie alle mehr oder weniger
schwindsüchtig geworden.
Dies eine Beispiel möge genügen, um darzuthun, wie sich in
den späteren Werken Natur und Kunst in den verwickeltsten Ver-
hältnissen verschlingen. Um einem Künstler gerecht zu werden,
muss man nicht nuT seine Werke, sondern auch sein Leben und
die Zeit, in der er lebte, äusserst sorgfältig analysiren, und nur
^) Auch auf dem Bildniss der Simonetta von Pollajuolo in der Sammlung
des Duc d'Aumale zeigt der bis unter die Brüste entblösste Oberkörper trotz
seiner grossen Schönheit alle Zeichen der Schwindsucht. (Stich von de Mare
in der Gazette des beaux-arts, XXII.)
2) Vgl. Studio, Vol. VII, p. 198 ff., und Vol. XIV, p. 38.
Schönheit in der Literatur. 25
selten wird es gelingen, daraus ein gültiges Scliönlieitsideal zu
destilliren.
Je eher wir im Stande sind, den Kunstwerken analoge Ge-
stalten im Leben zurückzufinden , desto wahrscheinlicher wird es,
dass der Künstler sich ganz an das schöne Leben gehalten hat, und
in dieser Beziehung stehen die nackten weiblichen Gestalten von
Tizian, Giorgione, Palma Vecchio und van Dyck oben an. Rembrandt
und Rubens sind ihnen ebenbürtig in der Naturwahrheit , jedoch
haben beide keine so schönen Modelle gehabt.
Wir können den Einfluss der grossen Künstler auf das mo-
derne Schönheitsideal bemessen, indem wir fragen: Welche Werke
sind in den weitesten Kreisen bekannt geworden?
Es sind dies unstreitig die Venus von Milo , die Venus von
Medici, die sixtinische Madonna ■^) und die Madonna della sedia.
Wir sehen also, dass in Bezug auf den weiblichen Körper die
klassische Kunst auch heute noch den Sieg davongetragen hat, und
dass von allen späteren Künstlern Raphael der einzige war, der das
liebreizende Gesicht seiner Madonnen zum allgemein anerkannten
Ideal zu erheben wusste. Andererseits aber ersehen wir daraus auch,
dass „die grosse Masse" ein strenger und gerechter Richter ist und
sehr wohl das wahrhaft Schöne aus der Unzahl des Geringeren und
Mittelmässigen herauszufinden weiss. Auch hier in der Kunst, wie
in der Geschichte, ist der beste unbeeinflusste Kenner die Nachwelt.
IIL
Weibliche Schönheit in der Literatur.
Die Darstellung weiblicher Schönheit in der Literatur kann
man von künstlerischem sowie von rein wissenschaftlichem Stand-
punkt aus betrachten.
^) Jelinek (Monographie: Madonna Sixtina, 1899), hat die Echtheit der
Dresdener Sixtina mit guten Gründen angezweifelt. Ist dem so, dann beweist
dies nur aufs Neue die grosse Macht des Originals, das selbst in einer fehler-
haften Copie noch einen so tiefen Eindruck hei-vorbringen konnte.
26 Schönlieit in der Literatur.
Den ersteren hat Lessing im Laokoon eingenommen, in dem er
die Grenzen des Darstellbaren in Malerei und Poesie bestimmt ^).
„Homer sagt von Helena nichts weiter, als dass sie weisse
Arme und schönes Haar gehabt habe. Er malt ihre Schönheit,
indem er den Eindruck schildert, den dieselbe auf die versammelten
trojanischen Greise macht. Zeuxis malte sie selbst: Sein Gemälde
bestand aus der einzigen Figur der Helena, die nackend dastand."
Nach Lessing's Auffassung muss demnach der Dichter an die
Stelle der Augen und des Mundes den Blick und das Lächeln setzen,
statt schlanker Glieder die Bewegungen beschreiben, statt körper-
licher Schönheit den Eindruck, den dieselbe hervorruft. Will er uns
die Vorzüge eines schönen Körpers vorführen , so soll er nicht sie
selbst schildern, sondern den Act der Entkleidung, der uns dieselben
enthüllt, oder den Eindruck, den sie auf den Beschauer machen.
Als Muster, kann die eingangs wiedergegebene Schilderung des
sich entkleidenden Mädchens von Goethe gelten. Er sagt nichts von
ihrem Körper, als dass ihr Gesicht eine schöne, regelmässige Bildung
zeigte, und dass braune Haare mit vielen und grossen Locken auf
die Schultern herunterrollten; alle übrigen Körpertheile sind gar
nicht erwähnt. Dass sie schön sind, sehen wir aus dem Eindruck
auf den bewundernden Zuschauer während des EnthüUens. Ein
Maler hätte nicht den staunenden Jüngling, sondern wie Zeuxis die
entkleidete Schönheit darstellen müssen.
Ein weiteres, interessantes Beispiel, das von zwei Dichtern
behandelt ist, bietet die bekannte Geschichte der schönen Ginevra.
Bei Boccaccio ^) steigt Ambrogiuolo im Schlafzimmer Ginevra's
aus seiner Kiste und prägt sich das Aussehen des Gemaches ein.
„Darauf näherte er sich dem Bette und sah, dass die Dame und
iljre jugendliche Dienerin in tiefem Schlafe lagen. Er zog die Decke
von ihrem Leibe und erkannte, dass sie nackt ebenso schön war
als bekleidet. Er suchte an ihrem Körper nach einem Zeichen und
fand endlich unter der linken Brust ein kleines Mal, um das einige
goldblonde Haare standen. Und obgleich ihn beim Anblick ihrer
^) Lessing's gesammelte Werke, Cotta, 188G, II, p. 620 ff.
'^) Decamerone, 2. Tag, Novelle 9.
Schönheit in der Literatur. 27
Schönheit eine unwiderstehliche Lust beschlich, sie zu küssen und
sich ihi"«r Liebe zu erfreuen, so deckte er sie doch vorsichtig wieder
zu, weil er ihren Zorn fürchtete."
Li Cymbelin ^) hat Shakespeare dieselbe Scene bearbeitet :
Imogen schläft ein. Joacliimo kommt aus der Kiste.
— 0 Cytherea,
Wie hold stehst du dem Bette! Frische Lilie
Und weisser als das Linnen. Dürft' ich rühren,
Nur küssen, einen Kuss! Rubinenwunder,
Wie köstlich sie's versteh'n! Ihr Athem ist's,
Der so die Kammer würzt. Das Licht der Kerze
Beugt sich zu ihr, möcht' unterm Augenlid
Die Lichter schau'n, die nun verschleiert ruh'n
Von diesem Vorhang, weiss und azurblau,
Gesäumt mit Himmelstinten. — Doch mein Zweck.
Die Kammer mir zu merken, schreib' ich's auf:
Die und die Bilder • — dort das Fenster — so
Der Zierath ihres Betts — Teppich, Figuren,
Nun so und so, was die Geschichte vorstellt.
0, nur ein paar Merkzeichen ihres Körpers —
Affe des Todes, Schlaf, lieg' dumpf auf ihr.
Und ihr Gefühl sei wie ein steinern Bild
In Grabkapellen. Komm' herab. —
(Er streift ilir Armband ab.)
— Auf der linken Brust
Ein Mal, fünfsprenklig wie die Scharlachtröpflein
Im Schlüsselblümchen; hier ist ein Beweis,
Stärker als die Justiz ihn je erfand.
Boccaccio beschreibt ausschliesslich den Eindruck der Schön-
heit. Allein aus den goldenen Härchen um das Mal kann der Leser
schliessen, dass Ginevra blond war. Bei Shakespeare wird nur von
dem „weissen Lilienteint", dem „Rubinenwunder" des Mundes und
von dem bläulichen Schimmer der geschlossenen Augenlider ge-
sprochen.
Beide sind noch sparsamer wie Groethe in der Beschreibung
des Körpers, desto stärker aber zeichnen sie die Leidenschaften,
welche der Anblick der nackten Schönheit entfesselt.
^) Act II, Sc. 2, übersetzt von Gildemeister.
28 Schönheit in der Literatur.
Mit viel Geschick ist eine Entkleidungsscene in den Liedern
der Bilitis behandelt, wobei ein anderer Kunstgriff benützt wird.
In freier Uebersetzung lautet der betreffende (132.) Gesang:
Blumentanz.
Anthis, die lydische Tänzerin,
Ist in sieben Schleier gehüllt.
Sie wirft den gelben Schleier hin,
Dem schwarzes Gelock entquillt.
Der rosige Schleier gleitet vom Mund,
Der weisse enthüllet die Arme zur Stund.
Den rothen Schleier knüpfet sie ab,
Der den sprossenden Busen entblösst,
Der grüne sinkt von den Hüften herab,
Von den Schultern der blaue, gelöst.
Doch den durchsicht'gen Schleier der Lenden
Bedeckt sie mit schamhaften Händen.
Man bittet. Sie wirft das Haupt zurück;
Doch wie nun die Flöten erschallen,
Zerreisst sie den Schleier, Stück für Stück,
Lässt ihn, den letzten, fallen.
Dann, singend zum Tanze, pflücket sie ab
Die Blüthen des Leibes, die Gott ihr gab.
„Was ist meine knospende Rose? Die Brust.
„Was sind meine Veilchen? Die Augen voll Lust.
„Die rothe Nelke? Mein küssender Mund;
„Die Lilie? Mein Leib, so blühend und rund.
„0 pflücket, bevor sie verwelken,
„Die Rosen, die Veilchen, die Nelken."
Auch hier wird von den einzelnen Körpertheilen nichts gesagt,
als dass die Haare schwarz und die Brüste klein sind. Dass das
Auge blau und der Mund roth, verräth uns der Vergleich mit Veil-
chen und Nelke. Alle übrigen Körpertheile werden nur genannt,
nicht beschrieben.
Ich bin überzeugt, dass Lessing's künstlerischer Standpunkt
der richtige ist, und niuss mit ihm zu dem Schlüsse kommen, dass
gerade die besten literarischen Werke am meisten auf die Phan-
tasie des Lesers wirken und darum am allerwenigsten im Stande
sind, uns ein Bild zu geben, das wir direct mit der lebenden Wirk-
lichkeit vergleichen können: die Absicht des Dichters ist, dass jeder
Schönheit in der Literatur. 29
Leser sicli unter dem Bild der gepriesenen Scliönlieit seine eigene
Geliebte vorstellt oder diejenige Frau, deren körperliche Vorzüge
den tiefsten Eindruck auf ihn hinterlassen haben.
Hier müssen wir vom künstlerischen Standpunkt ganz absehen.
Stellen wir uns auf den rein wissenschaftlichen Standpunkt,
sehen wir ganz ab von dem literarischen Werth , beschränken wir
uns auf das Feststellen von Thatsachen, dann haben so manche selbst
minderwerthige dichterische Leistungen gerade für unseren Zweck
einen gewissen Werth, indem sie einerseits ein Spiegelbild der An-
forderungen geben, die zur Zeit des Schriftstellers an lebende weib-
liche Schönheit gestellt wurden, andererseits insofern, als sie mass-
gebend geworden sind für eine gewisse Geschmacksrichtung in der
Schönheitsauffassung. Eine derartige Untersuchung erhält dadurch
einen höheren Werth, dass erfahrungsgemäss die die Poesie be-
herrschende Mode stets auch' die bildende Kunst in gleicher Weise
beherrscht, so dass wir auch das Schönheitsideal jeder Zeit in Wort
und Bild zugleich zurückfinden können.
Wenn Martial verlangt, dass die weibliche Brust von der Art
sein müsse „ut capiat nostra tegatque manus", so können wir daraus
schliessen, dass zu seiner Zeit grosse Brüste nicht für schön galten.
Dementsprechend finden wir auch auf allen klassischen weiblichen
Statuen kleine Brüste dargestellt.
Wir werden niemals ein Mädchen mit einem wirklichen
Schwanenhals und einer wirklichen Wespentaille schön finden; der
Gebrauch dieser Bilder lehrt uns indess , dass ein langer Hals und
eine schmale Mitte als Attribute des Schönheitsideals aufgefasst
wurden und in gewissem Sinne noch werden. Ein Blick auf Familien-
bilder aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts oder auf die
schönen Zeichnungen Gavarni's lehrt uns ferner, dass die bildende
Kunst derselben Auffassung huldigt.
Houdoy-*^) hat in einem mustergültigen Werke das Schönheits-
ideal des zwölften bis sechzehnten Jahrhunderts in dieser Weise
wissenschaftlich analysirt.
^) La beaute des fenimes dans la literature et dans l'art du Xlle au
XVIe siecle, 1876.
30 Schönheit in der Literatur.
Ihm schliessen sicli an Vaclion\), Ploss-Bartels^), Mantegazza^),
Scliaeffer^) und zahlreiche andere.
Die Kunst und die Literatur aller Völker bietet Bausteine
genug, um, ebenso wie es Houdoy für das spätere Mittelalter gethan
hat, ein Schönheitsideal der gebildeten Welt mit allen seinen durch
Zeit und Geschmacksrichtung bestimmten Variationen aufzubauen.
Eine derartige Arbeit würde jedoch weit über die Grrenzen
dieses Buches hinausgehen. Ich verweise hier auf die citirten
Autoren und begnüge mich damit, zu constatiren, dass in der Lite-
ratur ebenso wie in der bildenden Kunst das Schönheitsideal beruht
auf Beobachtung des Lebens , die jedoch stets durch Mode und
künstlerische Auffassung bedingte Veränderungen untergangen hat.
Dass hinwiederum literarische Werke Einfluss auf die herr-
schende Auffassung weiblicher Schönheit ausüben können, beweist
unter anderem das Beispiel von Rousseau, der durch seinen Emile
zahlreiche seiner weiblichen Zeitgenossen zum Selbststillen ihrer
Kinder veranlasste und dadurch das Schönfinden gefüllter Busen in
die Mode brachte.
Von den tausend Beschreibungen weiblicher Schönheit, die sich
in der Literatur finden, gebe ich als Beispiel nur eine wieder, die
ich dem Buche von Houdoy entnehme. Ich wähle diese, einmal,
weil neben ihr ein Bild des Originals besteht, dann aber, weil sich
darin ein Massstab zur Beurtheilung weiblicher Schönheit findet,
den wir bis jetzt noch nicht berücksichtigt haben, und der uns un-
merklich zur weiteren Entwickelung unseres Themas leitet.
Es ist dies die von Niphus verfasste Beschreibung von Gio-
vanna d'Aragona, deren Bild, von Raphael oder wahrscheinlicher
von Giulio Romano gemalt^), im Louvre in Paris hängt.
Houdoy giebt neben einer vorzüglichen TJebersetzung ins Fran-
zösische den lateinisch geschriebenen Originaltext von Niphus.
^) La fenime dans l'art.
2) Das weibliche Schönheitsideal in : Das Weib, s. o.
^) Physiologie des Weibes u. a.
•*) Die Frau in der venezianischen Malerei. Brucbmann, 1899.
^) Gruyer, (Gazette des beaux-arts, XXII, p. 465) weist auf Grund histori-
scher Documente nach, dass Raphael Giovanna niemals gesehen haben kann,
und allein die Arbeit Romanos beaufsichtigte.
Schönheit der Jeanne d'Aragon. 31
„Die erhabene Joamia ist für uns ein Beweis, dass die wahr-
hafte Schönheit nur in der Natur besteht, denn sie paart die voll-
kommene Schönheit des Körpers und der Seele.
Ihre Seele vereinigt sittliche Heldengrösse und Sanftmuth (und
in dieser liegt gerade die Schönheit der Seele) , so dass sie nicht
von irdischer, sondern von göttlicher Abkunft erscheint.
Ihre Körperformen sind von solch hervorragender Schönheit,
dass selbst Zeuxis, der zur Darstellung der Helena die verschiedenen
Reize der allerschönsten Mädchen von Croton vereinigen musste,
sich mit Joanna als einzigem Modell begnügt hätte, wenn es ihm
vergönnt gewesen wäre, dieselbe zu schauen und ihre Vortreflflich-
keit zu erkennen.
Ihre Gestalt ist von Mittelgrösse, gerade und zierlich, geschmückt
mit dem wunderbarsten Ebenmass der Glieder; sie erscheint weder
fett noch knochig, sondern in jugendlicher Fülle (succulenta); ihre
Hautfarbe ist nicht bleich, sondern sjaielt vom Weissen ins Rothe;
ihre langen Haare schimmern wie Gold. Ihre Ohren sind klein
und rund, dem Munde entsprechend^). Dunkelbraune, nicht zu dicht
stehende Härchen wölben sich im halben Kreise zu den Brauen;
ihre blauenden Augen erstrahlen heller als alle Sterne unter den
schwarzen geraden Wimpern und streuen Liebreiz und Freude um
sich her; zwischen den Augenbrauen steigt die gleichmässig und
schön geformte Nase gerade herunter; von göttlicher Form ist das
Thälchen , das die Nase von der Oberlippe scheidet. Der kleine,
süss lächelnde Mund zieht die Küsse stärker an, als der Magnet das
Eisen; weiche Lippen umschliessen ihn, honigsüss und korallenroth.
Die Zähne sind klein, glänzend wie Elfenbein und schön geordnet;
ihr Athem ist der köstlichste Wohlgeruch.
Ihre göttliche Stimme hat nichts Menschliches. Ein niedliches
Grübchen ziert das Kinn; auf ihren Wangen spielt die Farbe der
Rose und des Schnees. Der Umriss ihres Antlitzes ist rund, zum
männlichen hinneigend.
Der gerade, gestreckte Hals hebt sich voll und weiss zwischen
^) Nach Agrippa mussten die Ohren vereinigt einen Kreis bilden, der der
Grösse des geöffneten Mundes entsprach.
32 Schönheit der Jeanne d' Aragon.
den glänzenden, gut gewölbten Scliultern, die auf breiter Fläcbe
keinen Knochen hervortreten lassen. Die Brüste von massiger Grösse
sind gleichmässig gerundet und ähneln den Pfirsichen, deren Duft
sie ausströmen.
Die weichen Hände sind von aussen wie Schnee, von innen
wie Elfenbein, und genau so lang wie das Angesicht ; die gefüllten,
runden Finger sind nicht zu kurz und tragen feine, gewölbte Nägel
von zarter Farbe.
Der Oberkörper hat im ganzen die Form einer umgekehrten,
etwas platten Birne, deren untere Spitze schmal und rund im Durch-
schnitt ist, und deren breites Ende sich oben in bewunderungs-
würdigen Linien und Flächen an die Wurzel des Halses ansetzt.
Der Unterleib ist flach gewölbt und im guten Verhältniss zu
Hüften und Lenden. Die Oberschenkel sind kräftig und drehrund;
der Oberschenkel steht zur Wade, die Wade zum Oberarm im rich-
tigen Ebenmass von drei zu zwei^).
Die Arme sind in göttlichem Gleichmass zu den übrigen Theilen
des Körpers geformt.
Die Füsse sind zierlich und endigen in bewunderungswürdig
geformten Zehen.
Ihr Ebenmass und ihre Schönheit ist von der Art, dass man
sie mit Recht den Unsterblichen zurechnen kann.
Wenn nun die geistigen Eigenschaften , der Liebreiz und die
Schönheit dieser Prinzessin so gross sind, so kann man daraus
schliessen, nicht allein, dass das wahrhaft Schöne nur in der Natur
besteht, sondern auch, dass nichts an Schönheit den menschlichen
Körper übertrifft."
Besser und rascher als diese Beschreibung überzeugt uns das
discretere Bild der Jeanne d' Aragon im Louvre von deren körperlichen
Reizen (Fig. 7). Ob der alte Niphus dieselben nicht nur theoretisch,
sondern auch praktisch studiren konnte, ist für uns Nebensache^).
Die Hauptsache ist, dass er bestrebt ist, uns von der Schön-
^) D. h. der Umfang des Oberschenkels — 1 V2nial dem Umfang der Wade,
Umfang der Wade = lV2mal Umfang des Oberarms.
^) Guyon (Diverses le^ons III) weist nach, dass Niphus als Arzt häufig
Gelegenheit hatte, den Körper der Prinzessin zu sehen.
Schönlieit der Jeanne d' Aragon.
33
Fig. 7. Bildniss der Jeanne d' Aragon im Louvre.
Nach einem Kohledruck von Braun, Clement & Co. in Dornacli i. E.
lieit Jeanne's niclit nur durch die Aufzählung und Umschreibung*
der einzelnen Körpertheile zu überzeugen, sondern auch durch die
Yergieichung mit einem gewissen Massstab , durch die Proportion
der Theile unter sich.
Er bildet damit den Uebergang von der Auffassung des Dichters
zu der des Philosophen, der nicht nur den Eindruck hervorrufen
und wiedergeben, sondern auch begründen will.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 3
34 Antiker Canon und Modulus.
Die theoretisclien Betrachtungen, die solche Herren ohne
Kenntniss des Lebens in ihren Studirstuben anstellten, haben für
uns einen äusserst geringen Werth. Wenn Schopenhauer von dem
„niedrig gewachsenen, schmalschultrigen , breithüftigen und kurz-
beinigen Geschlecht" spricht, das man das schöne nennt, so be-
weist dies nur, dass er wenige und traurige Erfahrungen und keine
vorurtheilsfreien Studien gemacht hat.
An Versuchen, die verschiedenen Formen weiblicher Schönheit
systematisch einzutheilen, fehlt es nicht, Künstler, Philosophen und
Aesthetiker haben darin gewetteifert.
A. Walker-^) unterscheidet drei Formen: locomotive, nutritive,
mental beauty, und stellt als Typen für die erste Diana, für die
zweite Venus, für die dritte Minerva auf.
Lairesse^) schreibt : Die Schönheit eines nackten Frauenbildes
besteht hierin, dass erstlich die Gliedmassen gut geformt sind, zum
zweiten, dass sie eine schöne, freie und gemächliche Bewegung habe,
und endlich eine gesunde und frische Couleur.
Andere wieder unterscheiden zwischen erhabener und lieblicher,
zwischen sittlicher und sinnlicher, zwischen blonder und brünetter
Schönheit. Bei allen diesen Eintheilungen ist es beim Versuche ge-
blieben und keine hat sich allgemeine Geltung verschafft.
Das einzige Positive, was sich aus allen diesen Versuchen heraus-
entwickelt hat, ist das Bestreben, eine gewisse Gesetzmässigkeit in
der Form, in den Grössenverhältnissen der einzelnen Theile zu ein-
ander zu entdecken, die Lehre von den Proportionen.
IV.
Proportionslehre und Canon.
Wir haben in dem vorigen Abschnitt gesehen , dass Niphus
die Schönheit Johanna's von Aragonien zum Theil nach gewissen
Verhältnissen beurtheilt: die Ohren sind zusammen gleich gross wie
^) Analysis and Classification of beauty in woman. London 1852.
^) Groot scliilderboek. Amsterdam 1716.
Proportionssysteme. 35
der Mund , die Hand entspricht genau der Länge des Angesickts,
Schenkel, Wade und Oberarm stehen im Verhältniss von 3 zu 2 u. s. w.
Gleich Niphus haben sich schon seit der grauen Zeit der
Aegypter bis in unsere Tage zahlreiche hervorragende Männer be-
müht, die Gresetzmässigkeit der Proportionen des menschlichen Körpers
zu erforschen.
Dies geschah von einzelnen ausschliesslich in der bescheidenen
und löblichen Absicht, dem Künstler dadurch ein Hülfsmittel zur
Nachbildung menschlicher Figuren an die Hand zu geben, andere
aber haben sich verleiten lassen, aus einer scheinbaren Gesetzmässig-
keit der von ihnen genommenen Masse ein theoretisches Gebäude
*
zur Bestimmung des Schönheitsbegriffs zu construn-en.
Erst in allerneuester Zeit finden sich vereinzelte Bestrebungen,
aus einer grossen Anzahl Messungen in wissenschaftlicher Weise
das Mittelmass und damit zwar nicht das Schönheitsideal, wohl aber
die Normalgestalt zu bestimmen.
Die sorgfältigen Untersuchungen von Ch. Blanc ^) haben nach-
gewiesen, dass die alten Aegypter als Grundmass die Länge des
Mittelfingers annahmen, der nach ihnen neunzehnmal in der Körper-
lange enthalten ist.
Eine genau nach diesen Regeln construirte Figur heisst Canon,
das sie bestimmende Grundmass wird Modulus genannt.
Es scheint, dass der ägyptische Canon zum Theil in die
griechische Kunst übernommen wurde, dass daneben aber auch noch
andere Canons bestanden, bei denen die Länge der Hand, des
Fusses oder des Kopfes den Modulus abgab.
Der bekannteste ist der des Folyklet, den manche in dem
Speerträger von Neapel zurückzufinden glauben^). Yitruv, Galen
und Plinius berichten über den Canon des Folyklet. Danach ist das
Gesicht ein Zehntel, der Kopf ein Achtel der Gesammthöhe, Kopf
und Hals ein Sechstel und gleich der Fusslänge. Das Gesicht zer-
fällt in drei gleiche Theile, vom Kinn zum unteren Rand der Nase,
■') Gazette des beaux-arts, VII.
^) Gruillaume hält denselben für eine Copie, da das Original wahrscbein-
lich aus Bronce gewesen ist.
36 Proportionssysteme.
von da bis zum oberen Rand derselben, und von da bis zum Haar-
ansatz^).
Arcbäologen und Historiker haben auszumachen, ob damit wirk-
lich der Canon des Polyklet durch Ueb erlief erung bewahrt ist^).
Uns interessirt hier nur die Thatsache , dass diese Masse bis in
unsere Zeit als Massstab menschlicher Schönheit gegolten haben,
trotzdem sie, wie Langer^) nachgewiesen hat, selbst bei zahlreichen
klassischen Bildwerken nicht immer zu finden sind.
Als mit der Renaissance das Interesse an dem menschlichen
Körper wieder erwachte, sind Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer
und Agrippa die ersten gewesen, die sich wieder mit den Proportionen
des menschlichen Körpers beschäftigten; die ersteren beiden stellten
sich ausschliesslich auf den Standpunkt des Künstlers zur leichteren
Nachbildung, der letztere hat ein ganzes System aufgebaut, nach dem
sich nicht nur der menschliche Mikrokosmus, sondern auch jede
geometrische Figur, selbst die Sternenwelt, System atisiren lässt*).
^) Vgl. L. von Sybel, Weltgeschichte der Kunst, 1888, p. 193.
") „Wir Archäologen," schreibt mir Professor Michaelis, „nehmen an, dass
auch Polyklet seinen Proportionscanon durch Abstraction aus einer grossen Zahl
von Messungen gut gebildeter Jünglinge gev?onnen habe. Dass sein Canon in
dem Neapler Doryphoros wieder zu finden sei, ist nicht bloss die Ansicht mancher,
sondern seit Friedreich's Nachweis im Jahre 1863 ganz allgemein angenommen,
ebenso sicher aber ist es, dass die Neapler wie alle andern uns erhaltenen
Exemplare römische Marmorcopieen nach Polyklet's Erzoriginal sind. Die von
Ihnen angeführten Normalmasse sind nur bei Vitruv überliefert, aber ohne Poly-
klet's Namen , und es hat immer als zweifelhaft gegolten , ob es wirklich die
polykletischen Proportionen sind. Professor A. Kalkmann in Berlin hat sie in
seiner Abhandlung ,Die Proportionen des Gesichts In der griechischen Kunst',
Berlin 1893 p. 42 ff., dem jüngeren Künstler Euphranor zugeschrieben, der die
polykletischen Proportionen mit Bewusstsein änderte, wie Plinius 35, 128 meldet.
Die Proportionen sowohl des Körpers insgesammt wie die des Gesichts zeigen
überhaupt im Verlauf der griechischen Kunstentwickelung die grössten Ver-
schiedenheiten, die nur zum Theil einer consequenten Weiterbildung angehören,
grossentheils individuelle Auffassungen einzelner führender Künstler oder Rich-
tungen darstellen. Kein Archäologe wird jene vitruvischen Masse als allgemein
gültig für die ganze griechische Kunst ansehen. Leonardo geht von ihnen aus,
kommt aber aus seinen ohne Zweifel sehr zahlreichen Messungen zu theilweise
abweichenden Ergebnissen. Ich habe darüber im Journal of Hellenic Studies
von 1883 gehandelt."
^) 1. c. p. 60.
*) Agrippa de philosophia occulta, 1531.
Canon und Modulus. 37
Wer sicli für die historische Entwickelung der verschiedenen
Systeme interessirt, findet eine ziemlich vollständige Uebersicht und
Besprechung derselben in der fleissigen Arbeit von Zeising^j. Da-
selbst werden 78 Philosophen, Künstler, Anatomen und Physiologen
aufgezählt, dazu kommt der von Zeising nicht erwähnte Agrippa
und Zeising selbst mit seiner Lehre vom goldenen Schnitt, so dass
wir bis zum Jahre 1854 nicht weniger als 80 Autoren haben, deren
jeder wieder einer persönlichen Auffassung huldigt.
Die meisten bestimmen die Proportionen nach Kopf- und Gre-
sichtslängen , Hay^) legt seinem System den musikalischen Accord
zu Grunde, indem er den Abstand der einzelnen Theile des Körpers
nach Terzen, Quinten, Octaven u. s. w. bestimmt. Zeising wendet
die Lehre vom goldenen Schnitt an , wonach eine Linie so getheilt
wird, dass das Ganze sich zum grösseren Theil verhält, wie dieser
zum kleineren ; so verhält sich nach ihm die Körperhöhe zur Nabel-
höhe, wie diese zu der Entfernung des Nabels bis zum Scheitel.
Wie Langer^) richtig bemerkt, hat diese Eintheilung schon
deshalb keinen Werth, weil die Höhe des Nabels sehr variabel ist;
jedoch erkennt er an, dass bei der Bestimmung der Taillenhöhe
einer gekleideten weiblichen Figur die Zeising'sche Eintheilung
zutrifft.
Es sei hier noch erwähnt, dass unter allen Autoren Cenino
Cennini*) der einzige ist, der den Frauen überhaupt jegliche richtige
Körperproportion abspricht und sich deshalb nur mit dem männ-
lichen Körper beschäftigt.
Die erste rein wissenschaftliche Arbeit über Proportionen stammt
von Quetelet^), der aus den an dreissig jungen Männern gefundenen
Massen eine Durchschnittsproportion construirte.
Er betritt damit den modernen, von den Anthropologen mehr
^) Neue Lehre von den Proportionen des mensclilichen Körpers, 1854.
^) The geometric beauty of the human figure defined, 1851.
') 1. c. p. 56.
•*) Lübke, Italienische Malerei, citirt bei Langer p. 62, bei Zeising nicht
erwähnt.
'") Des proportions du corps humain. Bulletin de Tacademie royale des
sciences, lettres et beaux-arts de Belgique, XV.
38 Proportionssystenie.
und mehr ausgebildeten Weg, durch Yergleichung einer möglichst
grossen Zahl von Einzelmassen ein durchschnittliches Normalmass
des Menschen , je nach Rasse , Lebensalter und Geschlecht ver-
schieden, zu construiren. Topinard^) hat versucht, aus den ihm
zugänglichen Messungen derartige Normalmasse für den Europäer
festzustellen, sieht jedoch eine grosse Schwierigkeit in dem Um-
stände , dass man in Europa keine grössere Anzahl von Individuen
absolut reiner Rasse erhalten kann.
Es ist bekannt, dass in neuester Zeit Bertillon in derselben
Weise die Identität von Verbrechern festzustellen suchte.
In Deutschland hat Schadow in seinem bekannten „Polyklet"
eine ganze Reihe von Einzelbeobachtungen in sorgfältigen Messungen
und vortrefflichen Zeichnungen niedergelegt; ein schönes Material,
das G. Fritsch^) neuerdings gebührend gewürdigt hat.
In Amerika hat Sargent ^) mehr als zweitausend Jünglinge
und Mädchen im Alter von 20 Jahren gemessen und nach den
Durchschnittsmassen zwei Thonmodelle angefertigt, die in Chicago
ausgestellt waren. Richer^^) hat in gleicher Weise wie Sargent einen
Canon der Proportionen des männlichen Körpers construirt, den-
selben nach Kopflängen bestimmt und als Statue ausgearbeitet. Den
weiblichen Körper hat er leider nur beiläufig berücksichtigt.
Die Vergleichung der von verschiedenen Untersuchern ge-
wonnenen Resultate wird erschwert durch den Umstand, dass man
bisher noch nicht einer einheitlichen, allgemein gültigen Methode
gefolgt ist.
Obwohl wir demnach noch nicht in der Lage sind, feststehende
Normalproportionen für den menschlichen Körper zu geben, so
können wir doch mit grosser Genugthuung feststellen, dass im
grossen und ganzen trotz der verschiedenen Wege die Endresultate
gewissenhafter Beobachter sich decken, und nicht nur das allein,
sondern dass die künstlerische Idealgestalt mit der wissenschaftlichen
Normalgestalt zusammenfällt.
^) Citirt bei Richer, Anatomie artistique, 1890, p. 258.
-) Fritsch-Hai-less, Die Gestalt des Menschen, 1899.
3) Scribner's Magazine, 1893, Vol. XIV, Nr. 79.
*) Richer, Canon des proportions du corps humain, 1893.
Proportionssysteme. 39
Um dies darzutliini, diene als Grundlage die von G. Fritsch^)
befürwortete und verbesserte graphische Methode zur Bestimmung
der menschlichen Proportionen, welche von C. Schmidt^) und
C. Carus^) inaugurirt ist.
Fig. 8 stellt die weibliche Normalgestalt von Merkel ■*) dar,
welche in ein Zehntel natürlicher Grösse gezeichnet ist, entsprechend
einer Gesammtlänge von 155 cm. Daneben sind die Masse für diese
Figur nach dem Fritsch'schen Canon construirt und der Deutlichkeit
halber in punktirten Linien in die Figur selbst übertragen.
Als Modulus des Schmidt-Fritsch'schen Canons dient die Länge
der Wirbelsäule, gemessen vom unteren Rand der Nase bis zum
oberen Rand der Symphyse in gerade gestreckter Haltung = ab.
Dieser Hauptmodulus genügt, um alle übrigen Masse zu bestimmen.
Zunächst wird er in vier gleiche Theile ae, ef, fN und Nb
getheilt ; von diesen Untermoduli (= ^ji Modulus) wird einer , a c,
in der Verlängerung von ab angefügt, um ;'die Scheitelhöhe zu
bestimmen; je ein Untermodulus bei e, eS und eSj^ bestimmt den
Abstand der Schultergelenke SS^, je ein halber Untermodulus
bei b, bH und bH-^ giebt den Abstand der Hüftgelenke HH^.
Verbindet man jedes Schultergelenk mit dem gegenüberliegen-
den Hüftgelenk, so schneiden sich die Verbindungslinien SHj und
S^H bei N im Nabel.
Zieht man von den Schultergelenken Linien durch a, so bilden
deren Verlängerungen Sad,^ und S^ad mit den von c aus gezogenen
Parallelen cd und cd^ ein Quadrat, dessen quere Diagonale dd^^ die
Schädelbreite angiebt.
Eine zu aS gezogene Parallele von e aus schneidet die Linie
SH^ in der Höhe der Brustwarze B, der die linke Brustwarze
B^ entspricht.
Nun kann man die Länge der Extremitäten in folgender Weise
bestimmen:
^) Verhandlungen der Berl. Anthropologischen Gesellschaft, 16. Febr. 1895.
Die Gestalt des Menschen, p. 136 ff.
^) Proportionsschlüssel. Stuttgart 1849.
^) Die Proportionslehre der menschlichen Gestalt, 1854.
■*) Handbuch der topographischen Anatomie, 1896, II, p. 256.
40
Fritsch'sclier Canon.
Fig. 8. Canon von G-. Fritsch und Merkel'sche Normalgestalt.
Obere Extremität:
SB| rechtes Schultergelenk bis linke Brustwarze = SE Oberarm.
BiN linke Brustwarze bis Nabel = EM Unterarm.
NH Nabel bis Hüftgelenk = MP Hand.
Untere Extremität.
HB| rechtes Hüftgelenk bis linke Brustwarze = HK Oberschenkel.
BjHj Hüftgelenk bis Brustwarze derselben Seite = KF Unterschenkel.
Die Höhe des Fusses ist (ungefähr) ein halber Untermodulus.
Die gesammte Körperlänge ch ist gleich lOV^ — IOV2 Untermoduli.
Normalmasse. Merkel. Froriep. 41
Fritsch nimmt die Fusshöhe = dem oberen Abschnitt der Linie eB, was
einem halben bis drittel Untermodulus gleichkommt. Ich bin zu demselben
Resultate gekommen, indem ich auf der Mittellinie cb fünf weitere Unter-
moduli = bg und ein Drittel Um = gh abtrug und damit zugleich die Körper-
länge ch bestimmte.
Merkel giebt nicht au, in welcher Weise er zur Construction
seiner weiblichen Normalgestalt gelangt ist; jedenfalls hat er sich
nicht der Fritsch'schen Methode bedient, denn sonst hätte er die-
selbe unzweifelhaft erwähnt.
Um so auffallender ist es, dass er auf anderem Wege beinahe
zu den gleichen Resultaten kommt, wie Fritsch, denn wir sehen aus
der Figur, dass die Merkel'sche Gestalt bis auf kleine Abweichungen
von einigen Millimetern mit den Fritsch'schen Massen sich deckt.
(Die Masse des Armes stimmen genau, sobald man sich die Schulter
etwas gesenkt vorstellt.)
Froriep hat seiner Anatomie für Künstler ^) acht Proportions-
tafeln beigefügt, die zum Theil nach Liharzik construirt, nebenbei
aber auch nach Kopfhöhen berechnet sind. Die achte Tafel stellt
ein erwachsenes Weib von 25 Jahren vor. Trägt man bei dieser
die Fritsch'sche Construction ein, so stellt sich heraus, dass auch
hier die Masse beinahe vollkommen sich decken; nur ist bei Froriep
die Schädelbreite um 1 cm breiter und die Brustwarzen stehen tiefer.
Diese doppelte Uebereinstimmung spricht sehr entschieden für
die Brauchbarkeit des Fritsch'schen Canons, der abgesehen von der
äusserst einfachen Construction noch den Vortheil hat , dass auch
durch einfache Berechnung ohne Construction ein Theil der Masse
bestimmt werden kann.
Ist der Modulus z. B. = 60, so ist der Untermodulus = 15, demnach SS^
(Fig. 8) = 30, HHi = 15, ddj = 15, ch — 155. Zur ungefähren Vergleichung
mit einer Berechnung nach Kopfmassen kann man beachten, dass der Abstand
der Brustwarzen BBj ungefähr gleich ist der Kopflänge. Rechnet man die Ge-
sammtlänge auf 7V2 Kopflängen, dann verhält sich eine Kopflänge zu einem
Untermodulus wie 77« zu 10 V» , also etwa wie 8 zu 4; im gegebenen Fall
3 Kopflängen (BBi = 20) von 20 = 4 Untermoduli von 15 = 60.
Richer ^) hat die Proportionen ausschliesslich nach Kopflängen
bestimmt. Die weibliche Normalfigur von Richer (Fig. 9) kommt
1) Zweite Auflage 1890.
^) Anatomie artistique, 1890, p. 169 und 252.
42
Normalmasse. Richer.
Fig. 9. Weibliche Normalfigur nach Richer.
Fig. 10. Sarpi, javanisches Mädchen
von etwa 18 Jahren.
auf das Genaueste überein mit dem Fritsch'solLen Canon ^) , ausser
zwei kleinen Abweichungen: die Scheitelhöhe ist bei Richer um
etwas kleiner und die Länge des Vorderarms ist etwas grösser
(auf der Zeichnung scheint der Unterschied noch stärker, weil die
^) Diese Uebereinstimniung ist um so auffallender, als Richer, v?ie er mir
mittheilte, diese weibliche Figur aus dem Gedächtniss so zeichnete, wie er sie
für richtig projDortionirt hielt.
Normalmasse. Langer. 43
oberen Messpunkte liöher liegen als die etwas gesenkten Schulter-
gelenke).
Immerhin ist Richer, wenn auch auf anderem Wege, zu beinahe
derselben Normalgestalt gekommen, als Fritsch, Merkel und Froriep.
Zur Vergleichung des Canons mit den Verhältnissen an der
Lebenden habe ich ein gut gebautes javanisches Mädchen, Sarpi,
gewählt , deren Umrisse genau nach der Photographie gezeichnet
sind (Fig. 10).
Wegen der vorgebeugten Haltung des Kopfes fällt der obere
Endpunkt des Modulus ab etwas höher als der untere Nasenrand.
Mit Ausnahme des im Verhältniss zum Körper zu grossen Kopfes,
der der javanischen Rasse eigenthümlich ist, stimmen die Masse bis
auf Millimeter genau. Die Brüste sind mit den Armen in die Höhe
und etwas nach aussen gerückt, und fallen bei gesenkten Armen
genau in die Punkte BB^ (Fig. 8), wie ich mich an einer anderen
Aufnahme überzeugen konnte.
Langer ^) hat nach directen Messungen an Lebenden ein Linear-
schema aufgestellt. Da er ebenso wie Schmidt und Fritsch die
Gelenke und das Knochengerüst als Grundlage seiner Messungen
benützt, so decken sich seine Masse mit den obigen vollkommen,
was den Rumpf betrifft.
Bei den Extremitäten findet Langer, abweichend von Fritsch,
dass Ober- und Unterarm, Ober- und Unterschenkel gleich lang
sind^), die Endergebnisse sind aber die gleichen, trotz dieser Ver-
schiedenheiten, die nur auf verschiedener Annahme der Messpunkte
beruhen.
Langer hat ausser lebenden Menschen auch eine grössere An-
zahl antiker Statuen gemessen, und dabei gefunden, dass namentlich
die Figuren des Parthenon vollkommen mit den Normalverhältnissen
lebender Menschen übereinstimmen.
') 1. c. p. 48.
^) Dieser Unterschied erklärt sicli aus der Methode der Messung von
Langer. Die Länge des Unterschenkels berechnet er nach dem unteren Rande
des Wadenbeinknöchels; dieser liegt jedoch viel tiefer als das Gelenk; den
Unterarm rechnet er von der Achse des Ellbogengelenks, die im Oberarmknochen
liegt, bis in die Mitte des (doppelten) Handgelenks, wodurch der Unterarm auf
Kosten von Oberarm und Hand um einige Centimeter vergrössert wird.
44 Normalmasse.
Die bisherigen Betrachtungen haben uns demnach das folgende
gelehrt.
Durch genaue vergleichende Messungen wohlgebauter Indivi-
duen gelangt man zu stets wiederkehrenden Normalmassen, die im
grossen und ganzen trotz der verschiedenen Messungsmethoden stets
dieselben sind. Von allen angewandten Methoden geben diejenigen
die zuverlässigsten Resultate, die sich an unveränderlich feststehende,
durch das Knochengerüst und die Gelenke bestimmte Punkte halten.
Unter allen diesen Methoden verdient wiederum die von Schmidt
und Fritsch den Vorzug, weil sie mit der Genauigkeit der Messung
eine einfache Construction und bequeme Berechnung [vereinigt, und
sich dadurch als Massstab zur Beurtheilung gegebener Figuren be-
sonders eignet.
Wir haben gesehen, dass diese Verhältnisse sich sowohl an
anderen Canons als auch an normalen Exemplaren von Lebenden
wiederfinden lassen, ebenso wie in mustergültigen Darstellungen der
idealen Menschengestalt. Nun wollen wir versuchen, die gemachten
Erfahrungen auch kritisch zu verwerthen zur Entdeckung von Fehlern
in einer gegebenen Figur.
Als Beispiel wähle ich zunächst die obenerwähnte weibliche
Normalgestalt von Hay, die nach musikalischen Accorden construirt
ist (Fig. 11).
Tragen wir in dieselbe den Fritsch'schen Modulus ab ein und
construiren die nöthigen Linien , so zeigt sich zunächst , dass die
Beine viel zu kurz sind, und dass dieser Fehler hauptsächlich auf
starke Verkürzung der Unterschenkel zu setzen ist, ein Fehler, der
in den arbeitenden Klassen sehr häufig gefunden wird.
Das scheinbare Ebenmass der Figur wird jedoch gerettet durch
einen zweiten Fehler, nämlich durch eine starke Verkleinerung des
Hauptes, die als eine Eigenthümlichkeit bevorzugter Geschlechter gilt.
Es werden also gewissermassen die plebejischen Beine durch
einen aristokratischen Kopf verdeckt, und dadurch entsteht eine
Gestalt, die vielleicht einmal vorkommen kann, jedenfalls aber kein
Ideal ist.
Noch stärker sind die Fehler in der Thomson'schen Normal-
figur (Fig. 12) ausgedrückt.
Fehlerhafte Canons.
45
Hiei' sind die Unterschenkel noch, kürzer, das Haupt erscheint
noch unproportionirter, weil das Gesicht im Yerhältniss fzum Schädel
grösser gehalten ist als bei Hay.
Fig. 11. Weibliclie Normalflgur nach Hay. Fig. 12. Weibliclie Normalflgvir nach Thomson.
Weitere Beispiele finden sich in den obenerwähnten Werken
von Fritsch.
Wir haben somit eine ziemlich genaue wissenschaftliche Me-
thode zur Bestimmung der richtigen Verhältnisse des Körpers im
46 Einflüsse der Entwickelung.
allgemeinen; dass dies auch im besonderen der Fall ist, werden
wir weiter unten bei Besprechung der einzelnen Körpertheile sehen.
Die einzige Schwierigkeit bei der Anwendung dieser Methode
besteht in der Zugänglichkeit der Messpunkte, die zum Theil, nament-
lich bei wohlgenährten Gestalten, durch Muskeln und Fett bedeckt
sind. Doch auch diesem Uebelstande kann jetzt, wenn es nöthig ist,
durch geeignete Anwendung der Röntgenstrahlen abgeholfen werden.
Wenn wir nun auch einerseits nach den Gesetzen der Pro-
portionslehre im Stande sind , eine ganze Reihe von Körpern als
weniger schön oder hässlich auszuschalten, so ist andererseits doch
wieder der Fall denkbar, dass ein völlig richtig proportionirter
Körper doch hässlich ist ; man braucht nur zu bedenken, dass trotz
abschreckendster Magerkeit, trotz der unästhetischsten Fettleibigkeit
ein Körper in seinen Längenmassen doch richtig gebaut sein kann.
Richtiges Verhältniss ist eben nur eines von verschiedenen die Körper-
schönheit bedingenden Momenten, deren übrige im folgenden be-
sprochen werden sollen.
Y.
Einfluss der Entwickelung, Ernährung und
Lebensweise auf den Körper.
Schon vor der Geburt können sich Einflüsse geltend machen,
die den normalen Verlauf der Entwickelung stören. Wer sich in
die Geheimnisse der Entwickelungsgeschichte vertieft, staunt stets
von neuem über die wunderbare Kraft der Natur, die aus mikro-
skopischen Anlagen ihr schönstes Gebilde, den Menschen, zu zeitigen
versteht und nur in seltenen Ausnahmefällen ihre Aufgabe nicht
glänzend zu Ende führt.
In allgemein verständlicher Form hat Häckel die Entwickelungs-
geschichte des Menschen ^) beschrieben.
Anthropogenie, 1. Auflage, Leipzig 1874, Engelmann.
Entwickelung des Gesichts.
47
Wie im Laufe der Jalirtausende aus dem Ursclileim die Würmer,
aus den Würmern die Amphibien, aus diesen nacli unendlichen Zeiten
die Menschengeschlechter sich entwickelt haben, so macht jedes
menschliche Individuum in Zeit von wenigen Monaten den grossen
Entwickelungsgang von der Zelle zum Wurm, und von diesem bis
zum ausgebildeten Menschenkinde durch.
Die kleinste Störung in diesem Entwickelungsgang kann die
harmonische r Ausbildung des Körpers vereiteln.
Betrachten wir zum Beispiel die Entwickelung des mensch-
lichen Gesichtes.
In der sechsten Woche seines Daseins bildet der Kopf des
Embryo eine gleichmässig weiche Masse (Fig. 13). Von der Stirne
wachsen ein breiterer mittlerer und zwei
seitliche Nasenfortsätze (um, nln), die
Riechgruben zwischen sich fassend, nach
unten. Ausserhalb derselben liegen bei-
derseits die Augenanlagen. Unter den-
selben ziehen nach innen und unten die
zwei Oberkieferfortsätze (ms, ms). Diese
fünf Fortsätze bilden zusammen die obere
Begrenzung der Mundhöhle , die von
unten von den bereits vereinigten Unter-
kieferbogen (mi) begrenzt wird. In der
Tiefe liegt die Anlage der Zunge (g).
Im weiteren Verlaufe der Ent-
wickelung verwachsen die fünf oberen
Fortsätze mehr und mehr, bis schliess-
lich die beiden Oberkieferfortsätze mit
einem Theil des mittleren Nasenfort-
satzes zusammen die Oberlippe bilden.
Wo diese Vereinigung nicht in voll-
ständiger Weise zu Stande kommt, bleibt ein grösserer oder ge-
ringerer Grad von „Hasenscharte" bestehen.
Bei gleichmässig guter Entwickelung aller Theile muss nicht
nur die Oberlippe völlig vereinigt sein, sondern es muss sich auch
das Grübchen zwischen Nase und Mund deutlich und scharf ab-
Fig. 13. Kopf eines menschliclien
Embryo aus der sechsten Woche.
(Schematisch nach Gegenbauer
und Häckel.)
nm mittlerer, nl seitliche Nasen-
fortsätze, tns Oberkieferfortsätze,
g Zunge, 0 0 Augen, mi Unter-
kieferfortsätze.
48
Entwickelung des Gesichts.
grenzen, und das Lippenrotli mnss in der Mitte mit leicht nacli
unten convexem Bogen zusammenfliessen. Diesen Anforderungen
genügt in ToUem Masse der scliöne Mund einer in Fig. 14 abge-
bildeten jungen Pariserin.
(■^^
, ß-^
Fig. li. Kopf einer jungen Pariserin mit feingeschnittenem Mund
(nach einer Photographie von Eeutlinger, Paris).
Zwiscben diesen beiden Extremen giebt es zablreicbe Ueber-
ofänge. Es ist bekannt, dass bei den Engländern bäuficf zu kurze Ober-
lippen gefunden werden, und bei den Negern Aviederum häufig Ober-
lippen, die den normalen Grad der Entwickelung in ihren seitlichen
Parthien überschreiten. Diese letztere Eigenthümlichkeit ist meist
eine Folge von starker Entwickelung des Oberkiefers überhaupt und
findet sich deshalb zusammen mit stark vorstehenden Backenknochen.
Entwickelungsstörungen. 49
Inwieweit die Erbliclikeit auf die Gesichtszüge einwirken kann,
ist oben bereits besprochen.
Ebenso wie am Gresicht lassen sich auch au anderen Körper-
theilen häufig Abweichungen von der Xorm auf embryonale Ent-
wickelungsstörungen zurückführen, ja man nimmt selbst an, dass
ein grosser Theil später auftretender Krankheiten, wie z. B. die
meisten Geschwülste , als Keime schon mit auf die Welt gebracht
wurden (Cohnheim'sche Krebstheorie).
Wenn wir einen strengen Massstab anlegen, so müssen wir
fordern, dass die Entwickelung des Körpers eine völlig syrQmetrische
ist, d. h. dass die eine Körperhälfte genau das Spiegelbild der anderen
ist. Dieser Anforderung dürfte jedoch kaum ein lebendes Wesen
genügen : wir müssen deshalb . um der Xatur gerecht zu werden,
eine leichte Asymmetrie als individuelle Abweichung, eine stärkere
jedoch als Fehler auffassen.
Geringere Entwickelungsfehler können im Beginn selbst der
schärfsten Prüfung entgehen und sich erst am heranwachsenden
Körper durch grössere Deutlichkeit bemerkbar machen.
So erkennt man in den ungewissen Zügen des kindlichen Ge-
sichts kaum Sjjuren der Adlernase des Vaters , die doch im Keim
bereits besteht. Bei einer mir bekannten Familie, die von der Natur
ausschliesslich mit linken Beinen begabt zu sein schien, zeig-te sich
diese Famüieneigenthümlichkeit bei den Kindern erst später in Gang
und Haltung.
Wenn wir die weitere Entwickelung vom Kind zum Weibe
betrachten, so treten hier die Einflüsse der Ernähi'ung und Lebens-
weise so sehr in den Vordergrund, dass ein scharfes Auseinander-
halten dieser verschiedenen Eiaflüsse im einzelnen Falle kaum
möglich ist.
In manchen Fällen sind sogar die Ansichten darüber getheilt,
ob man gewisse Abnormitäten als Entwickelungsfehler oder als
Folgen von Krankheiten aufzufassen hat.
So hat Mikulicz auf Grund eingehender Untersuchungen an-
genommen, dass alle Formen der sogenannten X- oder Bäckerbeine,
die durch Einwärtskrümmung der Beine im Kniegelenk gekennzeichnet
sind (Fig. 15), auf englischer Krankheit beruhen.
st ratz, Die Scliönheit des weibliclien Körpers. 4
50
Einfluss der Entwickelung und Lebensweise.
Hoffa und andere nehmen wieder an, dass eine derartige Ver-
biegung im Kniegelenk sehr wohl auch ohne Rhachitis durch ver-
hältnissmässig zu schwere Belastung der weichen Knochen beim
Stehen hervorgerufen werden könne. Im ersten Falle also krank-
hafter Einfluss, im zweiten
unrichtige Lebensweise in den
Entwickelungsjahren (Bäcker-
bein).
Ebenso leitet Rupprecht
alle Skoliosen (Verkrümmun-
gen der Wirbelsäule) voö Rha-
chitis ab, während Hoffa auch
hierbei rein statische Einflüsse
(z.B. Schreibhaltung der Schul-
kinder) gelten lässt, allerdings
bei „abnormer Weichheit" der
Knochen.
Bei Erwähnung der Rha-
chitis hebt Vierordt hervor,
dass Mangel an Luft und
Licht und schlechte Ernäh-
rung von schwerwiegender
Bedeutung sind, also wieder-
um der Einfluss der Er-
nährung auf den Krankheits-
zustand.
Wie dem auch sei, wir
können für unsere Zwecke aus
allen diesen entgegengesetzten
Ansichten die gemeinschaft-
liche Schlussfolgerung ziehen,
dass ausser Krankheiten auch die Ernährung und Lebensweise auf
die Entwickelung des Körpers einen nachhaltigen Einfluss ausüben
können.
Bei normaler Entwickelung ist der Körper in den ersten Lebens-
jahren gefüllt , etwa im sechsten beginnt er allmählig länger und
Fig. 15. Kleines Mädchen mit X-ßeinen
(Genii valgum) nach Hoffa.
Einfluss der Ernährung. 51
scUanker zu werden und melir und mehr die secundären Gresclileclits-
cliaraktere anzunehmen, die bei Mädchen sich im allgemeinen früher
einstellen als bei Knaben. Erst nach erfolgter Geschlechtsreife erlangt
der Körper seine volle Ausbildung.
In der Entwickelungsperiode haben bei den noch zarten Or-
ganen alle schädlichen Einflüsse selbstverständlich eine viel nach-
haltigere Wirkung als später.
Kräftige, eiweissreiche Kost ist für den wachsenden Körper ein
Bedürfuiss. Fleisch , Eier und Milch sind die besten und werth-
vollsten Nahrungsmittel; in den ärmeren Klassen werden dieselben
grösstentheils durch minderwerthige, wie Kartoffel, Brod und Hülsen-
früchte ersetzt. Von diesen sind viel grössere Massen nöthig, um
denselben Nährwerth zu erreichen. Selbst bei genügender Nahrung
wird deshalb bei der Bewältigung dieser minderwerthigen Kost eine
grössere Arbeit vom Körper gefordert; meist aber ist ausserdem
nicht nur die Qualität, sondern auch die Quantität der Nahrung zu
gering, um allen Anforderungen zu genügen.
Wir sehen, dass bei vorwiegender Fleisch- und Milchkost unter
sonst gleichen Verhältnissen alle Gewebe des Körpers , vorall aber
die Muskeln, kräftiger und straffer werden, der Fettansatz kein über-
mässiger und die Haut elastisch ist. Bei reichlicher Fütterung mit
Kartoffeln und Brod bleiben die Muskeln schwächer, der Fettansatz
wird viel reichlicher, der Unterleib ist aufgetrieben, die Haut schlaff.
Die Masse kann in letzterem Fall grösser sein als in ersterem,
der Gehalt und die Dauerhaftigkeit des Körpers ist im ersteren
weitaus besser.
lieber den richtigen Grad der Ernährung eines Körpers kann
man sich am besten überzeugen durch das Gewicht.
Nach Vierordt bestimmt man dasselbe nach folgender Formel.
T B
^ . - = K, das heisst: L = Körperlänge in Centimetern vervielfältigt
mit B = Brustweite, über den Brustwarzen gemessen, in Centimetern,
getheilt durch 240 giebt K = das Körpergewicht in Kilogrammen.
Da Vierordt seine Formel aus zahlreichen Einzelmessungen
gesunder Individuen berechnet hat, so haben wir damit einen ziem-
lich genauen Massstab gewonnen.
52 Einfluss der Ernährung.
Ist z. B. die Körperlänge = 168 cm, der Brustumfang = 88,
so muss das Gewicht — ^r-^-p: — =61,6kff sein.
240 ^
Bei feMerhafter Ernährung kann der Fettansatz zu gering oder
zu reichlich sein. In beiden Fällen scheint es sich häufig auch um
eine angeborene Anlage zu Magerkeit oder Fülle zu handeln.
Ein nicht nur bei Buschmänninnen, sondern auch bei Euro-
päerinnen beobachteter Fehler, auf den Richer zuerst die Aufmerk-
samkeit gelenkt hat, ist eine abnorm starke Anhäufung von Fett in
der Beckengegend und dem oberen Drittel der Oberschenkel; Fig. 19
zeigt dies sehr deutlich.
Während bei normalen Gestalten das Unterhautfett die Gestalt
abrundet, ohne doch die darunterliegenden Formen der Muskeln,
Gelenke und Knochen völlig verschwinden zu lassen, lässt ein magerer
Körper dieselben zu stark vortreten und macht die Gestalt eckig.
Bei zu starker Fettanhäufung werden zunächst die tieferen Theile
des Körpers verdeckt, es bilden sich an den Beugestellen der Glied-
massen, unter den Brüsten und am Kinn Wülste und Furchen, die
feine Gliederung der Gestalt verschwindet. An Stellen, an denen
die Spannung der Lederhaut zu stark ward, entstehen weisse, zackige
Narben, ähnlich den sogenannten Schwangerschaftsnarben.
Wenn ein solcher gefüllter Körper wieder abmagert, kann die
Haut nur bis zu einer gewissen Grenze ihre ursprüngliche Elasticität
wiedererlangen; wo diese im Stiche lässt, hängt sie schlaff auf ihrer
Unterlage und bildet Falten und Runzeln.
An diesen Zeichen , sowie an den Narben , die sich haupt-
sächlich am Bauch, auf den Oberschenkeln und am Gesäss finden,
kann man einen abgemagerten Körper von einem mageren unter-
scheiden.
Unter den mageren Frauen sind viele, die erst ihre volle Blüthe
erreichen zu einer Zeit, wo andere sie bereits durch zu starke Fülle
wieder verlieren.
Die Lebensweise kann, trotz guter Ernährung, einen nach-
theiligen Einfluss auf die harmonische Entwickelung des Körpers
ausüben.
Wo der Beruf dies verlangt, wird eine besondere Muskelgruppe
Einfluss der Lebensweise, 53
häufiger und uaclilialtiger gebraucht, als die anderen. In Folge
davon entwickeln sich diese Muskeln mehr, werden dicker und
springen mehr hervor als die anderen. Wie bei Schmieden die Arm-
und Schultermuskeln, mit den Muskeln der Beine verglichen, uuver-
hältnissmässig kräftig sind, so zeichnen sich wieder Ballettänzerinnen
durch sehr kräftige Formen der Beine aus, bei zu schwacher Ent-
wickelung der Arme und Schultern.
Im allgemeinen Averden bei Frauen der besseren Stände alle
Muskeln nicht genügend geübt, namentlich aber diejenigen der Arme
und Schultern.
In den ärmeren Klassen wird hinwiederum frühzeitige und
anstrengende Arbeit von den Beinen gefordert, so dass diese zwar
unter sonst normalen Umständen kräftig und gedrungen, aber im
Längen wachsthum der Knochen behindert und dadurch im Verhältniss
zum übrigen Körper zu kurz werden. Kommt nun noch schlechte
Ernährung undRhachitis hinzu, so werden sie ausserdem noch krumm
und plump in den Gelenken.
Durch häufig wiederholte ungleichmässige Belastung der Wirbel-
säule kann eine bleibende Verkrümmung derselben entstehen, wie
sie bei zahlreichen Schulkindern durch die Haltung beim Schreiben
auch thatsächlich häufig sich findet.
Beinahe allgemein findet sich eine stärkere Entwickelung der
rechten Brust und Schulter im Verhältniss zur linken. Diese Er-
scheinung hängt mit der Rechtshändigkeit des Menschen zusammen
und kann deshalb kaum als Fehler angesehen werden, es sei denn,
dass der Unterschied besonders auffallend ist.
Bei vielen Frauen werden einzelne Körpertheile durch häufig
sich folgende Geburten dauernd entstellt, bei anderen wieder üben
dieselben kaum einen Einfluss aus.
Wir kommen darauf später noch zurück.
Die angeführten Beispiele durch weitere zu vermehren, erscheint
mir an dieser Stelle überflüssig.
Wir haben demnach als weitere Momente zur Beurtheilung
des normalen weiblichen Körpers zu beachten die symmetrische Ent-
wickelung beider Körperhälften, entsprechend den Gesetzen der Ent-
wickelungsgeschichte , die gleichmässige Ernährung , die sich durch
54 Einfluss von Geschlecht, Lebensalter und Erblichkeit.
Vergleichung des Gewiclits mit der Körperlänge und dem Brust-
umfang nachweisen lässt , und die Ausschaltung der durch die
Lebensweise bedingten Verunstaltung vom ganzen Körper oder von
Theilen desselben.
VI.
Einfluss von Geschlecht, Lebensalter und
Erblichkeit.
Mit sehr viel Scharfsinn, aber mit noch mehr Einseitigkeit
haben verschiedene Anthroijologen (Albrecht, Delannay) und Philo-
sophen (Lotze, Schopenhauer u. A.) nachzuweisen versucht, dass
das Weib tiefer als der Mann und dem Affen näher stehe, oder be-
trachten das Weib 'als ein niederes, dem Kinde näher stehendes
Entwickelungsstadium.
Hauptsächlich Charcot, Richer und deren Schüler haben auf
Grund sorgfältiger Naturbeobachtungen einige Klarheit in die Frage
gebracht. Eine sehr sorgfältige Zusammenstellung aller Geschlechts-
unterschiede finden sich in dem Buche von Ellis: „Mann und Weib".
Ohne mich hier auf nochmalige Kritik entgegengesetzter An-
sichten einzulassen, stelle ich mich auf den von der Charcot'schen
Schule vertretenen Standpunkt.
Danach stehen Mann und Weib in ihrer Vollendung als zwei
in sich abgeschlossene Typen neben einander^), deren jeder sich
gleichweit, doch in anderer Richtung, von dem ursprünglichen, kind-
lichen Typus entfernt hat.
Ebenso wie bei einzelnen männlichen Individuen sich An-
näherungen an den kindlichen sowohl als an den weiblichen Typus
finden lassen, ebenso finden sich andererseits bei einzelnen Weibern
Annäherungen an den kindlichen, sowie an den männlichen Typus.
^) Plato, Symposion : Die beiden Hälften, die sich suchen.
Primärer und secundärer Greschleclitscharakter. 55,
In diesem Sinne kann man von einem Einfluss des Geschlechts
auf die normalen weiblichen Körperformen sprechen.
Hunt er hat zuerst einen Unterschied zwischen primären und
secundären Geschlechtscharakteren gemacht.
Wir können als primäre Geschlechtscharaktere die Geschlechts-
theile als solche auffassen, als secundäre alle diejenigen Verände-
rungen des kindlichen Körpers , die ihm das weibliche resp. männ-
liche Gepräge verleihen.
In allen Fällen, in denen die primären Geschlechtscharaktere
nicht gut ausgebildet sind, bei den sogenannten Hermaphroditen,
bilden auch die secundären Geschlechtscharaktere Mischformen vom
männlichen und weiblichen Typus. Es giebt Fälle, wo selbst erfahrene
Aerzte ^) nur mit dem Mikroskop entscheiden konnten , ob es sich
um einen männlichen oder weiblichen Zwitter handelte.
Abgesehen von diesen Fällen von wirklicher oder scheinbarer
Zwitterbildung giebt es aber eine ganze Anzahl Weiber mit nor-
malem primärem Geschlechtscharakter, deren secundäre Geschlechts-
merkmale trotzdem Annäherung an den männlichen resp. kindlichen
Typus zeigen.
Es lässt sich auf Grund der bis jetzt bekannten Thatsachen
nicht ausmachen, ob nicht in solchen Fällen stets eine mangelhafte
Entwickelung der Geschlechtstheile mit im Spiele ist.
Die wichtigsten secundären Geschlechtscharaktere des Weibes
sind : zarter Knochenbau, runde Formen, Brüste, breite Hüften, reiche
lange Kopfhaare und Fehlen der Körperhaare ausser in den Achsel-
höhlen und auf dem Schamberge.
Wenn wir danach die Normalgestalt des Weibes bestimmen
wollen, müssen wir alle diejenigen ausschalten, welche derben
Knochenbau , eckige Formen , keine Brüste, schmale Hüften , kurze
und spärliche Kopfhaare, Barte, Haare zwischen den Brüsten und
am Bauche besitzen.
Wenn auch der ausgeprägte Typus der virago , des Mann-
weibes, leicht zu erkennen ist, so erheischt die richtige Ausschaltung
^) Sänger, Pozzi, Neugebauer. Vgl. Centralblatt für Gynäkologie, 1898,
p. 389 ff. (Nr. 15).
56
Infantilismus.
der ans Männliche streifenden
Formen in vielen Fällen doch
eine sehr sorgfältige Unter-
suchung, ja sogar Bestätigung
durch Messinstrumente.
Auf die weiteren secun-
dären Geschlechtscharaktere
kommen wir weiter unten bei
Besprechung der einzelnen Kör-
pertheile zurück.
Schwieriger noch als die
Ausschaltung der ans Männ-
liche streifenden Formen ist die
Ausschaltung der sogenannten
infantilen Bildung des weib-
lichen Körpers, wenn dieselbe
nicht sehr deutlich ausge-
prägt ist.
Ein sehr schönes Beispiel
von weiblichem Infantilismus
hat Meige ^) beschrieben. Das
betreffende Mädchen ist 30 Jahre
alt und hat das Aeussere einer
etwa Zwölfjährigen. Sie litt
an Hysterie ; die Genitalien
waren normal, jedoch in ihrer
Entwickelung gleich dem Kör-
per zurückgeblieben.
Dieser Körper zeigt den
ausgeprägt kindlichen Bau ohne
irgend welchen secundären Ge-
Fig. 16. Infaiitüismus der Frau nach Meige. sclllcchtschar akter (Fig. 16).
Die Brüste fehlen, der Körper ist völlig unbehaart; weder Hüften
und Oberschenkel, noch Arme und Schultern zeigen den Fettansatz
^) Nouvelle Iconographie de la Salpetriere, 1895, p. 218.
Einfluss des Lebensalters.
57
des reifenden oder gereiften Wei-
bes; der Rumpf ist gleiclimässig
cylindriscli , in der Taille nicht
eingezogen, das Becken ist sclimal,
der Bauch wölbt sich vor und
geht ohne scharfe Abgrenzung in
den Schamberg über.
In Fig. 17 ist ein Münchener
Kind von 12 ^2 Jahren mit völlig
normalem Körper abgebildet; die
Uebereinstimmung in der Ent-
wickelung springt ohne weiteres
in die Augen.
Derartig ausgeprägte For-
men von Infantilismus finden sich
ebenso wie ausgeprägter Yirilis-
mus sehr selten. Für letzteres
spricht ja schon der Umstand,
dass Frauen mit Barten in Schau-
buden und auf Jahrmärkten als
Sehenswürdigkeiten gezeigt wer-
den. Leichtere Grade beider Phä-
nomene sind jedoch gar nicht so
ausserordentlich selten. Unter
100 daraufhin untersuchten Frauen
habe ich 4 mit mehr männlicher,
2 mit mehr kindlicher Gestaltung
gefunden.
Somit erklärt sich die schein-
bar absurde Behauptung, dass das
Geschlecht bei der Beurtheilung
des weiblichen Körpers von Einfluss sein könne, in der Weise: je
reiner die secundären Geschlechtscharaktere am weiblichen Körper
ausgeprägt sind, desto mehr kann derselbe darauf Anspruch machen,
als normal angesehen zu werden.
Es mag scheinbar ebenso paradox klingen, dass noch besonders
Fig. 17.
Mädclien von 12i;.2 Jalireii
aus Mttnclien.
58
Blüthezeit. Beaute du diable.
hervorgehoben whd, dass das Lebensalter einen Einfluss auf die
Körpergestaltung ausübt; denn jeder weiss, dass ein kleines Mädchen
und eine alte Frau anders aussehen als eine Frau in ihrer Blüthe.
Was ich hier hervorheben möchte, ist, dass eben diese Blüthe bei
der einen Person früher, bei der anderen später eintritt, dass darin
eine grosse individuelle Schwankung besteht.
Jede Frau erreicht im Laufe ihres Lebens eine höchste Blüthe,
die, bildlich dargestellt, den höchsten Punkt einer Curve bildet.
Jahre
5
10
15
20
25
30
35
40
45
50
55
X __
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~ - - ^_,
Schönheitskurve ■
"— Beaute du diable
Fig. 18.
welche im Kindesalter aufsteigend, im höheren Alter absteigend ge-
dacht ist.
Diese Schönheitscurve kann in einem Falle sehr rasch ansteigen,
um ebenso rasch wieder abzufallen, und wir haben dann vor uns
die sogenannte Beaute du diable, ein Begriff, der nur in der fran-
zösischen Sprache besteht.
In anderen Fällen wieder steigt die Curve sehr langsam an,
um ebenso langsam wieder zu sinken, der Höhepunkt dieser Curve
tritt später ein, erreicht aber eine absolut grössere Höhe als im
ersten Fall, die absteigende Curve sinkt viel langsamer (Fig. 18).
Das Lebensalter, in welchem die höchste Höhe erreicht wird,
ist sehr wechselnd. Namentlich bei südlichen Völkern wird dieselbe
oft schon im 14. bis 15. Jahre erreicht, bei germanischen Stämmen,
Einfluss der Erblichkeit. 59
bei Deutschen, Holländerinnen, Skandinavierinnen und Engländerinnen
meist mit dem 20. Lebensjahre oder noch später. Mir sind Fälle
bekannt, in denen erst im 30. und 33. Jahre die volle Blüthe er-
reicht wurde.
Eine geistreiche Künstlerin machte mir einst die folgende Be-
merkung: Der Endzweck der Frau ist, Mutter zu werden; die Frau
hat demnach ihre höchste Blüthe erreicht, wenn sie schwanger ist ; also
muss eine schöne Frau am schönsten sein, wenn sie schwanger ist.
Ich erwiderte ihr, dass dies wirklich der Fall ist, wenn näm-
lich der Zeitpunkt der höchsten Blüthe mit dem ersten Monat der
ersten Schwangerschaft zusammenfällt. Denn mit dem Eintreten der
Schwangerschaft wird, wie jedem Arzt bekannt ist, der Stoffwechsel
erhöht, alle Gewebe sind strotzend gefüllt, das Incarnat der Haut
ist zarter und lebhafter, die Brüste werden praller und härter. Da-
durch wird der Reiz der vollen Blüthe erhöht bis zu dem Augen-
blick , wo das Schwellen des Leibes im weiteren Verlauf der
Schwangerschaft die Harmonie der Formen beeinträchtigt.
Wie wenig eigentlich das Lebensalter einer Frau an ihrem
Aeusseren erkannt werden kann, dafür ist das oben abgebildete
30jährige Mädchen (Fig. 16) ein sprechender Beweis.
In demselben klassischen Werke, dem dieses Bild entnommen
ist, haben Souques und Charcot unter dem Namen von Greromorphisme
cutane die 21jährige Amandine beschrieben, die trotz ihres jugend-
lichen Alters mit ihrem gerunzelten Körper den Bindruck einer
60jährigen Greisin macht. Ich verzichte hier auf die Wiedergabe
der sprechenden, aber nicht gerade sympathischen Photographie und
verweise den wissbegierigen Leser auf das Original^).
Ausser derartigen Extremen giebt es jedoch eine grosse Reihe
schwieriger zu beurtheilender Fälle, die nicht so deutlich ausgeprägt
sind. Jedermann kann sich leicht davon überzeugen, wenn er gleich-
altrige Frauen aus seiner Umgebung mit einander vergleicht. Er
wird dabei zu der Ueberzeugung kommen, dass der Augenblick der
höchsten Blüthe bei den einzelnen Frauen sehr verschieden ist und
keineswegs an ein bestimmtes Alter gebunden.
^) Iconograpliie de la Salpetriere, 1891, p. 170.
QQ Rassenzüchtung.
In Avie weit Erziehung und Lebensweise auf die Entwickelung
und Erhaltung der Schönheit von Einfluss sein können, haben wir
schon besprochen.
Hier sei noch erwähnt, dass die Frauen der sogenannten bes-
seren Stände im allgemeinen später reifen und länger schön bleiben
als die der arbeitenden Klasse, bis auf wenige Ausnahmen.
Und damit kommen wir auf einen dritten Factor, der die
Normalgestalt beeinfiusst, nämlich die Erblichkeit, oder besser ge-
sagt, die Züchtung.
Ich möchte hier das Wort Züchtung mehr in dem Sinne ver-
standen wissen, wie man es — ■ ich bitte, mir zu verzeihen — von
Pferden und Hunden gebraucht, wenn man denselben „Rasse" zu-
erkennt.
Der Werth des Hundes oder des Pferdes wird nach dem Stamm-
baum bemessen, vorausgesetzt, dass sich damit die gewünschten
edlen lvörj)ereigenschaften verbinden.
Beim Menschen, namentlich beim männlichen, hat ja der Stamm-
baum auch einen gewissen Marktwerth, jedoch ohne Rücksicht auf
eventuelle gute oder schlechte Körpereigenschaften.
Die wirkliche Rasse im naturgeschichtlichen Sinne ist nicht
ausschliesslich diejenige, die im Grothaer Kalender steht, sondern es
sind alle die Geschlechter, die durch lange Grenerationen hindurch
unter besonders günstigen Lebensbedingungen geblüht und sich nur
mit ihresgleichen vermischt haben. Eine derartige, durch Jahr-
hunderte fortgesetzte Zuchtwahl muss günstige Resultate hervor-
bringen. Man findet sie ebenso beim Adel, wie beim unverfälschten
Bauernstande und in alten Bürgerfamilien.
Aus eigener Erfahrung kann ich bestätigen, dass namentlich
in dem sehr conservativen Holland derartige Beispiele vortreff'licher
Körperbildung in alten Familien bei Männern sowie bei Frauen
häufig anzutreffen sind.
Bekannt ist dagegen auch der Umstand, dass unter den Juden
trotz der Zähigkeit des Volkes in Folge der jahrhundertelangen
Unterdrückung sehr viel mehr körperlich abnormale Individuen an-
getroffen werden, als bei irgend einem anderen Volke der Welt.
Die Erfolge einer Rassenzüchtung werden um so besser sein,
Rassenzüchtung. Q1
je melir zwei eine neue Verbindung eingehende Individuen mit
körperlichen Vorzügen versehen sind. So kann die Verbindung
eines Edelmannes mit einem Bauernmädchen, eines Italieners mit
einer Oesterreicherin zu einer Veredelung der Rasse werden, voraus-
gesetzt, dass die Betheiligten völlig gesund und normal sind.
Die Erfahrung hat gelehrt, dass die Nachkommen zweier In-
dividuen von „Rasse" um so kräftiger sind, je weniger die Familien
selbst mit einander verwandt sind, dass hingegen bei zahlreichen
Heirathen innerhalb einer Familie das Greschlecht mehr und mehr
entartet, und zwar zunächst psychisch, dann aber auch körperlich.
Die Erklärung für diese Thatsache ist sehr einfach: Kein
Mensch ist vollkommen normal. Vereinigen sich zwei Menschen
verschiedener Familien, so ist mit grosser Wahrscheinlichkeit an-
zunehmen, dass einer der Betheiligten andere Fehler hat als der
andere. Die Kinder können nun, wie die Vorzüge, so auch die
Fehler ihrer Eltern erben, jedoch werden die Fehler des einen In-
dividuums durch die Vorzüge des anderen verdeckt werden. Ver-
einigen sich jedoch zwei Individuen derselben Familie, die neben
den gleichen Vorzügen die gleichen Fehler besitzen, so werden die
Kinder die Fehler sowie die Vorzüge der Eltern in erhöhtem Masse
zeigen. Je häufiger ähnliche Verbindungen in einer Familie vor-
kommen, desto stärker werden in den Nachkommen die Fehler
sowie die Vorzüge derselben ausgeprägt sein.
Wie die Menschen im allgemeinen geneigt sind, eher die Fehler
als die Vorzüge ihrer Nebenmenschen anzuerkennen, so wird im be-
sonderen unter Heredität oder Erblichkeit meist die Uebererbung
von Fehlern, nicht aber von Vorzügen verstanden , und wenn man
von einem erblich belasteten Menschen spricht, so versteht man
darunter meist das Erbtheil an Fehlern, das er seinen Vorfahren
zu danken hat.
Welchen Einfluss die Erblichkeit ausübt, ist zunächst deutlich
erkennbar an der sogenannten Familienähnlichkeit. Da jedoch
die meisten neugeborenen Kinder einander gleichen, so kann man
diese Familienähnlichkeit erst in der späteren Entwich elung erkennen,
und dabei ist es eigenthümlich, dass man sehr häufig in den heran-
wachsenden Kindern nicht die Züge der Eltern, sondern die der
ß2 Rassenzüchtung.
Grosseltern zurückfindet. Darum wird heiratlislustigen Jünglingen
gerathen, sich, bei der Wahl eines Mädchens nicht nur deren Mutter,
sondern auch beide Grossmütter erst gründlich anzusehen.
Noch merkwürdiger ist das Wie der auftauchen einer älteren
Form in einem späteren Geschlechte, wie etwa die Aehnlichkeit der
jüngsten Tochter mit der nur noch im Bilde bekannten Ahnfrau.
Die Erblichkeit in diesem weiteren Sinne, der Atavismus, hat
Paul Bourget zu seinem Romane Kosmopolis den Stoff geliefert. Er
zeigt darin, wie sich trotz des Bestrebens der sogenannten Welt,
keinem besonderen Volke anzugehören, doch stets wieder der Ur-
typus in den einzelnen Charakteren offenbart.
In dieser Weise aufgefasst, begreifen wir dann auch die natur-
wissenschaftlich begründete Unsterblichkeit der Seele wie des Körpers,
da in jedem Menschen die Eigenthümlichkeiten aller seiner Vorfahren
wieder aufleben, so wie die seinigen wieder in seinen Nachkommen
weiterleben werden.
Hier tritt nun aber der Kampf ums Dasein in seine Rechte
und lässt nur die jeweils besten Individuen durch lange Reihen von
Geschlechtern ihre Eigenschaften vererben, während die schlechter
beanlagten Individuen untergehen.
Wir müssten demnach im Menschengeschlecht eine stets schöner
und kräftiger blühende Sippe erzielen, wenn es im heutigen Kampfe
ums Dasein nicht mehr noch auf geistige, als auf körperliche Eigen-
schaften dabei ankäme.
Allgemeine Regeln, den günstigen oder ungünstigen Einfluss
der Erblichkeit auf die Körperbeschaffenheit zu bestimmen, lassen
sich nicht aufstellen. Im gegebenen Falle jedoch wird man wohl
häufig im Stande sein, denselben nachweisen zu können.1
Wenn wir also das Geschlecht, das Lebensalter und die Erb-
lichkeit zur Beurtheilung des weiblichen Körpers herbeiziehen, so
haben wir zu achten auf deutlich ausgeprägte secundäre Geschlechts-
charaktere, wir müssen für die betreffende Frau die höchste Blüthe-
zeit bestimmen und die eventuellen günstigen und ungünstigen Ein-
flüsse der früheren Geschlechter der Kritik unterwerfen.
Einfluss von Krankheiten. 63
YII.
Einfluss von Krankheiten auf die Körperform.
Viele Krankheiten können bestehen und heilen, ohne irgend
welche Veränderung der Körperform zu verursachen, andere ver-
ändern dieselbe in einer Weise, dass selbst dem Laien sofort die
Entstellung auffällt, in weiteren Fällen hinterlässt die überstandene
Krankheit Fehler, die nicht sofort ins Auge springen und oft selbst
von Sachverständigen nur mit Mühe gefunden werden können. Mit
der ersten Gruppe von Krankheiten, zu denen namentlich die acuten
Infectionskrankheiten, wie Typhus, Scharlach, Masern u. a. gehören,
haben wir hier nichts zu machen. Ebensowenig mit der zweiten
Gruppe; denn einen Höcker, eine eingefallene Nase, Triefaugen,
eine Trichterbrust oder ein zu kurzes Bein wird jeder mit Leichtig-
keit erkennen und den damit Behafteten ohne weiteres die normale
Körpergestaltung absprechen.
Die dritte Gruppe von Krankheiten jedoch, die leichte Abweichun-
gen von der Norm zurücklässt, verdient unsere besondere Beachtung.
Da die äussere Form des Köi-pers in erster Linie vom Skelet,
von den dasselbe umkleidenden Muskeln, der Haut und dem Fett-
polster abhängt, so sind es hauptsächlich Krankheiten dieser Theile,
die hervorzuheben sind, erst in zweiter Linie Krankheiten innerer
Organe, insoweit sie die äussere Form beeinflussen.
Unter allen diesen Krankheiten sind wiederum diejenigen die
wichtigsten, die den Körper in seiner Entwickelungszeit befallen,
weil sie dann auf die zarten, in der Bildung begriffenen Formen viel
nachhaltiger einwirken können als nach erlangter Reife.
Von Krankheiten, die vorwiegend das' Skelet beeinflussen, ist
die verbreitetste und bekannteste die sogenannte englische Krank-
heit, die Rhachitis. Sie tritt meist schon im 1. bis 4, Lebensjahr,
selten später auf. Ihr Hauptsymptom ist eine eigenthümliche Stö-
rung im Wachsthum der Knochen^), die wegen zu geringer Kalk-
^) Vgl. Vierordt, Rhachitis und Osteonialacie, 1896. Holder.
64 Rhachitis.
•
ablagerung weich bleiben und an den Gelenkenden sich, verdicken.
Die weichen Knochen folgen dem Muskelzug und dem Druck der
KörjDcrlast, es entstehen Verkrümmungen, die namentlich an den
Beinen sehr auffallend sein können, wenn die kranken Kinder zum
Gehen veranlasst werden. Tritt Heilung ein, dann erfolgt dabei
eine sehr kräftige Kalkablagerung, durch welche die Verkrümmungen
der Gliedmassen, sowie die Verdickungen der Gelenkenden als blei-
bende Verunstaltung erhalten werden.
Ueber die Häufigkeit des Vorkommens der Rhachitis sind die
Auffassungen sehr getheilt, weil, wie Vierordt hervorhebt, „die ein-
zelnen Beobachter den Begriff der Rhachitis sehr verschieden weit
fassen, und weil das Urtheil über Häufigkeit und Schwere der Rhachitis
auch sonst nicht nach einheitlichen Gesichtspunkten gewonnen ist".
Diese Auffassung von Vierordt kann ich aus eigener Erfah-
rung noch dahin erweitern, dass eine grosse Anzahl der leichteren
rhachitischen Fälle überhaupt nicht zur ärztlichen Beobachtung
kommen. Zur Zeit meiner poliklinischen Thätigkeit in Berlin achtete
ich auf diesen Umstand und fand unter der arbeitenden Klasse bei-
nahe in jeder Familie ein oder mehr rhachitische oder rhachitisch
gewesene Kinder, die niemals ärztlich behandelt worden waren.
Für unseren Zweck handelt es sich nicht um die Schwere der
Krankheit, sondern lediglich um die bleibenden Veränderungen, unter
denen die Verkrümmungen der unteren Extremitäten obenan stehen.
Darum glaube ich, dass wir den von Senator und Ritchie gefundenen
höchsten Procentsatz von 30 •'/o als Minimalzahl des wirklichen Ver-
hältnisses ansehen dürfen.
Am häufigsten findet sich die Krankheit in der arbeitenden
Klasse grösserer Städte , also gerade in derjenigen Bevölkerungs-
schicht, die den Künstlern die meisten Modelle liefert. Wir können
annehmen, dass unter hundert Mädchen aus dem Volke mindestens
dreissig sind, die sicher Rhachitis gehabt haben.
Welcher Gefahr ein Künstler sich aussetzt, der diesen Umstand
nicht beachtet, erhellt aus dem Beispiel von Klein. Dieser Maler
hat ein Urtheil des Paris ^) gemalt, in dem man an den dicken
') Publicirfc durch die Berliner photographische Gesellschaft.
Rhachitisclie Einflüsse. ß5
Hand- und Fussgelenken , aus der Verkrümmung der unteren Ex-
tremitäten mit Sicherheit nachweisen kann, dass alle drei Göttinnen
die englische Krankheit gehabt haben. Aphrodite erhält offenbar
den Preis, weil sie diese Symptome am deutlichsten aufweist. Auch
die bekannte Eva von Stuck hat in ihrer Jugend eine nicht unbe-
deutende Rhachitis durchgemacht.
Nach Vierordt sind Mangel an Luft und Sonnenlicht, schlechte
Hautpflege und schlechte Ernährung von schwerwiegender Bedeutung
für die Entwickelung der Rhachitis. Aus diesen Gründen findet man
sie auch seltener in besser situirten Kreisen.
Die wichtigsten Veränderungen, die die Rhachitis hinterlässt,
sind die folgenden:
Verdickung des Handgelenks , namentlich an der Seite des
kleinen Fingers (Ulnarköpfchen);
Verkrümmung des Unterarms und schiefe Stellung desselben
gegen den Oberarm;
Verkrümmung der Wirbelsäule und des Brustkorbes;
Veränderungen des Beckens, das weniger geräumig wird und
dadurch wieder einen grösseren oder geringeren Grad von Hänge-
bauch veranlassen kann ;
Verdickung der Knöchel und der Gelenkenden am Knie;
Verkrümmung der Unterschenkel und Oberschenkel, 0-Beine,
Säbelbeine, X-Beine, Plattfuss.
Die schwereren Einflüsse der Rhachitis, wie Knickungen der
Extremitäten, Veränderungen der Schädelknochen, sowie der rhachi-
tische Rosenkranz (die Auftreibung der Rippengelenke am Brust-
bein) seien hier nur beiläufig erwähnt.
Alle diese Abweichungen können in der weiteren Entwicke-
lung des Körpers zum Theil abgeschw*ächt werden und auch wohl
ganz verschwinden, meist aber bleibt die Verdickung der Gelenke
zeitlebens bestehen.
Zur Erläuterung der angeführten Thatsachen dienen die fol-
genden Beispiele.
Fig. 19 stellt ein Mädchen vor, bei der noch deutliche Be-
weise der früheren Rhachitis zu finden sind.
Am linken Arm sieht man die starke Vorwölbung des Ulnar-
stratz, Die Scliönlieit des weibliclien Körpers. 5
m
Rhachitische Einflüsse.
;yÄfe*(ö,
endes oberhalb der Klein-
fingerseite des Handge-
lenks , sowie eine geringe
Verkrümmung des Unter-
arms. Am linken Bein
bestellt eine charakte-
ristisclie Yerkrümmung
des Unterschenkels, die
namentlich oberhalb des
inneren Knöchels hervor-
tritt. Das Fussgelenk
selbst ist verdickt und
plump.
Bei einer jungen
Wienerin (Fig. 20) sehen
wir nur ganz geringe
Spuren der überstande-
nen Rhachitis ; am linken
Handgelenk wieder die
Hervorwölbung der Gre-
lenkenden des Unter-
arms, am rechten Fuss-
gelenk eine leichte Ver-
dickung der Knöchel.
Ueber Fehler ande-
rer Art dieser beiden
Figuren werden wir wei-
ter unten noch zu spre-
chen haben.
Neben der Rhachi-
tis sind alle anderen
Krankheiten , die das
Knochengerüst betreffen,
von untergeordneter Bedeutung, da sie meist so tiefgreifende Ver-
änderungen der betroffenen Gliedmassen hervorrufen, dass sie für
unsere Zwecke füglich ausser Betrachtung bleiben können. Dahin
Hl
10. .Mildokuu mit dcutliuliuii Zcieliuu
Üb erstandener Rhachitis.
Krankheiten der Muskeln.
67
geliört die Knoclienerweicliung
(Osteomalacie) , die Knochen-
markeiteriing (Osteomyelitis) und
andere melir.
Der zweite Factor, der
die äussere Form des Körpers
bestimmt, ist das Fleisch, die
Muskeln.
Abgesehen von einigen
schwereren Rückenmarkskrank-
heiten, in deren Verlauf ge-
ringere oder grössere Muskel-
complexe zum Schwund kom-
men, haben Erb, Landouzy,
Dejerine, Leyden u. a. gewisse
Krankheiten beschrieben , in
denen, meist bei jugendlichen
Individuen, ganz bestimmte und
stets dieselben Muskelgruppen
erkranken, erst sich verdicken
und dann schrumpfen. So tritt
in der einen von Erb be-
schriebenen Form die Erkran-
kung meist in bestimmten Mus-
kelgruppen der Schulter und
der Oberarme auf, in einer
anderen Grruppe von Fällen
sind es Muskeln des Rückens
und der Beine , die zuerst er-
kranken.
Charcot ^) hat alle diese
verschiedenen Formen unter
dem Namen der „Myopathie
primitive progressive" vereinigt.
Fig. 20. Mädchen mit Spuren über-
stanclener Rliachitis.
^) Charcot, Revision nosographique des atrophies musculaires jorogr. niedic.
7. 3. 1885.
68
Myopathie.
Erb-^) hat sich, ihm später
angeschlossen und die ver-
schiedenen Krankheitsbilder
unter dem Namen „Dys-
trophia muscularis progres-
siva" (etv^a = fortschreiten-
der Muskelschwund) zusam-
mengefasst.
Abgesehen von der Func-
tionsstörung übt diese Krank-
heit je nach ihrer Localisation
einen starken Einfluss auf die
Form und die Haltung des
Körpers aus.
Bei der einen Form z. B.
erkranken am Rumpf und den
Schultern hauptsächlich die
von vorn und hinten zur
Schulter tretenden Muskeln
(Pectorales, Cucullaris, Serra-
tus anticus major, Rhom-
boideus , Sacrolumbalis und
Latissimus dorsi) , während
die von oben hinzutretenden
Muskeln (Deltoideus, Supra-
spinatus , Infraspinatus etc.)
normal bleiben. Die Folge
davon ist Vornübersinken des
Kopfes und Halses, Abstehen
der Schulterblätter und Ab-
fiachung der oberen Brust-
gegend. An den unteren Ex-
tremitäten sind es vorwiegend
die grossen Gesässmuskeln (Grlutaei) und die vorderen Streckmuskeln
Fig. 21.
Myopathie primitive progressive
nach Loiide und Meige.
^) Erb, Dystrophia muscularis progressiva. Leipzig 1891.
Hautkr ankh eiten ,
69
des Oberschenkels (Quadri-
ceps) , die zuerst von der
Krankheit befallen werden.
Hiervon ist die Folge eine
starke vordere Abflachung
des Oberschenkels und ein
schärferes Hervortreten der
Falte zwischen Hinterbacken
und Oberschenkel.
Beide oben beschriebene
Zustände sind in ihrem ersten
Stadium bereits deutlich er-
kennbar in Fig. 21, die der
Monographie von Londe und
Meige^) entnommen ist.
Man vergleiche damit
Fig. 22, eine etwa 26jährige
Berlinerin mit besonders gut
entwickelter Muskulatur, die
mit dem kräftigen Rücken,
der guten Wölbung von Brust
und Oberschenkel und dem
stumpfen Winkel zwischen
Hinterbacken und hinterer
Oberschenkelcontour einen
schlagenden Gregensatz zu der
ungefähr gleichaltrigen Pau-
line C. L. (Fig. 21) bildet.
Krankheiten der Haut
haben kaum einigen Einfluss
auf die allgemeine Körper-
form, wohl aber können die
zurückbleibenden Narben die Glätte und Farbe der Körperoberfläche
beeinträchtigen. Man denke nur an die entstellende Wirkuno- der
■'■■ •ffl^if^tf^'^
Fig. 22. Mädclien von 26 Jahren mit kräftig
entwickelter Muslvulatur (Berlinerin).
^) Iconograpliie de la Salpetriere, tome VII, planclie XIX, 1894, p. 442 ff.
70 Schwindsucht.
Pockennarben , die man gegenwärtig glückliclierweise viel seltener
zu sehen bekommt als vor einigen Jahrzehnten.
Muttermäler können ebenfalls sehr hässlich sein, und vom
ärztlichen Standpunkte muss man auch die kleinen schwarzen Maler
als eine Abnormität ausschalten, die den Namen der Schönheits-
mäler oder grains de beaute führen.
Krankheiten, die ausschliesslich das unter der Haut liegende
Fettgewebe ergreifen, giebt es kaum. Die abnorm starke oder ab-
norm schwache Ausbildung von Fett ist meist eine Folge von un-
zweckmässiger Ernährung und Lebensweise. Allgemeine Fettsucht
ergreift den ganzen Körper und entstellt ihn in einer Weise, die
an und für sich die Annäherung an die Normalform ausschliesst.
Abgesehen von den erwähnten Krankheiten , die direct auf
Knochen, Muskeln und Haut ihren Einfluss ausüben, giebt es aber
noch eine ganze Reihe von inneren Krankheiten, die diese Theile
gemeinschaftlich und damit auch die allgemeine Körperform be-
einflussen.
Sie alle aufzählen, hiesse ein Lehrbuch der physikalischen
Diagnostik schreiben. Wer Vollständigkeit wünscht, den verweise
ich auf das bekannte Lehrbuch von Vierordt^).
Die häufigste und wichtigste dieser Krankheiten ist die Schwind-
sucht, an der nach Strümpell ein Siebtel aller Menschen = 15 %
sterben.
Den sogenannten „phthisischen Habitus", d. h. diejenige
Körpergestaltung, die auf Anlage zur Schwindsucht schliessen lässt,
beschreibt Strümpell-) folgendem! assen.
„Die Merkmale des , phthisischen Habitus' sind: schmächtiger,
dabei oft ziemlich hoch aufgeschossener Körperbau, schv/ächliche
Muskulatur, geringes Fettpolster, blasse, oft sehr zarte, bläulich
durchschimmernde Haut, welche an den Wangen zuweilen eine um-
schriebene Röthung zeigt, langer schiiiächtiger Hals, schmaler langer
Brustkasten, schmale magere Hände u. s. w.
Der Brustkasten zeichnet sich im allgemeinen durch seine
^) Vierordt, Diagnostik der inneren Krankheiten. Leipzig, Vogel.
^) Strümpell, Specielle Pathologie und Therapie der inneren Krankheiten,
1894, I, p. 363.
Schwindsucht.
71
Länge aus, ist aber dabei
schmal und flach. Mit der
Länge des Brustkorbes hängt
es zusammen, dass die ein-
zehien Zwischenrippenräume
breit sind, der "Winkel in
der Herzgrube ein spitzer
ist. Das Brustbein ist eben-
falls lang und schmal, der
Winkel zwischen Griff und
Körper zuweilen besonders
hervortretend; die oberen
und unteren Schlüsselbein-
gruben, ebenso wie die Dros-
selgrube eingesunken , die
Schulterblätter von der Brust-
korbwand abstehend. "
Fig. 23 stellt ein junges
Mädchen mit beginnender
Schwindsucht vor, welches
die genannten Erscheinun-
gen ziemlich deutlich zeigt.
Ich verdanke dasselbe der
Freundlichkeit von Dr. Roes-
singh, Director des städti-
schen Krankenhauses im
Haag.
Noch deutlicher sind
die äusserlichen Zeichen der
Schwindsucht in der oben-
erwähnten Aphrodite von
Botticelli ausgedrückt. Der-
selbe Typus findet sich an
der nackten Figur des Frühlings in der Primavera desselben Meisters.
Während in der letzteren die dem baldigen Untergang geweihte
Blüthe durch die körperlichen Reize einer Schwindsüchtigen vor-
Fis. 2ä.
20jäliriges Miidclieii mit plitliisiscliem
Habitus (Holländerin).
72 Skrofulöse. Andere innere Krankheiten.
trefflicli zum Ausdruck kommt, scheint mir bei einer Venus dieser
Typus weniger glücklich gewählt zu sein.
Mit der Schwindsucht nahe verwandt und wahrscheinlich wie
diese durch Vergiftung des Körpers durch Tuberkelbacillen ver-
ursacht, ist die Skrofulöse. Der Name stammt von Scrofa,
Schwein, und erklärt sich daraus, dass das Gesicht durch Schwellung
der Halsdrüsen, der Nase und der OberlijDpe einen an das Schwein
erinnernden Ausdruck bekommt.
Man unterscheidet zwei Formen: Die eine, die sogenannte
torpide Skrofulöse, ist charakterisirt durch gedunsenes Gesicht, dicke
Nase und dicke , vorstehende Lippen , mit oft rüsselförmiger Ver-
längerung der Oberlippe , Schwellung und Verdickung . der Hals-
drüsen, schmutzigbleiche Hautfarbe, spärliche Muskulatur, bei ver-
hältnissmässig starker Entwickelung des Unterhautfettgewebes,
wodurch die Gestalt ein etwas schwammiges Gepräge erhält, dicker
Bauch, dünne Extremitäten und oft entzündete Augenlider.
Die zweite Form, die erethische Skrofulöse, ist charakterisirt
durch massige Röthe der Haut und magere Körperformen mit starker
Neigung zur Eiterung in den geschwollenen Drüsen; der Allgemein-
zustand erinnert an den phthisischen Habitus.
Bei dieser Form der Skrofulöse wie bei den Schwindsüchtigen
finden sich meist auffallend tiefe, glänzende Augen mit langen, meist
dunklen Wimpern, die viel dazu beitragen, die wehmüthige Schön-
heit des kranken Körpers zu erhöhen.
Die Skrofulöse tritt meist im späteren Kindesalter auf; von
allen Erscheinungen erhält sich neben der Schwellung der Hals-
drüsen am längsten die Verdickung der Oberlippe.
Eine liebenswürdige Künstlerin zeigte mir vor einiger Zeit eine
jugendliche Psyche, die sie getreu nach dem lebenden Modell aus-
geführt hatte. Aus der Verdickung der Oberlippe meinte ich
schliessen zu können, dass das Modell skrofulös sei, und die Künst-
lerin bestätigte mir, dass in der That das Mädchen oft erkältet ge-
wesen sei, und an Drüsenschwellungen am Halse und entzündeten
Augen gelitten habe. Ex ungue leonem.
Eine weitere, den Aerzten wohlbekannte Körperbeschaffenheit
ist der sogenannte Habitus apople oticus und emphysematosus.
Kleidung. 73
das Aussehen der zu Sclilagfluss und Asthma neigenden Individuen:
kurzer Hals, gedrungener Körper, gedunsenes und geröthetes Gre-
sicht, f'assförmiger Brustkorb.
Dieses Aeussere findet sich jedoch meist in vorgerücktem Alter,
und dann auch bei Männern häufiger als bei Frauen, so dass es
uns hier nicht weiter interessiren kann.
Yon allen den genannten Krankheiten sind die Rhachitis und
die Schwindsucht die wichtigsten. Wie oben gesagt, leiden an eng-
lischer Krankheit, die leichten, ärztlich nicht behandelten Fälle aus-
geschlossen, mindestens 30 ''/o aller lebenden Menschen und sterben
an Schwindsucht 15 "/o. Zusammen also 45*^/0, die an englischer
Krankheit und an Schwindsucht leiden, also beinahe die Hälfte aller
jetzt lebenden Menschen. Nun können allerdings häufig bei ein
und demselben Individuum beide Krankheiten zugleich auftreten,
wodurch der Procentsatz der Gesunden ein wesentlich besserer würde.
Dem steht aber gegenüber, dass einerseits die leichteren Fälle von
Rhachitis, andererseits die geheilten Fälle von Schwindsucht in dieser
Berechnung nicht berücksichtigt sind, beides Umstände, die das
Verhältniss wieder wesentlich ungünstiger gestalten.
Für unsere Zwecke genügt es, festzustellen, dass wir bei der
Bestimmung der Normalgestalt mit grosser Sorgfalt auf die Zeichen
zu achten haben, die gerade diese beiden Krankheiten hervor-
rufen, und dass wir den damit behafteten Frauen die anatomisch
schöne, i. e. normale Gestalt absprechen müssen.
Jedoch dürfen wir dabei nicht vergessen, dass eine ganze
Reihe von Fällen besteht, in der beide Krankheiten ausgeheilt sind,
ohne irgend welche Spuren zu hinterlassen.
YIII.
Einfluss der Kleider auf die Körperform.
Wahrheit und Dichtung am bekleideten Weibe von einander
zu trennen ist schwer, oft unmöglich. Die Mode ist viel weniger
dazu erschaffen, Schönheiten hervorzuheben, als vielmehr Schön-
74 Corset.
heiten zu lieuchelii und Fehler zu verdecken, und darum wird alles
Eifern gegen die sogenannten Modetliorheiten immer und ewig nutz-
los bleiben.
Schöne Körper werden unter jeglicher Bekleidung schön er-
scheinen, am schönsten natürlich, wenn sie unverhüllt sind ; für diese
sind keine Modekünste nöthig. Da die Besitzerinnen derselben je-
doch in der Minderzahl sind, so sehen sie sich gezwungen, der
Uebermacht ihrer weitaus zahlreicheren Schwestern zu weichen, die
bestrebt sind, sich vortheilhafter zu zeigen, als die Natur es ihnen
gestattet hat. Zur Erreichung dieses Zweckes werden wieder die-
jenigen Mittel die beliebtesten und verbreitetsten sein, die einer
möglichst grossen Anzahl von Frauen zu statten kommen können.
Hat einmal die Mode eine derartige Bestrebung geheiligt, dann
ist wieder jede einzelne Frau bestrebt, ihre Schwestern zu über-
bieten, und so entstehen Uebertreibungen, die sich mehr und mehr
vom Normalen entfernen, die Grenzen des Schönen überschreiten,
nun aber auch durch ihre Unzweckmässigkeit eine bleibende Schä-
digung des normalen Körpers veranlassen können.
Unter allen Vorzügen des weiblichen Körpers gilt als einer
der wichtigsten die schlanke Mitte, und um diese hervorzuzaubern,
bediente man sich des Schnürleibs in allen möglichen Formen ^).
Vom Hippokrates bis Sömmering haben viele und gelehrte
Herren gegen das Corset geeifert, und viele werden es nach ihnen
auch thun, aber alle ohne Erfolg. Die Corsetbedürftigen unter den
Frauen haben dasselbe stets beibehalten und werden es behalten,
so lange die Erde besteht.
Ich bin kein Gegner des Corsets, wohl aber ein Gegner des
Missbrauchs, der damit getrieben wird. Schlecht gebauten Frauen
das Corset abzurathen, ist hoffnungslos. Ich habe mich, und zwar
mit Erfolg, damit begnügt, die gutgebauten Frauen vor den schäd-
lichen Folgen desselben zu bewahren, wenn es noch Zeit war.
Um den moralischen Werth des Corsets zu begreifen, müssen
wir uns zunächst deutlich machen, was eine Taille ist, und was
man darunter zu verstehen gfewohnt ist.
') Vgl. Witkowsky, Les seins et Fallaitement, Maloine 1898. — Chap. IV,
l'histoire du corset.
Taille.
75
Die natürliche Form
der Taille zeigt ein java-
nisches Mädchen (Fig. 24)
von gutem Bau, das nie
in seinem Leben ein Cor-
set getragen hat.
Trotz guter Fülle
des Körpers kommt die
schlanke Taille gut zum
Ausdruck.
Dieser Ausdruck be-
ruht nicht auf dem abso-
luten Umfang der schma-
len Mitte, sondern auf dem
Gegensatz der schmäle-
ren Mitte zu den breiteren
Hüften und Schultern.
Dass die Breite der
Schultern ein wichtiger
Factor ist, beweist ein
Blick auf Fig. 25, die
den Rücken einer jungen
Berlinerin darstellt; hier
erscheint die Taille trotz
breiterer Hüften viel we-
niger schlank, weil der
Brustkorb in beinahe ge-
rader Linie nach oben
verläuft, so dass der
Körper am unteren Rand
der Schulterblätter bei-
Fig. 2-A.
Javauisclies Mädchen, das nie ein Corset
getragen hat.
nahe ebenso breit ist als
in der Taille.
Als natürliche Bedingung einer schlanken Taille müssen wir
demnach annehmen, dass von der schmälsten Stelle am unteren Rand
des Brustkorbes die Körpercontour in weich auslaufender Wellenlinie
76
Folgen des Sclinürens.
sich, nach unten und ebenso nach oben verbreitert; dabei ist der
absolute Umfang der schmälsten Stelle vollständig Nebensache.
Im gewöhnlichen Leben, aber namentlich unter den Frauen
selbst, urtheilt man anders. Man spricht höchstens von langer oder
kurzer Taille, hauptsächlich jedoch vom absoluten Umfang der
Gürtelhöhe. Eine Taille von
60 cm ist schön, eine von
50 cm entzückend u. s. w.
Aber der Mensch ver-
suche die Götter nicht und
begehre nimmer und nimmer
zu schauen, was sie gnädig
bedecken. —
Meinert ^) und andere
haben den Schleier gelüf-
tet und nachgewiesen, dass
Schnürlebern und Magen-
senkung , Bleichsucht und
Stuhlverstopfung , Lungen-
und Herzkrankheiten durch
zu starkes Zusammenpressen
des unteren Brustumfangs
hervorgerufen werden.
Von diesen schweren
inneren Schäden abgesehen,
haben wir uns hier aber
noch zu fragen: Wird, mit
so viel Opfern an Gesundheit
und Lebensfreude, der eigentliche ZAveck, die Verschönerung des
Körpers, erreicht oder nicht? Die Antwort lautet: Scheinbar wohl,
in Wirklichkeit nicht.
Der grossen Masse imponirt die so erzeugte schlanke Taille,
der Erfahrene kann, selbst an der bekleideten Frau, an dem Miss-
Fig. 23. G-ypsalig'uss nach der Leiche einer
jugendlichen Selbstmörderin
(1. anatomisches Institut. Berlin).
^) Centralblatt für innere Medicin, 1896, 12 und 13. Sammlung klinischer
Vorträge, 1895, Nr. 115, 116.
Folgen des Sclmürens.
77
verliältniss der dünnen Mitte zu den übrigen Theilen des Körpers,
die verborgenen Fehler meistens erkennen.
Am entkleideten Körper tritt die Verunstaltung für jeden deut-
lich hervor.
Fig. 2ü. Mädehentorsü ülme Schnüi'furehe (WiL-iieriiij.
Bei einem nicht entstellten Mädchentorso (Fig. 26) geht der
Umriss des Brustkorbs v^^eich in die Linien des Unterleibs über,
dessen gleichmässige flache Wölbung durch das Vortreten der
Muskeln, namentlich rechts und links von der Mittellinie oberhalb
des Nabels markirt wird; der am stärksten vortretende Theil ist die
fettreichere Umgrebuns: des Nabels.
78
Folgen des Schnürens.
Als erster Einfluss des Schnürens zeigt sicli zunäclist oberhalb
des Nabels eine querverlaiifende Furche, die eine schärfere, nicht
natürliche Abgrenzung des Rumpfes in einen oberen und unteren
Fiff. 27. Mädchen mit deutlicher 8chnürfurclie (Oesterreicherin).
Abschnitt hervorruft; die unterhalb dieser Linie liegenden weichen
Theile des Unterleibes werden nach unten und vorn gepresst: der
Bauch wird rund und tritt heraus. Fig. 27 zeigt diese Entstellung
an einem übrigens schön gebauten Körper. Im weiteren Verlauf
wird die- Einschnürung immer schärfer, der Bauch darunter tritt
mehr und mehr hervor (Fig. 28). In Folge der geringen Wölbung
Folgen des Sclmürens.
79
des Brustkastens ziehen die Brüste melir und mehr herunter. Durch
die starke Einschnürung der Bauchmuskehi, namenthch der geraden,
die vom Schambein zum Brustbein hinziehen, ist das Relief des
Unterleibes zerstört, zugleich aber auch dessen Hauptstütze, so dass
er schlaff herunterhäno:t und zum Häns'ebauch wird.
i'*«»*.^.
Fig. 28. Mädchen mit sehr starker Einschiiürtmg.
Ein solcher Körper wird durch die erste Schwangerschaft,
durch jeden noch so geringen Fettansatz endgültig entstellt: Bauch
und Brüste werden dicker und schlaffer und hängen; statt fder
Taille bildet sich eine querverlaufende wulstige Falte, und nur das
Corset ist noch im Stande, eine Zeit lang die verlorene Form vor-
zutäuschen, die es selbst verdorben hat.
80 Stiefel und Strumpfbänder.
Ebenso wie die Bauchmuskeln, beeinflusst ein Missbrauch des
Corsets auch die Rückenmuskehi in ihrer Entwickelung und Wirkung.
Frauen, die an das Corset gewöhnt sind, fühlen sich rasch er-
müdet und klagen über Schmerzen im Rücken, wenn sie einige Zeit
ohne Corset sich bewegen. Der Rücken erscheint dann hohl, flach und
wenig modellirt in Folge des geringeren Yortretens der Muskelwülste.
Der nachtheilige Einfluss des Corsets ist um so grösser, je
stärker es geschnürt wird, je höher es ist und je früher es an-
gelegt wird.
Es ist leicht zu begreifen, dass in den Entwickelungsjahren,
wo das Gerüst des wachsenden Körpers noch zart und biegsam ist,
ein verhältnissmässig viel geringerer Druck genügt, um die Form
zu beeinflussen, ebenso, dass die Arbeit der Rumpfmuskeln bei einem
hohen Corset viel stärker und in grösserer Ausdehnung beeinträchtigt
wird, als bei einem niederen, das nur wie ein breiter Gürtel die Mitte
umspannt. Dass endlich bei stärkerem Schnüren die Druckwirkung
entsprechend erhöht wird, ist auch ohne weiteres einleuchtend.
Nun haben aber anatomische Untersuchungen-^) ergeben, dass
Bauernweiber, die überhaupt kein Corset trugen, oft viel stärkere
Schnürfurchen zeigten, als eingeschnürte Damen, und zwar, weil die-
selben die Rockbänder stark anzogen, die dann ihre ganze Wirkung
auf eine kleinere Fläche um so kräftiger geltend machten. Daraus
ein Argument zu Gunsten des engen Corsets ableiten zu wollen, ist
nicht erlaubt. Wohl aber lässt sich daraus ableiten, dass das Corset
als Stützpunkt für die Kleider des Unterkörpers völlig gerechtfertigt
ist, dass aber andererseits das Corset nicht dazu missbraucht werden
darf, um eine künstliche Taille zu formiren.
Nach der schlanken Taille kommt der kleine Fuss , den jede
Frau gern haben möchte und dem zu Liebe sie die angeborene
Schönheit dieses Körpertheils durch unzweckmässige Bekleidung
verdirbt.
Eine Künstlerin, deren Hauptaufgabe die Darstellung des weib-
lichen Körpers in seiner höchsten Vollendung ist, klagte mir, dass
sie noch nie in ihrem Leben einen schönen weiblichen Fuss — nicht
^) Siehe Meinert 1. c.
Stiefel und Strumpfbänder.
81
Stiefel — gesehen habe. Sie war
noch jung; aber ich muss ge-
stehen, dass unter den zahlreichen
weiblichen Füssen, die ich ge-
sehen habe, nur wenige sind, die
vor einer strengeren Kritik stand-
halten. Hauptsächlich ist es die
Verdrehung der grossen Zehe nach
aussen und die Krallenstellung
der kleineren Zehen, die den Fuss
verunstalten.
Als drittes Grlied in der Kette
des schädlichen Einflusses mo-
derner Frauenkleidung ist das
Strumpfband zu nennen, das je
nach dem Geschmack der Trägerin
entweder die Form der Wade oder
die des Knies verdirbt. Die Rem-
brandt'schen Modelle haben das
Erstere vorgezogen.
Nach Lücke ^) soll aber auch
die jetzt übliche Befestigung der
Strümpfe von Kindern am Leib-
chen Veranlassung geben zu Ver-
krümmung der Beine.
Man hätte demnach die Wahl
zwischen Schnürfurchen am Knie
oder an der Wade und krummen
Beinen, wenn man es nicht vor-
zieht, kurze Socken oder sehr lange,
bis zur Mitte des Oberschenkels
reichende Strümpfe zu tragen.
Die Entstellung der Wade
durch den Druck der StrumjDfbänder zeigt Fig. 29 deutlich ausgeprägt.
Fig. 29. Druckfurclieu der Strumpfbänder
imterhalb der Kniee bei einem
23jälirigen Mädchen.
^) Citirt bei Hoffa, Orthopädische Chirurgie, 1894, p. 112.
Stratz, Die Scliönlieit des weiblichen Körpers.
82 Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten.
Wir haben hiermit die drei wichtigsten Theile der weiblichen
Kleidung, welche die Schönheit des Körpers beeinträchtigen können,
besprochen, und haben demnach des weiteren zu achten auf Ver-
unstaltung des Rumpfes durch Schnüren und Rockbänder, der Füsse
durch drückende Schuhe, der [Kniee und Waden durch Strumpf-
bänder,
IX.
Beurtheilung des Körpers im allgemeinen
nach diesen Gesichtspunkten.
Wie wir sahen, ist die Schönheit des weiblichen Körpers ab-
hängig von gewissen, mehr weniger fest umschriebenen Gesetzen,
die theils empirisch und statistisch, theils exact und deductiv ge-
wonnen sind.
Bei deren Anwendung müssen wir aber den naturwissenschaft-
lichen Standpunkt auch insofern wahren, dass wir trotz der Ge-
setze kritisch individualisiren und nicht blindlings schematisiren.
Diese Gefahr ist hauptsächlich bei den auf empirischem und
statistischem Wege gefundenen Thatsachen sehr naheliegend. Haben
wir bei Yergleichung einer grossen Anzahl von Individuen einen
gewissen Werth gefunden, so ist das ein Durchschnittswerth , der
höchstens als unterste Grenze des Normalwerthes , in keinem Falle
aber als massgebend für „das normale Individuum" gelten darf.
So hat R. von Lariseh (Der Schönheitsfehler des Weibes. München 1896)
die Behauptung aufgestellt, dass die Weiber zu kurze Beine hätten und als Be-
weis 100 von ihm ausgeführte Messungen von Modellen geliefert.
Die Messungen von Lariseh beweisen nur , dass es viele Weiber mit
kurzen Beinen giebt, und namentlich unter Künstlermodellen; dies ist aber bei
Männern genau ebenso der Fall und beruht in beiden Fällen beinahe immer
auf Rhachitis.
Wollen wir einen Normalwerth bestimmen, so ist nicht die
Zahl, sondern die Wahl der betreffenden Individuen das Massgebende.
Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten. 83
Wir müssen vorerst alle Individuen ausmerzen, die aus irgend einem
Grunde den Anspruch auf Normalität verloren haben.
Normal in diesem Sinne ist aber, wie sich zeigen wird, auch
schön.
Ich habe gestrebt, diesem Grundsatze so getreu wie möglich
zu folgen.
Ebenso wie der künstlerische, ist auch der ärztliche Blick an-
geboren. Man braucht weder Arzt noch Künstler zu sein, um beide
zu besitzen. Es giebt aber nicht nur farbenblinde, sondern auch
formenblinde Menschen, die beides in grösserem oder geringerem
Masse entbehren, und auch von diesen sind leider so manche Aerzte
und Künstler.
Der Künstler, sowie der Arzt schärft seinen Blick durch die
Uebung, und um sich von der Richtigkeit desselben zu überzeugen,
sind beide gezwungen, gewisse technische Hülfsmittel zu gebrauchen,
die ihnen ermöglichen , die gewonnenen Gesichtseindrücke mit ab-
soluten Werthen zu vergleichen.
Wir haben hier nun zunächst nur mit der Art und Weise zu
thun, wie man sich vom ärztlichen Standpunkte den richtigen Ein-
druck von der Form des weiblichen Körpers verschafft, und hierbei
haben wir, ebenso wie bei einem Patienten, zunächst die Gestalt im
allgemeinen zu betrachten, bevor wir zur Beurtheilung der einzelnen
Theile übergehen.
Wichtig ist es, dass man zunächst den völlig entkleideten
Körper so aufstellt, dass das volle Licht gleichmässig darauf fällt, also
dem Fenster gegenüber. Bei schräger Beleuchtung ist es schwierig,
die rechte mit der linken Körperhälfte vergleichen zu können. Der
Beschauer stellt sich, auf einigen Abstand, mit dem Rücken nach
dem Fenster, der zu beurtheilenden Person genau gegenüber.
Die Körperhaltung muss die aufrechte, militärische sein, jedoch
so, dass die Füsse in ihrer ganzen Länge sich berühren (Fig. 30),
In dieser Stellung kann man sich zunächst über die Pro-
portionen, das Verhältniss der einzelnen Körj)ertheile zu einander
und zum Ganzen orientiren, und, wo nöthig, dem Auge mit Zirkel
und Bandmass nachhelfen. Streng wissenschaftlichen Anforderungen
entspricht der Zander'sche Messapparat.
84 Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten.
Zu rasclier Orientirung genügt es,
einige Hauptmasse zu nelimen, die durch
vergleichende Messungen an gut ge-
bauten Körpern festgestellt sind:
A. H ö h e n m a s s e,
1 . Die Körperhöhe ist 7 ^,'2 bis
7^/4 Mal so gross als die Kojjfhöhe;
in sehr seltenen Fällen ist das Verhält-
niss 1:8. Die durchschnittliche Körper-
höhe von europäischen Frauen ist 158
(nach Quetelet).
2. Die Körpermitte (Fig. 30x)
ist gleich der halben Gesammthöhe; sie
liegt bei der Frau ungefähr an der
oberen Haargrenze des Schamberges.
Eine auch nur geringe Verschiebung
derselben nach oben deutet auf einen
Fehler in den unteren Extremitäten.
3. Bei richtiger Länge der Arme
muss das Ellbogengelenk in der Höhe
der Taille, das Handgelenk in der Höhe
des Schambergs stehen, wenn der Arm
ruhig herabhängt.
4. Die Länge der Beine ist be-
reits bestimmt durch den Stand der
Körj)ermitte. Wenn die Beine ganz ge-
rade und gut geformt sind, müssen sie
sich in der angegebenen Stellung an
vier Punkten berühren, nämlich am
oberen Drittel des Oberschenkels , am
Knie, an der Wade und am Fussgelenk. Bei jugendlichen Individuen
mit noch nicht voll entwickelten Waden kann der dritte Berührungs-
punkt fehlen, ohne dass darum die Form der Beine eine schlechte wird.
Berühren sich die Kniee bei geschlossenen Knöcheln nicht,
dann sind die Beine nach aussen gekrümmt (0-Beine) , berühren
Fig. 30.
Symmetrische Körperhaltung
Beurtheilung des Körpers im allgemeinen nach diesen Gesichtspunkten. g5
sicli bei geschlossenen Knieen die Knöchel nicht, dann sind die Beine
nach innen gekrümmt (X-Beine).
Der oberste Berührungspunkt ist abhängig von der Fülle der
Oberschenkel.
B. Breitenm asse.
1. Die Schulterbreite ist beim weiblichen sowie beim männ-
lichen Körper das absolut grösste von allen Breitenmassen ; die ge-
naue Messung ist erschwert durch die grosse Beweglichkeit und den
wechselnden Hoch- und Tiefstand der Schulter. Am sichersten misst
man von oben her vom äussersten Rand des Schulterblatts, dem
Acromion, aus (Schultergelenkbreite).
2. Die Taillenbreite ist der schmälste Durchmesser des
Rumpfes am unteren Rippenrand.
3. Die Hüftbreite ist am grössten in der Höhe der von
aussen fühlbaren Vor Sprünge der Oberschenkelknochen (Trochanteren)^
ja sogar unter denselben; zur Bestimmung des Masses ist es am
empfelilenswerthesten, durch die Haut hin diese Knochenvorsprünge
abzutasten und von ihnen aus zu messen. Die Hüftgelenkbreite ist
schwieriger zu bestimmen wegen Unzugänglichkeit des Hüftgelenks;
sie beträgt die Hälfte der Schultergelenkbreite.
Aus dem Yerhältniss dieser drei Masse ergiebt sich die cha-
rakteristische Form des gutgebauten weiblichen Rumpfes.
Bei 25 wohlgebauten Frauen fand ich folgendes Verhältniss :
Körperlänge 155 — 170
• Schulterbreite 35 — 40
Taillenbreite 19—24
Hüftbreite 31—36.
Es ergab sich , dass , ganz unabhängig von der Körperlänge^
die Breitenmasse stets so angeordnet waren, dass die Hüftbreite um
4 cm, die Taillenbreite um 16 cm geringer war als die Schulter-
breite.
Will man weitere Masse nehmen, dann kann man dazu ent-
weder die Richer'sche Eintheilung in Kopfhöhen oder die Fritsch'sche
oder Langer'sche Methode benutzen.
86
Secundäre Geschlechtsmerkmale.
Fig. 31. Männliche Normalgestalt
nacli Merkel.
Fig. 32. Weibliche Normalgestalt
nach Merkel (vgl. Fig. 8).
Die oben angegebenen Masse genügen jedoch zur Beurtheilung
der allgemeinen Verhältnisse der Figur. Ausserdem aber hat man
mit den Breitenmassen bereits einen der wichtigsten secundären
Geschlechtscharaktere, die weibliche Bildung des Rumpfes, fest-
gestellt.
Die secundären Geschlechtscharaktere sind deutlich
Secundäre Geschlechtsmerkmale.
87
Fig. 33. Mauuliclie Normalgestalt
von hinten nach Merkel.
Fig. 34. Weibliche Normalgestalt
von hinten nach Merkel.
aus den Fig. 31 — 34^) zu erkennen, welche die männliclie und weib-
liche Normalscestalt nach Merkel darstellen.
') Fr. Merke], Handbuch der topographischen Anatomie. Vieweg, 1896,
Bd. II, p. 182 und 256. Autor und Verleger waren so liebenswürdig, die Repro-
duction der vortrefflichen Figuren zu gestatten. Die Verhältnisse der Eeproduction
zum Original sind 138:165; die Originale sind V'o natürliche Grösse.
Secundäre Geschlechtsmerkmale.
Für den Rumpf sind die Masse an den Merkerschen Normal-
figuren :
Mann Weib
Körperlänge ,165,5 158
Schulterbreite 47 37
Taillenbreite 25 23
Hüftbreite 32,5 34.
Abgesehen von der absoluten Grösse der Masse ist namentlicli
wichtig, dass der Unterschied zwischen Hüftbreite und Schulterbreite
beim Manne 12,5, beim Weibe nur 3 cm beträgt. Das Ueberwiegen
der Hüften im Yerhältniss zu den Schultern ist der wichtigste von
den secundären Greschlechtscharakteren des Weibes.-
Weiter sieht man aus diesen Figuren die grössere Zierlichkeit
des Skeletes und die grössere Breite des Beckens, sowie die durch
Ausbildung der Brustdrüsen veränderte Gestalt des Oberkörpers und
die runderen Formen des Weibes.
Allgemein wurde bisher angenommen, dass der Lendentheil der
weiblichen Wirbelsäule grösser sei als der des Mannes. Merkel
hat nachgewiesen, dass dies allerdings der Fall ist, wenn man die
Vorderseite der Lendenwirbel misst, dass man aber genau das um-
gekehrte Verhältniss findet bei Yergleichung der Rückseite der Lenden-
wirbelkörper, denn da sind die des Mannes grösser. Daraus folgt,
dass die weibliche Wirbelsäule in der Lendenkrümmung stärker ge-
bogen ist als die männliche , eine Thatsache, die mit der stärkeren
Neigung des weiblichen Beckens in Zusammenhang steht.
Für die äussere Form des Körpers ergiebt sich aus dieser Beob-
achtung als weiterer Geschlechtscharakter, dass das weibliche Kreuz
mehr eingezogen und die Rückenlinie im Profil stärker gebogen er-
scheint als die des Mannes.
Dieser Unterschied zeigt sich deutlich in Fig. 35.
Hat man sich so über die Proportionen und die Ausbildung
des Geschlechtscharakters im allgemeinen orientirt, so muss man des
weiteren die ,^symmetrische Entwickelung des Körpers be-
urtheilen.
Dies gelingt in gewissem Sinne auch bei Betrachtung der
Figur von vorne in der oben beschriebenen Stellung. Besser jedoch
Symmetrisclie Entwickelung. Ernährungszustand.
89
ist es , zu diesem Zwecke die zu untersuchende Person sich gerade
ausgestreckt auf den Rücken legen zu lassen, hinter das Haupt der-
selben zu treten und von hier aus in der Verkürzung die rechte mit
der linken Körperhälfte zu vergleichen. Unregelmässigkeiten treten
hierbei viel schärfer hervor.
Fig. 35. Weiblicher und männlicher Torso im Profll nach Thomson.
In zweifelhaften Fällen, deren Zahl bei einiger Uebung sich
rasch vermindert, muss die directe Messung entscheiden.
Ueber den Ernährungszustand entscheidet das Körper-
gewicht. Dieses wird, wie oben gesagt, nach der Vierordt'schen
Formel aus der Körj)erlänge und dem Brustumfang über den Brust-
warzen berechnet. Das normale weibliche Durchschnittsgewicht
schwankt zwischen 52 und 60 kg. Ein werthvolles Zeichen zur
Beurtheilung der Ernährung ist das Aussehen der Haut, ihre Span-
nung, ihr Glanz und ihre Farbe.
Eine gesunde Haut schmiegt sich glatt und ohne Falten der
90 Ernährungszustand. Haut.
Körperoberfläclie an; die natürlichen Falten in den Beugestellen
gieichen sich aus bei Streckung der Gliedmassen. Namentlich bei
der Frau werden durch das Fettpolster alle vorspringenden Ecken
und Kanten des Knochengerüstes ausgeglichen, an Stellen, an denen
die Haut an den darunter liegenden Theilen fester haftet, bilden
sich Grübchen, so am Kinn, in den Wangen, auf den Schultern, am
Ellbogen, im Kreuz. Nimmt man eine Falte der Haut mit den
Fingern auf, so glättet sie sich sofort wieder. Die Schädigung der
Spannung der Haut durch starke Abmagerung ist oben schon er-
wähnt. Wenn die Spannung mit dem Alter schwindet, bilden sich
Runzeln, die zuerst an den Augen auftreten (Krähenfüsse).
Die Haut hat einen matt sammetartigen Glanz von Aveicher
Glätte. Dichter vergleichen denselben mit Elfenbein, Alabaster und
Marmor; die Künstler aber wissen, wie schwierig es ist, dem Marmor
und dem Elfenbein das Aussehen der Haut zu geben.
Die Oberfläche ist nicht gleichmässig glatt, sondern von zahl-
reichen kleinsten Spalten durchsetzt, so dass sie gewissermassen ein
zusammengewachsenes allerfeinstes Netzwerk bildet, und eine klein-
körnige Oberfläche erhält. Je kleiner das Korn, desto zarter ist der
matte Glanz der Haut. Bei schlechter Ernährung, bei Krankheiten
wird die Haut welk und trübe, bei zu starker Talgabsonderung er-
hält sie einen fettigen, spiegelnden Glanz.
Die Farbe der Haut zu beschreiben ist ebenso schwierig als
sie darzustellen. Sie wird mit Rosen und Lilien, Milch und Blut,
Wachs und Schnee, selbst mit neugeborenen Schafen verglichen, der
Maler benutzt ausser Weiss, Yermillon, Kobalt und gelbem Ocker
alle Farben seiner Palette, um die Nuancen der Menschenhaut wieder-
zugeben. Die obersten Schichten der Haut sind matt durchsichtig,
so dass alle darunter liegenden Theile je nach der Dicke der Haut
ihr mehr weniger ihre Farbe mittheilen und so die verschiedenen
Nuancen der Haut begründen. Die dunkelrothen Venen erscheinen
bläulich, der brünette Ton ist eine Folge der stärkeren Pigments-
anhäufung in der Lederhaut, die bräunlich durchschimmert. Je zarter
die Haut ist, desto lebhafter wird das Colorit sein.
Die nicht bedeckten Theile der Haut erhalten durch die Ein-
wirkung der Kälte und des Lichtes eine stärkere Färbung. Deshalb
Fettgewebe. Muskeln. 91
röthet sich das Gesicht, wenn man viel im Freien sich bewegt, mid
erscheint bleich bei Menschen, die ihr Leben in geschlossenen Räumen
zubringen.
Dass die Wangen stets ein höheres Roth zeigen als das übrige
Gresicht, erklärt sich daraus, dass dort die arterielle Blutversorgung
am reichlichsten und die Haut am zartesten ist. Die Röthe der
Wangen bleibt auch bei allgemeiner Blässe noch lange erhalten.
Von der gesunden Röthe hat man die sogenannte hektische
Röthe zu unterscheiden, auf die ^wir weiter unten noch zurück-
kommen.
Bei guter Ernährung ist die Haut im allgemeinen weisslich
mit einem rosigen Schimmer; gelbliche oder bläuliche Verfärbung
deutet auf Krankheiten, aber auch auf eiweissarme, schlechte Er-
nährung.
Ebenso wie die Haut , ist auch das unter ihr liegende Fett-
polster an verschiedenen Stellen des Körpers von wechselnder Dicke.
Wie sich dasselbe vertheilt, wird noch weiter unten besprochen;
jedoch ist festzuhalten, dass bei der Frau im allgemeinen die Haut
dünner und das Fettpolster dicker ist wie beim Manne. Darum findet
man bei der Frau auch nie die scharf umschriebenen, durch Furchen
begrenzten Muskeln, die sich bei männlichen Arbeitern finden.
Kräftige Muskelarbeit schädigt bei einem Weibe beinahe nie-
mals die Schönheit der äusseren Formen, was ich mehrmals bei
Akrobatinnen und Reiterinnen feststellen konnte.
Es ist oben schon hervorgehoben, dass durch zu starken und
ausschliesslichen Grebrauch einer bestimmten Muskelgruppe der har-
monische Eindruck des Granzen leiden kann. Um das beurtheilen zu
können, ist eine genauere Kenntniss der Muskeln des menschlichen
Körpers nöthig.
Man kann sich dieselben noch anschaulicher machen, wenn
man das zu untersuchende Individuum Bewegungen ausführen lässt,
wobei sich die einzelnen Muskeln verdicken.
Wir kommen auf die Muskeln und ihren Einfluss auf die Form
der einzelnen Theile des Körpers noch zurück. Bei einiger Uebung
wird man bald im Stande sein, durch einen raschen Blick sich über
die gleichmässige Entwickelung derselben aus der Modellirung des
92 Lebensweise und Erblichkeit.
Körpers zu überzeugen. lieber die Schulter- und Brustmuskeln
orientirt man sieb am besten, wenn man die Arme bis über den
Horizont langsam beben und senken lässt, über die Bauch- und
Rückenmuskeln durch Beugen und Strecken des Oberkörpers; über
die Muskeln der Beine durch Gehbewegungen. Wenn die Rundung
der Formen hauptsächlich durch Fett bedingt ist, werden bei all
diesen Bewegungen die Körperformen verhältnissmässig wenig beein-
flusst ; bei gut ausgebildeter Muskulatur aber treten die durch die
Muskeln bedingten Rundungen deutlich hervor.
Wir haben oben hervorgehoben, dass ausser der Ernährung
und Entwickelung auch die Lebensweise und die Erblichkeit
einen grossen Einfluss auf die äussere Körperform ausüben, einen
Einfluss, bei dem sich nicht immer genau bestimmen lässt, in wie
weit das eine oder das andere der genannten Momente ihn hervor-
gebracht hat. Durch die beiden letzteren, die Lebensweise und die
Erblichkeit, ist namentlich bedingt die Individualität, d. h. die-
jenigen Abweichungen von dem allgemeinen Schema, die
der einzelnen Gestalt ihr charakteristisches Gepräge
verleihen.
Man kann, wie Langer ^) hervorhebt, aus der grossen Zahl der
Individualitäten wiederum grössere GrujDpen mit gemeinschaftlichen
Merkmalen zusammenstellen, und z. B. grosse, mittelgrosse und
kleine, schlanke und gedrungene Gestalten von einander scheiden.
Langer findet dabei, dass auch diese Gruppen gewissen Gesetzen
unterworfen sind, so dass sich meist gross und schlank, klein und
gedrungen zusammenfindet. Dies sind jedoch individuelle Schwan-
kungen, die sich alle auf das Verhältniss zwischen den Proportionen
der Längen- und Breitenmasse des Körpers zurückführen lassen.
Das Individuum, gleichgültig ob es gross oder klein, schlank oder
gedrungen ist, kann nur dann für normal gelten, wenn seine Pro-
portionen den oben aufgestellten Gesetzen entsprechen.
Ich glaube, dass sich allgemein gültige Gesetze zur Beurtheilung
der Individualität vorläufig nicht aufstellen lassen, dass aber die Be-
achtung der Individualität im gegebenen Falle ein strenges Gebot ist.
^) Anatomie der äusseren Formen, p. 79.
Individualität. Höchste Blütlaezeit. 9B
Ich glaube, dass selbst ein Apelles nicht im Stande war, durch
Vereinigung der Vorzüge der 12 schönsten Mädchen von Kroton
einen lebensfähigen Körper, sei es auch nur im Bilde, zu erschaffen,
weil dabei die harmonische Ausbildung des einzelnen Individuums
nicht mehr zur Geltung kommen konnte.
Gerade weil uns die Gesetze, nach denen sich jeder einzelne
Körper als Mikrokosmus ausbildet, nur zum Theile bekannt sind,
wird auch der darstellende Künstler, wenn er sich von seinem
Modell entfernt, Gefahr laufen, Fehler gegen die Naturwahrheit zu
begehen.
Wir können uns hier mit der Aufstellung folgender Sätze für
die Würdigung der Individualität begnügen:
Jede Frau hat ihre eigene Individualität, die sie von
allen anderen Individuen ihrer Art unterscheidet. Diese
Individualität ist begründet auf gewissen Abweichungen
von den allgemeinen Regeln. Diese. Abweichungen geben
dem Körper sein persönliches Gepräge und sind nicht als
Fehler anzusehen, so lange sie sich innerhalb der auf-
gestellten Grenzen der Gesetze über Proportionen, sym-
metrische Entwickelung, gleichmässige Ausbildung und
secundären Geschlechtscharakter halten.
Demnach kann z. B. eine sehr scharf ausgeprägte vererbte
Individualität bei einer Frau die Schönheit beeinträchtigen, weil sie
einen der wichtigsten secundären Geschlechtscharaktere, die Weich-
heit der Formen, verwischt. So kann eine vom Vater ererbte lange
Nase die Harmonie der Formen im Gesichte der Tochter zerstören,
während sie beim Sohne die Kraft der Züge erhöht.
Haben wir uns in dieser Weise über die richtigen Proportionen,
über Ernährung und symmetrische Entwickelung, über die gute Aus-
bildung der secundären Geschlechtscharaktere, über die Individualität
des zu untersuchenden Weibes unterrichtet, so bleibt nur noch übrig,
den Zeitpunkt der höchsten Blüthe zu bestimmen, bevor wir zur
genaueren Betrachtung der einzelnen Körpertheile übergehen.
Ob eine Frau ihre höchste Blüthezeit erreicht oder über-
schritten hat, lässt sich bei einmaliger Untersuchung oft schwer
ausmachen.
94 Höchste Blüthezeit.
Im allgemeinen nimmt man an, dass der weibliclie Körper mit
dem 23. Lebensjahre völlig ausgebildet ist, docb ist bereits oben
darauf hingewiesen worden, dass das Lebensalter in dieser Beziehung
sehr grossen individuellen Schwankungen unterworfen ist.
Grössere Sicherheit bietet noch das Auftreten der ersten Men-
struation. Je später diese sich einstellt, desto wahrscheinlicher tritt
auch die höchste Blüthezeit später ein.
Einen weiteren Anhaltspunkt, um die grössere oder geringere
Ausbildung des Körpers zu beurtheilen, haben wir an den Propor-
tionen. Beim neugeborenen Mädchen ist im Verhältniss der Kopf
am grössten, die Extremitäten am kleinsten. Um die volle Aus-
bildung zu erreichen, muss sich der ganze Körper um reichlich das
Dreifache vergrössern; dabei wächst der Kopf bis zum Doppelten,
der Rumpf bis zum Dreifachen, die Beine bis zum Vierfachen ihrer
ursprünglichen Länge. Der Kopf hat meist schon gegen das
13. Lebensjahr seine bleibende Länge erreicht, der Rumpf ebenfalls,
die Beine jedoch erreichen dieselbe viel später. Da nun aber die
Körpermitte um so tiefer reicht, je länger die Beine werden, so
muss der tiefste Stand derselben mit dem vollendeten Wachsthum
zusammenfallen. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir es
mit einem ausgebildeten Körper zu thun haben, um so grösser, je
tiefer die Körpermitte steht. Jedoch behält sie diesen tiefsten Stand
auch noch zu einer Zeit, in der die höchste Blüthe verstrichen ist,
und darum können die Proportionen uns höchstens dazu dienen, den
nicht völlig gereiften vom reifen Körper zu scheiden, nicht aber vom
überreifen. — Den sichersten Anhaltspunkt zur Entscheidung dieser
Frage bildet die jeweilige Beschaffenheit der Brüste. Die höchste
Blüthezeit der Brüste, und damit des Körpers, ist dann erreicht, wenn
die pralle Form derselben durch die harte Drüse, nicht aber durch
Fettablagerung, ihre höchste Ausbildung erlangt hat.
Aus dem Vorstehenden ist ersichtlich, dass wir zur Erhebung
des Befundes nicht umhin können, einige Fragen an die untersuchte
Person zu stellen. Das Alter, das Eintreten der ersten Menstruation,
Beschäftigung, Lebensweise und Familienverhältnisse können für uns
wichtige Handhaben sein, um Lidividualität, höchste Blüthe u. a. m.
richtier beurtheilen zu können. Wir sind also in srewissem Sinne
Beurtheilung der einzelnen Körpertheile. 95
gezwungen, eine „Anamnese" aufzunehmen, und unser Urtlieil zum
Theil auf Aussagen zu stützen, die wir von dem Subject der Unter-
suchung selbst erhalten haben.
Dabei ist jedoch darauf zu achten, dass diese Anamnese, ebenso
wie in der ärztlichen Welt, nur einen subjectiven Werth hat, d. h.
dass wir sie nur dann als glaubwürdig ansehen dürfen , wenn sie
mit dem von uns erhobenen objectiven Befund übereinstimmt.
Dies ist eine wissenschaftliche Forderung und keineswegs ein
Misstrauensvotum für die Frauen im allgemeinen oder für das unter-
suchte Individuum im besonderen.
X.
Beurtheilung der einzelnen Körpertheile.
Wie wir beim Krankenexamen nach der allgemeinen Betrach-
tung des Körpers seine Organe einer näheren Untersuchung unter-
werfen, so müssen wir auch hier uns nun ausführlicher mit den
einzelnen Körpertheilen beschäftigen. Die Untersuchung ist insofern
schwieriger, als wir im ersten Falle bestrebt sind, bestehende Fehler
aufzusuchen, im letzteren, mögliche Fehler auszuschalten. Je gün-
stiger unser Ergebniss ist, desto eher können wir mit jenem alten
Greneral ausrufen: Ich sehe wieder viele, die nicht da sind.
Wenn wir bei der Betrachtung des Körpers im allgemeinen
darauf gewiesen haben, dass es wichtig ist, das Licht voll und
gleichmässig von vorn auf den Körper fallen zu lassen, so müssen
wir hier hervorheben, dass es zur richtigen Beurtheilung seiner
Theile oft wünschenswerth ist, dieselben in seitlicher und halber
Beleuchtung zu betrachten, weil dadurch die Einzelheiten der Bil-
dung schärfer hervortreten (vgl. Fig. 22).
Ausserdem aber sind wir oft genöthigt, die einzelnen Körper-
theile in verschiedene Stellungen zu bringen. Beim Kopf genügt
die Betrachtung im Profil und in en face , beim Rumpf und noch
96
Kopf.
mehr bei den Gliedmassen werden wir sehen, dass wir damit oft
nicht einmal auskommen, ja dass wir sogar die verschiedenen Phasen
der Bewegungen zu Hülfe nehmen müssen.
a) Kopf.
Die Form des Kopfes, als Ganzes betrachtet, ist im wesent-
lichen abhängig von der Bildung des Schädels. Da nun aber von
100 Kindern 97 in Schädellage geboren werden, wobei der bei der
Geburt nach hinten liegende Theil der Schädelwölbung eine wenn
Fig. 36. Weiblicher (a) und mäniiliclier (h) Schädel. Modificirt nach Ecker.
auch noch so geringe Abflachung erleidet, die selten völlig wieder
ausgeglichen wird, so sind in weitaus den meisten Fällen die Schädel
asymmetrisch. Meist ist jedoch diese Abweichung so gering, dass
wir damit nicht zu rechnen brauchen.
Die secundären Geschlechtscharaktere sind am Schädel deut-
lich ausgeprägt (Fig. 36). Zunächst ist die Grösse sowie der Inhalt
des Gehirnschädels bei der Frau geringer, und ebenso die Grösse
des Gesichtsschädels, verglichen mit dem Gehirnschädel.
Die Wölbung des Schädeldaches ist beim Manne stärker und
gleichmässiger ; bei der Frau ist der Scheitel flacher und setzt sich
im Profil von der Stirn und vom Hinterhaupt in schärferem Winkel
ab als beim Manne. Dadurch wird die Stirngegend bei der
Frau kürzer und verläuft mehr senkrecht als beim Manne.
Kopf. Haare. 97
Von vorn gesehen ist die Stirn der Frau gleiclimässig
rund gewölbt, während beim Manne die Stirnhöcker kräftig aus-
gebildet sind und der Stirn eine mehr eckige Form geben. Der
Gesichtsschädel der Frau erscheint breiter und weniger hoch, und
im Verhältniss zum Hirnschädel kleiner als beim Manne.
Im allgemeinen ist damit der Geschlechtsunterschied am Schädel
der folgende:
Männerschädel: eckig, hoch, mit üeberwiegen des Gesichtstheils.
Weiberschädel : rund, breit, mit Üeberwiegen des Gehirntheils.
Bei der Betrachtung der lebenden Frau ist es im Profil nament-
lich die Knickung zwischen Stirn und Scheitel und en face
die relative Kleinheit und Rundung des Gesichts, welche
der Beobachtung zugänglich sind, und, gut ausgeprägt, den Vorzug
rein weiblicher Bildung in sich schliessen.
Das starke Hervortreten xler Stirnhöcker, das sich in der Regel
erst beim erwachsenen Manne deutlich ausprägt, kann bei beiden
Geschlechtern schon in jugendlichem Alter auftreten und zwar als
Folge von englischer Krankheit (Tete carree). Abgesehen vom
jugendlichen Alter erkennt man den krankhaften Ursprung solcher
Schädelbildung meist an dem gleichzeitigen Vorhandensein rhachi-
tischer Zeichen an anderen Körpertheilen.
Die übrige Form des Schädels wird durch die Haare verdeckt,
welche beim Manne, auch wenn man sie nicht abschneidet, nie so
lang werden als bei der Frau.
Die Haare der Frau erreichen eine durchschnittliche Länge
von 75 cm (Ranke) und sind ausserdem dicker als beim Manne
(Virchow). Sie können aber auch eine Länge von 150 cm und mehr
erreichen'). Demnach bildet langes und reichliches Kopfhaar
einen secundären Geschlechtscharakter der Frau und damit einen
Vorzug weiblicher Bildung, der um so grösser wird, je länger und
je reichlicher das Haupthaar im gegebenen Falle ist.
Der wichtigste Theil nicht nur des Kopfes, sondern des Körpers
überhaupt ist das Angesicht. Ln Gesicht ist die Individualität
^) Bei vier Frauen mit besonders schönem Haar habe ich 120, 126, 130
und 153 cm gemessen; in München fand ich 1899 eine Dame von 164 cm
Körperlänge mit Haaren von 155 cm Länge.
Stratz, Die Schönheit des weililiclieii Körpers. 7
98
Gesicht.
am stärksten ausgedrückt. Das Gesicht ist stets unbedeckt und
häufiger und. gründlicher Beobachtung ausgesetzt: jedermann kennt
die feinen Nuancen seines Ausdrucks, wenn er auch nicht die Er-
klärung dafür zu geben vermag.
Man ist so sehr gewöhnt, allein nach dem Gesicht zu urtheilen,
dass eine schöne Bildung desselben alle Fehler des Körpers ver-
gessen lässt, ein hässliches Gesicht aber trotz aller Vorzüge des
übrigen Körpers ein Verdammungsurtheil
in sich schliesst.
Wenn wir uns darüber Rechenschaft
geben wollen , welche Anforderungen
man anatomisch an die schöne Gesichts-
bildung stellen darf, so müssen wir zu-
erst auf die embryonale Entwickelung
derselben zurückgreifen.
Wir haben bereits oben beispiels-
weise (Fig. 21) die Entwickelung des
Gesichts herangezogen und erwähnt,
welchen Einfluss die Ausbildung des
mittleren Nasenfortsatzes auf die Form
der Oberlippe ausübt.
Vergegenwärtigen wir uns noch-
mals die Kopfform eines menschlichen
Embryo aus der sechsten Woche, so
sehen wir, dass das Gesicht in der
Hauptsache aus sieben Fortsätzen gebildet wird, einem unpaarigen,
dem mittleren Nasenfortsatze , und drei paarigen, den seitlichen
Nasenfortsätzen, den Oberkieferfortsätzen und den in der sechsten
Woche bereits verwachsenen Unterkieferfortsätzen (Fig. 37).
Von der gleichmässigen Entwickelung dieser Fortsätze hängt
im wesentlichen die regelmässige Form des Gesichtes ab, und zwar
sind es die Oberkieferfortsätze, die dabei die Hauptrolle spielen.
Jeder der erwähnten Fortsätze enthält in der Anlage die Haut,
die Muskeln, die Blutgefässe, die Nerven und die Knochen des zu-
künftigen Gesichtes ; die letzteren sind es namentlich, an denen wir
einen Massstab zur Beurtheilung gewinnen können.
37. Kopf eiues Embryo aus
der seclisten Woche.
(nl und nm seitliclie nud mittlerer
Nasenfortsatz des Stirnlappens,
ms Oberkieferfortsätze, mi Unter-
kieferfortsätze.)
Gesicht. 99
Vergleiclieu wir mit der Embryonalanlage den Schädel eines
neugeborenen Kindes (Fig. 38), so sehen wir, dass die den drei Nasen-
fortsätzen angehörigen Knochen , die Nasenbeine und der Mittel-
kiefer, an Wachsthum durch die Knochen des Oberkiefers und
Jochbogens weit überholt sind.
Die Oberkieferknochen bilden den Mittelpunkt, um den sich
die übrigen Knochen des Gesichts anordnen, wie man sich leicht an
beistehender Figur (38) überzeugen kann. Zunächst bilden sie in
Vereinigung mit dem schmalen Mittelkiefer, die obere Begrenzung
des Mundes und die untere der Nase; durch die nach oben sich
weiterschiebenden Fortsätze begrenzen sie einen Theil der Augen-
höhle und scheiden diese von der Nase. Augen, Mund und Nase,
die wichtigsten Theile des Gesichtes, sind dadurch in Abhängigkeit
gebracht von der Entwickelung des Oberkiefers.
Gehen wir nun einen Schritt weiter und vergleichen den
Schädel des Neugeborenen mit dem der erwachsenen Frau, so tritt
der Einfluss des Wachsthums des Oberkiefers sofort deutlich vor
Augen (Fig. 39, 40).
Sind die oberen Ausläufer des Oberkiefers zu stark entwickelt,
so wird die Wurzel der 'Nase breit und die Augen treten mehr aus
einander (Fig. 40), sind die mittleren Theile zu mächtig, so schieben
sie die Jochbogen nach aussen und die Backenknochen treten stärker
hervor, während zugleich die Nase einen stärkeren Winkel nach
vorn macht.
Von der Entwickelung des unteren Theiles hängt zunächst, wie
erwähnt, die Bildung der Oberlippe ab. Tritt der Oberkiefer in
schräger Richtung nach vorn voraus (Prognathie), ist er dabei
kräftig entwickelt, dann beherrscht er die übrigen Theile des Ge-
sichts und bildet den Typus, der bei den Negern ein Rassenmerk-
mal ist. Mit dieser Verstärkung der oberen Mundparthie geht aber
Hand in Hand eine Verkürzung und Verbreiterung der Nasengegend,
so dass diese in die Höhe gebogen und breiter wird und zugleich
in der Ansicht von vorn die Oeffnung der Nasenlöcher sichtbar
macht. Meist verbindet sich damit eine stärkere Ent^rickelung des
Unterkiefers (Fig. 40).
Wenn jedoch die unteren Parthien des Oberkiefers schmal
100
Gesicht.
bleiben und ziigleicli mehr senkrecht sich stellen (Orthognathie),
dann tritt die Mundparthie mehr zurück, zugleich aber wird die
Nase schmäler und länger in ihrem unteren Theil (Fig. 39).
Fig. 38. Scliädel eines Neugeborenen.
Die rothe Linie umgiebt den Gesiclitstlieil des Oberkieferluioclien.
Fig. 39. Schädel einer Frau mit schmalem
und langem Oberkiefer.
Fig. 40. Schädel einer Frau mit kurzem
und breitem Oberldefer.
Aus allen diesen Momenten ergeben sich zahlreiche Verschieden-
heiten der Gesichtsbildung.
Dass die anderen Gresichtsknochen auch mehr oder weniorer
Gesicht. 101
dazu beitragen können, liegt auf der Hand. Wer sicli dafür inter-
essirt, findet Ausführlicheres darüber bei Langer^).
Wir haben uns hier auf den Oberkiefer als den weitaus wich-
tigsten der Gresichtsknochen beschränkt.
Nun ist aber die Frage, welche Bildung desselben die beste ist.
Es ist hier der Platz, um Stellung zu nehmen in einer Frage,
die schon lange die Gremüther beschäftigt und in der verschiedensten
Weise beantwortet ist. Man sagt, dass der Europäer stets die
europäische Frau am schönsten finden wird, der Chinese dagegen
die Chinesin, der Neger die Negerin, wie der Hund die Hündin oder
der Hahn die Henne. Daraus will man ableiten, dass der Schön-
heitsbegriff individuell und undefinirbar ist.
Ich möchte daraus vielmehr ableiten, dass der Schönheitsbegriff
mehr oder minder entwickelt ist, und dass ein Hahn geringere An-
sprüche stellt als ein Hund, dieser geringere als ein Neger und so
weiter. Massgebend ist allein die Auffassung des höchstentwickelten
Individuums, und es erscheint mir nicht zweifelhaft, dass der Indo-
germane und seine Abstämmlinge auf den ersten Platz mit Recht
Anspruch erheben dürfen.
Der schlagendste Beweis ist, dass wir sehen, wie diese Rasse
nicht nur in Europa selbst, sondern auch in allen anderen Welt-
theilen die übrigen allmählig zurückdrängt und ausrottet. In Amerika
sind jetzt schon die Rothhäute zu zählen, in einigen hundert Jahren
wird man mit Schaudern in alten Märchen lesen, dass es Menschen
mit schwarzer Haut gegeben hat.
Wenn wir so auf Grund seiner Erfolge im Kampf ums Dasein
dem Indogermanen den ersten Platz in der naturwissenschaftlichen
Rangordnung einräumen, so können wir weiter sagen, dass unter
den indogermanischen Frauen diejenigen am höchsten stehen, die
sich am weitesten von den Merkmalen anderer Rassen resp. von den
mehr thierischen Formen entfernt haben.
Da nun aber ein breiter, kurzer und vorstehender Oberkiefer
das Merkmal des Negertypus resp. des Affentypus ist, so wird die
G-esichtsbildung um so vollkommener sein, je schmäle]-, länger und
^) Anatomie der äusseren Formen, p. 110 fF.
102 Gesicht.
senkrecliter der Oberkiefer sicli entwickelt liat, und je sclmiäler
seine oberen Ausläufer sind.
Die Folgen derartiger Bildung sind: eine schmale und ge-
streckte Nase, eine gleicbmässige, mehr s enkrecbte Ab-
flachung der seitlichen Nasenparthie nach der Ober-
lippe zu, senkrechter Stand der Zähne des Oberkiefers,
wenig vortretende Backenknochen.
Ausser diesen Rassenvorzügen kommen jedoch noch die secun-
dären Geschlechtscharaktere am Gesichtsskelett in Betracht.
Zunächst haben wir die erwähnte relative Kleinheit des
Gesichts im Verhältniss zum Schädel.
Dazu kommt, dass die Augenhöhlen des weiblichen Skeletts
geräumiger sind als beim Manne.
Die gleichmässige Abrundung des weiblichen Gesichts lässt sich
schon im Skelett erkennen. Hierzu tragen zwei weitere wesentliche
secundäre Geschlechtscharaktere bei.
Schaafhausen-^) fand, dass bei Frauen aller Rassen die mittleren
Schneidezähne absolut grösser sind als bei Männern ; da nun die
mittleren Schneidezähne dem Mittelkiefer entsprechen (auf Fig. 39
und 40 mit punktirter Linie angedeutet), so können wir die Breite
des Mittelkiefers und damit der mittleren Schneidezähne als einen
Vorzug des weiblichen Körpers auffassen. Es resultirt daraus eine
stärkere Breite des Gesichts bei Frauen unterhalb der
Backenknochen in den mittleren Parthien.
Endlich hat Morselli^) durch vergleichende Messungen und
Wägungen gefunden, dass der Unterkiefer der Frau kleiner
und leichter ist als der des Mannes. Wir können demnach als
einen weiteren Vorzug weiblicher Bildung verzeichnen: schmaler
Unterkiefer mit schräg nach auswärts verlaufenden
Gelenkfortsätzen.
Daraus resultirt wieder eine starke Verjüngung des Gesichts
von der Mitte nach dem Kinne zu.
Fassen wir das Resultat der erwähnten Geschlechtsunter-
1) Citirt bei Ploss-Bartels, Das Weib, 1897, p. 25.
^) Sul peso clel cranio e della mandibola in rapporto col sesso. Firenze 1876.
Gesicht. 103
schiede zusammen, so kommen wir zu dem Schlüsse, dass die gut
entwickelte knöcherne Unterlage des weiblichen Gesichts in der
Höhe des unteren Augenhöhlenrandes am breitesten ist, und sich
von da nach unten stark und gleichmässig nach dem Kinne zu
verjüngt.
Die Gesammtverhältnisse des gleichmässig ausgebildeten Schädels
müssen nach übereinstimmenden Messungen an zahlreichen gut ge-
bauten Individuen derart sein, dass die Längsachse in drei gleiche
Theile zerfällt, nämlich vom Stirn winkel bis zum oberen Augen-
rand, von da bis zum unteren Nasenrand, von da bis zum
Kinn; die grösste Breite über den Schläfen muss zur Länge des
Schädels im Verhältniss von 2 zu 3 stehen.
Ausserdem muss natürlich auch die linke Hälfte mit der rechten
völlig symmetrisch gestaltet sein.
Aus alledem ergiebt sich, dass durch die knöcherne Unterlage
die Hauptformen des Gesichts bestimmt sind, jedoch in einer Weise,
die einen grossen Spielraum für individuelle Ausbildung innerhalb
normaler Grenzen gestattet.
Von beiden Geschlechtern kann man verlangen, dass die Zähne
gleichmässig gestellt , weiss und glatt sind , bei der Frau kommt
dazu die grössere Breite der vorderen oberen Schneidezähne. —
Noch feinere Nuancen der Individualität geben die Muskeln.
Die scheinbare Regellosigkeit derselben entwirrt sich (Merkel), wenn
man bedenkt, dass sie alle um die Oeffnungen des Gesichts, die
Augen, die Ohren, die Nase und den Mund gruppirt, entweder
Schliess- oder Oeffnungsmuskeln sind. Die Schliessmuskeln legen
sich kreisförmig um die Oeffnung, die Oeffnungsmuskeln stehen radial
zum Rande angeordnet. Jedoch verflechten sich die einzelnen Mus-
keln wieder unter einander, und ausserdem unterscheiden sie sich
von den übrigen Muskeln des Körpers dadurch, dass nicht nur der
Muskel im ganzen, sondern auch jedes einzelne Muskelbündel einer
selbständigen Bewegung fähig ist.
So entstehen z. B. die Grübchen in den Wangen durch die
isolirte Wirkung eines daselbst in der Haut endigenden Muskel-
bündels, der beim Lächeln sich zusammenzieht.
Eine vortreffliche Beschreibung der Gesichtsmuskeln findet sich
104 Gesicht.
bei Merkel M und bei Langer^). Die Muskeln sind die bauptsäcli-
licbsten Träger der Individualität, und haben als solche hier nur
untergeordnetes Interesse, es sei denn, dass man die feine Aus-
bildung des Mienenspiels mit als einen der Vorzüge weiblicher
Vollkommenheit erwähnen will. Den Ausdruck des Gesichts, des
Spiegels der Seele, hier ausführlich zu analysiren, würde die Grrenzen
des Buches zu sehr überschreiien.
Eine Eigenthümlichkeit der Gesichtsmuskeln jedoch, die Langer
besonders hervorgehoben hat, verdient unsere besondere Beachtung.
An einzelnen Stellen des Gesichts flechten sich nämlich die
Enden einiger Muskeln in die Haut ein, und zwar in der Stirn-
gegend , an den Nasenflügeln , in den Lippen .und am Kinn. Die
Grenzen dieser Einpflanzungen sind die Augenbrauen und die quere
Furche zwischen Kinn und Unterlippe, ferner jederseits zwei Furchen,
von denen die eine vom Nasenflügel nach dem äusseren Mundrand,
die andere vom äusseren Mundrand nach dem Kinn herabzieht ; diese
letztere vereinigt sich häufig unterhalb des Kinnes mit der gegen-
überliegenden.
Diese Muskelbildung übt Einfluss auf die Vertheilung des Fett-
polsters im Gesicht. Innerhalb der Grenzen der festen Muskel-
anheftung kann sich dasselbe nicht entwickeln; wir sehen daher
auch bei starker Fettleibigkeit stets Stirn, Nase, Mund und Kinn
davon verschont, während durch starke Fettanhäufung in den Wangen
die erwähnten Furchen schärfer und schärfer hervortreten. Am
Kinn bildet sich ein oder mehrere Fettwülste unterhalb der ver-
einigten Lippenkinnlinie, das bekannte Doppelkinn.
Da nun eine gewisse Rundung der Formen dem Weibe eigen-
thümlich, eine zu grosse Fülle aber unschön ist, können wir als
Bedingung guter Entwickelung für die Frau aufstellen, dass die ge-
nannten Grenzlinien angedeutet sein müssen, ohne zu scharf hervor-
zutreten (Fig. 42). Das Grübchen im Kinn, eine Zierde des weib-
lichen Geschlechts , ist , ebenso wie die Grübchen in den Wangen,
durch den Zug der in die Haut verflochtenen Muskeln veranlasst.
Merkel, Topographische Anatomie, I, p. 100.
Anatomie der äusseren Formen, p. 129.
Gesicht.
105
In Oesterreich, wo das „Grübeii im Kinn" in vielen Liedern und
Gesängen verherrlicht wird , findet es sich viel häufiger als in
anderen Ländern: Chacun preche pour sa paroisse. Ein fünfzehn-
Fig. 41. Mädchen von 15 Jahren aus Wien mit Grübchen im Kinn,
reinem Gesichtsoval, weichem Mund, Schönheitsfalten üher den Augen
und reichem Haupthaar.
jähriges Mädchen aus Wien, Fig. 41, zeigt diesen Vorzug sehr
schön ausgeprägt.
Die Auspolsterung der Wangen mit Fett vollendet die Ahrun-
dung des Gesichts zum gleichmässigen Oval, zum „länglichen Eirund",
106 i^^
jedoch nur so lange, als die Spannung der Haut erhalten ist. Wenn
diese erschlafft, hängen die Backen herab und werden schlaff.
Es ist deshalb ein gutes, wenn auch nicht stets erlaubtes
Mittel älterer Herren, sich von dem Gesundheitszustand weiblicher
Pflegebefohlenen dadurch zu überzeugen, dass sie sie in die Backen
kneifen.
Ueber die Haut des Gesichtes haben wir bereits gesprochen.
Sie ist über den Wangen am zartesten und dort bei gesunden Menschen
stets leicht geröthet, weil das Blut stärker durchschimmert. Eine
scharf umschriebene, kreisrunde helle Röthe über den Backenknochen
ist ein Zeichen der Schwindsucht und darum nicht normal.
Die Augäpfel haben mit dem 8. Lebensjahre ihre bleibende
Grösse erreicht und sind bei allen Menschen gleich gross. Der schein-
bare Unterschied hängt allein ab von der grösseren oder kleineren
Lidspalte und von der tieferen oder oberflächlichen Einbettung.
Abgesehen davon, dass dunkle Augen etwas grösser erscheinen
als helle, hängt der Eindruck der Grösse völlig ab von der Um-
gebung des Auges.
Die Augenbrauen liegen auf der Grenze zwischen Augenhöhle
und unterem Stirnrand. Da grosse Augenhöhlen ein secundäres
weibliches Geschlechtsmerkmal sind, so sind die Augenbrauen um
so schöner, je höher sie gewölbt sind. Da ferner buschige Augen-
brauen den Mann und ein höheres Lebensalter kennzeichnen, können
schmale, glatt verlaufende Augenbrauen als weiblicher Vorzug an-
gesehen werden.
Es gilt als schön, wenn die Augenbrauen zur Seite lang und
spitz auslaufen, als hässlich, wenn sie in der Mitte verwachsen sind ;
eine befriedigende Begründung dieser Auffassung lässt sich nicht
finden. Dass aber das gänzliche Fehlen der Augenbrauen als Ent-
stellung angesehen wird, beweist unter anderem der in Japan übliche
Brauch ■^), dass verheirathete Frauen zur Beruhigung ihrer eifer-
süchtigen Ehemänner nicht nur die Zähne schwarz färben, sondern
auch die Augenbrauen abscheeren müssen.
^) Ich konnte mich vor einigen Jahren in Japan selbst davon überzeugen,
dass diese Sitte mehr und mehr abnimmt.
Augen. Nase. 107
Die Augenwinkel müssen bei geschlossenen Lidern in einer
horizontalen Linie liegen , bei geöffneten Lidern steht der innere,
mit der Thränengrube rund auslaufende etwas tiefer als der äussere,
scharfe Augenwinkel. Stärkeres Höhertreten des äusseren Augen-
winkels ist eine Eigenthümlichkeit der mongolischen Rasse und
darum beim Indogermanen als ein Fehler zu bezeichnen, und zwar
ohne Unterschied des Geschlechts.
Die Stellung der Wimpern auf den Lidknorpeln muss gerade
und regelmässig sein, denn spärliche und unregelmässige Einpflan-
zung deutet auf Krankheiten, hauptsächlich auf skrofulöse Augenent-
zündung. Auch dies ist beiden Geschlechtern gemeinsam.
Zwei Aveitere Anforderungen an die Bildung des Auges können
ebenfalls als Vorzüge beider Geschlechter gelten , jedoch sind sie
anatomisch mehr im weiblichen Bau begründet.
Das ist zunächst die Grösse der Lidspalte und dann die
Bildung der Hautfalte, die sich bei geöffnetem Auge über das obere
Augenlid legt. Je höher die Augenhöhle ist, desto weniger wird
sich die Hautfalte über das Lid herabsenken, in desto weicherem
Schwünge wird sie sich nach der Schläfe zu verlieren. Eine grössere
Lidspalte lässt das Auge und damit auch die Augenhöhle grösser
erscheinen. Da nun aber die grosse Augenhöhle ein secundäres
weibliches Geschlechtsmerkmal ist, so können eine weite Lidsjjalte
und eine weich und hoch über dem oberen Augenlid ver-
laufende Hautfalte als vorwiegend weibliche Schönheiten ver-
zeichnet werden,
Fig. 42 zeigt dieselben, sowie die Gestalt der Augenbrauen in
sehr guter Form, während in Fig. 26 durch die Hautfalte das obere
Augenlid völlig verdeckt wird.
Die Form der Nase wird vorwiegend durch das knöcherne
Gerüst zusammen mit dem Nasenknorpel bestimmt. Aus dem oben
Gesagten geht hervor, dass die Form der Nase gut ist, wenn sie schmal
ist, was namentlich im schmalen und gestreckten Nasenrücken zum
Ausdruck kommt. Ob derselbe dann gerade verläuft oder geljogen,
ist eine individuelle Abweichung innerhalb der normalen Grenzen.
Von der Form des Mundes ist bereits gesagt, dass die gut
entwickelte Oberlippe derart sein muss, dass die zwei äusseren Ränder
108
Mund.
nach innen in sanfter Linie leicht ansteigen, und der mittlere, dem
Nasenlap23en entstammende Theil sich scharf absetzt (Fig. 14). Dem-
gemäss muss auch die freie Mitte der Oberlippe deutlich nach unten
herabragen. Ferner muss, bei regelmässiger Bildung, das Lippen-
roth genau bis an den gebogenen Rand der Lippe heranreichen und
Fig. 42. Weibliclier Kopf mit giiten Proportionen und gut gebautem Auge.
Nach einer Photographie von Reutlinger, Paris.
nach aussen schmäler werden. Die Unterlippe legt sich in leichtem,
in der Mitte breiter werdenden Bogen der Oberlippe an. Bei schön
geschnittenem Munde muss die Oberlippe etwas weiter vorstehen als
die Unterlippe. Während die übrigen Vorzüge beiden Geschlechtern
gemeinsam sind, ist der letztgenannte wieder ein besonderer Vorzug
des weiblichen Geschlechts, da er mit der geringeren Grösse des
Unterkiefers in ursächlichem Verband steht.
Ohr. Haarfarbe.
109
Die Breite der Munds]3alte stellt zur Lidspalte im Verhältiiiss
von 3 : 2, die Augen stehen um eine Augenbreite von einander ab,
so dass die äusseren Augenwinkel doppelt so weit von einander ent-
fernt sind als die Mundwinkel.
Das Ohr kommt im embryonalen Leben erst sehr spät zur
Entwickelung und zeigt im sjDäteren Leben ausserordentlich starke
individuelle Verschiedenheiten, welche von den Meisten kaum be-
achtet werden. Die Bildhauer der Antike kannten sie indessen
(Winkelmann) sehr genau, und in neuerer
Zeit hat Bertillon das Charakteristische des
Ohrs zur Feststellung der Person von Ver-
brechern benutzt.
Bei guter und regelmässiger Entwicke-
lung hat die Ohrmuschel nach Langer folgende
Gestaltung (Fig. 43).
Am äusseren Gehörgang stehen sich
Bock (T) und Gegenbock (Ät) von ungefähr
gleicher Grösse gegenüber, ebenso am oberen
Theil der Ohrmuschel Leiste {H) und Gegen-
leiste (^4). Die Leiste umkreist den äusseren
Rand des Ohres in langer Linie, die Gegen-
leiste erhebt sich in der Mitte höher und
spaltet sich nach vorn, während sie nach hin-
ten sich, flacher werdend, mit der Leiste ver-
einigt und in den Gegenbock ausläuft. Das Ohrläppchen endigt frei.
Ein namentlich beim weiblichen Ohr störender Fehler ist zu
starke Entwickelung und Grösse der Ohrmuschel.
Da die Stellung des äusseren Gehörgangs, der mit der Gehirnbasis
stets gleich hoch steht, fest bestimmt ist, so ist es namentlich zu starke
Entwickelung des oberen Theils der freien Ohrmuschel, die entstellt.
Bei gerader Stellung des Kopfes muss der äussere Gehörgang
ungefähr in derselben Höhe liegen wie der obere Rand des Nasen-
flügels , und der obere Rand der Ohrmuschel nicht höher als der
obere Rand der Augenhöhle.
Es erübrigt noch, die Farbe der Haare, der Augenbrauen und
der Augen zu besprechen.
Fig. 43. ScliöngelDildetes
Ohr nach Langer.
TBock (Tragus), At Gegen-
hock (Antitragus), Jif Leiste
(Helix), A Gegenleiste
(Anthelix) .
110 Rumpf im allgemeinen.
Da starke Pigmentanliäufung ein gemeinscliaftliclies Merkmal
niedriger stehender Rassen ist, so kann man im allgemeinen blondes
Haupthaar als einen Vorzug betrachten, und namentlich bei der
Frau, bei der durch den schwächeren Gegensatz von blond und weiss
die Harmonie der zarteren Bildung erhöht wird.
Bei den Augenbrauen jedoch verdient die dunklere Färbung
den Vorzug, weil durch sie die Weite der Augenhöhlen noch deut-
licher hervorgehoben wird.
Die Farbe der Augen hängt ausschliesslich ab von der Ver-
theilung des Pigments; wenn dasselbe ausschliesslich hinter der
Regenbogenhaut sitzt, erscheint dieselbe blau, dringt es in sie ein,
so • erscheint sie braun bis schwarz. Demnach können wir die
Farbe der Augen nur als einen Ausdruck der Individualität be-
trachten.
1)) R II m p f.
Man unterscheidet am Rumpf von vorn die Brust (im weiteren
Sinne) und den Bauch, von hinten den Rücken. Seine Verbin-
bindungen mit Kopf und Gliedmassen sind der Hals, die Schultern
und die Hüften. So selbstverständlich diese Eintheilung auch sein
mag, so stösst man doch schon auf Schwierigkeiten bei dem blossen
Versuch, die einzelnen Theile scharf von einander abzugrenzen.
Noch schwieriger wird es, wenn man noch weitere Benennungen
einzelner Körpertheile hinzunimmt , wie Nacken , Lenden , Kreuz,
Weichen, Leisten u. s. w. Jedem Arzt fällt es auf, dass die Meisten
nur einen ganz dunklen Begriff haben , wo diese Theile eigentlich
liegen. Eine Frau z. B., die über Kreuzschmerzen klagt, bezeichnet
fast immer die Lenden als die empfindliche Stelle; — sie weiss beim
Ochsenfleisch den Ziemer vom Filet vortrefflich zu unterscheiden,
dürfte aber kaum im Stande sein, die Lage der entsprechenden Theile
am eigenen Körjjer anzugeben. Jedoch sind selbst Männer vom Fach
nicht im Stande, alle einzelnen Theile des Rumpfes mit unfehlbarer
Sicherheit von einander zu scheiden.
Dies hat seinen Grund darin, dass feste, unverwischbare Grenzen
Rumpf als Ganzes. Hl
überliaupt niclit bestehen und die Uebergänge sieb, allmählig in
einander verlieren ^).
Wir tbun deshalb gut, erst den Aufbau des Rumpfes als Ganzes
und dann seine einzelnen Theile in ihrer mehr oder weniger scharfen
Abgrenzung zu besprechen.
Der Rumpf als Granzes.
Vom Kopf unterscheidet sich der Rumpf dadurch, dass bei
ihm die weichen Theile bei der Bestimmung der äusseren Formen
eine viel grössere Rolle spielen.
Das Skelet des Rumpfes wird gebildet durch die Wirbelsäule,
den Brustkorb, den Schultergürtel und das Becken.
Das Verhältnis des Skelets zur Körperoberfläche ist ersichtlich
aus den Figuren 31 — 34, die zugleich die secundären Geschlechts-
charaktere desselben deutlich machen.
Die Wirbelsäule muss bei symmetrischer Stellung völlig gerade
verlaufen. Abweichungen davon deuten auf Rhachitis, ungleich-
massige Entwickelung, Tuberculose und Lungenkrankheiten.
Von der senkrechten Richtung überzeugt man sich in zweifel-
haften Fällen, indem man bei nach vorn gebeugtem Oberkörper
auf der Rückseite die Dornfortsätze der Wirbel durch die Haut
abtastet und mit schwarzer Farbe bezeichnet. Die so bezeichneten
Punkte müssen in einer geraden Linie liegen. Noch einfacher ist es,
den Dornfortsatz des siebenten Halswirbels, der im Nacken am
stärksten vorspringt, aufzusuchen und von ihm aus ein Senkloth
herabhängen zu lassen, welches bei gutem Bau genau in der Spalte
zwischen den Hinterbacken liegen muss. Die Länge der Wirbel-
säule, welcher der Abstand vom unteren Nasenrande bis zum oberen
Rand der vorderen Beckenverbindung entspricht, ist ein constantes
Mass, das Fritsch, Carus und Schmidt als Modulus zur Bestimmung
der Proportionen benutzt haben, wie oben ausgeführt wurde.
Ebenso ist bereits erwähnt, dass in der seitlichen Ansicht die
Wirbelsäule der Frau im Lendentheil stärker eingebogen ist als
beim Manne (vgl. Fig. 35).
Vgl. Merkel, Topographische Anatomie, II, p. 180 ff.
112
Rumpf als Ganzes.
Der Brustkorb besteht aus den Rippen, dem Brustbein und
dem Brusttlieil der Wirbelsäule.
Bei guter Ausbildung muss derselbe kräftig gebaut sein, so
dass die Rippen am Rücken fast horizontal, an der Brustseite nur
wenig nach abwärts verlaufen.
Von seiner Breite und Tiefe
hängt im wesentlichen die Form
der Brust ab , wie wir weiter
unten sehen werden.
Bei der Frau ist der Brust-
korb im allgemeinen schmäler
und länger als beim Manne ;
jedoch muss er stets so gebaut
sein, dass der Winkel, den der
untere Rippenrand bildet, wenig
kleiner ist als ein rechter.
Grösser ist er bei dem
fassförmigen Thorax asthmati-
scher Personen, kleiner, oft sehr
viel kleiner bei Personen mit
schwindsüchtiger Gestaltung und
bei Verunstaltung durch zu star-
kes Schnüren.
Oben wurden bereits die
dadurch hervorgerufenen Ent-
stellungen des Rumpfes im Bilde
vorgeführt; hier sei die Ent-
stellung des Skelets durch ein
weiteres Beispiel verdeutlicht
(Fig. 44), hier ist zwischen den
freien Rippen beider Seiten nur
ein schmaler Spalt mit sehr
spitzem Winkel vorhanden. Ein vergleichender Blick auf Fig. 32
genügt, um den Unterschied zu erkennen.
Der Schultergürtel ist mit dem Brustkorb nur in der Kehl-
srrube durch die Gelenke der beiden Schlüsselbeine verbunden. Diese
Fig. 44. Rumpfskelet eines 25jälirigeii
Mädchens, durcli Sclmüi'en verunstaltet
(nach Rüdinger).
Rumpf als Ganzes. 113
sowie das Brustbein sind die einzigen Knochen, die in ihrer ganzen
Länge dicht unter der Haut liegen.
Am unteren Ende ist die Wirbelsäule durch das Kreuzbein mit
dem Becken verbunden. Das Kreuzbein ist bei der Frau breiter und
kürzer als beim Manne; welchen Einfluss dies auf die Gestaltung
der Rückenoberfläche ausübt, werden wir später sehen.
Beim weiblichen Becken sind wichtige secundäre Geschlechts-
charaktere zu verzeichnen. Es ist geräumiger, der Schambogen ist
stumpfer, die Beckenschaufeln flacher und breiter ausladend als beim
Manne. Dadurch überwiegt im Skelet die Beckengegend beim Weibe
weitaus über den Brustkorb, während die grösste Schulterbreite die
grösste Beckenbreite bei der Frau nur sehr wenig, beim Manne
jedoch bedeutend übertrifft.
Vom Becken liegen die Kämme der Darmschaufeln jederseits
dicht unter der Haut.
Die tastbaren Knochen des Bumpfskelets geben uns einen ge-
wissen Anhaltspunkt zur Bestimmung der Grenzen einzelner seiner
Gegenden.
Der Schlüsselbeinrand bildet die Grenze zwischen ^Hals und
Brust, der untere Rippenrand zwischen Brust und Bauch, der Kamm
der Darmschaufeln zwischen Bauch und Hüften. Während wir am
- Skelet die Schulterknochen , die Lendenwirbelsäule und das Kreuz
scharf umschreiben können, werden diese Grenzen durch die be-
deckenden Weichtheile am lebenden Körper wieder stark verwischt.
Immerhin aber haben wir durch die Kenntniss des Skelets eine Reihe
von Anhaltspunkten bekommen, die uns zum Verständniss und zur
Beurtheilung der äusseren Formen unerlässlich sind.
Ausser dem Knochengerüst sind es zunächst die Muskeln und
dann das Fettpolster der Haut, die die Formen des Rumpfes be-
stimmen.
Fig. 45 zeigt die Rumpfmuskulatur des weiblichen Torso in
der Ansicht von vorn.
Bei der allgemeinen Betrachtung fällt auf, dass sich die ober-
flächlichen Muskeln des Rumpfes in drei grössere Gruppen theilen.
Zunächst diejenigen, die zusammen den vorderen und seitlichen Ab-
schluss der Bauchhöhle bewerkstelligen, dann diejenigen, die von
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 8
114 Rumpf als Ganzes.
vorn und hinten, von oben und unten nach der Scliulter hinziehen,
und endlich die Muskehi der Hüften.
Fig. 45. Muskulatur des weiblichen Torso von vorn.
Von diesen drei Gruppen biklet die erste die Verbindung
zwischen Brustkorb und Beckenwand.
Während die zweite alle scharfen Ecken und Kanten zwischen
Rumpf als Ganzes.
115
Schultern, Brust und Rücken verbindet und ausfüllt und die Umrisse
des Rumjjfes in die oberen Gliedmassen in weicben Linien binüber-
Fig. 46. Muskulatui des weibliclieu Rückens.
leitet, sind die Hüftmuskeln seitlich und hinten durch die Kämme
der Beckenschaufeln, vorn durch das Leistenband scharf von dem
übrigen Rumpfe geschieden.
116
Rumpfmuskeln.
Die Muskeln sind bei beiden Gesclilechtern dieselben, jedoch
scbwäclier bei der Frau. Schlechte Entwickelung derselben kann
den weiblichen ebenso gut wie den männlichen Körper entstellen.
Bei krankhaften Störungen der gleichmässigen Entwickelung der
Fig. 47. RüokansicM von Mann und Frau nacli Riclier zur Vergleicliuug der Vertlieiluuj
des Fettpolsters,
o o o o o starke Anhäufung von Fett.
Muskeln sind es, wie oben erwähnt, namentlich die Schulter- und
Hüftmuskeln, die zuerst angegriffen werden. Bei guter Ernährung
müssen auch bei der Frau trotz des reichlichen Fettpolsters die
Muskelbäuche deutlich erkennbar sein. Abgesehen davon, dass das-
selbe bei ihr im allgemeinen reichlicher ist als beim Manne , sind
Brust. 117
es namentlicli die Nabelgegend, Hüften und die unteren Parthien
des Rückens (Fig. 47) , die eine kräftigere und charakteristische
Vertheilung des Fettes bei der Frau besitzen. Diese und andere
Einzelheiten werden noch weiter besprochen werden.
Bei der Betrachtung des Rumpfes als Ganzes haben wir somit
hauptsächlich zu achten auf gleichmässige und symmetrische Ent-
wickelung des Skelets, soweit dasselbe dem Auge und der Messung
zugänglich ist, Ueberwiegen der Bauch- und Beckengegend im Ver-
hältniss zum Oberkörper, nach den oben aufgestellten Gesetzen der
Proportionslehre, und auf den Einfluss des Schnürens.
Als Muster eines gut entwickelten weiblichen Torso kann
Tafel 11 gelten.
Die einzelnen Theile des Rumpfes.
B r u s t.
Die Brust im weiteren Sinne ist derjenige Theil des Rumpfes,
der von oben durch die Schlüsselbeine, von unten durch den unteren
Rippenrand begrenzt wird. Beim Weibe erhält er sein besonderes
Gepräge in den beiden durch die wachsenden Milchdrüsen ver-
ursachten Hervorwölbungen, die Brüste im engeren Sinne, das
schönste der secundären weiblichen Geschlechtsmerkmale.
Aus ihrer Beschaffenheit kann man wichtige Rückschlüsse nicht
nur auf die Brust, sondern auch auf den Körper im allgemeinen
machen.
Die Grundlage der Brust bildet der Brustkorb; auf sein
Verhältniss zu den übrigen Theilen des Skelets ist bereits hinge-
wiesen.
Wir können an einen normal gebauten Brustkorb die folgenden
Bedingungen stellen, deren Nichterfüllung anatomische Fehler sind.
1. Die Brustwirbelsäule muss, von vorn gesehen, völlig gerade
in der Mittellinie des Körpers verlaufen; im Profil bildet sie einen
leichten, nach hinten convexen Bogen in ihrer oberen Hälfte.
2. Die Rippen verlaufen symmetrisch in einem gleich-
massigen Bogen , liegen hinten beinahe horizontal , senken sich
etwas stärker in der Seite, liegen wieder horizontal in der Linie
118 Brustkorb.
der Brustwarze und steigen von da unmerklicli ohne Knickung gegen
das Brustbein an.
3. Das Brustbein liegt etwas tiefer als die vordersten Punkte
der Rippen, schliesst sich aber deren Wölbung überall gleichmässig
an. Der Winkel zwischen Handgriff und Körper, in der Höhe der
2. Rippe (Augulus Ludovisi), darf nicht scharf hervortreten.
4. Die gemeinschaftliche Wölbung des Brustkorbes ist in
seinen höheren Parthien (bis zur 4. Rippe) nach oben gerichtet, in
den mittleren (bis zur 8. Rippe) nach vorn, und erst in den untersten
Parthien (bis zur 12. Rippe) etwas nach abwärts. Die Wölbung
muss eine ganz gleichmässige sein, im Profil sowie in der Ansicht
en face.
5. Der untere Rippenrand bildet in der Herzgrube einen
Winkel von beinahe 90 °.
Als gemeinschaftliche Folge dieser Eigenschaften kommt hin-
zu, dass sich die Schlüsselbeine und die Schulterblätter in guter
Wölbung dem Brustkorb glatt anlegen.
Die häufigsten Ursachen, die fehlerhafte Bildung veranlassen,
sind die Rhachitis, die Anlage zur Schwindsucht und das Schnüren.
Rhachitis veranlasst Verkrümmungen der Wirbelsäule und
dadurch unsymmetrische Entwickelung , ungleichmässige Wölbung
der Rippen, die bei ihrer Weichheit durch Zug und Druck ver-
unstaltet werden, Knickung des Brustbeins zwischen Griff und
Körper (Hühnerbrust), Auftreibung der Rippenenden , wodurch eine
Verdickung und starke Knickung des Brustkorbs innerhalb der
Brustwarzenlinien entsteht. Durch die stärkere Knickung der Rippen
wird der Brustkorb im ganzen flacher und breiter, namentlich in
seiner oberen Wölbung, seine unteren Parthien fallen stärker ab.
Die Anlage zur Schwindsucht ist gekennzeichnet durch
einen langen und schmalen Brustkorb. Mit dem gesunden verglichen
zeigt der schwindsüchtige Brustkorb demnach weiter von einander
abstehende Rippen, die in ihrem ganzen Verlauf stärker nach unten
ziehen, wodurch wiederum eine geringere Wölbung der oberen Par-
thien und eine zu geringe Ausdehnung in die Breite veranlasst wird.
Dies hat zur Folge, dass die Schlüsselbeine stärker gekrümmt sind,
weiter vorspringen und ebenso wie die Schulterblätter hervortreten.
Brustmuskeln. 119
Unter den Schlüsselbeinen bilden sieb dann tiefere Gruben. Der
untere Rippenrand bildet einen sebr viel spitzeren Winkel.
Durch das Schnüren wird der Brustkorb in seinen unteren
Parthien stark verengert, die Wölbung wird geringer und nament-
lich sehr verschärft in den mittleren Parthien, so dass von der
4. Rippe ab die Wölbung statt nach vorn, mehr nach unten hin
steht. Der untere Rippenrand ist ein spitzer Winkel.
Alle diese drei Ursachen , am stärksten allerdings die letzte,
haben die Verunstaltung veranlasst, die Fig. 44 deutlich zeigt.
Lungenkrankheiten, namentlich Brustfellentzündungen in jugend-
lichem Alter können durch Verwachsungen einen Theil des Brust-
korbs sehr wesentlich in seiner Entwickelung beeinflussen. Es finden
sich dann an der früher erkrankten Stelle Einziehungen oder Auf-
treibungen, die die Symmetrie stören.
Am lebenden Weibe können wir den Brustkorb nur durch die
weichen Theile hindurch fühlen. Ob er gut gebaut ist, können wir
beurtheilen aus dem gleichmässigen Heben und Senken beim Athmen,
dann aber aus der Form der Weichtheile, die durch den Bau des
Brustkorbs beeinflusst ist.
Von grösseren Weichtheilen sind es namentlich die grossen
Brustmuskeln (Pectoralis major), welche die Form der Brust be-
einflussen (Fig. 45). Ihre Bündel entsjDringen an der ganzen Vorder-
fläche der Brust vom unteren Rippenrand, dem Brustbeinrand und
der unteren Fläche des Schlüsselbeins- und vereinigen sich zu einem
kräftigen Muskelbauch, dessen Sehne sich am Knochen des Ober-
arms ansetzt. Der untere Rand dieses Muskels bildet die vordere
Begrenzung der Achselhöhle, die demnach beim Senken des Armes
sich vertieft, beim Heben verstreicht. Je kräftiger er ist, desto
stärker wird diese Grenzlinie hervortreten, und desto gleichmässiger
wird die obere Wölbung der Brust in die Schulter übergehen.
Ist der Muskel schlecht entwickelt, dann treten die Schultern
vor, und es entsteht eine tiefe Einsenkung zwischen Schulter und
Brust unterhalb des Schlüsselbeins bis in die Achsel (vgl. Fig. 21).
Auf den grossen Brustmuskeln, den äusseren Rand derselben
nur wenig überragend, liegen die Brüste (vgl. Fig. 45) in der
Höhe der 3. — 6. Rippe.
120 Brüste.
Aus diesem Verliältniss geht hervor, dass der Brustkorb sowie
der Brustmuskel einen sehr wesentlichen Einfiuss auf die Form der
Brust im engeren Sinne haben müssen.
Bevor wir uns jedoch mit den Brüsten beschäftigen, müssen
wir noch die Verhältnisse der Haut in kurzem berücksichtigen.
Die Haut ist in der Gegend der Brustwarzen besonders zart
und dünn; in der Mitte nach dem Brustbein zu wird sie etwas
dicker und heftet sich der knöchernen Unterlage, der sie hier un-
mittelbar aufliegt, fest an. Nach den Achseln zu wird sie eben-
falls dicker, liegt dem unter ihr liegenden Brustmuskel am unteren
Rande wieder etwas fester an , zugleich aber entwickelt sich hier
eine mächtigere Fettlage, die die Achselhöhle auspolstert, sich
zwischen Brustmuskel und Brustkorb hineinschiebt und sich am
unteren Rande des Muskels nach vorn zu allmälig verliert.
Zwischen Haut und Muskel liegt über der 4. Rippe, unter der
Brustwarze, beim Kinde die Anlage der Milchdrüse, die beim
Knaben nicht zur Entwickelung kommt, beim Mädchen aber etwa
vom zehnten Jahre an zu wachsen beginnt, und schliesslich den
Raum von der 3. bis zur 6. Rippe einnimmt.
Die Milchdrüse bildet anfänglich einen flachen scheibenförmigen
Körper, dessen Ausführungsgänge nach den Brustwarzen ziehen.
Diese sind mit ihrer Axe nach aussen gerichtet. Später entstehen
zwei halbkugelige Erhabenheiten, die zunächst dem grossen Brust-
muskel in ihrem ganzen Umfang aufliegen. Je grösser die Drüsen
werden, desto mehr spannen sie die Haut in ihrer Umgebung und
schieben sich zwischen diese und die darunterliegenden Theile hin-
ein. Da nun aber die Haut bei guter Entwickelung am Brustbein
fest anhaftet, so wird die losere Haut aus der Achselgegend stärker
herangezogen, während über dem Brustbein zwischen den wachsen-
den Brüsten eine leichte Vertiefung, der Busen, bestehen bleibt.
Zugleich drehen sich dann die Axen der Brustwarzen etwas mehr
nach vorn.
Im Stadium der ersten Reife wölbt sich der wachsende Drüsen-
körper etwas über den äusseren Rand des Brustmuskels vor (Fig. 45),
so dass die halbkugelige Brust sich in leichtem Winkel von der
Hautfalte abhebt, welche, den Brustmuskel in sich fassend, die
Brüste.
121
vordere Aclisel-
höhle abschliesst
(Fig. 48, vgl. auch
Fig. 5).
Um die wach-
sende Drüse ver-
grössert sich stets
auch mehr oder
weniger das Fett-
polster , welches
die Grestalt der
Drüse mehr ab-
rundet und die
Uebergänge zu
den umliegenden
Theilen weicher
macht. Je kräf-
tiger die Drüse .
entwickelt ist, desto praller und här-
ter ist die Brust, während bei stär-
kerer Entwickelung des Fettpolsters
die Brust grösser und weicher wird.
Je fester das elastische ünter-
hautbindegewebe gefügt ist, desto
schwieriger wird daselbst Fett ab-
gelagert, und darum ist eine vorwie-
gend aus Drüsensubstanz bestehende
Brust meist gepaart mit praller, elasti-
scher Haut ; aus demselben Grunde aber
ist sie mit der Haut sowohl als mit
dem darunter liegenden Brustmuskel viel fester und inniger verbunden.
Durch die Elasticität der Haut und die feste Anheftung wird
zugleich die wachsende Brust am Herabziehen verhindert, und wird
eine scheibenförmige bis halbkugelige Hervorragung bilden, die bei
gleichmässiger Spannung der Haut sich überall in weichen Linien
aus der Umgebung erhebt.
Fiy. 4.S. ilj-Uiri«es Jlüilrlieu
mit guter Absetzung der Brust gegen
die vordere Acliselgrenze (recMs).
(Oesterreicherin.)
122 Brüste.
Neigimg zu Fettansatz aber geht meist gepaart mit geringerer
Bindegewebsausbilduug und geringerer Elasticität der Haut. Dem-
nacli werden vorwiegend aus Fett bestehende Brüste schlaffer sein,
sich senken und tiefer stehen , und eher an ihrem unteren Rande
die Haut in einer Falte abheben, als bei ersterwähnter Be-
schaffenheit.
Der naturwissenschaftliche Werth der Brust hängt aber ab
von der Entwickelung des Drüsenkörpers, demnach können wir von
diesem Standpunkt aus verlangen, dass die Brust hart und prall,
nicht zu gross, scheibenförmig bis halbkugelförmig sei,
dass sie ihrer Unterlage sowie der Haut gut anhaftet,
dass sie zwischen der 3. und 6. Rippe, die Warze nicht
tiefer als die 4. Rippe, steht und dass sich unter der
Brust keine Hautfalte bildet.
Ausserdem muss die Warze gut und gleichmässig ent-
wickelt sein und etwas über den Warzenhof empor-
ragen.
Der Messung zugänglich ist der jeweilige Abstand der
Brustwarze n. Derselbe darf bei gut entwickelten Brüsten
nicht kleiner sein als 20 cm.
Denselben Standpunkt hat aber auch die Kunst, voran die
griechische, stets eingenommen, und so deckt sich auch hier wieder
das Normale mit dem Schönen.
Da wir mit dem Tiefstehen der Brüste den Begriff des
Hängens verbinden, so halten wir einen hohen Ansatz derselben
für schön.
Diese Auffassung ist naturwissenschaftlich begründet, da bei
gut gewölbtem Brustkorb die Rippen enger an einander stehen und
horizontaler verlaufen, wodurch der obere Theil des Brustkorbs dem
Ansatz der Brüste eine breitere Fläche bietet, welche durch einen
kräftig entwickelten Brustmuskel noch erweitert und abgerundet
wird. So wird gegenseitig hoher Brustansatz und gute Entwicke-
lung des Brustkorbs und Brustmuskels bedingt.
Am schwindsüchtigen Brustkorb stehen die Brüste an und für
sich tiefer, da die Rippen alle, und demnach auch die der Warze
entsprechende 4. , schräg nach abwärts verlaufen und weiter aus
Brüste.
123
einander stehen. Ausserdem aber folgen die Brüste dem Gesetze der
Schwere um so eher, als der Brustkorb mehr abschüssig und die
Gewebe schlaff sind. Aus demselben Grunde bildet sich unter ihnen
eine Hautfalte (vgl. Venus von Botticelli, Fig. 6).
Fig. 49. Gut gebaute Brust.
Als Beispiel für eine gut gebaute Brust diene Fig. 49.
Der Brustkorb ist gut und gleichmässig gewölbt, die Schlüssel-
beine springen nicht vor, unter ihnen wölbt sich die Brust gleich-
mässig mit breiter oberer Fläche, ohne dass die Rippen sichtbar
sind. Die kräftige Entwickelung des Brustmuskels ist ausser der
gleichmässigen Wölbung an der guten Ausprägung der vorderen im
Arm sich verlierenden Achsellinie erkennbar. Die Brüste sind halb-
124 Brüste.
kugelig, hock angesetzt, liegen dem Brustmuskel zum grössten Tlieil
auf, bilden keine Hautfalte. Dass sie mit der Unterlage verwachsen
sind, ist ersichtlich, aus der rechten Brust, die mit dem rechten ge-
hobenen Brustmuskel zusammen emporsteigt. Der untere Rippen-
rand bildet in der Herzgrube einen rechten Winkel.
Dasselbe Verhältniss zeigt Tafel H bei kleineren Brüsten und
Fig. 27 bei etwas schwächerer Entwickelung des Muskels und
stärkerem Fettansatz.
Als Beispiel für eine schlecht gebaute Brust dient Fig. 50, das
den schwindsüchtigen Typus repräsentirt.
Der Brustkorb ist flach, schmal und wenig gewölbt, die
Schlüsselbeine und die Schultern treten stark hervor. Die 2. und
der Ansatz der 3. Rippe ist rechts bei der seitlichen Beleuchtung
deutlich sichtbar. Der Brustmuskel ist schwach entwickelt, so dass
die vordere Achsellinie kaum hervortritt. Die Brüste sind gesunken
und haben die Brusthaut mit herabgezogen , wodurch eine schräge
Linie vom Brustbein nach aussen entstanden ist, die unter der Brust
in eine Hautfalte ausläuft. Die Brustwarze steht zwischen der 5.
und 6. Rippe.
Wenn man trotz aller dieser Fehler der Grestalt einen gewissen
jugendlichen Liebreiz nicht absprechen kann , so erinnere ich nur
wieder an die Venus des Sandro Botticelli, die denselben Typus
repräsentirt. Auch das Krankhafte kann seinen Reiz haben, aber
schön ist es nicht.
Wir haben gezeigt, dass die Beschaffenheit der Brüste ausser
vom Drüsenkörper selbst abhängig ist von der Form des Brustkorbs,
der Stärke der Muskeln und der Elasticität der Haut, und dass ein
Fehler bei einem dieser Elemente auch stets eine Entstellung der
Brüste zur Folge hat.
Ueber den Brustkorb und die [Muskulatur ist bereits ge-
sprochen, die Elasticität der Haut jedoch ist nur beiläufig erwähnt,
insofern als mit geringerer Elasticität grössere Neigung zur Fett-
bildung gepaart geht.
Ausserdem aber kann Verringerung der Elasticität die ursprüng-
lich schöne Form der Brüste vorübergehend oder auch dauernd ent-
stellen. Verringerung der Elasticität tritt ein, wenn auf stärkere
Brüste.
125
Anspaimimg Erschlaffung erfolgt, oder wenn die Grenze der Dehn-
barkeit überschritten ist. Der erste Fall findet sich bei starker Ab-
Fig. 50. Schleclit a-ebaute Brust.
magerung und bei Schwangerschaft, der letzte bei Neigung zum
Fettansatz.
Starke Abmagerung als Folge acuter Krankheiten oder an-
126 Brüste.
strengender Lebensweise kann leiclit durcli Ruhe und gute Kost
wieder verschwinden, auch die durch die Schwangerschaft ver-
ursachte zeitweise Füllung der Brüste kann verschwinden, ohne eine
bleibende Entstellung zu hinterlassen, und zwar geschieht dies bei
richtiger Behandlung viel häufiger, als im allgemeinen angenommen
wird. Eine meiner Patientinnen, die sechsmal geboren hatte,
zeigte weder an den Brüsten noch sonst an irgend einem Theil
ihres Körpers die geringsten Spuren der überstandenen Schwanger-
schaften.
Neigung zu Fettansatz hingegen verdirbt die Form der Brüste
meist dauernd, und zwar um so eher, wenn er mit unzweckmässiger
Ernährung gejDaart geht.
Es ist dies ein Fehler, der die Brüste von weitaus den meisten
Künstlermodellen in sehr kurzer Zeit unbrauchbar macht.
Diese meist der ärmeren Klasse angehörigen Mädchen wachsen
bei mangelnder Fleischkost in spärlichen Körperverhältnissen heran,
wobei dann zur Zeit der Reife durch stärkere Fettablagerung eine
gewisse Fülle der Formen entsteht, die bei mangelnder Elasticität
der Haut nur von äusserst kurzer Dauer ist.
Fig. 51 zeigt eine derartige vergängliche Schönheit. Die Ge-
stalt zeigt gedrungene, aber gefällige Formen; jedoch deren Run-
dung ist nicht durch kräftige Muskeln bedingt, sondern durch den
Fettansatz der jugendlichen Reife. Die Brüste sind rund, gut ge-
füllt und prall; jedoch fehlt die gute Ausprägung der vorderen
Achselgrenze, der Beweis des Vorhandenseins eines kräftigen Brust-
muskels.
Die schräge Linie, die vom Brustbein nach aussen unten ver-
läuft und die rechte Brust vom Busen scheidet, beweist, dass die
Brust durch ihre Schwere die Haut bereits herabgezogen hat. Bei
der geringsten Vermehrung des Gewichts wird die untere Begrenzung
der Brüste zur Falte, und dasselbe tritt ein, wenn die jugendliche
Fülle durch anstrengende Lebensweise oder nach Schwangerschaft
verschwindet. Die höchste Blüthe ist erreicht, vielleicht schon über-
schritten, so oder so muss sie vergehen; beaute du diable.
Sehr hübsch und sehr wahr ist die Anekdote, die, wie ich
glaube, von Cabanel erzählt wird. Er hatte ein sehr schönes Mäd-
Brüste.
127
clien für schweres Greld als Modell angenommen unter der Be-
dingmig, dass sie ein streng eingezogenes Leben führe.
Fig. 51. Vollentwickelte Brust einer beaute du diable (Bölimin).
Eines Tages fand er sie verändert und schickte sie weg. Die
Nacht vorher war das Mädchen zum ersten Mal von der vorge-
schriebenen Lebensweise abgewichen.
Fig. 51 kann zugleich als Vorbild dienen für die oben auf-
128 Bauch.
gestellte Behauptung, dass die BescliafFenheit der Brüste eines der
besten Kriterien ist zur Bestimmung der höclisten Blüthe einer Frau.
Im allgemeinen kann man sagen, dass jede Verminderung einer
einmal erreichten Fülle den Körper nachtheilig beeinflusst, und dass
die Brüste derjenige Körpertheil sind, an dem auch die geringste
Abmagerung am ersten und deutlichsten sichtbar wird.
Vor der höchsten Blüthe tritt eine stetige Zunahme in der
Rundung der Formen ein. Nach derselben tritt Abmagerung ein
oder eine mit Ueberspannung der Haut einhergehende UeberfüUe.
Während der höchsten Blüthe muss demnach die Form der
Brüste derart sein, dass die geringste Vermehrung oder Verminderung
ihres Umfangs die Form beeinträchtigt.
Beide Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass der obere Theil
der Brüste sich abflacht, während der untere Theil sich stärker
rundet, wobei zugleich die Axe der Brustwarze mehr nach oben
gerichtet wird.
Aus alledem geht weiter hervor, dass die höchste Blüthe um
so länger dauert, je mehr die Form der Brust durch den Drüsen-
körper und bindegewebige Elemente gebildet wird, um so kürzer,
je mehr sie ihre Form dem Fettpolster zu verdanken hat.
Am dauerhaftesten sind kleine , flache , hochangesetzte Brüste
mit schön gewölbtem Brustkorb und kräftig entwickeltem Muskel.
Das Lebensalter hat |wenig mit der Schönheit der Brust zu
machen; ich habe ein Mädchen von 15 Jahren mit hängenden
Brüsten gesehen, und eine Dame von 60, die, dank dem kalten
Wasser und körperlichen Uebungen, trotz mehrfacher Greburten die
vollendet schöne Form ihrer Brüste bewahrt hatte.
Bauch.
Der Bauch wird von oben durch den unteren RijDpenrand, von
unten durch die Kämme der Darmbeinschaufeln und die Leisten-
bänder begrenzt. Seine Form hängt im wesentlichen ab von seiner
muskulösen Bedeckung und von der Form der oberen und unteren
knöchernen Grrenze.
Die für den unteren Rippenrand bereits genannten Bedingungen
Meiseniaoli HiffarEh. & Co.,Mmolwn.
BÖHMISCHES MÄDCHEN
Pliotographie Tiach. dem. LeTDan
Becken.
129
gelten auch, für die Plastik des Bauches. Der Brustkorb muss eine
gieichmässig gewölbte untere Grenze haben , die am Brustbein in
einem nahezu rechten Winkel zusammenstösst, um den Bauchmuskeln
eine breite Anheftungsfläche zu bieten.
Das Becken (vgl. Fig. 32) liegt grösstentheils im Inneren des
Körpers verborgen; dicht unter die Haut treten nur die Darnibein-
kämme und die Vereinigung der Schambeine.
Bei normal gebautem Becken des Weibes muss der grösste
Fig. 52. Weibliches Becken.
CC KammiDreite (Cristae), SS Dornbreite (Spinae), TT Hüftenbreite (Trocliantereu),
X X Scliambeinvereinigung.
Abstand der Darmbeinkämme (Cristae) mindestens 28 cm be-
tragen, während ihre vordersten Enden, die Dornen (Spinae), min-
destens 26 cm von einander abstehen müssen. Noch wichtiger als
die Masse selbst ist der jeweilige Unterschied, der durchschnittlich.
3 cm, nie weniger als 2 cm betragen soll.
Ein drittes Breitenmass ist der Abstand der Hüften an dem
Oberschenkelknorren (Trocbanteren) ; dieser muss mindestens
31 betragen, also 2 — 3 cm mehr als der Kammabstand (Fig. 52).
Der Unterschied in diesen drei Massen lässt Rückschlüsse zu
auf die Grestaltung des Beckenkanals und ist deshalb von grosser
Wichtigkeit für den Geburtshelfer.
Je grösser die Masse und je grösser der Unterschied derselben
Stratz, Die Scliönlieit des weiblichen Körpers. 9
130 Becken.
unter einander, desto besser gewölbt ist das Becken und desto ge-
räumiger seine Höhle. Die normalen, durcb zahlreiche Messungen
festgestellten Durchschnittsmasse sind: Dornbreite 26, Kammbreite 29,
Hüftbreite 31,5 (Differenz 3 und 2,5 cm).
Das breite Becken ist ein naturwissenschaftlicher Beweis für
die Tüchtigkeit der Besitzerin zur Fortpflanzung, also das wichtigste
secundäre Greschlechtsmerkmal. Zugleich aber wird es vom künst-
lerischen Standpunkt als Schönheit angesehen. Also auch hier wie-
der ein sprechender Beweis, dass das Normale und das Schöne oft
unbewusst denselben Gesetzen gehorchen müssen.
Je geringer die Wölbung der Beckenschaufeln ist, desto mehr
müssen die Dornen nach aussen treten , bis sie schliesslich ebenso
weit abstehen als die Kämme in ihrer grössten Entfernung, ja es
kann sogar vorkommen, dass die Dornen den mittleren Abstand der
Kämme in der Breite überschreiten. Die Erfahrung hat gelehrt,
dass dann auch die Beckenhöhle stark verengert wird, und dass der-
artige Fehler in der Entwickelung des Beckens in weitaus den
meisten Fällen auf Rhachitis beruhen.
Hand in Hand mit der geringeren Wölbung der Beckenschaufeln
geht aber eine geringere Wölbung der von ihr entspringenden mus-
kulösen Bauchwand; diese hat bei dem geringeren Umfang der
knöchernen Basis eine grössere Last zu tragen und wenn sie ihrer
Aufgabe nicht gewachsen ist, sinkt sie nach unten, es entsteht ein
Hängebauch.
Die Vereinigung der Schambeine liegt hinter dem Schamberg,
so dass ihre obere Grrenze etwa mit der Grenze der Schamhaare
nach oben, zusammenfällt. Bei aufrechter Stellung liegt ihr vor-
derster Punkt ungefähr in derselben senkrechten Fläche wie die
Dornen (vgl. Fig. 35). Von hier zieht gegen die Dornen zu jeder-
seits das Leistenband, das, mit den Knochen fest verbunden, die
untere Grenze des Bauches bestimmt.
Die vordere Bauchwand besteht ausschliesslich aus Muskeln
und Haut.
Von den Muskeln sind die wichtigsten die geraden Bauch-
muskeln (Fig. 45), die von der Mitte des unteren Rippenrandes zu
den Schambeinen herabsteigen. Wenn sie gut entwickelt sind, müssen
Bauch. 131
sich reclits und links von ihnen zwei Furchen erkennen lassen.
Fehlen derselben ist ein Zeichen ungenügender Entwickelung.
Die übrigen Bauchmuskeln liegen seitlich über den Kämmen
und bilden die Weichen, die nach hinten in die Lenden über-
gehen; auch sie müssen gut ausgeprägt sein, da sie die gute Span-
nung des Bauches in die Quere bedingen.
Fig. 45 zeigt die Lage der Muskeln, welche bei guter Ent-
wickelung ebenso viele Hervorwölbungen auf der Bauchfläche, zwei
mittlere längere und zwei kürzere seitliche, zum Gesetze machen.
Einigermassen wird diese Gestaltung beeinflusst durch die Vertheilung
des Fettpolsters, das bei der Frau sich in der Gegend um den Nabel
und auf dem Schamberg stärker anhäuft. Da diese Fettvertheilung
ein secundäres weibliches Geschlechtsmerkmal ist, so muss sie unter
normalen Verhältnissen deutlich ausgeprägt sein.
Wenn wir nun weiter ins Auge fassen , dass durch die von
oben und seitlich einsetzenden Muskelmassen der Unterleib abgeflacht
und zurückgedrängt werden muss, soweit er unterhalb der Muskeln
liegt (also nicht die Nabelgegend), so können wir am gut gebauten
Bauche das Folgende erkennen:
Der Bauch ist flach gewölbt; in der Mittellinie so-
wie jederseits etwa handbreit davon ziehen zwei Furchen
herab, die sich allmählig in der am stärksten und weich
sich vorwölbenden Nabelgegend verlieren, unterhalb
derselben aber wieder etwas deutlicher werden. Der
Nabel liegt in einer (durch die Fettanhäufung bedingten) tieferen
Grube. Ausserhalb der seitlichen Furchen wölben sich
die Weichen stärker hervor. Der üebergang aller dieser
Furchen und Wölbungen muss weich sein.
Zwischen Nabelgegend und Schamberg bildet der
Umriss im Profil eine leichte Wellenlinie, aus der sich
der Schamberg stärker hervorhebt (Fig. 53).
Jedes Abweichen von diesen Vorschriften ist ein Fehler, ver-
ursacht durch schlechte Ernährung, fehlerhafte Knochenbegrenzung
nach Rhachitis etc., unrichtige Fettvertheilung, nicht genügende Ent-
wickelung der weiblichen Geschlechtscharaktere , und endlich durch
das Schnüren.
132
Bauch.
Fig. 53. Wellenlinie des Rumpfes im Profil. (Aufnahme von Heid, Wien.)
Ausser den Fehlern treten aber auch deren Folgezustände
mehr und mehr hervor.
Bei schlechter Ernährung, d. h. ungenügender Fleischkost, ist
die Masse der nöthigen Nahrung grösser, die Därme werden stärker
Bauch. 133
ausgedehnt, so dass die Spannimg des Bauclies zunimmt, ohne
dass die Muskehi kräftiger werden: die Bauchwand wird dünner,
wölbt sich stark vor und ist wenig modellirt, es entsteht der
Spitzbauch.
Bei zu starkem und gleichmässig über den ganzen Bauch ver-
theiltem Fettpolster entsteht der gleichmässig runde, durch keine
Furche in seiner Gestaltlosigkeit getrübte Froschbauch. Ein gut
ausgebildetes Exemplar dieser Grattung zeigt Fig. 19.
Bei schmalem Brustkorb ist der Verlauf der Bauchwand nach
dem Becken zu verbreitet, namentlich aber die Wirkung der geraden
Bauchmuskeln bei geringerer Breite beeinträchtigt. Bei ungenügender
Wölbung des Beckens, wie sie mamentlich häufig bei Rhachitis auf-
tritt, ist durch das Nachaussentreten der Dornen ein ähnliches Ver-
hältniss geschaffen, das noch ärger wird, wenn zugleich auch ein
enger Brustkorb besteht. Die ganze Last der Baucheingeweide ruht
dann auf dem unteren Theil der an und für sich in ungünstigen
Verhältnissen verkehrenden Muskelwand , die sich mehr und mehr
nach unten vorwölbt; es entsteht ein Hängebauch.
Ein sehr wichtiges Hülfsmittel zur Erzeugung dieser Difformi-
täten ist der Missbrauch der Corsets.
Schnürt man die Mitte ein, dann verengert sich zunächst die
untere Rundung des Brustkorbs , so dass alle Muskeln an kurzer
Haftfläche liegen. Die geraden Bauchmuskeln, von deren Ent-
wickelung hauptsächlich die schöne Form des Unterleibes abhängt,
können sich nicht zusammenziehen, da die Druckfurchen mitten
über sie hinlaufen ; ihre oberen Parthien sind zur TJnthätigkeit
verurtheilt, während die unteren die ganze Last der herabgepressten
Eingeweide zu tragen haben. Seitlich werden die Weichen ein-
geschnürt, auch hier schwinden die Muskeln und das Fett sinkt
nach unten.
Eine einzige Geburt genügt, um alle diese ihrer Widerstands-
fähigkeit beraubten Elemente zeitlebens in einen schlaffen, herab-
hängenden Sack zu verwandeln, nachdem sie selbst der betroffenen
Patientin viel mehr Leiden verursacht hat, als je im Fluche nach
dem Sündenfall dem Weibe zugemuthet worden war.
Schwangerschaften unter normalen Verhältnissen hinterlassen
134 Bauch.
nur dann bleibende Spuren, wenn sie sehr zablreicli und rasch, hinter
einander auftreten. Bei geschnürtem Leibe dagegen ist die Stufen-
leiter: Wespentaille, Spitzbauch, schwere Geburt, Hängebauch, zweite
schwere Geburt, faltiger Hängebauch.
Noch rascher verliert sich die Schönheit des Bauches, wenn
während der Schwangerschaft stark geschnürt wird, dagegen wird
sie durch kräftiges Einbinden nacb der Geburt erhalten.
Die Schwangerschaftsnarben bilden sich bei genügender Elasti-
cität der Bauchdecken ganz oder docb grösstentheils zurück.
An den Leisten geht der Bauch in weichen Linien in die
Schenkel über , in der Mitte setzt er sich fort in den Schamberg.
Die leichte cjuere Einsenkung darüber ist zugleich die obere Grenze
der Schambehaarung. Höher hinauf wachsende Haare sind dem
Manne eigentbümlich und darum bei der Frau ein Fehler.
Es ist bereits früher darauf hingewiesen, dass der Laie, durch
Traditionen der bildenden Kunst veranlasst, sieb geneigt fühlt, die
Behaarung des Schamberges für unschön zu halten. Der Arzt, an
den Anblick gewöhnt, findet sie natürlicb und darum nicht hässlich
bei massiger Entwickelung. Starke Entwickelung ist ein Fehler,
weil sie an das Thierische und Männliche erinnert, und dadurch den
weiblichen Geschlechtscharakter verletzt.
In ausführlicher Weise hat Brücke ^) die Grenzlinien zwischen
Bauch und Schenkeln beim Weibe besprochen. Er unterscheidet
zwei Hauptformen; bei der einen bilden die Trennungslinien zwischen
Scham und Schenkeln einen spitzen Winkel, verlaufen steil nach
aufwärts und vereinigen sich mit der von den Dornen nach abwärts
führenden Beckenlinie, bei der zweiten bilden sie einen stumpferen
Winkel und verlaufen tiefer abwärts nach den Schenkeln zu, während
die von den Dornen absteigende Beckenlinie oberhalb in die Furche
zwischen Schamhügel und Nabelgegend ausläuft. Die erste Form
ist bedingt durch geringere Beckenneigung, hohe Darmbeinschaufeln
und näher gestellte Dornen, die zweite durch stärkere Beckenneigung,
breite Darmbeinschaufeln und weit gestellte Dornen.
Da nun eine stärkere Beckenneigung (vgl. Fig. 35) ebenso
^) Brücke, Schönheit und Fehler der menschlichen Gestalt, p. 111 ff.
Bauch.
135
wie ein breites Becken
für das weibliche Ge-
schlecht charakte-
ristisch sind, so kön-
nen wir ohne weiteres
der zweiten Form den
Vorzug geben.
Da in diesem
Falle , bei stärkerer
Beckenneigung , die
Schamspalte ebenfalls
mehr nach unten und
hinten tritt, so ergiebt
sich daraus die weitere
Folge , dass die Ge-
staltung des Bauches
um so normaler und
darum schöner ist, je
weniger in der auf-
rechten Stellung von
vorn die Schamspalte
sichtbar ist.
Ein Beispiel der
ersten Form bietet
Fig. 48, bei der das
Becken noch nicht die
volle weibliche Ent-
wickelung erreicht hat.
Eine vorzügliche Aus-
bildung der zweiten
Form zeigt Fig. 54, die
einen auch im übri-
gen völlig fehlerfreien
Rumpf aufzuweisen hat. Eine dritte, zwischen Nabel und Schamberg
etwas höher quer verlaufende Linie erwähnt Richer ^ ) als charakte-
') Anatomie artistique, p. 188.
Fig. 54. Weiblicher Körper mit scliönen G-renzlinieu
zwisclien Eixmpf und Schenkeln (Oesterreicherin).
136 Bauch.
ristiscli für das weibliche Geschleclit. Ich. stimme ihm bei, halte jedoch
diese Linie für ein Kunstproduct, da ich sie nur zusammen mit anderen
Folgen von starkem Schnüren gesehen habe ^).
Die zweite, zwischen Nabel und Schamberg verlaufende Linie
darf, wie auch Langer^) hervorhebt, nur an den Seiten deutlich
sein und muss in der Mittellinie zu einer seichten Furche verflachen.
Erst bei übermässiger Fettbildung tritt sie schärfer hervor.
Der Nabel kann gross oder klein, flach oder eingezogen sein,
hoch oder tief stehen. Da ein grosser Nabel die Folge eines
mangelhaften Verschlusses des Nabelrings ist, so muss ein kleiner
Nabel schön sein, weil er die Folge besserer Entwickelung ist.
Und da beim Weibe eine stärkere Fettanhäufung um den Nabel,
die denselben zugleich vertieft, zu den secundären Geschlechts-
charakteren gehört, so verdient bei ihr ein eingezogener Nabel den
Vorzug. Beim Kind steht der Nabel am tiefsten und rückt mit
zunehmender Ausbildung des Körpers bei beiden Geschlechtern mehr
und mehr nach oben ; Hochstand des Nabels ist demnach ein Zeichen
besserer Entwickelung.
Für den Nabel der Frau können wir in Folge dessen als Fehler
bezeichnen, wenn er gross, flach und tiefstehend, als Vorzüge, wenn
er klein, eingezogen und hoch angesetzt ist.
Von den Schamtheilen sieht man bei richtiger Beckenneigung
nicht mehr als das vordere Drittel in der aufrechten Stellung von
vorn. Bei guter Entwickelung bilden die Schamlippen zwei pralle,
von vorn nach hinten ziehende Wülste, welche, auch bei massiger
Spreizung der Beine, an der Schamspalte einander anliegen und
die darunter liegenden Theile bedecken. Bei starker Spreizung er-
scheinen die Nymphen als zai'troth gefärbte, hahnenkammartige
Gebilde in der Tiefe.
Ein Fehler ist das Klaffen der Schamspalte und das Hervor-
ragen der Nymphen über die Schamlippen. Das letztere kommt
auch in Europa häufig vor. Die Nymphen erhalten dann eine braune
Farbe. Unter den Hottentottinnen ist dieser Fehler sehr häufig und
stark ausgeprägt; er wird als „Hottentottenschürze" beschrieben.
1) Vgl. Brücke 1. c. p. 87.
^) Anatomie der äusseren Formen, p. 209.
Rücken.
137
Rücken.
Der Rücken bildet die gemeinschaftliclie Kehrseite von Brust
und Bauch. Seine schöne Gestaltung hängt in erster Linie vom
normalen Bau der knöchernen Unterlage ab, und
dafür gelten dieselben Vorschriften wie oben.
Die Wirbelsäule muss, von hinten betrachtet,
ganz gerade verlaufen. Durch Rhachitis , durch
unzweckmässige Lebensweise, hauptsächlich Ueber-
anstrengung in jugendlichem Alter mit oder
ohne Rhachitis, durch tuberculöse Wirbelkrank-
heiten können Verkrümmungen entstehen, die als
ebenso viele Fehler zu betrachten sind.
Im jProfil muss die Wirbelsäule im oberen
Brusttheil etwas nach hinten, im Lendentheil sich
nach vorn vorwölben, wodurch eine leichte Rundung
in der Schultergegend und eine Höhlung im Kreuz
entsteht ; diese letztere muss beim Weibe besonders
deutlich ausgeprägt sein, weil sie, zusammen mit
der stärkeren Beckenneigung, ein secundäres Ge-
schlechtsmerkmal bildet.
Eine zu starke Rundung des oberen Rücken-
theils, der runde Rücken, ist ein Fehler. Der-
selbe kann nicht bestehen , ohne dass auch der
Brustkorb stark nach hinten tritt und deshalb die
Brust flach wird und die Schultern nach vorn
sinken. Es ist bekannt-^), dass eine derartige
Bildung in einzelnen Geschlechtern erblich ist und
sich namentlich bei Juden häufig findet.
Fig. 55, dem Buche von Hofl'a entnommen,
zeigt den typischen runden Rücken.
Hoöa nimmt an, dass eine derartige laxe
Haltung hauptsächlich auf Willensschwäche beruht. Ein vergleichen-
der Blick auf Fig. 21 jedoch lehrt uns, dass mangelhafte Muskel-
Fig. 55. Runder
Rücken nacli Hoifa.
^) Vgl. Hoffa, Orthopädische Chirurgie, p. 221.
138 Rücken.
entwickelung denselben Einfluss ausüben muss. Im ersteren Fall
müsste demnach, durch. Muskelspannung der Fehler ausgeglichen
werden können, im zweiten nicht.
Eine zu starke Höhlung im Lendentheil, der hohle Rücken,
ist ebenfalls ein Fehler, der wiederum ein starkes Vorspringen des
Bauches nach Yorn und des Gesässes nach hinten veranlassen muss.
Er findet sich physiologisch in der späteren Zeit der Schwanger-
schaft, bei der das Ueberwiegen des stark gedehnten Bauches durch.
TJebersinken des Oberkörpers nach, hinten ausgeglichen wird ; dann
aber auch bei jeder zu starken Neigung des Beckens, wie sie nament-
lich bei Hüftgelenksentzündung vorkommt.
Ein hohler Rücken geht gepaart mit zu schwacher Entwicke-
lung der Rückenmuskulatur.
Als normale können wir eine Krümmung ansehen, die ein
Profil giebt wie Fig. 35.
Auf der Mittellinie des Rückens sind die Dornfortsätze der
Wirbelbogen deutlich durch die Haut fühlbar, zum Theil auch sicht-
bar; am stärksten springt oben im Nacken der 7. Halswirbel ins Auge.
Seitliche Verkrümmungen der Wirbelsäule haben stets auch
fehlerhafte Bildung des Brustkorbes zur Folge.
Der Brustkorb muss auch hinten symmetrisch gebaut und gut
gewölbt sein. Ist er , bei flacher Brust , zu stark gewölbt , dann
treten die Schulterblätter zu stark heraus , und die Schultern
sinken nach vorn. Ist er, wie bei der Anlage zur Schwindsucht,
zu lang und zu schmal, dann sinken die Schultern herab und heben
den unteren Winkel der Schulterblätter heraus. Ist er ungleich-
massig entwickelt, dann steht das eine Schulterblatt höher als das
andere, und der eine Winkel steht weiter entfernt oder schiefer gegen
die Mittellinie als der andere.
Geringere Fehler der Wirbelsäule sowohl wie des Brustkorbes
lassen sich demnach am besten nach dem Stand der Schulterblätter
beurtheilen.
So zeigt Fig. 56 einen tieferen Stand des rechten Schulter-
hlattes mit stärkerem Hervortreten seines unteren Randes als erstes
Zeichen einer beginnenden Rückgratsverkrümmung nach links mit
stärkerer Wölbunsr der rechten Hälfte des Brustkorbes.
Rücken.
139
Dass ein zu schmales Becken
die Gestalt des Rückens ver-
derben muss, geht schon daraus
hervor, dass für ihn dasselbe
Verhältniss zwischen Schulter-
breite, Taillenbreite und Hüft-
breite bestehen muss, wie an der
Vorderseite des Rumpfes , und
dass die Verringerung der Hüft-
breite den weiblichen Geschlechts-
charakter verschwinden lässt.
Von besonderer Wichtigkeit
jedoch ist das Kreuzbein , das
beim Weibe sehr viel breiter ist
als beim Manne, und das zur Ge-
staltung des Rückens um so mehr
beiträgt, als es dicht unter der
Haut liegt; rechts und links von
ihm liegen die hinteren Dornen
der von vorn kommenden Darm-
beinkämme, deren Abstand zu-
gleich die obere Breite des Kreuz-
beines angiebt und mindestens
10 cm betragen muss.
Je gleichmässiger die Wöl-
bung der Darmbeinkämme ist,
desto besser wird die Wölbung
des Rückens in den Lenden, die
der unteren hinteren Rippen-
wölbung entsprechen muss, um
eine gleichmässige Spannung der
daran befestigten Muskeln zu er-
möglichen.
Während die tiefer liegenden Rückenmuskeln beinahe alle mit
der Wirbelsäule parallel verlaufen und die Skelettheile verbinden,
abrunden und ihre Uebergänge verstreichen lassen, sind die höher
Fig. 56. Tiefstand der rechten Sclmlter
bei beginnender Rückgratsverkrümmung
bei einem 23jäln-igen Mädchen von
holländisch-englischer Abkunft.
140 Rücken.
liegenden Rückenmuskeln, also gerade diejenigen, die der Oberfläclie
das Relief geben, alle nach der Schulter gerichtet (Fig. 46).
Um das feine Relief der Rückenmuskeln zu verstehen, ist eine
genaue Kenntniss derselben nöthig; für unsere Zwecke genügt es,
darauf aufmerksam zu machen, dass die meisten Muskeln zum Schulter-
blatt und von diesem zur Schulter ziehen, dass sich aber der grosse
Kapuzenmuskel und der breite Rückenmuskel jederseits darüber hin-
legen, so dass sich an ihnen ausser ihren eigenen auch die Bewe-
gungen der darunter liegenden Schulterblattmuskeln gewissermassen
verschleiert in wechselvollem Spiele markiren.
Da die Muskeln von der Mitte nach rechts und links verlaufen,
so wird sich zwischen den Muskelbäuchen bei guter Entwickelung
eine Rinne bilden, die um so tiefer wird, je stärker die Schultern
nach hinten gezogen werden. Im Kreuz läuft diese Rinne flach aus,
weil hier das knöcherne Gerüst der Haut sich anlegt. Das Relief
des Rückens wird vollendet durch die Haut mit ihrem Fettpolster.
Auf die Vertheilung des Fettes an den Schultern kommen wir
noch zu sprechen; für den übrigen Rücken ist die Thatsache von
Wichtigkeit, dass beim Weibe ein stärkeres Fettpolster von den
Hüften aus über die Darmbeinkämme nach oben zieht, sich seitlich
und oberhalb der Kreuzgegend in den Lenden stark anhäuft und
dieselben so abrundet, dass sie in gleichmässiger Wölbung nach den
Hüften hin abfallen. Richer hat auf diesen Umstand besonders auf-
merksam gemacht und die diesbezüglichen Geschlechtsunterschiede
im Bilde festgehalten (vgl. Fig. 47). Beim Manne bleibt der Darm-
beinkamm stets deutlicher sichtbar. Am Kreuz haftet die Haut der
knöchernen Unterlage stets mehr an, am stärksten aber in der Gegend
der hinteren Dornen, woselbst sich bei genügender Fettbildung zwei
Grübchen, die Kreuzgrübchen, formen, die, bei seitlicher Be-
leuchtung deutlich sichtbar, ein charakteristisches Zeichen schöner
weiblicher Körperbildung sind (Fig. 57).
Als charakteristisch für das gut gebaute Weib müssen wir an-
sehen, dass der Abstand dieser Grübchen mindestens 10 cm
beträgt (Breite des Kreuzbeins), dass sie gleichmässig rund
und nicht länglich sind (breite Wölbung des Hüftbeins) und
dass ihre Verbindung mit dem oberen Ende des Spaltes
Rücken.
141
zwischen den Hinter-
backen einen Winkel von
90'^ bildet (grössere Kürze
des Kreuzbeins als beim Manne).
Eine derartige Configura-
tion des Rückens, bei der man
mit Siclierbeit jeden Einfluss
des Corsets ausscbliessen kann,
bietet das javaniscbe Mädchen
Muakidja (Fig. 57).
Das Schnüren entstellt
den Rücken zwar weniger und
später als Brust und Bauch,
übt aber trotzdem einen lang-
sam sich steigernden nach-
theiligen Einfluss , namentlich
auf die Entwickelung und Aus-
bildung der langen Rücken-
muskeln. Dafür sprechen die
Klagen über Rückenschmerzen
von Frauen, die an das Corset
gewöhnt sind und es zeitweise
ablegen. Aeusserlich sichtbar
ist der Einfluss an den schwä-
cher entwickelten Weichen und
an der Verflachung der mitt-
leren Rückenfurche ; später wird
der ganze Rücken flacher, das
Muskelrelief verliert sich ganz,
die Schulterblätter stehen ab,
und das Kreuz wird hohl.
Das erste Stadium bei noch
gut erhaltener Wölbung zeigt
eine junge Pariserin (Fig. 58).
Ausser am Kreuz haftet die Haut auch am ganzen Verlauf der
Wirbelsäule fester an den Dornfortsätzen, so selbst, dass sich in
Fig. 57,
Schön modeUirter Rücken eines
javanischen Mädchens.
j^42 Kreuzgrübchen.
seltenen Fällen aucli hier seichte Grübclien bilden. Je gleiclimässiger
diese Anbeftung ist, desto deutlicher zeichnet sich die mittlere Rücken-
furche ab , die demnach einerseits von guter Anheftung der Haut,
Fig. 58. Rücken einer Pariserin, durch Schnüren verflacht.
andererseits von kräftiger Entwickelung der Muskeln und guter
Wölbung des Brustkorbs abhängig ist.
Eine sehr schöne Ausbildung des Rückens im allgemeinen, der
mittleren Rückenfurche im besonderen zeigt Fig. 59 , die auch die
Verbindung des Rumpfes mit Kopf und Hals.
143
Kreuzgrübchen schön
und deutlich erkennen
lässt.
In Fig. 62, der
seitlichen Ansicht der
in Fig. 54 abgebildeten
Person, ist die mittlere
Rückenfurche beson-
ders gut ausgeprägt.
Wir sehen hier zu-
gleich, wie die schöne
Gestalt des Rückens mit
der von Brust und Bauch
zusammenfällt , da die
Schönheit aller dieser
Theile im grossen und
ganzen von den glei-
chen Bedingungen ab-
hängig ist.
Die Verbindungen
des Rumpfes mit Kopf
und Gliedmassen.
Abweichend von
der üblichen Darstel-
lung habe ich die Be-
sprechung des Kopfes
und des Rumpfes in
den Vordergrund meiner
Darstellung gerückt, um
nun erst den Hals ledig-
lich als verbindendes
Glied dieser Körper-
theile zu besprechen. Wenn ich dadurch der Gefahr, in Wieder-
holungen zu verfallen, nicht ganz entgehen kann, ebenso wie später
bei der Betrachtung der Schultern, so glaube ich andererseits dadurch
Fis.
'i9. liückcii eines Jladelieus aus Sclieveniiigeii
mit gut gebildeten Kreuzgrübolien.
144 Hals.
an Deutlichkeit zu gewinnen. Eine scharfe Scheidung ist ja, wie
oben schon hervorgehoben, bei der unbestimmten Begrenzung ohne-
hin erschwert.
Hals.
Unter Hals versteht man die Verbindung zwischen Kopf und
Rumpf, und zwar meist nur die vordere Seite, während man deren
hinteren Abschnitt mit Nacken bezeichnet. Die Begriffe sind auch
hier etwas verwirrt; anatomisch am zweckmässigsten erscheint es,
die ganze Verbindung als Hals zu bezeichnen, dessen hintere bis an
das Schulterblatt reichende Hälfte den Nacken, die vordere durch
die Schlüsselbeine begrenzte die Büste zu nennen.
Im täglichen Leben versteht man unter den beiden letzteren
Begriffen meist sehr viel grössere Bezirke, ja in der Satire über
weibliche Mode erstreckt sich die Büste selbst bis zum Nabel.
Die knöcherne Unterlage des Halses wird gebildet von dem
Halstheil der Wirbelsäule, der bei allen Menschen bis auf einige
Millimeter gleich lang ist. Er verläuft in einem leicht nach voi'n
convexen Bogen.
Die obere Grenze bildet vorn der Unterkiefer , hinten der
Schädelboden; die untere vorn das Schlüsselbein, und in der Kehl-
grube das Brustbein, hinten der erste Brustwirbel mit der sich
daran anschliessenden 1 . Rippe und das Schulterblatt. Wie man
sich leicht bei Vergleichung von Fig. 32 u. 34 überzeugen kann,
liegen die hinteren Grenzen höher als die vorderen, so dass demnach
der Hals im ganzen von oben und von unten durch zwei schräg
nach vorn abwärts verlaufende Flächen begrenzt wird.
Es geht daraus ohne weiteres hervor, dass bei der stets
gleichen Länge der Halswirbelsäule die scheinbare Länge des Halses
ausschliesslich abhängt von der Lage der oberen und unteren Be-
grenzung.
Er wird kürzer erscheinen, wenn der Unterkiefer sich nach
unten vorschiebt, oder wenn die Schlüsselbeine und der Brustkorb
vorn, die Schultern seitlich sich heben.
Fig. 60 verdeutlicht diese Verhältnisse.
Bezüglich der oberen Grenze wissen wir bereits, dass der
Hals.
145
weibliclie Unterkiefer klein und niedrig sein muss ; dies weibliche
Geschlechtsmerkmal hat demnach auf die Bildung des Halses einen
massgebenden Einfluss, wie wir gleich sehen werden.
Fig. 60. Weiblicher Hals und Schulter im Profil.
7, //, ///, IV 1. bis 4. Rippe, K Kopfnicker (Sternocleidomastoideus), M Mönchskappen
oder Kapuzenmuskel (Trapezius), D Schultermuskel (Deltoideus).
Die untere Grenze hängt in erster Linie ab von der Bildung
des Brustkorbs.
Im Gegensatz zum Manne hat das Weib einen schmäleren
und längeren Brustkorb, es wird sich demnach der Hals von der
Brustwölbung weniger scharf absetzen. Wenn jedoch, wie bei dem
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 10
146 Hals.
Brustkorb der Schwindsüchtigen, die Rippen vorn nach abwärts ver-
laufen und weiter aus einander stehen, dann wird nicht nur die Brust
verflacht, sondern es muss auch der obere Rand des Brustbeins
herabsinken, und mit ihm die inneren Enden der Schlüsselbeine.
Gleichzeitig sinken aber auch an dem abschüssigen Brustkorb die
Schultern nach unten, so dass dadurch ein scheinbar langer,
dünner Hals entsteht, der für Schwindsucht charakteristisch und
darum nicht normal ist.
Man muss jedoch bedenken, dass das Schlüsselbein des
Weibes dadurch ausgezeichnet ist, dass es zierlicher, gerader
und weniger vorspringend ist als beim Ma.nne, und dass es bei
normal gebautem Brustkorb, demselben dicht anliegend, nach den
Schultern zu sich etwas senkt. An den Schlüsselbeinen ist demnach
die fehlerhafte Bildung, die den längeren Hals vortäuscht, erkennbar
daran, dass bei dem schmalen, abschüssigen Thorax die Krümmung
eine stärkere wird, wodurch sie mehr hervorstehen, und dass
die inneren Enden an der Kehlgrube tiefer stehen.
Bei frühzeitiger Verknöcherung durch Rhachitis entsteht ein
plumper, breiter, dabei aber häufig flacher, selbst eingedrückter Brust-
korb, zugleich mit Verdickung und Verkrümmung der Schlüsselbeine.
Die verdickten und unregelmässig gekrümmten Rippen bilden
mit den stark vorspringenden Schlüsselbeinen eine viel dickere und
plumpere Masse, die zwar in normaler Höhe steht, aber durch ihre
Massenzunahme den Hals kürzer und dicker erscheinen lässt.
Zugleich aber treten aus demselben Grunde die Schulterknochen
stärker hervor und mehr nach oben, wodurch die Kürze des Halses
noch erhöht wird.
Wir sehen daraus, dass die Gestaltung des Halses, was das
Skelet anlangt, lediglich abhängt von: der Kleinheit der Unter-
kiefer, dem geraden und schlanken Verlauf der Schlüsselbeine und
der guten und gleichmässigen Wölbung des Brustkorbes.
Als Fehler haben wir demnach zu betrachten: starke Ent-
wickelung des Unterkiefers nach der Länge und Breite, starke Krüm-
mung, Verdickung und Vorspringen der Schlüsselbeine, zu schmalen
und abschüssigen, oder zu breiten und plumpen Brustkorb.
Von den Muskeln sind es namentlich der Kopfnicker und die
Hals. 147
Kapuzenmuskeln, welche die Form des Halses beeinflussen. Ihr Ver-
lauf erhellt aus den Fig. 60, 45 u. 46.
Die Kopfnicker laufen beiderseits von der Kehlgrube und dem
inneren Schlüsselbeinrand nach oben hinter das Ohr. Der vordere
Theil des Halses zwischen ihnen ist durch den Kehlkopf, die Luft-
röhre , die Speiseröhre und die kleineren , sie umgebenden Muskeln
angefüllt. Die Kapuzenmuskeln gehen vom seitlichen Ende des
Schlüsselbeins und vom oberen Rand des Schulterblatts fächerförmig
nach der Wirbelsäule und dem Hinterkopf. Ihre Wölbung bildet
die Nackenlinie. Zwischen beiden Muskeln bleibt, wie auf Fig. 60
ersichtlich, der mittlere Theil des Schlüsselbeines frei, über dem bei
ungenügender Entwickelung des Fettpolsters die so sehr gefürchteten
als Salzfässer bezeichneten Gruben sich bilden.
Die übrigen Muskeln des Halses beeinflussen die äussere Ge-
stalt desselben nicht. Die beiden genannten Muskeln sind bei guter
und gleichmässiger Entwickelung bei allen Bewegungen des Kopfes
sichtbar, in der geraden aufrechten Stellung des Kopfes nach vorn
jedoch müssen sie sich in der gleichmässigen Rundung des Halses
verlieren mit Ausnahme des vorderen Ansatzes der Kopfnicker neben
der Kehlgrube.
Diese letztere muss deutlich erkennbar sein (vgl. Fig. 26) ; ihr
Fehlen deutet auf Schwellung der darunter liegenden Schilddrüse,
demnach auf Anlage zum Kropf, die krankhaft und unschön ist.
Die Haut des Halses ist vorne zart, im Nacken etwas dicker
und den übrigen Weichtheilen fester anhaftend. Das unter ihr
liegende Fettpolster rundet die Form des Halses ab. An der vor-
deren Seite zwischen den Kopfnickern umgiebt es die tieferliegenden
Organe, von denen der Kehlkopf das wichtigste ist. Da dieser beim
Manne als Adamsapfel stark vorspringt, so muss eine flache gleich-
massige Wölbung dieser Stelle, als für das weibliche Geschlecht
charakteristisch, als besonderer Vorzug gelten.
Beim Kopf ist hervorgehoben worden, dass das Fettpolster sich
seitlich in den Wangenparthien stärker anhäuft. Bei schmalem
Unterkiefer geht das Fettpolster gleichmässig in das des Halses über,
so dass wir das Verstreichen der Unterkieferwinkel und den
weicheren Uebergang der Waugen zur vorderen Halsfläche
148 Hals. Nacken.
als Vorzüge betracliten müssen, weil sie dem weiblichen GescHeclit
angemessen sind.
Aus demselben Grmide muss im Profil die Umrisslinie vom
Kinn zum Halse weich, sein und einen möglichst stumpfen
Winkel bilden, da das Gegentheil nur bei starker, männlicher Ent-
wickelung des Unterkiefers möglich ist.
Ueber die gute Füllung der Schlüsselbeingruben ist bereits
gesprochen.
Treffen alle diese Bedingungen ein, dann bildet der Hals von
den Wangen herab vorne eine gieichmässig gerundete , allmählig
breiter werdende Fläche, die ohne scharfe Abgrenzung gieichmässig
über die Schlüsselbeine in die Brustwölbung übergeht.
Ueber dem Kehlkopf finden sich eine oder mehrere hori-
zontal verlaufende Furchen , das sogenannte Collier de Venus ; sie
sind ein Zeichen guter Spannung bei elastischer Haut und nor-
malem Fettpolster , und finden sich stets bei Kindern und jugend-
lichen, gutgenährten Individuen. Da sie nur bei weichen Formen
vorkommen können , so sind sie ein besonderer Vorzug weiblicher
Bildung.
Nicht zu verwechseln sind diese nur zart angedeuteten Quer-
linien über der Kehle mit den höheren, unter dem Doppelkinn bei
zu starker Fettentwickelung sich bildenden Querfalten.
Die zur Schulter herabreichende Halsnackenlinie wird, wie ge-
sagt, durch die obere Wölbung des Kapuzenmuskels gebildet, der
sich am Rücken und der hinteren Schultergegend gieichmässig aus-
breitet und den Nacken in weichen Linien mit Rücken und Schultern
verstreichen lässt. Zu starke Ausbildung dieses Muskels bildet bei
Ringkämpfern den sogenannten Stiernacken und ist bei Frauen darum
hässlich. Bei gleichmässiger Entwickelung des Muskels, der Haut,
sowie auch der knöchernen Unterlage, muss der Nacken nach beiden
Schulterblättern in gleichmässiger Wölbung herabziehen und in der
Mitte unter dem 7. Halswirbel sich allmählig zur mittleren Rücken-
furche verflachen.
Man hat den dünnen Hals als ein Zeichen der Jungfräulich-
keit angesehen und behauptet, dass selbst einmaliger Geschlechts-
grenuss sich sofort in einer Dickenzunahme des Halses verrathe. Ich
Schultern. 149
habe mich persönlicli von der Richtigkeit dieser Annahme nicht über-
zeugen können.
Dass der Umfang des Halses gleich dem der Wade sein müsse,
hat Brücke ^) widerlegt, der durch Messungen nachgewiesen hat,
dass bei gieichmässiger Entwickelung die Wade stets dicker ist als
der Hals.
Schultern.
Die Verbindung des Rumpfes mit den oberen Gliedmassen ist
die Schulter. Ihre Form hängt zunächst ab von der knöchernen
Unterlage, von der wir bereits ausführlich gesprochen haben.
Normale Verhältnisse verlangen demnach gute und gleich-
massige Wölbung des Brustkorbs, gerades, gestrecktes, der Brust-
contour sich anschmiegendes Schlüsselbein , gut anliegendes, flaches
Schulterblatt.
Die Muskeln, welche vom Schulterblatt zum Arm ziehen, werden
alle bedeckt durch den grossen Schultermuskel (Deltoideus, Fig. 60),
der hauptsächlich , bei übrigens guten Verhältnissen , die Form der
Schulter bedingt. Er entspringt vom seitlichen unteren Rand des
Schlüsselbeins und vom Kamm des Schulterblatts, bildet demnach eine
Fortsetzung des Kapuzenmuskels unterhalb dieser knöchernen Leiste.
Auf den Fig. 45, 46 u. 60 lässt sich seine Lage und deren
Einfluss auf die Form der Schulter leicht erkennen ; sehr schön aus-
geprägt ist er auf Fig. 22 und Fig. 70.
Er dient hauptsächlich zum Heben des Arms und zum Halten
desselben in erhobener Stellung. Von vorn schliesst sich ihm un-
mittelbar der grosse Brustmuskel an, der neben ihm am Oberarm-
bein sich befestigt.
Von der guten Entwickelung des Schultermuskels hängt die
gleichmässige kräftige Abrundung der Schulter ab, die sich durch
stärkere Absetzung gegen den übrigen Arm von einer anderen durch
Fettanhäufung bedingten Schulterrundung unterscheidet. Diese letztere
ist ein Zeichen reiferen Alters und darum ein Fehler, sobald sie die
darunter liegenden Muskelbäuche verdeckt.
') 1. c. p. 16.
150 Schultern.
Die schöne Form der Schulter kann durch Muskelübung,
Heben der Arme etc. hervorgehoben und durch sie auch erhalten
werden. Brücke-^) hebt hervor, dass die Albanerinnen, die ihre
Lasten mit erhobenen Armen auf dem Kopfe tragen, besonders
schöne Schultern besitzen.^
Von der guten Gestaltung dieser Muskeln, die ja auch bei
normalen Verhältnissen eine analoge Ausbildung der übrigen Muskeln
zur Folge haben muss, hängt eine Bildung an der weiblichen Schulter
ab, die sich bald mehr, bald weniger deutlich auch in der Ruhe
findet; dies sind ein oder zwei flache Grrübchen an der Stelle, wo
die Haut dem Kamm des Schulterblattes an der Grenze zwischen
Kapuzenmuskel und Schultermuskel fester anhaftet.
Wird der Arm gehoben und dadurch der Schultermuskel ver-
kürzt und verdickt, so vertiefen sich diese Grübchen zu einer halb-
mondförmigen Furche, die sich um die hintere und obere Ansatz-
stelle des Muskels bildet (vgl. Fig. 78, rechter Arm).
Diese Erscheinung ist demnach als ein Zeichen guter Muskel-
bildung und demnach als Vorzug anzusehen.
Der Stand der Schultern ist sehr wechselnd. Schon bei dem-
selben Individuum werden bei jedem Athemzuge die Schultern mit
dem Brustkorb gehoben und gesenkt. Jede Bewegung des Armes
verändert den Umriss und den Stand der Schulter (vgl. Fig. 45, 46).
Wir müssen demnach zur Vergleichung stets einen symme-
trischen Stand mit herabhängenden Armen einnehmen lassen, die
Bewegungen können uns, namentlich bei seitlicher Beleuchtung,
werthvoUe Aufschlüsse über die Entwickelung der Muskeln ver-
schaffen.
Die Achselhöhle ist nur bei erhobenem Arm sichtbar. Ihre
Grenzen bilden, wie bereits gesagt, vorn der untere Rand des grossen
Brustmuskels, hinten der äussere Rand des grossen Rückenmuskels.
In der Tiefe ist sie mit einem dicken Fettpolster versehen, das be-
sonders zwischen Brustmuskel und Brustkorb kräftig entwickelt ist.
Ihre normale Gestaltung wird abhängen von der guten Entwickelung
der sie bildenden Muskeln und von guter Wölbung des Brustkorbes,
^)1.
Hüften und Gesäss. 151
Die Haut ist, der grossen Bewegliclikeit des Armes entsprecliend,
in der Achselhölile sehr locker an der Unterlage befestigt, während
sie an der Schulter etwas fester mit den darunter liegenden Muskeln
verbunden sein muss.
Von der Behaarung der Achselhöhle gilt das bereits von der
übrigen Körperbehaarung Gresagte. Als Zeichen der Reife ist ein
zarter Flaum normal und darum schön ; starke Behaarung ist bei
der Frau hässlich, weil sie ans Männliche und Thierische erinnert.
Hüften und Gesäss.
Die knöcherne Grundlage für die Hüfte und das Gesäss bilden
die Beckenschaufeln, die in der Mitte durch das keilförmig sich ein-
schiebende Kreuzbein von einander geschieden sind.
Für das weibliche Geschlecht charakteristisch ist eine breite,
niedrigere, weit ausgebuchtete Beckenschaufel, ein in seinem oberen
Theil breiteres und zugleich kürzeres Kreuzbein und eine stärkere
Beckenneigung, durch die ein hohleres Kreuz bedingt wird.
Diesen Ansprüchen muss bei guter Bildung die knöcherne
Unterlage genügen, ausserdem muss das Becken symmetrisch sein
und keine Zeichen von Rhachitis erkennen lassen.
Nach aussen unter die Haut tritt nur der obere Rand der
Beckenschaufel, der Kamm, der am vorderen Dorn am deutlichsten
fühlbar , in gleichmässigem , an der Seite höher stehendem Bogen
nach hinten verlaufen muss; sein hinteres Ende ist erkennbar an
den bereits erwähnten Grübchen über den hinteren Dornen.
Zur Beurtheilung der richtigen Verhältnisse dienen die oben
bereits erwähnten Breitenmasse.
Die vorderen Muskeln der Hüfte treten in der Tiefe vom
Becken an den Oberschenkelknochen, so dass sie mit den Schenkel-
muskeln eine Masse bilden, die durch das Leistenband vom Bauche
scharf geschieden ist. Bei Beugung des Oberschenkels tritt diese
Grenze noch schärfer hervor.
Der hintere Theil der Hüfte dagegen erhält seine Form haupt-
sächlich durch die grossen Gesässmuskeln (vgl. Fig. 46) , die in
kräftiger Fleischmasse vom hinteren Theil des Kammes und vom
152
Gesäss.
äusseren Rand des Kreuzbeins nacli der hinteren und äusseren Fläche
des Oberschenkelknochens hinziehen.
Fig. Ol. Hautfalten über der (linken) Hüfte bei geneigter Haltung des Beckens.
Durch den oberen Ansatz dieser Muskeln wird zugleich die
untere Begrenzung des Kreuzdreiecks stärker ausgedrückt, die sich
Gesäss.
153
von den Kreiizgrübchen
bis zum oberen Ende der
Spalte erstreckt, und dort
in rechtem Winkel mit
der gegenüberliegenden
zusammentrifft.
Innerhalb dieses Drei-
ecks haftet die Haut der
Unterlage fester an, so
dass sich daselbst nur ein
massiges Fettpolster ent-
wickeln kann.
Der Abrundung der
weiblichen Formen ent-
sprechend, ist die Ent-
wickelung des Fettpolsters
gerade in dieser Gegend
von grosser Bedeutung.
Schon von vorn ist
dadurch die der Frau ei-
genthümliche Bildung der
Hüfte deutlich gekenn-
zeichnet. Der Umriss des
Oberschenkels setzt sich
bei leichter Senkung des
Beckens nach der anderen
Seite (position hanchee)
in weicher Linie hoch über
den Nabel hinauf fort, so
dass bei massiger Fettlage
und etwas weniger elasti-
scher Haut sich in der
Taille ein bis zwei quere
Hautfalten bilden, sobald von oben her der untere Brustkorbrand
einen Druck ausübt, wie es in der geneigten Beckenstellung (Fig. 61)
der Fall ist.
Fig. ü2. Verlorenes Profil von Fig. 54
mit schönen Hüften.
154
Gesäss.
Im Gegensatz zum
Manne zieht sich beim
Weibe das mächtigere
Fettlager seitlich über
die breiteren und fla-
cheren Kämme ununter-
brochen nach der Len-
dengegend hinauf (vgl.
Fig. 47), wodurch die
Hüften noch breiter und
höher erscheinen und
den weiblichen Ge-
schlechtscharakter noch
mehr hervorheben.
Bei guter Bildung
muss demnach in der
seitlichen Ansicht die
Hüfte bis an die Taille
eine gleichmässig ge-
rundete Fläche, um den
Oberschenkelknorren
dagegen, wo die Haut
der Unterlage wieder
fester anhaftet , eine
flache halbrunde Grube
bilden. Diese Gestaltung
tritt auch bei im übri-
gen mageren Individuen
deutlich hervor (Fig. 63).
— Sehr schön und gleich-
massig ist der Ueb er-
gang des Oberschenkels
zur Hüfte in Fig. 62.
Unterhalb des Gesässmuskels ist die Haut mit sehr kräftigem
Bindegewebe an das Sitzbein befestigt, so dass diese Befestigungen
beiderseits im Halbkreis in der Spalte nach oben zusammenlaufen
Fig. 6ü. Abrunduiig der Hüfte bei einer jungen
Wienerin.
Hüften und Gesäss. 155
und gewissermassen zwei Hauttaschen formen, in die die Gesäss-
muskeln eingelagert sind. Wie aus Fig. 46 ersichtlicli , füllen die
Muskeln jedoch nicht den ganzen Raum aus, der im übrigen durch
ein sehr pralles und reichliches Fettpolster austapeziert ist. Dieses
wölbt zusammen mit den Muskeln die Hinterbacken in kräftiger
Rundung hervor. Der Form des Beckens entsprechend sind dieselben
bei der normal gebauten Frau breiter, niedriger und stärker ab-
gerundet als beim Manne, und treten, der grösseren Beckenneigung
entsprechend, stärker hervor.
Ausser dem guten Bau des Beckens tragen ' demnach kräftige
Muskulatur, pralles Fettpolster und elastische Haut bei zur schönen
Gestaltung des Gesässes.
Je elastischer die Haut ist, desto kräftiger wird sich die Falte
unter den Hinterbacken spannen, und desto praller werden sich die-
selben darüber vorwölben; da ausserdem bei elastischer Haut deren
Befestigung im Umkreise des Oberschenkelknorrens eine stärkere
ist, so wird das Fettpolster sich mehr nach der Mitte zu ausdehnen
und dadurch einen stärkeren Verschluss der mittleren Gesässspalte
mit gleichzeitiger Vertiefung derselben zur Folge haben.
Die unteren Querfalten ändern sich mit der Stellung ; je stärker
das Bein nach aussen gehoben, oder das Becken an der einen Seite
gesenkt wird, desto schräger nach unten wird die Falte verlaufen
und zugleich nach aussen sich mehr und mehr abflachen (vgl. Fig. 58).
Noch mehr ist dies der Fall bei Beugung des Oberschenkels nach
vorn. Bei starker Beugung verstreicht die Falte völlig.
Nach aussen verliert sich die Falte allmählig in der Oberfläche
des Schenkels.
Unter dieser Falte findet sich häufig eine zweite , etwas
seichtere. Sie ist ein Vorzug, da sie sich nur bei Frauen findet,
und auch bei diesen nur bei elastischer Haut mit prallem Fettpolster.
Von hinten lässt sich diese Falte bei geeigneter Beleuchtung
(Fig. 58) leicht erkennen, im Profil giebt sie dem Umriss das cha-
rakteristisch Weibliche, indem sie den Uebergang von der Hinter-
backe zum Schenkel in einem weicheren, doppelt gebrochenen Winkel
vermittelt (Fig. 62) , während derselbe beim Manne trotz des ge-
ringeren Umfangs des Gesässes viel schärfer accentuirt ist.
156
Hüften und Gesäss.
I
Eine sehr schöne Bildung des
Gesässes, sowie des Rückens über-
haujDt zeigt die Hinteransicht einer
jungen Samoanerin (Fig. 64). Trotz
massiger Fettentwickekmg kommen
hier bei der jugendlich -elastischen
Haut die weichen, weiblichen Run-
dungen gut zum Ausdruck. Auch die
Grübchen im Kreuz und die cj[uadra-
tische Form der Lendenraute sind
gut ausgeprägt (vgl. Fig. 57 u. 59).
Jedes Abweichen von den an-
gegebenen Formen muss als Fehler
bezeichnet werden. Zu starkes Klaf-
fen, zu geringe Wölbung der Hinter-
backen bei ungenügender Fettent-
wickelung, zu kräftiges Hervortreten
und Verschwommensein der Formen
bei zu starker Fettablagerung, stark
nach unten verlaufende Falten bei zu
schmalem Becken mit hohem Kreuz,
alles dies sind Fehler, die sich von
selbst aus dem oben Gesagten er-
geben.
Hierbei muss noch hervorgeho-
ben werden, dass zu starke Fett-
entwickelung stets mit Verringerung
der Elasticität der Haut gepaart ist,
so dass die gewucherten Massen
schlaff herabhängen. Sehr häufig
findet sich eine solche locale Fett-
anhäufung bei zu starkem Schnüren,
wodurch das Fett aus der Lendengegend herabgedrängt wird.
Richer ^) hat darauf aufmerksam gemacht , dass eine abnorme
Fig. 64. Mädchen aus Samoa.
Eückansiclit.
(Aus dem ethnographischen Museum
in Leiden.)
^) Anatomie artistique, p.
Hüften und Gesäss.
157
Fettallhäufung an Hüften und
Gesäss sich bei europäischen
Frauen in grösserem oder ge-
ringerem Masse ziemlich häufig
findet. Mir scheint, wie ge-
sagt, das Schnüren als ursäch-
liches Moment von grosser
Wichtigkeit.
Tritt nach stärkerer Fülle
wieder Abmagerung ein, dann
zeigt sich dies am Gesäss da-
ran, dass sich an dem inneren
Winkel mit dem Schwinden
des Fettpolsters die Haut zu-
nächst in leichte quere Fal-
teii legt.
In leichtem Masse zeigt
dies Fig. 65 an der linken
Seite. An derselben Figur ist
die beginnende Abmagerung
sichtbar am stärkeren Hervor-
treten der Schulterblätter, so-
wie aus der stärkeren Wölbung
des unteren Theils und dem
Herabsinken der Brüste.
Diese Zeichen zeigen, wie
die ersten fallenden Blätter, das
Herannahen des Herbstes an.
Bei den kurzlebigen Künst-
lermodellen, denen dies Mäd-
chen auch angehört, finden sie
sich sehr bald.
Bei noch stärkerer Abmage-
rung zeichnen sich schliesslich
unter der Haut ausschliesshch *^^«- ''■ ^'''''' ^«^^''"^ •'''^ Verweikens.
die vermagerten Bündel der Gesässmuskel ab, während neben der
158 Obere Gliedmassen.
klaffenden Spalte das letzte Fett in zwei schlaffen Hautsäckchen
herabhängt.
In vortrefflicher Weise hat Richer in seiner Figur „La para-
lysie agitante" neben allen anderen auch dieses Kennzeichen des
Greisenalters zum Ausdruck gebracht.
c) Obere Crliedmassen.
Ueber die Verhältnisse der oberen Gliedmassen zum übrigen
Körper wissen wir bereits, dass bei richtiger Länge derselben das
Handgelenk des herabhängenden Arms ungefähr in der Höhe der
Schamtheile zu stehen kommt, während der Ellenbogen etwa die
Höhe der Taille erreicht.
Ferner ist der Abstand des Schultergelenks vom Ellenbogen-
gelenk gleich gross wie von der gegenüberliegenden Brustwarze, vom
Ellenbogengelenk bis zum Handgelenk gleich dem Abstand der Brust-
warze vom Nabel.
Die Länge der Hand entspricht dem Abstand vom Nabel bis
zum Hüftgelenk und beträgt ausserdem ein Neuntel der Körperlänge
(nach Langer).
Ein genauestes Eingehen auf alle Einzelheiten, wie dies Richer,
Langer und Brücke gethan haben, erfordert eine sehr ausgebreitete
anatomische Kenntniss, der wir für unsere Zwecke eine ebenso
genaue Kenntniss der Krankheitserscheinungen beifügen müssten.
Ich will diese beim Leser nicht voraussetzen und ihn auch nicht
durch die Fülle der Einzelheiten zu sehr ermüden und beschränke
mich darum auf die wichtigsten, häufigsten und am leichtesten er-
kennbaren Fehler.
Ebenso wie bei den übrigen Körpertheilen hängt auch bei den
Gliedmassen, den oberen sowie auch den unteren, die Form in erster
Linie von der Bildung des Skelets ab.
Am Oberarm besteht, wie am Oberschenkel, das Skelet;aus einem,
am Unterarm und am Unterschenkel aus je zwei Röhrenknochen.
An allen diesen Röhrenknochen macht sich als häufigste Ent-
stellung der Einfluss der Rhachitis in stets derselben charakteristi-
schen Weise geltend.
159
Das Wesen der Rhachitis besteht, wie gesagt, in einer ab-
normen Weichheit der Knochen, auf die dann eine abnorme Ablage-
rung von harter Knochenmasse folgt.
An den Röhrenknochen haben wir ein schlankeres, längeres
Mittelstück (die Diaphyse) und zwei kürzere, dickere Gelenkenden
(die Epiphysen) zu unterscheiden. Der Einfluss der Rhachitis äussert
sich nun bei den Röhrenknochen in der Weise, dass das Mittelstück
nur wenig kürzer und dicker, jedoch mehr oder weniger stark ver-
krümmt wird, an den Gelenkenden jedoch tritt eine viel stärkere
Dickenzunahme ein, die mehr weniger auch die Krümmung der Ge-
lenkflächen und damit den Stand der Gliedmassentheile zu einander
beeinflusst.
Am Arm können wir die Verdickung des Oberarmbeinkopfes
an der Schulter wegen der darüber liegenden Muskeln nicht wahr-
nehmen, eine Verkrümmung des Mittelstückes schon eher, ganz
deutlich aber die Verdickung des unteren Endes am Ellenbogen, die
namentlich an der inneren Seite, entsprechend der grösseren Knochen-
masse, stark auffällt.
Die Folge dieser stärkeren Auftreibung des inneren an und
für sich schon dickeren Gelenkendes ist, dass die Gelenkfläche des
Ellenbogens noch stärker als normal in einer nach aussen ansteigen-
den Linie verläuft. Demnach muss auch der Unterarm sich schief
ansetzen, so dass er bei Streckung des ganzen Armes schief nach
aussen verläuft.
Wir haben also als Fehler, verursacht durch Rhachitis des
Oberarmknochens, zu verzeichnen: Verdickung des Ellenbogen-
gelenks, namentlich in der Breite und am inneren Rand. Schiefer
Ansatz des Vorderarms (vgl. Fig. 19, rechter Arm).
Wenn wir die Hand auf die gegenüberliegende Schulter legen,
dann fühlen wir am Unterarm eine gerade knöcherne Leiste, die
vom Ellenbogen zur Kleinfingerseite der Hand verläuft, den äusseren
Rand der Elle (Ulna). An diesem Knochen äussert sich die Rhachitis
gleichfalls durch Verdickung der Gelenkenden.
Das obe]'e Ende läuft in einen rundlichen Knopf (Olecranon)
aus, der sich bei gestrecktem Arm in den Oberarmknochen hinein-
senkt. Bei cputer Bildung entsteht dann in der dasell)st fester
160
Ellenbogen.
anliaftenden Haut ein Grrübclien, bei Verdickung des Olecranon aber
durch Verschiebung der Haut eine oder mehrere Falten.
Das untere Ende ist das EUenb einköpf chen (Capitulum) am
Kleinfingerrande des Handgelenks, dessen kugelige Verdickung als eines
der charakteristischen
Zeichen von Hhachitis be-
reits oben erwähnt wurde
(vgl. Fig. 19, linker Arm,
Fig. 20 ebenso).
Der zweite Knochen
des Unterarms, die Spei-
che (Radius), ist in sei-
nem oberen Verlauf durch
die Muskeln bedeckt, am
Handgelenk aber legt sich
sein breites unteres Ende
neben das Ellenköpfchen
und giebt bei rhachiti-
scher Verdickung dem
Handgelenk eine plumpe,
breite Form.
Als durch Rhachitis
veranlasste Fehler des
Unterarms können wir
demnach nennen: Ver-
dickung des Hand-
gelenks mit kugelför-
migem Hervortreten
des Ellenköpfchens.
Verdickung des oberen Ellenköpfchens mit Faltenbildung
an der Hinterseite des Ellenbogens bei Streckung und
spitzem Hervortreten desselben bei Beugung.
Der spitze Ellenbogen (Fig. 66, linker Arm) kann aber
ausser durch Rhachitis auch durch anderweitige Vergrösserung des
Olecranon, z. B. durch starke Muskelarbeit in früher Jugend, ent-
stehen, doch ist, wie überhaupt, so auch in solchen Fällen, nicht
Fig. 66.
Spitzer Ellenbogen. (Aufnahme von Dr. G. Klein.)
Arm.
161
mit Sicherheit auszumachen, inwieweit dann die Weichheit der Kno-
chen durch die Jugend, inwieweit durch die Rhachitis bedingt
ist. Die einfachste Erklärung ist wohl die, der auch Vierordt zu-
gethan ist, dass eben leichtere Formen von Rhachitis viel häufiger
vorkommen, als man im allgemeinen anzunehmen geneis^t ist.
Fig. 67. Armaxe in Pronatiou und Supination.
Um die richtige Lage der Armknochen zu einander zu be-
stimmen, lässt man den Arm gestreckt herabhängen und die Hand
so drehen, dass die Hohlhand nach vorn sieht (Supination). Dann
muss eine gerade Linie, die die Mitte des Schulter- und des Ellen-
bogengelenks verbindet, mit ihrer Verlängerung zwischen dem vierten
und fünften Finger durchgehen (Fig. 67, Supination).
Brücke, Richer u. a. nehmen, namentlich für den Mann, an,
dass die Verlängerung dieser Linie das Handgelenk überhaupt nicht
trifft, so dass nach ihnen der schiefe Ansatz des Vorderarms als
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 11
162 Arm.
normal gilt. Es scheint in der That, dass beim Manne in der
Regel, wohl in Folge der stärkeren Muskelwirkung, der Vorder-
arm stärker im Winkel abstellt als beim Weibe. Ich habe mich
jedoch davon überzeugen können, dass die von Merkel als normal
angenommene Configuration bei gutgebauten Frauen häufig genug
vorkommt.
Wird in derselben Lage die Hand mit dem Rücken nach vorn
gebracht (Pronation), dann haben sich Elle und Speiche um einander
herumgewälzt, jedoch so, dass der untere Rand der Speiche stärker
nach innen tritt als die Elle nach aussen. In dieser Lage läuft die
Verlängerung der oben genannten Linie im Zeigefinger aus (Fig. 67,
Pronation).
Zu geringe Entwickelung des Olecranon ermöglicht in der
Streckung ein zu starkes Ausweichen der Unterarme nach hinten,
eine Ueberstreckung, die auch als ein häufig vorkommender Fehler
angesehen werden muss (Brücke).
Nächst den Knochen sind es die Muskeln , die die Form des
Armes bestimmen. Am Oberarm ist es zunächst der grosse Schulter-
muskel, der sich seitlich zwischen die vorn verlaufenden Beuger und
die hinten verlaufenden Strecker einschiebt.
Die Muskeln des Unterarms bilden zusammen einen gleich-
massigen Fleischkegel, der dicht unterhalb des Ellenbogens am
dicksten, nach dem Handgelenk zu in dünneren Sehnen schmal
ausläuft.
Bei guter Entwickelung der Muskeln müssen demnach eine
gleichmässige seitliche Schulterwölbung, eine vordere und eine hintere
Ob er arm Wölbung, sowie eine cylindrische , nach unten schmäler
werdende Wölbung des Unterarms erkennbar sein.
Während zu kräftige Wölbung der Muskeln, oder gar das
Hervortreten einzelner Muskelbündel an männliche Bildung erinnert
und darum beim Weibe ein Fehler ist, so ist andererseits schwäch-
liche Armmuskelbildung, die sich ja leider recht häufig findet, als
Zeichen ungleichmässiger Körperausbildung (vgl. Fig. 63) zu rügen.
Die Haut ist, namentlich am Oberarm, bei der Frau zarter als
beim Mann; das Fettpolster ist reichlicher, wodurch der Arm eine
mehr gerundete Form erhält.
Arm.
163
Da jedocli stärkere Anhäufung von Fett, namentlich am Ober-
arm und der Schulter , ein Zeichen reiferen Alters ist , so ist ein
runder Frauenarm nur dann schön, wenn sich unter der Haut
die Wölbunsren der Muskeln erkennen lassen.
Fig. 68 Scliöii gerundeter Arm (Miinclineriii).
Am Ellenbogen und etwas darunter haftet die Haut der knöcher-
nen Unterlage etwas fester an, wodurch daselbst am Unterarm eine
kleine Abflachung, im Ellenbogen ein bei Streckung sich vertiefendes
Grübchen entsteht. Eine gute Form zeigt der linke Arm von Fig. 68.
Fig. 69 kann als Vorbild dienen eines schön gebauten Arms mit
kräftig entwickelten und doch weichen, echt weiblichen Formen.
164
Hand.
Fig. ü9. (Scliöii gebauter Arm und Schulter (Schwäbin).
Eine kleine Hand gilt für schön. Vom anatomischen Stand-
punkt können wir jedoch nur verlangen, dass sie ein Neuntel der
Körperlänge betrage. Sie wird demnach bei der Frau im Verhältniss
zur Körperlänge und zum Bau des Skelets stets kleiner und zier-
licher sein als beim Manne.
Hand.
165
Als Fehler haben wir zu betrachten breite, plumpe Handfläche,
dicke, kurze und krumme Finger, starkes Vortreten der Finger-
knöchel und Gelenke. Alle diese Fehler lassen sich auf rhachitische
70. Kräftige weiblich geformte Arme und Hände eines
Wiener Mädchens.
Entstellungen zurückbringen, und ich bin geneigt, sie in weitaus den
meisten Fällen auch als solche aufzufassen.
Je breiter die Endglieder sind, desto breiter, kürzer und flacher
müssen auch die Nägel sein.
Die Muskeln treten an der Hand wenig hervor, dagegen ist
die weichere Fülle durch Fettansatz ein mit Recht geschätztes weib-
166 Untere Gliedmassen.
liclies Gesctlechtsmerkmal, das bei genügender Elasticität der Haut
die Bildung der Grübchen über den Gelenken veranlasst.
Als Vorzüge können demnach gelten: schmale, weich ge-
rundete Hand mit Grübchen auf den Gelenkflächen, ge-
rade, schmaler werdende Finger, gebogene Nägel, deren
Länge die Breite übertrifft.
Kräftige , dabei doch weiblich abgerundete Arme zeigt ein
Wiener Mädchen (Fig. 70). An der linken Hand sind die Grübchen
über den Fingergelenken sehr schön ausgeprägt ; der Ansatz der Arme
an die Schulter ist namentlich rechts als mustergültig zu erkennen.
Verschiedene Gelehrte haben sich darüber gestritten , ob und
wie oft der Zeigefinger der Menschen länger sei als der Ringfinger.
Da nämlich beim Affen der zweite Finger stets kürzer ist als der
vierte, so kann die grössere Länge des zweiten Fingers als ein
Zeichen höherer Entwickelung aufgefasst werden.
Casanova, Mantegazza u. a. thun sich zu gute mit ihren dies-
bezüglichen Entdeckungen und halten die grössere Länge des zweiten
Fingers für eine seltene, schöne Erscheinung. Li seiner Physiologie
des Weibes, die mir in deutscher Uebersetzung vom Jahre 1894 vor-
liegt, hat Mantegazza denselben Standpunkt eingenommen. Es scheint
ihm demnach unbekannt zu sein, dass Braune^) bereits im Jahre 1874
durch zahlreiche Messungen nachgewiesen hat, dass die scheinbare
Verkürzung des zweiten Fingers meist auf einer schiefen Stellung
desselben zu den Mittelhandknochen beruht, und dass bei durch-
schnittlich 70 ^jo der von ihm gemessenen Menschen der zweite
Finger in der That der längere war.
Immerhin aber bleibt bestehen, dass sich dies „Zeichen höherer
Entwickelung" beim Weibe viel häufiger findet als beim Manne.
d) Untere Gliedmassen.
Bei der Beurth eilung der Länge der Beine im Verhältniss zum
Rumpf wird häufig ein Fehler gemacht, indem nicht die ganze
Länge der .Beine berücksichtigt wird.
^) Festgabe für Carl Ludwig. Verlag von Vogel. Leipzig 1874.
Bein. _____1_J5Z
In der Mitte senkt sich, wie oben besclirieben, der Rumpf
tiefer, während die Beine schräg nach aussen gegen die Hüften zu
abschneiden.
Rechnet man nach Richer die Körperlänge gleich 7 ^/2 Kopf-
längen, dann ist die Länge des Rumpfes mit dem Kopf, in der
Mitte gemessen, bis zum Schamsjaalt gleich vier Kopflängen, die
Fänge des Beines, bis zum Hüftgelenk gemessen, ebenfalls gleich
vier Kopflängen. Die Beine überragen deshalb die halbe Körper-
länge um ein Viertel Kojjflänge und stehen deshalb um ebensoviel
höher als die Körpermitte.
Dies ist beim Manne genau ebenso wie beim Weibe. Der
Unterschied zwischen beiden besteht jedoch in Verhältnissen, die
durch die Form des Beckens gegeben sind. Beim Manne ist es
schmal und hoch, so dass der mittlere, zwischen die Beine sich ein-
schiebende Rumpftheil in spitzerem Winkel tiefer -nach unten tritt,
wodurch die Körpermitte scheinbar am Rumpfe ebenfalls tiefer rückt.
Bei der Frau dagegen ist das Becken breit und flach, der mittlere,
zwischen die Beine sich einschiebende Rumpftheil tritt in stumpfem
Winkel weniger tief und die Körpermitte steht demnach scheinbar
höher als beim Manne.
Dadurch, dass sich der Umriss des Beines in den der Hüften
fortsetzt, welche wegen der steilen und hohen Darmschaufeln beim
Manne schmäler und länger erscheinen, wird der Eindruck des
längeren Beines beim Manne noch erhöht.
Die Länge des Beines lässt sich nach Richer bestimmen auf
vier Kopflängen, nach Fritsch-Schmidt ist die Länge des Ober-
schenkels gleich dem Abstand des Hüftgelenks von der Brustwarze
der anderen Seite, die Länge des Unterschenkels gleich dem Abstand
des Hüftgelenks von der Brustwarze derselben Seite.
Die Länge des Oberschenkels ist ungefähr gleich der Länge
des Unterschenkels zusammen mit der Höhe des Fusses.
Man hat früher angenommen, dass beim Weibe der Schenkel-
hals mehr horizontal zum SchenkelkoiDf verläuft als beim Manne.
Langer ^) hat nachgewiesen , dass dies unrichtig ist , und dass der
1) 1. c. p. 229.
168 ' Bein. ^
mehr oder weniger horizontale Verlauf des Schenkelhalses nichts
mit dem Geschlecht zu thun hat. Höchst wahrscheinlich ist der
horizontale Schenkelhals und die dadurch verursachte Verkürzung
des Oberschenkels in den meisten Fällen , beim Manne sowie beim
Weibe, auf den Druck der Körperlast bei rhachitischer Anlage
zurückzuführen.
Von den Beinen gilt bezüglich des Knochengerüstes im all-
gemeinen dasselbe, was von den Armen gesagt ist.
Wir haben als durch Rhachitis entstandene Fehler zu be-
zeichnen: Verdickung des unteren Gelenkendes des Oberschenkel-
knochens (Femur), namentlich an seiner inneren Seite, demgemäss
Verdickung des Kniegelenks und schiefer Ansatz des
Unterschenkels an den Oberschenkel. Verdickung der Unter-
schenkelknochen am Knie und an den Knöcheln, demnach plumpes,
verdicktes Sprunggelenk und schiefer Ansatz des Fusses
im Sprunggelenk bei tieferem Stand des massigeren inneren
Knöchels. Dazu kommt beim Beine aber noch der Druck der Körper-
last und dadurch stärkere Verkrümmung der mittleren Stücke der
Röhrenknochen. Die gemeinschaftliche Folge aller dieser krankhaften
Veränderungen ist die Verkürzung der Gesammtlänge des Beines ^).
Je nachdem verschiedene Momente, wie Beschäftigung, Beruf,
stärkere oder schwächere Belastung zusammengewirkt haben, erhalten
wir die verschiedenen Formen der krankhaften Beine, die X-Beine,
die 0-Beine , die Säbelbeine etc. , beim Fusse aber den mehr oder
weniger ausgeprägten Plattfuss.
Gröbere Fehler derart sind leicht zu erkennen. Hier handelt
es sich hauptsächlich darum , auch geringere Grade dieser Ab-
weichungen beurtheilen zu können.
Es ist oben schon gesagt, dass man sich vom geraden Verlauf
der unteren Gliedmassen dadurch überzeugen kann, dass in der in
') Sehr lehrreich ist eine Beobachtung von E. Dubois (Archiv für Anthro-
pologie XXV, Heft 4). Er fand, dass das Hirngewicht stets in einem genauen
Verhältniss zur Sitzlänge, nicht dagegen zur Gesammtlänge des menschlichen
Körpers steht. Der Schluss liegt nahe, dass das Missverhältniss im letzteren
Falle nicht . durch entwickelungsgeschichtliche Störungen, sondern durch krank-
hafte, meist durch Rhachitis veranlasste Verkürzungen der unteren Extremitäten
bedingt wird, und dass dieselben demnach ausserordentlich häufig vorkommen.
^ein^^____ 169
Fig. 30 angewiesenen Stellung die Beine sicli an vier Punkten, am
oberen Drittel der Oberschenkel, am Knie, an der Wade und am
inneren Knöcbel berühren müssen. Bei Frauen können bei guter
Füllung die Oberschenkel auch in ihrer ganzen Länge einander an-
liegen, ohne dass dies ein Fehler ist.
Ein weiteres durch Mikulicz angegebenes Mittel ist, sich durch
Messung davon zu überzeugen, dass die zweite Zehe, die Mitte des
Sprunggelenks, die Mitte des Knies und die Mitte des Hüftgelenks
in einer geraden Linie liegen (Fig. 71).
Da die Lage des Hüftgelenks selbst an der Lebenden oft schwer
zu bestimmen ist, kann man statt dessen die Mitte des Leisten-
bandes setzen.
Rückt aus besagter Linie die Kniescheibe nach innen , dann
besteht ein X-Bein, ein bei Weibern sehr häufig vorkommender Fehler,
der in leichtem Grade ebenso wie der schiefe Ansatz des Unterarms
von Einzelnen darum als normal angenommen wird, weil er so ausser-
ordentlich häufig vorkommt.
Mit dem X-Bein darf man nicht eine durch Beugung verursachte
Einwärtsdrehung des Knies verwechseln, wie sie Fig. 1 zeigt. Am
gestreckten rechten Bein dieser Figur kann man erkennen, dass
dasselbe völlig gerade ist.
Unwillkürlich sieht man jedoch die ächten X-Beine mit milderen
Augen an, da sie an die mit Recht beliebte Stellung erinnern, welche
die Schamhaftigkeit des Weibes so schön zum Ausdruck bringt.
Aus demselben Grunde findet man die Abweichung des Knies
nach aussen, das 0-Bein, gerade beim Weibe um so viel hässlicher.
Scheinbar der Geraden von Mikulicz entsprechend ist eine Ver-
bindung des X-Beins mit dem Säbelbein, wie es Fig. 19 zeigt. Die
Abweichung des Knies nach innen wird durch den im Bogen erst
nach aussen und dann ebenfalls nach innen abweichenden Unter-
schenkel ausgeglichen , so dass Fussgelenk , Knie und Hüftgelenk
ungefähr in einer Geraden liegen.
Wenn die vordere Ansicht des Beines gut ist, muss es die
hintere ebenfalls sein. In der seitlichen Ansicht hingegen kann durch
rhachitische Verkrümmung sowohl als durch Fehler in den Knie-
bändern (Brücke) eine Abweichung entstehen, die man nach Brücke
170
Knie.
an einer Linie controliren kann, die vom Obersclienkelknorren zum
äusseren Knöchel gezogen wird (Fig. 72).
Diese Linie muss das Knie in der Mitte seiner Breite treffen,
Fig. 71. Bestimmung der Geradheit
des Beines uacli Mikulicz.
Fig. 72. Brücke'sclie Linie.
wenn das Bein gut gestreckt ist. Trifft sie dasselbe weiter nach
vorn, dann besteht Ueberstreckung oder Abweichung des Unter-
schenkels nach hinten bei zu langem Kniebande, trifft sie es zu weit
nach hinten, dann ist das Knie zu stark nach vorn durchgebogen.
Wade. Knöchel. 171
Da einerseits die Muskeln beim Manne stärker entwickelt sind
als beim Weibe, andererseits aber ein absolut dickerer Schenkel
schon beim heranwachsenden Mädchen ein wichtiges secundäres Ge-
schlechtsmerkmal bildet, so muss die Dicke des weiblichen Schenkels
hauptsächlich auf ein stärkeres Fettpolster zurückgeführt werden,
und demgemäss müssen die Formen der Muskeln viel weniger stark
hervortreten als beim Manne.
Darum ist ein flacher Oberschenkel, der, entsprechend der vorn
und hinten am kräftigsten entwickelten Muskulatur, das Bein von
vorn schmäler, von der Seite breiter erscheinen lässt, dem Manne
eigenthümlich , der Frau dagegen ein runder Oberschenkel , der in
jeder Ansicht dieselbe weiche Form zeigt.
Die Muskulatur spielt beim Weibe nur insofern eine Rolle, als
der Oberschenkel, dem Fleisch entsprechend, im oberen Drittel, also
unterhalb der Schenkelknorren, am stärksten gewölbt sein muss.
Als Fehler ist anzusehen, wenn das Fett darüber so stark an-
gehäuft ist, dass der ümriss des Oberschenkels von der Hüfte in
gerader oder gar eingefallener Linie nach dem Knie zu abläuft.
Auch am weiblichen Knie werden die Contouren durch stärkere
Fettanhäufung weicher, jedoch muss das Knie dünn sein, weil es
sonst an rhachitische Bildung erinnert.
Dasselbe wie vom Oberschenkel gilt von der Wade des Weibes;
während man an der Wade des Mannes die Muskeln muss erkennen
können, sind dieselben beim Weibe durch stärkeres Fettpolster zu
einer gleichmässigen Rundung vereinigt, die im oberen Drittel jedoch,
den in der Tiefe liegenden Muskelbändern entsprechend, den stärksten
Umfang hat (Fig. 73).
Durch unzweckmässige Strumpfbänder wird ihre Form , wie
oben bereits erwähnt, verdorben.
Ein schlanker Knöchel ist ein grosser Vorzug, weil er
einerseits, beruhend auf zarterem Knochenbau, ein secundäres weib-
liches Geschlechtsmerkmal bildet, andererseits eines der wichtigsten
Merkmale ist, um frühere Rhachitis auszuschliessen.
Enges Handgelenk und enge Knöchel sind , wie beim Pferde
die engen Fesseln, das hervorragendste Zeichen einer guten Rasse,
Der Fuss ist nächst der Taille derjenige Körpertheil, der
172
Fuss.
die stärkste Verunstaltung durch fehlerhafte Bekleidung zu er-
dulden hat.
Was seine Grösse betrifft, so gilt von ihm dasselbe, was be-
reits von der Hand gesagt ist. Sie muss im Verhältniss stehen zur
Körpergrösse, und zwar nach Quetelet sechs- bis höchstens sieben-
Fig. 73. Schön geformte Waden und Füsse. (Aufnahme von Heid, Wien.)
mal in derselben enthalten sein. Die Länge des Fusses ist demnach
grösser als die des Kopfes; nach einer alten Regel ist die Länge
des Fusses gleich dem Umfang der geballten Faust.
Von allen Fehlern des Fusses als Ganzes ist der häufigste der
Plattfuss, der meist auf Rhachitis beruht.
Während bei gut gebautem Fusse seine innere Wölbung der-
art sein soll, dass ein Vögelchen, wenn auch nur ein ganz kleines.
Fuss.
173
darunter sitzen kann, sinkt beim Plattfuss das Gewölbe ein und die
Sohle liegt in grösserer Fläche dem Boden an. Von dem Vorhanden-
sein eines geringeren Grades von Plattfuss kann man sich über-
zeugen, wenn man den mit Wasser befeuchteten Fuss auf dem Boden
abdrückt (Fig. 74).
Der guten Wölbung entspricht ein hoher Rist.
Wir haben demnach als Vorzüge des Fusses die gute Wöl-
bung und den hohen Rist zu fordern.
Eine richtige Wölbung und entsprechenden Rist zeigen die
Fig. 74. Abdrücke vom normalen («) und von Plattfüssen (& c d) nach Volkmann.
Füsse von Fig 73 ; sie können als Muster eines schön gebauten, wenn
auch nicht allzu zarten, weiblichen Fusses gelten.
Da beim Fuss ebenso wie bei der Hand das Skelet viel weniger
von Weichtheilen bedeckt wird als an anderen Körpertheilen, so übt
seine Bildung einen hervorragenden Einfluss auf die äussere Form.
Ein Fehler ist ein kräftiges, grosses, ans Männliche erinnerndes
und ebenso ein plumpes, dickes, durch Rhachitis verunstaltetes Fuss-
skelet, und aus beiden Gründen ist ein zierlicher, schmaler Fuss mit
langen, schmalen Zehen eine Zierde des Weibes.
Von den Zehen ist bei guter Entwickelung die zweite am
längsten. Braune ^) hat nachgewiesen, dass schon beim Embryo die
^) Festgabe von Carl Ludwig.
174 Zehen.
zweite Zelie am längsten ist, und dass dies bei mehr als 70 ^/o von
Erwachsenen, die er mass, ebenso war.
Die scheinbar grössere Länge der grossen Zehe rührt davon
her, dass im Stiefel die grosse Zehe gerade bleibt, während die
anderen Zehen eine Krallenstellung einnehmen , die sie kürzer er-
scheinen lässt.
Abgesehen von dieser Krallenstellung bewirkt der dauernde
Druck zu enger Stiefel eine Drehung der grossen Zehe nach ein-
wärts mit starkem Hervortreten ihres verdickten Mittelfussgelenkes.
Dieser sehr häufig vorkommende Fehler ist besonders deutlich
in Fig. 23.
Weniger ein Fehler als vielmehr ein meist unerhört ver-
klingender Nothschrei der Natur nach besserer Bekleidung sind die
Hühneraugen. Bei ihrer geringen Ausdehnung können sie die Form
des Fusses nur wenig entstellen.
Wie es scheint , will sich jedoch die Natur der leidenden
Menschheit erbarmen : Pfitzner ^) hat durch eine grössere Reihe von
Untersuchungen festgestellt, dass bei einer grossen Anzahl von
Menschen die kleine Zehe, der Lieblingsplatz der Hühneraugen, an-
statt aus drei nur aus zwei Knochen besteht, woraus er schliesst,
dass die kleine Zehe des Menschen in einem Rückbildungsprocess
begriffen ist und im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr ver-
schwinden wird.
Auch hier scheinen wieder die Frauen den Männern in der
Entwickehmg voraus zu sein, denn Pfitzner fand unter je hundert
Frauen 41, unter je hundert Männern blos 31, deren kleine Zehe
nur zwei Knochen besass.
Derselbe Autor stellte fest , dass auch die grosse Zehe bei
Weibern im Verhältniss viel kleiner ist als bei Männern.
Wir können demnach als Merkmal guter weiblicher Bildung
für die Zehen festsetzen: lange zweite Zehe, kurze erste und sehr
kurze fünfte Zehe.
Wir haben hiermit die wichtigsten Punkte zur Beurtheilung
der unteren weiblichen Gliedmassen hervorgehoben ; zu erwähnen
^) Citirt bei Havelock EUis, Mann und Weib.
Ueberblick der gegebenen Bedingungen normaler Körperbildung. 175
bleibt nur noch, dass man die richtige Grestaltung derselben sowie
mögliebe Fehler auch am Gang, namentlich in der Ansicht von
hinten, leicht erkennen kann.
In ergötzlicher, jedoch ernst gemeinter Weise beschreibt Walker
im 21, Kapitel seiner „Beauty of woman" die „External indications;
or Art of determining the precise figure, the degree of beauty, the
mindä, the habits and the age of woman , notwithstanding the aids
and disguisses of dress".
Jedem, der sich dafür interessirt, kann ich diese naive Leetüre
nur empfehlen.
XL
Ueberblick der gegebenen Bedingungen
normaler Körperbildung.
Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, den Leser, der bis hierher
meinen Erörterungen gefolgt ist, davon zu überzeugen, dass der
Begriff der weiblichen Schönheit nicht ausschliesslich Greschmacks-
sache ist, und dass es einzelne unumstössliche Thatsachen giebt, die
diesen Begriff ganz unabhängig von der individuellen Auffassung
bestimmen. Der Weg ist neu, vieles ist noch dunkel, jedoch bin
ich überzeugt, dass sich noch mehr Gesetze werden feststellen lassen,
um den allgemeinen Begriff der Schönheit noch schärfer zu um-
schreiben. Absichtlich habe ich es auch so viel möglich vermieden,
anatomische Einzelheiten zu bringen, um durch eine zu grosse Fülle
davon den Gesammteindruck nicht zu verwischen.
Wenn wir die bisher angeführten Thatsachen überblicken, dann
ergiebt sich zunächst, dass wir eine Reihe von Massen besitzen,
deren Grösse und gegenseitiges Verhältniss durch die Natur unab-
änderlich vorgeschrieben ist. Ein Körper, der die geforderten Masse
besitzt, ist normal; jedes Abweichen davon ist ein Fehler,
Schwankungen innerhalb der normalen Grenzen bestimmen die
Individualität,
176 Ueberblick der gegebenen Bedingungen normaler Körperbildung.
Als wichtigste Masse zur Beurtheilung normalen Körperbaus
haben wir zu bestimmen :
» 1. Körperhöhe,
2. halbe Körperlänge von oben zur Bestimmung der Körpermitte,
3. Kopfhöhe,
4. Nasenschambeinlänge (Modulus von Fritsch-Schmidt),
5. Brustumfang,
6. Schläfenbreite,
7. Schulterbreite,
8. Taillenbreite,
9. Hüftbreite,
10. Abstand der Brustwarzen,
11. Beckenmasse,
a) vordere Dornbreite,
b) Kammbreite,
c) Schenkelknorrenbreite (Hüftbreite),
d) hintere Dornbreite,
12. Fusslänge.
Zur Verwerthung dieser Masse haben wir zunächst folgende
Gleichungen:
1. Körperhöhe = 7\'2 — 8 Kopf höhen = 10 Gesichtshöhen
= 9 Handlängen := 6 — 7 Fusslängen = 10^3 Untermoduli,
2. Schläfenbreite = Gesichtshöhe,
3. Armlänge = 3 Kopf höhen,
4. Beinlänge = 4 Kopfhöhen = obere Länge bis zum Schritt,
5. Schulterbreite = 2 Kopf höhen,
„ Brustumfang x Körperlänge „ • i , i
b. ~ ^^~- = Korpergewicht . kg.
Das Verhältniss der einzelnen Masse unter einander wird be-
stimmt durch den jeweiligen Unterschied. Derselbe muss betragen:
1. zwischen Schultern und Hüften mindestens 4 cm,
2. „ Schultern und Taille „ 16 „
3. „ Hüften und Taille „ 12 „
4. „ Schenkelknorren und Kämmen „ 2,5 „
5. „ Kämmen und vorderen Dornen „ 3 „
wobei die erstgenannten Abstände jeweils die grösseren sind.
Secundäre Geschlechtsmerkmale. 177
Als niedrigsten Werth für ein bestimmtes Mass haben wir :
1. Abstand der vorderen Dornen 26 cm,
2. „ „ binteren „ 10 „
3. „. „ Brustwarzen 20 „
Weitere Verbältnisse sind:
1 . Stirnlänge =: Nasenlänge = Mund- und Kinnlänge = Obrlänge,
2. Augenspalte zur Mundspalte zur Gesiclitsbreite = 2:3:5.
Mit der Nasenscbambeinlänge als Modulus können wir
nach der Metbode von Fritscb-Scbmidt die Masse für sämmtlicb.e
Körpertbeile construiren. Da diese mit den übrigen Normalmassen
übereinstimmen, so haben wir damit eine doppelte Controle zur
Beurtheilung des untersuchten Körpers.
Von Winkeln haben wir zu messen:
1. Winkel des unteren Ri]3penrandes in der Herzgrube,
2. unteren Winkel des Kreuzdreiecks;
der erste muss beinahe, der zweite genau 90 ** betragen.
Des weiteren ergeben sich aus den bisherigen Betrachtungen
eine Reihe von körperlichen Eigenschaften, deren Vorhandensein als
Vorzug, deren Abwesenheit als Fehler aufgefasst werden muss.
Hier steht obenan die Beeinflussung des Körpers durch das
Greschlecht, die secundären weiblichen Geschlechtscharaktere,
deren wichtigste ich in folgender Tabelle zusammengestellt habe.
Tabelle I.
Secundäre weibliche (reschlechtscharaktere
gut ausgeprägt: schlecht ausgeprägt:
Vorzüge Fehler
Zierlicher Knochenbau, plumper Knochenbau.
Runde Formen, eckige Formen,
Brüste, keine Brüste.
Breites Becken, schmales Becken.
Reiches, langes Haar, dünnes, kurzes Haar.
Gerade, niedrige Schamhaargrenze, hohe, spitz zulaufende Schamhaar-
grenze.
Spärliche Achselhaare, reichliche, lange Achselhaare.
Keine Körperbehaarung, Schnurrbart und starke Körperbehaa-
rung.
Stratz, Die Scliönlieit des weibliclien Körpers. 12
178
Secundäre Geschlechtsmerkmale.
Vorzüge
Zarte Haut,
Euncler Schädel,
Kleines Gesicht,
Grosse Augenhöhlen,
Hohe, schmale Augenbrauen,
Niedriger, schmaler Unterkiefer,
Weicher Ueb ergang von Wange zum
Hals,
Runder Hals,
Feines Handgelenk,
Schmale Hand mit längerem Zeige-
finger,
Runde Schultern,
Gerade, schmale Schlüsselbeine,
Schmälerer, längerer Brustkoi'b,
Schlanke Taille,
Hohles Kreuz,
Voi'stehende, gewölbte Hinterbacken,
Kreuzgrübchen,
Runder, dicker Oberschenkel,
Niedriger, stumpfer Schambogen,
Weiche Knieumrisse,
Runde Wade,
Feines Fussgelenk,
Trockener Fuss mit
schmalen Zehen,
Grössere Länge der zweiten und grössere
Kürze der fünften Zehe,
Breite vordere Schneidezähne,
Fehler
dicke Haut,
eckiger Schädel,
grosses Gesicht,
kleine Augenhöhlen. .
niedrige, buschige Augenbrauen,
hoher, breiter Unterkiefer,
scharf abgesetzter Hals mit vorspringen-
dem Unterkiefer,
eckiger Hals mit vorsteh endem Kehlkopf,
plumpes Handgelenk,
breite Hand mit längerem Ringfinger.
eckige Schultern.
gebogene, dicke Schlüsselbeine.
kurzer und breiter Brustkorb.
Fehlen der Taille.
gerades Kreuz.
flache, kleine Hinterbacken.
keine Kreuzgrübchen.
flacher, naagerer Oberschenkel.
hoher, spitzer Schambogen.
scharfe Knieumrisse.
eckige Wade,
plumpes Fussgelenk.
plumper, dicker Fuss mit
breiten Zehen.
grössere Länge der ersten und stärkere
Entwickelung der fünften Zehe,
schmale Vorderzähne.
Mit Berücksichtigung der Entwickelung, Ernährung und Lebens-
weise, sowie des Einflusses von Krankheiten erhalten wir:
Tabelle IL
Vorzüge
Symmetrie beider Körperhälften,
Tiefer Stand der Körpermitte,
Normales Körpergewicht,
Glatte, elastische Haut,
Gleichmässige Muskelentwickelung,
Feine Gelenke,
Gerade Augenspalten,
Gut gewölbte Oberlippe.
Fehler
Asymmetrie beider Körperhälften.
hoher Stand der Körpermitte.
zu grosses oder zu kleines Körper-
gewicht.
schlaffe, faltige Haut.
ungleichmässige Muskelentwickelung,
plumpe Gelenke.
schiefe Augenspalten.
stark vorspringende Oberlippe, dicke
Oberlippe, zu kurze Oberlippe (Hasen-
scharte).
Entwickelung, Ernährung, Krankheiten etc.
179
Vorzüge
Gerade, gleichgestellte Zähne,
Gleichmässige Rundung des Gesichts,
Schmale, gerade Nase,
Rundes Kinn mit Grübchen,
Runde Schultern,
Gerade Wirbelsäule,
Gleichmässig gewölbter Brustkorb,
Hochgestellte, runde, pralle Brüste,
Flacher, runder Leib,
Gewölbter Rücken,
Gerade, obere Gliedmassen.
Runder Ellenbogen,
Schmale, lange, kleine Hand,
Längerer, zweiter Finger,
Gebogene, lange Nägel,
Gerade, lange Beine,
Schmaler, langer Fuss,
Gerade grosse Zehe,
Längere zweite Zehe,
Fehler
schräge, unregelmässig gestellte Zähne.
vorstehende Backenknochen, vorsprin-
gende Kauwerkzeuge.
breite Nase, Stumpfnase, Mopsnase.
Doppelkinn, Hackenkinn.
eckige, stark abfallende Schultern.
Verkrümmung der Wirbelsäule.
flacher Brustkorb, schiefer Brustkorb,
Hühnerbrust, Schusterbrust, Trichter-
brust.
tief angesetzte , sinkende , schlaffe
Brüste, Hängebrüste.
Spitzbauch, Hängebauch, Froschbauch.
flacher Rücken, runder Rücken.
schief angesetzter Unterarm, Vortreten
des Ellenköpfchens.
spitzer Ellenbogen.
kurze, breite, grosse Hand.
längerer vierter Finger.
breite, flache Nägel.
kurze Beine, krumme Beine, 0-Beine,
X-Beine, Säbelbeine.
plumper, breiter Fuss.
nach innen gekrümmte grosse Zehe.
längere erste Zehe.
Diese Tabelle Hesse sich ohne Mühe noch sehr viel mehr ver-
vollständigen, jedoch ist sie hinreichend, um darzuthun, wie viel Avir
für die Beurtheilung des Körpers bereits gewonnen haben.
Es sei dem Leser überlassen, unter den beigefügten Abbil-
dungen zahlreiche, nicht immer erwähnte Fehler aufzusuchen. Unter
allen bisher gegebenen Figuren sind nur zwei, die allen gestellten
Anforderungen genügen, Tafel II und Fig. 54; die letztere findet
sich in Fig. 62 im verlorenen Profil.
Das javanische Mädchen Fig. 24 entspricht trotz der guten
Verhältnisse des übrigen Körpers nicht unseren Ansprüchen. Ent-
sprechend ihrer Rasse hat sie einen verhältnissmässig zu grossen
Kopf und eine weniger entwickelte Gesichtsbildung.
Bei Vergleichung der zweiten mit der ersten Tabelle wird man
finden, dass verschiedene Fehler sowie Vorzüge auf beiden genannt
sind. Die gleichen Fehler können von verschiedenen Ursachen her-
180 Praktische Verwerthung.
rühren, wie die Symptome von verschiedenen Krankheiten. Das-
selbe Symptom kann von dieser wie von jener Krankheit verursacht
werden ; aber nur durch Zusammenstellung der verschiedenen Sym-
ptome im gegebenen Falle, durch sorgfältiges Sichten, Messen und
Erwägen erlangt man ein deutliches Bild der Krankheit und ihrer
Complicationen.
XII.
Praktische Verwerthung der wissenschaftlichen
Auffassung weibUcher Schönheit.
Wissenschaftliche Untersuchungen haben nur dann für weitere
Kreise Werth, wenn sie einem praktischen Zwecke dienstbar gemacht
worden sind.
Da der weibliche Körper als solcher seit Abschaffung des
Sklavenhandels keinen Marktwerth mehr hat , so besteht das Be-
dürfniss, denselben nach einem festen Massstabe beurtheilen zu
können, sich eine gewisse Kennerschaft, gleich der der Pfei'de- und
Weinkenner, anzueignen, im allgemeinen nicht mehr.
Trotzdem hat auch jetzt noch die körperliche Schönheit für
die Besitzerin einen hohen Werth, um so mehr, da sie zugleich ein
Zeichen körperlicher Gesundheit ist.
Die Entwickelung und Ausbildung weiblicher Schönheit kann
willkürlich befördert oder geschädigt werden und zwar am meisten in
den Jahren des Reifens. Ein fester Massstab zur Beurtheilung der-
selben ist demnach von grossem Werth für alle, die heranwachsende
Mädchen zu überwachen haben.
Den Eltern und namentlich den Müttern ist die heilige Pflicht
auferlegt, in zarter Sorge den knospenden Leib des zukünftigen
Weibes vor allen Schädlichkeiten zu wahren und durch liebende
Fürsorge in schöner Blüthe sich entfalten zu lassen. Mit Dank-
barkeit gedenke ich so mancher unter ihnen, die mir genug ver-
Praktische Verwerthung der wissenscliaftliclien Auffassung etc. 181
traute, um mir einen Antlieil an diesem ilirem erhabenen Werke
zu gönnen.
In zweiter Linie liat die Kenntniss des normalen weiblichen
Körpers einen praktischen Werth für den Künstler bei der Wahl
seiner Modelle, für den Kritiker bei der Beurtheiknig des Kunst-
werks.
Dass für den ersten der künstlerische Blick und die Kenntniss
der Anatomie allein nicht genügen, habe ich bereits an einigen Bei-
spielen bewiesen, die sich durch zahlreiche andere vermehren lassen.
Für den Kritiker ist, wenn er seinen Beruf ernst auffasst, ein
fester Massstab von noch viel grösserer Wichtigkeit, da er sowohl
das Modell als das , was der Künstler daraus machte , zu be-
urtheilen hat. "
Bevor wir diese besonderen Zwecke näher besprechen, wollen
wir jedoch zunächst die praktische Verwendbarkeit der bisherigen
Erörterungen an Beispielen erproben.
Man hat behauptet, dass sich alle körperlichen Vorzüge nie-
mals an einem lebenden Weibe zusammen finden lassen. Durch
meinen Beruf kam ich öfters in die Lage, mich von der Unrichtig-
keit dieser Auffassung zu überzeugen und dieselbe objectiv wider-
legen zu können. Da ich jedoch erst allmählig die Grundlagen zur
objectiven Beurtheilung ausarbeitete, so sind meine ersten Aufzeich-
nungen nicht alle so vollständig, dass ich sie verwerthen kann.
Ausserdem aber war ich aus leicht begreiflichen Gründen nicht stets
in der Lage, mit der erforderlichen Genauigkeit und Sorgfalt alle
wünschenswerthen Messungen vorzunehmen.
Mehr oder weniger berechtigte Vorurtheile verbieten der Frau,
ihren Körper vor dem Manne mehr als nöthig zu entblösseu. Diese
Vorurtheile finden sich allerdings bei schönen Frauen viel seltener
als bei solchen, die Fehler zu verbergen haben.
Jedenfalls ist dem Arzte die Pflicht auferlegt, diese Gefühle
möglichst zu schonen, und nur selten begegnet er Frauen, die so
unbefangen und so wenig kleinlich sind, dass sie sich ihres Körpers
nicht schämen.
Von acht Frauen besitze ich genaue Angaben , die es ermög-
lichen, deren Schönheit, wenn man so will, schriftlich zu beglaubigen.
182 Beispiele guter Körperbildung.
Zwölf weitere, von denen ich Aufzeiclinungen gemacht habe, be-
sitzen neben vielen Vorzügen nur wenige und unbedeutende Fehler.
Alle Zwanzig gehörten alten Familien des besseren Standes
an und waren alle unter sehr günstigen äusseren Umständen auf-
gewachsen.
Als Beispiel wähle ich Eine aus den letzten Zwölf.
Jungverheirathete Frau von 24 Jahren.
Körperlänge 1G8,5 cm.
Kopflänge 21 cm.
Beinlänge 90 cm (bis zum Oberschenkelknorren).
Schrittlänge 82, bei gespreiztem Bein 84 cm.
Brustumfang 88,5 cm.
Nasenschambeinlänge (Modulus) 62,5 cm.
Schulterbreite 38,5 cm.
Taillenbreite 21 cm.
Hüftbreite 34,5 cm.
Brustwarzenabstand 23,5 cm.
Becken:
Dornbreite 26,5 cm.
Kammbreite 29 cm.
Hüftbreite 34 cm.
Hintere Dornbreite 12 cm.
Körpergewicht 60 kg.
Aus diesen Massen ergiebt sich zunächst die seltene Erschei-
nung, dass die Kopflänge beinahe achtmal in der Körperlänge ent-
halten ist.
Da die Schrittlänge 82 cm beträgt, so liegt die Körpermitte
nur 2^/2 cm höher, also noch unterhalb der oberen Schamhaar-
grenze.
Das Bein ist um 6 cm länger als vier Kopflängen.
Der Unterschied zwischen Schultern und Taille ist 17,5,
zwischen Hüften und Taille 13,5 cm , also jeweils 1 -^/a cm mehr
als nöthig.
Beispiele guter Körperbildung. 183
Die Schultern übertreffen die Hüften, wie vorgeschrieben,
um 4 cm.
Am Becken übertrifft die Kammbreite die Dornen um 2,5 cm,
die Hüftbreite sogar um 5 cm die der Kämme.
Der Abstand der hinteren Dornen von 12 cm ist ein Beweis
für besondere Breite des Kreuzbeins.
Auch der Brustwarzenabstand überschreitet das erforderliche
Mass um 8^/2 cm, trotzdem in diesem Falle die Brüste selbst nicht
gross waren.
Wir sehen daraus, dass die Längenmasse ebenso wie die
Breitenmasse den Normalsatz schöner Verhältnisse stellenweise sogar
beträchtlich überschreiten.
Wenn wir das Körpergewicht aus der Länge und dem Brust-
umfang berechnen, kommen wir auf 61,2 kg. Statt dessen haben wir
hier nur 60 kg, also 1,2 kg zu wenig.
Bei den übrigens normalen Verhältnissen können wir daraus
schliessen, dass die höchste Blüthe noch nicht erreicht ist.
In der That machte der zartgebaute Körper auch einen sehr
jugendlichen Gresammteindruck.
Der einzige Fehler, den ich an diesem sonst tadellosen Leibe
entdecken konnte , war ein etwas schiefer Ansatz des Vorderarms.
Da jedoch das Ellenköpfchen nicht hervortrat, und das Hand-
gelenk sehr schmal war, so ist in diesem Falle Rhachitis als Ursache
auszuschliessen.
Ein ganz ähnliches Beispiel habe ich bei anderer Gelegenheit^)
veröffentlicht :
Die Masse betrugen:
Körperlänge 167 cm.
Kopflänge 21 cm.
Beinlänge 88 cm bis zum Schenkelknorren.
Schulterbreite 38 cm.
Taille 22 cm.
Hüftbreite 34 cm.
Zeitschrift für Geburtshülfe und G-ynäkologie, 33, p. 121.
J^g4 Beispiele guter Körperbildung.
Becken:
Vordere Dornen 26 cm.
Kämme 29 cm.
Hüften 33 cm.
Hintere Dornen 10,5 cm.
Bei beiden Frauen war die Beckengegend besonders schön aus-
gebildet , die unteren Grenzen des Kreuzdreiecks bildeten einen
Winkel von genau 90 ° , die Kreuzgrübchen waren , dem breiten
Kreuzbein entsjjrecheud , sehr gut ausgeprägt, besonders bei der
Letzteren, bei der ich übrigens keinen einzigen Fehler nachzuweisen
im Stande war.
Leider kann ich nicht die Photographien Beider als weitere
Belege hinzufügen. Die Zweite gestattete mir allerdings, eine di-
optrische Aufnahme ihres Rückens an obengenannter Stelle zu ver-
öffentlichen, jedoch entbehrt dieselbe für unsere Zwecke den objec-
tiven Werth der Photographie.
Schwieriger wird die Sache, wenn wir zur Begründung unseres
Urtheils ausschliesslich auf eine oder mehrere Photographien an-
gewiesen sind.
Bei der Verwerthung von Photographien zur Bestimmung der
Proportionen muss man alle diejenigen ausschalten, bei denen durch
Einstellung des Apparates auf den Kopf der Unterkörper perspec-
tivisch stark verkürzt ist. Dieser sehr häufig vorkommende Fehler
lässt sich leicht mit der Bestimmung des Augenpunktes aus der
Staffage nachweisen.
Absolut sichere Resultate erreicht man nur dann, wenn man
mit Linsen von möglichst grosser Brennweite möglichst kleine Auf-
nahmen macht und diese dann nachträglich vergrössert. Auch dann
noch empfiehlt es sich, die Messungen an Negativen oder Dia-
positiven vorzunehmen, da das Albuminpapier beim Aufkleben nach
der Richtung der grösseren Dehnbarkeit des Papiers gezerrt wird.
Allerdings lassen sich viele, wenn nicht die meisten Detail-
fragen an guten Aufnahmen mit ziemlicher Sicherheit feststellen ;
eine genaue Bestimmung der Verhältnisse ist jedoch nur dann mög-
lich, wenn die Aufnahme in symmetrischer Stellung genau von vorn
Beispiele guter Körperbildung. 185
genommen ist. Und aucli dann noch fehlt die Möglichkeit, die
Körperlänge in Centimetern, sowie den Brustumfang und damit das
Körpergewicht zu bestimmen.
Trotzdem kann man immerhin einigermassen befriedigende
Resultate erzielen.
Als Beispiel wähle ich die Photographie eines Mädchens aus
Wien , welche ich durch die freundliche Vermittelung der Kunst-
handlung von Amsler und Ruthardt erhielt (siehe Abbildung Tafel I).
Da der OberkörjDer leicht nach hinten übergebeugt ist, lässt
sich der Fritsch'sche Modulus nicht messen, dagegen kann man die
Verhältnisse der Figur nach Kopflängen bestimmen (Fig. 75).
Trägt man neben dem Umriss die Kopflängen an einem Mass-
stab ab, dann zeigt sich zunächst auch hier wieder, dass die Körper-
länge nur um weniges kürzer ist als acht Kopflängen. Denkt man
sich die Figur gerade aufgerichtet, dann dürfte das Verhältniss
etwa = 7^/4 sein. Die Beinlänge beträgt ziemlich genau vier
Kopflängen, so dass die Körpermitte noch unterhalb der oberen
Schamhaargrenze zu liegen kommt.
Die Lage der Schulterbreite, Taille und Hüftbreite ist auf der
Figur mit punktirten Linien angegeben ; an der obersten ist die
wahrscheinliche Lage der Gelenke sowie der äusseren Schulterbreite
bei gesenkten Armen durch Kreuzchen bezeichnet. Durch Messung
kann man sich überzeugen, dass das Verhältniss der drei Masse den
Anforderungen entspricht , und zwar um so mehr , als die Verkür-
zung auf allen drei Linien ungefähr die gleiche ist.
Das rechte Bein ist so gestellt, dass wir mit Hülfe der
Mikulicz'schen Linie (vgl. Fig. 71) den völlig geraden Verlauf des-
selben mit Sicherheit feststellen können.
Im allgemeinen lässt sich zunächst sagen, dass der Körper
gute Proportionen bietet, dass jedoch die Länge der Beine das nor-
male Durchschnittsmass dabei nicht unbeträchtlich überschreitet.
Zur Vergleichung habe ich in den Umriss einer anderen Auf-
nahme desselben Mädchens (Fig. 76) die Construction von Fritsch
eingezeichnet.
Hier lässt sich zunächst die Nasenschambeinlinie trotz der
asymmetrischen Haltung mit etwas grösserer Sicherheit bestimmen.
186
Beispiele guter Körperbildung.
Das Ueberwiegen der Schulterbreite über die übrigen Breiten-
masse tritt hier noch deutlicher hervor. Construirt man die Fritsch-
Fig. 75. Bestimmung des Wiener Mädcliens (Tafel I) iiacli Kopflängen.
sehe Figur, dann fällt die Scheitelhöhe genau hinein. Dasselbe ist
der Fall mit der linken Schulter und Brust. Die rechte Schulter
ist mit der Brust etwas gesenkt und steht tiefer. Dieser tiefere
Beispiele guter Körperbildung.
187
l-
Stand ist jedoch nur abhängig von der Stellung; denn Nabel und
Hüftgelenke stehen in der richtigen Höhe.
Die Längenverhältnisse am Arme sind richtig; denn sobald
der tiefere Stand der Schulter aus-
geglichen wird, fallen die Messpunkte
in die Gelenke.
Am Bein stehen sie etwas höher,
und bei der Gesammthöhe ergiebt sich,
dass dieselbe auf Kosten der Beine
um das Stück hx grösser ist, als die
Construction verlangt.
Die Kopfbreite lässt sich aus
keiner der beiden Figuren bestimmen.
Aus beiden Messungen erhalten
wir demnach das übereinstimmende
Ergebniss , dass alle Proportionen
richtig sind, dass jedoch die Beine die
üblichen Verhältnisse überschreiten.
Dies ist kein Fehler; wir können
es im Gegentheil als einen Vorzug
ansehen, da dadurch die Körpermitte
am Rumpf um so tiefer tritt. Ausser-
dem aber ist durch die Lage der
Mikulicz'schen Linie die Form des
rechten Beins als völlig normal ge-
kennzeichnet. Es hat dabei einen
schlanken Knöchel, und wenn wir die
innere Tangente ziehen, sehen wir, dass
dieselbe das obere Drittel des Ober-
schenkels, das Knie und den inneren
Knöchel berührt. Die schwächer aus-
gebildete Wade erreicht diese Linie
nicht, und dies ist bei den sonst richtigen Verhältnissen ein Beweis,
dass wir es mit einem noch nicht voll entwickelten Mädchenkörper
zu thun haben. Die Betrachtung der Tafel lässt im übrigen alle oben
erwähnten Vorzüge erkennen; hervorzuheben sind der runde Ellen-
Fig. 76.
Bestimmung des Wiener Mädchens
nach dem Modulus von Fritsch.
188 Beurtheilung nach Massen.
bogen, der gutgewölbte Brustkorb, der gute Ansatz der Jugendlieben,
ebenfalls nocb nicht vollentwickelten Brüste , und der gutgeformte
Fuss mit längerer zweiter Zehe.
Besonders beachtenswerth ist in diesem Falle , dass kein ein-
ziges Zeichen vorhanden ist, das auf Rhachitis oder auf Schwind-
sucht deutet.
Wir haben vor uns eine schöne, gesunde Knospe, die ihre
höchste Blüthezeit noch nicht erreicht hat.
Ein weiteres Beispiel ist eine 17jährige Berlinerin, Margarethe
E. Ich war in der Lage , alle Masse selbst zu nehmen , Professor
G. Fritsch nahm in verschiedenen Stellungen photographische Auf-
nahmen und war so freundlich, mir dieselben zu überlassen. Ausser-
dem aber hat Frau Paczka in liebenswürdigster Weise das Modell
künstlerisch verwerthet.
Wir haben so von demselben Mädchen die Masse, die natur-
getreue Aufnahme und die künstlerische Auffassung zur Vergleichung
vor uns.
Die Masse sind:
Körperlänge 166 cm.
Kopflänge 23 cm.
Beinlänge 85 cm bis zum Oberschenkelknorren.
Schrittlänge 79 cm.
Brustumfang 85 cm.
Nasenschambeinlänge (Modulus) 66 cm.
Schulterbreite 38 (Umfang 92) cm.
Taillenbreite 22,4 (Umfang 65) cm.
Hüftbreite 32 (Umfang 90) cm.
Brustwarzenabstand 19,75 cm.
Scheitelschritthöhe 87 cm.
Becken:
Dornbreite 23 cm.
Kammbreite 27,25 cm.
Hüftbreite 31 cm.
Hintere Dornbreite 1 1 cm.
Beurtheilung nach Massen. j^89
Hieraus folgt zimäclist, dass die Kopflänge 7,2mal in der
Körperlänge enthalten ist, dass demnacli der Kopf unverhältniss-
mässig gross ist.
Das Bein ist um 7 cm kürzer als vier Kopflängen.
Die Körpermitte liegt unterhalb der oberen Schamhaargrenze.
Der Unterschied zwischen Schultern und Taille ist 15,6, zwi-
schen Hüften und Taille 9,6, also um 0,4 und um 2,4 cm zu gering.
Die Schultern übertreffen die Hüften um 6 statt um 4 cm.
Daraus können wir schliessen auf ein stärkeres Ueberwiegen
der Schulterparthie, was an mehr männliche Bildung erinnert oder
an zu geringe Entwickelung des Beckens denken lässt.
Die Beckenmasse haben einen Unterschied von 4,25 und
3,75 cm, sind dabei aber im allgemeinen klein; wir haben also ein
typisch weiblich geformtes Becken, das jedoch im Verhältniss zur
Körpergrösse nicht besonders stark entwickelt ist.
Da der hintere Dornabstand 11 cm, also 1 cm über das Mass
beträgt, so ist daraus zu schliessen, dass das Becken selbst weiblich
ist, jedoch die Schaufeln geringer ausgebildet sind.
Von den übrigen Massen ist auffallend, dass trotz der zu
kurzen Beine die Körpermitte doch noch unterhalb der oberen
Schamhaargrenze zu liegen kommt. Auf die Masse allein ange-
wiesen, müssen wir die Erklärung für diese Thatsache vorläufig
schuldig bleiben.
Was können wir nun aus den Massen allein schliessen?
Zunächst, dass das Mädchen noch nicht völlig entwickelt ist,
da- der Körper für den Kopf zu klein ist und das Becken trotz
guter Masse zu klein für die Schultern.
Ferner haben wir irgend einen Fehler anzunehmen , der die
Verkürzung der Beine veranlasst hat.
Damit steht im Zusammenhang die Verkürzung der ganzen
Körperlänge, die, nach dem Fritsch'schen System berechnet, 10 ^^^
Untermoduli (hier = 16,5), also 170,5 cm betragen müsste statt
166 cm, demnach um 4,5 cm zu kurz ist.
Von den verschiedenen Aufnahmen, welche Professor G. Fritsch
von dem Mädchen gemacht hat, sind zwei in Fig. 77 und 78 repro-
ducirt. Beide Aufnahmen sind unter nicht gerade sehr günstigen
190
Beurtheiluncf nach Photogrammen.
äusseren Umständen mit
Blitzliclit gemacht ; auf
künstlerische Auffassung ist
dabei absichtlich kein Werth
gelegt; sie sollen nichts
weiter sein als wissenschaft-
liche Documente.
Zur Vergleichung mit
den absoluten Massen habe
ich zunächst in die Umrisse
der ersten Photographie
(Fig. 77) einige Grelenk-
punkte und den Modulus ein-
c^etrao-en, daneben auf den
Modulus die Normalmasse
in vollen Linien construirt
und nach der Vorschrift
von Fritsch in punktirten
Linien die wirklichen Masse
der Margarethe beigefügt
(Fig. 79).
Endlich ist in Fig. 80
ein Massstab in Kopflängen
mit einer dioptrisch nach
der Photographie hergestell-
ten Profilzeichnung des Mäd-
chens zusammengestellt.
Aus der Vergleichung
der Figuren können wir jetzt
eine Reihe von Erscheinun-
gen erklären, die uns bei
der Vergleichung der Masse
bereits auffielen.
In Fig. 80 ist auffällig,
dass das Kreuz wenig eingebogen ist, in Fig. 77 resp. 79, dass die
Begrenzungslinien des Unterleibs gegen die Schenkel einen sehr
Fi
77. 17jährige Berlinerin nacli einer Anfnalime
von Gr. Fritsch.
Beurtheilung nacli Photogrammen.
191
Fig. 78. Dieselbe von liinten.
spitzen Winkel bilden. Daraus geht hervor, dass die Neigung des
Beckens eine sehr geringe ist, dass in Folge dessen ein grösserer
Theil der Schamspalte von vorn zu sehen ist, und dass bei dem zu
hohen Stande dieser Theile es erklärlich ist, warum die Körpermitte
192
Beurtheiluno' nach Pliotogrammen.
trotz der kurzen Beine docli nocli unterhalb der oberen Schambaar-
srenze steht. Wäre das Becken bei sonst gieichen Verbältnissen
Fig. 79. Proportionen von Margaretlie, vergliclien mit dem Canon von Fritscli.
stärker geneigt, dann müsste die Körpermitte viel böber am Unter-
leib in die Höbe treten.
Der scheinbare Widerspruch ist also erklärt durch das Zu-
sammentreffen von zwei Fehlern : zu schwache Beckenneigung und
zu kurze Beine.
Beurtheilung nach Pliotogrammen und Massen.
193
Die Kürze der Beine hängt, wie aus Fig. 79 hervorgeht,
namentlich ab von der Verkürzung unterhalb des Knies, und zwar
lehrt uns der Anblick von Fig. 77,
dass es sich um einen etwas schief
angesetzten und zugleich verkrümm-
ten Unterschenkel, ausserdem aber
um einen leichten Grad von Plattfuss
handelt.
Ebenso sind auch die Arme im
Vorderarm verkürzt, und in Fig. 77
erkennen wir deutlich am rechten Arm
das vorspringende Ellenköpfchen.
Ausser der Verkürzung und Ver-
krümmung von Unterschenkel und
Unterarm, ausser dem vorspringenden
Ellenköpfchen haben wir noch Ver-
dickung der Handgelenke und der
Knöchel, und damit ebensoviele Zei-
chen einer früheren Rhachitis.
Trotz der krankhaften Verkür-
zung des Beines bleibt aber immer
noch ein gewisses Missverhältniss zwi-
schen der Kopflänge und der Körper-
länge ; denn selbst bei einer Länge
von 170,5 cm ist sie doch nur gleich
7,4 Kopflängen.
Dies Verhältniss ist aber kenn-
zeichnend für einen noch nicht völlig
ausgewachsenen Körper.
Es ist aber auch ersichtlich, dass
trotz gut entwickelter Muskeln, die
sich namentlich am Oberarm und
Rücken sehr schön ausprägen , die
Formen etwas Eckiges haben; ferner
treten die Schlüsselbeine und die Mus-
keln darüber stark vor, alles in Folge von geringer Entwickelung
Stratz, Die Scliöulieit des weibliclieii Körpers. 13
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Fig. 80. Dioptrisclie ProfilzeicliuuiiE
uacli Eopfläugeu.
194 Fehler und Vorzüge.
des Fettpolsters der Haut. Aucli dies ist ein Zeichen entweder
schlechter Ernährung oder noch nicht vollendeten Wachsthums.
Gegen erstere sprechen aber die kräftige Muskulatur, die gut ent-
wickelten Brüste und die glatte Haut.
Wir haben somit lauter Zeichen , aus denen hervorgeht , dass
das Mädchen seine volle Reife noch keineswegs erreicht hat, dass
es halb Kind, halb Jungfrau ist.
Auffallend bei dem sonst mageren Körper ist die relative
Grösse der Brustdrüsen bei verhältnissmässig wenig von einander
entfernten Warzen. Dies erklärt sich aus der grossen Elasticität
der Haut, die wir auch als den grössten Vorzug dieses Körpers
betrachten können.
Während die Haut, wie besonders aus Fig. 77 ersichtlich, am
Busen dem Brustbein fest anhaftet, hat sie der wachsenden Brust-
drüse hier gar nicht, in der Achselhöhle nur widerstrebend nach-
gegeben, bis die grösste Masse der Drüse seitlich ausgewichen ist;
die Warzen aber sind in gleicher Entfernung von einander stehen
geblieben.
Ein weiterer Vorzug ist der schöne Bau des Auges.
Bei Vergleichung der gegebenen Abbildungen lassen sich leicht
noch zahlreiche weitere Fehler und Vorzüge entdecken.
In der Hauptsache ist der Hauptreiz die jugendliche Frische,
der Hauptfehler die Üeberreste der englischen Krankheit.
Im folgenden werden wir sehen, was der Künstler daraus
machen kann. —
Ich glaube, dass die angeführten Beispiele genügend dargethan
haben, dass man nach festen Regeln jeden gegebenen Körper be-
urtheilen kann, ohne dass dabei irgend welche Beimischung von
persönlichem Geschmack in Frage kommt ; und damit kommen wir
nun auch zur praktischen Nutzanwendung der gesammelten Ein-
drücke.
Verwerthung des Modells. 195
XIII.
Verwerthung in der Kunst und Kunstkritik.
Modelle.
Wenn wir das Modell kennen, so müssen wir über das feine
GefüH staunen, mit dem Frau Paczka dessen Vorzüge zu erhöhen
und die Fehler zu bedecken wusste, ohne dabei jemals das Original
und damit die Naturtreue zu verleugnen.
Tafel III ist eine getreue Nachbildung des Werkes der Künst-
lerin, das direct auf die Aluminiumplatte gezeichnet wurde.
Die gewählte Stellung erinnert an den betenden Knaben im
Berliner Museum.
Frau Paczka wusste nicht , dass das Mädchen Rhachitis hatte,
trotzdem aber hat sie die Zeichen derselben als hässlich empfunden
und sie so weit abgeschwächt, dass sie nicht störend wirken.
Die grössten Schwierigkeiten boten die Beine ; hier galt es, die
leichte X-Form, den Plattfuss, die Verdickung des Fussgelenkes, die
Krümmung und Verkürzung des Unterschenkels zu bedecken.
Das linke Bein ist zunächst im ganzen etwas nach aussen ge-
dreht, wodurch sich die leichte X-Stellung desselben weniger scharf
markirt. Im rechten Beine ist durch die Einwärtsbeugung des Knies
die X-Stellung in natürlicher Weise motivirt und wirkt darum nicht
als Fehler.
Dadurch aber, dass diese Beugung stärker ausgedrückt ist,
lässt sie den Fehler am nicht gebeugten Bein beinahe verschwinden.
Durch Verkürzung ist rechts, durch Drehung links die Ver-
krümmung der Unterschenkel dem prüfenden Auge entzogen, der
Mangel in der Länge derselben ist ausgebessert.
Die Drehung des linken Fusses nach aussen ist gross genug,
um die Messung des geraden Verlaufes durch die Mikulicz'sche Linie
zu vereiteln, und doch auch wieder nicht so gross, dass an dem
Tiefertreten des inneren Fussrandes der Plattfuss erkannt Averden kann.
196 , Verwerthung des Modells.
Am rechten Fuss ist durcli die Bewegung der feMerhafte Stand
desselben völlig verwisclit.
Die Knöchel sind etwas höher gestellt und etwas schlanker
gezeichnet.
Somit hat Frau Paczka durch gut gewählte Stellung und einige
leichte Verbesserungen ihre Aufgabe in glücklichster Weise gelöst.
Das Verhältniss des Kopfes zur Körperlänge ist in dem Kunst-
werk wie 7 zu 1 , also noch ausgeprägter zu Gunsten der Kopf-
grösse.
Die Begrenzungslinie zwischen Rumpf und Beinen bildet einen
stumpfen Winkel, und die Stellung ist so gewählt, dass die Becken-
neigung eine grössere ist.
Durch dieselbe Bewegung wird die Beckenjaarthie mehr nach
vorn gebracht, sie erscheint grösser und zeichnet die Muskeln
deutlicher.
Am Oberkörper ist die schöne Entwickelung der Brüste und
der Muskulatur des Modells unverändert beibehalten.
Alle diese Mittel haben denselben Zweck, die Weiblichkeit und
die Jugend des Modells noch mehr hervortreten zu lassen.
So, wie sie vor uns steht, ist es eine halbgeöffnete Mädchen-
knospe , die mit leichtem Schritte dahinwandelt , um die lächelnde
Zukunft mit ihren offenen Armen zu umfassen.
In der Ansicht von hinten (Tafel IV) war es weit schwieriger,
die gegebenen Fehler zu verbergen ; am rechten, zum Theil bedeckten
Bein ist das Problem wieder durch die Beugung im Knie gelöst;
am linken ist die Einw^rtsstellung des Knies dadurch gemildert, dass
das Becken im Hüftgelenk nach rechts tiefer gestellt ist. Doch lässt
sich nicht leugnen, dass trotzdem der Fehler nicht völlig ver-
schwunden ist.
Die freundliche Künstlerin möge mir verzeihen, dass ich ihr
Werk dazu benutzte, um auch zugleich ein wenig die Künstlerseele
zu analysiren; aber ich fand die Gelegenheit zu verlockend, um
darzuthun , dass der echte Künstler unbewusst den Massstab des
Schönen in sich trägt, und seinem Gefühle folgend als hässlich ver-
meidet, was wir Männer der Wissenschaft als krank und fehlerhaft
brandmarken.
Bildende Kunst. 197
Und indem ich dieses Beispiel anführte , habe ich zugleich
gesagt, was mein Buch dem Künstler sein soll. Es soll ihn nichts
Neues lehren, es soll ihm nur den wissenschaftlichen Beweis liefern,
dass sein Gefühl das richtige ist, es soll ihm ein Wegweiser sein
im Gebiete des Schönen und ihn überzeugen, dass sein Schönheitssinn
denselben Naturgesetzen unterworfen ist, denen wir uns alle beugen
müssen. Wir glauben zu schieben, und wir werden geschoben.
Aus alledem geht hervor, dass das Werk des Künstlers in
hohem Masse von seinem Modell abhängig ist. Wir haben eingangs
schon erwähnt, dass Werke anderer dafür nur einen schlechten Er-
satz bieten, da auch sie unter dem Einfluss des gewählten Modells
sowie der jeweiligen Mode stehen. Wir können auch nochmals auf
die goldenen Worte Dürers zurückweisen, um zur Natur und immer
wieder zur Natur zurückzukehren. „Kunst und Natur sei Eines nur,"
sagt Lessing.
Aber dabei muss man sich hüten, nicht alles für baare Münze
anzunehmen, was in der Natur vorkommt, sondern man muss ent-
weder -einen sehr gut geschulten künstlerischen Blick haben oder in
zweifelhaften Fällen die Wissenschaft zu Hülfe nehmen.
Freilich kann nicht jeder Maler malen, was er will; häufig
muss er malen, was er kriegt. Dies gilt nicht allein von Bildniss-
malern, die häufig die scheusslichsten Gesichter aus keinem anderen
Grunde malen müssen, als weil deren Besitzer oder Besitzerinnen mit
irdischen Gütern gesegnet sind, dies gilt auch von Malern, die in
der Wahl ihres Gegenstandes völlig frei sind.
Es lassen sich Hunderte von Beispielen, besonders unter der
grossen Zahl moderner Maler anführen, aus deren Werken sich ein
reichbesetztes Krankenhaus zusammenstellen liesse. Entweder haben
die Künstler keine besseren Modelle gehabt, oder sie haben deren
Fehler nicht gesehen.
Dass im letzteren Falle , wie Brücke meint , die Liebe eine
grosse Rolle spielt, ist nicht so ganz unwahrscheinlich.
Wenn wir für diesen Punkt die Literatur zu Rathe ziehen, so
finden wir in der That bei den meisten Schriftstellern die Beobach-
tung, dass es die Liebe ist, die das Weib veranlasst, ihren Körper
den Blicken des angebeteten Künstlers preiszugeben.
198 Künstlermodelle.
Das ist der Fall in Heyse's Paradies, in Zola's l'oeuvre, selbst
in Goethe's Briefen aus der Schweiz sagt die erfahrene alte Matrone,
dass es viel leichter sei, ein Weib zu finden, das seinen Körper der
Liebe, als eines, das ihn nur den Augen des Mannes preisgiebt.
Dass dem liebenden Weibe gegenüber der Künstler seine Ob-
jectivität oft schwer bewahren kann, liegt in der menschlichen Natur
begründet.
Eine andere und meiner Ansicht nach höhere Auffassung findet
sich in du Maurier's Trilby (S. 95).
„She was equally unconscious of seif with her clothes on or
without; she could be naked and unashamed."
Das ist dasselbe Gefühl, was wir am unverdorbenen Kinde
sehen; die erste Regung der Liebe zerstört es, wie dies ja auch bei
Trilby der Fall ist.
Die höchste Auffassung habe ich nur bei einem einzigen
Schriftsteller gefunden, und zwar bei dem holländischen Dichter
Vosmaer.
In seiner „Amazone" will die schöne Marciana erst dann dem
Künstler Modell stehen, nachdem sie sich davon überzeugt hat, dass
er sie nicht liebt.
Das ist eine Frau, die weiss, dass sie schön ist, und die sich
aus reiner Liebe zur Kunst entkleidet, aber nicht vor dem Manne,
sondern vor dem Künstler, und zwar vor dem grossen Künstler.
Ein gleicher Geist beseelte die schöne Frau Charlotte Fossetta,
das Modell von Dannecker's berühmter Ariadne. Sie bot sich dem
Künstler, in dessen Hause sie verkehrte, an mit den Worten: „Und
Sie glauben in der That, dass meine Erscheinungsformen Ihrer
Kunst zu wirklicher Förderung gereichen könnten? Gut denn, ver-
fügen Sie über mich, wenn Sie meinen, Neues, Geniales schaffen
zu können" ^).
Derartige Frauen, wie Charlotte Fossetta, Agnes Sorel, Paola
Borghese, Diana von Poitiers, Lady Digby u. a. giebt es aber nur
wenige. Weit häufiger sind die, die sich aus Liebe zum Künstler
^) C. Beyer, Dannecker's Ariadne, Zeitschrift für bildende Kunst. See-
mann & Co., 1897, Heft 10, p. 244.
Kunstkritik. 199
als Modell hergeben. Man denke nur an die Gemahlinnen von
Rubens, die Frau von van der Werö' u. a.
Weitaus die meisten Künstler sind auf bezahlte Modelle an-
gewiesen, die sich meist aus den ärmeren, schlecht genährten Klassen
rekrutiren, so dass man nur ausnahmsweise schöne Gestalten unter
ihnen findet.
Unter den hundert Lichtbildern in dem bekannten „Act" von
Koch und Rieth hat kein einziges dieser Künstlermodelle einen nor-
malen Körper, ebensowenig in den 50 Freilichtstudien von Koch.
Im Kinderact von Max Peiser findet sich nur ein einziges Mädchen
(Blatt 41), das normal gebaut ist. Also Eine unter 200, die aus
dem Modellstehen einen Beruf machen.
Nur ausnahmsweise finden sich unter den zahlreichen Samm-
lungen photographischer Actstudien Aufnahmen , die einen künst-
lerischen Eindruck machen und von richtiger Yerwerthung des
Modells zeugen. Meist wird das Modell nicht vortheilhaft gestellt
oder der Eindruck durch eine geschmacklose Staffage verdorben.
Davon unterscheiden sich vortheilhaft die leider etwas veralteten
Wiener Acte von Heid, einige Wiener Aufnahmen von 0. Schmidt,
sowie eine Münchener Serie von Recknagel, der wahrhaft künst-
lerisches Fühlen nicht abzusprechen ist.
Fig. 81 ist ein Münchener Modell von 17 Jahren. Beleuchtung
und Gruppirung sind harmonisch ausgesucht, der Gegensatz zwi-
schen dem schlanken glatten Mädchenkörper und dem zottigen
Hundeleib kommt gut zur Geltung, alle Vorzüge des ziemlich tadel-
losen Modells sind richtig gewürdigt, die Fehler geschickt verdeckt;
das Ganze macht einen abgeschlossenen, künstlerischen Eindruck,
gleichviel, ob man die Gruppe „Nymphe der Diana" oder „Mädchen
mit Hund" bezeichnen will.
Wenn der Künstler sich, was vielfach geschieht, dadurch helfen
will, dass er von einem Modell diesen, von einem anderen jenen
Körpertheil benutzt, dann thut er der Natur Gewalt an, indem er
die Individualität zerstört. Auf diese Weise wird er niemals im
Stande sein, ein harmonisches Gebilde zu schaffen.
Es giebt nur zwei Wege : Entweder ein tadelloses Modell oder
die sachverständige Verbesserung und Verdeckung der Fehler, wie
200
Kunstkritik.
es Frau Paczka gethan hat. Und für diesen letzteren Fall kann
das Urtheil des Arztes oft von Nutzen sein.
Yiel gehört dazu, ein Kunstwerk zu erschaffen, fast noch mehr
gehört dazu, es richtig zu beurtheilen.
Fig. 81. Müuchener Modell von 17 Jahren mit riissiscliem Windhund.
(Aufnahme von Recknagel Nachfolger.)
Der vollendete Kritiker muss die Geschichte, die Technik der
Kunst, sowie den dargestellten Gregenstand genau kennen, und das
ist für die meisten Menschen beinahe unmöglich zu vereinigen. Dass
sich trotzdem so viele Kritiker finden, liegt an der grossen Selbst-
überschätzung der Menschen im allgemeinen. Nirgends tritt dieselbe
TAi-^jz:;. ji
MciseRbach Eiffarth i Co., Kürichi
JUNGE S 1v1/aj iCiir: «
Nach einer AlqrapMe von Cornelia, Paczka> .
Meisenbacli Riffarfti a:Co.,Münclien
RÜCKANSICHT EINES JUNGEN MÄDCHi'.NS
TM ach einer AlprapHie von Cornelia, Paczka.
Erhaltung körperlicher Schönheit. 201
deutliclier zu Tage als in der Beurtheilung des Portraits irgend
einer bekannten Persönliclikeit. Hier glaubt jeder, dass er berechtigt
und im Stande ist, alle möglicben und unmöglichen Fehler zu ent-
decken.
Ein Urtheil, sei es Lob oder Tadel, auszusprechen ist leicht,
es zu begründen ist schwer, aber doch die eigentliche Aufgabe einer
sachverständigen Kritik. Ich hoffe, dass die kurzen Andeutungen,
die ich im Lauf meiner Arbeit eingestreut habe , dazu beitragen
können, auch in dieser Hinsicht die Besseren unter den Kunst-
kritikern zu läutern. Um richten zu können, muss man erst etwas
wissen.
XIV.
Vorschriften zur Erhaltung und Förderung
weiblicher Schönheit.
Der Eingeweihte steht erstaunt vor der Fülle von Mitteln, die
das Weib besitzt, um Vorzüge zu heucheln, die sie nicht hat, und
Fehler so geschickt zu verbergen , dass sich dieselben in Vorzüge
verändern. Darin ist das Weib Meister, und es wäre vermessen, ihr
darüber noch Vorschriften geben zu wollen ; das hiesse Eulen nach
Athen tragen.
Wer Fehler hat und sie verbergen will, für den sind alle Mittel
erlaubt, und wenn eine Frau ihren an und für sich schon schlechten
Körper noch mehr im Dienste der Mode verderben will, um ihren
glücklicheren Schwestern ähnlich zu sehen, so hat sie fremden Rath
dabei nicht nöthig.
Meine Absicht ist nicht, wie in einem Kochbuch Recepte für
Schönheit oder ein Verzeichniss der zahlreichen, mir bekannt ge-
wordenen Toilettengeheimnisse herauszugeben; ich will vielmehr
darauf hinweisen, wie jedes Weib die ihr von der Natur verliehenen
Gaben am besten entwickeln kann, und da dieselben am meisten
202 Erziehung.
beim heran wacliseiiclen Geschleclite sowohl günstig als ungünstig
beeinflusst werden können, so richten sich meine Worte hauptsäch-
lich an die Mütter.
Ich habe oben bereits darauf hingewiesen, dass Schönheit stets
individuell ist, dass wir deshalb keine mathematisch umschriebene
Form der Schönheit haben, sondern dass dieselbe die höchste Aus-
bildung einer Individualität ist innerhalb der unabänder-
lich feststehenden Grrenzen normaler Entwickelung.
Vorschriften lassen sich deshalb nur geben für die feststehenden
Grenzen; doch ist selbst hierbei häufig der Rath und die Erfahrung
eines Sachverständigen nöthig, und insofern will ich gerne den Vor-
wurf auf mich nehmen, dass ich eine Oratio pro domo halte, indem
ich darauf aufmerksam mache, welche grosse Rolle im Leben der
Frau der Arzt zu spielen berufen ist.
Ich glaube nicht, dass dieselbe unnöthig ist. Allerdings be-
steht schon seit Jahren in England die Sitte, dass alljährlich die
ganze Familie, und namentlich deren weibliche Mitglieder, zum Zahn-
arzt pilgert, um sich das Gebiss nachsehen zu lassen, gleichgültig,
ob dasselbe gut oder schlecht ist.
Ausser den Engländern zeigt aber niemand seine Zähne, so-
lange sie noch gesund sind, und alle anderen Körpertheile werden
von allen, die Engländer einbegriffen, vernachlässigt.
Es giebt allerdings einzelne Ausnahmen, und wie mir, ist es
wohl jedem Arzte hie und da einmal vorgekommen, dass eine Mutter
ihre Tochter untersuchen lässt, um die Gewissheit zu haben, dass
dieselbe nicht krank ist.
Wie viel Unheil könnte verhütet werden, wenn diese Sitte all-
gemein wäre, und wenn in solchen Fällen weder die Mütter noch
die Aerzte sich durch eine gewisse falsche Scham davon abhalten
Hessen, die Untersuchung so gründlich vorzunehmen, als der Ernst
der Sache es erheischt.
Es ist ja im allgemeinen viel leichter, eine deutlich aus-
gesprochene Krankheit zu erkennen, als einen Körper daraufhin zu
untersuchen, dass er keine Krankheit oder Spuren davon besitzt.
Die Sorge für den Körper des Mädchens beginnt eigentlich
schon vor der Geburt, da zu starkes Schnüren während der Schwanger-
Erziehung. 203
Schaft den kmcHichen Körper zeitlebens zu verderben im Stande ist.
Die schwerstwiegenden Sünden werden aber meist in der Periode
des Wachsens und Reifens begangen.
Ich bilde mir nicbt ein, dass es mir gelingen wird, viele Prose-
lyten zu werben — der alte Sömmering ist schon beinahe hundert
Jahre todt, und noch immer werden Corseten getragen — wenn ich
aber auch nur eine oder einige Mütter bekehrt habe, dann ist dies
Buch nicht umsonst geschrieben.
Die erste Regel lautet: Weite Kleider vor und enge Kleider
nach der Geburt, im eigenen Interesse und in dem des Kindes.
Jeder Druck beeinträchtigt den Raum für das werdende Kind
und hemmt es in seiner Entwickelung. Die an und für sich schon
in dieser Zeit stark gespannte Bauchwand wird durch Druck von
aussen noch mehr aus ihrer natürlichen Lage gedrängt, die Muskeln
erschlaffen und sind nie wieder im Stande , ihre frühere Elasticität
zu erlangen.
In den letzten Monaten der Schwangerschaft sind statt des
Corsets Binden empfehlenswerth, die den Bauch unterhalb des Nabels
stützen und heben, ohne zu drücken.
Um die Elasticität der Haut und damit die schöne Form der
Brüste und des Unterleibs zu erhalten, empfiehlt es sich, nament-
lich in der letzten Zeit der Schwangerschaft, diese Theile häufig,
mindestens zweimal täglich, mit einer möglichst kalten Lösung von
30°/oigem Alkohol gründlich zu waschen.
Nach der Geburt muss, namentlich in den ersten Wochen, durch
enge Kleider die Bauchwand so lange in ihrer Lage erhalten und
unterstützt werden, bis sie wieder ihre volle Elasticität erlangt hat.
Dies ist meistens nach 6 Wochen der Fall. Jeder Tag weniger ist
ein Leichenstein auf dem Grabe der Schönheit.
In England erhält das Mädchen, das sich verheirathet , eine
Leibbinde mit auf den Weg, die genau sich an die Form des jung-
fräulichen Leibes anschliesst. Dieselbe wird sofort nach der Geburt
angelegt, drückt wohl am ersten und zweiten Tag, wirkt dann aber
wohlthuend durch den Halt, den sie gewährt, und erhält seiner Be-
sitzerin die jugendliche Form des Bauches.
Die indischen Frauen, deren Beispiel jetzt viele Holländerinnen
204
Erziehuncp.
nachalimen , binden den Unterleib nach der Geburt sehr fest ein,
wobei sie sich der javanisclien Gurita (Fig. 82) bedienen.
Fig. 82. Indische Gurita.
Die Gurita ist eine aus zwei in der Mitte an einander genähten
viereckigen Leinwandlappen bestehende Binde. Der äussere Lappen
ist in fünf bis zehn Streifen jederseits gespalten. Die inneren nicht
gespaltenen Lappen werden fest um den Leib angezogen, wo nöthig,
wird darunter noch ein zusammengefaltetes Tuch zur Erhöhung des
Erziehung. 205
Druckes gelegt, und dann werden die Enden der äusseren Streifen
fest in der Mitte geknüpft. Man kann nun, ohne die Gurita abzu-
nehmen, jeden einzelnen Knoten nach Bedarf enger und weiter
machen. Noch mehr Halt giebt eine Gurita, die bis zur Mitte des
Oberschenkels (a) herabreicht.
Deutschland, Frankreich und andere gebildete Länder aber,
in denen das Schnüren des Unterleibs nach der Entbindung ver-
nachlässigt und von manchen Aerzten thörichterweise selbst abge-
rathen wird, sind die Heimath der Hängebäuche.
Wie für die Mutter enge, so sind für das Kind nach der Ge-
burt weite Kleider angemessen. Je freier es sich bewegen kann,
desto besser können Gliedmassen und Brustkorb sich ausdehnen und
entwickeln.
Darum ist die zweite goldene Regel für das heranwachsende
Mädchen: Weite Kleider und freie Bewegung. Und dies gilt
nicht nur für den Säugling, sondern für das ganze Zeitalter des
Wachsthums.
So natürlich das scheint, so viel wird dagegen gesündigt.
Namentlich die freie Bewegung wird oft falsch aufgefasst. Das
Spielen der Kinder, ihnen von der Natur angeboren, fördert ihre
Entwickelung viel mehr als das systematisch betriebene Turnen, bei
dem von jedem ohne Rücksicht auf jeweilige Körperkraft dasselbe
gefordert wird.
Zu früh angestellte Versuche, ein Kind gehen zu lernen, sind
schädlich. Wenn es die nöthige Kraft besitzt, wird es von selbst
laufen. Erzwingt man dies zu früh, dann werden die zu schwachen
Beine krumm.
Faule Kinder sind meist auch schwache Kinder. Wenn ein
Kind wächst, hat es mehr Bedürfniss nach Ruhe als ein Erwachsener.
Kinder zu ermahnen, dass sie gerade sitzen, ist gut; .ihnen aber
schlechte Stühle ohne Lehne zu geben, um sie dazu zu zwingen,
ist eine Sünde, die das erwachsene Kind mit einem krummen
Rücken büsst.
Die dritte goldene Regel ist: Kräftige Nahrung, frische
Luft und reichlicher Schlaf. Sie sind für Darm, Lungen und
Nerven das, was weite Kleider und freie Bewegung für Knochen,
206 Kleidung.
Muskeln und damit für die Körperform sind. Da aber alle Theile
des Körpers in einander greifen, so kann die gleiclimässige Versorgung
aller nicht entbehrt werden.
Als vierte goldene Regel gilt: Die Pflege der Haut, und
dabei ist Wasser und Seife in sehr reicbliclier Menge für täglichen
Grebrauch ein lange noch nicht genug geschätztes Mittel der weib-
lichen Kosmetik.
Schmutzige Kinder können ja auch schön sein, dies zeugt je-
doch nur von der Unverwüstlichkeit der menschlichen Natur und
ist kein Argument gegen den Rath, durch peinlichste Reinlichkeit die
Thätigkeit der Haut und damit die Schönheit des Körpers zu erhöhen.
Wer weiss , wie viel schöner Murillo's Zigeunerknaben sein
Avürden, wenn sie sich regelmässig gewaschen hätten.
Wenn das Mädchen zur Jungfrau heranreift, dann verfällt es
dem Corset, und zwar um so eher, je weniger „Figur" es hat.
Brücke ^) hat schon darauf hingewiesen, dass gerade die Back-
fische mit gedrungenen Formen „sich zu den schönsten Gestalten
auswachsen", sobald sie emporschiessen.
Je früher man ein Corset anlegt, desto mehr verdirbt es die
Gestalt und vereitelt die volle Entwickelung der Körperformen. Ich
habe bereits oben auf die nachtheiligen Folgen des Corsets hin-
gewiesen. Hier sei nur nochmals hervorgehoben, dass ich das Corset
als solches keineswegs verdamme, sondern nur den Missbrauch, der
damit gemacht wird.
Das Corset ist eine vortreffliche Stütze für die Last der Kleider,
die den unteren Theil des Körpers verhüllen, und dient dazu, den
Druck derselben auf eine grössere Oberfläche zu vertheilen.
Um diesem Zweck zu entsprechen, muss es drei Bedingungen
genügen :
Es muss auf den Hüften ruhen , damit es die weichen Theile
nicht zu sehr drückt.
Es muss lose sitzen, um weder die Bewegungen des Körpers
zu hemmen, noch die unter ihm liegenden Organe, den Magen, die
Leber und die Gedärme zu beengen.
') 1. c. p. 71.
Kleidung. 207
Es darf nicht hoch hinaufreichen, um weder die Athmung zu
hindern, noch die Rückenmuskehi in ihrer Bewegung und Ausbildung
zu beeinträchtigen.
Dazu kommt endlich noch, dass die Schwere der Unterkleider
auf das geringste Mass beschränkt sein soll ; je weniger und je
leichtere Unterkleider getragen werden , desto leichter ist die Auf-
gabe des Corsets.
Von allen mir bekannten Formen ist das Corset Ceinture so-
wie ein von Madame Gache-Sarraute, docteur en medicine, in Paris
angegebenes Modell (auch für Fettleibige geeignet) das beste und
naturgemässeste.
Die Frage, wann ein Corset angelegt werden soll, ist ebenso
schwierig im allgemeinen zu entscheiden, als der Zeitpunkt der
höchsten Blüthe. Vor derselben ist es schädlich, während und nach
derselben empfehlenswerth. Da aber dieselbe, wie ich oben aus-
einandersetzte, bald im 15., bald im 30. Jahre und noch später ein-
tritt, so ist hier eine Entscheidung nur im individuellen Falle
möglich.
Jedenfalls kann man das sagen, dass das Corset nicht eher
angelegt werden darf, als bis die Hüften so breit sind, dass sie
ohne Schnüren eine Stütze gewähren.
Und werden Sie jetzt Ihr Corset ablegen, verehrte Leserin?
Nein, gewiss nicht. Dann, bitte, erbarmen Sie sich wenigstens Ihrer
unschuldigen Tochter und verhüten Sie, dass sie zu früh ihren Körper
entstellt. Später wird sie es ja doch schon von selbst thun, aber
dann haben Sie sich wenigstens nichts vorzuwerfen.
Der zweite dunkle Punkt in unserer Gesittung ist der Fuss.
Frau Paczka versicherte mir, dass sie noch nie einen schönen weib-
lichen Fuss gesehen habe. Ich war glücklicher, aber nicht oft. Auch
die Füsse werden meist schon in der Jugend verdorben und zwar
nicht nur im Reiche der Mitte.
Zahllos sind die Schwestern von Aschenbrödel, denen kein
Opfer zu gross ist, um ihre grösseren Füsse in kleinere Schuhe zu
zwängen. Diese Unsitte würde nur dann aufhören, wenn man wieder
anfinge, auf blossen Füssen oder auf Sandalen zu gehen. Dass dies
aber nicht geschieht , dafür sorgen die zahlreichen Vertreterinnen
208 Weibliche Rassenschönheit.
des schönen GescUechts, die ihre Füsse nicht mehr zeigen können.
Den Muth, den zu kleinen Schuh aufzugeben, um einen schönen Fuss
zu besitzen, werden nur wenige haben.
Passende Strumpfbänder findet man jetzt häufiger als vor
einigen Jahren; doch ist auch hierin noch manches zu verbessern.
Für Kinder und junge Mädchen ist es am besten, überhaupt keine
Strümpfe, sondern Socken tragen zu lassen, die das Bein nirgends
beengen ^).
Wenn ich mir schliesslich noch den bescheidenen Rath erlaube,
dem Frauenarzt Gelegenheit zu geben, durch rechtzeitiges Eingreifen
so manchen sorgfältig verborgen gehaltenen Krankheitsherd im
Keime zu ersticken , so glaube ich in grossen Zügen alles erwähnt
zu haben, was zum Heil und Wohlsein des reifenden Weibes gethan
werden kann.
Ob ich tauben Ohren gepredigt habe, wird die Zukunft lehren.
Aber eines steht fest : dass die Schönheit des weiblichen Körpers
nichts anderes ist als der Inbegriff höchster Gesundheit.
Und die Schönheit der Seele ? Glückselig derjenige, der in der
Lage war, eine schöne Frauenseele so recht von Grund aus kennen
zu lernen. Aber darüber schreiben ist Sünde, denn das lässt sich
nur fühlen im tiefsten Herzen.
XV.
Weibliche Rassenschönheit.
Bei der Besprechung des Gesichtes (S. 101) habe ich beiläufig
erwähnt, dass wir berechtigt sind,. die indogermanische Rasse als
die höchststehende aller jetzt lebenden Menschenrassen anzusehen.
^) Eine sehr ausführliche, namentlich für die Verfertigung von Kleidern
werthvolle Besprechung findet sich, wissenschaftlieh und doch allgemein ver-
ständlich behandelt, in dem Handbuch der angewandten Anatomie von
L. Pfeiffer. 1899, Spamer, Leipzig.
Weibliclie Rassenscliönheit.
209
und dass demnach das indogermanische Ideal weiblicher Schön-
heit als Massstab auch für alle anderen Rassen angesehen
werden muss.
Dass diese Auf-
fassung auch von
höher entwickel-
ten Mitgliedern der
niederen Rassen ge-
theilt wird, habe ich
zu wiederholten Ma-
len auf meinen Reisen
beobachten können.
Als ich im Jahre
1892 Japan bereiste,
fand ich überall Bil-
derbogen , mit den
„schönsten japani-
schen Mädchen" in
Lichtdruck. Mein
Dragoman Jnu-suka,
ein Japaner geringe-
rer Herkunft, wählte,
dazu aufgefordert, als
die seiner Ansicht
nach schönsten Mäd-
chen , gerade die,
welche den japani-
schen Rassentypus,
die schiefgeschlitzten
Augen und die breite
Nase, am besten re-
präsentirten. Dem ja-
panischen Photographen Farsari in Yokohama, der sich selbst-
gefällig „Artist" nannte, es auch war und demgemäss höhere Preise
rechnete, stellte ich die gleiche Frage. Farsari suchte unter seinen
zahlreichen Photographien die heraus, die auch in Europa für schön
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 14
Fig. 83. Japanisclies Mädchen aus Kobe im Bade.
210
Rassentypus und Rassenschönheit.
gelten konnten. Einen
sehr schön gebildeten Kör-
per sowie ein auch, für
europäische Begriffe sehr
anmuthiges Gesicht zeigt
Fig. 83, eine japanische
Venus im Bade.
Nach dem gleichen
Grundsatz habe ich in
Soerabaia unter mehr als
600 javanischen Mädchen
die am meisten dem
europäischen Schönheits-
ideal entsprechenden aus-
gesucht — zwei davon
sind in Fig. 24 und 57,
ein weiteres in Fig. 84
wiedergegeben — und
hatte die Genugthuung,
dass die anwesenden ja-
vanischen Aerzte meine
Auffassung theilten.
Aber nur die höher
entwickelten Individuen
urtheilen so, die grosse
Masse wird stets die Wei-
ber des eigenen Stammes
für die schönsten halten,
und eine höhere Auffas-
sung überhaupt nicht be-
greifen können. Bei uns
ist es ja ebenso; Gewohn-
heit , Ueberlieferung ist
alles, ein selbstständiges
Fig. 84. Satidja. 20jäl]riges Mädchen aus Java. tt n -in i i • i i/
Urtheii ündet sich selten,
und Reformatoren, die mit der Tradition brechen, werden erst von
Rassenschönheit. 211
späteren Gesclileclitern anerkannt. Ich erinnere hier nur an die
grossen Reformatoren der Musik, Beethoven und Wagner.
Jedoch müssen wir einen strengen Unterschied machen zwi-
schen Rassen typ US und Rassenschönheit.
Als Rassentj^pus kann jedes Individuum gelten, das die der
Rasse eigenthümlichen Merkmale besitzt; Rassenschönheit
aber kommt einem Kör]3er zu, bei dem die Rassenmerkmale
soweit abgeschwächt sind, dass sie die Grenzen der Schön-
heit nicht überschreiten.
Es wäre demnach sehr einfach, mit Zugrundelegung des
Rassentypus die jeweils schönsten Individuen auszusuchen. Das
ist aber nicht so einfach, als es scheint.
„Was in Büchern häufig als Grundtypus der Negerphysiogno-
mie dargestellt wird" — schreibt Missionär Kölle ^) — „würde von
den Negern als eine Karikatur oder im besten Falle als eine
Stammesähnlichkeit angesehen werden, die aber in Bezug auf Schön-
heit hinter der Masse der Negerstämme zurückbliebe."
Unsere anthropologischen Kenntnisse haben in den letzten
Jahrzehnten in ausserordentlichem Masse zugenommen, durch zahl-
reiche photographische Aufnahmen sind wir mit der Körperform
aussereuropäischer Völker beinahe noch vertrauter geworden als mit
unserer eigenen; aber die meisten Forscher haben sich begnügt oder
begnügen müssen mit einigen wenigen , nicht ausgewählten Exem-
plaren, oder sie haben, wenn eine Wahl möglich war, stets die charak-
teristischen Figuren, die den Rassentypus in oft übertriebenem
Masse zeigten, ausgesucht, nicht aber die schönsten Individuen.
In den anthropologischen Acten finden wir demnach meist die
am wenigsten schönen Vertreterinnen fremder Völker, und diese
wieder meist als Angehörige niederer Volksklassen. Die besser
situirten Kreise, die die schönsten Individuen hervorbringen, sind
dem Studium des Fremden oft überhaupt nicht zugänglich.
Eine Ausnahme macht u. A. der Maler Castellani ^) , der mit
1) Citirt bei Ploss-Bartels, Das Weib, 1897, I, p. 64.
^) Les Femnies du Congo. Flammarion 1898, p. 5. In der „ lUustrirten
Zeitung" vom 16. Nov. 1898, Nr. 2942, p. 685, findet sich dieselbe dunkle Schön-
heit mit der Unterschi-ift : Samoanermädchen.
212
Rassenschönlieit.
der Unterschrift „Nigra sum sed formosa" die Photographie eines
Negermädchens veröffentlicht, das an Schönheit alle bisher bekann-
ten Typen weit übertrifft (Fig. 85).
Auch Selenka hat einige besonders schöne Typen fremdländi-
Fig. 85. Mädchen aus dem Kongostaat.
(Aufnalipie von Castellani.)
scher Frauenschönheit veröffentlicht, unter denen namentlich ein
Basutomädchen und zwei Samoaner Mädchen ^) hervorzuheben sind.
Neben vollkommenem Ebenmass der Körperbildung findet sich bei
allen drei auch ein für unsere Begriffe nicht unschönes Gresicht, ein
^) Der Schmuck des Menschen. Vita 1900, Fig. 71, 73 und 83 links,
en face.
Fremde Völker. 213
Beweis melir, dass man Schönheit auch unter niederen Völkern
finden kann, wenn man sie nur suchen will.
Besonders schöne Körperformen zeigt eines der Mädchen von
Samoa, dem durch seine Kleidung aus Blumen ein besonderer
poetischer Reiz verliehen wird, neben dessen Naturschönheit die
phantastischen Gemälde von Rochegrosse gekünstelt erscheinen
(Fig. 128).
Jedoch sind in der Literatur nur ausnahmsweise schöne Typen
bekannt gemacht worden, ausserdem aber sind die Gelehrten noch
lange nicht einig über die endgültige Vertheilung und die charak-
teristischen Merkmale der einzelnen Menschenrassen.
Exacte Angaben über weibliche Rassenschönheit im Allge-
meinen wären nur dann möglich, wenn man eine grössere Anzahl
ausgesuchter Individuen mit einander vergleichen könnte, deren
Rasseneigenthümlichkeiten genau bekannt sind. Diese Möglichkeit
besteht zur Zeit nicht.
Dem indogermanischen Ideal am nächsten stehen unter den
nichteuroiDäischen Völkern die Javanen, die Chinesen, die Japaner,
die Samoa- und Sandwichinsulaner und einige afrikanische Stämme.
Unter Javaninnen, Japanerinnen und Chinesinnen, sowie bei
einigen Negerinnen und den vielgemischten Bewohnerinnen Aegyp-
tens habe ich häufig vollendet schöne Körper gesehen, sehr selten
ist es mir, gleich Castellani, begegnet, dass ich auch ein nach
unseren Begriffen schönes Gesicht fand. Dies traf sich dagegen
viel häufiger unter den Mischlingen, die väterlicherseits europäisches
Blut hatten.
Aehnlich wie in der griechischen Kunst scheint sich auch in
der Natur das Gesetz zu finden, dass die harmonische Ausbildung
des übrigen Körpers der des Gesichtes vorangeht.
Von den vier genannten Völkern sind es namentlich die
Chinesinnen der nördlicheren Districte, die sich durch schönen
Körperbau auszeichnen, und die bekannte Verstümmelung der Füsse
unter den Chinesinnen höherer Stände erklärt sich vielleicht durch
den Umstand, dass alle Chinesen auffallend kleine Hände und
Füsse haben, wodurch die Modedamen genöthigt sind, die grosse
Masse zu überbieten, d'etre plus royaliste que le roi.
214 Rassenschönheit.
Dass bei allen diesen Völkern der weibliclie Körj)er sich, im
Durchs chnitt besser entwickelt als der ihrer europäischen Schwestern,
erklärt sich aus den in dieser Beziehung viel besseren hygienischen
Zuständen: Der Körper wird nicht durch enganliegende Kleider
verunstaltet, Hunger und Kälte sind unbekannt, und die schwäch-
lichen Individuen werden nicht, wie bei uns, durch Aerzte künstlich
am Leben und zur Nachzucht erhalten.
Obwohl wir demnach unter den weiblichen Körpern dieser
Völker manchen vollendet schönen finden können, so werden doch
bezüglich des Kopfes auch die Schönsten unter ihnen niemals unser
Schönheitsideal erreichen können.
Denn der Kopf bleibt im Verbältniss zum übrigen Körper
— soweit bekannt — stets zu gross , die Kauwerkzeuge über-
wiegen gegen die Augen- und Stirngegend, das Gesicht gegen
den Schädel.
Diese Verhältnisse finden sich deutlich bei einem arabischen
Mädchen von etwa 16 Jahren aus Kairo (Fig. 86), dessen Körper
beinahe tadellos gebaut ist. Trotz der schlanken Figur hat der
Körper nur 7,5 Kopflängen.
Der Unterkiefer, Mund und Nase treten stark hervor, die
Stirn ist niedrig, das Gesicht grösser als der Schädel.
G. Fritsch ^) hebt hervor, dass manche niederstehende Völker
die normale Beinlänge erreichen, viele Europäerinnen dagegen nicht.
Er schreibt dies der europäischen Lebensweise zu.
Die Hautfarbe ist bei den Javaninnen, Chinesinnen und
Japanerinnen der besseren Stände oft h.eller als die mancher euro-
päischen Brünetten. Von den Negerinnen schreibt Castellani^):
„Quant ä la couleur, j'affirme egalement que j'ai vu sur le continent
africain des creatures, d'un ton d'or pale ou meme de cuivre rouge,
dont la peau pouvait lutter, comme finesse de grain et comme
satine, avec les peaux blanches les plus delicates."
Was ich von noch niederer stehenden Völkern, von Papuas,
manclien malayischen Stämmen, Ainos, Indianern u. A. gesehen habe.
') Meyer's Conversationslexikon, Artikel „Mensch".
2) 1. c. p. 3.
Rassenschönheit.
215
Fig. 86. Arabisches Mädchen aus Kairo.
(Photographie nach dem Leben von Plüschow, Rom.)
berechtigt mich zu dem Ausspruch, dass man unter ihnen überhaupt
nie ein dem europäischen gleichstehendes Schönheitsideal finden
216
Rassenscliöiili eit.
wird, und dass man sich bei ihnen begnügen müsste, als Rassen-
schönheit denjenigen Typus aufzustellen, der noch einigermassen
dem europäischen sich nähert , in demselben Sinne , wie etwa ein
Fig. 87. 14jälirige Perserin von gutem Stande im Nationalcostüm.
(Aus dem ethnographischen Museum in Leiden.)
Zugpferd auch schön sein kann, aber doch niemals die Vorzüge
eines Vollblutpferdes erreichen wird.
Unter den nichteuropäischen Völkern indogermanischer
Rasse erfreuen sich namentlich die Cirkassierinnen und Georgie-
rinnen des Rufs grosser körperlicher Schönheit, ebenso die ihnen
benachbarten Kurdinnen, Perserinnen, bis hinunter in das südliche
Rassenschönlieit. 217
Asien , wo die dunkleren Repräsentantinnen der indoeuropäischen
Rasse, die Parsis und die Hindus wohnen.
Herr Dr. Schmeltz, der Director des ethnographisclien Museums
in Leiden, war so freundlich, mir einige von Herrn W. Bosschard
empfangene authentische Photographien zur Verfügung zu stellen,
die die eigenthümliche Schönheit der Kurdinnen und Perserinnen
zu bestätigen sehr geeignet sind.
Fig. 87 stellt ein etwa 14jähriges junges Mädchen aus Persien
im Nationalcostüm dar, wie es innerhalb des Hauses getragen wird,
bestehend aus weiter, reichgestickter Sammetjacke und kurzen, weit-
abstehenden Röckcheu. Die Beine sind von der Mitte des Ober-
schenkels ab nackt.
Das Gfesicht dieses Mädchens, das noch halb die kindlichen
Formen bewahrt hat, ist sehr regelmässig gebildet, die Augen zeigen
die Schönheitsfalte über dem oberen Lide, und die sehr regelmässig
gezeichneten Augenbrauen berühren sich fast über der Nase. An
der Hand ist die reine Form der Finger und die bedeutende Länge
des zweiten Fingers hervorzuheben.
Die Beine und namentlich die Füsse der Perserinnen sind von
besonders reiner Form, mit äusserst zierlichen Gelenken. Zum
Theil mag dies daran zugeschrieben werden, dass dieselben nirgends
durch Kleidung beengt werden, vielleicht aber ist auch die in Per-
sien sehr allgemein verbreitete Schönheit der unteren Grliedmassen
die Ursache geworden, dass dieselben nicht bedeckt wurden. Auf
der Strasse werden dieselben in ein Paar von einander getrennte
Beinkleider gehüllt, die Füsschen in weite Pantoffel gesteckt, der
Oberkörper und das Gesicht in einen weiten Mantel gehüllt, der die
ganze Gestalt verhüllt.
Unter den wenigen nackten Figuren der Bosschard'schen
Sammlung war nur eine in aufrechter Stellung. Bei der Aufnahme
ist nicht auf die Körpermitte eingestellt, so dass der Unter-
körper stark perspectivisch verkürzt erscheint (Fig. 88), was durch
den stark anlaufenden Fussboden bewiesen wird. An der Photo-
graphie gemessen würde die Körpermitte etwa handbreit über der
oberen Schamhaargrenze stehen, und demnach die Beine auffallend
kurz sein. Zur Bestimmung der Proportionen ist die Figur aus
218
Rassenschönheit.
diesem Grunde wenigr sre-
eignet.
Die Beine scheinen,
soweit sicli das beurthei-
len lässt, mit Ausnahme
einer leichten Krümmung
des Unterschenkels über
den Knöcheln , gut ge-
baut, namentlich ist die
Bildung der Zehen sehr
fein. Die Armaxe ver-
läuft am nicht verkürzten
rechten Arm völlig ge-
rade, das Handgelenk ist
■^. schmal und regelmässig.
Brüste und Nabel sind
tief angesetzt, jedoch von
guter Form, Die langen
Haare , nach persischer
Sitte in dünne Zöpfe ge-
flochten, reichen bis an
die Fingerspitzen herab.
Die Körperbehaarung ist
spärlich, jedoch ist dabei
zu bedenken, dass die
Körperhaare nach der dort
üblichen Sitte kurz ge-
schnitten und ausgerissen
werden. In dem regel-
mässig gewölbten Gesicht
stört die allzustarke Ent-
wickeln ng der Nase. Auch
hier sind die Augenbrauen sehr scharf gezeichnet und berühren sich
fast über der Nasenwurzel.
Im Ganzen genommen hat diese Gestalt beinahe ebensoviel
Fehler als Vorzüge und berechtigt zu dem Schlüsse, dass bei den
Fig. 88. 22jälirige Perserin.
(Aus dem ethnographischen Museum in Leiden.)
Rassenschönheit.
'219
Fig. 89. Kurdische Frauen. (Aus dem ethnograpliisclien Museum in Leiden.)
Perserinnen wegen dem scharf ausgeprägten Nationaltypus weib-
liche Schönheit nur in verhältnissmässig wenigen Exemplaren zum
Ausdruck kommen kann und auch dann meist wohl von kurzer
Dauer ist.
Die den Perserinnen stammverwandten Kurdinnen zeigen gleich
diesen als grösste Vorzüge sehr regelmässige Gesichtszüge (Fig. 89)
und auffallend kleine und schön geformte Hände und Füsse.
Cirkassierinnen und Gleorgierinnen waren leider nicht in der
Sammlung vorhanden.
Auch im nördlichen Afrika finden sich unter den Mauresken
zahlreiche sehr schöne Frauengestalten, von denen das regelmässige
Gresicht einer 20jährigen Maurin (Fig. 90) Zeugniss ablegen kann.
Das Original, ein Ladenmädchen aus Algier, ist, wie mir mit-
220
Eassenschönlieit.
getheilt wurde , dort niclit nur wegen ihrer Schönlieit , sondern
auch wegen ihrem liebenswürdigen und heiteren Wesen zu einer
gewissen Berühmtheit geworden.
Fig. 90. Kopf einer 20jälirigen Mauriii aus Algier.
Vorläufig muss ich mich auf diese noch recht unvollständige
Ausbeute indogermanischer Frauenschönheit ausserhalb Europas be-
schränken.
Auch für europäische Rassenschönheit habe ich kein
endgültiges Resultat erreichen können. Daran ist zum Theil die
alles gleich machende Richtung unserer Zeit schuld, die die Rassen
Untersucliungsmethode. 221
mehr und mehr verwischt, dann auch die SchAvierigkeit, gerade von
den schönsten Repräsentantinnen des weiblichen Greschlechts in ge-
nügender Zahl Masse und Photographien zu erhalten.
Ich begnüge mich mit der Aufzählung dessen , was ich ge-
funden habe, und enthalte mich allgemeiner Schlussfolgerungen,
In der Hoffnung, zahlreichere Untersuchungen in demselben
Geiste anregen zu können, schicke ich die Beschreibung der Methode
voraus, welche sich mir als am meisten geeignet erwiesen hat.
Methode der Untersuchung.
Wo es möglich war, nahm ich am lebenden Körper die folgenden Masse
mit Bandmass und Tasterzirkel:
1. Körperlänge: Scheitel bis Ferse.
2. Mittellänge: Scheitel bis zum Schritt.
3. Kopflänge: Scheitel bis Kinn.
4. Beinlänge: Hüftgelenk (Mitte der Schenkelbeuge oberhalb des Schenkel-
knorrens bis Mitte der Fusssohle).
5. Nasenschambeinlänge (unterer Nasenrand bis oberer Symphysen-
rand = Höhe der Hüftgelenke).
6. Schulterbreite: Acromialenden bei hängenden Armen.
7. Kleinste Taillenbreite in aufrechter Stellung bei etwas gespreizten
Armen.
8. Grösste Hüftbreite in aufrechter Stellung bei geschlossenen Beinen.
9. Brustwarzenabstand in aufrechter Stellung.
10. Fusslänge an der Sohle gemessen.
11. Brustumfang (in der Höhe der Brustwarzen).
12. Hintere Dornbreite (Abstand der Kreuzgrübchen) bei seitlicher Be-
leuchtung in aufrechter Stellung.
Ausserdem nahm ich die dist. spinar. , cristar. und trochanter., welch
letztere meist mit der Hüftbreite zusändmgtifällt.
Der Messung folgte eine photographische Aufnahme, nach welcher sich
die gefundenen Masse mit dem Fritsch'schen Canon vergleichen Hessen. Eine
Berechnung nach Kopflängen ergab sich aus den Massen selbst.
Hatte ich nur Photographien zur Verfügung, so niusste ich mich damit
begnügen, in das dioptrische Bild den Canon einzuzeichnen, in vielen Fällen
bei unsymmetrischer Haltung oder starker optischer Verkürzung einzelner Glied-
massen konnte ich allein nach Koijflängen berechnen. Viele Aufnahmen ge-
statteten überhaupt keine Messung.
Unter den zahlreichen mir vorliegenden Objecten unterzog ich
alle , die mir nach dem Augenmass geeignet erschienen , einer ge-
naueren Messung.
222
Europäische Rassenschönheit.
Fig. 91. 22jä]u'iges Mäilclieii aus Sclieve)iiiigeii.
Unter diesen gemessenen Objecten wählte ich wiederum die-
jenigen aus, die sich, am meisten den Normalmassen näherten, und
darunter wieder diejenigen, die ausser normalen Massen auch ander-
weitig die meisten körperlichen Vorzüge zeigten.
Niederland.
223
Die Zahl der Mes-
sungen erwähne ich nur
nebenbei. Sie ist von
untergeordneter Bedeu-
tung ; höchstens könnten
grössere Reihen den Be-
weis liefern, dass das
eine Volk durchschnitt-
lich mehr Schönheiten
besitzt, als das andere.
Zu einem solchen Be-
weise sind aber meine
Zahlen zu klein.
Niederland.
Bei einem 22jähri-
gen Mädchen aus Scheve-
ningen, das für einige
wenige Künstler Modell
steht, fand ich vom Nor-
malen nur sehr wenig
abweichende Masse. Sie
gilt als das zur Zeit
beste Berufsmodell.
Fig. 91 zeigt sie
in ihrer Nationaltracht,
Fig. 92 in gleicher Grösse
entkleidet, um die Ver-
schiedenheitin der Taille
zu zeigen. Diese ist bei
der bekleideten Figur
etwas hinaufgerückt, und
theilt die Grestalt etwa im Verhältniss von 1 : 2, was, verglichen mit
der Gesammtlänge, ungefähr die Theilung im Goldenen Schnitt ist.
Das Mädchen hat niemals ein Corset getragen.
Fig. 92. J)iosellit' entkleidet.
(Rückansiclit Fig. 59.)
224
Niederland.
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Die Masse sind:
1. Körperlänge 152 cm.
2. Mittellänge 80 cm.
3. Kopflänge 20 cm.
4. Beinlänge 83,5 cm.
5. Nasenscliambeinlänge 58 cm.
6. Schulterbreite 36 cm.
7. Taillenbreite 22 cm.
8. Hüftbreite 32 cm.
9. Brustwarzenabstancl 22 cm.
10. Fusslänge 23 cm.
11. Brustumfang 90 cm.
12. Hintere Dornbreite 10 cm.
Becken: Dornbreite 23,5 cm,
J^fÄ \ 0 < ; Kammbreite 26 cm, Hüftbreite
31 cm.
Die halbe Körperlänge be-
trägt 76 cm , demnach liegt die
Körpermitte 4 cm über dem unte-
ren Rand der Schamspalte, also
noch unterhalb der oberen Scham-
haargrenze.
Die Kopflänge ist in der Ge-
sammtlänge 7 ^jö mal enthalten. Die
Beine sind länger als vier Kopf-
längen. 6,6 Fusslängen entspre-
chen der Körperlänge.
Ein Fehler ist, dass die Taille
um 2 cm zu breit ist. Construiren
wir zu der Figur den Canon von
Fritsch (Fig. 93), so ergiebt sich,
dass alle Hauptmasse völlig mit
der Normalgestalt übereinstimmen, ja dieselbe in der Schulterbreite
sogar noch übertreffen. Besonders auffallend ist diese Ueberein-
stimmung in den Extremitäten. Nur die Brustwarzen stehen tiefer
als normal, zugleich aber weiter nach aussen.
K(\
Fig. 93.
Canon des Mädcliens aus
Sclieveningen.
Niederland. 225
Die Betrachtung der Photographie (Fig. 92) lehrt, dass nament-
lich die Arme und Beine von selten reiner Form sind. Die
Armaxe verläuft völlig gerade (am linken Arm deutlich ) , am
(linken) Standbein trifft die Mikulicz'sche Linie alle Gelenke in
der Mitte.
Die Brüste überschreiten die Grenze des Normalen und be-
ginnen sich zu senken. Dafür spricht der besonders starke Brust-
umfang (90 cm) und der tiefere Stand der Brustwarzen. Dies so-
wie die um 2 cm zu breite Taille deutet an, dass das Mädchen seine
Blüthezeit überschritten hat. Trotzdem aber bietet der Körper sehr
schöne Formen. Die Schultergegend ist besonders kräftig ent-
wickelt. Fig. 59 zeigt die Rückansicht.
Die Mädchen von Scheveningen zeichnen sich meist aus durch
eine besonders weisse, zarte Haut und frische, rothe Wangen.
Sie sind das Vorbild der Gesichter von „Milch und Blut". Diesen
Vorzug besitzt das Modell in hohem Masse.
In Niederland gelten die Frauen aus Friesland und Seeland
für die schönsten. Unter den letzteren sind die Bewohnerinnen der
Inseln Walcheren und Schouwen nachweislich stark gemischt mit
spanischen Elementen, die im 80jährigen Kriege sich dort nieder-
liessen. Demgemäss ist der blonde Typus am schönsten in Fries-
land, der dunkle am schönsten in Seeland vertreten. Ausser dem
zarten Colorit zeichnen sich die Friesinnen besonders aus durch
kleine Füsse und schlanke Gelenke. Merkwürdig ist, dass Fries-
land zugleich auch die ärmste und am meisten von Tuberculose
heimgesuchte Gegend Niederlands ist. Ein Vorbild friesischer Schön-
heit kann ich leider zur Zeit nicht geben.
Ein holländisches 21 jähriges Mädchen aus besserem Stande,
dessen Canon völlig mit dem Fritsch'schen Normalmass überein-
stimmte, gab folgende Masse:
1. Körperlänge 166 cm. 7. Taillenbreite 22,5 cm.
2. Mittellänge 85 cm. 8. Hüftbreite 34,5 cm.
3. Kopflänge 21 cm. 9. Brustwarzenabstand 22,5 cm.
4. Beinlänge 87 cm. 10. Fusslänge 22 cm.
5. Modulus 64 cm. 11. Brustumfang 83,5 cm.
6. Schulterbreite 35,5 cm. 12. Hintere Dornbreite 10 cm.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 15
226 Belgien.
Becken: Dornbreite 22,5 cm, Kammbreite 29,75 cm, Hüftbreite
84 cm. — Länge der Hand 16 cm.
Hervorzuheben ist bei diesen Massen die kleine Hand, die,
statt 9mal, 10 ^/s mal in der Körperlänge enthalten ist. Die Körper-
länge ist gleich 7,9 Kopflängen, also beinahe in klassischem Ver-
hältniss.
Die Körpermitte (83 cm) liegt 2 cm über dem Schritt, die
Brüste sind hoch angesetzt, die Beine haben 3 cm mehr als vier
Kopflängen, Arm- und Beinaxen verlaufen völlig gerade.
Da das Mädchen im letzten halben Jahre noch um 1 cm ge-
wachsen ist, kann man im Zusammenhang mit der um 2 cm zu kleinen
Schulterbreite annehmen, dass die höchste Blüthe noch nicht erreicht ist.
Belgien.
Unter sechs ausgesucht schönen Photographien aus Brüssel,
die ich der Freundlichkeit des Herrn Alexandre verdanke, fand ich
nur Eine, die eine directe Messung nach Kopflängen gestattete.
(Fig. 94 u. 95.)
Aus dem Schema ergiebt sich, dass die Figur acht Kopf-
längen erreicht, die Körpermitte (x) sehr tief steht, das Bein vier
Kopflängen überschreitet, und dass Arm- und Beinaxen völlig ge-
rade verlaufen.
Wenn wir die Figur nach der durchschnittlichen Kopflänge
von 20 cm berechnen und messen, so würde die Gesammtlänge
160 cm betragen, die Taille 21 cm, Schulterbreite 37 cm, Hüftbreite
33 — 34 cm. Verhältnisse, die völlig der Norm entsprechen. Die
Stellung erschwert eine exacte Anwendung der Fritsch'schen Methode.
Die Photographie, Fig. 94, darf als Muster einer guten Auf-
nahme gepriesen werden. Das Modell steht erhöht, aus der per-
spectivischen Verkürzung der Umgebung kann man ableiten, dass
der Apparat genau auf die Körpermitte eingestellt ist, wodurch eine
richtige Vergleichung der Proportionen des Körpers ermöglicht wird.
Wie in Niederland der blonde, so ist in Belgien der brünette
Typus, den dieses Mädchen repräsentirt, vorherrschend. Unter an-
derem kennzeichnet ihn die stärkere Pigmentirung der Brustwarze,
Belgien.
227
Fig. 94. Mädchen aus Brüssel.
die dunkle Farbe der Augen und der Haare. Am Halse springt
der rechte Kopfnicker in Folge der Drehung des Kopfes nacli
links stark vor. Der etwas magere Hals, sowie die zarten Brüste
deuten an, dass die völlige Reife dieses Körpers nocli nicht ein-
getreten ist.
228
Spanien.
Fig. 95. Bestimmung des Brüsseler Mädchens nach Kopflängen.
Spanien.
Unter den zahlreichen Photographien nordspanischer, haupt-
sächlich aus Barcelona stammender, Frauen und Mädchen fand ich
neben einigen völlig normal gebauten Gestalten einen besonderen,
stets wiederkehrenden, eigenthümlichen Typus vertreten, der in
seinen Proportionen von den aufgestellten Gesetzen etwas abweicht.
Spanien.
229
Ein Beispiel dieses
Typus ist ein offenbar noch
sehr junges Mädchen, das
Verhältnisse zeigte, wie sie
von Hay und Thomson
(vgL Fig. 11 u. 12) als
normal angegeben werden.
Da das Mädchen auf einem
Piedestal aufgestellt und
die Centrirung auf die Kör-
permitte gerichtet ist, dür-
fen wir die Proportionen
als der Wirklichkeit ent-
sprechend ansehen.
Schon bei Betrachtung
der Photographie (Fig. 96)
erscheint der Rumpf auf-
fallend lang, auf der diop-
trischen Zeichnung lässt
sich nachmessen, dass die
Schrittlänge von oben 17,
von unten 12 Theile einer
Gesammtlänge von 29 Thei-
len beträgt. Die Körper-
mitte steht demnach statt
2 bis 4 mindestens 10 cm
über dem Schritt und um
ein Beträchtliches höher als
die obere Schamhaargrenze.
Die unteren Extremi-
täten zeigen zwar Verkür-
zung, jedoch keinerlei Ver-
krümmung, so dass an rhachitische Einflüsse nicht gedacht werden
kann. Trotz der Verkürzung der Beine ist die Gesammtlänge = 8 Kopf-
längen. Wir haben hier also die merkwürdige Erscheinung, dass, wie
ich es oben ausdrückte, der aristokratische Kopf für die plebejischen.
Fig. 96. Spanierin. Mädclien aus Barcelona.
230
Spanien.
Beine eintritt. — Abgesehen von diesem Missverhältniss in den
Längenmassen ist an diesem Körper nicht viel auszusetzen, die
Fig. 97. Bestimmung des spanischen Mädchens nach Kopflängen.
Breitenniasse sind im Gegentheil besonders schön ausgeprägt. Messen
vi^ir an der linken, nicht verkürzten Körperhälfte die Schulterbreite,
Taille und Hüftbreite, so erhalten wir ein Verhältniss von 3,6 : 2 : 4,
Spanien. 231
oder, wenn wir die hier besonders schlanke Taille auf 18 cm rechnen,
32,4 cm Schulterbreite, 18 cm Taille und 36 cm Hüftbreite. Jeden-
falls sind hier die Hüften nicht allein relativ sehr stark entwickelt,
sondern sie übertreffen auch absolut die Schulterbreite um einige
Centimeter.
Im Einzelnen sind als besondere Schönheiten hervorzuheben:
der kleine, wohlgebildete Fuss, der gerade Arm, der schöngeschnit-
tene Mund, das grosse Auge mit der Schönheitsfalte darüber, der
hohe Ansatz und die gute Form der Brüste, deren Kleinheit, ebenso
wie die für eine Brünette sehr schwache Pigmentirung des Warzen-
hofs auf Rechnung des jugendlichen Alters kommen.
Wir haben einen Körper vor uns, der in seinen Einzelheiten
nur Vorzüge zeigt, im Ganzen genommen seine Fehler in den
Längenproportionen durch besonders stark hervortretende Vorzüge
in der Breite mildert. Er könnte ein Beispiel sein für einen von
der Natur angestrebten Ausgleich der verschiedenen Proportionen,
für den von v. Larisch aufgestellten Grundsatz der architektoni-
schen Massenvertheilung, wenn sich eine derartige Gestalt
regelmässig wiederfinden Hesse.
Nun ist es in der That auffallend, dass in Catalonien derartige
Gestalten sich nicht so selten finden.
Bei weiterer Entwickelung kommt ein anderes Kennzeichen
hinzu, das in dem Bau dieser Körper begründet ist, nämlich die
besondere Gestaltung der Brüste. Diese erreichen meist eine sehr
bedeutende Grösse, dabei treten sie in Folge der guten Wölbung
des Brustkorbs stark nach aussen, so dass die Brustwarzen weit von
einander abstehen und die Brustaxen einen sehr stumpfen Winkel
mit einander bilden. Die kräftige Entwickelung der Brüste zu-
sammen mit den auffallend breiten Hüften im Gegensatz zu der
schlanken Taille giebt dem Körper ein, wenn man will, über-
trieben weibliches Gepräge, einen bis an die äusserste Grenze des
Erlaubten ausgeprägten weiblichen Geschlechtscharakter.
Derartige Gestalten, wie sie u. a. Goja in seinen schönen
Bildern wiederzugeben liebt, haben in ihrer südländischen Farben-
pracht, dem leicht gelbblassen Teint, den blauschwarzen Haaren und
den glänzenden Augen einen bezaubernd malerischen Reiz in ihren
232
Spanien.
Farben; die Formen aber sind sehr vergänglich und gestatten ihren
Trägerinnen nur die sehr kurze Blüthezeit der beaute du diable.
Wir können diesen Typus als den „cat aionischen" be-
zeichnen, im Gegensatz zu den südspanischen Typen.
Fig. 98. Sevillana.
Die schönsten Frauen mit tadellosen Formen zeitigt Süd-
spanien, hauptsächlich Andalusien und Castilien. Dieselbe Farben-
pracht wie im Norden, dabei aber schlankere, geschmeidigere
Formen; die Beine sind von der richtigen Länge, die Handfesseln
und die Knöchel von reinster Form. Berühmt sind die kleinen Füsse
der Andalusierinnen mit ihrem hohen Rist. Vielleicht ist diese auf-
Spanien.
233
fallende Scliönlieit südspanischer Frauen auf eine frühere Kreuzung
mit maurischem Blute zurückzuführen.
Eine Eigenthümlichkeit vieler spanischer Frauen ist die be-
sonders starke Körperbehaarung, der sich früher oder später ein
dunkler Flaum an der Oberlippe gesellt. Manche halten das für
einen neuen Reiz; ich kann
darin nur eine Annäherung
an den männlichen Typus
sehen und damit einen
Fehler.
Unter den Mädchen
aus Barcelona fand ich nur
Eine, die bei 7 ^,'4 Kopf-
höhen völlig normale Pro-
portionen und dabei tadel-
lose Formen zeigte; die
Beinlänge betrug 4 ^/2 Kopf-
längen, die Brüste waren
gut entwickelt und hoch
angesetzt, Arm- und Bein-
axen verliefen völlig gerade.
Bei zwei Südspanie-
rinnen, die ich zu messen
Grelegenheit hatte , waren
die Verhältnisse ebenfalls
völlig normal. Eine der-
selben, eine Kunstreiterin,
zeichnete sich aus durch
selten schöne Muskulatur an Armen und Beinen, die trotz ihrer Kraft
die weibliche Anmuth der Formen bewahrt hatten. Leider fehlt von
beiden die Photographie und die Controle mit dem Fritsch'schen Canon.
Von befreundeter Seite erhielt ich eine Reihe sehr schön aus-
geführter Aufnahmen von Brustbildern südspanischer Schönheiten.
Die regelmässigste Entwickelung des Gesichts zeigt ein Mädchen
aus Sevilla (Fig. 98) und eine Dame aus Valencia (Fig. 99).
Beide haben die Schönheitsfalte über den grossen dunklen
Fig. dd. Dame ans Valencia.
234 Frankreich.
Augen, liochstehende, sclimal und scharf gezeichnete Augenbrauen,
schmalen Nasenrücken, regelmässigen, gut gewölbten Mund mit
schön ausgeprägtem Grübchen zwischen Nase und Oberlippe. Bei
beiden sind Mundparthie , Nase und Stirn gleich gross , bei beiden
ist das Gesicht dicht unterhalb der Augen am breitesten. Die feine,
nach dem Unterkiefer sich stark verjüngende Umgrenzung der
Wangen kommt bei der Sevillana besonders schön zur Geltung an
der Seite, die durch die Mantille nicht verhüllt ist.
Die kühn geschwungene Adlernase, die neben den Augen dem
Gesicht das charakteristische Gepräge verleiht, würde die Symmetrie
stören, wenn sie nicht so schmal wäre. Sie zeigt das höchste Mass
des Erlaubten innerhalb der Grenzen weiblicher Schönheit.
Die Grösse der Augenspalten, vereinigt mit dem starken Her-
vortreten der Augäpfel lässt bei der Dame aus Valencia die Augen
noch grösser erscheinen. Aber das ist ein für die Trägerin gefähr-
licher Vorzug: die gerade bei solchen Augen häufige Röthe der
Entzündung verwandelt den Vorzug leicht in einen sehr entstellen-
den Fehler.
Frankreich.
In Frankreich gilt Arles als die Heimath der schönen Frauen.
In Marseille fiel es mir auf, dass man auch unter dem Volke häufig
schöne Frauengestalten antrifft, gross und schlank, mit kleinen,
hochgewölbten Füssen. Von der Pariserin sagt man, dass sie klein
und mehr elegant als schön sei. Aus eigener Erfahrung kann ich
sagen, dass ich unter französischen Patientinnen besserer Kreise
mehrere sehr schöne gesehen habe , und dass beinahe alle sich
durch kleine Füsse und noch kleinere Hände auszeichneten. Mes-
sungen habe ich an den Lebenden nicht vorgenommen.
Photographien habe ich bisher allein aus Paris erhalten, je-
doch muss man bei derartigen Centren, in denen alles zusammen-
strömt, sehr vorsichtig sein.
Unter allen professionellen Schönheiten, die in den „poses
plastiques" das grosse Publikum zu entzücken suchen, ist keine
einzige , die einen normalen Körper hat. Die vielgerühmte Clara
de Chimay, die erste dieser Kategorie, erreicht nur 6,6 Kopflängen;
Frankreich.
235
Arme und Beine sind im Verhältniss zum Rumpf zu kurz, die Kniee
stehen einwärts, Nabel und Brüste zu tief; ausserdem ist die Form
des Rumpfes durch ein unter dem Tricot
angebrachtes Corset seiner natürlichen
Linien beraubt. Fig. 100 gestattet eine
Yergleichung mit dem Fritsch'schen Ca-
non. Sie repräsentirt einen Typus, der
dem unter Pferdekennern bekannten „Bra-
banterkopf" entspricht.
Zum Glück ist nun zwar die be-
wusste Künstlerin überhaupt keine Fran-
zösin; ihre zahlreichen Nachahmerinnen
französischer Abkunft sind aber nicht
viel besser.
Dass es jedoch unter den Bewohne-
rinnen von Paris sehr schöne Gestalten
giebt, beweisen allein schon die oben
abgebildeten Köpfe (Fig. 14 u. 42). Von
der ersteren, einer bekannten Schauspie-
lerin, konnte ich an einem Kostümbild
mit einiger Sicherheit richtige Propor-
tionen, jedenfalls normale Länge der
Beine, nachweisen.
Unter einer Anzahl Pariser Act-
studien waren zahlreiche sehr gut gebaute
Frauengestalten zu finden; bei den meisten
jedoch erlaubte die gewählte Stellung
keine Controle durch Messung. Eine der
besten Figuren besitzt ein 20jähriges
Künstlermodell aus Paris (Fig 101), dessen
Proportionen in Fig. 102 aufgezeichnet sind.
Die Körperhöhe beträgt beinahe 8,
die Länge der Beine 4,2 Kopfhöhen. Mit
dem Fritsch'schen Schlüssel berechnet, ist
eine geringe Verkürzung im Unterschenkel zu entdecken, im übrigen
sind die Verhältnisse des Körpers völlig normal; die Mikulicz'sche
Fig. 100. Proportionen von Clara
de Cliimay ( ) vergliclien mit
dem Canon von Fritsch.
236
Frankreich.
Zehe.
Axe verläuft völlig
gerade (linkes Bein).
Die Körpermitte liegt
unterhalb der oberen
Scbamhaargrenze.
Der Körper dieses
Mädchens macht zu-
nächst den Eindruck
grosser Jugendlich-
keit in allen seinen
Formen ; die weiche
Rundung des Gesich-
tes, die dünnen Arme,
die im Yerhältniss
zur Taille wenig her-
vortretenden Hüften
erinnern an das Kind-
liche , während im
Gegensatz dazu die
Brüste kräftig ent-
wickelt sind.
Als besondereVor-
züge dieser Gestalt
sind hervorzuheben :
Die schöngeformten
Augen mit hoher
Falte darüber, der
kleine, hochstehende
Nabel , die geraden
Beine und nament-
lich die auffallend
reine Form der Füsse
mit grösster Länge
der zweiten Zehe und
sehr kleiner fünfter
Das reiche Kopfhaar, im Gegensatz zu der namentlich in
Fig. 101. 20jäliriges Mädchen aus Paris,
Frankreich.
237
der AclLselhölile (links) schwachen Körperbehaarung verdient eben-
falls hervorgehoben zu werden.
Als Hauptfehler ist eine, allerdings nur sehr geringe, Ver-
Fig. 102. Proportionen des Pariser Mädchens.
dickung am äusseren Knöchel und am Unterarm oberhalb des Hand-
gelenks zu erwähnen, die wohl als ein Ueberrest einer leichten
Rhachitis angesehen werden muss.
Diese Grestalt ist das Prototyp dessen, was die Franzosen „une
238 Deutschland.
fausse maigre" nennen, die Repräsentantin der zierlichen französi-
schen Grisetten , halb Kind , halb Weib , wie sie Gravarni , Grevin,
Boutet u. A. durch ihre Kunst verherrlicht haben. In Kleidern
erscheinen sie wie halbwüchsige Jungen, und erst bei der Ent-
blössung wird — mit Ueberraschung — der gutentwickelte Busen
entdeckt ; eine Pointe, die bei vielen modernen französischen Roman-
schriftstellern sehr beliebt ist.
In Ermangelung besserer muss ich mich mit diesem Vorbild
französischer Frauenschönheit begnügen. Einige weit vollkommenere
Körper sind leider durch ihre Stellung oder durch schlecht gewählte
Staffage für Wiedergabe nicht geeignet. Nicht immer ist der
Photograph zugleich auch Künstler genug, um das Schöne als
solches zu erkennen und sich mit der Schönheit als solcher zu
begnügen.
Als grösster Vorzug der Pariserin hat seit lange der kleine
Fuss gegolten, und wenn in dem bekannten Couplet im „Bettel-
studenten" die Polin als „der Weiber Schönste" bezeichnet wird, so
muss sie doch, um dem Ideal zu entsprechen, „von der Pariserin
das Füsschen" besitzen.
In der That finden sich in Paris, sowie auch im südlichen
Frankreich nicht nur kleine und elegante Frauenstiefel und Schuhe,
sondern auch kleine und schöngebaute Füsse darin. Diesen Vorzug
theilen die Französinnen jedoch mit den Spanierinnen der südlichen
Gegenden.
Deutschland.
In Deutschland sind es hauptsächlich die südlichen Länder,
die sich des Rufes erfreuen, schöne Frauen zu besitzen. Augsburg,
München, Ulm sowie die Rheinlande streiten um den Vorrang. Dass
auch in Sachsen „schöne Mädchen wachsen", mag ja wohl vor-
kommen, wie ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, bei den
Sächsinnen im allgemeinen findet man jedoch bei sehr geringer
Körpergrösse mehr das Zierliche, Freundliche und Gemüthliche vor-
herrschen, wirkliche Körperschönheit aber sehr selten; vorall in den
niederen Klassen des nördlichen Deutschland ist, wie schon Brücke
hervorgehoben hat, weibliche Schönheit eine grosse Seltenheit.
Deutschland.
239
Es liat mich, darum auch
nicht verwundert, dass ich unter
einer grösseren Zahl Berliner
Berufsmodelle keine einzige nor-
male , geschweige denn schöne
Gestalt gefunden habe.
Weit bessere Verhältnisse
finden sich in München. Fig. 103
ist ein 16jähriges Münchener
Modell, das sich vor seinen Ber-
liner CoUeginnen zunächst durch
gerade, gut gebaute Beine aus-
zeichnet; das rechte, gestreckte
Bein entspricht den Anforde-
rungen der Mikulicz'schen Axe.
Der Rumpf zeigt zum Theil
noch kindliche Formen, die Breite
des Beckens und die Ausbildung
der Brüste hat ihren Höhepunkt
noch nicht erreicht, und darum
erscheint die Taille noch breit
und wenig ausgeprägt.
Der rechte gestreckte Arm
zeigt eine gerade Armaxe, der
Nabel ist hoch angesetzt, die
vordere Achselfalte trotz der
nachlässig verschämten Haltung
gut sichtbar. Die Füsse erschei-
nen, wegen noch nicht vollende-
tem Längenwachsthum des Kör-
pers, im Verhältniss zu gross. Ein
Fehler ist die Einwärtsdrehung
der grossen Zehen, als Folge unzweckmässiger Fussbekleidung.
Zeichen von Schwindsucht und Rhachitis sind nicht wahrzu-
nehmen; eine Controle mit dem Fritsch'schen Schlüssel verbietet die
Haltung der Figur.
Fig. 103. löjähriges Münchener Mädchen.
(Aufnahme von Recknagel.)
240
Deutsdiland.
Fig. 104. Münchener Mädchen von 17 Jahren. (Aufnahme von Recknagel.)
Nicht uninteressant ist es, mit diesem den Körper eines anderen
Müncliener Mädcliens von 17 Jahren zu vergleichen (Fig. 104). Es
ist dieselbe, die oben in kauernder Stellung mit dem Hunde abge-
bildet ist. Hier hat der Rumpf seine volle Länge erreicht, die
Deutschland,
241
Breitenmasse , 34 Scliulter,
18 Taille, 30 Hüften, ent-
sprechen völlig den normalen
Anfordermigen. Die Körper-
mitte liegt unterhalb der
oberen Schamhaargrenze, die
Körperhöhe beträgt 7,7 Kopf-
höhen, die Beinhöhe mehr
als 4. Mit dem Fritsch' sehen
Schlüssel ergeben sich wenig
von der Norm abweichende
Proportionen : nur eine leichte
Verkürzung derUnterschenkel
und'des Unterarms um je 1 cm.
Bei Betrachtung der
Photographie ergeben sich
als Vorzüge : Regelmässige
Bildung des Gesichts, nament-
lich des Mundes, gutgewölb-
ter Brustkorb mit hoch an-
gesetzter, kleiner Brust; sehr
gute Ausbildung der vorderen
Achselgrenze mit (namentlich
links) sehr kräftig entwickel-
tem grossem Brustmuskel,
kleiner, tiefer, nicht zu tief
stehender Nabel, trotz der
Magerkeit weiche, sehr ju-
gendliche Formen. Als Fehler
sind am Oberkörper zu be-
zeichnen: das Fehlen der Falte
über den Augen und die allzu-
dürftige Abrundung der Arme.
Während der Oberkörper sonach ziemlich tadellos ist, bieten
die unteren Gliedmassen eine ganze Reihe von Fehlern : nach ein-
wärts gestellte, zu dicke Kniegelenke, eckige Oberschenkel, sehr
Stratz, Die Scliönlieit des weiblichen Körpers. 16
Fig. 105. 20jäliriges Mädchen vom Rhein.
242
Deutschland.
plumpe Pussgelenke, und clurcli Schuliwerkl verunstaltete , platte
Füsse mit Einwärtsdreliung der grossen Zehen. Die Mikulicz 's che
Axe schneidet das Knie (links) im äusseren Drittel.
Fig. 106. Proportionen der Rlieinländerin.
Dass es trotz dieser Fehler gelingt, mit einem solchen Modell
einen brauchbaren Effect zu erzielen, beweist die obenerwähnte Auf-
nahme (Fig. 81).
Deutschland.
243
Einen völlig tadel-
losen Körper zeigt ein
20jäliriges Mädchen aus
dem Rheinland (Fig. 105),
das vor 12 Jahren in
Karlsruhe Modell ge-
standenhat. Die Körper-
höhe entspricht 7 '^/i Kopf-
höhen, und die Propor-
tionen stimmen mit dem
Fritsch'schen Schlüssel
völlig über ein (Fig. 106).
Die Körj)ermitte
steht um 2 cm höher
als der Schritt, demnach
auffallend tief. In der
Aufnahme von vorn fin-
den sich alle oben ( S . 1 7 8 )
erwähnten Vorzüge ver-
treten und entheben mich
der Mühe , sie einzeln
aufzuzählen. Hervorzu-
heben wäre höchstens,
dass sich bei gutem
Haupthaar eine auffal-
lend geringe KörjDcr-
behaarung findet, in den
Achselhöhlen überhaupt
nichts , am Schamberg
sehr wenig, und dass
die Zeigefinger und zwei-
ten Zehen die Länge der
vierten Finger und Zehen
übertreffen.
Auf der Rückansicht (Fig. 107) ist der obere Theil des Rumpfes
im Verhältniss zu dessen unterer Hälfte zu kräftig ausgefallen, weil
Fig. 107. Rückaiisiclit von Fig. 105.
244 Oesterreich.
bei der photograpliisclien Einstellung nicht genügend berücksichtigt
wurde, dass die Schultern durch die Beugung zu stark in den
Vordergrund kamen. Ausserdem ist die Beleuchtung zu stark von
oben, und nicht genug seitlich gewählt, um die gut ausgebildeten
Kreuzgrübchen zur vollen Geltung zu bringen.
Nach den bisherigen Erfahrungen müssen wir diesem Mädchen
vom Rhein den Preis der Schönheit vor all ihren deutschen Schwe-
stern zuerth eilen.
Oesterreicli.
Ein Land, das, wie Oesterreich, aus so zahlreichen heterogenen
Elementen zusammengesetzt ist, besitzt mehr als irgend ein anderes
eine grosse Anzahl verschiedener Rassentypen, denen ebensoviele
Rassenschönheiten entsprechen. In der Hauptstadt Wien strömt
alles zusammen und wer kann ausmachen, ob ein dort photo-
graphirtes Mädchen eine Oesterreicherin im engeren Sinne , eine
Ungarin, eine Böhmin, eine Dalmatinerin oder eine Tyrolerin, oder
vielleicht alles zugleich ist.
Um diesem Dilemma zu entgehen, spreche ich, wie bisher,
von Oesterreicherin im allgemeinen, und nur dann von Wienerin,
Böhmin u. s. w., wenn mir die Herkunft bekannt ist.
Als Beispiele schön gebauter Körper habe ich bereits eine
Oesterreicherin (Fig. 54 u. 62), eine Böhmin (Taf. H) und vor allen
ein Wiener Mädchen (Taf. I) angeführt ^).
Es wurde oben bereits erwähnt, dass die Deutsch-Oesterreiche-
rinnen, besonders die Frauen aus dem Erzherzogthum Oesterreich,
aus Kärnthen und Krain gewisse Schönheiten in höherem Masse
und häufiger besitzen, als andere Völker. Dazu gehört zunächst
das Grübchen im Kinn.
Dass auch die Brüste der Oesterreicherinnen schon lange den Ruf
besonderer Schönheit haben, beweist ein altes Volkslied, das Hyrtl ^)
^) Alle drei sind photographirt durch die Kunstanstalt von 0. Schmidt,
"Wien, die auch die folgende Fig. 112 hergestellt hat. Die ältere, Heid'sche
Sammlung, enthält die besten Modelle, jedoch sind hier die Photographien iu
technischer Hinsicht noch sehr mangelhaft.
2) Topographische Anatomie, I, p. 628, 7. Aufl., 1882.
Oesterreicli.
245
citirt. Der Sänger wünsclit
für seine Liebste:
Den Kopf aus Prag, die Füss'
vom Rhein,
Die Brüst' aus Oesterreicli
im Schrein,
Aus Frankreich den gewölbten
Bauch . , .
Die scliöne Form der
Brüste hängt ebenso wie das
Grübchen im Kinn ab von
einer elastischen, zarten,
dabei aber der Unterlage
gut angehefteten Haut,
und demnach haben wir wohl
diese als den Hauptvorzug
der Oesterreicherinnen anzu-
sehen, der ausser den beiden
genannten Vorzügen noch
einen schönen Teint zur
Folge hat.
Wenn wir die zahl-
reichen Sammlungen öster-
reichischer ActjDhotographien
durchmustern, dann ist es
in der That auffallend, wie
häufig sich, namentlich bei
jüngeren Modellen, diese Vor-
züge, namentlich aber die
schönen Brüste finden.
Da aber diese vorzüg-
liche Beschaffenheit der Haut
und des Unterhautbindege-
webes meist auch eine stär-
kere Fettablagerung zur Folge hat, so verlieren sehr viele dieser
Gestalten mit der zunehmende Grösse und Schwere der Brüste
Fig. 108. Mitdulxeu aus Wien von IT Jahren
mit völlig normalen Proportionen.
(Aufnahme von Heid.)
246
0 esterreich.
sehr bald ihre jugend-
lichen Reize.
Weit seltener sind
auch der Unterleib und
die Extremitäten von
entsprechender Vollen-
dung der Pormen.
Als Typus eines
schön gebauten jugend-
lichen Mädchenkörpers
mit vollen Formen ver-
weise ich, im Gegen-
satz zu dem schlanken
Mädchen von Tafel I,
auf eine 1 7jährige Wie-
nerin aus der Heid-
schen Serie (Fig. 108,
109, 110), die von vorn,
vom Rücken und im
Profil aufgenommen ist.
Zunächst ist her-
vorzuheben , dass das
Mädchen bei einer
Körperhöhe von wenig
mehr als 7 Kopf höhen
völlig normale Pro-
portionen mit dem
Fritsch'schen Schlüssel
zeigt (Fig. 111). Zur
Messung der Propor-
tionen wurde eine an-
dere , mehr geeignete
Aufnahme desselben
Modells gewählt. — Die Körpermitte steht dicht über dem oberen
Rand der Schamspalte, demnach besonders tief. Die Beine, mit der
Mikulicz'schen Axe bestimmt, verlaufen völlig gerade und betragen
Fig. 109. Dieselbe von hinten.
Oesterreich.
247
3^/4 Kopf höhen, demnach
ein Viertel Kopf höhe mehr
als die halbe Körperlänge.
Gestützt auf die pho-
tographischen Aufnahmen
können wir als Vorzüge ver-
zeichnen: weiche, runde und
doch kräftige Körperformen,
Schönheitsfalten über den
Augen, Grrübchen im Kinn,
kleiner, tiefer, hochangesetz-
ter Nabel, reichliches Haupt-
haar (namentlich in Fig. 109
und 110 deutlich) bei ge-
ringer Körperbehaarung,
runde Ellenbogen, lange,
weichgeformte Hand mit
Grübchen und geraden, nach
der Spitze schmäler werden-
den Fingern, gerade, lange,
runde Beine, schmales Knie,
runde, kräftige Wade mit
weichem Umriss, gut ge-
formte Füsse mit längster
zweiter Zehe.
In der Rückansicht ist
hervorzuheben der weiche
und doch kräftige Ueber-
gang vom Nacken zur Schul-
ter, gut ausgeprägte mittlere
Rückenfurche und schöne
Kreuzgrübchen, pralle, runde
Hinterbacken mit zweiter, doppelter Wölbung darunter am inneren
Oberschenkel, deutliches Hervortreten der Muskelsehnen in der Knie-
kehle, weibliche Form der Waden. Die Geradheit der Beine springt
besonders in der Rückansicht deutlich in die Augen.
Fig. 110, Dieselbe im Profil.
248
Oesterreich.
In der Profilansiclit ist trotz der schlaifen Haltung die schöne
Form der Brüste zu erkennen. Trotz ihrer strotzenden Fülle hat
die rechte, jugendliche Brust sich nicht gesenkt, sie ist sehr hoch
Fig. 111. Proportionen der ITjährigeu Wienerin.
angesetzt; die Verbindungslinie mit der Achsel, ist durch den kräf-
tigen Brustmuskel deutlich niarkirt. Am Arme sind die in der
Streckung sichtbaren Grübchen am Ellenbogen erkennbar.
Als Fehler sind zu betrachten die etwas plumpen Gresichtszüge,,
die grosse Ohrmuschel und das schwer gebaute Fussgelenk.
Die frühzeitige Fülle dieses kräftigen Mädchenkörpers beruht
Oesterreich.
249
zum Theil auf der guten Muskulatur, zum Theil aber auch auf
starker Fettablagerung , die den scfiönen jugendliclien Formen ein
baldiges Ende durch stärkere Anhäufung prophezeien lässt.
Eine derartige Gestalt wird — namentlich bei den fferins'en
Fig. 112. Kopf einer Oesterreicherin. (Aufnahme von 0. Schmidt, Wien.)
Vorzügen des Gesichts — in Kleidern wenig oder gar keinen Ein-
druck machen, weil sie, selbst bei geringer Bedeckung, plump er-
scheinen würde.
Dieses Mädchen ist — vom künstlerischen Standpunkt be-
trachtet — geboren um nackt zu sein, und das hat sie mit so
manchen klassischen Statuen von Göttinnen gemeinsam.
Durch eine besonders regelmässige Bildung des Gesichts und
250
Oesterreich.
weiclien Uebergang vom Kopf zum Hals , sowie durch eine schöne
Form der Brüste zeichnet sich Fig. 112 aus, die ebenfalls in Wien
gemacht ist. Diese, sowie das freundliche Köpfchen von Fig. 41 mit
Fig. lia. Kopf des Wiener Mädchens (Tafel I), 3 Jalire später.
(Aufnahme von 0. Schmidt, Wien.)
dem Grübchen im Kinn und dem weichen Mund dürfen als würdige
Vertreterinnen österreichischer Frauenschönheit angesehen werden.
Von dem Wiener Mädchen (Taf. I) von 17 Jahren giebt
Fig. 113 den Kopf in einer Aufnahme, die drei Jahre später, also
Italien. 251
etwa bei zwanzigjährigem Lebensalter, von Sclimiclt in Wien ge-
macht ist.
Es erinnert viel an die Raffael'sche Fornarina. Die volleren
Formen dieser späteren Aufnahme haben die Schönheit des freund*-
liehen Gresichtes keineswegs beeinträchtigt, was bei der grossen
Regelmässigkeit der Züge auch zu erwarten war. Heryorzuheben
ist in dieser Aufnahme der schöne Bau des Auges und seiner Um-
gebung, die besonders gut zur Geltung kommt.
Aus Ungarn, das den Ruf hat, besonders schöne Frauen zu
besitzen, habe ich keine authentischen Photographien erhalten können.
Italien.
Italien war und ist noch immer das Eldorado, nach dem die
Künstler pilgern, um ihre Seele mit Bildern von todter und lebender
Schönheit zu füllen. Deutsche sowie französische Maler suchten die
Offenbarung der Schönheit in Rom, und ihre Bilder sind beredte
Zeugnisse dessen, was sie gefunden. Von neueren Malern hat keiner
eine naturgeschichtlich reinere Form weiblicher Schönheit gefunden
oder geschaffen wie der vielverkannte Anselm Feuerbach. Die beiden
nackten weiblichen Figuren auf seinem Urtheil des Paris haben acht
Kopflängen und schliessen sich bis auf die kleinsten Details dem
Canon von Fritsch an.
Solche Kunstwerke sagen uns mehr als die begeisterten Schilde-
rungen von Reisenden, die, erfüllt von schönen Bildern, nur kurze
Zeit in Italien weilen und überall nur das Schöne sehen wollen.
Mit Recht hebt Bogumil Golz hervor, dass bei längerem Aufent-
halt bald ein Zustand der Ernüchterung folgt und das früher be-
fangene Auge auch das Hässliche in sich aufnimmt. In Italien
findet man ebensowenig als anderswo das Schöne ringsum auf der
Strasse, man muss es suchen und darf dabei die Geduld nicht ver-
lieren. Unzweifelhaft besitzt Italien sehr viel mehr Schönheit als
die meisten anderen Länder, vollendete Schönheit ist aber hier wie
dort eine grosse Seltenheit.
Volkmann ^) fand wenig schöne Frauen in Rom, viel mehr in
^) Historisch-kritische Nachrichten von Italien.
252
Italien.
Neapel und
Venedig. Ick
liabe bei mei-
nem Aufent-
halt in Italien
den Eindruck
bekommen,
dass über-
haupt in Süd-
italien die
weibliche
Schönheit
äusserst sel-
ten ist , dass
dieselbe jedoch zunimmt, je weiter
man nach Norden kommt. Die schön-
sten Frauengestalten sah ich in Florenz
und Mailand, und zwar in grösserer
Anzahl als irgend wo anders. Bei
Sonnenuntergang vereinigt sich die
schöne Welt von Florenz auf dem
Cascine. Ich empfehle jedem, zu Fuss
und nicht im Wagen dorthin zu gehen,
denn die weibliche „schöne Welt"
findet sich unter den Fussgängerinnen
häufiger als in den eleganten Ka-
rossen des Corso.
Von italienischen Actstudien sind
die bekanntesten die von Gloeden in
Sicilien, Plüschow in Rom und die
Mailänder Serie. Unter den ersteren finden sich sehr schöne Männer-
und Jünglingsgestalten, aber wenige und nicht hervorragende Frauen';
dies stimmt mit der Beobachtung von Volkmann, Ploss, mir u, a.^
dass in den südlichen Theilen Italiens weibliche Schönheit schwer
zu finden ist.
Unter einigen^ hundert Aufnahmen von Plüschow fand ich
Fig. 114. Süditalieiieriii J. Viti.
(Aufnahme von Plüschow, Rom.)
Italien.
253
Fig. 115. Proportionen der J. Viti.
verscliiedene selir gut gebaute Körper, namentlicli unter den lialb-
erblühten Mädchen, unter den erwachsenen Frauen nur eine, deren
Stellung jedoch eine exacte Messung nicht zuliess,
Fig. 114 ist eine Aufnahme der 16jährigen J. Viti, Fig. 115
254 Italien,
giebt die Proportionen nacli Kopflängen und nach Fritsch, in eine
andere Aufnahme eingetragen.
Der Körper misst 6,75 Kopflängen, Hände und Füsse sind
Fig. 116. Süditalieneriii. Junges Mädchen von lä Jahren.
(Aufnahme von Plüschovp, Eom.)
zwar sehr gut geformt,' aber unverhältnissmässig gross, die Länge
der Extremitäten ist geringer, als der Canon verlangt. Diese^ Pro-
portionen kennzeichnen zusammen mit den schwachen, jungfräu-
lichen Brüsten, dem mageren Oberleib und der schwachen Körper-
behaarung den wachsenden Körper, die heranreifende Jungfrau.
Italien.
255
Der Kör-
per zeiclinet
sich aus
durch gerade
Axen der
Extremi-
täten , gute
Form des ge-
räumigen
Beckens, ho-
hen Ansatz
der Brüste,
trotz der
Magerkeit weiche Formen, sehr regel-
mässig geformte Hände und Füsse und
gut proportionirtes Gesicht.
Selbst wenn wir uns (in Fig. 115)
die linke Schulter gesenkt vorstellen,
liegt die Brustwarze noch höher als der
Canon verlangt. Es ist demnach an-
zunehmen, dass nach beendigtem Wachs-
thum dieser Körper völlig den Anforde-
rungen des Canons genügen wird.
Einem noch jugendlicheren Stadium,
einem Mädchen von etwa 13 Jahren, ge-
hört das liebliche Gesicht von Fig. 116.
Sehr schön ist darin die reine
Bildung des Mundes, die schöne Form
der schwermüthigen Augen und der zarte
Umriss des kindlichen Gesichtes. Bei
Vergleichung mit den Köpfen der beiden
Spanierinnen (Fig. 98 u. 99) fällt auf,
dass die kleine Italienerin einen ver-
hältnissmässig breiteren Nasenrücken, dabei aber eine kleinere
Nase hat, als die beiden andern. Auch hier ist die Grenze des
Erlaubten im individuell Schönen erreicht. Eine etwas breitere
Fig. 117. NorcUtalienerin. Mädchen
aus Mailaiid (nacli dem Leben).
256
Italien.
Fig. 118. Proportionen des Mailänder Mädchens.
oder etwas grössere Nase würde die Symmetrie des Gesichtes
verletzen.
In der Mailänder Serie fand ich unter 200 Modellen 12 , die
nur ganz geringe Fehler aufzuweisen hatten , also 6 '^jo Tadellose
Eussland. 257
unter den Berufsmodellen, das weitaus günstigste Yerhältniss unter
den von mir gemachten Beobachtungen.
Die schönste der Mailänderinnen ist hier (Fig. 117) abgebildet.
Fig. 118 giebt ihre Proportionen.
Die Gestalt hat acht Kopflängen. Bei der Berechnung nach
dem Fritsch'schen Canon sind die Beine um 0,008 der Gresammt-
länge, also um etwa 1,5 cm zu kurz; an den oberen Extremitäten
sind die Hände um ein Greringes zu klein. Die Schulterbreite ist
ebenfalls um 1 cm verkürzt. Alle übrigen Masse stimmen auf ^J2 cm
genau, der Nabel steht sogar noch etwas höher, als verlangt wird.
Schulterbreite , Taillen- und Hüftbreite stehen im Yerhältniss
12 : 7 : 11, würden also bei einer Taille von 21 cm die Masse
36 : 21 : 33 cm ergeben; die Taille wäre also genau 12 cm schmäler
als die Hüften, und 15 statt 16 cm schmäler als die Schultern.
Dies stimmt mit der nach dem Canon gemachten Berechnung. Die
Körpermitte fällt mit der oberen Schamhaargrenze zusammen, die in
Folge der geringen Entwickelung der Schamhaare besonders tief steht.
Als besondere Vorzüge der Figur sind zu nennen: Reichliches
Haupthaar, grosse Augenhöhlen, schmale, scharfgezeichnete Augen-
brauen, die Schönheitsfalte über den Augen, weite Augenspalte, gut
geschnittener Mund, kleiner Unterkiefer, schmales Handgelenk, hoher
Ansatz der Brust, kleiner, hochstehender Nabel, weicher TJebergang
der Hüfte zum Schenkel , niedere Schamhaargrenze , geringe Ent-
wickelung der Schamhaare, gerade Beinaxe, gut gebildeter Fuss
mit grösster Länge der zweiten und sehr kleiner fünfter Zehe u. s. w.
Russlaud.
Aus Russland habe ich bisher nur eine Photographie erhalten
können (Fig. 119), deren Stellung leider eine genaue Controle durch
Masse unmöglich macht.
Immerhin kann man nachmessen, dass das rechte, gestreckte
Bein länger ist als vier Kopflängen. Die Füsse sind besonders gut
geformt, mit hohem Rist, feiner Ferse und längerer zweiter Zehe.
Der im Bilde stark verkürzte Oberkörper gestattet keine weiteren
Schlüsse, als dass der Brustkorb gleichmässig und gut gewölbt ist.
Stratz, Die Schönheit des weiblichen Körpers. 17
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Dänemark.
259
Dänemark.
Die Däninnen zeich-
nen sich, ebenso wie
die Skandinavierinnen,
durcli auffallend blanke
Hautfarbe und zartes
Colorit aus, sowie durch
einen meist sehr regel-
mässigen Bau der Ex-
tremitäten.
Professor Leopold
Meyer war so liebens-
würdig , mir einige
Photographien zur Ver-
fügung zu stellen, die
von Dr. Kuhn-Faber
aufgenommen sind.
Die erste (Fig. 120),
ein schwarzhaariges
Mädchen aus Kopen-
hagen, zeigt diese Vor-
züge in hohem Masse.
Arm- und Beinaxen
verlaufen völlig ge-
rade, die Gliedmassen
sind muskulös und
kräftig , haben dabei
jedoch feine , scharf
umschriebene Gelenke ;
namentlich am linken
Bein ist das Fussge-
lenk und das Knie als mustergültig zu betrachten.
Bei einer Gesammthöhe von 7^/4 Kopf höhen steht die Körper-
mitte unterhalb der oberen Schamhaargrenze, die Beine betragen
etwas weniger als 4 Kopfhöhen (Fig. 121).
Fig. läO. yuliwaizliuarige Dänin.
(Aufnalime von Dr. Kuhn-Faber.)
260
Dänemark.
Das Gesicht zeigt ebenso wie das der anderen Dänin etwas
vorstehende Jochbogen, zwischen den schmalen Augen leicht sich ein-
ziehenden, dabei aber schma-
len Nasenrücken und ziem-
lich kräftigen Unterkiefer.
Am Rumpf fällt ebenso
wie an den Extremitäten die
kräftige und doch zierliche
Ausbildung des Skelets, so-
wie der Muskulatur ins Auge.
Die Breite des Beckens ver-
schwindet beim Vergleich
mit dem sehr breiten und
fast männlich gewölbten
Brustkasten. Die Breiten-
masse des Rumpfes stehen
im Verhältniss 2 : 3 : 3,5.
Es würde dementsprechend
die Schulterbreite 35 , die
Taille 20, die Hüftbreite
30 cm betragen. Diese Ver-
hältnisse zusammen mit den
gut geformten, jedoch sehr
kleinen Brüsten geben der
Grestalt einen sehr jugend-
lichen , knabenhaften Ge-
samtcharakter, wie wir ihn
auf alten Amazonenstatuen
antreffen.
Legt man den Fritsch'schen Schlüssel an, so ergiebt sich, dass
die Beine im Verhältniss zu kurz sind ; die Verhältnisse dieser Figur
sind genau dieselben , wie sie Fritsch ^) für die Venus von Thor-
waldsen gefunden hat.
Ausser den erwähnten sind als besondere Vorzüge dieser Ge-
Fig. 121.
Proportionen der schwarzhaarigen Dänin.
^) Fritsch-Harless, Die Gestalt des Menschen, Taf. XXV, Fig. 4.
Dänemark.
261
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stalt kervorziiheben der
gut gewölbte, kleine Fuss
mit längster zweiter Zehe,
der kleine, hochstehende,
tiefe Nabel, der schöne
Uebergangvon der Schul-
ter zum Arm ; als Fehler
die zu reichliche Behaa-
rung des Schamberges und
die spitz zusammenlaufen-
den Grenzlinien zwischen
Rumpf und Schenkeln.
Die zweite, ein roth-
blondes Mädchen aus Ko-
penhagen (Fig. 122), zeigt
im allgemeinen dieselben
Verhältnisse wie die erste,
jedoch ist hier der weib-
liche Charakter der Brei-
tenmasse am Rumpf stär-
ker ausgeprägt, die Kör-
perbehaarung von völlig
weiblichem Typus , und
die Augen sind tiefer und
mit der Schönheitsfalte
ausgestattet. Die Form
des Knies und des etwas
platten Fusses ist weniger^
rein. Die Beine sind auch
hier, mit dem Fritsch-
schen Schlüssel gemessen,
etwa um 1 cm zu kurz.
Um der Schönheit dieser Gestalt völlig gerecht zu werden,
müsste sie in Farben wiedergegeben werden , da die Photographie
das zarte Spiel von Weiss und Roth nur unvollständig wiedergiebt.
Auffallend ist, dass diese beiden Däninnen — vielleicht zu-
Fig. 122. Rothhaarige Dänin.
(Aufnahme von Dr. Kuhn-Faber.)
262
Gemischte Rassen.
!!*^,
'"'^'^.jJUlm'^fi^ - *-
fällig — genau dieselben Propor-
tionen zeigen wie die Thorwaldsen-
schen Idealgestalten. Dies legt
mir die Vermutliung nahe, dass
dem grossen Dänen, trotzdem er
wahrscheinlicli italienische Modelle
gehabt hat, doch als Ideal eine
Dänin vorgeschwebt hat.
Cremisclite Rassen.
Mischung der
Nach Bartels ^) wird durch
Rassen die Schön-
heit meist gesteigert, jedoch hebt
er mit Recht hervor, dass bei
aussereuropäischen Typen die Mi-
schung mit weissem väterlichem
Blut meist als Veredelung ange-
sehen werden muss.
Von aussereuropäischen Ras-
sen werden viele, unter anderen
die ganze malaische Rasse, von
manchen Anthropologen als Mi-
schung angesehen. Die besseren
Elemente dürften bei den Malaien
durch Hindublut geliefert sein;
inwieweit dies bei körperlich be-
vorzugten Stämmen unter den
malaischen Völkern, wie die Ha-
waiinsulaner und Samoaner, eine
Rolle gespielt hat, dürfte wohl
schwer zu entscheiden sein. Immer-
hin gilt von allen diesen Völkern
das bereits Erwähnte, dass sich häufig gute Körper, äusserst selten
schön gebildete Gresichter unter ihnen finden.
') Ploss-Bartels, Das Weib. 1897, I, p. 58.
Fig. 123. I8j ähriges Mädcheu von
cMiiesiscli-malaisclier Abkunft.
(Aus Hagen, Anthropologischer Atlas.)
Gemischte Rassen.
263
Sehr reichhaltig an schö-
nen Individuen sind unsere dies-
bezüglichen photographischen
Documente, soweit mir be-
kannt, nicht.
In einer grösseren Samm-
lung, die Hagen in seinem
Anthropologischen Atlas ost-
asiatischer und melanesischer
Völker ^) vereinigt hat, ist auf-
fallend, dass gerade die besten
Gestalten sich unter den Misch-
lingen finden.
Ein ISjähriges Mädchen
von chinesisch-malaischer Ab-
kunft (Fig. 123) zeigt bei nur
6,5 Kopf höhen in derGesammt-
höhe ziemlich normale Propor-
tionen mit dem Fritsch'schen
Schlüssel, gerade Axen an allen
Extremitäten, ohne irgendwie
bemerkenswerthe Fehler, dabei
aber einen Kopf, der nach eu-
ropäischen Begriffen keines-
wegs als schön bezeichnet
werden kann.
Völlig reine Proportionen
nach Fritsch bei einer Ge-
sammthöhe von 7,5 Kopf höhen
hat ein 17jähriges Mädchen aus
Singapore, das von einem Tamil
und einer Malaiin abstammt
(Fig. 124). Dass die Länge der
Beine (= 4 Kopf höhen) normal
ist, scheint um so auffallender, als an den Unterschenkeln eine leicht
1) Wiesbaden, Kreiders Verlag, 1898.
Fig. 124. ITjäliriges Mädclien aus Singapore.
Mischrasse: Tamil und Malaiin.
(Aus Hagen, Anthropologisclier Atlas.)
264
Gemischte Rassen.
wohl
erste
rhachitische Krümmung zu er-
kemien ist, gepaart mit ebenfalls
rhachitischer Verdickung der Knö-
chel und Handgelenke (links).
Trotz der reinen Proportionen
ist diese Gestalt, auch abgesehen
von den unregelmässigen Zügen
des im Verhältniss zum Kopf viel
zu grossen Gesichtes, nicht schön
zu nennen. Der Brustkasten ist
zwar breit, aber flach, wodurch
eine leichte Senkung der jugend-
lich gefüllten Brüste bedingt wird.
Arme und Beine sind zu mager
und haben die völlige Reife noch
nicht erreicht zu einer Zeit, da die
Brüste bereits ihre kaum erreichte
Reife bereits wieder überschreiten.
Weit vortheilhafter erscheint
dieser Körper in der Rückansicht
(Fig. 125), worin namentlich am
Rumpf wenig auszusetzen ist.
Ob und inwieweit die Mischung
des Blutes in solchen Fällen die
Körperform beeinflusst hat, lässt
sich hier ebenso schwer ausmachen,
als bei den malaischen Stämmen
überhaupt.
Alle diese Mischlinge stehen
jedoch in jeder Beziehung weit
hinter denen, die, meist väterlicher-
seits , indogermanisches Blut in
ihren Adern haben.
Bei Mischehen innerhalb der europäischen Rassen dürfen Avir
annehmen, dass körperliche Vorzüge einer- oder beiderseits die
und häufigste Veranlassung für Rassenkreuzungen abgeben.
Fig. 125. Rückansicht von Fig. 124.
Gemischte Rassen.
265
In den meisten Fällen ist es
jedoch, schwer, den Einfluss der
verschiedenen Rassen väterlicher-
und mütterlicherseits nachzuweisen.
Bei einem 23jährigen Mäd-
chen, das in Fig. 126 u. 127 ab-
gebildet ist, liess sich eine Mischung
von holländischem Blut väterlicher-
seits und französischem Blut müt-
terlicherseits mit Sicherheit fest-
stellen.
Das Resultat der Mischung
ist in diesem Falle ein recht gün-
stiges zu nennen.
Die Masse sind: ^
Körperlänge 159 cm.
Kopflänge 20,5 cm.
Rumpf länge bis zum Schritt 85 cm.
Modulus 60 cm.
Beinlänge 85,5 cm.
Schulterbreite 35,5 cm.
Taille 20 cm.
Hüftbreite 31 cm.
Brustwarzenabstand 21,75 cm.
Hintere Dornbreite 10,5 cm.
Fusslänge 23 cm.
Handlänge 19 cm.
Brustumfang 80 cm.
Körpergewicht 51 kg.
Die Körpermitte liegt tief,
unterhalb der oberen Schamhaar-
grenze.
Bei Construction des Fritsch-
schen Canons stimmen die Masse auffallend; nur die Hände sind
zu lang (Fig. 127).
Dass Brustwarzen und Nabel zu tief stehen, erklärt sich aus
Fig. 126. asjäliriges Mädchen von
niederländiscli-französischer Abkunft.
266
.Gemischte Rassen.
dem Umstand, dass das Modell ein auffallend hohles Kreuz (Lordose)
hatte, wodurch die obere Wölbung der Brust, sowie die Neigung
des Beckens in der Ansicht von vorn
die Verhältnisse der einzelnen Theile des
Rumpfes stark verschoben haben.
Auf der Ansicht von vorn, deren
dioptrische Contour nach der Photo-
graphie in Fig. 127 eingetragen wurde,
ist die Stellung ziemlich symmetrisch ;
die linke Schulter steht etwas tiefer als
die rechte. Trotzdem kann man erkennen,
dass Arm- und Beinaxen ziemlich gerade
verlaufen. Die Beine berühren sich an den
vorgeschriebenen vier Punkten, die Miku-
licz'sche Axe geht durch die zweite Zehe.
Im Verhältniss zum Alter ist die
Brust nicht stark entwickelt und zeigt
durch leichte Senkung, dass die höchste
Blüthe bereits überschritten ist, eine
Blume , die , halb aufgeblüht , bereits
wieder verwelkt. Die Erklärung dafür
finde ich in dem ermüdenden Beruf des
Mädchens (als Modell) , sowie in einer
leichten chronischen Erkrankung innerer
Organe, die ihren Einfluss auch auf die
äusseren Formen des Körpers geltend
macht.
Ausserdem sind als Fehler an diesem
Körper hervorzuheben : Eine leichte Ver-
krümmung des Beines oberhalb der
Knöchel und eine Verdickung und Ver-
krümmung im Handgelenk, die besonders
links deutlich hervortritt. Beides als
Zeichen früherer Rhachitis.
In der Ansicht von hinten ist hervorzuheben das gute Relief
des Rückens und die gute Ausbildung der Kreuzgrübchen. Unter
Fig. 127. Canon des Mädchens
von gemischter Easse.
268 Gemischte Rassen.
den Kniekelilen werden die Beine entstellt durcli die Druckfurchen
der Strumpfbänder.
Von Grieclienland und der Schweiz habe ich nur fehlerhafte,
von England, Polen, Norwegen, Schweden und Portugal überhaupt
keine Modelle erhalten können. Dass es aber in England und ebenso
in Norwegen und Schweden gute Modelle giebt, geht aus manchen
vortreif liehen Actstudien dortiger Künstler zur Genüge hervor; das-
selbe dürfte der Fall sein mit den anderen bisher nicht [berück-
sichtigten Ländern.
Aus meinen bisherigen Beobachtungen ergiebt sich, dass ich
zehn Niederländerinnen , eine Belgierin , drei Spanierinnen , sechs
Oesterreicherinnen (worunter zwei Wienerinnen und eine Böhmin),
eine Deutsche mit tadellosen Proportionen gefunden habe, und dass
bei einer Französin mit grosser Wahrscheinlichkeit gleichfalls tadel-
lose Proportionen bestehen.
Ferner zeigen unter allen bisher gemessenen Frauen die Mai-
länderinnen den grössten Procentgehalt von körperlicher Schönheit
im allgemeinen und körperlicher Vorzüge im besonderen.
Es bleibt noch sehr viel zu erledigen. Namentlich wird sich
bei reichlicherem Material die Nothwendigkeit herausstellen, bei den
grossen europäischen Völkern mehr und mehr die verschiedenen, in
ihnen vereinigten Elemente von einander zu scheiden.
„Die Feststellung der Rassenmerkmale" — schreibt mir Pro-
fessor G. Fritsch aus Kairo — „ist bisher ja in der That aus
Mangel an Material stets unerledigt geblieben und wird wohl noch
lange nicht vollständig erledigt werden können."
Ich bitte, diesen letzten Abschnitt meines Buches als einen
Versuch in der angestrebten Richtung zu betrachten, ich hoffe, auf
dem eingeschlagenen Wege weiter fortschreiten und das Meinige
zur Lösung der Frage beitragen zu können, und schliesse mit der
Bitte an alle Leser und Leserinnen um ' freundliche Unterstützung
zur Erfüllung dieser Aufgabe.
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VERLAOSWERKE
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STUTTGART, BERLIN, LEIPZIG.
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Lichtbild' Studien .
Dreissig Heliogravüren
nach Aufnahmen von
ALFRED^ENKE^
Folio. In eleganter Mappe. Preis 20 Mark.
INHAL T:
1. Engadiner Bäuerin. — 2. Morgen in San Martina. — 3. Venezianischer
Muschelhändler. — 4. Schloss am Meer. — 5. Studie. — 6. Vorfrühling. —
7. Auf der Weide. — 8. Italienische Villa. — 9. Studie. — 10. Gewitter in den
Bergen. — //. Im Klostergarten. — 12. Erwartung. — 13. Studie. — 14. Villa
d^Este. — 15. Ave Maria. — 16. Bergsee. — 17. Orientalin. — 18. Herbstmorgen
am Königssee. — 19. Bergamaske. — 20. Mondnacht in Florenz. — 21. Bacchan-
tin. — 22. Sonntagsfrieden. — 23. Bei der Arbeit. — 24. Mühle im Gebirg. —
25. In der Kirche. — 26. Am Waldbach. — 27. Sehnsucht. — 28. Dorfgasse. —
29. Studie. — 30. Ein stiller Winkel.
Urteile der Presse.
Der bekannte Schriftsteller J. C. Heer äussert sich über das Werk in
der „Neuen Züricher Zeitung" wie folgt:
Als die Kunst der Photographie entdeckt wurde, trat sie zunächst jahr-
zehntelang in den Dienst der reinen Wiedergabe der Wirklichkeit, war sie ein
durchaus naturalistisches Kunstgewerbe. In neuerer Zeit aber hat sich zu der
stetig wachsenden Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel eine ausser-
ordentliche Verfeinerung des Geschmacks und der Auffassung gesellt, welche,
wie die auch aus der Schweiz viel besuchte photographische Ausstellung in
Stuttgart bewies, die Photographie aus dem Rahmen des Kunstgewerbes in die
Höhen der wirklichen Kunst erhebt. Ein glänzendes Zeugnis dafür sind die
Lichtbild-Studien Alfred Enkes in Stuttgart, wahre Kabinettstücke der photo-
graphischen Kleinmalerei , Genres und Landschaften, wie sie der Künstler auf
Ferienfahrten in Italien , den Schweizer- und österreichischen Alj^en entdeckt
hat. Glückliches Finden und feinfühlige Wahl des Motivs, Schönheit der Be-
lichtung und plastische Modellierung fesseln uns, ob der Künstler das Figürliche
oder Landschaftliche bevorzugt, und Blatt um Blatt überrascht uns lebhaft, wie
ausserordentlich fügsam sich ihm die Technik erweist. Graziöse, pikante Anmut
atmet gleich der jugendliche Frauenkopf auf dem Titelblatt, realistische Kraft
die alte, gemütliche Bäuerin in der dunklen strengen Tracht des Unterengadins,
Böcklinsche Stimmung das zerfallende Schloss am Meer und die träumerische
italienische Villa zwischen Cypressen und Lorbeer. Ob uns nun Enke einen
Morgen in den italienischen Alpen mit duftigem Gebirgshintergrund, einen Vor-
frühlingstag im lichten Gehölze, ein Tierstück von der Weide, ein Gewitter über
dem See und Dorf des Gebirges, die Tonnen, die im Klostergarten arbeiten,
den italienischen Hof, in dem ein Mädchen seinen Freund erwartet, den herrlichen
Gartenaufgang der Villa d'Este oder den alten Pfarrer, der auf einer Bank
sitzend die Hände zum Ave Maria faltet, oder kokette junge Frauenbilder, eine
orientalische Träumerin mit sphinxartigem Ausdruck, eine jugendliche Bacchantin,
einen verwitterten Bergamasken oder ein feines, schicksalerfahrenes Mütterchen
in der Kirche schildert, haben alle Blätter reiche Stimmung und Poesie und ge-
winnen wie das Werk als Ganzes durch die überaus sympathische Stoffwahl, durch
die reiche Abwechselung von Bild zu Bild. Die Wiedergabe der einzelnen Stücke
durch die Verlagsanstalt ist tadellos vollkommen, der Preis im Verhältnis zum
Gebotenen durchaus billig, und wir denken, dass das schöne Werk nicht nur bei
den Photographen, die darin einen Triumph ihrer Kunst sehen müssen, sondern
auch in kunstfreundlichen Familien die wärmste Aufnahme findet und ein her-
vorragendes Zugstück des bevorstehenden Weihnachtsmarktes in den Kreisen
wird, wo der Sinn für lebensunmittelbare, doch poesiereiche Kunst zu Hause ist.
.... Die Reihe umfasst zum grössten Teil Landschaftsbilder aus Deutsch-
land, besonders aus dem Hochgebirge, und aus Italien, Wal dpartieen, Genrebilder,
mehrere schöne Frauenbilder (Orientalin, Bacchantin und drei Studienköpfe),
Charakterköpfe von Landleuten. Besonders stimmungsvoll und fesselnd sind die
Blätter : Schloss am Meere ; Vorfrühling (eine blätterlose Birkenwaldpartie) ;
Italienische Yilla; Gewitter in den Bergen-, Villa d'Este; Herbstmorgen am
Königssee; Mondnacht in Florenz. Die ursprünglichen photographischen Auf-
nahmen müssen geradezu unübertrefflich gelungen sein; denn die in der Kunst-
anstalt von Meisenbach, Riffarth & Co. in München hergestellten Nachbildungen in
Heliogravüre lassen an Feinheit nichts zu wünschen übrig und wirken mit vollendet
schöner Perspektive oder treten wie zum Greifen plastisch dem Beschauer entgegen.
Die Grundfarbe der Bilder ist in verschiedenartigen Abstufungen von Schwarz,
Blau, Braun und Rot gehalten, wie sie für das betreffende Bild am günstigsten
wirkt. Gedruckt sind die Bilder auf feinem Kupferdruckpapier in Folioformat.
Die Originalbilder haben als photographische Kunstblätter zu Anfang dieses
Jahres, als sie im Landesgewerbe-Museum in Stuttgart ausgestellt waren, all-
gemein höchste Bewunderung erregt. Kölnische Zeitung Nr. 993, 1899.
.... Hier haben Herausgeber, Verlag und Reproduktionskunst miteinander
gewetteifert, um ein Werk zu publiziren, das wir getrost in die vorderste Reihe
der Kunstgaben für das Fest stellen dürfen. Es ist hier nicht der Platz, auf
den eminenten Werth solcher photographischen Aufnahmen hinzuweisen, die
Jedem, der sich den Luxus einer Gemäldegalerie nicht gestatten kann, einen
hohen, ästhetischen Genuss bereiten werden. Die grossen Fortschritte unserer
Amateurphotographen, die Alfred Lichtwark die Legitimirung ihres Kunstzweiges
verdanken, hat Enke sehr gut verwerthet, und daher präsentiren sich uns denn
seine Landschaften, Porträts, Stimmungsbilder, Beleuchtungsstudien wie echte
Kunstwerke. Aufnahmen, wie die „Erwartung", „Bacchantin", „Sonntagsfrieden",
„Vorfrühling", können geradezu als vorbildlich bezeichnet werden. So kann nur
ein Künstler sehen, und in der Hand des feinen Künstlers wird der Photographen-
apparat sozusagen zur Palette; er erschliesst uns ein Reich fruchtbarer künst-
lerischer Thätigkeit, während derselbe Apparat in den Händen des Dilettanten
nur selten und mehr zufällig einmal ein künstlerisch gelungenes Bild produziren
wird. Den Amateurphotographen sei das bedeutsame Werk, das übrigens für
jeden Freund der Musen ein prächtiges Geschenk ist, wärmstens empfohlen.
Mänchener Neueste Nachrichten Nr. 554, 1899.
Wer sich mit der Entwickelung der Photographie in Deutschland während
der letzten zehn Jahre beschäftigt, trifft immer wieder auf die Namen Alfred
Enke-Stuttgart und W. v. Gloeden-Taormina. Bei beider Arbeiten, über deren
technische Vollendung jedes Wort erübrigt, tritt das Streben nach bildmässiger
Wirkung scharf hervor, sie betrachten ihre Kamera als ein wirklich künstlerisches
Werkzeug. Jenes Bestreben führt in ungeschickten Händen nur allzu oft, gelinde
gesagt, zu Trivialitäten, bei den beiden Meistern aber zu geradezu erstaunlichen
Leistungen. Alfred Enke hat soeben eine herrliche Mappe von 30 „Lichtbild-
Studien" — nach seinen Aufnahmen in Heliogravüren reproduziert — bei der
Union Deutsche Verlagsgesellschaft in Stuttgart erscheinen lassen ; die Sammlung
enthält Landschaften, Architekturstücke, Studienköpfe etc. — eine Fülle des
Schönen. Velhagen und Klasings Monatshefte, Heft 5, 1900.
Nous avons regu un' süperbe album d'heliogravures de M. Alfred Enke,
edite par 1',, Union Deutsche Verlagsgesellschaft", de Stuttgart. II se compose
de trente planches, executees d'apres des cliches photographiques de M. Enke,
dont les sujets varies forment un ensemble des plus interessants.
Tous les tableaux sont composes avec goüt et denotent chez leur auteur
un sentiment artistique tres cultive. Quand nous aurons dit que les planches
sortent des ateliers de la maison Meisenbach de Munich, nos lecteurs com-
prendront toute la valeur artistique de cette belle publication de grand luxe.
Bulletin du Photo-Club de Paris, Janv. 1900.
Wer pliotographische Aufnahmen machen will, welche über die Erinnerung
an Personen und Landschaften hinaus dauernd Eindruck machen sollen , weil
sie die Schönheit der Glestalten, ergreifende Stimmungen darstellen, der muss
die künstlerische Bildung eines Malers sich erworben haben. Die Lichtbildstudien
verdanken einem so gebildeten Künstler ihre Entstehung. Mit scharfer Beob-
achtung und Kenntniss des Erreichbaren hat der aus anderweiter Thätigkeit
viel bekannte Urheber das von ihm Aufgenommene gefunden und gefesselt.
Wer die geschmackvoll verzierte Mappe öffnet und ein Bild angesehen hat,
z. B. den Sonntagsfrieden, der wird erst ruhen, bis er sämmtliche Bilder an-
geschaut hat. Schwer ist es, Einem Vorzug zu geben, besonders aufmerksam
sei gemacht auf Morgen in St. Martino, Villa d'Este, In der Kirche, Engadiner
Bäuerin, Bacchantin u. s. w. Die Bildfindung ist ein Meisterstück des Urhebers
Alfred Enke, der sich damit in der Reihe der kunstgebildeten Photographen
einen Platz gesichert hat. Im In- und Auslande wird die Sammlung die Auf-
merksamkeit der Sachverständigen auf sich ziehen. Die Lichtbild-Studien werden
ein Schmuck eines jeden Ausstellungstisches sein, bewundert werden und, weil
sie andere Mappen an Schönheit übertreffen, weite Verbreitung finden. Die
Heliogravüren sind in der Kunstanstalt von Meisenbach, Riffarth & Co. (München
und Schöneberg-Berlin) in bekannter Meisterschaft hergestellt.
Berliner Börsen-Zeitung Nr. 547, 1899.
Durch dieses vornehme Werk wird einem Mangel abgeholfen, der für
den seriösen Photographen bisher bestanden hat, der Mangel einer Schule der
künstlerischen Photographie, durch den Anschauungsunterricht nämlich. Sonst
bildeten die Ausstellungen, die Illustrationen der Hefte, die Jahreszusammen-
stellungen der prämiirten Bilder, wie sie das „Photogramm" veranstaltet, die
alleinigen Vorlagen, die Jedem zugänglich waren. Jede derselben leidet aber
an ihren besonderen Nachtheilen, man kann weder alle Ausstellungen besuchen,
noch sich alle Hefte halten. Dazu kommt der Umstand des kleinen Formates
und der meist groben Ausführung, auf die die Hefte angewiesen sind. Deshalb
begrüssen wir mit Freuden die Enke'sche Mappe aus 30 Bildern 15x20, durch
Heliogravüre in der vornehmsten Art ausgeführt und ausgestattet. Dieses Werk
beweist durch den Umfang und die Vielseitigkeit, wie Grosses durch die Photo-
graphie zu erzielen ist. Mcht auf eine und die andere Auffassung der Natur
ist diese Sammlung beschränkt. Sonst werden durch das Spezialisiren bedeutende
Resultate erreicht. Der Meister arbeitet sich einen Stil aus, an dem wir einen
Kühn oder einen Hinton beim ersten Blick erkennen. Die Vielseitigkeit aber,
welche Enke eigen ist, glauben wir bei keinem Anderen zu finden. Jedes Bild
ist originell, jedes erschliesst neue Möglichkeiten der photographischen Kunst.
Bei der Photographie kommt in erster Reihe die Auffassung und dann wieder
die Auffassung und dann nochmals die Auffassung. Diese Gabe ist bei Enke
Genie. Das Werk kennzeichnet den Stand der künstlerischen Photographie^
wie sie namentlich von Malern aufgefasst wird. Die Bilder zeichnen sich alle
durch die Directheit, durch die Empfindung für die malerischen Momente und
durch die volle Verwerthung derselben bei Vermeidung störender Momente aus,
sowie durch technische Vollendung. Das Werk darf in keinem Verein, keiner
Photo-Bibliothek fehlen. Für den Preis von vier Kartons 13x18 Platten ver-
schafft sich jeder Photograph die Anleitung zu einem zielbewussten Vorgehen,
wodurch er nicht allein den Geschmack erzieht und sich die Mittel zur dauernden
Befriedigung beschafft, sondern sich auch Hunderte von werth losen Aufnahmen
erspart. Mit einem Worte, es zeigt ihm, wie er sehen und was er festhalten soll.
Der Amateiir-Photograph, December 1899.
Yerlag- yon FERDINAND ENKE in Stuttgart.
Die Frauen auf Java.
Von
Dr. C. H. Stratz.
Eine gynäkologisclie Studie. Mit 41 Abbildungen im Text.
gr. 8. 1897. geh. M. 5.-
stratz hat in dem vorliegenden Werke einen wichtigen Beitrag zu unseren Kennt-
nissen von den Naturvölkern geliefert , der nicht nur praktischen Werth für die medlcinische
Behandlung der Naturvölker hat, sondern auch vom anthropologischen Standpunkte aus neue
Einblicke in das Leben der Naturvölker gestattet.
Correspondenzbl. d. deutsch. Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie w. Urgeschichte 1898.
In diesem Buche, das er bescheiden eine Studie nennt, giebt S. nicht etwa einen trockenen
Rechenschaftsbericht über seine mehr als 5jährige Thätigkeit auf Java, das er als ei-ster ge-
schulter Gynäkologe betrat; vielmehr werden in stets anziehender Sprache auch kulturhistorische
und ethnographische (rassen-anatomische) Fragen ventilirt. Centralbl. f. Gytiäkologie. 1898.
Die sociale Frage
im Lichte der Philosophie.
Vorlesungen über Socialphilosophie und ihre Geschichte.
Von
Professor Dr. Ludwig Stein.
gr. 8. 1897. geh. M. 16.—, eleg. geb. M. 18.50.
Die philosophische Beleuchtung, in welche Professor Stein, der bekannte Herausgeber
des „Archiv für Philosophie", die „sociale Frage" rückt, hellt die bereits zurückgelegte Weg-
strecke der socialen Entwicklung des Menschengeschlechts auf und deutet die Richtung an , in
welcher sich die vorgeschrittene Menschheit nach wissenschaftlicher Voraussicht social weiter
bewegen dürfte.
Als Philosoph steht Prof. Stein allem Parteigetriebe fern; er untersucht nur „das dem
politischen Kräftespiel des Augenblickes zu Grunde liegende Beharrende und Generelle: die
ewigen Interessen der menschlichen Gattung".
Das umfassende , aus akademischen Voi-lesungen hervorgegangene Werk zerlegt seinen
Stoff in drei Gruppen. Die ersten vier Kapitel charakterisiren das Problem, den augenblicklichen
Stand und die Methoden der philosophischen Behandlung der „socialen Frage". Im ersten
Abschnitt werden alsdann die „Urformen des Gemeinschafts- und Gesellschaftslebens" untersucht.
Dem augenblicklichen Stande der Sociologie gemäss werden hier in acht Kapiteln die Anfänge
von Familie, F.igenthum, Gesellschaft, Staat, Sprache, Recht, Religion, Kunst und Wissenschaft
geschildert und aus der Aufdeckung des Ursprungs aller Formen menschlichen Zusammenlebens
und Zusammenwirkens philosophisch werthvolle Schlüsse für unser künftiges sociales Verhalten
abgeleitet. Der zweite Abschnitt bietet in zwanzig Vorlesungen eine Geschichte der Social-
philosophie. Es ist dies der erste deutsche Versuch einer geschichtlichen Erfassung der social-
philosophischen Probleme von der Antike ab bis in unsere Gegenwart hinein. Ein sorgfältiges
Litteraturverzeichnlss orientirt den Leser über alle ernstlich in Betracht kommenden Special-
arbeiten der jeweilig behandelten Epoche.
Der dritte Abschnitt endlich (S. 511 — 792) enthält in acht Vorlesungen die Grundzüge
eines Systems der Socialphilosophie. Hier werden die Grundfragen: Individuum, Gesellschaft,
Staat präcisirt, die Wandlungsformen des Eigenthumsbegriffs kritisch erörtert, und in einem
Rechtsso cialismus (S. 598 — G60) die Lösung des Problems gefunden, wobei die Scheidlinie
zwischen Socialref ornaern, denen sich der Verfasser beizählt, vind Socialdemo kr aten
(S. 648) scharf markirt hervortritt. Wie das Recht müssen auch Religion, Moral, Kunst, Wissen-
schaft und Ei'ziehung socialisirt werden. Das ganze Buch mündet in einen socialen Optimismus
aus, der sich als nothwendiges Resultat des vom Verfasser streng innegehaltenen evolutionistischen
Standpunktes von selbst ergibt.
Der Verfasser vermeidet, soweit möglich imd thunlich, philosophische Kunstausdrücke;
er schreibt klar und gemeinverständlich. Das vornehm ausgestattete Buch wird jedem gebildeten
Paus eine willkommene Gabe sein.
Yerlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
Die Frau als Mutter.
Schwangerschaft, Geburt und. Wochenbett, sowie Pflege und Ernährung
der Neugeborenen in gemeinverständlicher Darstellung.
Von Dr. Hans Meyer,
Docent für Geburtshülfe und Frauenkrankheiten in Zürich.
Zweite Auflage, kl. 8. 1900. geh. M. 3.60, in Leinwand gebunden M..4.20.
Das ist ein treffliches Buch, welches der bekannte Zürcher Gynäkologe den jungen
Frauen auf den Weihnachtstisch legt. Auf eine Einleitung , welche ein feines psychologisches
Verständniss der Seele des Weibes beurkundet, folgen drei Abschnitte: I. Verlauf von Schwanger-
schaft, Geburt und Wochenbett. II. Diätetik und Leitung der Schwangerschaft, der Geburt und
des Wochenbettes. III. Die Pflege und Ernährung der Neugeborenen. — Ueberall schöpft der
Verfasser aus reicher eigener Erfahrung, und die schwere Kunst, den umfangreichen Stoif ein-
zudämmen und allerorts allgemeinverständlich zu sein, hat er ausgezeichnet verstanden. Man
vermisst nichts Wesentliches und findet nichts üeberflüssiges. Einige Kapitel, wie der Abschnitt
„Das Nichtbeachten des Schreiens als Erziehungsmittel" und die Predigt über das Ammenwesen,
richtiger — Unwesen, sollten laut aller Welt verkündigt werden. Das Buch kann jeder jungen
Familie ein zuverlässiger Rathgeber sein. Correspondenzbl. f. Schweizer Aerzte, 1899, Nr. 24.
ETHIK.
Eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze des sittlichen Lebens.
Von Wilhelm Wundt.
Z-^;^ei+e ■u.m.gea.xloeiiete ,A.iafla.ge_
gr. 8. 1892. geh. M. 15.—
Aberglaube und Zauberei
von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart.
Von Dr. Alfr. Lehmann.
Deutsche autorisierte Ausgahe von Dr. Petersen.
Mit 75 in den Text gedruckten Abbildungen, gr. 8. 1898. geh. M. 12. —
in Leinwand geb. M. 13. —
Inhal t:
Einleitung: Das Verhältnis des Aberglaubens und der jMagle zu Keligion und Wissen-
schaft. — Aberglaube und Zauberei bei den wilden Völkern.
I.Abschnitt. Die Weisheit der Chaidäer und ihre Entwicklung in Europa.
Die Chaidäer. — Die Griechen und Körner. — Die Hebräer. — Die ersten christlichen Jahr-
hunderte. — Die Nordländer und Finnen. — Das Mittelalter bis zum Beginn der Hexenprozesse. —
Das Teufelsbündnis und die Hexensabbate. — Die Blüte und der Verfall der Magie.
II. Abschnitt. Die Geheimwissenschaften. — Das Verhältnis der gelehrten Magie
zur Zauberei des Volkes. — Die heilige Kabbala. — Der Ursprung der Geheimwissenschaften. —
Die gelehrten Magier vor Agrippa. — Agrippa und die okkulte Philosophie. — Die einzelnen
magischen Wissenschaften. — Magia naturalis. — • Die Popularisierung der Wissenschaften.
III. Abschnitt. Der moderne Spiritismus und Okkultismus. — Die Vor-
geschichte des modernen Spiritismus. — Das Auftreten des Spiritismus in Amerika. — Die
Verbreitung des Spiritismus. — Die dialektische Gesellschaft. — Crookes und die psychische
Kraft. — Zöllner und die vierdimensionalen Wesen. — Theosophie und Fakirismus. — Der
Spiritismus im letzten Dezennium.
IV. Abschnitt. Die magischen Geisteszustände. — Der Mensch als Centrum der
magischen Kräfte. — Das menschliche Beobachtungsvermögen. — Die Bedeutung der Beobach-
tungsfehler für den Aberglauben. — Zitterbewegung und deren magische Wirkungen. — Schlaf
und Traum. — Die Bedeutung der Träume für den Aberglauben. — Das Nachtwandeln. — Das
Eingreifen des TJnbewussten in das Bewusstsein, — Die normale Suggestibilität. — Hypnose und
Autohypnose. — Die magischen Wirkungen der Narkosen. — Hysterie und Hysterohypnose. —
Technische Hilfsmittel der Magie. — Schluss. — Litteraturverzeichnis.
Das Werk ist schon während des Erscheinens als Lieferungs-Ausgabe von der gesamten
Presse als eine vortreffliche zusammenfassende Darstellung dieses grossen Gebietes mensch-
licher Irrungen auf das wärmste begrüsst worden. Vermöge der licht- und geistvollen, dabei
gemeinverständlichen and anregenden Darstellung wird Lehmanns „Aberglaulie und Zauberei"
von jedem Freund einer ernsteren Bildungslektüre mit Genuss gelesen werden.
Yerlag von FERDINAND ENKE in Stuttgart.
Grundriss der Anatomie für Künstler.
Von Prof. M. Duval.
Herausgegeben von Prof. Dr. med. F. Neelsen.
Autorisirte deutsche Uebersetzung. Mit 77 Holzschnitten.
8. 1890. geh. M. 6.—, in Leinwand geb. M. 7.—
Kin auch von der deutschen Presse warm empfohlener, an den verschiedensten Kunstakademien
eingeführter Leitfaden, der mit knapper Fassung lebhafte, anregende Darstellungs weise verbindet.
Aesthetik der Natur.
Von Ernst Hallier.
Für Künstler, Naturkundige, Lehrer, Gärtner, Land- nnd Porstwirthe, Eeisende,
Geistliche, sowie für Freunde der Natur überhaupt ausgearbeitet.
Mit 109 Holzschnitten und 6 Utliographirten Tafeln.
gr. 8. 1890. geh. M. 10.—, eleg. in Leinw. geb. M. 11.—
Kulturgeschichte der Menschheit
in ihrem organischen Anfban.
Von Julius Lippert.
Ztvei Hände,
gr. 8. geb. 1886 u. 1887. Preis M. 20.—, eleg. geb. M. 25.—
Inhalt:
Einleitung. — Die Lebenslursorge als Prinzip der Kulturgeschichte. — Die
Urzeit, — Ausblick auf die Verbreitung der Menschheit. — Die ersten Fort-
schrittsversuche der Lebensfürsorge. — Die Zähmung des Feuers. — Die Fort-
schritte des Werkzeugs als Waffe. — Ausblick auf die Entwickelung differenzierter
Geräte. — Fortschritte der Speisebereitung. — Fortschritte des Schmuckes und
der Kleidung und ihr sozialer Einfluss. — Der beginnende Anbau und die Ver-
breitung der jüngeren Völker in Europa. — Das Nomadentum und die Ver-
breitung der Zugtiere. — Die Nahrungspflanzen im Gefolge der Kultur. — Die
Genussmittel engeren Sinnes und ihre kulturgeschichtliche Bedeutung.
Lipperts leitender Grundgedanke ist, die Lebensfürsorge als das treibende
Agens in der Entwickelung der menschlichen Kultur anzusehen; er geht von dem
Grundsatz aus: unsre Bedürfnisse sind unsre treibenden Kräfte, und von diesem Ausgangs-
punkte aus deduziert er in streng logischer, von echt philosophischem Geiste getragener Welse
den ganzen Aufbau unsrer Kultur. In der geistvoll klaren Einleitung zeichnet er uns den TJi--
menschen, so wie er sich uns noch im Wilden der heutigen Welt darstellt, als ein Wesen, welches
beinahe ohne Phantasie und Gedächtnis auch den erschütterndsten Naturerscheinungen seiner Um-
gebung im ganzen fast gleichgültig gegenüberstand und die höchsten Glieder der Tierwelt nur um
weniges überragte. Die an den Urmenschen herantretenden Anforderungen der Lebensfürsorge
weckten in dem Menschen Thätigkeiten, welche zunächst als unbewusst vorhandene „Reflex-
bewegungen" sich geltend machten, sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzten, sich mit der
Zeit anhäuften, und so den „vererbten Instinkt" bildeten. Die Lebensfürsorge oder der Darwinische
Kampf ums Dasein führte zur Erweckung, Entwickelung und allmählichen Vervollkommnung der
Geisteskräfte des Menschen, welche uns so hoch über alle andern Glieder der organischen Schöpfung
erheben. Aus der Sorge für das Notwendigste entstand die Sorge für das Nützliche, dann für
das Angenehme; aus Eitelkeit und wirklichem Bedürfnis entstand die Sorge für Kleidung, Nah-
rung und Obdach, aus der Not das sittliche und das Pflichtgefühl, die Schamhaf tigkeit , die
Eechtsbegrifle, die Idee der Religion, die Fürsorge für die Zukunft, der Mensch wurde erfinde-
risch und haushälterisch und er lernte sich den Anforderungen anbequemen, welche das einfache
physische Dasein an ihn, den Wehrlosen und Schwächeren, machte. So entstanden in ihm Er-
innerungsvermögen oder Gedächtnis, Ideen, Vorstellungen, Gewohnheiten, Begriffe, Sprache u. s. w.
Dies ist der Entwickelungsgaug der Kultur, wie ihn Lippert mit logischer Schärfe und in echt
philosophischem Geiste schildert, und zwar in so streng logischem Gedankengang, in solcher
Klarheit und Fasslichkeit , dass jeder Denkende und Strebsame auch ohne philosophische Vor-
bildung seinen Ideen und Darlegungen mit höchstem Interesse zu folgen vermag. Lipperts
Buch ist ein Werk ersten Ranges von höchstem Interesse und grösster Lehr-
haftigkeit für jeden Gebildeten. {Ausland 1886. Nr. 24.)