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Full text of "Die Schöuheit des weiblichen Körpers : den Müttern, Ärzten und Künstlern gewidmet"

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http://www.archive.org/details/dieschuheitdes1900stra 


IvfeisBiibadi  Rif&Ttti&CoMinchßTi 

WIENER  MÄDCHEN. 
Pliotograpliei  nacK  deia  Le"berL . 


Die  Schönheit 


des 


Weiblichen  Körpers 


Von 


D'-  C.  H.  ST  RATZ. 


DEN  MUTTERN,  ÄRZTEN  UND  KUNSTLERN 

GEWIDMET. 


Mit  128  theils  farbigen  Abbildungen  im    Text  tiitd  4.    Tafeln  in  Heliog7'avüre. 


ACSTE  AUFLAGE, 


STUTTGART. 

VERLAG   VON  FERDLNAND  ENKE. 

igoo. 


9.fL 


ö  ■  /' 


Druck  der  Union  Deutsche  Verlagsgesellscliaft  in  Stuttgart. 


Vorwort. 

■  Wer  ein  neues  Haus  bauen  will,  liat  eine  schwere  Arbeit  zu 
verricliten.  Von  überall  lier  muss  er  die  Steine  und  die  Balken 
berbeitragen,  und  er  ist  den  freundlicben  Menschen  dankbar,  die 
ihm  dabei  geholfen  haben.  Wenn  endlicli  das  Haus  dastebt,  dann 
ist  es  nocb  lange  nicht  fertig,  bier  hat  die  Mauer  einen  Riss  be- 
kommen und  dort  hat  sieb  ein  Gewölbe  gesenkt,  und  Jabre  vergeben, 
ehe  er  das  Gebäude  wohnlich  eingerichtet  hat,  zur  Freude  für  sich 
und  andere. 

leb  habe  versucht,  der  lebenden  weiblichen  Schönheit  einen 
Tempel  zu  erricbten  im  Reiche  der  Gedanken;  die  Bausteine  haben 
mir  der  Arzt,  der  Anatom  und  der  Künstler  geliefert. 

Mit  freundlicbem  Dank  an  diejenigen,  die  mir  gebolfen,  über- 
gebe icb  das  Werk,  so  wie  es  ist,  der  Oeffentlichkeit  und  hoffe,  dass 
es  Beifall  finden  wird  und  mir  Freunde  erwirbt,  die  geneigt  sind, 
es  zu  verbessern,  zu  erweitern  und  zu  vervollständigen. 

Ich  habe  eine  mebr  allgemeinverständliche  Form  gewäblt,  da 
der  Inhalt,  wie  mir  scheint,  auch  weitere  Kreise  als  die  rein  wissen- 
schaftlichen zu  fesseln  berufen  ist.  Dies  Bucb  ist  den  Müttern,  den 
Aerzten  und  Künstlern  gewidmet. 

Habeat  suum  fatum. 
den  Haag-Scheveningen,  Juni  1898. 

O.  H.  Stratz. 


Vorwort  ziu'  dritten  Auflage. 

Die  Herren  Alexandre,  Theodor  Alt,  E.  Arning,  W.  Auberlen, 
Alfred  Enke,  G.  Fritsch,  A.  A.  G.  Guye,  E.  Juhl,  R.  von  Lariscb, 
A.  Lopez  Suasso,  H.  W.  Mesdag,  Frau  Mesdag-van  Houten,  W.  Mi- 
chaelis, Job.  Ranke,  P.  Rieber  u.  A.,  sowie  mein  Bruder  Rudolf  Stratz 
haben  mich  in  liebenswürdigster  Weise  mit  Rath  und  That  unter- 
stützt, so  dass  es  mir  möglich  wurde,  Manches  zu  verbessern  und 
zu  vervollständigen. 


IV  Vorwort. 

Wessen  der  Kürze  der  Zeit  ist  der  neue  Abschnitt  über  Rassen- 
scbönheit  etwas  dürftig  ausgefallen.  Gerade  dafür  ist  ja  ein  grosses 
und  gutes  Material  nötbig. 

Indem  ich  den  genannten  Herren  an  dieser  Stelle  meinen  herz- 
lichen Dank  abstatte,  wende  ich  mich  zugleich  an  alle  Leser  mit 
der  Bitte,  durch  freundliche  Winke  und  Beiträge  den  Werth  meines 
Buches  erhöhen  zu  helfen. 

den  Haag,  Mai  1899.  C.  H.  StratZ. 


Vorwort  zur  siebenten  Auflage. 

Ausser  den  Genannten  haben  die  Herren  G.  J.  S.  van  Berckel, 
G.  Eberlein,  Enklaar  van  Guericke,  Estinger,  E.  Hagen,  C.  Faber, 
Livius  Fürst,  Gustav  Klein,  C.  Kraay,  Kuhn-Faber,  Leopold  Meyer, 
Th.  Molkenboer,  Schmeltz,  E.  Selenka  u.  A.  durch  ihre  freundliche 
Beihülfe  mir  ermöglicht,  noch  weitere  Verbesserungen  und  Be- 
richtigungen vorzunehmen,  unter  denen  ich  namentlich  hervorheben 
möchte,  dass  alle  mir  von  einer  Londoner  Firma  gelieferten  englischen 
Modelle  sich  als  „Made  in  Germany"  entpuppt  haben.  Um  Andere 
vor  ähnlichem  L-rthum  zu  behüten,  habe  ich  alle  mir  bekannten 
zuverlässigen  Kunstverlage  in  Actstudien  namhaft  gemacht  und  den 
Rest  verschwiegen. 

Den  Herren,  die  mich  so  liebenswürdig  unterstützt,  dem  Publi- 
kum, das  mein  Buch  so  freundlich  empfangen,  und  der  Kritik,  die 
es  trotz  mancher  Fehler  so  günstig  beurtheilt  hat,  gebührt  mein 
herzlichster  Dank,  vor  allen  aber  dem  Verleger,  der  keine  Mühe  und 
Kosten  scheute,  die  Ausstattung  so  tadellos  wie  möglich  zu  gestalten. 

Die  Zahl  der  Abbildungen  [ist  von  72  in  der  ersten  Auflage 
auf  132  vermehrt  worden,  worunter  77  Originalaufnahmen  nach 
dem  Leben. 

Nebst  zahlreichen  äusserst  schmeichelhaften  Zuschriften  aus 
Künstlerkreisen  ist  namentlich  die  Zustimmung  der  Frauen  selbst, 
für  deren  Wohl  ich  schrieb,  mein  schönster  Lohn  gewesen. 

den  Haag,  18.  Januar  1900. 

C.  H.  Stratz. 


Inhalt. 


Seite 

Einleitung 1 

I.  Der  moderne  Schönheitsbegriff 4 

II.  Darstellung  weiblicher  Schönheit  durch  die  bildende  Kunst     ...  13 

III.  Weibliche  Schönheit  in  der  Literatur 25 

IV.  Proportionslehre  und  Canon 34 

V.  Einfluss    der   Entwickelung ,    Ernährung    und   Lebensweise    auf  den 

Körper 46 

VI.  Einfluss  von  Geschlecht,  Lebensalter  und  Erblichkeit 54 

VII.  Einfluss  von  Krankheiten  auf  die  Körperform 63 

VIII.  Einfluss  der  Kleider  auf  die  Körperform 73 

IX.  Beurtheilung    des    Körpers    im    allgemeinen    nach    diesen    Gesichts- 
punkten        82 

X.  Beurtheilung  der  einzelnen  Körpertheile 95 

a)  Kopf 96 

b)  Rumpf 110 

Der  Rurnpf  als  Ganzes 111 

Die  einzelnen  Theile  des  Rumpfes .117 

Brust 117 

Bauch 128 

Rücken 137 

Die  Verbindungen  des  Rumpfes  mit  Kopf  und  Gliedmassen  143 

Hals 144 

Schultern 149 

Hüften  und  Gesäss 151 


VI  Inhalt. 

Seite 

c)  Obere  Gliedmassen 158 

Arm 159 

Hand 164 

d)  Untere  Gliedmassen 166 

Bein 167 

Fuss 172 

XL  Ueberblick    der    gegebenen    Bedingungen   normaler    Körperbildung, 

Masse  und  Proportionen.     Fehler  und  Vorzüge 175 

XII.  Praktische   Verwerthung    der    wissenschaftlichen    Auffassung    weib- 
licher Schönheit 180 

XIII.  Verwerthung  in  der  Kunst  und  Kunstkritik.     Modelle 195 

XIV.  Vorschriften  zur  Erhaltung  und  Förderung  weiblicher  Schönheit      .  201 
XV.  Weibliche  Rassenschönheit 208 


Verzeichniss  der  Abbildungen. 


Seite 

Fig.    1.  Vaticanisclie  Venus 10 

.,  2.  La  danseuse  von  Falguiere 11 

„  3  a  und  b.     Aphrodite  diadumene  vom  Esquilin 16,  17 

.,  4.  Alma  Tadema.     „Ein  Bildhauermodell"       18 

„  5.  ISjähriges  Judenmädchen 19 

.,  6.  Venus  von  Botticelli 22 

„  7.  Bildniss  der  Jeanne  d' Aragon  im  Louvre 33 

„  8.  Canon  von  G.  Fritscli  und  Merkel'sche  Normalgestalt 40 

^  9-  Weibliche  Normalfigur  nach  Richer 42 

„  10.  Sarpi,  javanisches  Mädchen  von  etwa  18  Jahren 42 

„  11.  Weibliche  Normalfigur  nach  Hay .45 

,  12.  Weibliche  Normalfigur  nach  Thomson 45 

„  18.  Kopf  eines  menschlichen  Embryo  aus  der  sechsten  Woche  (schema- 
tisch nach  Gegenbauer  und  Häckel) 47 

„  14.  Kopf  einer  jungen  Pariserin  mit  feingeschnittenem  Mund    ...  48 

„  15.  Kleines  Mädchen  mit  X-Beinen  (Genu  valgum)  nach  Hoffa  ...  50 

„  16.  Infantilismus  der  Frau  nach  Meige 56 

„  17.  Mädchen  von  12  Va  Jahren  aus  München     . 57 

„  18.  Schönheitscurve.     Beaute  du  diable 58 

„  19.  Mädchen  mit  deutlichen  Zeichen  überstandener  Rhachitis     ...  66 

„  20.  Mädchen  mit  Spuren  überstandener  Rhachitis 67 

„  21.  Myopathie  primitive  progressive  nach  Londe  und  Meige       ...  68 

„  22.  Mädchen    von    26    Jahren    mit    kräftig    entwickelter    Muskulatur 

(Berlinerin) 69 

„  23.  20jähriges  Mädchen  mit  phthisischem  Habitus  (Holländerin)     .     .  71 

„  24.  Javanisches  Mädchen,  das  nie  ein  Corset  getragen  hat     .     .     .     .  75 

„  25.  Gypsabguss  nach  der  Leiche  einer  jugendlichen  Selbstmörderin    .  76 

„  26.  Mädchentorso  ohne  Schnürfurche  (Wienerin) 77 

;,  27.  Mädchen  mit  deutlicher  Schnürfurche  (Oesterreicherin)    ....  78 


YIJI  Verzeichniss  der  Abbildungen. 

Seite 

Fig.  28.     Mädchen  mit  sehr  starker  Einschnürung 79 

„     29.     Druckfurchen  der  Strumpfbänder  unterhalb  der  Kniee  bei  einem 

23jährigen  Mädchen 81 

„     30.     Symmetrische  Körperhaltung 84 

,,     81.     Männliche  Normalgestalt  nach  Merkel 86 

„     32.     Weibliche  Normalgestalt  nach  Merkel 86 

„     33.     Männliche  Normalgestalt  von  hinten  nach  Merkel      .....  87 

.,     34.     Weibliche  Normalgestalt  von  hinten  nach  Merkel 87 

,     35.     Weiblicher  und  männlicher  Torso  im  Profil  nach  Thomson    .     .  89 

„     36.     Weiblicher  und  männlicher  Schädel.     Modificirt  nach  Ecker  .     .  96 

„     37.     Kopf  eines  Embryo  aus  der  sechsten  Woche 98 

,     38.     Schädel  eines  Neugeborenen 100 

„     39.     Schädel  einer  Frau  mit  schmalem  und  langem  Oberkiefer      .     .  100 

„     40.     Schädel  einer  Frau  mit  kurzem  und  breitem  Oberkiefer     .     .     .  100 
„     41.     Mädchen  von  15  Jahren  aus  Wien  mit  Grübchen  im  Kinn,  reinem 
Gesichtsoval,  weichem  Mund,  Schönheitsfalten  über  den  Augen 

und  reichem  Haupthaar 105 

„     42.     Weiblicher  Kopf  mit  guten  Proportionen  und  gut  gebautem  Auge  108 

„     43.     Schöngebildetes  Ohr  (nach  Langer) 109 

„  44.  Rumpfskelet  eines  25jährigen  Mädchens,  durch  Schnüren  ver- 
unstaltet (nach  Rüdinger) 112 

,     45.     Muskulatur  des  weiblichen  Torso  von  vorn 114 

„     46.     Muskulatur  des  weiblichen  Rückens       115 

„     47.     Rückansicht  von  Mann  und  Frau  nach  Richer  zur  Vergleichung 

der  Vertheilung  des  Fettpolsters 116 

„     48.     14jähriges  Mädchen   mit   guter  Absetzung   der  Brust   gegen   die 

vordere  Achselgrenze  rechts  (Oesterreicherin) 121 

„     49.     Gut  gebaute  Brust .  123 

„     50.     Schlecht  gebaute  Brust 125 

„     51.     Vollentwickelte  Brust  einer  beaute  du  diable  (Böhmin) ....  127 

„     52.     Weibliches  Becken 129 

„     53.     Wellenlinie  des  RumjDfes  im  Profil 132 

,     54.     Weiblicher  Körper  mit  schönen  Grenzlinien  zwischen  Rumpf  und 

Schenkeln  (Oesterreicherin) 135 

,,     55.     Runder  Rücken  nach  Hoffa 137 

,  56.  Tiefstand  der  rechten  Schulter  bei  beginnender  Rückgratsver- 
krümmung bei  einem  23jährigen  Mädchen  von  holländisch- 
englischer  Abkunft 139 

„     57.     Schön  modellirter  Rücken  eines  javanischen  Mädchens   ....  141 

„     58.     Rücken  einer  Pariserin,  durch  Schnüren  verflacht 142 

„     59.     Rücken   eines  Mädchens    aus    Scheveningen    mit   gut   gebildeten 

Kreuzgrübchen 143 


Verzeiclmiss  der  Abbildungen.  IX 

Seite 

Fig.  60.     Weiblicher  Hals  und  Schulter  im  Profil 145 

„  61.  Hautfalten   über    der   (linken)  Hüfte   bei  geneigter  Haltung   des 

Beckens 152 

„  62.     Verlorenes  Profil  von  Figur  54  mit  schönen  Hüften 153 

„  63.     Abrundung  der  Hüfte  bei  einer  jungen  Wienerin 154 

„  64.     Mädchen  aus  Samoa  (Rückansicht) 156 

„  65.     Erste  Zeichen  des  Verwelkens 157 

^  66.     Spitzer  Ellenbogen 160 

„  67.     Armaxe  in  Pronation  und  Supination 161 

T,  68.     Schön  gerundeter  Arm  (Münchnerin) 168 

„  69.     Schön  gebauter  Arm  und  Schulter  (Schwäbin) 164 

,  70.  Kräftigeweiblich  geformte  Arme  und  Hände  eines  Wiener  Mädchens  165 

,  71.  Bestimmung  der  Geradheit  des  Beines  nach  Mikulicz     ....  170 

,  72.     Brücke'sche  Linie 170 

„  73.     Schöngeformte  Waden  und  Füsse 172 

„  74.  Abdrücke  vom  normalen  und  von  Plattfüssen  nach  Volkmann    .  173 

fl  75.  Bestimmung  des  Wiener  Mädchens  nach  Kopflängen      .     .     .     .  186 

,  76.  Bestimmung  des  Wiener  Mädchens  nach  dem  Modulus  von  Fritsch  187 

„  77.  17jährige  Berlinerin  nach  einer  Aufnahme  von  G.  Fritsch      .     .  190 

„  78.     Dieselbe  von  hinten 191 

„  79.  Proportionen  von  Margarethe,   verglichen   mit   dem  Canon   von 

Fritsch 192 

,  80.     Dioptrische  Profilzeichnung  nach  Kopflängen 193 

„  81.  Münchener  Modell  von  17  Jahren  mit  russischem  Windhund  .     .  200 

„  82.     Indische  Gurita 204 

„  83.     Japanisches  Mädchen  aus  Kobe  im  Bade 209 

„  84.     Satidja.     20jähriges  Mädchen  aus  Java 210 

T,  85.     Mädchen  aus  dem  Kongostaat 212 

^  86.     Arabisches  Mädchen  aus  Kairo 215 

„  87.  14jährige  Perserin  von  gutem  Stande  im  Nationalcostüm    .     .     .  216 

„  88.     22jährige  Perserin 218 

„  89.     Kurdische  Frauen 219 

„  90.     Kopf  einer  20jährigen  Maurin  aus  Algier 220 

„  91.     22j  ähriges  Mädchen  aus  Scheveningen 222 

„  92.     Dieselbe  entkleidet 223 

„  93.     Canon  des  Mädchens  aus  Scheveningen 224 

„  94.     Mädchen  aus  Brüssel 227 

„  95.  Bestimmung  des  Brüsseler  Mädchens  nach  Kopflängen  ....  228 

„  96.     Spanierin.     Mädchen  aus  Barcelona 229 

„  97.  Bestimmung  des  spanischen  Mädchens  nach  Kopflängen     .     .     ,  230 

,  98.     Sevillana 232 

„  99.     Dame  aus  Valencia 283 


X  Verzeichniss  der  Abbildungen. 

Seite 

Fig.  100.     Proportionen  von  Clara  de  Chimay 235 

„  101.     20jäliriges  Mädchen  aus  Paris 236 

,  102.     Proportionen  des  Pariser  Mädchens 237 

„  103.     lejähriges  Münchener  Mädchen 239 

„  104.     Münchener  Mädchen  von  17  Jahren 240 

„  105.     20jähriges  Mädchen  vom  Rhein 241 

„  106.     Proportionen  der  Rheinländerin 242 

,  107.     Rückansicht  von  Fig.  105    ... 243 

„  108.  Mädchen  aus  Wien  von  17  Jahren  mit  völlig  normalen  Proportionen  245 

„  109.     Dieselbe  von  hinten 246 

„  110.    Dieselbe  im  Profil 247 

„  111.     Proportionen  der  17jährigen  Wienerin 248 

„  112.     Kopf  einer  Oesterreicherin 249 

„  1 13.  Kopf  des  Wiener  Mädchens  Tafel  I,  3  Jahre  später      ....  250 

„  114.     Süditalienerin  J.  Viti 252 

„  115.     Proportionen  der  J.  Viti 253 

„  116.     Süditalienerin.     Junges  Mädchen  von  13  Jahren 254 

„  117.  Norditalienerin.     Mädchen  aus  Mailand  (nach  dem  Leben)    .     .  255 

„  118.     Proportionen  des  Mailänder  Mädchens 256 

„  119.     Russisches  Mädchen  aus  St.  Petersburg 258 

„  120.     Schwarzhaarige  Dänin 259 

„  121.     Proportionen  der  schwarzhaarigen  Dänin 260 

„  122.     Rothhaarige  Dänin 261 

„  123.  18jähriges  Mädchen  von  chinesisch-malaischer  Abkunft     .     .     .  262 

fl  124.  17jähriges   Mädchen   von    Singapore.      Mischrasse:    Tamil    und 

Malaiin 263 

,  125.     Rückansicht  von  Fig.  124 264 

„  126.  23jähriges  Mädchen  von  niederländisch-französischer  Abkunft  .  265 

„  127.  Canon  des  Mädchens  von  gemischter  Rasse  Fig.  126     ....  266 

„  128.     Mädchen  aus  Samoa  in  Blumenschmuck 267 


Verzeichniss  der  Tafeln. 

Tafel      I.  Wiener  Mädchen  nach  dem  Leben. 

Tafel    IL  Böhmisches  Mädchen  nach  dem  Leben. 

Tafel  III.  Junges  Mädchen.     Originalzeichnung  von  Frau  Cornelia  Paczka. 

Tafel  IV.  Rückansicht  derselben. 


Gredankengang. 


Um  lebende  weibliclie  Scliönheit  objectiv  zu  beurtheilen,  muss 
man  auf  negativem  Wege  vorgehen:  die  Fehler  ausmerzen.  Dann 
findet  man,  dass  Scbönbeit  höchste  Gesundheit  ist  (Einleitung).  Bis- 
her beurtheilte  man  nur  Gresicht  und  Hände  nach  dem  lebenden 
Weibe,  den  übrigen  Körper  nach  Darstellungen  der  bildenden  Kunst 
(Cap.  I).  Darstellung  des  weiblichen  Körpers  in  der  Kunst  ist  tra- 
ditionell, bedingt  durch  Mode,  Kunstzweck,  und  darum  nicht  mass- 
gebend (Cap.  II).  Darstellung  weiblicher  Schönheit  in  der  Literatur 
hat  nur  historischen  Werth,  mit  Ausnahme  der  Bestrebungen,  eine 
gewisse  Gesetzmässigkeit  in  den  Verhältnissen  nachzuweisen  (Cap.  III). 

Bei  der  Beurtheilung  des  lebenden  weiblichen  Körpers  haben 
wir  auszuschliessen  die  Fehler,  bedingt  durch: 

1.  unrichtige  Proportionen  (Cap.  IV), 

2.  mangelhafte  Entwickelung ,  schlechte  Ernährung  und  un- 
richtige Lebensweise  (Cap.  V), 

3.  schlechte  Ausprägung  des  Geschlechtscharakters,  das  Alter 
und  die  Erblichkeit  (Cap.  VI), 

4.  Krankheiten  (Cap.  VII), 

5.  Kleidung  (Cap.  VIII). 

Legen  wir  diesen  Massstab  im  allgemeinen  (Cap.  IX)  und  im 
besonderen  (Cap.  X)  an,  so  kommen  wir  zu  einer  Reihe  von  Er- 
scheinungen, deren  Anwesenheit  ein  Fehler,  deren  Abwesenheit  ein 
Vorzug  ist.  Individualität  wird  bedingt  durch  geringe  Abweichungen 
innerhalb  der  gesetzmässigen  Grenzen. 


XII  Gedankengang. 

Dieser  Massstab  ist  verwertlibar  zur  Beurtheilung  lebender 
weiblicher  Schönbeit  (Cap.  XII)  und  zur  Beurtbeilung  von  Kunst- 
werken (Cap,  XIII).  Er  kann  als  Richtschnur  dienen  zur  Erziehung 
und  Lebensweise  des  Weibes,  da  höchste  Gesundheit  und  Schönheit 
sich  decken  (Cap.  XIV). 

Auf  demselben  Wege,  durch  Ausschluss  fehlerhafter  Individuen, 
kann  man  auch  zur  Bestimmung  der  weiblichen  Rassenschönheit 
kommen  (Cap.  XV). 


Einleitung. 


Des  Weibes  Leib  ist  ein  Gediclit, 
Das  Grott  der  Herr  geschrieben 
Ins  grosse  Stammbucli  der  Natur, 
Als  ihn  der  G-eist  getrieben. 

(Heine.) 

eit  Menschengedenken  haben'  Tausende  von  Dichtern,  von 
Malern  und  Bildhauern  die  Schönheit  des  Weibes  in  Wort 
und  Bild  verherrlicht,  selbst  ernste  Gelehrte  haben  sich 
nicht  gescheut,  Theorien  über  das  weibliche  Schönheitsideal  zu- 
sammenzustellen; und  die  Menge  bewundert  ihre  Werke  und  betet 
ihnen  nach.  Dabei  vergisst  sie  aber,  dass  die  allmächtige  Natur 
in  ihrer  unerschöpflichen  Kraft  täglich  weibliche  Wesen  erstehen 
lässt,  die  weit  schöner  sind,  als  alles,  was  Kunst  und  Wissenschaft 
je  hervorgebracht,  an  denen  die  meisten  achtungslos  vorübergehen, 
weil  kein  Kundiger  ihnen  zuruft:  Seht  hier  die  lebende  Schönheit 
in  Fleisch  und  Blut. 

„Darum  sieh  die  Natur  fleissig  an"  —  schreibt  Albrecht  Dürer ^) 
im  Anfang  des  sechzehnten  Jahrhunderts  —  „richte  dich  danach  und 
geh  nicht  von  ihr  ab  in  deinem  Gutdünken ,  dass  du  meinest ,  du 
wollest  das  Bessere  von  dir  selbst  finden,  denn  du  würdest  verführt. 
Denn  wahrhaftig  steckt  die  Kunst  in  der  Natur ;  wer  sie  heraus 
kann  reissen,  der  hat  sie.  Ueberkommst  du  sie,  so  wird  sie  dir 
viel  Fehls  nehmen  in  deinem  Werk.  Aber  je  genauer  dein  Werk 
dem  Leben  gemäss  ist  in  seiner  Gestalt,  desto  besser  erscheint  dein 
Werk.    Und  dies  ist  wahr;  darum  nimm  dir  nimmermehr  vor,  dass 


1)  Proportionslehre,  III.  Theil,  1523. 
Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers, 


Einleitung. 

du  etwas  Besseres  mögest  oder  wollest  machen,  als  Gott  es  seiner 
erschaffenen  Kreatur  zu  wirken  Kraft  gegeben,  denn  dein  Ver- 
mögen ist  kraftlos  gegen  Gottes  Schaffen." 

Dank  der  Photographie  und  der  Verbesserung  in  der  Technik 
der  anderen  vervielfältigenden  Künste  sind  wir  heute  in  der  Lage, 
wenigstens  die  äusseren  Formen  lebender  Schönheit  mit  wissen- 
schaftlicher  Genauigkeit  festzuhalten. 

Brücke^)  war  der  erste,  der  sich  dieses  Mittels  bediente,  ihm 
folgte  Thomson^).  Richer^),  der  künstlerische,  selbst  gefertigte 
Zeichnungen  nach  dem  lebenden  Modell  giebt,  hat  dieselben  eben- 
falls durch  photographische  Aufnahmen  wissenschaftlich  sicher 
gestellt. 

Bei  diesen  und  allen  ähnlichen  älteren  und  neueren  Werken, 
die  sich  in  mehr  wissenschaftlicher  Weise  mit  der  weiblichen  Schön- 
heit beschäftigen,  sind  mir  indessen  zwei  Thatsachen,  oder,  wenn 
man  will,  Mängel  aufgefallen.  Zunächst  beschäftigen  dieselben  sich 
nicht  mit  dem  schönen  Körper  als  solchem,  sondern  nur  in  Be- 
ziehung zu  den  Nachbildungen  desselben  durch  die  Kunst;  dann 
aber  werden  wohl  sehr  sorgfältig  alle  anatomischen  Thatsachen  be- 
handelt ,  die  pathologischen  Thatsachen  jedoch ,  die  durch  Krank- 
heiten und  unrichtige  Lebensweise  bedingten  Veränderungen  des 
Körpers,  werden  nur  sehr  flüchtig  gestreift. 

Ich  habe  einen  neuen  Weg  zur  Beurtheilung  menschlicher 
Schönheit  einzuschlagen  versucht,  indem  ich  neben  den  Standpunkt 
des  Künstlers  und  des  Anatomen  den  des  Arztes  stellte,  indem  ich 
statt  an  Bildern  und  Leichen  meine  Beobachtungen  so  viel  wie  mög- 
lich am  lebenden  Körper  machte ,  und  diesen  an  und  für  sich  als 
Hauptsache,  und  nicht  nur  als  Gegenstand  künstlerischer  Darstellung 
betrachtete.  Dass  ich  mich  dabei  allein  auf  den  weiblichen  Körper 
beschränkte,  erklärt  sich  daraus,  dass  mir  als  Frauenarzt  kein 
grösseres  männliches  Material  zur  Verfügung  stand. 

Zahlreiche  Schriften  anderer ,  namentlich  die  der  Anthro- 
pologen ,    kamen    mir    zu    statten    bei    meinen  Untersuchungen ,    die 

^)  Schönheit  und  Fehler  der  menschlichen  Gestalt,  1890. 
^)  Handbook  of  anatomy  for  art  students,  1896. 
^)  Anatomie  artistique,  1890. 


Einleitung. 

micli  nacli  fünf zelinj ähriger  Arbeit  zu  dem  Ergebniss  gebracht 
haben,  dass  wir  nur  auf  negativem  Wege,  d.  h.  durch  Aus- 
schhiss  krankhafter  Einflüsse ,  aller  durch  fehlerhafte  Kleidung, 
durch  Erblichkeit,  unrichtige  Ernährung  und  unzweckmässige  Lebens- 
weise bedingten  Verunstaltungen  des  Körpers  zu  einer  Normal- 
gestalt, zu  einem  Schönheitsideal  gelangen  können ,  das  dann  aller- 
dings individuell  sehr  verschieden  sein  kann ,  aber  doch  stets 
unveränderlichen  Gesetzen  unterworfen  ist;  denn  vollendete 
Schönheit  und  vollkommene  Gesundheit  decken  sich. 

Dadurch  allein  erhalten  wir  einen  festen,  auf  Thatsachen 
beruhenden  Massstab ,  den  wir ,  unabhängig  vom  individuellen, 
unberechenbaren  Geschmack,   anlegen  können. 

Ausserdem  aber  liegt,  glaube  ich,  auch  ein  gewisser  prakti- 
scher Werth  in  meinen  Untersuchungen,  da  sich  aus  ihnen  ergiebt, 
dass  wir,  namentlich  bei  der  heranwachsenden  Jugend,  sehr  wohl 
im  Stande  sind,  mit  der  Gesundheit  zugleich  auch  die  Schönheit 
des  Körpers  zu  erhöhen  und  zu  veredeln. 

Bevor  ich  jedoch  daran  gehe,  die  bekannten  Thatsachen,  ver- 
mehrt durch  eigene  Beobachtungen,  von  diesem  neuen  Standpunkte 
aus  zu  betrachten,  muss  ich,  des  besseren  Verständnisses  halber,  in 
grossen  Zügen  die  verschiedenen  Wege  besprechen,  auf  denen  man 
bisher  das  Schönheitsideal  zu  erreichen  gesucht  hat,  und  vor  allen 
Dingen  den  modernen  Schönheitsbegriff  und  die  Umstände,  die  zu 
seiner  Bildung  beigetragen  haben,  kritisch  beleuchten. 


I. 

Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

Der  moderne  europäisclie  Menscli  kennt  vom  lebenden  weib- 
lichen Körper  so  gut  als  nichts.  Er  sieht  nur  Gesicht  und  Hände, 
bei  festlichen  Gelegenheiten  Arme  und  Schultern.  Nur  einen  oder 
einige  wenige  weibliche  Körper  sieht  er  entkleidet,  und  auch  diese 
meist  unter  Umständen,  die  ihm  ein  nüchternes,  unbeeinflusstes  Ur- 
theil  unmöglich  machen  oder  doch  trüben ;  denn  Liebe  macht  blind, 
lieber  Gesicht  und  Hände  kann  er  sich  allerdings  ein  selbst- 
ständiges Urtheil  bilden,  was  er  vom  übrigen  Körper  weiss,  ist  der 
Gesammteindruck  der  Erinnerungsbilder  von  Darstellungen  desselben 
durch  die  bildende  Kunst;  Beobachtungen  an  dem  lebenden  Weibe 
sj)ielen  dabei  eine  ganz  untergeordnete  Rolle.  Demnach  beruht  das 
Schönheitsideal  des  modernen  Europäers  grösstentheils  auf  durch  die 
Kunst  vermittelten  Eindrücken.  Eine  Ausnahme  hiervon  macht  der 
Künstler  und  der  Arzt. 

Den  unmittelbaren  Eindruck,  den  der  erste  Anblick  eines 
nackten  weiblichen  Körpers  auf  den  Beschauer  ausübt,  hat  Goethe, 
der  grosse  Psychologe,  in  trejßPlicher  Weise  geschildert  ^). 

„Sie  brachte  mich  darauf  in  ein  kleines,  artig  meublirtes 
Zimmer;  ein  sauberer  Teppich  deckte  den  Fussboden,  in  einer  Art 
von  Nische  stand  ein  sehr  reinliches  Bett,  zu  der  Seite  des  Hauptes 
eine  Toilette  mit  aufgestelltem  Spiegel,  und  zu  den  Füssen  ein 
Gueridon   mit   einem    dreiarmiffen  Leuchter,    auf   dem    schöne  helle 


^)  Briefe  aus  der  Schweiz.     Erste  Abtheilung.     Cotta  4,  p.  469. 


Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

Kerzen  brannten.  Auch  auf  der  Toilette  brannten  zwei  Lichter. 
Ein  erloschenes  Kaminfeuer  hatte  die  Stube  durchaus  erwärmt.  Die 
Alte  wies  mir  einen  Sessel  an,  dem  Bette  gegenüber  am  Kamin, 
und  entfernte  sich. 

„Es  währte  nicht  lange,  so  kam  zu  der  entgegengesetzten  Thüre 
ein  grosses,  herrlich  gebildetes,  schönes  Frauenzimmer  heraus;  ihre 
Kleidung  unterschied  sich  nicht  von  der  gewöhnlichen.  Sie  schien 
mich  nicht  zu  bemerken,  warf  ihren  schwarzen  Mantel  ab  und  setzte 
sich  vor  die  Toilette.  Sie  nahm  eine  grosse  Haube,  die  ihr  Gesicht 
bedeckt  hatte,  vom  Ko]3f'e :  eine  schöne,  regelmässige  Bildung  zeigte 
sich,  braune  Haare  mit  vielen  und  grossen  Locken  rollten  auf  die 
Schultern  herunter.  Sie  fing  an,  sich  auszukleiden;  welch  eine 
wunderliche  Empfindung,  da  ein  Stück  nach  dem  anderen  herabfiel, 
und  die  Natur ,  von  der  fremden  Hülle  entkleidet ,  mir  als  fremd 
schien  und  beinahe,  möcht'  ich  sagen,  mir  einen  schauerlichen  Ein- 
druck machte. 

„Ach,  mein  Freund,  ist  es  nicht  mit  unseren  Meinungen,  unsei-en 
Vorurtheilen ,  Einrichtungen,  Gesetzen  und  Grillen  auch  so?  Er- 
schrecken wir  nicht,  wenn  eine  von  diesen  fremden,  ungehörigen, 
unwahren  Umgebungen  uns  entzogen  wird  und  irgend  ein  Theil 
unserer  wahren  Natur  entblösst  dastehen  soll?  Wir  schaudern,  wir 
schämen  uns.  — 

„Soll  ich  dir's  gestehen,  ich  konnte  mich  nicht  in  den  herr- 
lichen Körper  finden,  da  die  letzte  Hülle  herabfiel!  Was  sehen  wir 
an  den  Weibern?  Was  für  Weiber  gefallen  uns,  und  wie  confundiren 
wir  alle  Begriffe?  Ein  kleiner  Schuh  sieht  gut  aus,  und  wir  rufen: 
welch  ein  schöner  kleiner  Fuss!  Ein  schmaler  Schnürleib  hat  etwas 
Elegantes,  und  wir  preisen  die  schöne  Taille. 

„Ich  beschreibe  dir  meine  Reflectionen,  weil  ich  dir  mit  Worten 
die  Reihe  von  entzückenden  Bildern  nicht  darstellen  kann,  die  mich 
das  schöne  Mädchen  mit  Anstand  und  Artigkeit  sehen  Hess.  —  Alle 
Bewegungen  folgten  ''so  natürlich  auf  einander,  und  doch  schienen 
sie  so  studirt  zu  sein.  Reizend  war  sie,  indem  sie  sich  entkleidete, 
schön,  herrlich  schön,  als  das  letzte  Gewand  fiel.  Sie  stand,  wie 
Minerva  vor  Paris  mochte  gestanden  haben." 

Dieses  Gefühl  von  Schauder,  das  Goethe  so  richtig  hervorhebt, 


Q  Der  moderne  Schönheitsbegriff. 


eine  Mischung  von  Schrecken  über  den  ungewohnten  Anblick  und 
einer  gCAvissen  sinnlichen  Erregung,  hat  auch  der  Arzt  vor  seinem 
ersten  weiblichen  Patienten,  der  Künstler  vor  seinem  ersten  weib- 
lichen Modell.  Es  verschwindet,  sobald  der  Künstler  nur  das  Schöne, 
der  Arzt  nur  das  Menschliche  sieht;  und  es  erlischt  sehr  rasch  bei 
der  Grewöhnung  an  den  Anblick  des  Nackten. 

In  unserer  Zeit,  wo  selbst  die  Vertreter  des  deutschen  Volkes 
sich  nicht  scheuten,  das  Bild  der  Wahrheit  aus  ihrer  Mitte  zu  ver- 
bannen, weil  es  nackt  war  ^),  sind  manche  leicht  geneigt,  Nacktheit 
und  Unsittlichkeit  für  dasselbe  zu  halten.  Das  ist  jedoch  ein  grosser 
Irrthum,  Nicht  das  Nackte  ist  unsittlich,  sondern  die  Augen  des 
Beschauers.  Derjenige,  der  im  nackten  Körper  nur  das  Weib  sieht, 
der  über  den  ersten  sinnlichen  Eindruck  nicht  hinauskommt ,  und 
sich  von  ihm  beherrschen  lässt,  ist  unsittlich  und  überträgt  seine 
eigene  UnvoUkommenheit  auf  den  Gegenstand,  den  er  betrachtet. 

Die  Bekleidung  hat  mit  der  Sittlichkeit  nichts  zu  thun,  sondern 
nur  mit  der  Schicklichkeit,  mit  der  Mode.  Eine  Entblössung,  die  von 
der  Mode  vorgeschrieben  ist,  wird  niemals  als  unsittlich  empfunden. 

Wer  Gelegenheit  gehabt  hat,  unter  Völkern  zu  leben,  die  ganz 
oder  theilweise  nackt  gehen,  wird  bald  gewahr,  dass  die  Kleidung 
mit  der  Sittlichkeit  in  gar  keinem  Zusammenhang  steht,  und  sehr 
bald  bemerkt  er  die  Erweiterung  seiner  beschränkten  europäischen 
Auffassung  an  sich  selbst. 

Sehr  treffend  schildert  von  den  Steinen  -)  seine  diesbezüglichen 
Eindrücke  in  Amerika. 

Als  ich  im  Jahre  1890  das  Innere  Javas  bereiste,  begegnete 
ich  bei  Singaparna  eines  Morgens  grossen  Scharen  von  älteren  und 
jüngeren  Weibern,  die,  bis  zum  Gürtel  entblösst,  zum  Markte  zogen. 
Der  erste  Eindruck  war  dasselbe  von  Goethe  beschriebene  Gefühl 
von  Schauder,  verursacht  durch  den  Anblick  weiblicher  Nacktheit 
in  für  mich  neuer  Umgebung  und  in  so  grosser  Masse.  Bald  aber 
gewann  trotz  manchem  wirklich  klassisch  schön  gebauten  Mädchen- 
torso die  Abscheu  vor  dem  vielen  Hässlichen,  was  hier  in  aller  Un- 


')  Vor  Eröffnung  des  neuen  Reichstagsgebäudes  anno  domini  1895. 
-)  Unter  den  Naturvölkern  Centralbrasiliens,  1894. 


Der  moderne  Schönheitsbegriff.  7 

scliuld  gezeigt  wurde,  die  Oberhand,  und  ich  begriff  auf  einmal, 
warum  die  meisten  Weiber  sich  lieber  verhüllen,  wenn  die  Mode  es 
ihnen  gestattet. 

Eigenthümlich  sind  die  Verschiebungen,  die  das  Schicklich- 
keitsgefühl  unter  dem  Drang  der  Umstände  erleiden  kann.  Ein 
europäisches  Mädchen  erröthet,  wenn  man  sie  in  der  Nachtjacke 
überrascht,  aber  sie  zeigt  sich  decolletirt  auf  jedem  Balle.  Eine 
Frau  im  dunklen  Kleide  fühlt  sich  unter  Balltoiletten,  ein  Herr  im 
Gehrock  unter  Fräcken  in  hohem  Masse  unbehaglich. 

In  Batavia,  wo  alle  Damen  ihre  blossen  Füsse  in  kleine  gold- 
gestickte Schuhe  stecken,  fand  man  es  höchst  unpassend,  als  eine 
Dame  sich  im  Hotel  zeigte,  die  ihre  Beine  in  blauseidene  Strümpfe 
gehüllt  hatte,  und  gerade  durch  die  Verhüllung  die  Aufmei'ksamkeit 
auf  diesen  Theil  ihres  Körpers  lenkte. 

Ein  Kind  erröthet  nicht,  wenn  man  es  nackt  sieht,  wohl  aber, 
wenn  es  bei  einer  Lüge  ertappt  wird.  Ein  wohlerzogenes  junges 
Mädchen  wird  nicht  leicht  bei  einer  Lüge  erröthen,  wohl  aber, 
wenn  ein  Theil  seines  Körpers  entblösst  wird.  Die  sogenannte  Bil- 
dung hat  das  Schamgefühl  der  Seele  auf  den  Körper  übertragen. 

Ich  halte  es  für  überflüssig,  die  angeführten  Beispiele  mit  noch 
weiteren  zu  vermehren  '^)  und  glaube  zu  dem  Schlüsse  berechtigt  zu 
sein,  dass  unser  Sittlichkeitsgefühl  angeboren  ist,  unser  Schicklich- 
keitsgefühl  hingegen  ganz  und  gar  abhängig  ist  von  den  in  unserer 
Umgebung  herrschenden  Grewohnheiten  und  Gebräuchen. 

In  der  Natur  verurtheilen  wir  in  Europa  unbewusst  das  Nackte, 
in  der  Kunst  aber  halten  wir  die  Darstellung  desselben  für  erlaubt 
und  haben  es  allzeit  vor  Augen.  Deshalb  legen  wir,  die  Natur 
nicht  kennend,  an  die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers  den  Mass- 
stab an,  der  uns  aus  Kunstwerken  geläufig  geworden  ist.  Dabei 
geben  wir  uns  jedoch  wiederum  keine  Rechenschaft  davon,  dass  auch 
die  Auffassung  des  Weibes  in  der  Kunst  einer  gewissen  Mode,  einer 
Tradition  unterliegt,  die  mit  dem  Schönheitsbegriff  als  solchem  gar 
nichts  zu  thun  hat  und  nicht  ohne  weiteres  ins  Leben  übertragen 
werden  kann. 


1)  Siehe  Ploss-Bartels,  Das  Weib.     1897,  I,  p.  359  ff. 


3  Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

Wir  finden  die  Venus  von  Milo  schön,  so  wie  sie  ist.  Wäre 
sie  aber  nach  der  heutigen  Mode  gekleidet,  so  würden  wir  ihre 
Figur  abscheulich  finden,  denn  unter  den  Kleidern  würde  die  Taille 
der  Venus  noch  beträchtlich  an  Breite  zunehmen. 

Wenn  wir  nun  einerseits  die  Venus  von  Milo,  andererseits  eine 
feine  Taille  schön  finden,  so  müssen  wir  daraus  folgern,  dass  alle 
schlanken  Frauen  entkleidet  hässlich  sind,  da  sie  die  Vollkommen- 
heit der  Venus  nicht  besitzen. 

Dies  ist  jedoch  nicht  der  Fall,  wie  die  Erfahrung  bestätigt. 
Der  weitere  Schluss  ist  demnach,  dass  jemand,  der  die  ganze  Venus 
von  Milo  auswendig  kennt,  doch  nicht  im  Stande  oder  berechtigt 
ist,  irgend  welchen  Rückschluss  auf  den  Körper  einer  lebenden  be- 
kleideten Frau  zu  machen. 

Aber  noch  mehr;  wir  nehmen  selbst,  ohne  es  zu  wissen,  alt- 
griechische Moden  als  Massstab  zur  Beurtheilung  moderner  Kunst- 
werke und  auch  des  Lebens,  wo  uns  dies  nackt  entgegentritt. 

Nur  zwei  Beispiele: 

In  der  ganzen  klassischen  Kunst,  soweit  wir  sie  kennen,  finden 
sich  nur  zwei  Bildwerke  eines  nackten  Mannes  mit  einem  Schnurr- 
bart, nämlich  der  sterbende  Gallier  und  der  Gallier  in  der  Gruppe 
Arria  und  Paetus.  Alle  anderen  Figuren  sind  mit  vollem  Bart  oder 
bartlos  dargestellt.  Weder  bei  den  Griechen  noch  bei  den  Römern 
war  es  Mode,  einen  Schnurrbart  zu  tragen;  in  den  genannten  Statuen 
ist  gerade  dadurch  der  Barbar  charakterisirt.  Trotzdem  bei  uns 
Tausende  von  Schnurrbärten  im  täglichen  Leben  angetroffen  werden, 
finden  wir  sie,  ausser  bei  Portraitstatuen,  kaum  in  der  Kunst.  Wenn 
wir  sie  zusammen  bei  einem  unbekleideten  Körper  antreffen,  befremden 
sie  unser  Gefühl,  wir  sehen  nicht  den  nackten,  sondern  den  entkleideten 
Mann,  weil  —   die  altgriechische  Mode  den  Schnurrbart  verurtheilte. 

Ein  weiteres  Beispiel  ist  die  Darstellung  des  nackten  weib- 
lichen Körpers  in  der  Kunst.  Er  wird  stets  ohne  jegliche  Körper- 
behaarung nachgebildet.  Weil  sie  hässlich  ist?  Nein,  weil  es  bei 
den  alten  Griechen  und  Römern,  wie  noch  jetzt  bei  allen  orientali- 
schen Völkern,  Sitte  war,  dass  die  Frauen  die  Haare  ihres  Körpers 
künstlich  entfernten.  Dies  geht  hervor  aus  den  bekannten  Stellen 
in  Martial  II  und  Ovid's  Ars  amatoria.    Ein  weiterer  Hinweis  findet 


Der  moderne  Schönheitsbegriff.  9 

sich  in  dem  103.  Gresang  der  Bilitis^),  wo  als  Merkwürdigkeit  von 
den  Priesterinnen  der  Astarte  gesagt  wird:  „Sie  ziehen  sich  niemals 
ihre  Haare  aus,  auf  dass  das  dunkle  Dreieck  der  Göttin  ihren  Unter- 
leib zeichne,  wie  einen  Tempel." 

Trotzdem  die  Mode  des  Epilirens  seit  Jahrhunderten  bei  uns 
nicht  mehr  besteht,  hat  die  Kunst  sie  doch  beibehalten  und  damit 
auf  das  Schönheitsideal  der  modernen  Menschen  übertragen. 

Wie  sehr  nicht  nur  der  einzelne  Mensch,  sondern  die  ganze 
sogenannte  „öffentliche  Meinung"  durch  den  äusseren  Schein  urtheils- 
los  beeinflusst  wird,  ersieht  man  am  besten  aus  einer  Vergleichung 
von  Fig.   1   und  Fig.   2. 

Fig.  1  ist  eine  Reproduction  der  aus  ihrem  Blechgewande  be- 
freiten vaticanischen  Venus  ^),  Fig.  2  Falguiere's  bekannte  Portrait- 
statue  der  Cleo  de  Merode,  die  als  eine  der  schönsten  jetzt  leben- 
den Frauen  gefeiert  wird. 

Die  Statue  der  Venus  entspricht  allen  Anforderungen,  die  wir 
an  einen  normalen  weiblichen  Körper  stellen  können.  —  Bei  der 
Tänzerin  bemerkt  man :  künstlich  durch  Kleidung  zusammengedrück- 
ten unteren  ■  Brustumfang,  fehlerhaften  Ansatz  der  Brust,  fehlerhafte 
Kniestellung,  zu  schweres  Sprunggelenk^). 

Der  moderne  Schönheitsbegriff  setzt  sich  demnach  zusammen 
aus  einer  durch  tägliche  Uebung  ermöglichten  Kenntniss  des  Kopfes, 
der  Hände  und  der  Arme,  und  bezüglich  des  übrigen  Körpers  aus 
einem  Sammelbegriff,  den  Reproductionen  des  nackten  Weibes  durch 
die  Kunst  entnommen. 


^)  Louys,  Les  cliansons  de  Bilitis,  1897.  Heim,  Bilitis'  sämmtliche  Lieder, 
1894.  Manche  halten  die  Chansons  de  Bilitis  für  eine  Mj'stification.  Ich  ent- 
halte mich  eines  Urtheils :  gleichviel,  ob  acht,  ob  unächt,  unzweifelhaft  zeugen 
sie  von  einer  genauen  Bekanntschaft  des  Verfassers  mit  den  authentischen 
Daten  des  Alterthums. 

^)  Es  ist  das  grosse  Verdienst  von  Michaelis,  dass  sie  in  diesem  Zustande 
dem  Publicum  bekannt  gemacht  wurde.  Das  Kensingtonmuseum  besitzt  einen 
Gjpsabguss  nach  dem  Original,  ein  zweiter  Gypsabguss  befindet  sich  in  München. 
Vgl.  Bruckmann,  Denkmäler  griechischer  und  römischer  Plastik,  und  SjDringer's 
Kunstgeschichte,  Bd.  I,  4.  Aufl.,  1895.  —  Professor  W.  Michaelis  schreibt  mir: 
Ein  dem  Vernehmen  nach  sehr  viel  schöneres  Exemplar  steht  noch  in  den 
vaticanischen  Magazinen,  ein  Bronzeabguss  davon  in  Paris. 

^)  Vgl.  L.  Pfeiffer,  Angewandte  Anatomie,  1899. 


10 


Der  modern«  SchönheitsbesfrifF. 


Fig.  1.    Vaticaiiisclie  Venus. 


Das  allgemeine  Urtheil  über  Frauenscliönlieit  ist  somit  kein  sacli- 
verständiges,  sondern  ein  indirectes,  das  einerseits  durch  nicht  natur- 


Der  moderne  Schönheitsbegriif. 


11 


Fig.  2.    La  danseuse  von  Falguiere. 
Nach  einer  PliotograpMe  von  Braun,  Clement  &  Cie.  in  Dornacli  i.E.,  Paris  und  New-York. 


getreue  Vorstellung  des  Körpers,  andererseits  durch.  Corsets,  Schuhe 
und  Kleidung  getäuscht,  sich  falsche  und  unnatürliche  Ideale  schafft. 


12  '  Der  moderne  Schönheitsbegriff. 

Alles  bisher  Gesagte  bezielit  sich  hauptsächlich,  auf  die  Schön- 
heit der  Form.  Dass  in  Beziehung  auf  die  Schönheit  der  Farbe  es 
noch  viel  schwieriger  ist,  ein  objectives  Urtheil  zu  haben,  weiss 
jeder,  der  sich  einigermassen  mit  der  Farbenlehre  und  der  Function 
des  menschlichen  Auges  beschäftigt  hat,  niemand  weiss  es  besser, 
als  die  Frauen  selbst,  die  durch  richtige  Auswahl  der  sie  umgeben- 
den Farben  instinctiv  ihre  Reize  zu  erhöhen,  ihre  Fehler  zu  ver- 
bergen wissen.  Noch  schwieriger  ist  es,  die  Schönheit  der  Be- 
wegungen zu  analysiren,  deren  meiste  uns  durch  die  'Kleidung 
verborgen  werden. 

Doch  wir  müssen  noch  eine  weitere  Einschränkung  machen. 
Selbst  das  Wenige,  was  man  täglich  vom  weiblichen  Körper  sehen 
kann,  wird  von  den  meisten  nicht  mit  der  nöthigen  Aufmerksamkeit 
betrachtet,  weil  ihr  Blick  nicht  geübt  ist.  Man  vergegenwärtige 
sich  die  Gesichtszüge,  die  Haare,  die  Augen,  die  Hände  abwesender 
Personen,  mit  denen  man  täglich  zusammentrifft.  Von  der  grösseren 
Mehrzahl  ist  man  nicht  im  Stande,  die  Farbe  der  Haare  und  Augen, 
die  Form  von  Nase  und  Mund  im  Gedächtniss  wiederzufinden,  es 
sei  denn,  dass  dieselben  durch  ganz  aussergewöhnliche  Bildung  einen 
tieferen  Eindruck  hinterlassen  haben. 

Die  Ohren  nun  gar,  die  doch  recht  viel  zum  Gesichtsausdruck 
beitragen,  werden  meistens  nur  äusserst  oberflächlich  betrachtet;  von 
der  Form  der  Hände  berichtet  uns  Mantegazza  ^),  dass  selbst  Malern 
unbekannt  war,    ob   ihr   zweiter  Finger   länger  war   als   ihr  vierter. 

Es  wird  also  im  allgemeinen  selbst  über  Kopf,  Gesicht  und 
Hand^nur  oberflächlich  geurtheilt,  trotzdem  wir  täglich  in  der  Lage 
sind,  diese  Theile  in  grösserer  Zahl  betrachten  zu  können;  auf  die 
übrigen  Theile  des  Körpers  kann  nur  ein  geübter  Beobachter  aus 
Gang  und  Haltung  gewisse  Rückschlüsse  machen ;  meist  jedoch  be- 
gnügt man  sich  mit  einer  unbestimmten  Auffassung,  die  aus  der  auch 
meist   oberflächlichen   Betrachtung   von   Kunstwerken   abgeleitet  ist. 

Um  diesem  Elemente  in  der  modernen  Auffassung  gerecht  zu 
werden,  sind  wir  verpflichtet,  die  Darstellung  weiblicher  Schönheit 
durch  die  bildende  Kunst  zu  analysiren. 

^)  Physiologie  des  Weibes.     Deutsch  von  Teuscher,  1894,  p.  52. 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  13 


II. 

Darstellung  weiblicher  Schönheit  durch  die 
bildende  Kunst. 

Die  Blüthezeit  der  griechisclien  Kunst  hat  einen  so  mächtigen 
Einfluss  auf  das  moderne  Schönheitsideal  geübt,  dass  selbst  Zu- 
fälligkeiten der  damaligen  Mode  unbewusst  in  dieses  herübergenom- 
men werden. 

Unstreitig  hat  die  Bildhauerkunst  zur  Zeit  des  Phidias,  des 
Polyklet  und  Praxiteles  ihre  höchste  Stufe  erreicht,  und  es  ist  noch 
die  Frage,  ob  sie  sich  jemals  der  damaligen  Höhe  wird  nähern 
können.  Es  ist  darum  auch  ganz  natürlich,  dass  die  alt  griechische 
Kunst  auf  alle  späteren  Kunstepochen  als  unerreichtes  Vorbild  ein- 
gewirkt hat. 

Ausser  der  griechischen  Kunst,  auf  die  ein  Jahrhunderte 
dauernder  Schlummer  folgte,  ist  es  namentlich  die  Renaissance,  die 
wir  hier  zu  besprechen  haben.  Alle  orientalischen  Elemente,  die  in 
der  Kunstgeschichte  berücksichtigt  werden  müssen,  haben  mit  der 
Gestaltung  des  weiblichen  Körpers  nichts  zu  thun.  Ebensowenig 
hat  sich  der  japanische  Einfluss  in  der  Kunst  so  weit  geltend  ge- 
macht,  dass  er  in  dieser  Beziehung  eine  Besprechung  verdient. 

Die  altgriechische  Kunst  schöpfte  ihre  Motive  unmittelbar  aus 
dem  Leben.  Weder  rauhe  Witterung  noch  körperliche  Gebrechen 
veranlassten  die  damalige  Bevölkerung  Griechenlands ,  ihre  schönen 
Gestalten  mit  Gewändern  zu  verhüllen,  und  dadurch  war  die  erste 
Grundbedingung  für  den  schafiPenden  Künstler,  das  tägliche  Studium 
und  die  Vergieichung  der  verschiedenen  Formen  des  nackten  Körpers 
in  seiner  vollkommensten  Gestaltung,  gegeben. 

Durch  fortgesetzte  Uebun^  des  Auges  konnte  sich  somit  der 
damalige  Künstler  ein  Idealbild  erschaffen,  zu  dessen  Verwirklichung 
ihm  die  schönsten  Modelle  in  reichster  Auswahl  zur  Verfügung 
standen. 

Aber  auch  sein  Publicum,   die  ganze  damals  lebende  Mensch- 


j[4  Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 

heit,  sah.  den  nackten  Körper  täglicli  und  kannte  ihn,  so  dass  von 
künstlerischen  Leistungen  viel  mehr  gefordert  werden  konnte  und 
diese  viel  sachverständigere  Anerkennung  fanden,  als  heutzutage 
der  Fall  ist  gegenüber  einem  Publicum,  das  den  menschlichen  Körper 
nicht  kennt. 

In  äusserst  scharfsinniger  Weise  hat  vor  kurzem  Richer^) 
nachgewiesen,  wie  sehr  der  künstleriscbe  Blick  der  alten  griechi- 
schen Künstler  allen  Epigonen  überlegen  war. 

Wo  er  von  der  Darstellung  der  Bewegung  spricht  und  darauf 
aufmerksam  macht,  dass  wir,  dank  der  modernen  Wissenschaft,  in 
der  Lage  sind,  durch  Momentaufnahmen  jede  einzelne  Phase  der 
Bewegung  im  Bilde  festzuhalten,  hebt  er  hervor,  dass  die  meisten 
späteren  Künstler,  einer  unbewussten  Tradition  folgend,  niemals 
gehende  oder  laufende,  soüdern  stets  nur  schwebende  oder  fallende 
Figuren  dargestellt  haben.  Alle  griechischen  Figuren  aber,  von  den 
Tyrannenmördern  bis  zum  tanzenden  Faun,  erwiesen  sich  als  richtige 
Reproductionen  völlig  naturwalirer  Stellungen. 

Ausser  ihrem  wunderbar  geschärften  künstlerischen  Blick,  ausser 
der  Anzahl  zählreicher  hervorragend  schöner  Modelle  verfügten  die 
Grriechen  noch  über  ein  drittes  Mittel  zur  Naturtreue  ihrer  Dar- 
stellungen: den  Gypsabguss  nach  dem  Leben.  Nach  Plinius^) 
war  Lysikrates  der  erste,  der  dieses  Hülfsmittel  in  die  bildende 
Kunst  eingeführt  hat. 

Anatomie  war  den  griechischen  Künstlern  bis  zur  alexandrini- 
schen  Schule  unbekannt,  wie  Chereau^)  und  Langer*)  überzeugend 
nachgewiesen  haben. 

Langer  hebt  hervor,  dass  die  besten  antiken  Bilder  die  ruhig 
gehaltenen  sind,  „deren  Muskelmechanismus  versteckt  ist".  „Da- 
gegen ist  an  bewegten  Bildwerken  so  Manches  auszusetzen,  Fehler- 
haftes, Unverstandenes.  Die  Muskelerhabenheiten  finden  sich  mit- 
unter unrichtig  gruppirt,   ein  anderes  Mal  sind  Muskelerhabenheiten 


\)  Dialogue  sur  l'art  et  la  science.  —  La  nouvelle  revue,  Tome  107  et  s. 
19.  anneo.     La  revue  de  Fart  ancien  et  moderne,  1897,  fasc.  3  et  4. 
^)  Citirt  bei  Langer. 

^)  Dictionnaire  encyclopedique  des  sciences  medicales. 
')  Anatomie  der  äusseren  Formen  des  menschlichen  Körpers,  1884,  p.  30  ff. 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  15 

untermisclit  und  unterschiedslos  wie  Hautfalten  und  Skeleterhaben- 
heiten  behandelt.  Was  an  solchen  Bildwerken  ungetheilte  und  ge- 
rechtfertigte Bewunderung  erregt,  das  ist  die  Bewegung,  und  diese 
liegt  viel  mehr  in  der  Gliederung  als  in  der  Muskulatur." 

Mit  anderen  Worten  will  Langer  dadurch  wohl  ausdrücken, 
dass  trotz  untergeordneter  anatomischer  Fehler  der  Allgemeineindruck 
bewegter  Figuren  stets  ein  naturwahrer  ist;  Richer  hat,  wie  gesagt, 
die  Naturtreue  derselben  durch  Controle  mit  Momentphotographien 
direct  nachgewiesen. 

Da  nun  aber  bewegte  Figuren  am  schwierigsten  darzustellen 
sind,  weil  man  nicht  im  Stande  ist,  ein  Modell  in  der  gewünschten 
Stellung  zu  fixiren,  so  ist  diese  gleichmässige  Anerkennung  von  den 
verschiedensten  Beurtheilern  nur  wieder  ein  neuer  Beweis  für  die 
ausserordentliche  Schärfe,  mit  der  die  antiken  Künstler  beobachteten-^). 

Wenn  nun  auch  ihr  künstlerisch  geschulte]'  Blick  und  die  grosse 
Zahl  schöner  Modelle  den  antiken  Meistern  trotz  ihrer  ünkenntniss 
der  Anatomie  die  herrlichsten  Schöpfungen  ermöglichte,  so  war  doch 
die  absolut  naturgetreue  Wiedergabe  der  menschlichen  Gestalt  keines- 
wegs der  Endzweck  ihrer  Kunst. 

Wir  dürfen  nicht  vergessen,  dass  bei  den  Griechen  die  Kunst 
im  Dienste  ihrer  Religion  stand,  welche  ihnen,  in  grösserer  Ab- 
wechselung allerdings  als  die  christliche,  die  Themas  für  die  meisten 
ihrer  Darstellungen  vorschrieb.  Der  griechische  Künstler,  der  Götter 
darstellte,  war  somit  gezwungen,  seine  Gestalten  zu  idealisiren  und 
dadurch  von  der  Natur  abzuweichen. 

Dass  dabei  das  Modell  keineswegs  eine  untergeordnete  Rolle 
spielte,  beweist  das  Beispiel  des  Praxiteles,  welcher  im  Tempel  zu 
Thespiae  neben  der  Aphrodite  aus  Dankbarkeit  die  nackte  Portrait- 
statue  der  Phryne  aufstellte;  andererseits  aber  beweist  gerade  dies 
Beispiel,  dass  es  sich  nicht  um  naturgetreue  Wiedergabe  selbst  des 
schönsten  Modells   handelte;    denn    sonst   wäre    dieser  Weiheact  des 


^)  Es  ist  mir  aufgefallen,  dass  auch  die  japanischen  Künstler  viel  schärfer 
beobachten,  als  unsere  Künstler  und  wir  mit  ihnen  gewohnt  sind:  In  europäischen 
Bildern  findet  man  stets  schwebende,  niemals  fliegende  Vögel.  Japanische  Dar- 
stellungen fliegender  Vögel,  die  uns  auf  den  ersten  Blick  unnatürlich  ei'scheinen, 
erweisen  sich  beim  Vergleich  mit  Momentaufnahmen  als  völlig  naturgetreu. 


16 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


Fis. 


grossen  Künstlers,  die  Gegen- 
überstellung von  Göttin  und 
Weib,  nicbt  verständlich. 

Es  bandelte  sieb  für  den 
griecbiscben  Künstler  darum, 
das  Modell  den  Traditionen 
der  darzustellenden  Götter- 
figur anzupassen,  das  Indi- 
viduelle gewissermassen  zu 
scbematisiren,  den  göttlicben 
Typus  mit  grösstmögiicber 
Naturtreue  zu  vereinen. 

Aber  nicht  nur  der  reli- 
giöse Zweck  des  Kunst- 
werkes, sondern  auch  der  für 
dasselbe  bestimmte  Standort 
zwang  den  Künstler,  von  der 
Natur  abzuweichen. 

Eine  auf  hohem  Fuss- 
stück  stehende  Figur,  in  na- 
türlichen Verhältnissen  aus- 
geführt, erscheint  dem  Be- 
schauer gedrungen  und  un- 
ansehnlich, wovon  wir  uns 
jederzeit  überzeugen  können, 
wenn  wir  Menschen  von 
unten  herauf  betrachten.  In 
solchen  Fällen  muss  der 
Künstler  die  Längenmasse 
auf  Kosten  der  Breitenmasse 
unnatürlich     und    unsrleich- 


ia.    Apliruditb  diadumeue  vom  Estiuiliii. 

massig  vergrössern.  Beim  Anblick  von  vorn  müssen  alle  näher- 
liegenden Theile  im  Verhältniss  verkleinert,  alle  entfernter  liegenden 
Theile  vergrössert  werden;  auch  davon  können  wir  uns  leicht  über- 
zeugen, wenn  wir  auf  die  Fehler  achten,  die  bei  unrichtig  ein- 
gestellten photographischen  Aufnahmen  vorkommen  können. 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


17 


Bei  einer  Aufstel- 
lung im  Tempel  endlich 
muss  das  Bild  mit  der 
Umgebung  architekto- 
nisch  harmoniren ,  und 
wird  dadurch  von  einer 
ganzen  Zahl  von  Gesetzen 
abhängig,  die  die  Form  in 
der  verschiedensten  Weise 
beeinflussen  können. 

Die  Berücksichti- 
gung aller  dieser  Mo- 
mente verlangte  eine 
grosse  Uebung  und  Er- 
fahrung ,  sie  veranlasste 
die  Ausbildung  einer  ge- 
wissen Systematik  der 
Verhältnisse  der  einzel- 
nen Körpertheile  unter 
sich ,  einer  Proportions- 
lehre, die  demnach  auch, 
wie  zu  erwarten  ist,  und 
wie  durch  zahlreiche  Mes- 
sungen aus  späterer  Zeit 
bestätigt  wurde,  keines- 
wegs stets  den  Propor- 
tionen lebender  Menschen 
entspricht. 

In     allen     antiken 
Bildwerken  lebt  also  die 
ewig  menschliche  Schön- 
heit, jedoch  beeinflusst  durch  Tradition,   Standort  und  den  Charakter 
der  darzustellenden  Persönlichkeit. 

Nur  ein  Beispiel:  Fig.  3  stellt  die  Aphrodite  diadumene  vom 
Esquilin  vor,  Fig.  4  Alma  Tadema's  bekanntes  Modell  des  Bildhauers, 
Fig.  5  ein  löjähriges  Judenmädchen,  das  ziemlich  normal  gebaut  ist. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  2 


Fig.  3b.    Aphrodite  diadumene  vom  Esquilin. 


18 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


Bei  der  ersteren  be- 
weisen die  im  Verhältniss 
zum  Rumpf  etwas  zu  langen 
Beine,  dass  die  Figur  für 
ein  Postament  berechnet 
war;  der  etwas  nach  hin- 
ten geneigte  Oberkörper  ist 
verglichen  mit  der  nach 
vorn  tretenden  Bauch-  und 
Lendengegend  schwerer 
gearbeitet,  das  Haupt  re- 
präsentirt  deutlich  den 
archaistischen  Typus  und 
ist  verhältnissmässig  grös- 
ser als  bei  anderen  antiken 
Statuen.  Der  Allgemein- 
eindruck der  ganzen  Figur 
ist  der  eines  jungen  Mäd- 
chens ,  halb  Kind ,  halb 
Weib,  in  der  allerersten 
Blüthe ,  einer  noch  nicht 
völlig  geöffneten  Knospe. 
Alma  Tadema,  der  das 
Modell  zur  esquilinischen 
Venus  in  seinem  Bilde 
geben  wollte,  hat  die  ganze 
Figur  gestreckt,  das  Con- 
ventionelle daraus  entfernt ; 
das  Verhältniss  von  Brust 
und  Unterleib  entspricht 
mehr  dem  der  Erwach- 
senen, der  Nabel  steht  tiefer,  die  Brüste  sind  stärker  entwickelt,  der 
Kopf  ist  kleiner;  das  ganze  Mädchen  ist  älter  und  schlanker  ge- 
worden, hat  jedoch  eine  weniger  gut  entwickelte  Muskulatur  und 
keinen  so  schön  geformten  Brustkasten,  wie  die  Statue.  Bei  der 
jungen  Jüdin  dagegen  finden    sich   annähernd  dieselben  Formen  ins 


Fig.  i.    Alma  Tadema 
Mit  Genelimisun 


„Ein  LüklliaiierinodeU'' 


der  Photographischen  Gesellschaft 
in  Berlin. 


"Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


19 


MenscUictie  übertragen, 
mit  dem  Unterscliiecl  je- 
doch, dass  sie  hier  mehr 
durch  Fettablageruno-  und 
nicht  durch  die  Musku- 
latur in  erster  Linie  ge- 
bildet werden.  Das  Ver- 
hältniss  zwischen  Kopf  und 
übrigem  Körper  stimmt 
mehr  überein  mit  der 
Statue  als  mit  dem  Bilde 
Tadema's. 

Abgesehen  von  dem 
Liebreiz  dieses  Bildes  müs- 
sen wir  doch  erkennen,  dass 
der  griechische  Meister 
niemals  mit  Tadema's  Mo- 
dell seine  Statue  hätte 
machen  können;  die  Ver- 
gleichung  mit  dem  leben- 
den Mädchen  lehrt  uns, 
dass  er  ein  ähnliches  halb- 
entwickeltes Geschöpf  zum 
Vorbild  gehabt  hat,  jedoch 
mit  breiterem  Brustkorb 
und  kräftigerer  Muskula- 
tur, einen  jener  gedrun- 
genen, durch  und  durch 
gesunden  Backfische,  aus 
denen  sich  nach  erfolgter 
Streckung    die    schönsten 

Frauengestalten  entwickeln.  Auch  die  im  Gegensatz  zur  Tradition 
übermässige  Grösse  des  Kopfes  spricht  für  das  sehr  jugendliche 
Alter  der  Statue ,  die  ich  darum'  auch  nicht  als  Aphrodite  be- 
zeichnen möchte;  wenn  es  überhaupt  eine  Göttin  ist,  dann  ist  es 
eine  sehr  jugendliche  Psyche. 


Fig.  5.    15jähi'iges  Judenmädclien. 


20  Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 

Am  14.  August  1485  wurde  von  Arbeitern  auf  der  Via  Appia 
ein  marmorner  Sarg  ausgegraben,  der  die  einbalsamirte  Leiche  eines 
jungen  Mädchens  enthielt.  Dieselbe  war  von  wunderbarer  Schönheit 
und  so  gut  erhalten,  dass  sie  den  Schein  des  Lebens  erweckte-^). 
Der  Zulauf  des  Volkes  war  so  gross,  dass  Papst  Innocenz  VIII.  die 
Leiche  heimlich  wegnehmen  und  begraben  liess,  weil  er  die  Con- 
currenz  dieses  Heidenkindes  für  seine  Heiligen  fürchtete. 

„Mais,"  fügt  Vachon  hinzu ^),  „la  papaute  eut  beau  faire  enfuir 
profondement  dans  la  terre  cette  chair  de  femme,  ä  demi  vivante, 
jeter  au  ruisseau  cette  ephemere  fleur  humaine  —  eclose  de  nouveau 
pendant  quelques  heures  aux  rayons  du  soleil,  apres  une  nuit  de 
plusieurs  siecles:  l'antiquite  etait  ressuscitee  pour  toujours  dans  l'ecla- 
tante  renaissance  de  l'Art,  qui  avait  su  arracher  aux  ruines  et  aux 
tombeaux  le  secret  de  la  Grace  et  de  la  Beaute." 

Auf  den  Trümmern  der  klassischen  Kunst  erhob  sich  das 
Gebäude  der  Renaissance ;  die  Ueberreste  früherer  Grösse  wurden  zur 
Offenbarung  für  eine  neue  Blüthezeit  der  Kunst. 

Die  klassische  Schönheit  aber  hat  nicht  ein  einziges  ihrer 
Werke  erreicht,  geschweige  denn  übertroffen,  weil  den  Epigonen  die 
reichste  Quelle,  aus  der  die  Alten  schöpften,  versiegt  war :  der  täg- 
liche Anblick  des  nackten  Körpers  in  tausenderlei  Gestaltung  und 
der  dadurch  geschärfte  künstlerische  Blick. 

Gerade  die  besten  der  späteren  Meister  sahen  dies  am  besten 
ein  und  suchten  diesem  Mangel  dadurch  abzuhelfen ,  dass  sie  die 
intuitive  Nachahmung  schöner  Formen  durch  wissenschaftliche  Er- 
gründung  derselben,  durch  anatomische  Studien  zu  ersetzen  suchten. 

Duval  und  BicaP)  haben  mit  kritischer  Sorgfalt  die  anatomi- 
schen Studien,  welche  die  meisten  Künstler  gemeinschaftlich  mit 
Aerzten  betrieben,  zusammengestellt  und  mit  vorzüglichen  Nach- 
bildungen illustrirt.  Unter  den  Künstlern  finden  sich  Leonardo  da 
Vinci,  Michel  Angelo,  Raphael,  Bandinelli,  Cellini,  Titian,  Carracci, 
Rubens,  Rembrandt,  Dürer  und  zahlreiche  andere. 


^)  Lettre   de  Bartholomaeus  Fontius  ä  Francesco  EUachette,   traduite   et 
analysee  par  Hubert  Janitscheck.     L'art,  Tome  IV. 
^)  La  femme  dans  Tart,  1891,  p.  194. 
^)  L'anatomie  des  Maitres.     Histoire  de  Tanatomie  plastique,  1890. 


"Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst.  21 

Wenn  einerseits  auch  diese  Erweiterung  ihrer  Kenntnisse  den 
grossen  Künstlern  ermöglichte,  fehlerhafte  Modelle  in  ihren  Werken 
zu  verbessern,  so  lag  andererseits  die  Gefahr  nahe,  dass  manche, 
gerade  durch  diese  Kenntnisse  verleitet,  mehr  in  ihre  Gestalten  hinein- 
legten, als  wirklich  zu  sehen  war,  gewissermassen  die  Natur  über- 
boten, ohne  dieselbe  schöner  zu  machen.  Dieser  Gefahr  sind  auch 
grosse  Meister  nicht  entgangen  ^). 

Suchten  sie  sich  durch  treue  Nachahmung  der  Natur  vor 
dieser  Gefahr  zu  schützen,  so  drohte  die  Möglichkeit,  dass  sie  un- 
bewusst  Fehler  des  Modells  in  ihre  Werke  übertrugen,  und  zwar 
um  so  mehr,  als  es  nicht  jedem  glückte,  vollendet  schöne  Modelle 
zu  finden. 

Aber  nicht  nur  der  Künstler,  sondern  auch  das  Publicum  war 
des  täglichen  Anblicks  des  Nackten  entwöhnt,  und  so  ist  es  zu 
erklären,  dass  beide,  Künstler  sowohl  als  Publicum,  minder  wähle- 
risch wurden  und  auch  mit  minder  Schönem  vorlieb  nahmen  wo 
es  sich  bot. 

Mehr  und  mehr  tritt  die  Individualität  des  Künstlers  in  den 
Vordergrund,  und  grosse  Vorzüge  in  der  Technik  oder  in  der  Auf- 
fassung sind  im  Stande,  ganze  Generationen  für  absichtliche  und 
unabsichtliche  Fehler  anderer  Art  blind  zu  machen. 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  hier  eine  ausführliche  Kritik  der 
Kunst  und  der  Kunstgeschichte  der  Renaissance  zu  schreiben;  für 
meinen  Zweck  genügt  es,  an  einem  beliebigen  Beispiel  nachzuweisen, 
wie  selbst  Kenner  sich  durch  die  herrschende  Strömung  zu  irrigen 
Auffassungen  hinreissen  lassen  können. 

Ich  wähle  dafür  die  florentinische  Venus  von  Sandro  Botticelli, 
der  gerade  in  letzter  Zeit  von  den  Präraphaeliten  mit  ungetheilter 
Bewunderung  auf  den  Thron  erhoben  wurde. 

Brücke  hat  bereits  auf  einige  anatomische  Fehler  dieser  Venus 
aufmerksam  gemacht  (1.  c.  p.  25,  62,  81).  UUman,  einer  der  besten 
unter  den  Biographen  Botticelli's ,  erkennt  die  anatomischen  Fehler 
auch  als  solche  an.     Er  führt   die  Verse  Poliziano's   an ,    die  wahr- 


^)  Vgl.  Henke,   Die  Menschen   des  Michel  Angelo   im  Vergleich   mit  der 
Antike.     Rostock  1892. 


22 


Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 


Fig.  6.     Venus  von  Botticelli. 


scheinlich  der  Darstellung  zu  Grunde  lagen,  er  bespricht  ausführlich 
und  sachlich  die  Möglichkeit,  ob  Simonetta  Catanea,  die  Geliebte 
des  Giuliano    di  Medici ,    als  Modell   zur  Venus   gedient   habe ,    und 


Weibliclie  Schönheit  in  der  Kunst.  23 

entscileidet  sich,  im  verneinenden  Sinne,  da  das  einzige  autlientisclie 
Bildniss  der  Simonetta  nickt  mit  dem  Gresichte  der  Venus  völlig 
übereinstimme  ^). 

Man  vergleiche  hiermit  den  Erguss  von  Ernst  Steinmann  ^): 

„Frau  Schönheit  ist's, 
Von  deren  Lobgesang 
Noch  zittert  Herz  und  Hand, 
Die  du  so  oft  erkannt 
Am  fliegend  goldnen  Haar, 
Am  flatternden  Gewand." 

„Mit  diesen  Versen  aus  einem  Schönheitshymnus  Rossetti's  lässt  sich 
der    poetische    Zauber ,    welcher    die    Geburt    der    schaumgeborenen 

Aphrodite  umschwebt,  vielleicht  am  ersten  in  Worte  fassen. 

Leise  plätschernd  umspielen  die  Wogen  das  schwankende  Fahrzeug, 
auf  dessen  Rand  die  reizende  Liebesgöttin  steht,  Brust  und  Schoss 
mit  keuscher  Gebärde   bedeckend.     Eine  unendliche  Fülle   goldenen 

Haares  umflattert  die  Himmlische. —  Man  hat  diese  Gestalt 

mit  Recht  als  das  schönste  Venusbild  der  neueren  Kunst  gepriesen, 
es  lässt  sich  wohl  überhaupt  nur  mit  der  schlummernden  Venus  des 
Giorgione  vergleichen,  wo  uns  ebenso  die  Reinheit  der  Seele  entzückt, 
die  in  der  keuschen  Hülle  eines  vollendet  schönen  Weibes  Wohnung 
genommen  hat.  Wie  eine  Sage  aus  dem  goldenen  Zeitalter,  das 
Marsilio  Ficino  in  seinen  Briefen  mit  so  glühenden  Farben  geschildert 
hat,  redet  dies  Bild  zu  uns,  vor  welchem  sich  der  Beschauer  bald  als 
unberufener  Zeuge  eines  der  heiligen  Geheimnisse  fühlt,  welche  die 
Natur  im  grossen  Buche  ihrer  Wunder  verborgen  hat.  So  wahr  ist 
dieser  Vorgang  geschildert,  so  lebendig  wirkt  der  jungfräuliche  Reiz 
der  athmenden  Göttin  u.  s.  w." 

Diese  ganze  Expectoration,  bei  der  ich  noch  alles  nicht  direct 
auf  die  Venus  Bezügliche  wegliess,  wird  durch  das  beigefügte  Bild 
noch  überflüssiger  gemacht. 

Schreibt  man  so  Kunstgeschichte?    Ich  glaube  nicht. 

Ich  möchte  diesen  Tiraden  das  Folgende  gegenüberstellen. 


')  UUman,  Botticelli,  p.  102. 

^)  Künstlermonographien  von  Knackfuss,  24,  1897. 


24  "Weibliche  Schönheit  in  der  Kunst. 

Die  Figur  der  Yenus  von  Sandro  Botticelli  ist  erfüllt  von  einem 
zarten,  wehmütliigen  Liebreiz,  der  einen  tiefen  Eindruck  macht. 
Betrachtet  man  die  Figur  näher,  so  findet  man  in  dem  langen, 
schmalen  Halse,  den  stark  abfallenden  Schultern,  dem  schmalen 
eingesunkenen  Brustkasten,  dem  dadurch  [bedingten  Tiefstand  und 
der  geringeren  Divergenz  der  Brüste  den  ausgeprägten  Typus  der 
Schwindsüchtigen  v^^ieder,  der,  wie  im  Leben,  so  auch  in  der  bild- 
lichen Darstellung  durch  seine  tieftraurige  Schönheit  das  innige  Mit- 
gefühl des  Beschauers  erregt. 

Wenn  wir  bedenken,  dass  Simonetta  Catanea  im  Jahre  1453 
geboren  ist,  und,  nachdem  sie  sich  .1468  mit  Marco  Vespucci  ver- 
heirathet  hatte,  bereits  im  Jahre  1476,  noch  nicht  dreiundzwanzig 
Jahre  alt,  an  Schwindsucht  starb,  so  ist  es  mehr  als  wahrscheinlich, 
dass  sie ,  wie  einige  Autoren  annehmen ,  wirklich  als  Modell  'zu 
Botticelli's  Venus  gestanden  hat,  und  dass  der  Künstler  aus  leicht 
begreiflichen  Gründen  nur  das  Gesicht  etwas  verändert  hat  ^). 

Botticelli  hat  also  den  Typus  einer  schönen  Schwind- 
süchtigen zu  seinem  Ideal  gemacht,  ohne  dass  er  es 
wusste.  Seine  Bewunderer  und  Nachfolger  aber  wussten 
dies  auch  nicht  und  haben,  seinen  Idealen  nachstrebend, 
ihren  gesunden  Modellen  das  Gepräge  der  Schwindsucht 
aufgedrückt  und  so  unwahre  Mischgestalten  geschaffen. 
Bei  Burne  Jones ,  emem  der  grössten  Präraphaeliten ,  ist  der  Con- 
flict  besonders  deutlich.  In  seinen  Acten  finden  sich  gesunde 
Menschen  ^) ,  auf  seinen  Gemälden  sind  sie  alle  mehr  oder  weniger 
schwindsüchtig  geworden. 

Dies  eine  Beispiel  möge  genügen,  um  darzuthun,  wie  sich  in 
den  späteren  Werken  Natur  und  Kunst  in  den  verwickeltsten  Ver- 
hältnissen verschlingen.  Um  einem  Künstler  gerecht  zu  werden, 
muss  man  nicht  nuT  seine  Werke,  sondern  auch  sein  Leben  und 
die  Zeit,   in    der   er   lebte,    äusserst    sorgfältig  analysiren,    und  nur 


^)  Auch  auf  dem  Bildniss  der  Simonetta  von  Pollajuolo  in  der  Sammlung 
des  Duc  d'Aumale  zeigt  der  bis  unter  die  Brüste  entblösste  Oberkörper  trotz 
seiner  grossen  Schönheit  alle  Zeichen  der  Schwindsucht.  (Stich  von  de  Mare 
in  der  Gazette  des  beaux-arts,  XXII.) 

2)  Vgl.  Studio,  Vol.  VII,  p.  198  ff.,  und  Vol.  XIV,  p.  38. 


Schönheit  in  der  Literatur.  25 

selten  wird  es  gelingen,  daraus  ein  gültiges  Scliönlieitsideal  zu 
destilliren. 

Je  eher  wir  im  Stande  sind,  den  Kunstwerken  analoge  Ge- 
stalten im  Leben  zurückzufinden ,  desto  wahrscheinlicher  wird  es, 
dass  der  Künstler  sich  ganz  an  das  schöne  Leben  gehalten  hat,  und 
in  dieser  Beziehung  stehen  die  nackten  weiblichen  Gestalten  von 
Tizian,  Giorgione,  Palma  Vecchio  und  van  Dyck  oben  an.  Rembrandt 
und  Rubens  sind  ihnen  ebenbürtig  in  der  Naturwahrheit ,  jedoch 
haben  beide  keine  so  schönen  Modelle  gehabt. 

Wir  können  den  Einfluss  der  grossen  Künstler  auf  das  mo- 
derne Schönheitsideal  bemessen,  indem  wir  fragen:  Welche  Werke 
sind  in  den  weitesten  Kreisen  bekannt  geworden? 

Es  sind  dies  unstreitig  die  Venus  von  Milo ,  die  Venus  von 
Medici,  die  sixtinische  Madonna  ■^)  und  die  Madonna  della  sedia. 

Wir  sehen  also,  dass  in  Bezug  auf  den  weiblichen  Körper  die 
klassische  Kunst  auch  heute  noch  den  Sieg  davongetragen  hat,  und 
dass  von  allen  späteren  Künstlern  Raphael  der  einzige  war,  der  das 
liebreizende  Gesicht  seiner  Madonnen  zum  allgemein  anerkannten 
Ideal  zu  erheben  wusste.  Andererseits  aber  ersehen  wir  daraus  auch, 
dass  „die  grosse  Masse"  ein  strenger  und  gerechter  Richter  ist  und 
sehr  wohl  das  wahrhaft  Schöne  aus  der  Unzahl  des  Geringeren  und 
Mittelmässigen  herauszufinden  weiss.  Auch  hier  in  der  Kunst,  wie 
in  der  Geschichte,  ist  der  beste  unbeeinflusste  Kenner  die  Nachwelt. 


IIL 
Weibliche  Schönheit  in  der  Literatur. 

Die  Darstellung  weiblicher  Schönheit  in  der  Literatur  kann 
man  von  künstlerischem  sowie  von  rein  wissenschaftlichem  Stand- 
punkt aus  betrachten. 


^)  Jelinek  (Monographie:  Madonna  Sixtina,  1899),  hat  die  Echtheit  der 
Dresdener  Sixtina  mit  guten  Gründen  angezweifelt.  Ist  dem  so,  dann  beweist 
dies  nur  aufs  Neue  die  grosse  Macht  des  Originals,  das  selbst  in  einer  fehler- 
haften Copie  noch  einen  so  tiefen  Eindruck  hei-vorbringen  konnte. 


26  Schönlieit  in  der  Literatur. 

Den  ersteren  hat  Lessing  im  Laokoon  eingenommen,  in  dem  er 
die  Grenzen  des  Darstellbaren  in  Malerei  und  Poesie  bestimmt  ^). 

„Homer  sagt  von  Helena  nichts  weiter,  als  dass  sie  weisse 
Arme  und  schönes  Haar  gehabt  habe.  Er  malt  ihre  Schönheit, 
indem  er  den  Eindruck  schildert,  den  dieselbe  auf  die  versammelten 
trojanischen  Greise  macht.  Zeuxis  malte  sie  selbst:  Sein  Gemälde 
bestand  aus  der  einzigen  Figur  der  Helena,    die  nackend  dastand." 

Nach  Lessing's  Auffassung  muss  demnach  der  Dichter  an  die 
Stelle  der  Augen  und  des  Mundes  den  Blick  und  das  Lächeln  setzen, 
statt  schlanker  Glieder  die  Bewegungen  beschreiben,  statt  körper- 
licher Schönheit  den  Eindruck,  den  dieselbe  hervorruft.  Will  er  uns 
die  Vorzüge  eines  schönen  Körpers  vorführen ,  so  soll  er  nicht  sie 
selbst  schildern,  sondern  den  Act  der  Entkleidung,  der  uns  dieselben 
enthüllt,  oder  den  Eindruck,   den  sie  auf  den  Beschauer  machen. 

Als  Muster,  kann  die  eingangs  wiedergegebene  Schilderung  des 
sich  entkleidenden  Mädchens  von  Goethe  gelten.  Er  sagt  nichts  von 
ihrem  Körper,  als  dass  ihr  Gesicht  eine  schöne,  regelmässige  Bildung 
zeigte,  und  dass  braune  Haare  mit  vielen  und  grossen  Locken  auf 
die  Schultern  herunterrollten;  alle  übrigen  Körpertheile  sind  gar 
nicht  erwähnt.  Dass  sie  schön  sind,  sehen  wir  aus  dem  Eindruck 
auf  den  bewundernden  Zuschauer  während  des  EnthüUens.  Ein 
Maler  hätte  nicht  den  staunenden  Jüngling,  sondern  wie  Zeuxis  die 
entkleidete  Schönheit  darstellen  müssen. 

Ein  weiteres,  interessantes  Beispiel,  das  von  zwei  Dichtern 
behandelt  ist,   bietet  die  bekannte  Geschichte    der  schönen  Ginevra. 

Bei  Boccaccio  ^)  steigt  Ambrogiuolo  im  Schlafzimmer  Ginevra's 
aus  seiner  Kiste  und  prägt  sich  das  Aussehen  des  Gemaches  ein. 
„Darauf  näherte  er  sich  dem  Bette  und  sah,  dass  die  Dame  und 
iljre  jugendliche  Dienerin  in  tiefem  Schlafe  lagen.  Er  zog  die  Decke 
von  ihrem  Leibe  und  erkannte,  dass  sie  nackt  ebenso  schön  war 
als  bekleidet.  Er  suchte  an  ihrem  Körper  nach  einem  Zeichen  und 
fand  endlich  unter  der  linken  Brust  ein  kleines  Mal,  um  das  einige 
goldblonde    Haare    standen.     Und    obgleich  ihn   beim  Anblick  ihrer 


^)  Lessing's  gesammelte  Werke,  Cotta,  188G,  II,  p.  620  ff. 
'^)  Decamerone,  2.  Tag,  Novelle  9. 


Schönheit  in  der  Literatur.  27 

Schönheit  eine  unwiderstehliche  Lust  beschlich,  sie  zu  küssen  und 
sich  ihi"«r  Liebe  zu  erfreuen,  so  deckte  er  sie  doch  vorsichtig  wieder 
zu,  weil  er  ihren  Zorn  fürchtete." 

Li  Cymbelin  ^)  hat  Shakespeare  dieselbe  Scene  bearbeitet : 

Imogen  schläft  ein.    Joacliimo  kommt  aus  der  Kiste. 

—  0  Cytherea, 

Wie  hold  stehst  du  dem  Bette!    Frische  Lilie 
Und  weisser  als  das  Linnen.     Dürft'  ich  rühren, 
Nur  küssen,  einen  Kuss!    Rubinenwunder, 
Wie  köstlich  sie's  versteh'n!    Ihr  Athem  ist's, 
Der  so  die  Kammer  würzt.     Das  Licht  der  Kerze 
Beugt  sich  zu  ihr,  möcht'  unterm  Augenlid 
Die  Lichter  schau'n,  die  nun  verschleiert  ruh'n 
Von  diesem  Vorhang,  weiss  und  azurblau, 
Gesäumt  mit  Himmelstinten.  —  Doch  mein  Zweck. 
Die  Kammer  mir  zu  merken,  schreib'  ich's  auf: 
Die  und  die  Bilder  • —  dort  das  Fenster  —  so 
Der  Zierath  ihres  Betts  —  Teppich,  Figuren, 
Nun  so  und  so,  was  die  Geschichte  vorstellt. 
0,  nur  ein  paar  Merkzeichen  ihres  Körpers  — 
Affe  des  Todes,  Schlaf,  lieg'  dumpf  auf  ihr. 
Und  ihr  Gefühl  sei  wie  ein  steinern  Bild 
In  Grabkapellen.     Komm'  herab.  — 
(Er  streift  ilir  Armband  ab.) 

—  Auf  der  linken  Brust 
Ein  Mal,  fünfsprenklig  wie  die  Scharlachtröpflein 
Im  Schlüsselblümchen;  hier  ist  ein  Beweis, 
Stärker  als  die  Justiz  ihn  je  erfand. 

Boccaccio  beschreibt  ausschliesslich  den  Eindruck  der  Schön- 
heit. Allein  aus  den  goldenen  Härchen  um  das  Mal  kann  der  Leser 
schliessen,  dass  Ginevra  blond  war.  Bei  Shakespeare  wird  nur  von 
dem  „weissen  Lilienteint",  dem  „Rubinenwunder"  des  Mundes  und 
von  dem  bläulichen  Schimmer  der  geschlossenen  Augenlider  ge- 
sprochen. 

Beide  sind  noch  sparsamer  wie  Groethe  in  der  Beschreibung 
des  Körpers,  desto  stärker  aber  zeichnen  sie  die  Leidenschaften, 
welche  der  Anblick  der  nackten  Schönheit  entfesselt. 


^)  Act  II,  Sc.  2,  übersetzt  von  Gildemeister. 


28  Schönheit  in  der  Literatur. 


Mit   viel  Geschick   ist   eine  Entkleidungsscene  in   den  Liedern 
der  Bilitis  behandelt,  wobei  ein  anderer  Kunstgriff  benützt  wird. 
In  freier  Uebersetzung  lautet   der    betreffende   (132.)   Gesang: 

Blumentanz. 

Anthis,  die  lydische  Tänzerin, 

Ist  in  sieben  Schleier  gehüllt. 

Sie  wirft  den  gelben  Schleier  hin, 

Dem  schwarzes  Gelock  entquillt. 

Der  rosige  Schleier  gleitet  vom  Mund, 

Der  weisse  enthüllet  die  Arme  zur  Stund. 

Den  rothen  Schleier  knüpfet  sie  ab, 

Der  den  sprossenden  Busen  entblösst, 

Der  grüne  sinkt  von  den  Hüften  herab, 

Von  den  Schultern  der  blaue,  gelöst. 

Doch  den  durchsicht'gen  Schleier  der  Lenden 

Bedeckt  sie  mit  schamhaften  Händen. 

Man  bittet.     Sie  wirft  das  Haupt  zurück; 
Doch  wie  nun  die  Flöten  erschallen, 
Zerreisst  sie  den  Schleier,  Stück  für  Stück, 
Lässt  ihn,  den  letzten,  fallen. 
Dann,  singend  zum  Tanze,  pflücket  sie  ab 
Die  Blüthen  des  Leibes,  die  Gott  ihr  gab. 
„Was  ist  meine  knospende  Rose?    Die  Brust. 
„Was  sind  meine  Veilchen?    Die  Augen  voll  Lust. 
„Die  rothe  Nelke?    Mein  küssender  Mund; 
„Die  Lilie?    Mein  Leib,  so  blühend  und  rund. 
„0  pflücket,  bevor  sie  verwelken, 
„Die  Rosen,  die  Veilchen,  die  Nelken." 

Auch  hier  wird  von  den  einzelnen  Körpertheilen  nichts  gesagt, 
als  dass  die  Haare  schwarz  und  die  Brüste  klein  sind.  Dass  das 
Auge  blau  und  der  Mund  roth,  verräth  uns  der  Vergleich  mit  Veil- 
chen und  Nelke.  Alle  übrigen  Körpertheile  werden  nur  genannt, 
nicht  beschrieben. 

Ich  bin  überzeugt,  dass  Lessing's  künstlerischer  Standpunkt 
der  richtige  ist,  und  niuss  mit  ihm  zu  dem  Schlüsse  kommen,  dass 
gerade  die  besten  literarischen  Werke  am  meisten  auf  die  Phan- 
tasie des  Lesers  wirken  und  darum  am  allerwenigsten  im  Stande 
sind,  uns  ein  Bild  zu  geben,  das  wir  direct  mit  der  lebenden  Wirk- 
lichkeit vergleichen  können:  die  Absicht  des  Dichters  ist,  dass  jeder 


Schönheit  in  der  Literatur.  29 

Leser  sicli  unter  dem  Bild  der  gepriesenen  Scliönlieit  seine  eigene 
Geliebte  vorstellt  oder  diejenige  Frau,  deren  körperliche  Vorzüge 
den  tiefsten  Eindruck  auf  ihn  hinterlassen  haben. 

Hier  müssen  wir  vom  künstlerischen  Standpunkt  ganz  absehen. 

Stellen  wir  uns  auf  den  rein  wissenschaftlichen  Standpunkt, 
sehen  wir  ganz  ab  von  dem  literarischen  Werth ,  beschränken  wir 
uns  auf  das  Feststellen  von  Thatsachen,  dann  haben  so  manche  selbst 
minderwerthige  dichterische  Leistungen  gerade  für  unseren  Zweck 
einen  gewissen  Werth,  indem  sie  einerseits  ein  Spiegelbild  der  An- 
forderungen geben,  die  zur  Zeit  des  Schriftstellers  an  lebende  weib- 
liche Schönheit  gestellt  wurden,  andererseits  insofern,  als  sie  mass- 
gebend geworden  sind  für  eine  gewisse  Geschmacksrichtung  in  der 
Schönheitsauffassung.  Eine  derartige  Untersuchung  erhält  dadurch 
einen  höheren  Werth,  dass  erfahrungsgemäss  die  die  Poesie  be- 
herrschende Mode  stets  auch'  die  bildende  Kunst  in  gleicher  Weise 
beherrscht,  so  dass  wir  auch  das  Schönheitsideal  jeder  Zeit  in  Wort 
und  Bild  zugleich  zurückfinden  können. 

Wenn  Martial  verlangt,  dass  die  weibliche  Brust  von  der  Art 
sein  müsse  „ut  capiat  nostra  tegatque  manus",  so  können  wir  daraus 
schliessen,  dass  zu  seiner  Zeit  grosse  Brüste  nicht  für  schön  galten. 
Dementsprechend  finden  wir  auch  auf  allen  klassischen  weiblichen 
Statuen  kleine  Brüste  dargestellt. 

Wir  werden  niemals  ein  Mädchen  mit  einem  wirklichen 
Schwanenhals  und  einer  wirklichen  Wespentaille  schön  finden;  der 
Gebrauch  dieser  Bilder  lehrt  uns  indess  ,  dass  ein  langer  Hals  und 
eine  schmale  Mitte  als  Attribute  des  Schönheitsideals  aufgefasst 
wurden  und  in  gewissem  Sinne  noch  werden.  Ein  Blick  auf  Familien- 
bilder aus  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  oder  auf  die 
schönen  Zeichnungen  Gavarni's  lehrt  uns  ferner,  dass  die  bildende 
Kunst  derselben  Auffassung  huldigt. 

Houdoy-*^)  hat  in  einem  mustergültigen  Werke  das  Schönheits- 
ideal des  zwölften  bis  sechzehnten  Jahrhunderts  in  dieser  Weise 
wissenschaftlich  analysirt. 


^)  La  beaute    des  fenimes    dans   la  literature    et    dans   l'art    du  Xlle  au 
XVIe  siecle,  1876. 


30  Schönheit  in  der  Literatur. 

Ihm  schliessen  sicli  an  Vaclion\),  Ploss-Bartels^),  Mantegazza^), 
Scliaeffer^)  und  zahlreiche  andere. 

Die  Kunst  und  die  Literatur  aller  Völker  bietet  Bausteine 
genug,  um,  ebenso  wie  es  Houdoy  für  das  spätere  Mittelalter  gethan 
hat,  ein  Schönheitsideal  der  gebildeten  Welt  mit  allen  seinen  durch 
Zeit  und  Geschmacksrichtung  bestimmten  Variationen  aufzubauen. 

Eine  derartige  Arbeit  würde  jedoch  weit  über  die  Grrenzen 
dieses  Buches  hinausgehen.  Ich  verweise  hier  auf  die  citirten 
Autoren  und  begnüge  mich  damit,  zu  constatiren,  dass  in  der  Lite- 
ratur ebenso  wie  in  der  bildenden  Kunst  das  Schönheitsideal  beruht 
auf  Beobachtung  des  Lebens ,  die  jedoch  stets  durch  Mode  und 
künstlerische  Auffassung   bedingte  Veränderungen  untergangen  hat. 

Dass  hinwiederum  literarische  Werke  Einfluss  auf  die  herr- 
schende Auffassung  weiblicher  Schönheit  ausüben  können,  beweist 
unter  anderem  das  Beispiel  von  Rousseau,  der  durch  seinen  Emile 
zahlreiche  seiner  weiblichen  Zeitgenossen  zum  Selbststillen  ihrer 
Kinder  veranlasste  und  dadurch  das  Schönfinden  gefüllter  Busen  in 
die  Mode  brachte. 

Von  den  tausend  Beschreibungen  weiblicher  Schönheit,  die  sich 
in  der  Literatur  finden,  gebe  ich  als  Beispiel  nur  eine  wieder,  die 
ich  dem  Buche  von  Houdoy  entnehme.  Ich  wähle  diese,  einmal, 
weil  neben  ihr  ein  Bild  des  Originals  besteht,  dann  aber,  weil  sich 
darin  ein  Massstab  zur  Beurtheilung  weiblicher  Schönheit  findet, 
den  wir  bis  jetzt  noch  nicht  berücksichtigt  haben,  und  der  uns  un- 
merklich zur  weiteren  Entwickelung  unseres  Themas  leitet. 

Es  ist  dies  die  von  Niphus  verfasste  Beschreibung  von  Gio- 
vanna  d'Aragona,  deren  Bild,  von  Raphael  oder  wahrscheinlicher 
von  Giulio  Romano  gemalt^),  im  Louvre  in  Paris  hängt. 

Houdoy  giebt  neben  einer  vorzüglichen  TJebersetzung  ins  Fran- 
zösische den  lateinisch  geschriebenen  Originaltext  von  Niphus. 

^)  La  fenime  dans  l'art. 

2)  Das  weibliche  Schönheitsideal  in :   Das  Weib,  s.  o. 

^)  Physiologie  des  Weibes  u.  a. 

•*)  Die  Frau  in  der  venezianischen  Malerei.     Brucbmann,  1899. 

^)  Gruyer,  (Gazette  des  beaux-arts,  XXII,  p.  465)  weist  auf  Grund  histori- 
scher Documente  nach,  dass  Raphael  Giovanna  niemals  gesehen  haben  kann, 
und  allein  die  Arbeit  Romanos  beaufsichtigte. 


Schönheit  der  Jeanne  d'Aragon.  31 

„Die  erhabene  Joamia  ist  für  uns  ein  Beweis,  dass  die  wahr- 
hafte Schönheit  nur  in  der  Natur  besteht,  denn  sie  paart  die  voll- 
kommene Schönheit  des  Körpers  und  der  Seele. 

Ihre  Seele  vereinigt  sittliche  Heldengrösse  und  Sanftmuth  (und 
in  dieser  liegt  gerade  die  Schönheit  der  Seele) ,  so  dass  sie  nicht 
von  irdischer,  sondern  von  göttlicher  Abkunft  erscheint. 

Ihre  Körperformen  sind  von  solch  hervorragender  Schönheit, 
dass  selbst  Zeuxis,  der  zur  Darstellung  der  Helena  die  verschiedenen 
Reize  der  allerschönsten  Mädchen  von  Croton  vereinigen  musste, 
sich  mit  Joanna  als  einzigem  Modell  begnügt  hätte,  wenn  es  ihm 
vergönnt  gewesen  wäre,  dieselbe  zu  schauen  und  ihre  Vortreflflich- 
keit  zu  erkennen. 

Ihre  Gestalt  ist  von  Mittelgrösse,  gerade  und  zierlich,  geschmückt 
mit  dem  wunderbarsten  Ebenmass  der  Glieder;  sie  erscheint  weder 
fett  noch  knochig,  sondern  in  jugendlicher  Fülle  (succulenta);  ihre 
Hautfarbe  ist  nicht  bleich,  sondern  sjaielt  vom  Weissen  ins  Rothe; 
ihre  langen  Haare  schimmern  wie  Gold.  Ihre  Ohren  sind  klein 
und  rund,  dem  Munde  entsprechend^).  Dunkelbraune,  nicht  zu  dicht 
stehende  Härchen  wölben  sich  im  halben  Kreise  zu  den  Brauen; 
ihre  blauenden  Augen  erstrahlen  heller  als  alle  Sterne  unter  den 
schwarzen  geraden  Wimpern  und  streuen  Liebreiz  und  Freude  um 
sich  her;  zwischen  den  Augenbrauen  steigt  die  gleichmässig  und 
schön  geformte  Nase  gerade  herunter;  von  göttlicher  Form  ist  das 
Thälchen ,  das  die  Nase  von  der  Oberlippe  scheidet.  Der  kleine, 
süss  lächelnde  Mund  zieht  die  Küsse  stärker  an,  als  der  Magnet  das 
Eisen;  weiche  Lippen  umschliessen  ihn,  honigsüss  und  korallenroth. 
Die  Zähne  sind  klein,  glänzend  wie  Elfenbein  und  schön  geordnet; 
ihr  Athem  ist  der  köstlichste  Wohlgeruch. 

Ihre  göttliche  Stimme  hat  nichts  Menschliches.  Ein  niedliches 
Grübchen  ziert  das  Kinn;  auf  ihren  Wangen  spielt  die  Farbe  der 
Rose  und  des  Schnees.  Der  Umriss  ihres  Antlitzes  ist  rund,  zum 
männlichen  hinneigend. 

Der  gerade,  gestreckte  Hals  hebt  sich  voll  und  weiss  zwischen 


^)  Nach  Agrippa  mussten  die  Ohren  vereinigt  einen  Kreis  bilden,  der  der 
Grösse  des  geöffneten  Mundes  entsprach. 


32  Schönheit  der  Jeanne  d' Aragon. 

den  glänzenden,  gut  gewölbten  Scliultern,  die  auf  breiter  Fläcbe 
keinen  Knochen  hervortreten  lassen.  Die  Brüste  von  massiger  Grösse 
sind  gleichmässig  gerundet  und  ähneln  den  Pfirsichen,  deren  Duft 
sie  ausströmen. 

Die  weichen  Hände  sind  von  aussen  wie  Schnee,  von  innen 
wie  Elfenbein,  und  genau  so  lang  wie  das  Angesicht ;  die  gefüllten, 
runden  Finger  sind  nicht  zu  kurz  und  tragen  feine,  gewölbte  Nägel 
von  zarter  Farbe. 

Der  Oberkörper  hat  im  ganzen  die  Form  einer  umgekehrten, 
etwas  platten  Birne,  deren  untere  Spitze  schmal  und  rund  im  Durch- 
schnitt ist,  und  deren  breites  Ende  sich  oben  in  bewunderungs- 
würdigen Linien  und  Flächen  an  die  Wurzel  des  Halses  ansetzt. 

Der  Unterleib  ist  flach  gewölbt  und  im  guten  Verhältniss  zu 
Hüften  und  Lenden.  Die  Oberschenkel  sind  kräftig  und  drehrund; 
der  Oberschenkel  steht  zur  Wade,  die  Wade  zum  Oberarm  im  rich- 
tigen Ebenmass  von  drei  zu  zwei^). 

Die  Arme  sind  in  göttlichem  Gleichmass  zu  den  übrigen  Theilen 
des  Körpers  geformt. 

Die  Füsse  sind  zierlich  und  endigen  in  bewunderungswürdig 
geformten  Zehen. 

Ihr  Ebenmass  und  ihre  Schönheit  ist  von  der  Art,  dass  man 
sie  mit  Recht  den  Unsterblichen  zurechnen  kann. 

Wenn  nun  die  geistigen  Eigenschaften ,  der  Liebreiz  und  die 
Schönheit  dieser  Prinzessin  so  gross  sind,  so  kann  man  daraus 
schliessen,  nicht  allein,  dass  das  wahrhaft  Schöne  nur  in  der  Natur 
besteht,  sondern  auch,  dass  nichts  an  Schönheit  den  menschlichen 
Körper  übertrifft." 

Besser  und  rascher  als  diese  Beschreibung  überzeugt  uns  das 
discretere  Bild  der  Jeanne  d' Aragon  im  Louvre  von  deren  körperlichen 
Reizen  (Fig.  7).  Ob  der  alte  Niphus  dieselben  nicht  nur  theoretisch, 
sondern  auch  praktisch  studiren   konnte,   ist   für   uns  Nebensache^). 

Die  Hauptsache  ist,   dass  er  bestrebt  ist,   uns  von  der  Schön- 


^)  D.  h.  der  Umfang  des  Oberschenkels  —  1  V2nial  dem  Umfang  der  Wade, 
Umfang  der  Wade  =  lV2mal  Umfang  des  Oberarms. 

^)  Guyon  (Diverses  le^ons  III)  weist  nach,  dass  Niphus  als  Arzt  häufig 
Gelegenheit  hatte,  den  Körper  der  Prinzessin  zu  sehen. 


Schönlieit  der  Jeanne  d' Aragon. 


33 


Fig.  7.    Bildniss  der  Jeanne  d' Aragon  im  Louvre. 
Nach  einem  Kohledruck  von  Braun,  Clement  &  Co.  in  Dornacli  i.  E. 

lieit  Jeanne's  niclit  nur  durch  die  Aufzählung  und  Umschreibung* 
der  einzelnen  Körpertheile  zu  überzeugen,  sondern  auch  durch  die 
Yergieichung  mit  einem  gewissen  Massstab ,  durch  die  Proportion 
der  Theile  unter  sich. 

Er  bildet  damit  den  Uebergang  von  der  Auffassung  des  Dichters 
zu  der  des  Philosophen,  der  nicht  nur  den  Eindruck  hervorrufen 
und  wiedergeben,  sondern  auch  begründen  will. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  3 


34  Antiker  Canon  und  Modulus. 

Die  theoretisclien  Betrachtungen,  die  solche  Herren  ohne 
Kenntniss  des  Lebens  in  ihren  Studirstuben  anstellten,  haben  für 
uns  einen  äusserst  geringen  Werth.  Wenn  Schopenhauer  von  dem 
„niedrig  gewachsenen,  schmalschultrigen ,  breithüftigen  und  kurz- 
beinigen Geschlecht"  spricht,  das  man  das  schöne  nennt,  so  be- 
weist dies  nur,  dass  er  wenige  und  traurige  Erfahrungen  und  keine 
vorurtheilsfreien  Studien  gemacht  hat. 

An  Versuchen,  die  verschiedenen  Formen  weiblicher  Schönheit 
systematisch  einzutheilen,  fehlt  es  nicht,  Künstler,  Philosophen  und 
Aesthetiker  haben  darin  gewetteifert. 

A.  Walker-^)  unterscheidet  drei  Formen:  locomotive,  nutritive, 
mental  beauty,  und  stellt  als  Typen  für  die  erste  Diana,  für  die 
zweite  Venus,  für  die  dritte  Minerva  auf. 

Lairesse^)  schreibt :  Die  Schönheit  eines  nackten  Frauenbildes 
besteht  hierin,  dass  erstlich  die  Gliedmassen  gut  geformt  sind,  zum 
zweiten,  dass  sie  eine  schöne,  freie  und  gemächliche  Bewegung  habe, 
und  endlich  eine  gesunde  und  frische  Couleur. 

Andere  wieder  unterscheiden  zwischen  erhabener  und  lieblicher, 
zwischen  sittlicher  und  sinnlicher,  zwischen  blonder  und  brünetter 
Schönheit.  Bei  allen  diesen  Eintheilungen  ist  es  beim  Versuche  ge- 
blieben und  keine  hat  sich  allgemeine  Geltung  verschafft. 

Das  einzige  Positive,  was  sich  aus  allen  diesen  Versuchen  heraus- 
entwickelt hat,  ist  das  Bestreben,  eine  gewisse  Gesetzmässigkeit  in 
der  Form,  in  den  Grössenverhältnissen  der  einzelnen  Theile  zu  ein- 
ander zu  entdecken,  die  Lehre  von  den  Proportionen. 


IV. 
Proportionslehre  und  Canon. 

Wir  haben  in  dem  vorigen  Abschnitt  gesehen ,  dass  Niphus 
die  Schönheit  Johanna's  von  Aragonien  zum  Theil  nach  gewissen 
Verhältnissen  beurtheilt:  die  Ohren  sind  zusammen  gleich  gross  wie 


^)  Analysis  and  Classification  of  beauty  in  woman.     London  1852. 
^)  Groot  scliilderboek.     Amsterdam  1716. 


Proportionssysteme.  35 

der  Mund ,    die  Hand    entspricht    genau    der  Länge    des  Angesickts, 
Schenkel,  Wade  und  Oberarm  stehen  im  Verhältniss  von  3  zu  2  u.  s.  w. 

Gleich  Niphus  haben  sich  schon  seit  der  grauen  Zeit  der 
Aegypter  bis  in  unsere  Tage  zahlreiche  hervorragende  Männer  be- 
müht, die  Gresetzmässigkeit  der  Proportionen  des  menschlichen  Körpers 
zu  erforschen. 

Dies  geschah  von  einzelnen  ausschliesslich  in  der  bescheidenen 
und  löblichen  Absicht,  dem  Künstler  dadurch  ein  Hülfsmittel  zur 
Nachbildung  menschlicher  Figuren  an  die  Hand  zu  geben,  andere 
aber  haben  sich  verleiten  lassen,  aus  einer  scheinbaren  Gesetzmässig- 
keit   der   von   ihnen    genommenen  Masse    ein  theoretisches  Gebäude 

* 
zur  Bestimmung  des  Schönheitsbegriffs  zu  construn-en. 

Erst  in  allerneuester  Zeit  finden  sich  vereinzelte  Bestrebungen, 
aus  einer  grossen  Anzahl  Messungen  in  wissenschaftlicher  Weise 
das  Mittelmass  und  damit  zwar  nicht  das  Schönheitsideal,  wohl  aber 
die  Normalgestalt  zu  bestimmen. 

Die  sorgfältigen  Untersuchungen  von  Ch.  Blanc  ^)  haben  nach- 
gewiesen, dass  die  alten  Aegypter  als  Grundmass  die  Länge  des 
Mittelfingers  annahmen,  der  nach  ihnen  neunzehnmal  in  der  Körper- 
lange  enthalten  ist. 

Eine  genau  nach  diesen  Regeln  construirte  Figur  heisst  Canon, 
das  sie  bestimmende  Grundmass  wird  Modulus  genannt. 

Es  scheint,  dass  der  ägyptische  Canon  zum  Theil  in  die 
griechische  Kunst  übernommen  wurde,  dass  daneben  aber  auch  noch 
andere  Canons  bestanden,  bei  denen  die  Länge  der  Hand,  des 
Fusses  oder  des  Kopfes  den  Modulus  abgab. 

Der  bekannteste  ist  der  des  Folyklet,  den  manche  in  dem 
Speerträger  von  Neapel  zurückzufinden  glauben^).  Yitruv,  Galen 
und  Plinius  berichten  über  den  Canon  des  Folyklet.  Danach  ist  das 
Gesicht  ein  Zehntel,  der  Kopf  ein  Achtel  der  Gesammthöhe,  Kopf 
und  Hals  ein  Sechstel  und  gleich  der  Fusslänge.  Das  Gesicht  zer- 
fällt in  drei  gleiche  Theile,  vom  Kinn  zum  unteren  Rand  der  Nase, 


■')  Gazette  des  beaux-arts,  VII. 

^)  Gruillaume  hält  denselben  für  eine  Copie,  da  das  Original  wahrscbein- 
lich  aus  Bronce  gewesen  ist. 


36  Proportionssysteme. 

von  da  bis  zum  oberen  Rand  derselben,  und  von  da  bis  zum  Haar- 
ansatz^). 

Arcbäologen  und  Historiker  haben  auszumachen,  ob  damit  wirk- 
lich der  Canon  des  Polyklet  durch  Ueb erlief erung  bewahrt  ist^). 
Uns  interessirt  hier  nur  die  Thatsache ,  dass  diese  Masse  bis  in 
unsere  Zeit  als  Massstab  menschlicher  Schönheit  gegolten  haben, 
trotzdem  sie,  wie  Langer^)  nachgewiesen  hat,  selbst  bei  zahlreichen 
klassischen  Bildwerken  nicht  immer  zu  finden  sind. 

Als  mit  der  Renaissance  das  Interesse  an  dem  menschlichen 
Körper  wieder  erwachte,  sind  Leonardo  da  Vinci,  Albrecht  Dürer 
und  Agrippa  die  ersten  gewesen,  die  sich  wieder  mit  den  Proportionen 
des  menschlichen  Körpers  beschäftigten;  die  ersteren  beiden  stellten 
sich  ausschliesslich  auf  den  Standpunkt  des  Künstlers  zur  leichteren 
Nachbildung,  der  letztere  hat  ein  ganzes  System  aufgebaut,  nach  dem 
sich  nicht  nur  der  menschliche  Mikrokosmus,  sondern  auch  jede 
geometrische  Figur,  selbst  die  Sternenwelt,  System atisiren  lässt*). 


^)  Vgl.  L.  von  Sybel,  Weltgeschichte  der  Kunst,  1888,  p.  193. 

")  „Wir  Archäologen,"  schreibt  mir  Professor  Michaelis,  „nehmen  an,  dass 
auch  Polyklet  seinen  Proportionscanon  durch  Abstraction  aus  einer  grossen  Zahl 
von  Messungen  gut  gebildeter  Jünglinge  gev?onnen  habe.  Dass  sein  Canon  in 
dem  Neapler  Doryphoros  wieder  zu  finden  sei,  ist  nicht  bloss  die  Ansicht  mancher, 
sondern  seit  Friedreich's  Nachweis  im  Jahre  1863  ganz  allgemein  angenommen, 
ebenso  sicher  aber  ist  es,  dass  die  Neapler  wie  alle  andern  uns  erhaltenen 
Exemplare  römische  Marmorcopieen  nach  Polyklet's  Erzoriginal  sind.  Die  von 
Ihnen  angeführten  Normalmasse  sind  nur  bei  Vitruv  überliefert,  aber  ohne  Poly- 
klet's Namen ,  und  es  hat  immer  als  zweifelhaft  gegolten ,  ob  es  wirklich  die 
polykletischen  Proportionen  sind.  Professor  A.  Kalkmann  in  Berlin  hat  sie  in 
seiner  Abhandlung  ,Die  Proportionen  des  Gesichts  In  der  griechischen  Kunst', 
Berlin  1893  p.  42  ff.,  dem  jüngeren  Künstler  Euphranor  zugeschrieben,  der  die 
polykletischen  Proportionen  mit  Bewusstsein  änderte,  wie  Plinius  35,  128  meldet. 
Die  Proportionen  sowohl  des  Körpers  insgesammt  wie  die  des  Gesichts  zeigen 
überhaupt  im  Verlauf  der  griechischen  Kunstentwickelung  die  grössten  Ver- 
schiedenheiten, die  nur  zum  Theil  einer  consequenten  Weiterbildung  angehören, 
grossentheils  individuelle  Auffassungen  einzelner  führender  Künstler  oder  Rich- 
tungen darstellen.  Kein  Archäologe  wird  jene  vitruvischen  Masse  als  allgemein 
gültig  für  die  ganze  griechische  Kunst  ansehen.  Leonardo  geht  von  ihnen  aus, 
kommt  aber  aus  seinen  ohne  Zweifel  sehr  zahlreichen  Messungen  zu  theilweise 
abweichenden  Ergebnissen.  Ich  habe  darüber  im  Journal  of  Hellenic  Studies 
von  1883  gehandelt." 

^)  1.  c.  p.  60. 

*)  Agrippa  de  philosophia  occulta,  1531. 


Canon  und  Modulus.  37 

Wer  sicli  für  die  historische  Entwickelung  der  verschiedenen 
Systeme  interessirt,  findet  eine  ziemlich  vollständige  Uebersicht  und 
Besprechung  derselben  in  der  fleissigen  Arbeit  von  Zeising^j.  Da- 
selbst werden  78  Philosophen,  Künstler,  Anatomen  und  Physiologen 
aufgezählt,  dazu  kommt  der  von  Zeising  nicht  erwähnte  Agrippa 
und  Zeising  selbst  mit  seiner  Lehre  vom  goldenen  Schnitt,  so  dass 
wir  bis  zum  Jahre  1854  nicht  weniger  als  80  Autoren  haben,  deren 
jeder  wieder  einer  persönlichen  Auffassung  huldigt. 

Die  meisten  bestimmen  die  Proportionen  nach  Kopf-  und  Gre- 
sichtslängen ,  Hay^)  legt  seinem  System  den  musikalischen  Accord 
zu  Grunde,  indem  er  den  Abstand  der  einzelnen  Theile  des  Körpers 
nach  Terzen,  Quinten,  Octaven  u.  s.  w.  bestimmt.  Zeising  wendet 
die  Lehre  vom  goldenen  Schnitt  an ,  wonach  eine  Linie  so  getheilt 
wird,  dass  das  Ganze  sich  zum  grösseren  Theil  verhält,  wie  dieser 
zum  kleineren ;  so  verhält  sich  nach  ihm  die  Körperhöhe  zur  Nabel- 
höhe, wie  diese  zu  der  Entfernung  des  Nabels  bis  zum  Scheitel. 

Wie  Langer^)  richtig  bemerkt,  hat  diese  Eintheilung  schon 
deshalb  keinen  Werth,  weil  die  Höhe  des  Nabels  sehr  variabel  ist; 
jedoch  erkennt  er  an,  dass  bei  der  Bestimmung  der  Taillenhöhe 
einer  gekleideten  weiblichen  Figur  die  Zeising'sche  Eintheilung 
zutrifft. 

Es  sei  hier  noch  erwähnt,  dass  unter  allen  Autoren  Cenino 
Cennini*)  der  einzige  ist,  der  den  Frauen  überhaupt  jegliche  richtige 
Körperproportion  abspricht  und  sich  deshalb  nur  mit  dem  männ- 
lichen Körper  beschäftigt. 

Die  erste  rein  wissenschaftliche  Arbeit  über  Proportionen  stammt 
von  Quetelet^),  der  aus  den  an  dreissig  jungen  Männern  gefundenen 
Massen  eine  Durchschnittsproportion  construirte. 

Er  betritt  damit  den  modernen,  von  den  Anthropologen  mehr 


^)  Neue  Lehre  von  den  Proportionen  des  mensclilichen  Körpers,   1854. 

^)  The  geometric  beauty  of  the  human  figure  defined,  1851. 

')  1.  c.  p.  56. 

•*)  Lübke,  Italienische  Malerei,  citirt  bei  Langer  p.  62,  bei  Zeising  nicht 
erwähnt. 

'")  Des  proportions  du  corps  humain.     Bulletin  de  Tacademie  royale  des 

sciences,  lettres  et  beaux-arts  de  Belgique,  XV. 


38  Proportionssystenie. 

und  mehr  ausgebildeten  Weg,  durch  Yergleichung  einer  möglichst 
grossen  Zahl  von  Einzelmassen  ein  durchschnittliches  Normalmass 
des  Menschen ,  je  nach  Rasse ,  Lebensalter  und  Geschlecht  ver- 
schieden, zu  construiren.  Topinard^)  hat  versucht,  aus  den  ihm 
zugänglichen  Messungen  derartige  Normalmasse  für  den  Europäer 
festzustellen,  sieht  jedoch  eine  grosse  Schwierigkeit  in  dem  Um- 
stände ,  dass  man  in  Europa  keine  grössere  Anzahl  von  Individuen 
absolut  reiner  Rasse  erhalten  kann. 

Es  ist  bekannt,  dass  in  neuester  Zeit  Bertillon  in  derselben 
Weise  die  Identität  von  Verbrechern  festzustellen  suchte. 

In  Deutschland  hat  Schadow  in  seinem  bekannten  „Polyklet" 
eine  ganze  Reihe  von  Einzelbeobachtungen  in  sorgfältigen  Messungen 
und  vortrefflichen  Zeichnungen  niedergelegt;  ein  schönes  Material, 
das  G.  Fritsch^)  neuerdings  gebührend  gewürdigt  hat. 

In  Amerika  hat  Sargent  ^)  mehr  als  zweitausend  Jünglinge 
und  Mädchen  im  Alter  von  20  Jahren  gemessen  und  nach  den 
Durchschnittsmassen  zwei  Thonmodelle  angefertigt,  die  in  Chicago 
ausgestellt  waren.  Richer^^)  hat  in  gleicher  Weise  wie  Sargent  einen 
Canon  der  Proportionen  des  männlichen  Körpers  construirt,  den- 
selben nach  Kopflängen  bestimmt  und  als  Statue  ausgearbeitet.  Den 
weiblichen  Körper  hat  er  leider  nur  beiläufig  berücksichtigt. 

Die  Vergleichung  der  von  verschiedenen  Untersuchern  ge- 
wonnenen Resultate  wird  erschwert  durch  den  Umstand,  dass  man 
bisher  noch  nicht  einer  einheitlichen,  allgemein  gültigen  Methode 
gefolgt  ist. 

Obwohl  wir  demnach  noch  nicht  in  der  Lage  sind,  feststehende 
Normalproportionen  für  den  menschlichen  Körper  zu  geben,  so 
können  wir  doch  mit  grosser  Genugthuung  feststellen,  dass  im 
grossen  und  ganzen  trotz  der  verschiedenen  Wege  die  Endresultate 
gewissenhafter  Beobachter  sich  decken,  und  nicht  nur  das  allein, 
sondern  dass  die  künstlerische  Idealgestalt  mit  der  wissenschaftlichen 
Normalgestalt  zusammenfällt. 


^)  Citirt  bei  Richer,  Anatomie  artistique,  1890,  p.  258. 

-)  Fritsch-Hai-less,  Die  Gestalt  des  Menschen,  1899. 

3)  Scribner's  Magazine,  1893,  Vol.  XIV,  Nr.  79. 

*)  Richer,  Canon  des  proportions  du  corps  humain,  1893. 


Proportionssysteme.  39 

Um  dies  darzutliini,  diene  als  Grundlage  die  von  G.  Fritsch^) 
befürwortete  und  verbesserte  graphische  Methode  zur  Bestimmung 
der  menschlichen  Proportionen,  welche  von  C.  Schmidt^)  und 
C.  Carus^)  inaugurirt  ist. 

Fig.  8  stellt  die  weibliche  Normalgestalt  von  Merkel  ■*)  dar, 
welche  in  ein  Zehntel  natürlicher  Grösse  gezeichnet  ist,  entsprechend 
einer  Gesammtlänge  von  155  cm.  Daneben  sind  die  Masse  für  diese 
Figur  nach  dem  Fritsch'schen  Canon  construirt  und  der  Deutlichkeit 
halber  in  punktirten  Linien  in  die  Figur  selbst  übertragen. 

Als  Modulus  des  Schmidt-Fritsch'schen  Canons  dient  die  Länge 
der  Wirbelsäule,  gemessen  vom  unteren  Rand  der  Nase  bis  zum 
oberen  Rand  der  Symphyse  in  gerade  gestreckter  Haltung  =  ab. 
Dieser  Hauptmodulus  genügt,  um  alle  übrigen  Masse  zu  bestimmen. 

Zunächst  wird  er  in  vier  gleiche  Theile  ae,  ef,  fN  und  Nb 
getheilt ;  von  diesen  Untermoduli  (=  ^ji  Modulus)  wird  einer ,  a  c, 
in  der  Verlängerung  von  ab  angefügt,  um  ;'die  Scheitelhöhe  zu 
bestimmen;  je  ein  Untermodulus  bei  e,  eS  und  eSj^  bestimmt  den 
Abstand  der  Schultergelenke  SS^,  je  ein  halber  Untermodulus 
bei  b,  bH  und  bH-^  giebt  den  Abstand  der  Hüftgelenke  HH^. 

Verbindet  man  jedes  Schultergelenk  mit  dem  gegenüberliegen- 
den Hüftgelenk,  so  schneiden  sich  die  Verbindungslinien  SHj  und 
S^H  bei  N  im  Nabel. 

Zieht  man  von  den  Schultergelenken  Linien  durch  a,  so  bilden 
deren  Verlängerungen  Sad,^  und  S^ad  mit  den  von  c  aus  gezogenen 
Parallelen  cd  und  cd^  ein  Quadrat,  dessen  quere  Diagonale  dd^^  die 
Schädelbreite  angiebt. 

Eine  zu  aS  gezogene  Parallele  von  e  aus  schneidet  die  Linie 
SH^  in  der  Höhe  der  Brustwarze  B,  der  die  linke  Brustwarze 
B^  entspricht. 

Nun  kann  man  die  Länge  der  Extremitäten  in  folgender  Weise 
bestimmen: 


^)  Verhandlungen  der  Berl.  Anthropologischen  Gesellschaft,  16.  Febr.  1895. 
Die  Gestalt  des  Menschen,  p.  136  ff. 

^)  Proportionsschlüssel.     Stuttgart  1849. 

^)  Die  Proportionslehre  der  menschlichen  Gestalt,  1854. 

■*)  Handbuch  der  topographischen  Anatomie,  1896,  II,  p.  256. 


40 


Fritsch'sclier  Canon. 


Fig.  8.    Canon  von  G-.  Fritsch  und  Merkel'sche  Normalgestalt. 


Obere  Extremität: 
SB|  rechtes  Schultergelenk  bis  linke  Brustwarze  =  SE  Oberarm. 
BiN  linke  Brustwarze  bis  Nabel  =  EM  Unterarm. 
NH  Nabel  bis  Hüftgelenk  =  MP  Hand. 

Untere  Extremität. 
HB|  rechtes  Hüftgelenk  bis  linke  Brustwarze  =  HK  Oberschenkel. 
BjHj  Hüftgelenk  bis  Brustwarze  derselben  Seite  =  KF  Unterschenkel. 
Die  Höhe  des  Fusses  ist  (ungefähr)  ein  halber  Untermodulus. 
Die  gesammte  Körperlänge  ch  ist  gleich  lOV^  — IOV2  Untermoduli. 


Normalmasse.     Merkel.     Froriep.  41 

Fritsch  nimmt  die  Fusshöhe  =  dem  oberen  Abschnitt  der  Linie  eB,  was 
einem  halben  bis  drittel  Untermodulus  gleichkommt.  Ich  bin  zu  demselben 
Resultate  gekommen,  indem  ich  auf  der  Mittellinie  cb  fünf  weitere  Unter- 
moduli =  bg  und  ein  Drittel  Um  =  gh  abtrug  und  damit  zugleich  die  Körper- 
länge ch  bestimmte. 

Merkel  giebt  nicht  au,  in  welcher  Weise  er  zur  Construction 
seiner  weiblichen  Normalgestalt  gelangt  ist;  jedenfalls  hat  er  sich 
nicht  der  Fritsch'schen  Methode  bedient,  denn  sonst  hätte  er  die- 
selbe unzweifelhaft  erwähnt. 

Um  so  auffallender  ist  es,  dass  er  auf  anderem  Wege  beinahe 
zu  den  gleichen  Resultaten  kommt,  wie  Fritsch,  denn  wir  sehen  aus 
der  Figur,  dass  die  Merkel'sche  Gestalt  bis  auf  kleine  Abweichungen 
von  einigen  Millimetern  mit  den  Fritsch'schen  Massen  sich  deckt. 
(Die  Masse  des  Armes  stimmen  genau,  sobald  man  sich  die  Schulter 
etwas  gesenkt  vorstellt.) 

Froriep  hat  seiner  Anatomie  für  Künstler  ^)  acht  Proportions- 
tafeln beigefügt,  die  zum  Theil  nach  Liharzik  construirt,  nebenbei 
aber  auch  nach  Kopfhöhen  berechnet  sind.  Die  achte  Tafel  stellt 
ein  erwachsenes  Weib  von  25  Jahren  vor.  Trägt  man  bei  dieser 
die  Fritsch'sche  Construction  ein,  so  stellt  sich  heraus,  dass  auch 
hier  die  Masse  beinahe  vollkommen  sich  decken;  nur  ist  bei  Froriep 
die  Schädelbreite  um  1  cm  breiter  und  die  Brustwarzen  stehen  tiefer. 

Diese  doppelte  Uebereinstimmung  spricht  sehr  entschieden  für 
die  Brauchbarkeit  des  Fritsch'schen  Canons,  der  abgesehen  von  der 
äusserst  einfachen  Construction  noch  den  Vortheil  hat ,  dass  auch 
durch  einfache  Berechnung  ohne  Construction  ein  Theil  der  Masse 
bestimmt  werden  kann. 

Ist  der  Modulus  z.  B.  =  60,  so  ist  der  Untermodulus  =  15,  demnach  SS^ 
(Fig.  8)  =  30,  HHi  =  15,  ddj  =  15,  ch  —  155.  Zur  ungefähren  Vergleichung 
mit  einer  Berechnung  nach  Kopfmassen  kann  man  beachten,  dass  der  Abstand 
der  Brustwarzen  BBj  ungefähr  gleich  ist  der  Kopflänge.  Rechnet  man  die  Ge- 
sammtlänge  auf  7V2  Kopflängen,  dann  verhält  sich  eine  Kopflänge  zu  einem 
Untermodulus  wie  77«  zu  10  V» ,  also  etwa  wie  8  zu  4;  im  gegebenen  Fall 
3  Kopflängen  (BBi  =  20)  von  20  =  4  Untermoduli  von  15  =  60. 

Richer  ^)  hat  die  Proportionen  ausschliesslich  nach  Kopflängen 

bestimmt.     Die  weibliche  Normalfigur   von  Richer  (Fig.  9)   kommt 


1)  Zweite  Auflage  1890. 

^)  Anatomie  artistique,  1890,  p.  169  und  252. 


42 


Normalmasse.     Richer. 


Fig.  9.    Weibliche  Normalfigur  nach  Richer. 


Fig.  10.     Sarpi,  javanisches  Mädchen 
von  etwa  18  Jahren. 


auf  das  Genaueste  überein  mit  dem  Fritsch'solLen  Canon  ^) ,  ausser 
zwei  kleinen  Abweichungen:  die  Scheitelhöhe  ist  bei  Richer  um 
etwas  kleiner  und  die  Länge  des  Vorderarms  ist  etwas  grösser 
(auf  der  Zeichnung  scheint  der  Unterschied  noch   stärker,    weil    die 


^)  Diese  Uebereinstimniung  ist  um  so  auffallender,  als  Richer,  v?ie  er  mir 
mittheilte,  diese  weibliche  Figur  aus  dem  Gedächtniss  so  zeichnete,  wie  er  sie 
für  richtig  projDortionirt  hielt. 


Normalmasse.     Langer.  43 

oberen  Messpunkte  liöher  liegen  als  die  etwas  gesenkten  Schulter- 
gelenke). 

Immerhin  ist  Richer,  wenn  auch  auf  anderem  Wege,  zu  beinahe 
derselben  Normalgestalt  gekommen,  als  Fritsch,  Merkel  und  Froriep. 

Zur  Vergleichung  des  Canons  mit  den  Verhältnissen  an  der 
Lebenden  habe  ich  ein  gut  gebautes  javanisches  Mädchen,  Sarpi, 
gewählt ,  deren  Umrisse  genau  nach  der  Photographie  gezeichnet 
sind  (Fig.  10). 

Wegen  der  vorgebeugten  Haltung  des  Kopfes  fällt  der  obere 
Endpunkt  des  Modulus  ab  etwas  höher  als  der  untere  Nasenrand. 
Mit  Ausnahme  des  im  Verhältniss  zum  Körper  zu  grossen  Kopfes, 
der  der  javanischen  Rasse  eigenthümlich  ist,  stimmen  die  Masse  bis 
auf  Millimeter  genau.  Die  Brüste  sind  mit  den  Armen  in  die  Höhe 
und  etwas  nach  aussen  gerückt,  und  fallen  bei  gesenkten  Armen 
genau  in  die  Punkte  BB^  (Fig.  8),  wie  ich  mich  an  einer  anderen 
Aufnahme  überzeugen  konnte. 

Langer  ^)  hat  nach  directen  Messungen  an  Lebenden  ein  Linear- 
schema aufgestellt.  Da  er  ebenso  wie  Schmidt  und  Fritsch  die 
Gelenke  und  das  Knochengerüst  als  Grundlage  seiner  Messungen 
benützt,  so  decken  sich  seine  Masse  mit  den  obigen  vollkommen, 
was  den  Rumpf  betrifft. 

Bei  den  Extremitäten  findet  Langer,  abweichend  von  Fritsch, 
dass  Ober-  und  Unterarm,  Ober-  und  Unterschenkel  gleich  lang 
sind^),  die  Endergebnisse  sind  aber  die  gleichen,  trotz  dieser  Ver- 
schiedenheiten, die  nur  auf  verschiedener  Annahme  der  Messpunkte 
beruhen. 

Langer  hat  ausser  lebenden  Menschen  auch  eine  grössere  An- 
zahl antiker  Statuen  gemessen,  und  dabei  gefunden,  dass  namentlich 
die  Figuren  des  Parthenon  vollkommen  mit  den  Normalverhältnissen 
lebender  Menschen  übereinstimmen. 


')  1.  c.  p.  48. 

^)  Dieser  Unterschied  erklärt  sicli  aus  der  Methode  der  Messung  von 
Langer.  Die  Länge  des  Unterschenkels  berechnet  er  nach  dem  unteren  Rande 
des  Wadenbeinknöchels;  dieser  liegt  jedoch  viel  tiefer  als  das  Gelenk;  den 
Unterarm  rechnet  er  von  der  Achse  des  Ellbogengelenks,  die  im  Oberarmknochen 
liegt,  bis  in  die  Mitte  des  (doppelten)  Handgelenks,  wodurch  der  Unterarm  auf 
Kosten  von  Oberarm  und  Hand  um  einige  Centimeter  vergrössert  wird. 


44  Normalmasse. 

Die  bisherigen  Betrachtungen  haben  uns  demnach  das  folgende 
gelehrt. 

Durch  genaue  vergleichende  Messungen  wohlgebauter  Indivi- 
duen gelangt  man  zu  stets  wiederkehrenden  Normalmassen,  die  im 
grossen  und  ganzen  trotz  der  verschiedenen  Messungsmethoden  stets 
dieselben  sind.  Von  allen  angewandten  Methoden  geben  diejenigen 
die  zuverlässigsten  Resultate,  die  sich  an  unveränderlich  feststehende, 
durch  das  Knochengerüst  und  die  Gelenke  bestimmte  Punkte  halten. 
Unter  allen  diesen  Methoden  verdient  wiederum  die  von  Schmidt 
und  Fritsch  den  Vorzug,  weil  sie  mit  der  Genauigkeit  der  Messung 
eine  einfache  Construction  und  bequeme  Berechnung  [vereinigt,  und 
sich  dadurch  als  Massstab  zur  Beurtheilung  gegebener  Figuren  be- 
sonders eignet. 

Wir  haben  gesehen,  dass  diese  Verhältnisse  sich  sowohl  an 
anderen  Canons  als  auch  an  normalen  Exemplaren  von  Lebenden 
wiederfinden  lassen,  ebenso  wie  in  mustergültigen  Darstellungen  der 
idealen  Menschengestalt.  Nun  wollen  wir  versuchen,  die  gemachten 
Erfahrungen  auch  kritisch  zu  verwerthen  zur  Entdeckung  von  Fehlern 
in  einer  gegebenen  Figur. 

Als  Beispiel  wähle  ich  zunächst  die  obenerwähnte  weibliche 
Normalgestalt  von  Hay,  die  nach  musikalischen  Accorden  construirt 
ist  (Fig.   11). 

Tragen  wir  in  dieselbe  den  Fritsch'schen  Modulus  ab  ein  und 
construiren  die  nöthigen  Linien ,  so  zeigt  sich  zunächst ,  dass  die 
Beine  viel  zu  kurz  sind,  und  dass  dieser  Fehler  hauptsächlich  auf 
starke  Verkürzung  der  Unterschenkel  zu  setzen  ist,  ein  Fehler,  der 
in  den  arbeitenden  Klassen  sehr  häufig  gefunden  wird. 

Das  scheinbare  Ebenmass  der  Figur  wird  jedoch  gerettet  durch 
einen  zweiten  Fehler,  nämlich  durch  eine  starke  Verkleinerung  des 
Hauptes,  die  als  eine  Eigenthümlichkeit  bevorzugter  Geschlechter  gilt. 

Es  werden  also  gewissermassen  die  plebejischen  Beine  durch 
einen  aristokratischen  Kopf  verdeckt,  und  dadurch  entsteht  eine 
Gestalt,  die  vielleicht  einmal  vorkommen  kann,  jedenfalls  aber  kein 
Ideal  ist. 

Noch  stärker  sind  die  Fehler  in  der  Thomson'schen  Normal- 
figur (Fig.  12)  ausgedrückt. 


Fehlerhafte  Canons. 


45 


Hiei'  sind  die  Unterschenkel  noch,  kürzer,  das  Haupt  erscheint 
noch  unproportionirter,  weil  das  Gesicht  im  Yerhältniss  fzum  Schädel 
grösser  gehalten  ist  als  bei  Hay. 


Fig.  11.    Weibliclie  Normalflgur  nach  Hay.  Fig.  12.  Weibliclie  Normalflgvir  nach  Thomson. 

Weitere  Beispiele  finden  sich  in  den  obenerwähnten  Werken 
von  Fritsch. 

Wir  haben  somit  eine  ziemlich  genaue  wissenschaftliche  Me- 
thode   zur  Bestimmung    der   richtigen  Verhältnisse   des   Körpers    im 


46  Einflüsse  der  Entwickelung. 

allgemeinen;  dass  dies  auch  im  besonderen  der  Fall  ist,  werden 
wir  weiter  unten  bei  Besprechung  der  einzelnen  Körpertheile  sehen. 

Die  einzige  Schwierigkeit  bei  der  Anwendung  dieser  Methode 
besteht  in  der  Zugänglichkeit  der  Messpunkte,  die  zum  Theil,  nament- 
lich bei  wohlgenährten  Gestalten,  durch  Muskeln  und  Fett  bedeckt 
sind.  Doch  auch  diesem  Uebelstande  kann  jetzt,  wenn  es  nöthig  ist, 
durch  geeignete  Anwendung  der  Röntgenstrahlen  abgeholfen  werden. 

Wenn  wir  nun  auch  einerseits  nach  den  Gesetzen  der  Pro- 
portionslehre im  Stande  sind ,  eine  ganze  Reihe  von  Körpern  als 
weniger  schön  oder  hässlich  auszuschalten,  so  ist  andererseits  doch 
wieder  der  Fall  denkbar,  dass  ein  völlig  richtig  proportionirter 
Körper  doch  hässlich  ist ;  man  braucht  nur  zu  bedenken,  dass  trotz 
abschreckendster  Magerkeit,  trotz  der  unästhetischsten  Fettleibigkeit 
ein  Körper  in  seinen  Längenmassen  doch  richtig  gebaut  sein  kann. 
Richtiges  Verhältniss  ist  eben  nur  eines  von  verschiedenen  die  Körper- 
schönheit bedingenden  Momenten,  deren  übrige  im  folgenden  be- 
sprochen werden  sollen. 


Y. 

Einfluss  der  Entwickelung,  Ernährung  und 
Lebensweise  auf  den  Körper. 

Schon  vor  der  Geburt  können  sich  Einflüsse  geltend  machen, 
die  den  normalen  Verlauf  der  Entwickelung  stören.  Wer  sich  in 
die  Geheimnisse  der  Entwickelungsgeschichte  vertieft,  staunt  stets 
von  neuem  über  die  wunderbare  Kraft  der  Natur,  die  aus  mikro- 
skopischen Anlagen  ihr  schönstes  Gebilde,  den  Menschen,  zu  zeitigen 
versteht  und  nur  in  seltenen  Ausnahmefällen  ihre  Aufgabe  nicht 
glänzend  zu  Ende  führt. 

In  allgemein  verständlicher  Form  hat  Häckel  die  Entwickelungs- 
geschichte des  Menschen  ^)  beschrieben. 


Anthropogenie,  1.  Auflage,  Leipzig  1874,  Engelmann. 


Entwickelung  des  Gesichts. 


47 


Wie  im  Laufe  der  Jalirtausende  aus  dem  Ursclileim  die  Würmer, 
aus  den  Würmern  die  Amphibien,  aus  diesen  nacli  unendlichen  Zeiten 
die  Menschengeschlechter  sich  entwickelt  haben,  so  macht  jedes 
menschliche  Individuum  in  Zeit  von  wenigen  Monaten  den  grossen 
Entwickelungsgang  von  der  Zelle  zum  Wurm,  und  von  diesem  bis 
zum  ausgebildeten  Menschenkinde  durch. 

Die  kleinste  Störung  in  diesem  Entwickelungsgang  kann  die 
harmonische  r Ausbildung  des  Körpers  vereiteln. 

Betrachten  wir  zum  Beispiel  die  Entwickelung  des  mensch- 
lichen Gesichtes. 

In  der  sechsten  Woche  seines  Daseins  bildet  der  Kopf  des 
Embryo  eine  gleichmässig  weiche  Masse  (Fig.  13).  Von  der  Stirne 
wachsen  ein  breiterer  mittlerer  und  zwei 
seitliche  Nasenfortsätze  (um,  nln),  die 
Riechgruben  zwischen  sich  fassend,  nach 
unten.  Ausserhalb  derselben  liegen  bei- 
derseits die  Augenanlagen.  Unter  den- 
selben ziehen  nach  innen  und  unten  die 
zwei  Oberkieferfortsätze  (ms,  ms).  Diese 
fünf  Fortsätze  bilden  zusammen  die  obere 
Begrenzung  der  Mundhöhle ,  die  von 
unten  von  den  bereits  vereinigten  Unter- 
kieferbogen (mi)  begrenzt  wird.  In  der 
Tiefe  liegt   die  Anlage   der   Zunge   (g). 

Im  weiteren  Verlaufe  der  Ent- 
wickelung verwachsen  die  fünf  oberen 
Fortsätze  mehr  und  mehr,  bis  schliess- 
lich die  beiden  Oberkieferfortsätze  mit 
einem  Theil  des  mittleren  Nasenfort- 
satzes zusammen  die  Oberlippe  bilden. 
Wo  diese  Vereinigung  nicht  in  voll- 
ständiger Weise  zu  Stande  kommt,  bleibt  ein  grösserer  oder  ge- 
ringerer Grad  von   „Hasenscharte"   bestehen. 

Bei  gleichmässig  guter  Entwickelung  aller  Theile  muss  nicht 
nur  die  Oberlippe  völlig  vereinigt  sein,  sondern  es  muss  sich  auch 
das   Grübchen    zwischen  Nase    und  Mund    deutlich    und    scharf   ab- 


Fig.  13.  Kopf  eines  menschliclien 
Embryo  aus  der  sechsten  Woche. 
(Schematisch  nach  Gegenbauer 

und  Häckel.) 
nm  mittlerer,  nl  seitliche  Nasen- 
fortsätze, tns  Oberkieferfortsätze, 
g  Zunge,    0  0  Augen,    mi  Unter- 
kieferfortsätze. 


48 


Entwickelung  des  Gesichts. 


grenzen,  und  das  Lippenrotli  mnss  in  der  Mitte  mit  leicht  nacli 
unten  convexem  Bogen  zusammenfliessen.  Diesen  Anforderungen 
genügt  in  ToUem  Masse  der  scliöne  Mund  einer  in  Fig.  14  abge- 
bildeten jungen  Pariserin. 


(■^^ 


,  ß-^ 


Fig.  li.    Kopf  einer  jungen  Pariserin  mit  feingeschnittenem  Mund 
(nach  einer  Photographie  von  Eeutlinger,  Paris). 


Zwiscben  diesen  beiden  Extremen  giebt  es  zablreicbe  Ueber- 
ofänge.  Es  ist  bekannt,  dass  bei  den  Engländern  bäuficf  zu  kurze  Ober- 
lippen  gefunden  werden,  und  bei  den  Negern  Aviederum  häufig  Ober- 
lippen, die  den  normalen  Grad  der  Entwickelung  in  ihren  seitlichen 
Parthien  überschreiten.  Diese  letztere  Eigenthümlichkeit  ist  meist 
eine  Folge  von  starker  Entwickelung  des  Oberkiefers  überhaupt  und 
findet  sich  deshalb  zusammen  mit  stark  vorstehenden  Backenknochen. 


Entwickelungsstörungen.  49 

Inwieweit  die  Erbliclikeit  auf  die  Gesichtszüge  einwirken  kann, 
ist  oben  bereits  besprochen. 

Ebenso  wie  am  Gresicht  lassen  sich  auch  au  anderen  Körper- 
theilen  häufig  Abweichungen  von  der  Xorm  auf  embryonale  Ent- 
wickelungsstörungen zurückführen,  ja  man  nimmt  selbst  an,  dass 
ein  grosser  Theil  später  auftretender  Krankheiten,  wie  z.  B.  die 
meisten  Geschwülste ,  als  Keime  schon  mit  auf  die  Welt  gebracht 
wurden  (Cohnheim'sche  Krebstheorie). 

Wenn  wir  einen  strengen  Massstab  anlegen,  so  müssen  wir 
fordern,  dass  die  Entwickelung  des  Körpers  eine  völlig  syrQmetrische 
ist,  d.  h.  dass  die  eine  Körperhälfte  genau  das  Spiegelbild  der  anderen 
ist.  Dieser  Anforderung  dürfte  jedoch  kaum  ein  lebendes  Wesen 
genügen :  wir  müssen  deshalb .  um  der  Xatur  gerecht  zu  werden, 
eine  leichte  Asymmetrie  als  individuelle  Abweichung,  eine  stärkere 
jedoch  als  Fehler  auffassen. 

Geringere  Entwickelungsfehler  können  im  Beginn  selbst  der 
schärfsten  Prüfung  entgehen  und  sich  erst  am  heranwachsenden 
Körper  durch  grössere  Deutlichkeit  bemerkbar  machen. 

So  erkennt  man  in  den  ungewissen  Zügen  des  kindlichen  Ge- 
sichts kaum  Sjjuren  der  Adlernase  des  Vaters ,  die  doch  im  Keim 
bereits  besteht.  Bei  einer  mir  bekannten  Familie,  die  von  der  Natur 
ausschliesslich  mit  linken  Beinen  begabt  zu  sein  schien,  zeig-te  sich 
diese  Famüieneigenthümlichkeit  bei  den  Kindern  erst  später  in  Gang 
und  Haltung. 

Wenn  wir  die  weitere  Entwickelung  vom  Kind  zum  Weibe 
betrachten,  so  treten  hier  die  Einflüsse  der  Ernähi'ung  und  Lebens- 
weise so  sehr  in  den  Vordergrund,  dass  ein  scharfes  Auseinander- 
halten dieser  verschiedenen  Eiaflüsse  im  einzelnen  Falle  kaum 
möglich  ist. 

In  manchen  Fällen  sind  sogar  die  Ansichten  darüber  getheilt, 
ob  man  gewisse  Abnormitäten  als  Entwickelungsfehler  oder  als 
Folgen  von  Krankheiten  aufzufassen  hat. 

So  hat  Mikulicz  auf  Grund  eingehender  Untersuchungen  an- 
genommen, dass  alle  Formen  der  sogenannten  X-  oder  Bäckerbeine, 
die  durch  Einwärtskrümmung  der  Beine  im  Kniegelenk  gekennzeichnet 
sind  (Fig.  15),  auf  englischer  Krankheit  beruhen. 

st  ratz,  Die  Scliönheit  des  weibliclien  Körpers.  4 


50 


Einfluss  der  Entwickelung  und  Lebensweise. 


Hoffa  und  andere  nehmen  wieder  an,  dass  eine  derartige  Ver- 
biegung   im  Kniegelenk   sehr  wohl  auch  ohne  Rhachitis  durch  ver- 
hältnissmässig    zu    schwere   Belastung    der    weichen  Knochen   beim 
Stehen    hervorgerufen    werden    könne.     Im  ersten  Falle  also  krank- 
hafter   Einfluss,    im    zweiten 
unrichtige  Lebensweise  in  den 
Entwickelungsjahren  (Bäcker- 
bein). 

Ebenso  leitet  Rupprecht 
alle  Skoliosen  (Verkrümmun- 
gen der  Wirbelsäule)  voö  Rha- 
chitis ab,  während  Hoffa  auch 
hierbei  rein  statische  Einflüsse 
(z.B. Schreibhaltung  der  Schul- 
kinder) gelten  lässt,  allerdings 
bei  „abnormer  Weichheit"  der 
Knochen. 

Bei  Erwähnung  der  Rha- 
chitis hebt  Vierordt  hervor, 
dass  Mangel  an  Luft  und 
Licht  und  schlechte  Ernäh- 
rung von  schwerwiegender 
Bedeutung  sind,  also  wieder- 
um der  Einfluss  der  Er- 
nährung auf  den  Krankheits- 
zustand. 

Wie  dem  auch  sei,  wir 
können  für  unsere  Zwecke  aus 
allen  diesen  entgegengesetzten 
Ansichten  die  gemeinschaft- 
liche Schlussfolgerung  ziehen, 
dass  ausser  Krankheiten  auch  die  Ernährung  und  Lebensweise  auf 
die  Entwickelung  des  Körpers  einen  nachhaltigen  Einfluss  ausüben 
können. 

Bei  normaler  Entwickelung  ist  der  Körper  in  den  ersten  Lebens- 
jahren  gefüllt ,    etwa    im    sechsten   beginnt  er  allmählig  länger  und 


Fig.  15.    Kleines  Mädchen  mit  X-ßeinen 
(Genii  valgum)  nach  Hoffa. 


Einfluss  der  Ernährung.  51 

scUanker  zu  werden  und  melir  und  mehr  die  secundären  Gresclileclits- 
cliaraktere  anzunehmen,  die  bei  Mädchen  sich  im  allgemeinen  früher 
einstellen  als  bei  Knaben.  Erst  nach  erfolgter  Geschlechtsreife  erlangt 
der  Körper  seine  volle  Ausbildung. 

In  der  Entwickelungsperiode  haben  bei  den  noch  zarten  Or- 
ganen alle  schädlichen  Einflüsse  selbstverständlich  eine  viel  nach- 
haltigere Wirkung  als  später. 

Kräftige,  eiweissreiche  Kost  ist  für  den  wachsenden  Körper  ein 
Bedürfuiss.  Fleisch ,  Eier  und  Milch  sind  die  besten  und  werth- 
vollsten  Nahrungsmittel;  in  den  ärmeren  Klassen  werden  dieselben 
grösstentheils  durch  minderwerthige,  wie  Kartoffel,  Brod  und  Hülsen- 
früchte ersetzt.  Von  diesen  sind  viel  grössere  Massen  nöthig,  um 
denselben  Nährwerth  zu  erreichen.  Selbst  bei  genügender  Nahrung 
wird  deshalb  bei  der  Bewältigung  dieser  minderwerthigen  Kost  eine 
grössere  Arbeit  vom  Körper  gefordert;  meist  aber  ist  ausserdem 
nicht  nur  die  Qualität,  sondern  auch  die  Quantität  der  Nahrung  zu 
gering,  um  allen  Anforderungen  zu  genügen. 

Wir  sehen,  dass  bei  vorwiegender  Fleisch-  und  Milchkost  unter 
sonst  gleichen  Verhältnissen  alle  Gewebe  des  Körpers ,  vorall  aber 
die  Muskeln,  kräftiger  und  straffer  werden,  der  Fettansatz  kein  über- 
mässiger und  die  Haut  elastisch  ist.  Bei  reichlicher  Fütterung  mit 
Kartoffeln  und  Brod  bleiben  die  Muskeln  schwächer,  der  Fettansatz 
wird  viel  reichlicher,   der  Unterleib  ist  aufgetrieben,   die  Haut  schlaff. 

Die  Masse  kann  in  letzterem  Fall  grösser  sein  als  in  ersterem, 
der  Gehalt  und  die  Dauerhaftigkeit  des  Körpers  ist  im  ersteren 
weitaus  besser. 

lieber  den  richtigen  Grad  der  Ernährung  eines  Körpers  kann 
man  sich  am  besten  überzeugen  durch  das  Gewicht. 

Nach  Vierordt  bestimmt  man  dasselbe  nach  folgender  Formel. 

T     B 

^  .  -    =  K,  das  heisst:  L  =  Körperlänge  in  Centimetern  vervielfältigt 

mit  B  =  Brustweite,  über  den  Brustwarzen  gemessen,  in  Centimetern, 
getheilt  durch  240  giebt  K  =  das  Körpergewicht  in  Kilogrammen. 
Da  Vierordt  seine  Formel  aus  zahlreichen  Einzelmessungen 
gesunder  Individuen  berechnet  hat,  so  haben  wir  damit  einen  ziem- 
lich genauen  Massstab  gewonnen. 


52  Einfluss  der  Ernährung. 

Ist  z.  B.  die  Körperlänge  =  168  cm,    der  Brustumfang  =  88, 

so   muss  das  Gewicht   — ^r-^-p: — =61,6kff  sein. 

240  ^ 

Bei  feMerhafter  Ernährung  kann  der  Fettansatz  zu  gering  oder 
zu  reichlich  sein.  In  beiden  Fällen  scheint  es  sich  häufig  auch  um 
eine  angeborene  Anlage  zu  Magerkeit  oder  Fülle  zu  handeln. 

Ein  nicht  nur  bei  Buschmänninnen,  sondern  auch  bei  Euro- 
päerinnen beobachteter  Fehler,  auf  den  Richer  zuerst  die  Aufmerk- 
samkeit gelenkt  hat,  ist  eine  abnorm  starke  Anhäufung  von  Fett  in 
der  Beckengegend  und  dem  oberen  Drittel  der  Oberschenkel;  Fig.  19 
zeigt  dies  sehr  deutlich. 

Während  bei  normalen  Gestalten  das  Unterhautfett  die  Gestalt 
abrundet,  ohne  doch  die  darunterliegenden  Formen  der  Muskeln, 
Gelenke  und  Knochen  völlig  verschwinden  zu  lassen,  lässt  ein  magerer 
Körper  dieselben  zu  stark  vortreten  und  macht  die  Gestalt  eckig. 
Bei  zu  starker  Fettanhäufung  werden  zunächst  die  tieferen  Theile 
des  Körpers  verdeckt,  es  bilden  sich  an  den  Beugestellen  der  Glied- 
massen, unter  den  Brüsten  und  am  Kinn  Wülste  und  Furchen,  die 
feine  Gliederung  der  Gestalt  verschwindet.  An  Stellen,  an  denen 
die  Spannung  der  Lederhaut  zu  stark  ward,  entstehen  weisse,  zackige 
Narben,  ähnlich  den  sogenannten  Schwangerschaftsnarben. 

Wenn  ein  solcher  gefüllter  Körper  wieder  abmagert,  kann  die 
Haut  nur  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  ihre  ursprüngliche  Elasticität 
wiedererlangen;  wo  diese  im  Stiche  lässt,  hängt  sie  schlaff  auf  ihrer 
Unterlage  und  bildet  Falten  und  Runzeln. 

An  diesen  Zeichen ,  sowie  an  den  Narben ,  die  sich  haupt- 
sächlich am  Bauch,  auf  den  Oberschenkeln  und  am  Gesäss  finden, 
kann  man  einen  abgemagerten  Körper  von  einem  mageren  unter- 
scheiden. 

Unter  den  mageren  Frauen  sind  viele,  die  erst  ihre  volle  Blüthe 
erreichen  zu  einer  Zeit,  wo  andere  sie  bereits  durch  zu  starke  Fülle 
wieder  verlieren. 

Die  Lebensweise  kann,  trotz  guter  Ernährung,  einen  nach- 
theiligen Einfluss  auf  die  harmonische  Entwickelung  des  Körpers 
ausüben. 

Wo  der  Beruf  dies  verlangt,  wird  eine  besondere  Muskelgruppe 


Einfluss  der  Lebensweise,  53 


häufiger  und  uaclilialtiger  gebraucht,  als  die  anderen.  In  Folge 
davon  entwickeln  sich  diese  Muskeln  mehr,  werden  dicker  und 
springen  mehr  hervor  als  die  anderen.  Wie  bei  Schmieden  die  Arm- 
und  Schultermuskeln,  mit  den  Muskeln  der  Beine  verglichen,  uuver- 
hältnissmässig  kräftig  sind,  so  zeichnen  sich  wieder  Ballettänzerinnen 
durch  sehr  kräftige  Formen  der  Beine  aus,  bei  zu  schwacher  Ent- 
wickelung  der  Arme  und  Schultern. 

Im  allgemeinen  Averden  bei  Frauen  der  besseren  Stände  alle 
Muskeln  nicht  genügend  geübt,  namentlich  aber  diejenigen  der  Arme 
und  Schultern. 

In  den  ärmeren  Klassen  wird  hinwiederum  frühzeitige  und 
anstrengende  Arbeit  von  den  Beinen  gefordert,  so  dass  diese  zwar 
unter  sonst  normalen  Umständen  kräftig  und  gedrungen,  aber  im 
Längen wachsthum  der  Knochen  behindert  und  dadurch  im  Verhältniss 
zum  übrigen  Körper  zu  kurz  werden.  Kommt  nun  noch  schlechte 
Ernährung  undRhachitis  hinzu,  so  werden  sie  ausserdem  noch  krumm 
und  plump  in  den  Gelenken. 

Durch  häufig  wiederholte  ungleichmässige  Belastung  der  Wirbel- 
säule kann  eine  bleibende  Verkrümmung  derselben  entstehen,  wie 
sie  bei  zahlreichen  Schulkindern  durch  die  Haltung  beim  Schreiben 
auch  thatsächlich  häufig  sich  findet. 

Beinahe  allgemein  findet  sich  eine  stärkere  Entwickelung  der 
rechten  Brust  und  Schulter  im  Verhältniss  zur  linken.  Diese  Er- 
scheinung hängt  mit  der  Rechtshändigkeit  des  Menschen  zusammen 
und  kann  deshalb  kaum  als  Fehler  angesehen  werden,  es  sei  denn, 
dass  der  Unterschied  besonders  auffallend  ist. 

Bei  vielen  Frauen  werden  einzelne  Körpertheile  durch  häufig 
sich  folgende  Geburten  dauernd  entstellt,  bei  anderen  wieder  üben 
dieselben  kaum  einen  Einfluss  aus. 

Wir  kommen  darauf  später  noch  zurück. 

Die  angeführten  Beispiele  durch  weitere  zu  vermehren,  erscheint 
mir  an  dieser  Stelle  überflüssig. 

Wir  haben  demnach  als  weitere  Momente  zur  Beurtheilung 
des  normalen  weiblichen  Körpers  zu  beachten  die  symmetrische  Ent- 
wickelung beider  Körperhälften,  entsprechend  den  Gesetzen  der  Ent- 
wickelungsgeschichte ,  die  gleichmässige  Ernährung ,   die  sich  durch 


54  Einfluss  von  Geschlecht,  Lebensalter  und  Erblichkeit. 

Vergleichung  des  Gewiclits  mit  der  Körperlänge  und  dem  Brust- 
umfang nachweisen  lässt ,  und  die  Ausschaltung  der  durch  die 
Lebensweise  bedingten  Verunstaltung  vom  ganzen  Körper  oder  von 
Theilen  desselben. 


VI. 

Einfluss  von  Geschlecht,  Lebensalter  und 
Erblichkeit. 

Mit  sehr  viel  Scharfsinn,  aber  mit  noch  mehr  Einseitigkeit 
haben  verschiedene  Anthroijologen  (Albrecht,  Delannay)  und  Philo- 
sophen (Lotze,  Schopenhauer  u.  A.)  nachzuweisen  versucht,  dass 
das  Weib  tiefer  als  der  Mann  und  dem  Affen  näher  stehe,  oder  be- 
trachten das  Weib  'als  ein  niederes,  dem  Kinde  näher  stehendes 
Entwickelungsstadium. 

Hauptsächlich  Charcot,  Richer  und  deren  Schüler  haben  auf 
Grund  sorgfältiger  Naturbeobachtungen  einige  Klarheit  in  die  Frage 
gebracht.  Eine  sehr  sorgfältige  Zusammenstellung  aller  Geschlechts- 
unterschiede finden  sich  in  dem  Buche  von  Ellis:   „Mann  und  Weib". 

Ohne  mich  hier  auf  nochmalige  Kritik  entgegengesetzter  An- 
sichten einzulassen,  stelle  ich  mich  auf  den  von  der  Charcot'schen 
Schule  vertretenen  Standpunkt. 

Danach  stehen  Mann  und  Weib  in  ihrer  Vollendung  als  zwei 
in  sich  abgeschlossene  Typen  neben  einander^),  deren  jeder  sich 
gleichweit,  doch  in  anderer  Richtung,  von  dem  ursprünglichen,  kind- 
lichen Typus  entfernt  hat. 

Ebenso  wie  bei  einzelnen  männlichen  Individuen  sich  An- 
näherungen an  den  kindlichen  sowohl  als  an  den  weiblichen  Typus 
finden  lassen,  ebenso  finden  sich  andererseits  bei  einzelnen  Weibern 
Annäherungen  an  den  kindlichen,  sowie  an  den  männlichen  Typus. 


^)  Plato,  Symposion :   Die  beiden  Hälften,  die  sich  suchen. 


Primärer  und  secundärer  Greschleclitscharakter.  55, 

In  diesem  Sinne  kann  man  von  einem  Einfluss  des  Geschlechts 
auf  die  normalen  weiblichen  Körperformen  sprechen. 

Hunt  er  hat  zuerst  einen  Unterschied  zwischen  primären  und 
secundären  Geschlechtscharakteren  gemacht. 

Wir  können  als  primäre  Geschlechtscharaktere  die  Geschlechts- 
theile  als  solche  auffassen,  als  secundäre  alle  diejenigen  Verände- 
rungen des  kindlichen  Körpers ,  die  ihm  das  weibliche  resp.  männ- 
liche Gepräge  verleihen. 

In  allen  Fällen,  in  denen  die  primären  Geschlechtscharaktere 
nicht  gut  ausgebildet  sind,  bei  den  sogenannten  Hermaphroditen, 
bilden  auch  die  secundären  Geschlechtscharaktere  Mischformen  vom 
männlichen  und  weiblichen  Typus.  Es  giebt  Fälle,  wo  selbst  erfahrene 
Aerzte  ^)  nur  mit  dem  Mikroskop  entscheiden  konnten ,  ob  es  sich 
um  einen  männlichen  oder  weiblichen  Zwitter  handelte. 

Abgesehen  von  diesen  Fällen  von  wirklicher  oder  scheinbarer 
Zwitterbildung  giebt  es  aber  eine  ganze  Anzahl  Weiber  mit  nor- 
malem primärem  Geschlechtscharakter,  deren  secundäre  Geschlechts- 
merkmale trotzdem  Annäherung  an  den  männlichen  resp.  kindlichen 
Typus  zeigen. 

Es  lässt  sich  auf  Grund  der  bis  jetzt  bekannten  Thatsachen 
nicht  ausmachen,  ob  nicht  in  solchen  Fällen  stets  eine  mangelhafte 
Entwickelung  der  Geschlechtstheile  mit  im  Spiele  ist. 

Die  wichtigsten  secundären  Geschlechtscharaktere  des  Weibes 
sind :  zarter  Knochenbau,  runde  Formen,  Brüste,  breite  Hüften,  reiche 
lange  Kopfhaare  und  Fehlen  der  Körperhaare  ausser  in  den  Achsel- 
höhlen und  auf  dem  Schamberge. 

Wenn  wir  danach  die  Normalgestalt  des  Weibes  bestimmen 
wollen,  müssen  wir  alle  diejenigen  ausschalten,  welche  derben 
Knochenbau ,  eckige  Formen ,  keine  Brüste,  schmale  Hüften ,  kurze 
und  spärliche  Kopfhaare,  Barte,  Haare  zwischen  den  Brüsten  und 
am  Bauche  besitzen. 

Wenn  auch  der  ausgeprägte  Typus  der  virago ,  des  Mann- 
weibes, leicht  zu  erkennen  ist,  so  erheischt  die  richtige  Ausschaltung 


^)  Sänger,  Pozzi,  Neugebauer.     Vgl.  Centralblatt  für  Gynäkologie,   1898, 
p.  389  ff.  (Nr.  15). 


56 


Infantilismus. 


der  ans  Männliche  streifenden 
Formen  in  vielen  Fällen  doch 
eine  sehr  sorgfältige  Unter- 
suchung, ja  sogar  Bestätigung 
durch  Messinstrumente. 

Auf  die  weiteren  secun- 
dären  Geschlechtscharaktere 
kommen  wir  weiter  unten  bei 
Besprechung  der  einzelnen Kör- 
pertheile  zurück. 

Schwieriger  noch  als  die 
Ausschaltung  der  ans  Männ- 
liche streifenden  Formen  ist  die 
Ausschaltung  der  sogenannten 
infantilen  Bildung  des  weib- 
lichen Körpers,  wenn  dieselbe 
nicht  sehr  deutlich  ausge- 
prägt ist. 

Ein  sehr  schönes  Beispiel 
von  weiblichem  Infantilismus 
hat  Meige  ^)  beschrieben.  Das 
betreffende  Mädchen  ist  30  Jahre 
alt  und  hat  das  Aeussere  einer 
etwa  Zwölfjährigen.  Sie  litt 
an  Hysterie ;  die  Genitalien 
waren  normal,  jedoch  in  ihrer 
Entwickelung  gleich  dem  Kör- 
per zurückgeblieben. 

Dieser  Körper  zeigt  den 
ausgeprägt  kindlichen  Bau  ohne 
irgend  welchen  secundären  Ge- 

Fig.  16.    Infaiitüismus  der  Frau  nach  Meige.  sclllcchtschar akter      (Fig.     16). 

Die  Brüste  fehlen,   der  Körper  ist    völlig  unbehaart;    weder  Hüften 
und  Oberschenkel,  noch  Arme  und  Schultern  zeigen  den  Fettansatz 


^)  Nouvelle  Iconographie  de  la  Salpetriere,  1895,  p.  218. 


Einfluss  des  Lebensalters. 


57 


des  reifenden  oder  gereiften  Wei- 
bes; der  Rumpf  ist  gleiclimässig 
cylindriscli ,  in  der  Taille  nicht 
eingezogen,  das  Becken  ist  sclimal, 
der  Bauch  wölbt  sich  vor  und 
geht  ohne  scharfe  Abgrenzung  in 
den  Schamberg  über. 

In  Fig.  17  ist  ein  Münchener 
Kind  von  12  ^2  Jahren  mit  völlig 
normalem  Körper  abgebildet;  die 
Uebereinstimmung  in  der  Ent- 
wickelung  springt  ohne  weiteres 
in  die  Augen. 

Derartig  ausgeprägte  For- 
men von  Infantilismus  finden  sich 
ebenso  wie  ausgeprägter  Yirilis- 
mus  sehr  selten.  Für  letzteres 
spricht  ja  schon  der  Umstand, 
dass  Frauen  mit  Barten  in  Schau- 
buden und  auf  Jahrmärkten  als 
Sehenswürdigkeiten  gezeigt  wer- 
den. Leichtere  Grade  beider  Phä- 
nomene sind  jedoch  gar  nicht  so 
ausserordentlich  selten.  Unter 
100  daraufhin  untersuchten  Frauen 
habe  ich  4  mit  mehr  männlicher, 
2  mit  mehr  kindlicher  Gestaltung 
gefunden. 

Somit  erklärt  sich  die  schein- 
bar absurde  Behauptung,  dass  das 
Geschlecht  bei  der  Beurtheilung 
des  weiblichen  Körpers  von  Einfluss  sein  könne,  in  der  Weise:  je 
reiner  die  secundären  Geschlechtscharaktere  am  weiblichen  Körper 
ausgeprägt  sind,  desto  mehr  kann  derselbe  darauf  Anspruch  machen, 
als  normal  angesehen  zu  werden. 

Es  mag  scheinbar  ebenso  paradox  klingen,   dass  noch  besonders 


Fig.  17. 


Mädclien  von  12i;.2  Jalireii 
aus  Mttnclien. 


58 


Blüthezeit.     Beaute  du  diable. 


hervorgehoben  whd,  dass  das  Lebensalter  einen  Einfluss  auf  die 
Körpergestaltung  ausübt;  denn  jeder  weiss,  dass  ein  kleines  Mädchen 
und  eine  alte  Frau  anders  aussehen  als  eine  Frau  in  ihrer  Blüthe. 
Was  ich  hier  hervorheben  möchte,  ist,  dass  eben  diese  Blüthe  bei 
der  einen  Person  früher,  bei  der  anderen  später  eintritt,  dass  darin 
eine  grosse  individuelle  Schwankung  besteht. 

Jede  Frau  erreicht  im  Laufe  ihres  Lebens  eine  höchste  Blüthe, 
die,    bildlich    dargestellt,    den    höchsten   Punkt   einer    Curve    bildet. 


Jahre 

5 

10 

15 

20 

25 

30 

35 

40 

45 

50 

55 

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Schönheitskurve  ■ 


"—  Beaute  du  diable 

Fig.  18. 


welche  im  Kindesalter  aufsteigend,  im  höheren  Alter  absteigend  ge- 
dacht ist. 

Diese  Schönheitscurve  kann  in  einem  Falle  sehr  rasch  ansteigen, 
um  ebenso  rasch  wieder  abzufallen,  und  wir  haben  dann  vor  uns 
die  sogenannte  Beaute  du  diable,  ein  Begriff,  der  nur  in  der  fran- 
zösischen Sprache  besteht. 

In  anderen  Fällen  wieder  steigt  die  Curve  sehr  langsam  an, 
um  ebenso  langsam  wieder  zu  sinken,  der  Höhepunkt  dieser  Curve 
tritt  später  ein,  erreicht  aber  eine  absolut  grössere  Höhe  als  im 
ersten  Fall,    die  absteigende  Curve  sinkt  viel   langsamer    (Fig.   18). 

Das  Lebensalter,  in  welchem  die  höchste  Höhe  erreicht  wird, 
ist  sehr  wechselnd.  Namentlich  bei  südlichen  Völkern  wird  dieselbe 
oft  schon  im  14.  bis  15.  Jahre  erreicht,  bei  germanischen  Stämmen, 


Einfluss  der  Erblichkeit.  59 

bei  Deutschen,  Holländerinnen,  Skandinavierinnen  und  Engländerinnen 
meist  mit  dem  20.  Lebensjahre  oder  noch  später.  Mir  sind  Fälle 
bekannt,  in  denen  erst  im  30.  und  33.  Jahre  die  volle  Blüthe  er- 
reicht wurde. 

Eine  geistreiche  Künstlerin  machte  mir  einst  die  folgende  Be- 
merkung: Der  Endzweck  der  Frau  ist,  Mutter  zu  werden;  die  Frau 
hat  demnach  ihre  höchste  Blüthe  erreicht,  wenn  sie  schwanger  ist ;  also 
muss  eine  schöne  Frau  am  schönsten  sein,  wenn  sie  schwanger  ist. 

Ich  erwiderte  ihr,  dass  dies  wirklich  der  Fall  ist,  wenn  näm- 
lich der  Zeitpunkt  der  höchsten  Blüthe  mit  dem  ersten  Monat  der 
ersten  Schwangerschaft  zusammenfällt.  Denn  mit  dem  Eintreten  der 
Schwangerschaft  wird,  wie  jedem  Arzt  bekannt  ist,  der  Stoffwechsel 
erhöht,  alle  Gewebe  sind  strotzend  gefüllt,  das  Incarnat  der  Haut 
ist  zarter  und  lebhafter,  die  Brüste  werden  praller  und  härter.  Da- 
durch wird  der  Reiz  der  vollen  Blüthe  erhöht  bis  zu  dem  Augen- 
blick ,  wo  das  Schwellen  des  Leibes  im  weiteren  Verlauf  der 
Schwangerschaft  die  Harmonie  der  Formen  beeinträchtigt. 

Wie  wenig  eigentlich  das  Lebensalter  einer  Frau  an  ihrem 
Aeusseren  erkannt  werden  kann,  dafür  ist  das  oben  abgebildete 
30jährige  Mädchen  (Fig.  16)  ein  sprechender  Beweis. 

In  demselben  klassischen  Werke,  dem  dieses  Bild  entnommen 
ist,  haben  Souques  und  Charcot  unter  dem  Namen  von  Greromorphisme 
cutane  die  21jährige  Amandine  beschrieben,  die  trotz  ihres  jugend- 
lichen Alters  mit  ihrem  gerunzelten  Körper  den  Bindruck  einer 
60jährigen  Greisin  macht.  Ich  verzichte  hier  auf  die  Wiedergabe 
der  sprechenden,  aber  nicht  gerade  sympathischen  Photographie  und 
verweise  den  wissbegierigen  Leser  auf  das  Original^). 

Ausser  derartigen  Extremen  giebt  es  jedoch  eine  grosse  Reihe 
schwieriger  zu  beurtheilender  Fälle,  die  nicht  so  deutlich  ausgeprägt 
sind.  Jedermann  kann  sich  leicht  davon  überzeugen,  wenn  er  gleich- 
altrige Frauen  aus  seiner  Umgebung  mit  einander  vergleicht.  Er 
wird  dabei  zu  der  Ueberzeugung  kommen,  dass  der  Augenblick  der 
höchsten  Blüthe  bei  den  einzelnen  Frauen  sehr  verschieden  ist  und 
keineswegs  an  ein  bestimmtes  Alter  gebunden. 


^)  Iconograpliie  de  la  Salpetriere,  1891,  p.  170. 


QQ  Rassenzüchtung. 


In  Avie  weit  Erziehung  und  Lebensweise  auf  die  Entwickelung 
und  Erhaltung  der  Schönheit  von  Einfluss  sein  können,  haben  wir 
schon  besprochen. 

Hier  sei  noch  erwähnt,  dass  die  Frauen  der  sogenannten  bes- 
seren Stände  im  allgemeinen  später  reifen  und  länger  schön  bleiben 
als  die  der  arbeitenden  Klasse,  bis  auf  wenige  Ausnahmen. 

Und  damit  kommen  wir  auf  einen  dritten  Factor,  der  die 
Normalgestalt  beeinfiusst,  nämlich  die  Erblichkeit,  oder  besser  ge- 
sagt, die  Züchtung. 

Ich  möchte  hier  das  Wort  Züchtung  mehr  in  dem  Sinne  ver- 
standen wissen,  wie  man  es  — ■  ich  bitte,  mir  zu  verzeihen  —  von 
Pferden  und  Hunden  gebraucht,  wenn  man  denselben  „Rasse"  zu- 
erkennt. 

Der  Werth  des  Hundes  oder  des  Pferdes  wird  nach  dem  Stamm- 
baum bemessen,  vorausgesetzt,  dass  sich  damit  die  gewünschten 
edlen  lvörj)ereigenschaften  verbinden. 

Beim  Menschen,  namentlich  beim  männlichen,  hat  ja  der  Stamm- 
baum auch  einen  gewissen  Marktwerth,  jedoch  ohne  Rücksicht  auf 
eventuelle  gute  oder  schlechte  Körpereigenschaften. 

Die  wirkliche  Rasse  im  naturgeschichtlichen  Sinne  ist  nicht 
ausschliesslich  diejenige,  die  im  Grothaer  Kalender  steht,  sondern  es 
sind  alle  die  Geschlechter,  die  durch  lange  Grenerationen  hindurch 
unter  besonders  günstigen  Lebensbedingungen  geblüht  und  sich  nur 
mit  ihresgleichen  vermischt  haben.  Eine  derartige,  durch  Jahr- 
hunderte fortgesetzte  Zuchtwahl  muss  günstige  Resultate  hervor- 
bringen. Man  findet  sie  ebenso  beim  Adel,  wie  beim  unverfälschten 
Bauernstande  und  in  alten  Bürgerfamilien. 

Aus  eigener  Erfahrung  kann  ich  bestätigen,  dass  namentlich 
in  dem  sehr  conservativen  Holland  derartige  Beispiele  vortreff'licher 
Körperbildung  in  alten  Familien  bei  Männern  sowie  bei  Frauen 
häufig  anzutreffen  sind. 

Bekannt  ist  dagegen  auch  der  Umstand,  dass  unter  den  Juden 
trotz  der  Zähigkeit  des  Volkes  in  Folge  der  jahrhundertelangen 
Unterdrückung  sehr  viel  mehr  körperlich  abnormale  Individuen  an- 
getroffen werden,  als  bei  irgend  einem  anderen  Volke  der  Welt. 

Die  Erfolge  einer  Rassenzüchtung  werden   um   so  besser  sein, 


Rassenzüchtung.  Q1 

je  melir  zwei  eine  neue  Verbindung  eingehende  Individuen  mit 
körperlichen  Vorzügen  versehen  sind.  So  kann  die  Verbindung 
eines  Edelmannes  mit  einem  Bauernmädchen,  eines  Italieners  mit 
einer  Oesterreicherin  zu  einer  Veredelung  der  Rasse  werden,  voraus- 
gesetzt, dass  die  Betheiligten  völlig  gesund  und  normal  sind. 

Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  dass  die  Nachkommen  zweier  In- 
dividuen von  „Rasse"  um  so  kräftiger  sind,  je  weniger  die  Familien 
selbst  mit  einander  verwandt  sind,  dass  hingegen  bei  zahlreichen 
Heirathen  innerhalb  einer  Familie  das  Greschlecht  mehr  und  mehr 
entartet,   und  zwar  zunächst  psychisch,   dann  aber    auch  körperlich. 

Die  Erklärung  für  diese  Thatsache  ist  sehr  einfach:  Kein 
Mensch  ist  vollkommen  normal.  Vereinigen  sich  zwei  Menschen 
verschiedener  Familien,  so  ist  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  an- 
zunehmen, dass  einer  der  Betheiligten  andere  Fehler  hat  als  der 
andere.  Die  Kinder  können  nun,  wie  die  Vorzüge,  so  auch  die 
Fehler  ihrer  Eltern  erben,  jedoch  werden  die  Fehler  des  einen  In- 
dividuums durch  die  Vorzüge  des  anderen  verdeckt  werden.  Ver- 
einigen sich  jedoch  zwei  Individuen  derselben  Familie,  die  neben 
den  gleichen  Vorzügen  die  gleichen  Fehler  besitzen,  so  werden  die 
Kinder  die  Fehler  sowie  die  Vorzüge  der  Eltern  in  erhöhtem  Masse 
zeigen.  Je  häufiger  ähnliche  Verbindungen  in  einer  Familie  vor- 
kommen, desto  stärker  werden  in  den  Nachkommen  die  Fehler 
sowie  die  Vorzüge  derselben  ausgeprägt  sein. 

Wie  die  Menschen  im  allgemeinen  geneigt  sind,  eher  die  Fehler 
als  die  Vorzüge  ihrer  Nebenmenschen  anzuerkennen,  so  wird  im  be- 
sonderen unter  Heredität  oder  Erblichkeit  meist  die  Uebererbung 
von  Fehlern,  nicht  aber  von  Vorzügen  verstanden ,  und  wenn  man 
von  einem  erblich  belasteten  Menschen  spricht,  so  versteht  man 
darunter  meist  das  Erbtheil  an  Fehlern,  das  er  seinen  Vorfahren 
zu  danken  hat. 

Welchen  Einfluss  die  Erblichkeit  ausübt,  ist  zunächst  deutlich 
erkennbar  an  der  sogenannten  Familienähnlichkeit.  Da  jedoch 
die  meisten  neugeborenen  Kinder  einander  gleichen,  so  kann  man 
diese  Familienähnlichkeit  erst  in  der  späteren  Entwich elung  erkennen, 
und  dabei  ist  es  eigenthümlich,  dass  man  sehr  häufig  in  den  heran- 
wachsenden   Kindern   nicht    die    Züge  der    Eltern,    sondern    die    der 


ß2  Rassenzüchtung. 

Grosseltern  zurückfindet.  Darum  wird  heiratlislustigen  Jünglingen 
gerathen,  sich,  bei  der  Wahl  eines  Mädchens  nicht  nur  deren  Mutter, 
sondern  auch  beide  Grossmütter  erst  gründlich  anzusehen. 

Noch  merkwürdiger  ist  das  Wie  der  auftauchen  einer  älteren 
Form  in  einem  späteren  Geschlechte,  wie  etwa  die  Aehnlichkeit  der 
jüngsten  Tochter  mit  der  nur  noch  im  Bilde  bekannten  Ahnfrau. 

Die  Erblichkeit  in  diesem  weiteren  Sinne,  der  Atavismus,  hat 
Paul  Bourget  zu  seinem  Romane  Kosmopolis  den  Stoff  geliefert.  Er 
zeigt  darin,  wie  sich  trotz  des  Bestrebens  der  sogenannten  Welt, 
keinem  besonderen  Volke  anzugehören,  doch  stets  wieder  der  Ur- 
typus  in  den  einzelnen  Charakteren  offenbart. 

In  dieser  Weise  aufgefasst,  begreifen  wir  dann  auch  die  natur- 
wissenschaftlich begründete  Unsterblichkeit  der  Seele  wie  des  Körpers, 
da  in  jedem  Menschen  die  Eigenthümlichkeiten  aller  seiner  Vorfahren 
wieder  aufleben,  so  wie  die  seinigen  wieder  in  seinen  Nachkommen 
weiterleben  werden. 

Hier  tritt  nun  aber  der  Kampf  ums  Dasein  in  seine  Rechte 
und  lässt  nur  die  jeweils  besten  Individuen  durch  lange  Reihen  von 
Geschlechtern  ihre  Eigenschaften  vererben,  während  die  schlechter 
beanlagten  Individuen  untergehen. 

Wir  müssten  demnach  im  Menschengeschlecht  eine  stets  schöner 
und  kräftiger  blühende  Sippe  erzielen,  wenn  es  im  heutigen  Kampfe 
ums  Dasein  nicht  mehr  noch  auf  geistige,  als  auf  körperliche  Eigen- 
schaften dabei  ankäme. 

Allgemeine  Regeln,  den  günstigen  oder  ungünstigen  Einfluss 
der  Erblichkeit  auf  die  Körperbeschaffenheit  zu  bestimmen,  lassen 
sich  nicht  aufstellen.  Im  gegebenen  Falle  jedoch  wird  man  wohl 
häufig  im  Stande  sein,  denselben  nachweisen  zu  können.1 

Wenn  wir  also  das  Geschlecht,  das  Lebensalter  und  die  Erb- 
lichkeit zur  Beurtheilung  des  weiblichen  Körpers  herbeiziehen,  so 
haben  wir  zu  achten  auf  deutlich  ausgeprägte  secundäre  Geschlechts- 
charaktere, wir  müssen  für  die  betreffende  Frau  die  höchste  Blüthe- 
zeit  bestimmen  und  die  eventuellen  günstigen  und  ungünstigen  Ein- 
flüsse der  früheren  Geschlechter  der  Kritik  unterwerfen. 


Einfluss  von  Krankheiten.  63 

YII. 
Einfluss  von  Krankheiten  auf  die  Körperform. 

Viele  Krankheiten  können  bestehen  und  heilen,  ohne  irgend 
welche  Veränderung  der  Körperform  zu  verursachen,  andere  ver- 
ändern dieselbe  in  einer  Weise,  dass  selbst  dem  Laien  sofort  die 
Entstellung  auffällt,  in  weiteren  Fällen  hinterlässt  die  überstandene 
Krankheit  Fehler,  die  nicht  sofort  ins  Auge  springen  und  oft  selbst 
von  Sachverständigen  nur  mit  Mühe  gefunden  werden  können.  Mit 
der  ersten  Gruppe  von  Krankheiten,  zu  denen  namentlich  die  acuten 
Infectionskrankheiten,  wie  Typhus,  Scharlach,  Masern  u.  a.  gehören, 
haben  wir  hier  nichts  zu  machen.  Ebensowenig  mit  der  zweiten 
Gruppe;  denn  einen  Höcker,  eine  eingefallene  Nase,  Triefaugen, 
eine  Trichterbrust  oder  ein  zu  kurzes  Bein  wird  jeder  mit  Leichtig- 
keit erkennen  und  den  damit  Behafteten  ohne  weiteres  die  normale 
Körpergestaltung  absprechen. 

Die  dritte  Gruppe  von  Krankheiten  jedoch,  die  leichte  Abweichun- 
gen von  der  Norm  zurücklässt,  verdient  unsere  besondere  Beachtung. 

Da  die  äussere  Form  des  Köi-pers  in  erster  Linie  vom  Skelet, 
von  den  dasselbe  umkleidenden  Muskeln,  der  Haut  und  dem  Fett- 
polster abhängt,  so  sind  es  hauptsächlich  Krankheiten  dieser  Theile, 
die  hervorzuheben  sind,  erst  in  zweiter  Linie  Krankheiten  innerer 
Organe,  insoweit  sie  die  äussere  Form  beeinflussen. 

Unter  allen  diesen  Krankheiten  sind  wiederum  diejenigen  die 
wichtigsten,  die  den  Körper  in  seiner  Entwickelungszeit  befallen, 
weil  sie  dann  auf  die  zarten,  in  der  Bildung  begriffenen  Formen  viel 
nachhaltiger  einwirken  können  als  nach  erlangter  Reife. 

Von  Krankheiten,  die  vorwiegend  das'  Skelet  beeinflussen,  ist 
die  verbreitetste  und  bekannteste  die  sogenannte  englische  Krank- 
heit, die  Rhachitis.  Sie  tritt  meist  schon  im  1.  bis  4,  Lebensjahr, 
selten  später  auf.  Ihr  Hauptsymptom  ist  eine  eigenthümliche  Stö- 
rung im  Wachsthum  der  Knochen^),    die    wegen  zu  geringer  Kalk- 


^)  Vgl.  Vierordt,  Rhachitis  und  Osteonialacie,  1896.     Holder. 


64  Rhachitis. 

• 

ablagerung  weich  bleiben  und  an  den  Gelenkenden  sich,  verdicken. 
Die  weichen  Knochen  folgen  dem  Muskelzug  und  dem  Druck  der 
KörjDcrlast,  es  entstehen  Verkrümmungen,  die  namentlich  an  den 
Beinen  sehr  auffallend  sein  können,  wenn  die  kranken  Kinder  zum 
Gehen  veranlasst  werden.  Tritt  Heilung  ein,  dann  erfolgt  dabei 
eine  sehr  kräftige  Kalkablagerung,  durch  welche  die  Verkrümmungen 
der  Gliedmassen,  sowie  die  Verdickungen  der  Gelenkenden  als  blei- 
bende Verunstaltung  erhalten  werden. 

Ueber  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  Rhachitis  sind  die 
Auffassungen  sehr  getheilt,  weil,  wie  Vierordt  hervorhebt,  „die  ein- 
zelnen Beobachter  den  Begriff  der  Rhachitis  sehr  verschieden  weit 
fassen,  und  weil  das  Urtheil  über  Häufigkeit  und  Schwere  der  Rhachitis 
auch  sonst  nicht  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten  gewonnen  ist". 

Diese  Auffassung  von  Vierordt  kann  ich  aus  eigener  Erfah- 
rung noch  dahin  erweitern,  dass  eine  grosse  Anzahl  der  leichteren 
rhachitischen  Fälle  überhaupt  nicht  zur  ärztlichen  Beobachtung 
kommen.  Zur  Zeit  meiner  poliklinischen  Thätigkeit  in  Berlin  achtete 
ich  auf  diesen  Umstand  und  fand  unter  der  arbeitenden  Klasse  bei- 
nahe in  jeder  Familie  ein  oder  mehr  rhachitische  oder  rhachitisch 
gewesene  Kinder,   die  niemals  ärztlich  behandelt  worden  waren. 

Für  unseren  Zweck  handelt  es  sich  nicht  um  die  Schwere  der 
Krankheit,  sondern  lediglich  um  die  bleibenden  Veränderungen,  unter 
denen  die  Verkrümmungen  der  unteren  Extremitäten  obenan  stehen. 
Darum  glaube  ich,  dass  wir  den  von  Senator  und  Ritchie  gefundenen 
höchsten  Procentsatz  von  30  •'/o  als  Minimalzahl  des  wirklichen  Ver- 
hältnisses ansehen  dürfen. 

Am  häufigsten  findet  sich  die  Krankheit  in  der  arbeitenden 
Klasse  grösserer  Städte ,  also  gerade  in  derjenigen  Bevölkerungs- 
schicht, die  den  Künstlern  die  meisten  Modelle  liefert.  Wir  können 
annehmen,  dass  unter  hundert  Mädchen  aus  dem  Volke  mindestens 
dreissig  sind,   die  sicher  Rhachitis  gehabt  haben. 

Welcher  Gefahr  ein  Künstler  sich  aussetzt,  der  diesen  Umstand 
nicht  beachtet,  erhellt  aus  dem  Beispiel  von  Klein.  Dieser  Maler 
hat    ein  Urtheil    des  Paris ^)    gemalt,    in    dem    man    an   den  dicken 


')  Publicirfc  durch  die  Berliner  photographische  Gesellschaft. 


Rhachitisclie  Einflüsse.  ß5 

Hand-  und  Fussgelenken ,  aus  der  Verkrümmung  der  unteren  Ex- 
tremitäten mit  Sicherheit  nachweisen  kann,  dass  alle  drei  Göttinnen 
die  englische  Krankheit  gehabt  haben.  Aphrodite  erhält  offenbar 
den  Preis,  weil  sie  diese  Symptome  am  deutlichsten  aufweist.  Auch 
die  bekannte  Eva  von  Stuck  hat  in  ihrer  Jugend  eine  nicht  unbe- 
deutende Rhachitis  durchgemacht. 

Nach  Vierordt  sind  Mangel  an  Luft  und  Sonnenlicht,  schlechte 
Hautpflege  und  schlechte  Ernährung  von  schwerwiegender  Bedeutung 
für  die  Entwickelung  der  Rhachitis.  Aus  diesen  Gründen  findet  man 
sie  auch  seltener  in  besser  situirten  Kreisen. 

Die  wichtigsten  Veränderungen,  die  die  Rhachitis  hinterlässt, 
sind  die  folgenden: 

Verdickung  des  Handgelenks ,  namentlich  an  der  Seite  des 
kleinen  Fingers  (Ulnarköpfchen); 

Verkrümmung  des  Unterarms  und  schiefe  Stellung  desselben 
gegen  den  Oberarm; 

Verkrümmung  der  Wirbelsäule  und  des  Brustkorbes; 

Veränderungen  des  Beckens,  das  weniger  geräumig  wird  und 
dadurch  wieder  einen  grösseren  oder  geringeren  Grad  von  Hänge- 
bauch veranlassen  kann ; 

Verdickung  der  Knöchel  und  der  Gelenkenden  am  Knie; 

Verkrümmung  der  Unterschenkel  und  Oberschenkel,  0-Beine, 
Säbelbeine,  X-Beine,  Plattfuss. 

Die  schwereren  Einflüsse  der  Rhachitis,  wie  Knickungen  der 
Extremitäten,  Veränderungen  der  Schädelknochen,  sowie  der  rhachi- 
tische  Rosenkranz  (die  Auftreibung  der  Rippengelenke  am  Brust- 
bein) seien  hier  nur  beiläufig  erwähnt. 

Alle  diese  Abweichungen  können  in  der  weiteren  Entwicke- 
lung des  Körpers  zum  Theil  abgeschw*ächt  werden  und  auch  wohl 
ganz  verschwinden,  meist  aber  bleibt  die  Verdickung  der  Gelenke 
zeitlebens  bestehen. 

Zur  Erläuterung  der  angeführten  Thatsachen  dienen  die  fol- 
genden Beispiele. 

Fig.  19  stellt  ein  Mädchen  vor,  bei  der  noch  deutliche  Be- 
weise der  früheren  Rhachitis  zu  finden  sind. 

Am  linken  Arm  sieht  man  die  starke  Vorwölbung  des  Ulnar- 
stratz, Die  Scliönlieit  des  weibliclien  Körpers.  5 


m 


Rhachitische  Einflüsse. 


;yÄfe*(ö, 


endes  oberhalb  der  Klein- 
fingerseite des  Handge- 
lenks ,  sowie  eine  geringe 
Verkrümmung  des  Unter- 
arms. Am  linken  Bein 
bestellt  eine  charakte- 
ristisclie  Yerkrümmung 
des  Unterschenkels,  die 
namentlich  oberhalb  des 
inneren  Knöchels  hervor- 
tritt. Das  Fussgelenk 
selbst  ist  verdickt  und 
plump. 

Bei  einer  jungen 
Wienerin  (Fig.  20)  sehen 
wir  nur  ganz  geringe 
Spuren  der  überstande- 
nen  Rhachitis ;  am  linken 
Handgelenk  wieder  die 
Hervorwölbung  der  Gre- 
lenkenden  des  Unter- 
arms, am  rechten  Fuss- 
gelenk eine  leichte  Ver- 
dickung der  Knöchel. 

Ueber  Fehler  ande- 
rer Art  dieser  beiden 
Figuren  werden  wir  wei- 
ter unten  noch  zu  spre- 
chen haben. 

Neben  der  Rhachi- 
tis sind  alle  anderen 
Krankheiten ,  die  das 
Knochengerüst  betreffen, 
von  untergeordneter  Bedeutung,  da  sie  meist  so  tiefgreifende  Ver- 
änderungen der  betroffenen  Gliedmassen  hervorrufen,  dass  sie  für 
unsere  Zwecke   füglich   ausser  Betrachtung  bleiben  können.     Dahin 


Hl 


10.     .Mildokuu  mit  dcutliuliuii  Zcieliuu 
Üb  erstandener  Rhachitis. 


Krankheiten  der  Muskeln. 


67 


geliört  die  Knoclienerweicliung 
(Osteomalacie) ,  die  Knochen- 
markeiteriing  (Osteomyelitis)  und 
andere  melir. 

Der  zweite  Factor,  der 
die  äussere  Form  des  Körpers 
bestimmt,  ist  das  Fleisch,  die 
Muskeln. 

Abgesehen  von  einigen 
schwereren  Rückenmarkskrank- 
heiten, in  deren  Verlauf  ge- 
ringere oder  grössere  Muskel- 
complexe  zum  Schwund  kom- 
men, haben  Erb,  Landouzy, 
Dejerine,  Leyden  u.  a.  gewisse 
Krankheiten  beschrieben ,  in 
denen,  meist  bei  jugendlichen 
Individuen,  ganz  bestimmte  und 
stets  dieselben  Muskelgruppen 
erkranken,  erst  sich  verdicken 
und  dann  schrumpfen.  So  tritt 
in  der  einen  von  Erb  be- 
schriebenen Form  die  Erkran- 
kung meist  in  bestimmten  Mus- 
kelgruppen der  Schulter  und 
der  Oberarme  auf,  in  einer 
anderen  Grruppe  von  Fällen 
sind  es  Muskeln  des  Rückens 
und  der  Beine ,  die  zuerst  er- 
kranken. 

Charcot  ^)  hat  alle  diese 
verschiedenen  Formen  unter 
dem  Namen  der  „Myopathie 
primitive  progressive"  vereinigt. 


Fig.  20.    Mädchen  mit  Spuren  über- 
stanclener  Rliachitis. 


^)  Charcot,  Revision  nosographique  des  atrophies  musculaires  jorogr.  niedic. 
7.  3.  1885. 


68 


Myopathie. 


Erb-^)  hat  sich,  ihm  später 
angeschlossen  und  die  ver- 
schiedenen Krankheitsbilder 
unter  dem  Namen  „Dys- 
trophia muscularis  progres- 
siva" (etv^a  =  fortschreiten- 
der Muskelschwund)  zusam- 
mengefasst. 

Abgesehen  von  der  Func- 
tionsstörung  übt  diese  Krank- 
heit je  nach  ihrer  Localisation 
einen  starken  Einfluss  auf  die 
Form  und  die  Haltung  des 
Körpers  aus. 

Bei  der  einen  Form  z.  B. 
erkranken  am  Rumpf  und  den 
Schultern  hauptsächlich  die 
von  vorn  und  hinten  zur 
Schulter  tretenden  Muskeln 
(Pectorales,  Cucullaris,  Serra- 
tus  anticus  major,  Rhom- 
boideus ,  Sacrolumbalis  und 
Latissimus  dorsi) ,  während 
die  von  oben  hinzutretenden 
Muskeln  (Deltoideus,  Supra- 
spinatus ,  Infraspinatus  etc.) 
normal  bleiben.  Die  Folge 
davon  ist  Vornübersinken  des 
Kopfes  und  Halses,  Abstehen 
der  Schulterblätter  und  Ab- 
fiachung  der  oberen  Brust- 
gegend. An  den  unteren  Ex- 
tremitäten sind  es  vorwiegend 
die  grossen  Gesässmuskeln  (Grlutaei)  und  die  vorderen  Streckmuskeln 


Fig.  21. 


Myopathie  primitive  progressive 
nach  Loiide  und  Meige. 


^)  Erb,  Dystrophia  muscularis  progressiva.     Leipzig  1891. 


Hautkr  ankh  eiten , 


69 


des  Oberschenkels  (Quadri- 
ceps) ,  die  zuerst  von  der 
Krankheit  befallen  werden. 
Hiervon  ist  die  Folge  eine 
starke  vordere  Abflachung 
des  Oberschenkels  und  ein 
schärferes  Hervortreten  der 
Falte  zwischen  Hinterbacken 
und  Oberschenkel. 

Beide  oben  beschriebene 
Zustände  sind  in  ihrem  ersten 
Stadium  bereits  deutlich  er- 
kennbar in  Fig.  21,  die  der 
Monographie  von  Londe  und 
Meige^)  entnommen  ist. 

Man  vergleiche  damit 
Fig.  22,  eine  etwa  26jährige 
Berlinerin  mit  besonders  gut 
entwickelter  Muskulatur,  die 
mit  dem  kräftigen  Rücken, 
der  guten  Wölbung  von  Brust 
und  Oberschenkel  und  dem 
stumpfen  Winkel  zwischen 
Hinterbacken  und  hinterer 
Oberschenkelcontour  einen 
schlagenden  Gregensatz  zu  der 
ungefähr  gleichaltrigen  Pau- 
line C.  L.  (Fig.  21)  bildet. 

Krankheiten  der  Haut 
haben  kaum  einigen  Einfluss 
auf  die  allgemeine  Körper- 
form, wohl  aber  können  die 
zurückbleibenden  Narben  die  Glätte  und  Farbe  der  Körperoberfläche 
beeinträchtigen.     Man   denke   nur   an  die  entstellende  Wirkuno-   der 


■'■■  •ffl^if^tf^'^ 


Fig.  22.    Mädclien  von  26  Jahren  mit  kräftig 
entwickelter  Muslvulatur  (Berlinerin). 


^)  Iconograpliie  de  la  Salpetriere,  tome  VII,  planclie  XIX,  1894,  p.  442  ff. 


70  Schwindsucht. 

Pockennarben ,  die  man  gegenwärtig  glückliclierweise  viel  seltener 
zu  sehen  bekommt  als  vor  einigen  Jahrzehnten. 

Muttermäler  können  ebenfalls  sehr  hässlich  sein,  und  vom 
ärztlichen  Standpunkte  muss  man  auch  die  kleinen  schwarzen  Maler 
als  eine  Abnormität  ausschalten,  die  den  Namen  der  Schönheits- 
mäler  oder  grains  de  beaute  führen. 

Krankheiten,  die  ausschliesslich  das  unter  der  Haut  liegende 
Fettgewebe  ergreifen,  giebt  es  kaum.  Die  abnorm  starke  oder  ab- 
norm schwache  Ausbildung  von  Fett  ist  meist  eine  Folge  von  un- 
zweckmässiger Ernährung  und  Lebensweise.  Allgemeine  Fettsucht 
ergreift  den  ganzen  Körper  und  entstellt  ihn  in  einer  Weise,  die 
an    und   für   sich    die  Annäherung    an    die  Normalform  ausschliesst. 

Abgesehen  von  den  erwähnten  Krankheiten ,  die  direct  auf 
Knochen,  Muskeln  und  Haut  ihren  Einfluss  ausüben,  giebt  es  aber 
noch  eine  ganze  Reihe  von  inneren  Krankheiten,  die  diese  Theile 
gemeinschaftlich  und  damit  auch  die  allgemeine  Körperform  be- 
einflussen. 

Sie  alle  aufzählen,  hiesse  ein  Lehrbuch  der  physikalischen 
Diagnostik  schreiben.  Wer  Vollständigkeit  wünscht,  den  verweise 
ich  auf  das  bekannte  Lehrbuch  von  Vierordt^). 

Die  häufigste  und  wichtigste  dieser  Krankheiten  ist  die  Schwind- 
sucht, an  der  nach  Strümpell  ein  Siebtel  aller  Menschen  =  15  % 
sterben. 

Den  sogenannten  „phthisischen  Habitus",  d.  h.  diejenige 
Körpergestaltung,  die  auf  Anlage  zur  Schwindsucht  schliessen  lässt, 
beschreibt  Strümpell-)  folgendem! assen. 

„Die  Merkmale  des  , phthisischen  Habitus'  sind:  schmächtiger, 
dabei  oft  ziemlich  hoch  aufgeschossener  Körperbau,  schv/ächliche 
Muskulatur,  geringes  Fettpolster,  blasse,  oft  sehr  zarte,  bläulich 
durchschimmernde  Haut,  welche  an  den  Wangen  zuweilen  eine  um- 
schriebene Röthung  zeigt,  langer  schiiiächtiger  Hals,  schmaler  langer 
Brustkasten,  schmale  magere  Hände  u.  s.  w. 

Der    Brustkasten    zeichnet    sich    im    allgemeinen    durch  seine 


^)  Vierordt,  Diagnostik  der  inneren  Krankheiten.     Leipzig,  Vogel. 
^)  Strümpell,  Specielle  Pathologie  und  Therapie  der  inneren  Krankheiten, 
1894,  I,  p.  363. 


Schwindsucht. 


71 


Länge  aus,  ist  aber  dabei 
schmal  und  flach.  Mit  der 
Länge  des  Brustkorbes  hängt 
es  zusammen,  dass  die  ein- 
zehien  Zwischenrippenräume 
breit  sind,  der  "Winkel  in 
der  Herzgrube  ein  spitzer 
ist.  Das  Brustbein  ist  eben- 
falls lang  und  schmal,  der 
Winkel  zwischen  Griff  und 
Körper  zuweilen  besonders 
hervortretend;  die  oberen 
und  unteren  Schlüsselbein- 
gruben, ebenso  wie  die  Dros- 
selgrube eingesunken ,  die 
Schulterblätter  von  der  Brust- 
korbwand abstehend. " 

Fig.  23  stellt  ein  junges 
Mädchen  mit  beginnender 
Schwindsucht  vor,  welches 
die  genannten  Erscheinun- 
gen ziemlich  deutlich  zeigt. 
Ich  verdanke  dasselbe  der 
Freundlichkeit  von  Dr.  Roes- 
singh,  Director  des  städti- 
schen Krankenhauses  im 
Haag. 

Noch  deutlicher  sind 
die  äusserlichen  Zeichen  der 
Schwindsucht  in  der  oben- 
erwähnten Aphrodite  von 
Botticelli  ausgedrückt.  Der- 
selbe Typus  findet  sich  an 
der  nackten  Figur  des  Frühlings  in  der  Primavera  desselben  Meisters. 
Während  in  der  letzteren  die  dem  baldigen  Untergang  geweihte 
Blüthe    durch    die    körperlichen   Reize    einer    Schwindsüchtigen    vor- 


Fis.  2ä. 


20jäliriges  Miidclieii  mit  plitliisiscliem 
Habitus  (Holländerin). 


72  Skrofulöse.     Andere  innere  Krankheiten. 

trefflicli  zum  Ausdruck  kommt,  scheint  mir  bei  einer  Venus  dieser 
Typus  weniger  glücklich  gewählt  zu  sein. 

Mit  der  Schwindsucht  nahe  verwandt  und  wahrscheinlich  wie 
diese  durch  Vergiftung  des  Körpers  durch  Tuberkelbacillen  ver- 
ursacht, ist  die  Skrofulöse.  Der  Name  stammt  von  Scrofa, 
Schwein,  und  erklärt  sich  daraus,  dass  das  Gesicht  durch  Schwellung 
der  Halsdrüsen,  der  Nase  und  der  OberlijDpe  einen  an  das  Schwein 
erinnernden  Ausdruck  bekommt. 

Man  unterscheidet  zwei  Formen:  Die  eine,  die  sogenannte 
torpide  Skrofulöse,  ist  charakterisirt  durch  gedunsenes  Gesicht,  dicke 
Nase  und  dicke ,  vorstehende  Lippen ,  mit  oft  rüsselförmiger  Ver- 
längerung der  Oberlippe ,  Schwellung  und  Verdickung  .  der  Hals- 
drüsen, schmutzigbleiche  Hautfarbe,  spärliche  Muskulatur,  bei  ver- 
hältnissmässig  starker  Entwickelung  des  Unterhautfettgewebes, 
wodurch  die  Gestalt  ein  etwas  schwammiges  Gepräge  erhält,  dicker 
Bauch,  dünne  Extremitäten  und  oft  entzündete  Augenlider. 

Die  zweite  Form,  die  erethische  Skrofulöse,  ist  charakterisirt 
durch  massige  Röthe  der  Haut  und  magere  Körperformen  mit  starker 
Neigung  zur  Eiterung  in  den  geschwollenen  Drüsen;  der  Allgemein- 
zustand erinnert  an  den  phthisischen  Habitus. 

Bei  dieser  Form  der  Skrofulöse  wie  bei  den  Schwindsüchtigen 
finden  sich  meist  auffallend  tiefe,  glänzende  Augen  mit  langen,  meist 
dunklen  Wimpern,  die  viel  dazu  beitragen,  die  wehmüthige  Schön- 
heit des  kranken  Körpers  zu  erhöhen. 

Die  Skrofulöse  tritt  meist  im  späteren  Kindesalter  auf;  von 
allen  Erscheinungen  erhält  sich  neben  der  Schwellung  der  Hals- 
drüsen am  längsten  die  Verdickung  der  Oberlippe. 

Eine  liebenswürdige  Künstlerin  zeigte  mir  vor  einiger  Zeit  eine 
jugendliche  Psyche,  die  sie  getreu  nach  dem  lebenden  Modell  aus- 
geführt hatte.  Aus  der  Verdickung  der  Oberlippe  meinte  ich 
schliessen  zu  können,  dass  das  Modell  skrofulös  sei,  und  die  Künst- 
lerin bestätigte  mir,  dass  in  der  That  das  Mädchen  oft  erkältet  ge- 
wesen sei,  und  an  Drüsenschwellungen  am  Halse  und  entzündeten 
Augen  gelitten  habe.     Ex  ungue  leonem. 

Eine  weitere,  den  Aerzten  wohlbekannte  Körperbeschaffenheit 
ist  der  sogenannte  Habitus  apople oticus  und  emphysematosus. 


Kleidung.  73 

das  Aussehen  der  zu  Sclilagfluss  und  Asthma  neigenden  Individuen: 
kurzer  Hals,  gedrungener  Körper,  gedunsenes  und  geröthetes  Gre- 
sicht,  f'assförmiger  Brustkorb. 

Dieses  Aeussere  findet  sich  jedoch  meist  in  vorgerücktem  Alter, 
und  dann  auch  bei  Männern  häufiger  als  bei  Frauen,  so  dass  es 
uns  hier  nicht  weiter  interessiren  kann. 

Yon  allen  den  genannten  Krankheiten  sind  die  Rhachitis  und 
die  Schwindsucht  die  wichtigsten.  Wie  oben  gesagt,  leiden  an  eng- 
lischer Krankheit,  die  leichten,  ärztlich  nicht  behandelten  Fälle  aus- 
geschlossen, mindestens  30 ''/o  aller  lebenden  Menschen  und  sterben 
an  Schwindsucht  15  "/o.  Zusammen  also  45*^/0,  die  an  englischer 
Krankheit  und  an  Schwindsucht  leiden,  also  beinahe  die  Hälfte  aller 
jetzt  lebenden  Menschen.  Nun  können  allerdings  häufig  bei  ein 
und  demselben  Individuum  beide  Krankheiten  zugleich  auftreten, 
wodurch  der  Procentsatz  der  Gesunden  ein  wesentlich  besserer  würde. 
Dem  steht  aber  gegenüber,  dass  einerseits  die  leichteren  Fälle  von 
Rhachitis,  andererseits  die  geheilten  Fälle  von  Schwindsucht  in  dieser 
Berechnung  nicht  berücksichtigt  sind,  beides  Umstände,  die  das 
Verhältniss  wieder  wesentlich  ungünstiger  gestalten. 

Für  unsere  Zwecke  genügt  es,  festzustellen,  dass  wir  bei  der 
Bestimmung  der  Normalgestalt  mit  grosser  Sorgfalt  auf  die  Zeichen 
zu  achten  haben,  die  gerade  diese  beiden  Krankheiten  hervor- 
rufen, und  dass  wir  den  damit  behafteten  Frauen  die  anatomisch 
schöne,  i.   e.  normale  Gestalt  absprechen  müssen. 

Jedoch  dürfen  wir  dabei  nicht  vergessen,  dass  eine  ganze 
Reihe  von  Fällen  besteht,  in  der  beide  Krankheiten  ausgeheilt  sind, 
ohne  irgend  welche  Spuren  zu  hinterlassen. 


YIII. 
Einfluss  der  Kleider  auf  die  Körperform. 

Wahrheit  und  Dichtung  am  bekleideten  Weibe  von  einander 
zu  trennen  ist  schwer,  oft  unmöglich.  Die  Mode  ist  viel  weniger 
dazu    erschaffen,    Schönheiten    hervorzuheben,    als   vielmehr    Schön- 


74  Corset. 

heiten  zu  lieuchelii  und  Fehler  zu  verdecken,  und  darum  wird  alles 
Eifern  gegen  die  sogenannten  Modetliorheiten  immer  und  ewig  nutz- 
los bleiben. 

Schöne  Körper  werden  unter  jeglicher  Bekleidung  schön  er- 
scheinen, am  schönsten  natürlich,  wenn  sie  unverhüllt  sind ;  für  diese 
sind  keine  Modekünste  nöthig.  Da  die  Besitzerinnen  derselben  je- 
doch in  der  Minderzahl  sind,  so  sehen  sie  sich  gezwungen,  der 
Uebermacht  ihrer  weitaus  zahlreicheren  Schwestern  zu  weichen,  die 
bestrebt  sind,  sich  vortheilhafter  zu  zeigen,  als  die  Natur  es  ihnen 
gestattet  hat.  Zur  Erreichung  dieses  Zweckes  werden  wieder  die- 
jenigen Mittel  die  beliebtesten  und  verbreitetsten  sein,  die  einer 
möglichst   grossen  Anzahl   von  Frauen   zu  statten   kommen  können. 

Hat  einmal  die  Mode  eine  derartige  Bestrebung  geheiligt,  dann 
ist  wieder  jede  einzelne  Frau  bestrebt,  ihre  Schwestern  zu  über- 
bieten, und  so  entstehen  Uebertreibungen,  die  sich  mehr  und  mehr 
vom  Normalen  entfernen,  die  Grenzen  des  Schönen  überschreiten, 
nun  aber  auch  durch  ihre  Unzweckmässigkeit  eine  bleibende  Schä- 
digung des  normalen  Körpers  veranlassen  können. 

Unter  allen  Vorzügen  des  weiblichen  Körpers  gilt  als  einer 
der  wichtigsten  die  schlanke  Mitte,  und  um  diese  hervorzuzaubern, 
bediente  man  sich  des  Schnürleibs  in  allen  möglichen  Formen  ^). 

Vom  Hippokrates  bis  Sömmering  haben  viele  und  gelehrte 
Herren  gegen  das  Corset  geeifert,  und  viele  werden  es  nach  ihnen 
auch  thun,  aber  alle  ohne  Erfolg.  Die  Corsetbedürftigen  unter  den 
Frauen  haben  dasselbe  stets  beibehalten  und  werden  es  behalten, 
so  lange  die  Erde  besteht. 

Ich  bin  kein  Gegner  des  Corsets,  wohl  aber  ein  Gegner  des 
Missbrauchs,  der  damit  getrieben  wird.  Schlecht  gebauten  Frauen 
das  Corset  abzurathen,  ist  hoffnungslos.  Ich  habe  mich,  und  zwar 
mit  Erfolg,  damit  begnügt,  die  gutgebauten  Frauen  vor  den  schäd- 
lichen Folgen  desselben  zu  bewahren,  wenn  es  noch  Zeit  war. 

Um  den  moralischen  Werth  des  Corsets  zu  begreifen,  müssen 
wir  uns  zunächst  deutlich  machen,  was  eine  Taille  ist,  und  was 
man  darunter  zu  verstehen  gfewohnt  ist. 


')  Vgl.  Witkowsky,  Les  seins  et  Fallaitement,  Maloine  1898.  —  Chap.  IV, 
l'histoire  du  corset. 


Taille. 


75 


Die  natürliche  Form 
der  Taille  zeigt  ein  java- 
nisches Mädchen  (Fig.  24) 
von  gutem  Bau,  das  nie 
in  seinem  Leben  ein  Cor- 
set  getragen  hat. 

Trotz  guter  Fülle 
des  Körpers  kommt  die 
schlanke  Taille  gut  zum 
Ausdruck. 

Dieser  Ausdruck  be- 
ruht nicht  auf  dem  abso- 
luten Umfang  der  schma- 
len Mitte,  sondern  auf  dem 
Gegensatz  der  schmäle- 
ren Mitte  zu  den  breiteren 
Hüften  und  Schultern. 

Dass  die  Breite  der 
Schultern  ein  wichtiger 
Factor  ist,  beweist  ein 
Blick  auf  Fig.  25,  die 
den  Rücken  einer  jungen 
Berlinerin  darstellt;  hier 
erscheint  die  Taille  trotz 
breiterer  Hüften  viel  we- 
niger schlank,  weil  der 
Brustkorb  in  beinahe  ge- 
rader Linie  nach  oben 
verläuft,  so  dass  der 
Körper  am  unteren  Rand 
der    Schulterblätter    bei- 


Fig.  2-A. 


Javauisclies  Mädchen,  das  nie  ein  Corset 
getragen  hat. 


nahe  ebenso  breit  ist  als 
in  der  Taille. 

Als  natürliche  Bedingung  einer  schlanken  Taille  müssen  wir 
demnach  annehmen,  dass  von  der  schmälsten  Stelle  am  unteren  Rand 
des  Brustkorbes  die  Körpercontour  in  weich  auslaufender  Wellenlinie 


76 


Folgen  des  Sclinürens. 


sich,    nach    unten    und    ebenso  nach    oben  verbreitert;    dabei   ist  der 
absolute  Umfang  der  schmälsten  Stelle  vollständig  Nebensache. 

Im  gewöhnlichen  Leben,  aber  namentlich  unter  den  Frauen 
selbst,  urtheilt  man  anders.  Man  spricht  höchstens  von  langer  oder 
kurzer    Taille,    hauptsächlich    jedoch    vom    absoluten    Umfang    der 

Gürtelhöhe.  Eine  Taille  von 
60  cm  ist  schön,  eine  von 
50  cm  entzückend  u.  s.  w. 
Aber  der  Mensch  ver- 
suche die  Götter  nicht  und 
begehre  nimmer  und  nimmer 
zu  schauen,  was  sie  gnädig 
bedecken.  — 

Meinert  ^)  und  andere 
haben  den  Schleier  gelüf- 
tet und  nachgewiesen,  dass 
Schnürlebern  und  Magen- 
senkung ,  Bleichsucht  und 
Stuhlverstopfung ,  Lungen- 
und  Herzkrankheiten  durch 
zu  starkes  Zusammenpressen 
des  unteren  Brustumfangs 
hervorgerufen  werden. 

Von     diesen     schweren 

inneren  Schäden  abgesehen, 

haben    wir    uns    hier    aber 

noch  zu  fragen:    Wird,  mit 

so  viel  Opfern  an  Gesundheit 

und   Lebensfreude,    der    eigentliche  ZAveck,    die  Verschönerung    des 

Körpers,  erreicht  oder  nicht?    Die  Antwort  lautet:    Scheinbar  wohl, 

in  Wirklichkeit  nicht. 

Der  grossen  Masse  imponirt  die  so  erzeugte  schlanke  Taille, 
der  Erfahrene  kann,  selbst  an  der  bekleideten  Frau,    an  dem  Miss- 


Fig.  23.    G-ypsalig'uss  nach  der  Leiche  einer 

jugendlichen  Selbstmörderin 

(1.  anatomisches  Institut.    Berlin). 


^)  Centralblatt  für  innere  Medicin,  1896,  12  und  13.    Sammlung  klinischer 
Vorträge,  1895,  Nr.  115,  116. 


Folgen  des  Sclmürens. 


77 


verliältniss    der  dünnen  Mitte    zu   den  übrigen  Theilen   des  Körpers, 
die  verborgenen  Fehler  meistens  erkennen. 

Am  entkleideten  Körper  tritt  die  Verunstaltung  für  jeden  deut- 
lich hervor. 


Fig.  2ü.     Mädehentorsü  ülme  Schnüi'furehe  (WiL-iieriiij. 


Bei  einem  nicht  entstellten  Mädchentorso  (Fig.  26)  geht  der 
Umriss  des  Brustkorbs  v^^eich  in  die  Linien  des  Unterleibs  über, 
dessen  gleichmässige  flache  Wölbung  durch  das  Vortreten  der 
Muskeln,  namentlich  rechts  und  links  von  der  Mittellinie  oberhalb 
des  Nabels  markirt  wird;  der  am  stärksten  vortretende  Theil  ist  die 
fettreichere  Umgrebuns:  des  Nabels. 


78 


Folgen  des  Schnürens. 


Als  erster  Einfluss  des  Schnürens  zeigt  sicli  zunäclist  oberhalb 
des  Nabels  eine  querverlaiifende  Furche,  die  eine  schärfere,  nicht 
natürliche    Abgrenzung    des    Rumpfes    in    einen  oberen   und  unteren 


Fiff.  27.    Mädchen  mit  deutlicher  8chnürfurclie  (Oesterreicherin). 


Abschnitt  hervorruft;  die  unterhalb  dieser  Linie  liegenden  weichen 
Theile  des  Unterleibes  werden  nach  unten  und  vorn  gepresst:  der 
Bauch  wird  rund  und  tritt  heraus.  Fig.  27  zeigt  diese  Entstellung 
an  einem  übrigens  schön  gebauten  Körper.  Im  weiteren  Verlauf 
wird  die-  Einschnürung  immer  schärfer,  der  Bauch  darunter  tritt 
mehr  und  mehr  hervor  (Fig.  28).    In  Folge  der  geringen  Wölbung 


Folgen  des  Sclmürens. 


79 


des  Brustkastens  ziehen  die  Brüste  melir  und  mehr  herunter.  Durch 
die  starke  Einschnürung  der  Bauchmuskehi,  namenthch  der  geraden, 
die  vom  Schambein  zum  Brustbein  hinziehen,  ist  das  Relief  des 
Unterleibes  zerstört,  zugleich  aber  auch  dessen  Hauptstütze,  so  dass 
er  schlaff  herunterhäno:t  und  zum  Häns'ebauch  wird. 


i'*«»*.^. 


Fig.  28.    Mädchen  mit  sehr  starker  Einschiiürtmg. 

Ein  solcher  Körper  wird  durch  die  erste  Schwangerschaft, 
durch  jeden  noch  so  geringen  Fettansatz  endgültig  entstellt:  Bauch 
und  Brüste  werden  dicker  und  schlaffer  und  hängen;  statt  fder 
Taille  bildet  sich  eine  querverlaufende  wulstige  Falte,  und  nur  das 
Corset  ist  noch  im  Stande,  eine  Zeit  lang  die  verlorene  Form  vor- 
zutäuschen, die  es  selbst  verdorben  hat. 


80  Stiefel  und  Strumpfbänder. 


Ebenso  wie  die  Bauchmuskeln,  beeinflusst  ein  Missbrauch  des 
Corsets  auch  die  Rückenmuskehi  in  ihrer  Entwickelung  und  Wirkung. 

Frauen,  die  an  das  Corset  gewöhnt  sind,  fühlen  sich  rasch  er- 
müdet und  klagen  über  Schmerzen  im  Rücken,  wenn  sie  einige  Zeit 
ohne  Corset  sich  bewegen.  Der  Rücken  erscheint  dann  hohl,  flach  und 
wenig  modellirt  in  Folge  des  geringeren  Yortretens  der  Muskelwülste. 

Der  nachtheilige  Einfluss  des  Corsets  ist  um  so  grösser,  je 
stärker  es  geschnürt  wird,  je  höher  es  ist  und  je  früher  es  an- 
gelegt wird. 

Es  ist  leicht  zu  begreifen,  dass  in  den  Entwickelungsjahren, 
wo  das  Gerüst  des  wachsenden  Körpers  noch  zart  und  biegsam  ist, 
ein  verhältnissmässig  viel  geringerer  Druck  genügt,  um  die  Form 
zu  beeinflussen,  ebenso,  dass  die  Arbeit  der  Rumpfmuskeln  bei  einem 
hohen  Corset  viel  stärker  und  in  grösserer  Ausdehnung  beeinträchtigt 
wird,  als  bei  einem  niederen,  das  nur  wie  ein  breiter  Gürtel  die  Mitte 
umspannt.  Dass  endlich  bei  stärkerem  Schnüren  die  Druckwirkung 
entsprechend  erhöht  wird,  ist  auch  ohne  weiteres  einleuchtend. 

Nun  haben  aber  anatomische  Untersuchungen-^)  ergeben,  dass 
Bauernweiber,  die  überhaupt  kein  Corset  trugen,  oft  viel  stärkere 
Schnürfurchen  zeigten,  als  eingeschnürte  Damen,  und  zwar,  weil  die- 
selben die  Rockbänder  stark  anzogen,  die  dann  ihre  ganze  Wirkung 
auf  eine  kleinere  Fläche  um  so  kräftiger  geltend  machten.  Daraus 
ein  Argument  zu  Gunsten  des  engen  Corsets  ableiten  zu  wollen,  ist 
nicht  erlaubt.  Wohl  aber  lässt  sich  daraus  ableiten,  dass  das  Corset 
als  Stützpunkt  für  die  Kleider  des  Unterkörpers  völlig  gerechtfertigt 
ist,  dass  aber  andererseits  das  Corset  nicht  dazu  missbraucht  werden 
darf,  um  eine  künstliche  Taille  zu  formiren. 

Nach  der  schlanken  Taille  kommt  der  kleine  Fuss ,  den  jede 
Frau  gern  haben  möchte  und  dem  zu  Liebe  sie  die  angeborene 
Schönheit  dieses  Körpertheils  durch  unzweckmässige  Bekleidung 
verdirbt. 

Eine  Künstlerin,  deren  Hauptaufgabe  die  Darstellung  des  weib- 
lichen Körpers  in  seiner  höchsten  Vollendung  ist,  klagte  mir,  dass 
sie  noch  nie  in  ihrem  Leben  einen  schönen  weiblichen  Fuss  —  nicht 


^)  Siehe  Meinert  1.  c. 


Stiefel  und  Strumpfbänder. 


81 


Stiefel  —  gesehen  habe.  Sie  war 
noch  jung;  aber  ich  muss  ge- 
stehen, dass  unter  den  zahlreichen 
weiblichen  Füssen,  die  ich  ge- 
sehen habe,  nur  wenige  sind,  die 
vor  einer  strengeren  Kritik  stand- 
halten. Hauptsächlich  ist  es  die 
Verdrehung  der  grossen  Zehe  nach 
aussen  und  die  Krallenstellung 
der  kleineren  Zehen,  die  den  Fuss 
verunstalten. 

Als  drittes  Grlied  in  der  Kette 
des  schädlichen  Einflusses  mo- 
derner Frauenkleidung  ist  das 
Strumpfband  zu  nennen,  das  je 
nach  dem  Geschmack  der  Trägerin 
entweder  die  Form  der  Wade  oder 
die  des  Knies  verdirbt.  Die  Rem- 
brandt'schen  Modelle  haben  das 
Erstere  vorgezogen. 

Nach  Lücke  ^)  soll  aber  auch 
die  jetzt  übliche  Befestigung  der 
Strümpfe  von  Kindern  am  Leib- 
chen Veranlassung  geben  zu  Ver- 
krümmung der  Beine. 

Man  hätte  demnach  die  Wahl 
zwischen  Schnürfurchen  am  Knie 
oder  an  der  Wade  und  krummen 
Beinen,  wenn  man  es  nicht  vor- 
zieht, kurze  Socken  oder  sehr  lange, 
bis  zur  Mitte  des  Oberschenkels 
reichende  Strümpfe  zu  tragen. 

Die  Entstellung  der  Wade 
durch  den  Druck  der  StrumjDfbänder  zeigt  Fig.  29  deutlich  ausgeprägt. 


Fig.  29.    Druckfurclieu  der  Strumpfbänder 

imterhalb  der  Kniee  bei  einem 

23jälirigen  Mädchen. 


^)  Citirt  bei  Hoffa,  Orthopädische  Chirurgie,  1894,  p.  112. 
Stratz,  Die  Scliönlieit  des  weiblichen  Körpers. 


82       Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten. 

Wir  haben  hiermit  die  drei  wichtigsten  Theile  der  weiblichen 
Kleidung,  welche  die  Schönheit  des  Körpers  beeinträchtigen  können, 
besprochen,  und  haben  demnach  des  weiteren  zu  achten  auf  Ver- 
unstaltung des  Rumpfes  durch  Schnüren  und  Rockbänder,  der  Füsse 
durch  drückende  Schuhe,  der  [Kniee  und  Waden  durch  Strumpf- 
bänder, 


IX. 

Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen 
nach  diesen  Gesichtspunkten. 

Wie  wir  sahen,  ist  die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers  ab- 
hängig von  gewissen,  mehr  weniger  fest  umschriebenen  Gesetzen, 
die  theils  empirisch  und  statistisch,  theils  exact  und  deductiv  ge- 
wonnen sind. 

Bei  deren  Anwendung  müssen  wir  aber  den  naturwissenschaft- 
lichen Standpunkt  auch  insofern  wahren,  dass  wir  trotz  der  Ge- 
setze kritisch  individualisiren  und  nicht  blindlings  schematisiren. 

Diese  Gefahr  ist  hauptsächlich  bei  den  auf  empirischem  und 
statistischem  Wege  gefundenen  Thatsachen  sehr  naheliegend.  Haben 
wir  bei  Yergleichung  einer  grossen  Anzahl  von  Individuen  einen 
gewissen  Werth  gefunden,  so  ist  das  ein  Durchschnittswerth ,  der 
höchstens  als  unterste  Grenze  des  Normalwerthes ,  in  keinem  Falle 
aber  als  massgebend  für   „das  normale  Individuum"   gelten  darf. 

So  hat  R.  von  Lariseh  (Der  Schönheitsfehler  des  Weibes.  München  1896) 
die  Behauptung  aufgestellt,  dass  die  Weiber  zu  kurze  Beine  hätten  und  als  Be- 
weis 100  von  ihm  ausgeführte  Messungen  von  Modellen  geliefert. 

Die  Messungen  von  Lariseh  beweisen  nur ,  dass  es  viele  Weiber  mit 
kurzen  Beinen  giebt,  und  namentlich  unter  Künstlermodellen;  dies  ist  aber  bei 
Männern  genau  ebenso  der  Fall  und  beruht  in  beiden  Fällen  beinahe  immer 
auf  Rhachitis. 

Wollen  wir  einen  Normalwerth  bestimmen,  so  ist  nicht  die 
Zahl,  sondern  die  Wahl  der  betreffenden  Individuen  das  Massgebende. 


Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten.       83 

Wir  müssen  vorerst  alle  Individuen  ausmerzen,  die  aus  irgend  einem 
Grunde  den  Anspruch  auf  Normalität  verloren  haben. 

Normal  in  diesem  Sinne  ist  aber,  wie  sich  zeigen  wird,  auch 
schön. 

Ich  habe  gestrebt,  diesem  Grundsatze  so  getreu  wie  möglich 
zu  folgen. 

Ebenso  wie  der  künstlerische,  ist  auch  der  ärztliche  Blick  an- 
geboren. Man  braucht  weder  Arzt  noch  Künstler  zu  sein,  um  beide 
zu  besitzen.  Es  giebt  aber  nicht  nur  farbenblinde,  sondern  auch 
formenblinde  Menschen,  die  beides  in  grösserem  oder  geringerem 
Masse  entbehren,  und  auch  von  diesen  sind  leider  so  manche  Aerzte 
und  Künstler. 

Der  Künstler,  sowie  der  Arzt  schärft  seinen  Blick  durch  die 
Uebung,  und  um  sich  von  der  Richtigkeit  desselben  zu  überzeugen, 
sind  beide  gezwungen,  gewisse  technische  Hülfsmittel  zu  gebrauchen, 
die  ihnen  ermöglichen ,  die  gewonnenen  Gesichtseindrücke  mit  ab- 
soluten Werthen  zu  vergleichen. 

Wir  haben  hier  nun  zunächst  nur  mit  der  Art  und  Weise  zu 
thun,  wie  man  sich  vom  ärztlichen  Standpunkte  den  richtigen  Ein- 
druck von  der  Form  des  weiblichen  Körpers  verschafft,  und  hierbei 
haben  wir,  ebenso  wie  bei  einem  Patienten,  zunächst  die  Gestalt  im 
allgemeinen  zu  betrachten,  bevor  wir  zur  Beurtheilung  der  einzelnen 
Theile  übergehen. 

Wichtig  ist  es,  dass  man  zunächst  den  völlig  entkleideten 
Körper  so  aufstellt,  dass  das  volle  Licht  gleichmässig  darauf  fällt,  also 
dem  Fenster  gegenüber.  Bei  schräger  Beleuchtung  ist  es  schwierig, 
die  rechte  mit  der  linken  Körperhälfte  vergleichen  zu  können.  Der 
Beschauer  stellt  sich,  auf  einigen  Abstand,  mit  dem  Rücken  nach 
dem  Fenster,  der  zu  beurtheilenden  Person  genau  gegenüber. 

Die  Körperhaltung  muss  die  aufrechte,  militärische  sein,  jedoch 
so,    dass  die  Füsse  in  ihrer  ganzen  Länge  sich  berühren  (Fig.  30), 

In  dieser  Stellung  kann  man  sich  zunächst  über  die  Pro- 
portionen, das  Verhältniss  der  einzelnen  Körj)ertheile  zu  einander 
und  zum  Ganzen  orientiren,  und,  wo  nöthig,  dem  Auge  mit  Zirkel 
und  Bandmass  nachhelfen.  Streng  wissenschaftlichen  Anforderungen 
entspricht  der  Zander'sche  Messapparat. 


84      Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten. 


Zu  rasclier  Orientirung  genügt  es, 
einige  Hauptmasse  zu  nelimen,  die  durch 
vergleichende  Messungen  an  gut  ge- 
bauten Körpern  festgestellt  sind: 

A.  H  ö  h  e  n  m  a  s  s  e, 

1 .  Die  Körperhöhe  ist  7  ^,'2  bis 
7^/4  Mal  so  gross  als  die  Kojjfhöhe; 
in  sehr  seltenen  Fällen  ist  das  Verhält- 
niss  1:8.  Die  durchschnittliche  Körper- 
höhe von  europäischen  Frauen  ist  158 
(nach  Quetelet). 

2.  Die  Körpermitte  (Fig.  30x) 
ist  gleich  der  halben  Gesammthöhe;  sie 
liegt  bei  der  Frau  ungefähr  an  der 
oberen  Haargrenze  des  Schamberges. 
Eine  auch  nur  geringe  Verschiebung 
derselben  nach  oben  deutet  auf  einen 
Fehler  in  den  unteren  Extremitäten. 

3.  Bei  richtiger  Länge  der  Arme 
muss  das  Ellbogengelenk  in  der  Höhe 
der  Taille,  das  Handgelenk  in  der  Höhe 
des  Schambergs  stehen,  wenn  der  Arm 
ruhig  herabhängt. 

4.  Die  Länge  der  Beine  ist  be- 
reits bestimmt  durch  den  Stand  der 
Körj)ermitte.  Wenn  die  Beine  ganz  ge- 
rade und  gut  geformt  sind,  müssen  sie 
sich  in  der  angegebenen  Stellung  an 
vier  Punkten  berühren,  nämlich  am 
oberen   Drittel   des  Oberschenkels ,    am 

Knie,  an  der  Wade  und  am  Fussgelenk.  Bei  jugendlichen  Individuen 
mit  noch  nicht  voll  entwickelten  Waden  kann  der  dritte  Berührungs- 
punkt fehlen,  ohne  dass  darum  die  Form  der  Beine  eine  schlechte  wird. 
Berühren  sich  die  Kniee  bei  geschlossenen  Knöcheln  nicht, 
dann    sind    die  Beine    nach    aussen    gekrümmt  (0-Beine) ,    berühren 


Fig.  30. 
Symmetrische  Körperhaltung 


Beurtheilung  des  Körpers  im  allgemeinen  nach  diesen  Gesichtspunkten.       g5 

sicli  bei  geschlossenen  Knieen  die  Knöchel  nicht,   dann  sind  die  Beine 
nach  innen  gekrümmt  (X-Beine). 

Der  oberste  Berührungspunkt  ist  abhängig  von  der  Fülle  der 
Oberschenkel. 

B.  Breitenm  asse. 

1.  Die  Schulterbreite  ist  beim  weiblichen  sowie  beim  männ- 
lichen Körper  das  absolut  grösste  von  allen  Breitenmassen ;  die  ge- 
naue Messung  ist  erschwert  durch  die  grosse  Beweglichkeit  und  den 
wechselnden  Hoch-  und  Tiefstand  der  Schulter.  Am  sichersten  misst 
man  von  oben  her  vom  äussersten  Rand  des  Schulterblatts,  dem 
Acromion,  aus  (Schultergelenkbreite). 

2.  Die  Taillenbreite  ist  der  schmälste  Durchmesser  des 
Rumpfes  am  unteren  Rippenrand. 

3.  Die  Hüftbreite  ist  am  grössten  in  der  Höhe  der  von 
aussen  fühlbaren  Vor  Sprünge  der  Oberschenkelknochen  (Trochanteren)^ 
ja  sogar  unter  denselben;  zur  Bestimmung  des  Masses  ist  es  am 
empfelilenswerthesten,  durch  die  Haut  hin  diese  Knochenvorsprünge 
abzutasten  und  von  ihnen  aus  zu  messen.  Die  Hüftgelenkbreite  ist 
schwieriger  zu  bestimmen  wegen  Unzugänglichkeit  des  Hüftgelenks; 
sie  beträgt  die  Hälfte  der  Schultergelenkbreite. 

Aus  dem  Yerhältniss  dieser  drei  Masse  ergiebt  sich  die  cha- 
rakteristische Form  des  gutgebauten  weiblichen  Rumpfes. 

Bei  25  wohlgebauten  Frauen    fand   ich  folgendes  Verhältniss : 

Körperlänge 155 — 170 

•  Schulterbreite 35 — 40 

Taillenbreite 19—24 

Hüftbreite 31—36. 

Es  ergab  sich ,  dass ,  ganz  unabhängig  von  der  Körperlänge^ 
die  Breitenmasse  stets  so  angeordnet  waren,  dass  die  Hüftbreite  um 
4  cm,  die  Taillenbreite  um  16  cm  geringer  war  als  die  Schulter- 
breite. 

Will  man  weitere  Masse  nehmen,  dann  kann  man  dazu  ent- 
weder die  Richer'sche  Eintheilung  in  Kopfhöhen  oder  die  Fritsch'sche 
oder  Langer'sche  Methode  benutzen. 


86 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 


Fig.  31.    Männliche  Normalgestalt 
nacli  Merkel. 


Fig.  32.    Weibliche  Normalgestalt 
nach  Merkel  (vgl.  Fig.  8). 


Die  oben  angegebenen  Masse  genügen  jedoch  zur  Beurtheilung 
der  allgemeinen  Verhältnisse  der  Figur.  Ausserdem  aber  hat  man 
mit  den  Breitenmassen  bereits  einen  der  wichtigsten  secundären 
Geschlechtscharaktere,  die  weibliche  Bildung  des  Rumpfes,  fest- 
gestellt. 

Die    secundären   Geschlechtscharaktere    sind   deutlich 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 


87 


Fig.  33.    Mauuliclie  Normalgestalt 
von  hinten  nach  Merkel. 


Fig.  34.    Weibliche  Normalgestalt 
von  hinten  nach  Merkel. 


aus  den  Fig.  31 — 34^)  zu  erkennen,  welche  die  männliclie  und  weib- 
liche Normalscestalt  nach  Merkel  darstellen. 


')  Fr.  Merke],  Handbuch  der  topographischen  Anatomie.  Vieweg,  1896, 
Bd.  II,  p.  182  und  256.  Autor  und  Verleger  waren  so  liebenswürdig,  die  Repro- 
duction  der  vortrefflichen  Figuren  zu  gestatten.  Die  Verhältnisse  der  Eeproduction 
zum  Original  sind  138:165;   die  Originale  sind  V'o  natürliche  Grösse. 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 

Für  den  Rumpf  sind  die  Masse  an  den  Merkerschen  Normal- 
figuren : 

Mann  Weib 

Körperlänge ,165,5  158 

Schulterbreite 47  37 

Taillenbreite 25  23 

Hüftbreite 32,5  34. 

Abgesehen  von  der  absoluten  Grösse  der  Masse  ist  namentlicli 
wichtig,  dass  der  Unterschied  zwischen  Hüftbreite  und  Schulterbreite 
beim  Manne  12,5,  beim  Weibe  nur  3  cm  beträgt.  Das  Ueberwiegen 
der  Hüften  im  Yerhältniss  zu  den  Schultern  ist  der  wichtigste  von 
den  secundären  Greschlechtscharakteren  des  Weibes.- 

Weiter  sieht  man  aus  diesen  Figuren  die  grössere  Zierlichkeit 
des  Skeletes  und  die  grössere  Breite  des  Beckens,  sowie  die  durch 
Ausbildung  der  Brustdrüsen  veränderte  Gestalt  des  Oberkörpers  und 
die  runderen  Formen  des  Weibes. 

Allgemein  wurde  bisher  angenommen,  dass  der  Lendentheil  der 
weiblichen  Wirbelsäule  grösser  sei  als  der  des  Mannes.  Merkel 
hat  nachgewiesen,  dass  dies  allerdings  der  Fall  ist,  wenn  man  die 
Vorderseite  der  Lendenwirbel  misst,  dass  man  aber  genau  das  um- 
gekehrte Verhältniss  findet  bei  Yergleichung  der  Rückseite  der  Lenden- 
wirbelkörper, denn  da  sind  die  des  Mannes  grösser.  Daraus  folgt, 
dass  die  weibliche  Wirbelsäule  in  der  Lendenkrümmung  stärker  ge- 
bogen ist  als  die  männliche ,  eine  Thatsache,  die  mit  der  stärkeren 
Neigung  des  weiblichen  Beckens  in  Zusammenhang  steht. 

Für  die  äussere  Form  des  Körpers  ergiebt  sich  aus  dieser  Beob- 
achtung als  weiterer  Geschlechtscharakter,  dass  das  weibliche  Kreuz 
mehr  eingezogen  und  die  Rückenlinie  im  Profil  stärker  gebogen  er- 
scheint als  die  des  Mannes. 

Dieser  Unterschied  zeigt  sich  deutlich  in  Fig.  35. 

Hat  man  sich  so  über  die  Proportionen  und  die  Ausbildung 
des  Geschlechtscharakters  im  allgemeinen  orientirt,  so  muss  man  des 
weiteren  die  ,^symmetrische  Entwickelung  des  Körpers  be- 
urtheilen. 

Dies  gelingt  in  gewissem  Sinne  auch  bei  Betrachtung  der 
Figur  von  vorne  in  der  oben  beschriebenen  Stellung.    Besser  jedoch 


Symmetrisclie  Entwickelung.     Ernährungszustand. 


89 


ist  es ,  zu  diesem  Zwecke  die  zu  untersuchende  Person  sich  gerade 
ausgestreckt  auf  den  Rücken  legen  zu  lassen,  hinter  das  Haupt  der- 
selben zu  treten  und  von  hier  aus  in  der  Verkürzung  die  rechte  mit 
der  linken  Körperhälfte  zu  vergleichen.  Unregelmässigkeiten  treten 
hierbei  viel  schärfer  hervor. 


Fig.  35.    Weiblicher  und  männlicher  Torso  im  Profll  nach  Thomson. 


In  zweifelhaften  Fällen,  deren  Zahl  bei  einiger  Uebung  sich 
rasch  vermindert,  muss  die  directe  Messung  entscheiden. 

Ueber  den  Ernährungszustand  entscheidet  das  Körper- 
gewicht. Dieses  wird,  wie  oben  gesagt,  nach  der  Vierordt'schen 
Formel  aus  der  Körj)erlänge  und  dem  Brustumfang  über  den  Brust- 
warzen berechnet.  Das  normale  weibliche  Durchschnittsgewicht 
schwankt  zwischen  52  und  60  kg.  Ein  werthvolles  Zeichen  zur 
Beurtheilung  der  Ernährung  ist  das  Aussehen  der  Haut,  ihre  Span- 
nung, ihr  Glanz  und  ihre  Farbe. 

Eine  gesunde  Haut   schmiegt  sich   glatt  und    ohne  Falten  der 


90  Ernährungszustand.    Haut. 


Körperoberfläclie  an;  die  natürlichen  Falten  in  den  Beugestellen 
gieichen  sich  aus  bei  Streckung  der  Gliedmassen.  Namentlich  bei 
der  Frau  werden  durch  das  Fettpolster  alle  vorspringenden  Ecken 
und  Kanten  des  Knochengerüstes  ausgeglichen,  an  Stellen,  an  denen 
die  Haut  an  den  darunter  liegenden  Theilen  fester  haftet,  bilden 
sich  Grübchen,  so  am  Kinn,  in  den  Wangen,  auf  den  Schultern,  am 
Ellbogen,  im  Kreuz.  Nimmt  man  eine  Falte  der  Haut  mit  den 
Fingern  auf,  so  glättet  sie  sich  sofort  wieder.  Die  Schädigung  der 
Spannung  der  Haut  durch  starke  Abmagerung  ist  oben  schon  er- 
wähnt. Wenn  die  Spannung  mit  dem  Alter  schwindet,  bilden  sich 
Runzeln,   die  zuerst  an  den  Augen  auftreten  (Krähenfüsse). 

Die  Haut  hat  einen  matt  sammetartigen  Glanz  von  Aveicher 
Glätte.  Dichter  vergleichen  denselben  mit  Elfenbein,  Alabaster  und 
Marmor;  die  Künstler  aber  wissen,  wie  schwierig  es  ist,  dem  Marmor 
und  dem  Elfenbein  das  Aussehen  der  Haut  zu  geben. 

Die  Oberfläche  ist  nicht  gleichmässig  glatt,  sondern  von  zahl- 
reichen kleinsten  Spalten  durchsetzt,  so  dass  sie  gewissermassen  ein 
zusammengewachsenes  allerfeinstes  Netzwerk  bildet,  und  eine  klein- 
körnige Oberfläche  erhält.  Je  kleiner  das  Korn,  desto  zarter  ist  der 
matte  Glanz  der  Haut.  Bei  schlechter  Ernährung,  bei  Krankheiten 
wird  die  Haut  welk  und  trübe,  bei  zu  starker  Talgabsonderung  er- 
hält sie  einen  fettigen,  spiegelnden  Glanz. 

Die  Farbe  der  Haut  zu  beschreiben  ist  ebenso  schwierig  als 
sie  darzustellen.  Sie  wird  mit  Rosen  und  Lilien,  Milch  und  Blut, 
Wachs  und  Schnee,  selbst  mit  neugeborenen  Schafen  verglichen,  der 
Maler  benutzt  ausser  Weiss,  Yermillon,  Kobalt  und  gelbem  Ocker 
alle  Farben  seiner  Palette,  um  die  Nuancen  der  Menschenhaut  wieder- 
zugeben. Die  obersten  Schichten  der  Haut  sind  matt  durchsichtig, 
so  dass  alle  darunter  liegenden  Theile  je  nach  der  Dicke  der  Haut 
ihr  mehr  weniger  ihre  Farbe  mittheilen  und  so  die  verschiedenen 
Nuancen  der  Haut  begründen.  Die  dunkelrothen  Venen  erscheinen 
bläulich,  der  brünette  Ton  ist  eine  Folge  der  stärkeren  Pigments- 
anhäufung in  der  Lederhaut,  die  bräunlich  durchschimmert.  Je  zarter 
die  Haut  ist,   desto  lebhafter  wird  das  Colorit  sein. 

Die  nicht  bedeckten  Theile  der  Haut  erhalten  durch  die  Ein- 
wirkung der  Kälte  und  des  Lichtes  eine  stärkere  Färbung.     Deshalb 


Fettgewebe.     Muskeln.  91 

röthet  sich  das  Gesicht,  wenn  man  viel  im  Freien  sich  bewegt,  mid 
erscheint  bleich  bei  Menschen,  die  ihr  Leben  in  geschlossenen  Räumen 
zubringen. 

Dass  die  Wangen  stets  ein  höheres  Roth  zeigen  als  das  übrige 
Gresicht,  erklärt  sich  daraus,  dass  dort  die  arterielle  Blutversorgung 
am  reichlichsten  und  die  Haut  am  zartesten  ist.  Die  Röthe  der 
Wangen  bleibt  auch  bei  allgemeiner  Blässe  noch  lange  erhalten. 

Von  der  gesunden  Röthe  hat  man  die  sogenannte  hektische 
Röthe  zu  unterscheiden,  auf  die  ^wir  weiter  unten  noch  zurück- 
kommen. 

Bei  guter  Ernährung  ist  die  Haut  im  allgemeinen  weisslich 
mit  einem  rosigen  Schimmer;  gelbliche  oder  bläuliche  Verfärbung 
deutet  auf  Krankheiten,  aber  auch  auf  eiweissarme,  schlechte  Er- 
nährung. 

Ebenso  wie  die  Haut ,  ist  auch  das  unter  ihr  liegende  Fett- 
polster an  verschiedenen  Stellen  des  Körpers  von  wechselnder  Dicke. 
Wie  sich  dasselbe  vertheilt,  wird  noch  weiter  unten  besprochen; 
jedoch  ist  festzuhalten,  dass  bei  der  Frau  im  allgemeinen  die  Haut 
dünner  und  das  Fettpolster  dicker  ist  wie  beim  Manne.  Darum  findet 
man  bei  der  Frau  auch  nie  die  scharf  umschriebenen,  durch  Furchen 
begrenzten  Muskeln,  die  sich  bei  männlichen  Arbeitern  finden. 

Kräftige  Muskelarbeit  schädigt  bei  einem  Weibe  beinahe  nie- 
mals die  Schönheit  der  äusseren  Formen,  was  ich  mehrmals  bei 
Akrobatinnen  und  Reiterinnen  feststellen  konnte. 

Es  ist  oben  schon  hervorgehoben,  dass  durch  zu  starken  und 
ausschliesslichen  Grebrauch  einer  bestimmten  Muskelgruppe  der  har- 
monische Eindruck  des  Granzen  leiden  kann.  Um  das  beurtheilen  zu 
können,  ist  eine  genauere  Kenntniss  der  Muskeln  des  menschlichen 
Körpers  nöthig. 

Man  kann  sich  dieselben  noch  anschaulicher  machen,  wenn 
man  das  zu  untersuchende  Individuum  Bewegungen  ausführen  lässt, 
wobei  sich  die  einzelnen  Muskeln  verdicken. 

Wir  kommen  auf  die  Muskeln  und  ihren  Einfluss  auf  die  Form 
der  einzelnen  Theile  des  Körpers  noch  zurück.  Bei  einiger  Uebung 
wird  man  bald  im  Stande  sein,  durch  einen  raschen  Blick  sich  über 
die  gleichmässige  Entwickelung  derselben   aus    der  Modellirung  des 


92  Lebensweise  und  Erblichkeit. 

Körpers  zu  überzeugen.  lieber  die  Schulter-  und  Brustmuskeln 
orientirt  man  sieb  am  besten,  wenn  man  die  Arme  bis  über  den 
Horizont  langsam  beben  und  senken  lässt,  über  die  Bauch-  und 
Rückenmuskeln  durch  Beugen  und  Strecken  des  Oberkörpers;  über 
die  Muskeln  der  Beine  durch  Gehbewegungen.  Wenn  die  Rundung 
der  Formen  hauptsächlich  durch  Fett  bedingt  ist,  werden  bei  all 
diesen  Bewegungen  die  Körperformen  verhältnissmässig  wenig  beein- 
flusst ;  bei  gut  ausgebildeter  Muskulatur  aber  treten  die  durch  die 
Muskeln  bedingten  Rundungen  deutlich  hervor. 

Wir  haben  oben  hervorgehoben,  dass  ausser  der  Ernährung 
und  Entwickelung  auch  die  Lebensweise  und  die  Erblichkeit 
einen  grossen  Einfluss  auf  die  äussere  Körperform  ausüben,  einen 
Einfluss,  bei  dem  sich  nicht  immer  genau  bestimmen  lässt,  in  wie 
weit  das  eine  oder  das  andere  der  genannten  Momente  ihn  hervor- 
gebracht hat.  Durch  die  beiden  letzteren,  die  Lebensweise  und  die 
Erblichkeit,  ist  namentlich  bedingt  die  Individualität,  d.  h.  die- 
jenigen Abweichungen  von  dem  allgemeinen  Schema,  die 
der  einzelnen  Gestalt  ihr  charakteristisches  Gepräge 
verleihen. 

Man  kann,  wie  Langer  ^)  hervorhebt,  aus  der  grossen  Zahl  der 
Individualitäten  wiederum  grössere  GrujDpen  mit  gemeinschaftlichen 
Merkmalen  zusammenstellen,  und  z.  B.  grosse,  mittelgrosse  und 
kleine,  schlanke  und  gedrungene  Gestalten  von  einander  scheiden. 
Langer  findet  dabei,  dass  auch  diese  Gruppen  gewissen  Gesetzen 
unterworfen  sind,  so  dass  sich  meist  gross  und  schlank,  klein  und 
gedrungen  zusammenfindet.  Dies  sind  jedoch  individuelle  Schwan- 
kungen, die  sich  alle  auf  das  Verhältniss  zwischen  den  Proportionen 
der  Längen-  und  Breitenmasse  des  Körpers  zurückführen  lassen. 
Das  Individuum,  gleichgültig  ob  es  gross  oder  klein,  schlank  oder 
gedrungen  ist,  kann  nur  dann  für  normal  gelten,  wenn  seine  Pro- 
portionen den  oben  aufgestellten  Gesetzen  entsprechen. 

Ich  glaube,  dass  sich  allgemein  gültige  Gesetze  zur  Beurtheilung 
der  Individualität  vorläufig  nicht  aufstellen  lassen,  dass  aber  die  Be- 
achtung der  Individualität  im  gegebenen  Falle  ein  strenges  Gebot  ist. 


^)  Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  79. 


Individualität.     Höchste  Blütlaezeit.  9B 


Ich  glaube,  dass  selbst  ein  Apelles  nicht  im  Stande  war,  durch 
Vereinigung  der  Vorzüge  der  12  schönsten  Mädchen  von  Kroton 
einen  lebensfähigen  Körper,  sei  es  auch  nur  im  Bilde,  zu  erschaffen, 
weil  dabei  die  harmonische  Ausbildung  des  einzelnen  Individuums 
nicht  mehr  zur  Geltung  kommen  konnte. 

Gerade  weil  uns  die  Gesetze,  nach  denen  sich  jeder  einzelne 
Körper  als  Mikrokosmus  ausbildet,  nur  zum  Theile  bekannt  sind, 
wird  auch  der  darstellende  Künstler,  wenn  er  sich  von  seinem 
Modell  entfernt,  Gefahr  laufen,  Fehler  gegen  die  Naturwahrheit  zu 
begehen. 

Wir  können  uns  hier  mit  der  Aufstellung  folgender  Sätze  für 
die  Würdigung  der  Individualität  begnügen: 

Jede  Frau  hat  ihre  eigene  Individualität,  die  sie  von 
allen  anderen  Individuen  ihrer  Art  unterscheidet.  Diese 
Individualität  ist  begründet  auf  gewissen  Abweichungen 
von  den  allgemeinen  Regeln.  Diese.  Abweichungen  geben 
dem  Körper  sein  persönliches  Gepräge  und  sind  nicht  als 
Fehler  anzusehen,  so  lange  sie  sich  innerhalb  der  auf- 
gestellten Grenzen  der  Gesetze  über  Proportionen,  sym- 
metrische Entwickelung,  gleichmässige  Ausbildung  und 
secundären  Geschlechtscharakter  halten. 

Demnach  kann  z.  B.  eine  sehr  scharf  ausgeprägte  vererbte 
Individualität  bei  einer  Frau  die  Schönheit  beeinträchtigen,  weil  sie 
einen  der  wichtigsten  secundären  Geschlechtscharaktere,  die  Weich- 
heit der  Formen,  verwischt.  So  kann  eine  vom  Vater  ererbte  lange 
Nase  die  Harmonie  der  Formen  im  Gesichte  der  Tochter  zerstören, 
während  sie  beim  Sohne  die  Kraft  der  Züge  erhöht. 

Haben  wir  uns  in  dieser  Weise  über  die  richtigen  Proportionen, 
über  Ernährung  und  symmetrische  Entwickelung,  über  die  gute  Aus- 
bildung der  secundären  Geschlechtscharaktere,  über  die  Individualität 
des  zu  untersuchenden  Weibes  unterrichtet,  so  bleibt  nur  noch  übrig, 
den  Zeitpunkt  der  höchsten  Blüthe  zu  bestimmen,  bevor  wir  zur 
genaueren  Betrachtung  der  einzelnen  Körpertheile  übergehen. 

Ob  eine  Frau  ihre  höchste  Blüthezeit  erreicht  oder  über- 
schritten hat,  lässt  sich  bei  einmaliger  Untersuchung  oft  schwer 
ausmachen. 


94  Höchste  Blüthezeit. 

Im  allgemeinen  nimmt  man  an,  dass  der  weibliclie  Körper  mit 
dem  23.  Lebensjahre  völlig  ausgebildet  ist,  docb  ist  bereits  oben 
darauf  hingewiesen  worden,  dass  das  Lebensalter  in  dieser  Beziehung 
sehr  grossen  individuellen  Schwankungen  unterworfen  ist. 

Grössere  Sicherheit  bietet  noch  das  Auftreten  der  ersten  Men- 
struation. Je  später  diese  sich  einstellt,  desto  wahrscheinlicher  tritt 
auch  die  höchste  Blüthezeit  später  ein. 

Einen  weiteren  Anhaltspunkt,  um  die  grössere  oder  geringere 
Ausbildung  des  Körpers  zu  beurtheilen,  haben  wir  an  den  Propor- 
tionen. Beim  neugeborenen  Mädchen  ist  im  Verhältniss  der  Kopf 
am  grössten,  die  Extremitäten  am  kleinsten.  Um  die  volle  Aus- 
bildung zu  erreichen,  muss  sich  der  ganze  Körper  um  reichlich  das 
Dreifache  vergrössern;  dabei  wächst  der  Kopf  bis  zum  Doppelten, 
der  Rumpf  bis  zum  Dreifachen,  die  Beine  bis  zum  Vierfachen  ihrer 
ursprünglichen  Länge.  Der  Kopf  hat  meist  schon  gegen  das 
13.  Lebensjahr  seine  bleibende  Länge  erreicht,  der  Rumpf  ebenfalls, 
die  Beine  jedoch  erreichen  dieselbe  viel  später.  Da  nun  aber  die 
Körpermitte  um  so  tiefer  reicht,  je  länger  die  Beine  werden,  so 
muss  der  tiefste  Stand  derselben  mit  dem  vollendeten  Wachsthum 
zusammenfallen.  Demnach  ist  die  Wahrscheinlichkeit,  dass  wir  es 
mit  einem  ausgebildeten  Körper  zu  thun  haben,  um  so  grösser,  je 
tiefer  die  Körpermitte  steht.  Jedoch  behält  sie  diesen  tiefsten  Stand 
auch  noch  zu  einer  Zeit,  in  der  die  höchste  Blüthe  verstrichen  ist, 
und  darum  können  die  Proportionen  uns  höchstens  dazu  dienen,  den 
nicht  völlig  gereiften  vom  reifen  Körper  zu  scheiden,  nicht  aber  vom 
überreifen.  —  Den  sichersten  Anhaltspunkt  zur  Entscheidung  dieser 
Frage  bildet  die  jeweilige  Beschaffenheit  der  Brüste.  Die  höchste 
Blüthezeit  der  Brüste,  und  damit  des  Körpers,  ist  dann  erreicht,  wenn 
die  pralle  Form  derselben  durch  die  harte  Drüse,  nicht  aber  durch 
Fettablagerung,  ihre  höchste  Ausbildung  erlangt  hat. 

Aus  dem  Vorstehenden  ist  ersichtlich,  dass  wir  zur  Erhebung 
des  Befundes  nicht  umhin  können,  einige  Fragen  an  die  untersuchte 
Person  zu  stellen.  Das  Alter,  das  Eintreten  der  ersten  Menstruation, 
Beschäftigung,  Lebensweise  und  Familienverhältnisse  können  für  uns 
wichtige  Handhaben  sein,  um  Lidividualität,  höchste  Blüthe  u.  a.  m. 
richtier   beurtheilen   zu    können.     Wir    sind   also  in   srewissem  Sinne 


Beurtheilung  der  einzelnen  Körpertheile.  95 

gezwungen,  eine  „Anamnese"  aufzunehmen,  und  unser  Urtlieil  zum 
Theil  auf  Aussagen  zu  stützen,  die  wir  von  dem  Subject  der  Unter- 
suchung selbst  erhalten  haben. 

Dabei  ist  jedoch  darauf  zu  achten,  dass  diese  Anamnese,  ebenso 
wie  in  der  ärztlichen  Welt,  nur  einen  subjectiven  Werth  hat,  d.  h. 
dass  wir  sie  nur  dann  als  glaubwürdig  ansehen  dürfen ,  wenn  sie 
mit  dem  von  uns  erhobenen  objectiven  Befund  übereinstimmt. 

Dies  ist  eine  wissenschaftliche  Forderung  und  keineswegs  ein 
Misstrauensvotum  für  die  Frauen  im  allgemeinen  oder  für  das  unter- 
suchte Individuum  im  besonderen. 


X. 
Beurtheilung  der  einzelnen  Körpertheile. 

Wie  wir  beim  Krankenexamen  nach  der  allgemeinen  Betrach- 
tung des  Körpers  seine  Organe  einer  näheren  Untersuchung  unter- 
werfen, so  müssen  wir  auch  hier  uns  nun  ausführlicher  mit  den 
einzelnen  Körpertheilen  beschäftigen.  Die  Untersuchung  ist  insofern 
schwieriger,  als  wir  im  ersten  Falle  bestrebt  sind,  bestehende  Fehler 
aufzusuchen,  im  letzteren,  mögliche  Fehler  auszuschalten.  Je  gün- 
stiger unser  Ergebniss  ist,  desto  eher  können  wir  mit  jenem  alten 
Greneral  ausrufen:  Ich  sehe  wieder  viele,   die  nicht  da  sind. 

Wenn  wir  bei  der  Betrachtung  des  Körpers  im  allgemeinen 
darauf  gewiesen  haben,  dass  es  wichtig  ist,  das  Licht  voll  und 
gleichmässig  von  vorn  auf  den  Körper  fallen  zu  lassen,  so  müssen 
wir  hier  hervorheben,  dass  es  zur  richtigen  Beurtheilung  seiner 
Theile  oft  wünschenswerth  ist,  dieselben  in  seitlicher  und  halber 
Beleuchtung  zu  betrachten,  weil  dadurch  die  Einzelheiten  der  Bil- 
dung schärfer  hervortreten  (vgl.  Fig.   22). 

Ausserdem  aber  sind  wir  oft  genöthigt,  die  einzelnen  Körper- 
theile in  verschiedene  Stellungen  zu  bringen.  Beim  Kopf  genügt 
die  Betrachtung  im  Profil  und  in  en   face ,    beim  Rumpf  und    noch 


96 


Kopf. 


mehr  bei  den  Gliedmassen  werden  wir  sehen,  dass  wir  damit  oft 
nicht  einmal  auskommen,  ja  dass  wir  sogar  die  verschiedenen  Phasen 
der  Bewegungen  zu  Hülfe  nehmen  müssen. 

a)   Kopf. 

Die  Form  des  Kopfes,  als  Ganzes  betrachtet,  ist  im  wesent- 
lichen abhängig  von  der  Bildung  des  Schädels.  Da  nun  aber  von 
100  Kindern  97  in  Schädellage  geboren  werden,  wobei  der  bei  der 
Geburt   nach    hinten   liegende  Theil  der  Schädelwölbung  eine  wenn 


Fig.  36.    Weiblicher  (a)  und  mäniiliclier  (h)  Schädel.    Modificirt  nach  Ecker. 

auch  noch  so  geringe  Abflachung  erleidet,  die  selten  völlig  wieder 
ausgeglichen  wird,  so  sind  in  weitaus  den  meisten  Fällen  die  Schädel 
asymmetrisch.  Meist  ist  jedoch  diese  Abweichung  so  gering,  dass 
wir  damit  nicht  zu  rechnen  brauchen. 

Die  secundären  Geschlechtscharaktere  sind  am  Schädel  deut- 
lich ausgeprägt  (Fig.  36).  Zunächst  ist  die  Grösse  sowie  der  Inhalt 
des  Gehirnschädels  bei  der  Frau  geringer,  und  ebenso  die  Grösse 
des  Gesichtsschädels,  verglichen  mit  dem  Gehirnschädel. 

Die  Wölbung  des  Schädeldaches  ist  beim  Manne  stärker  und 
gleichmässiger ;  bei  der  Frau  ist  der  Scheitel  flacher  und  setzt  sich 
im  Profil  von  der  Stirn  und  vom  Hinterhaupt  in  schärferem  Winkel 
ab  als  beim  Manne.  Dadurch  wird  die  Stirngegend  bei  der 
Frau  kürzer  und  verläuft  mehr  senkrecht  als  beim  Manne. 


Kopf.     Haare.  97 

Von  vorn  gesehen  ist  die  Stirn  der  Frau  gleiclimässig 
rund  gewölbt,  während  beim  Manne  die  Stirnhöcker  kräftig  aus- 
gebildet sind  und  der  Stirn  eine  mehr  eckige  Form  geben.  Der 
Gesichtsschädel  der  Frau  erscheint  breiter  und  weniger  hoch,  und 
im  Verhältniss  zum  Hirnschädel  kleiner  als  beim  Manne. 

Im  allgemeinen  ist  damit  der  Geschlechtsunterschied  am  Schädel 
der  folgende: 

Männerschädel:  eckig,  hoch,  mit  üeberwiegen  des  Gesichtstheils. 

Weiberschädel :  rund,  breit,  mit  Üeberwiegen  des  Gehirntheils. 

Bei  der  Betrachtung  der  lebenden  Frau  ist  es  im  Profil  nament- 
lich die  Knickung  zwischen  Stirn  und  Scheitel  und  en  face 
die  relative  Kleinheit  und  Rundung  des  Gesichts,  welche 
der  Beobachtung  zugänglich  sind,  und,  gut  ausgeprägt,  den  Vorzug 
rein  weiblicher  Bildung  in  sich  schliessen. 

Das  starke  Hervortreten  xler  Stirnhöcker,  das  sich  in  der  Regel 
erst  beim  erwachsenen  Manne  deutlich  ausprägt,  kann  bei  beiden 
Geschlechtern  schon  in  jugendlichem  Alter  auftreten  und  zwar  als 
Folge  von  englischer  Krankheit  (Tete  carree).  Abgesehen  vom 
jugendlichen  Alter  erkennt  man  den  krankhaften  Ursprung  solcher 
Schädelbildung  meist  an  dem  gleichzeitigen  Vorhandensein  rhachi- 
tischer  Zeichen  an  anderen  Körpertheilen. 

Die  übrige  Form  des  Schädels  wird  durch  die  Haare  verdeckt, 
welche  beim  Manne,  auch  wenn  man  sie  nicht  abschneidet,  nie  so 
lang  werden  als  bei  der  Frau. 

Die  Haare  der  Frau  erreichen  eine  durchschnittliche  Länge 
von  75  cm  (Ranke)  und  sind  ausserdem  dicker  als  beim  Manne 
(Virchow).  Sie  können  aber  auch  eine  Länge  von  150  cm  und  mehr 
erreichen').  Demnach  bildet  langes  und  reichliches  Kopfhaar 
einen  secundären  Geschlechtscharakter  der  Frau  und  damit  einen 
Vorzug  weiblicher  Bildung,  der  um  so  grösser  wird,  je  länger  und 
je  reichlicher  das  Haupthaar  im  gegebenen  Falle  ist. 

Der  wichtigste  Theil  nicht  nur  des  Kopfes,  sondern  des  Körpers 
überhaupt    ist    das  Angesicht.     Ln  Gesicht    ist    die   Individualität 


^)  Bei  vier  Frauen  mit  besonders  schönem  Haar  habe  ich  120,  126,  130 
und  153  cm  gemessen;  in  München  fand  ich  1899  eine  Dame  von  164  cm 
Körperlänge  mit  Haaren  von  155  cm  Länge. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weililiclieii  Körpers.  7 


98 


Gesicht. 


am  stärksten  ausgedrückt.  Das  Gesicht  ist  stets  unbedeckt  und 
häufiger  und.  gründlicher  Beobachtung  ausgesetzt:  jedermann  kennt 
die  feinen  Nuancen  seines  Ausdrucks,  wenn  er  auch  nicht  die  Er- 
klärung dafür  zu  geben  vermag. 

Man  ist  so  sehr  gewöhnt,  allein  nach  dem  Gesicht  zu  urtheilen, 
dass  eine  schöne  Bildung  desselben  alle  Fehler  des  Körpers  ver- 
gessen   lässt,    ein    hässliches  Gesicht    aber   trotz   aller  Vorzüge    des 

übrigen  Körpers  ein  Verdammungsurtheil 
in  sich  schliesst. 

Wenn  wir  uns  darüber  Rechenschaft 
geben  wollen ,  welche  Anforderungen 
man  anatomisch  an  die  schöne  Gesichts- 
bildung stellen  darf,  so  müssen  wir  zu- 
erst auf  die  embryonale  Entwickelung 
derselben  zurückgreifen. 

Wir  haben  bereits  oben  beispiels- 
weise (Fig.  21)  die  Entwickelung  des 
Gesichts  herangezogen  und  erwähnt, 
welchen  Einfluss  die  Ausbildung  des 
mittleren  Nasenfortsatzes  auf  die  Form 
der  Oberlippe  ausübt. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  noch- 
mals die  Kopfform  eines  menschlichen 
Embryo  aus  der  sechsten  Woche,  so 
sehen  wir,  dass  das  Gesicht  in  der 
Hauptsache  aus  sieben  Fortsätzen  gebildet  wird,  einem  unpaarigen, 
dem  mittleren  Nasenfortsatze ,  und  drei  paarigen,  den  seitlichen 
Nasenfortsätzen,  den  Oberkieferfortsätzen  und  den  in  der  sechsten 
Woche  bereits  verwachsenen  Unterkieferfortsätzen  (Fig.  37). 

Von  der  gleichmässigen  Entwickelung  dieser  Fortsätze  hängt 
im  wesentlichen  die  regelmässige  Form  des  Gesichtes  ab,  und  zwar 
sind  es  die  Oberkieferfortsätze,   die  dabei  die  Hauptrolle  spielen. 

Jeder  der  erwähnten  Fortsätze  enthält  in  der  Anlage  die  Haut, 
die  Muskeln,  die  Blutgefässe,  die  Nerven  und  die  Knochen  des  zu- 
künftigen Gesichtes ;  die  letzteren  sind  es  namentlich,  an  denen  wir 
einen  Massstab  zur  Beurtheilung  gewinnen  können. 


37.    Kopf  eiues  Embryo  aus 
der  seclisten  Woche. 
(nl  und  nm  seitliclie  nud  mittlerer 
Nasenfortsatz  des  Stirnlappens, 
ms  Oberkieferfortsätze,  mi  Unter- 
kieferfortsätze.) 


Gesicht.  99 

Vergleiclieu  wir  mit  der  Embryonalanlage  den  Schädel  eines 
neugeborenen  Kindes  (Fig.  38),  so  sehen  wir,  dass  die  den  drei  Nasen- 
fortsätzen angehörigen  Knochen ,  die  Nasenbeine  und  der  Mittel- 
kiefer, an  Wachsthum  durch  die  Knochen  des  Oberkiefers  und 
Jochbogens  weit  überholt  sind. 

Die  Oberkieferknochen  bilden  den  Mittelpunkt,  um  den  sich 
die  übrigen  Knochen  des  Gesichts  anordnen,  wie  man  sich  leicht  an 
beistehender  Figur  (38)  überzeugen  kann.  Zunächst  bilden  sie  in 
Vereinigung  mit  dem  schmalen  Mittelkiefer,  die  obere  Begrenzung 
des  Mundes  und  die  untere  der  Nase;  durch  die  nach  oben  sich 
weiterschiebenden  Fortsätze  begrenzen  sie  einen  Theil  der  Augen- 
höhle und  scheiden  diese  von  der  Nase.  Augen,  Mund  und  Nase, 
die  wichtigsten  Theile  des  Gesichtes,  sind  dadurch  in  Abhängigkeit 
gebracht  von  der  Entwickelung  des  Oberkiefers. 

Gehen  wir  nun  einen  Schritt  weiter  und  vergleichen  den 
Schädel  des  Neugeborenen  mit  dem  der  erwachsenen  Frau,  so  tritt 
der  Einfluss  des  Wachsthums  des  Oberkiefers  sofort  deutlich  vor 
Augen  (Fig.  39,  40). 

Sind  die  oberen  Ausläufer  des  Oberkiefers  zu  stark  entwickelt, 
so  wird  die  Wurzel  der  'Nase  breit  und  die  Augen  treten  mehr  aus 
einander  (Fig.  40),  sind  die  mittleren  Theile  zu  mächtig,  so  schieben 
sie  die  Jochbogen  nach  aussen  und  die  Backenknochen  treten  stärker 
hervor,  während  zugleich  die  Nase  einen  stärkeren  Winkel  nach 
vorn  macht. 

Von  der  Entwickelung  des  unteren  Theiles  hängt  zunächst,  wie 
erwähnt,  die  Bildung  der  Oberlippe  ab.  Tritt  der  Oberkiefer  in 
schräger  Richtung  nach  vorn  voraus  (Prognathie),  ist  er  dabei 
kräftig  entwickelt,  dann  beherrscht  er  die  übrigen  Theile  des  Ge- 
sichts und  bildet  den  Typus,  der  bei  den  Negern  ein  Rassenmerk- 
mal ist.  Mit  dieser  Verstärkung  der  oberen  Mundparthie  geht  aber 
Hand  in  Hand  eine  Verkürzung  und  Verbreiterung  der  Nasengegend, 
so  dass  diese  in  die  Höhe  gebogen  und  breiter  wird  und  zugleich 
in  der  Ansicht  von  vorn  die  Oeffnung  der  Nasenlöcher  sichtbar 
macht.  Meist  verbindet  sich  damit  eine  stärkere  Ent^rickelung  des 
Unterkiefers  (Fig.  40). 

Wenn    jedoch    die    unteren   Parthien    des    Oberkiefers    schmal 


100 


Gesicht. 


bleiben  und  ziigleicli  mehr  senkrecht  sich  stellen  (Orthognathie), 
dann  tritt  die  Mundparthie  mehr  zurück,  zugleich  aber  wird  die 
Nase  schmäler  und  länger  in  ihrem  unteren  Theil  (Fig.  39). 


Fig.  38.    Scliädel  eines  Neugeborenen. 
Die  rothe  Linie  umgiebt  den  Gesiclitstlieil  des  Oberkieferluioclien. 


Fig.  39.    Schädel  einer  Frau  mit  schmalem 
und  langem  Oberkiefer. 


Fig.  40.    Schädel  einer  Frau  mit  kurzem 
und  breitem  Oberldefer. 


Aus  allen  diesen  Momenten  ergeben  sich  zahlreiche  Verschieden- 
heiten der  Gesichtsbildung. 

Dass    die    anderen    Gresichtsknochen    auch   mehr    oder  weniorer 


Gesicht.  101 

dazu  beitragen  können,  liegt  auf  der  Hand.  Wer  sicli  dafür  inter- 
essirt,  findet  Ausführlicheres  darüber  bei  Langer^). 

Wir  haben  uns  hier  auf  den  Oberkiefer  als  den  weitaus  wich- 
tigsten der  Gresichtsknochen  beschränkt. 

Nun  ist  aber  die  Frage,  welche  Bildung  desselben  die  beste  ist. 

Es  ist  hier  der  Platz,  um  Stellung  zu  nehmen  in  einer  Frage, 
die  schon  lange  die  Gremüther  beschäftigt  und  in  der  verschiedensten 
Weise  beantwortet  ist.  Man  sagt,  dass  der  Europäer  stets  die 
europäische  Frau  am  schönsten  finden  wird,  der  Chinese  dagegen 
die  Chinesin,  der  Neger  die  Negerin,  wie  der  Hund  die  Hündin  oder 
der  Hahn  die  Henne.  Daraus  will  man  ableiten,  dass  der  Schön- 
heitsbegriff individuell  und  undefinirbar  ist. 

Ich  möchte  daraus  vielmehr  ableiten,  dass  der  Schönheitsbegriff 
mehr  oder  minder  entwickelt  ist,  und  dass  ein  Hahn  geringere  An- 
sprüche stellt  als  ein  Hund,  dieser  geringere  als  ein  Neger  und  so 
weiter.  Massgebend  ist  allein  die  Auffassung  des  höchstentwickelten 
Individuums,  und  es  erscheint  mir  nicht  zweifelhaft,  dass  der  Indo- 
germane  und  seine  Abstämmlinge  auf  den  ersten  Platz  mit  Recht 
Anspruch  erheben  dürfen. 

Der  schlagendste  Beweis  ist,  dass  wir  sehen,  wie  diese  Rasse 
nicht  nur  in  Europa  selbst,  sondern  auch  in  allen  anderen  Welt- 
theilen  die  übrigen  allmählig  zurückdrängt  und  ausrottet.  In  Amerika 
sind  jetzt  schon  die  Rothhäute  zu  zählen,  in  einigen  hundert  Jahren 
wird  man  mit  Schaudern  in  alten  Märchen  lesen,  dass  es  Menschen 
mit  schwarzer  Haut  gegeben  hat. 

Wenn  wir  so  auf  Grund  seiner  Erfolge  im  Kampf  ums  Dasein 
dem  Indogermanen  den  ersten  Platz  in  der  naturwissenschaftlichen 
Rangordnung  einräumen,  so  können  wir  weiter  sagen,  dass  unter 
den  indogermanischen  Frauen  diejenigen  am  höchsten  stehen,  die 
sich  am  weitesten  von  den  Merkmalen  anderer  Rassen  resp.  von  den 
mehr  thierischen  Formen  entfernt  haben. 

Da  nun  aber  ein  breiter,  kurzer  und  vorstehender  Oberkiefer 
das  Merkmal  des  Negertypus  resp.  des  Affentypus  ist,  so  wird  die 
G-esichtsbildung  um  so  vollkommener  sein,  je  schmäle]-,  länger  und 


^)  Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  110  fF. 


102  Gesicht. 

senkrecliter  der  Oberkiefer  sicli  entwickelt  liat,  und  je  sclmiäler 
seine  oberen  Ausläufer  sind. 

Die  Folgen  derartiger  Bildung  sind:  eine  schmale  und  ge- 
streckte Nase,  eine  gleicbmässige,  mehr  s  enkrecbte  Ab- 
flachung der  seitlichen  Nasenparthie  nach  der  Ober- 
lippe zu,  senkrechter  Stand  der  Zähne  des  Oberkiefers, 
wenig  vortretende  Backenknochen. 

Ausser  diesen  Rassenvorzügen  kommen  jedoch  noch  die  secun- 
dären  Geschlechtscharaktere  am  Gesichtsskelett  in  Betracht. 

Zunächst  haben  wir  die  erwähnte  relative  Kleinheit  des 
Gesichts  im  Verhältniss  zum  Schädel. 

Dazu  kommt,  dass  die  Augenhöhlen  des  weiblichen  Skeletts 
geräumiger  sind  als  beim  Manne. 

Die  gleichmässige  Abrundung  des  weiblichen  Gesichts  lässt  sich 
schon  im  Skelett  erkennen.  Hierzu  tragen  zwei  weitere  wesentliche 
secundäre  Geschlechtscharaktere  bei. 

Schaafhausen-^)  fand,  dass  bei  Frauen  aller  Rassen  die  mittleren 
Schneidezähne  absolut  grösser  sind  als  bei  Männern ;  da  nun  die 
mittleren  Schneidezähne  dem  Mittelkiefer  entsprechen  (auf  Fig.  39 
und  40  mit  punktirter  Linie  angedeutet),  so  können  wir  die  Breite 
des  Mittelkiefers  und  damit  der  mittleren  Schneidezähne  als  einen 
Vorzug  des  weiblichen  Körpers  auffassen.  Es  resultirt  daraus  eine 
stärkere  Breite  des  Gesichts  bei  Frauen  unterhalb  der 
Backenknochen  in   den  mittleren  Parthien. 

Endlich  hat  Morselli^)  durch  vergleichende  Messungen  und 
Wägungen  gefunden,  dass  der  Unterkiefer  der  Frau  kleiner 
und  leichter  ist  als  der  des  Mannes.  Wir  können  demnach  als 
einen  weiteren  Vorzug  weiblicher  Bildung  verzeichnen:  schmaler 
Unterkiefer  mit  schräg  nach  auswärts  verlaufenden 
Gelenkfortsätzen. 

Daraus  resultirt  wieder  eine  starke  Verjüngung  des  Gesichts 
von  der  Mitte  nach  dem  Kinne  zu. 

Fassen    wir     das    Resultat     der    erwähnten    Geschlechtsunter- 


1)  Citirt  bei  Ploss-Bartels,  Das  Weib,  1897,  p.  25. 

^)  Sul  peso  clel  cranio  e  della  mandibola  in  rapporto  col  sesso.  Firenze  1876. 


Gesicht.  103 

schiede  zusammen,  so  kommen  wir  zu  dem  Schlüsse,  dass  die  gut 
entwickelte  knöcherne  Unterlage  des  weiblichen  Gesichts  in  der 
Höhe  des  unteren  Augenhöhlenrandes  am  breitesten  ist,  und  sich 
von  da  nach  unten  stark  und  gleichmässig  nach  dem  Kinne  zu 
verjüngt. 

Die  Gesammtverhältnisse  des  gleichmässig  ausgebildeten  Schädels 
müssen  nach  übereinstimmenden  Messungen  an  zahlreichen  gut  ge- 
bauten Individuen  derart  sein,  dass  die  Längsachse  in  drei  gleiche 
Theile  zerfällt,  nämlich  vom  Stirn winkel  bis  zum  oberen  Augen- 
rand, von  da  bis  zum  unteren  Nasenrand,  von  da  bis  zum 
Kinn;  die  grösste  Breite  über  den  Schläfen  muss  zur  Länge  des 
Schädels  im  Verhältniss  von  2  zu  3  stehen. 

Ausserdem  muss  natürlich  auch  die  linke  Hälfte  mit  der  rechten 
völlig  symmetrisch  gestaltet  sein. 

Aus  alledem  ergiebt  sich,  dass  durch  die  knöcherne  Unterlage 
die  Hauptformen  des  Gesichts  bestimmt  sind,  jedoch  in  einer  Weise, 
die  einen  grossen  Spielraum  für  individuelle  Ausbildung  innerhalb 
normaler  Grenzen  gestattet. 

Von  beiden  Geschlechtern  kann  man  verlangen,  dass  die  Zähne 
gleichmässig  gestellt ,  weiss  und  glatt  sind ,  bei  der  Frau  kommt 
dazu  die  grössere  Breite  der  vorderen  oberen  Schneidezähne.  — 

Noch  feinere  Nuancen  der  Individualität  geben  die  Muskeln. 
Die  scheinbare  Regellosigkeit  derselben  entwirrt  sich  (Merkel),  wenn 
man  bedenkt,  dass  sie  alle  um  die  Oeffnungen  des  Gesichts,  die 
Augen,  die  Ohren,  die  Nase  und  den  Mund  gruppirt,  entweder 
Schliess-  oder  Oeffnungsmuskeln  sind.  Die  Schliessmuskeln  legen 
sich  kreisförmig  um  die  Oeffnung,  die  Oeffnungsmuskeln  stehen  radial 
zum  Rande  angeordnet.  Jedoch  verflechten  sich  die  einzelnen  Mus- 
keln wieder  unter  einander,  und  ausserdem  unterscheiden  sie  sich 
von  den  übrigen  Muskeln  des  Körpers  dadurch,  dass  nicht  nur  der 
Muskel  im  ganzen,  sondern  auch  jedes  einzelne  Muskelbündel  einer 
selbständigen  Bewegung  fähig  ist. 

So  entstehen  z.  B.  die  Grübchen  in  den  Wangen  durch  die 
isolirte  Wirkung  eines  daselbst  in  der  Haut  endigenden  Muskel- 
bündels, der  beim  Lächeln  sich  zusammenzieht. 

Eine  vortreffliche  Beschreibung  der  Gesichtsmuskeln  findet  sich 


104  Gesicht. 

bei  Merkel M  und  bei  Langer^).  Die  Muskeln  sind  die  bauptsäcli- 
licbsten  Träger  der  Individualität,  und  haben  als  solche  hier  nur 
untergeordnetes  Interesse,  es  sei  denn,  dass  man  die  feine  Aus- 
bildung des  Mienenspiels  mit  als  einen  der  Vorzüge  weiblicher 
Vollkommenheit  erwähnen  will.  Den  Ausdruck  des  Gesichts,  des 
Spiegels  der  Seele,  hier  ausführlich  zu  analysiren,  würde  die  Grrenzen 
des  Buches  zu  sehr  überschreiien. 

Eine  Eigenthümlichkeit  der  Gesichtsmuskeln  jedoch,  die  Langer 
besonders  hervorgehoben  hat,  verdient  unsere  besondere  Beachtung. 

An  einzelnen  Stellen  des  Gesichts  flechten  sich  nämlich  die 
Enden  einiger  Muskeln  in  die  Haut  ein,  und  zwar  in  der  Stirn- 
gegend ,  an  den  Nasenflügeln ,  in  den  Lippen  .und  am  Kinn.  Die 
Grenzen  dieser  Einpflanzungen  sind  die  Augenbrauen  und  die  quere 
Furche  zwischen  Kinn  und  Unterlippe,  ferner  jederseits  zwei  Furchen, 
von  denen  die  eine  vom  Nasenflügel  nach  dem  äusseren  Mundrand, 
die  andere  vom  äusseren  Mundrand  nach  dem  Kinn  herabzieht ;  diese 
letztere  vereinigt  sich  häufig  unterhalb  des  Kinnes  mit  der  gegen- 
überliegenden. 

Diese  Muskelbildung  übt  Einfluss  auf  die  Vertheilung  des  Fett- 
polsters im  Gesicht.  Innerhalb  der  Grenzen  der  festen  Muskel- 
anheftung  kann  sich  dasselbe  nicht  entwickeln;  wir  sehen  daher 
auch  bei  starker  Fettleibigkeit  stets  Stirn,  Nase,  Mund  und  Kinn 
davon  verschont,  während  durch  starke  Fettanhäufung  in  den  Wangen 
die  erwähnten  Furchen  schärfer  und  schärfer  hervortreten.  Am 
Kinn  bildet  sich  ein  oder  mehrere  Fettwülste  unterhalb  der  ver- 
einigten Lippenkinnlinie,   das  bekannte  Doppelkinn. 

Da  nun  eine  gewisse  Rundung  der  Formen  dem  Weibe  eigen- 
thümlich,  eine  zu  grosse  Fülle  aber  unschön  ist,  können  wir  als 
Bedingung  guter  Entwickelung  für  die  Frau  aufstellen,  dass  die  ge- 
nannten Grenzlinien  angedeutet  sein  müssen,  ohne  zu  scharf  hervor- 
zutreten (Fig.  42).  Das  Grübchen  im  Kinn,  eine  Zierde  des  weib- 
lichen Geschlechts ,  ist ,  ebenso  wie  die  Grübchen  in  den  Wangen, 
durch   den    Zug    der   in  die  Haut  verflochtenen  Muskeln    veranlasst. 


Merkel,  Topographische  Anatomie,  I,  p.  100. 
Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  129. 


Gesicht. 


105 


In  Oesterreich,  wo  das  „Grübeii  im  Kinn"  in  vielen  Liedern  und 
Gesängen  verherrlicht  wird ,  findet  es  sich  viel  häufiger  als  in 
anderen  Ländern:    Chacun  preche  pour  sa   paroisse.     Ein  fünfzehn- 


Fig.  41.    Mädchen  von  15  Jahren  aus  Wien  mit  Grübchen  im  Kinn, 

reinem  Gesichtsoval,  weichem  Mund,  Schönheitsfalten  üher  den  Augen 

und  reichem  Haupthaar. 

jähriges    Mädchen   aus   Wien,   Fig.  41,    zeigt   diesen   Vorzug    sehr 
schön  ausgeprägt. 

Die  Auspolsterung   der  Wangen  mit  Fett  vollendet  die  Ahrun- 
dung  des  Gesichts  zum  gleichmässigen  Oval,  zum  „länglichen  Eirund", 


106  i^^ 

jedoch  nur  so  lange,  als  die  Spannung  der  Haut  erhalten  ist.  Wenn 
diese  erschlafft,  hängen  die  Backen  herab  und  werden  schlaff. 

Es  ist  deshalb  ein  gutes,  wenn  auch  nicht  stets  erlaubtes 
Mittel  älterer  Herren,  sich  von  dem  Gesundheitszustand  weiblicher 
Pflegebefohlenen  dadurch  zu  überzeugen,  dass  sie  sie  in  die  Backen 
kneifen. 

Ueber  die  Haut  des  Gesichtes  haben  wir  bereits  gesprochen. 
Sie  ist  über  den  Wangen  am  zartesten  und  dort  bei  gesunden  Menschen 
stets  leicht  geröthet,  weil  das  Blut  stärker  durchschimmert.  Eine 
scharf  umschriebene,  kreisrunde  helle  Röthe  über  den  Backenknochen 
ist  ein  Zeichen  der  Schwindsucht  und  darum  nicht  normal. 

Die  Augäpfel  haben  mit  dem  8.  Lebensjahre  ihre  bleibende 
Grösse  erreicht  und  sind  bei  allen  Menschen  gleich  gross.  Der  schein- 
bare Unterschied  hängt  allein  ab  von  der  grösseren  oder  kleineren 
Lidspalte  und  von  der  tieferen  oder  oberflächlichen  Einbettung. 

Abgesehen  davon,  dass  dunkle  Augen  etwas  grösser  erscheinen 
als  helle,  hängt  der  Eindruck  der  Grösse  völlig  ab  von  der  Um- 
gebung des  Auges. 

Die  Augenbrauen  liegen  auf  der  Grenze  zwischen  Augenhöhle 
und  unterem  Stirnrand.  Da  grosse  Augenhöhlen  ein  secundäres 
weibliches  Geschlechtsmerkmal  sind,  so  sind  die  Augenbrauen  um 
so  schöner,  je  höher  sie  gewölbt  sind.  Da  ferner  buschige  Augen- 
brauen den  Mann  und  ein  höheres  Lebensalter  kennzeichnen,  können 
schmale,  glatt  verlaufende  Augenbrauen  als  weiblicher  Vorzug  an- 
gesehen werden. 

Es  gilt  als  schön,  wenn  die  Augenbrauen  zur  Seite  lang  und 
spitz  auslaufen,  als  hässlich,  wenn  sie  in  der  Mitte  verwachsen  sind ; 
eine  befriedigende  Begründung  dieser  Auffassung  lässt  sich  nicht 
finden.  Dass  aber  das  gänzliche  Fehlen  der  Augenbrauen  als  Ent- 
stellung angesehen  wird,  beweist  unter  anderem  der  in  Japan  übliche 
Brauch  ■^),  dass  verheirathete  Frauen  zur  Beruhigung  ihrer  eifer- 
süchtigen Ehemänner  nicht  nur  die  Zähne  schwarz  färben,  sondern 
auch  die  Augenbrauen  abscheeren  müssen. 


^)  Ich  konnte  mich  vor  einigen  Jahren  in  Japan  selbst  davon  überzeugen, 
dass  diese  Sitte  mehr  und  mehr  abnimmt. 


Augen.     Nase.  107 

Die  Augenwinkel  müssen  bei  geschlossenen  Lidern  in  einer 
horizontalen  Linie  liegen ,  bei  geöffneten  Lidern  steht  der  innere, 
mit  der  Thränengrube  rund  auslaufende  etwas  tiefer  als  der  äussere, 
scharfe  Augenwinkel.  Stärkeres  Höhertreten  des  äusseren  Augen- 
winkels ist  eine  Eigenthümlichkeit  der  mongolischen  Rasse  und 
darum  beim  Indogermanen  als  ein  Fehler  zu  bezeichnen,  und  zwar 
ohne  Unterschied  des  Geschlechts. 

Die  Stellung  der  Wimpern  auf  den  Lidknorpeln  muss  gerade 
und  regelmässig  sein,  denn  spärliche  und  unregelmässige  Einpflan- 
zung deutet  auf  Krankheiten,  hauptsächlich  auf  skrofulöse  Augenent- 
zündung.    Auch  dies  ist  beiden  Geschlechtern  gemeinsam. 

Zwei  Aveitere  Anforderungen  an  die  Bildung  des  Auges  können 
ebenfalls  als  Vorzüge  beider  Geschlechter  gelten ,  jedoch  sind  sie 
anatomisch  mehr  im  weiblichen  Bau  begründet. 

Das  ist  zunächst  die  Grösse  der  Lidspalte  und  dann  die 
Bildung  der  Hautfalte,  die  sich  bei  geöffnetem  Auge  über  das  obere 
Augenlid  legt.  Je  höher  die  Augenhöhle  ist,  desto  weniger  wird 
sich  die  Hautfalte  über  das  Lid  herabsenken,  in  desto  weicherem 
Schwünge  wird  sie  sich  nach  der  Schläfe  zu  verlieren.  Eine  grössere 
Lidspalte  lässt  das  Auge  und  damit  auch  die  Augenhöhle  grösser 
erscheinen.  Da  nun  aber  die  grosse  Augenhöhle  ein  secundäres 
weibliches  Geschlechtsmerkmal  ist,  so  können  eine  weite  Lidsjjalte 
und  eine  weich  und  hoch  über  dem  oberen  Augenlid  ver- 
laufende Hautfalte  als  vorwiegend  weibliche  Schönheiten  ver- 
zeichnet werden, 

Fig.  42  zeigt  dieselben,  sowie  die  Gestalt  der  Augenbrauen  in 
sehr  guter  Form,  während  in  Fig.  26  durch  die  Hautfalte  das  obere 
Augenlid  völlig  verdeckt  wird. 

Die  Form  der  Nase  wird  vorwiegend  durch  das  knöcherne 
Gerüst  zusammen  mit  dem  Nasenknorpel  bestimmt.  Aus  dem  oben 
Gesagten  geht  hervor,  dass  die  Form  der  Nase  gut  ist,  wenn  sie  schmal 
ist,  was  namentlich  im  schmalen  und  gestreckten  Nasenrücken  zum 
Ausdruck  kommt.  Ob  derselbe  dann  gerade  verläuft  oder  geljogen, 
ist   eine   individuelle  Abweichung   innerhalb    der   normalen   Grenzen. 

Von  der  Form  des  Mundes  ist  bereits  gesagt,  dass  die  gut 
entwickelte  Oberlippe  derart  sein  muss,  dass  die  zwei  äusseren  Ränder 


108 


Mund. 


nach  innen  in  sanfter  Linie  leicht  ansteigen,  und  der  mittlere,  dem 
Nasenlap23en  entstammende  Theil  sich  scharf  absetzt  (Fig.  14).  Dem- 
gemäss  muss  auch  die  freie  Mitte  der  Oberlippe  deutlich  nach  unten 
herabragen.  Ferner  muss,  bei  regelmässiger  Bildung,  das  Lippen- 
roth genau  bis  an  den  gebogenen  Rand  der  Lippe  heranreichen  und 


Fig.  42.    Weibliclier  Kopf  mit  giiten  Proportionen  und  gut  gebautem  Auge. 
Nach  einer  Photographie  von  Reutlinger,  Paris. 


nach  aussen  schmäler  werden.  Die  Unterlippe  legt  sich  in  leichtem, 
in  der  Mitte  breiter  werdenden  Bogen  der  Oberlippe  an.  Bei  schön 
geschnittenem  Munde  muss  die  Oberlippe  etwas  weiter  vorstehen  als 
die  Unterlippe.  Während  die  übrigen  Vorzüge  beiden  Geschlechtern 
gemeinsam  sind,  ist  der  letztgenannte  wieder  ein  besonderer  Vorzug 
des  weiblichen  Geschlechts,  da  er  mit  der  geringeren  Grösse  des 
Unterkiefers  in  ursächlichem  Verband  steht. 


Ohr.     Haarfarbe. 


109 


Die  Breite  der  Munds]3alte  stellt  zur  Lidspalte  im  Verhältiiiss 
von  3  :  2,  die  Augen  stehen  um  eine  Augenbreite  von  einander  ab, 
so  dass  die  äusseren  Augenwinkel  doppelt  so  weit  von  einander  ent- 
fernt sind  als  die  Mundwinkel. 

Das  Ohr  kommt  im  embryonalen  Leben  erst  sehr  spät  zur 
Entwickelung  und  zeigt  im  sjDäteren  Leben  ausserordentlich  starke 
individuelle  Verschiedenheiten,  welche  von  den  Meisten  kaum  be- 
achtet werden.  Die  Bildhauer  der  Antike  kannten  sie  indessen 
(Winkelmann)  sehr  genau,  und  in  neuerer 
Zeit  hat  Bertillon  das  Charakteristische  des 
Ohrs  zur  Feststellung  der  Person  von  Ver- 
brechern benutzt. 

Bei  guter  und  regelmässiger  Entwicke- 
lung hat  die  Ohrmuschel  nach  Langer  folgende 
Gestaltung  (Fig.  43). 

Am  äusseren  Gehörgang  stehen  sich 
Bock  (T)  und  Gegenbock  (Ät)  von  ungefähr 
gleicher  Grösse  gegenüber,  ebenso  am  oberen 
Theil  der  Ohrmuschel  Leiste  {H)  und  Gegen- 
leiste (^4).  Die  Leiste  umkreist  den  äusseren 
Rand  des  Ohres  in  langer  Linie,  die  Gegen- 
leiste erhebt  sich  in  der  Mitte  höher  und 
spaltet  sich  nach  vorn,  während  sie  nach  hin- 
ten sich,  flacher  werdend,  mit  der  Leiste  ver- 
einigt und  in  den  Gegenbock  ausläuft.    Das  Ohrläppchen  endigt  frei. 

Ein  namentlich  beim  weiblichen  Ohr  störender  Fehler  ist  zu 
starke  Entwickelung  und  Grösse  der  Ohrmuschel. 

Da  die  Stellung  des  äusseren  Gehörgangs,  der  mit  der  Gehirnbasis 
stets  gleich  hoch  steht,  fest  bestimmt  ist,  so  ist  es  namentlich  zu  starke 
Entwickelung  des  oberen  Theils  der  freien  Ohrmuschel,  die  entstellt. 

Bei  gerader  Stellung  des  Kopfes  muss  der  äussere  Gehörgang 
ungefähr  in  derselben  Höhe  liegen  wie  der  obere  Rand  des  Nasen- 
flügels ,  und  der  obere  Rand  der  Ohrmuschel  nicht  höher  als  der 
obere  Rand  der  Augenhöhle. 

Es  erübrigt  noch,  die  Farbe  der  Haare,  der  Augenbrauen  und 
der  Augen  zu  besprechen. 


Fig.  43.     ScliöngelDildetes 

Ohr  nach  Langer. 
TBock  (Tragus),  At  Gegen- 
hock (Antitragus),  Jif  Leiste 
(Helix),  A  Gegenleiste 
(Anthelix) . 


110  Rumpf  im  allgemeinen. 

Da  starke  Pigmentanliäufung  ein  gemeinscliaftliclies  Merkmal 
niedriger  stehender  Rassen  ist,  so  kann  man  im  allgemeinen  blondes 
Haupthaar  als  einen  Vorzug  betrachten,  und  namentlich  bei  der 
Frau,  bei  der  durch  den  schwächeren  Gegensatz  von  blond  und  weiss 
die  Harmonie  der  zarteren  Bildung  erhöht  wird. 

Bei  den  Augenbrauen  jedoch  verdient  die  dunklere  Färbung 
den  Vorzug,  weil  durch  sie  die  Weite  der  Augenhöhlen  noch  deut- 
licher hervorgehoben  wird. 

Die  Farbe  der  Augen  hängt  ausschliesslich  ab  von  der  Ver- 
theilung  des  Pigments;  wenn  dasselbe  ausschliesslich  hinter  der 
Regenbogenhaut  sitzt,  erscheint  dieselbe  blau,  dringt  es  in  sie  ein, 
so  •  erscheint  sie  braun  bis  schwarz.  Demnach  können  wir  die 
Farbe  der  Augen  nur  als  einen  Ausdruck  der  Individualität  be- 
trachten. 


1))    R  II  m  p  f. 

Man  unterscheidet  am  Rumpf  von  vorn  die  Brust  (im  weiteren 
Sinne)  und  den  Bauch,  von  hinten  den  Rücken.  Seine  Verbin- 
bindungen  mit  Kopf  und  Gliedmassen  sind  der  Hals,  die  Schultern 
und  die  Hüften.  So  selbstverständlich  diese  Eintheilung  auch  sein 
mag,  so  stösst  man  doch  schon  auf  Schwierigkeiten  bei  dem  blossen 
Versuch,  die  einzelnen  Theile  scharf  von  einander  abzugrenzen. 
Noch  schwieriger  wird  es,  wenn  man  noch  weitere  Benennungen 
einzelner  Körpertheile  hinzunimmt ,  wie  Nacken ,  Lenden ,  Kreuz, 
Weichen,  Leisten  u.  s.  w.  Jedem  Arzt  fällt  es  auf,  dass  die  Meisten 
nur  einen  ganz  dunklen  Begriff  haben ,  wo  diese  Theile  eigentlich 
liegen.  Eine  Frau  z.  B.,  die  über  Kreuzschmerzen  klagt,  bezeichnet 
fast  immer  die  Lenden  als  die  empfindliche  Stelle;  —  sie  weiss  beim 
Ochsenfleisch  den  Ziemer  vom  Filet  vortrefflich  zu  unterscheiden, 
dürfte  aber  kaum  im  Stande  sein,  die  Lage  der  entsprechenden  Theile 
am  eigenen  Körjjer  anzugeben.  Jedoch  sind  selbst  Männer  vom  Fach 
nicht  im  Stande,  alle  einzelnen  Theile  des  Rumpfes  mit  unfehlbarer 
Sicherheit  von  einander  zu  scheiden. 

Dies  hat  seinen  Grund  darin,  dass  feste,  unverwischbare  Grenzen 


Rumpf  als  Ganzes.  Hl 

überliaupt    niclit   bestehen    und    die   Uebergänge    sieb,    allmählig   in 
einander  verlieren  ^). 

Wir  tbun  deshalb  gut,  erst  den  Aufbau  des  Rumpfes  als  Ganzes 
und  dann  seine  einzelnen  Theile  in  ihrer  mehr  oder  weniger  scharfen 
Abgrenzung  zu  besprechen. 

Der  Rumpf  als  Granzes. 

Vom  Kopf  unterscheidet  sich  der  Rumpf  dadurch,  dass  bei 
ihm  die  weichen  Theile  bei  der  Bestimmung  der  äusseren  Formen 
eine  viel  grössere  Rolle  spielen. 

Das  Skelet  des  Rumpfes  wird  gebildet  durch  die  Wirbelsäule, 
den  Brustkorb,  den   Schultergürtel  und  das  Becken. 

Das  Verhältnis  des  Skelets  zur  Körperoberfläche  ist  ersichtlich 
aus  den  Figuren  31 — 34,  die  zugleich  die  secundären  Geschlechts- 
charaktere desselben  deutlich  machen. 

Die  Wirbelsäule  muss  bei  symmetrischer  Stellung  völlig  gerade 
verlaufen.  Abweichungen  davon  deuten  auf  Rhachitis,  ungleich- 
massige  Entwickelung,  Tuberculose  und  Lungenkrankheiten. 

Von  der  senkrechten  Richtung  überzeugt  man  sich  in  zweifel- 
haften Fällen,  indem  man  bei  nach  vorn  gebeugtem  Oberkörper 
auf  der  Rückseite  die  Dornfortsätze  der  Wirbel  durch  die  Haut 
abtastet  und  mit  schwarzer  Farbe  bezeichnet.  Die  so  bezeichneten 
Punkte  müssen  in  einer  geraden  Linie  liegen.  Noch  einfacher  ist  es, 
den  Dornfortsatz  des  siebenten  Halswirbels,  der  im  Nacken  am 
stärksten  vorspringt,  aufzusuchen  und  von  ihm  aus  ein  Senkloth 
herabhängen  zu  lassen,  welches  bei  gutem  Bau  genau  in  der  Spalte 
zwischen  den  Hinterbacken  liegen  muss.  Die  Länge  der  Wirbel- 
säule, welcher  der  Abstand  vom  unteren  Nasenrande  bis  zum  oberen 
Rand  der  vorderen  Beckenverbindung  entspricht,  ist  ein  constantes 
Mass,  das  Fritsch,  Carus  und  Schmidt  als  Modulus  zur  Bestimmung 
der  Proportionen  benutzt  haben,  wie  oben  ausgeführt  wurde. 

Ebenso  ist  bereits  erwähnt,  dass  in  der  seitlichen  Ansicht  die 
Wirbelsäule  der  Frau  im  Lendentheil  stärker  eingebogen  ist  als 
beim  Manne  (vgl.  Fig.  35). 


Vgl.  Merkel,  Topographische  Anatomie,  II,  p.  180  ff. 


112 


Rumpf  als  Ganzes. 


Der  Brustkorb   besteht    aus    den  Rippen,    dem  Brustbein   und 

dem  Brusttlieil  der  Wirbelsäule. 

Bei    guter  Ausbildung   muss    derselbe   kräftig  gebaut  sein,    so 

dass  die  Rippen  am  Rücken   fast  horizontal,    an   der  Brustseite  nur 

wenig  nach  abwärts  verlaufen. 
Von  seiner  Breite  und  Tiefe 
hängt  im  wesentlichen  die  Form 
der  Brust  ab ,  wie  wir  weiter 
unten  sehen  werden. 

Bei  der  Frau  ist  der  Brust- 
korb im  allgemeinen  schmäler 
und  länger  als  beim  Manne ; 
jedoch  muss  er  stets  so  gebaut 
sein,  dass  der  Winkel,  den  der 
untere  Rippenrand  bildet,  wenig 
kleiner  ist  als  ein  rechter. 

Grösser  ist  er  bei  dem 
fassförmigen  Thorax  asthmati- 
scher Personen,  kleiner,  oft  sehr 
viel  kleiner  bei  Personen  mit 
schwindsüchtiger  Gestaltung  und 
bei  Verunstaltung  durch  zu  star- 
kes Schnüren. 

Oben  wurden  bereits  die 
dadurch  hervorgerufenen  Ent- 
stellungen des  Rumpfes  im  Bilde 
vorgeführt;  hier  sei  die  Ent- 
stellung des  Skelets  durch  ein 
weiteres  Beispiel  verdeutlicht 
(Fig.  44),  hier  ist  zwischen  den 
freien  Rippen  beider  Seiten  nur 
ein    schmaler    Spalt    mit    sehr 

spitzem  Winkel  vorhanden.     Ein   vergleichender   Blick   auf  Fig.  32 

genügt,  um  den  Unterschied  zu  erkennen. 

Der  Schultergürtel    ist    mit    dem  Brustkorb    nur   in  der  Kehl- 

srrube  durch  die  Gelenke  der  beiden  Schlüsselbeine  verbunden.    Diese 


Fig.  44.    Rumpfskelet  eines  25jälirigeii 

Mädchens,  durcli  Sclmüi'en  verunstaltet 

(nach  Rüdinger). 


Rumpf  als  Ganzes.  113 

sowie  das  Brustbein  sind  die  einzigen  Knochen,  die  in  ihrer  ganzen 
Länge  dicht  unter  der  Haut  liegen. 

Am  unteren  Ende  ist  die  Wirbelsäule  durch  das  Kreuzbein  mit 
dem  Becken  verbunden.  Das  Kreuzbein  ist  bei  der  Frau  breiter  und 
kürzer  als  beim  Manne;  welchen  Einfluss  dies  auf  die  Gestaltung 
der  Rückenoberfläche  ausübt,  werden  wir  später  sehen. 

Beim  weiblichen  Becken  sind  wichtige  secundäre  Geschlechts- 
charaktere zu  verzeichnen.  Es  ist  geräumiger,  der  Schambogen  ist 
stumpfer,  die  Beckenschaufeln  flacher  und  breiter  ausladend  als  beim 
Manne.  Dadurch  überwiegt  im  Skelet  die  Beckengegend  beim  Weibe 
weitaus  über  den  Brustkorb,  während  die  grösste  Schulterbreite  die 
grösste  Beckenbreite  bei  der  Frau  nur  sehr  wenig,  beim  Manne 
jedoch  bedeutend  übertrifft. 

Vom  Becken  liegen  die  Kämme  der  Darmschaufeln  jederseits 
dicht  unter  der  Haut. 

Die  tastbaren  Knochen  des  Bumpfskelets  geben  uns  einen  ge- 
wissen Anhaltspunkt  zur  Bestimmung  der  Grenzen  einzelner  seiner 
Gegenden. 

Der  Schlüsselbeinrand  bildet  die  Grenze  zwischen  ^Hals  und 
Brust,  der  untere  Rippenrand  zwischen  Brust  und  Bauch,  der  Kamm 
der  Darmschaufeln  zwischen  Bauch  und  Hüften.  Während  wir  am 
-  Skelet  die  Schulterknochen ,  die  Lendenwirbelsäule  und  das  Kreuz 
scharf  umschreiben  können,  werden  diese  Grenzen  durch  die  be- 
deckenden Weichtheile  am  lebenden  Körper  wieder  stark  verwischt. 
Immerhin  aber  haben  wir  durch  die  Kenntniss  des  Skelets  eine  Reihe 
von  Anhaltspunkten  bekommen,  die  uns  zum  Verständniss  und  zur 
Beurtheilung  der  äusseren  Formen  unerlässlich  sind. 

Ausser  dem  Knochengerüst  sind  es  zunächst  die  Muskeln  und 
dann  das  Fettpolster  der  Haut,  die  die  Formen  des  Rumpfes  be- 
stimmen. 

Fig.  45  zeigt  die  Rumpfmuskulatur  des  weiblichen  Torso  in 
der  Ansicht  von  vorn. 

Bei  der  allgemeinen  Betrachtung  fällt  auf,  dass  sich  die  ober- 
flächlichen Muskeln  des  Rumpfes  in  drei  grössere  Gruppen  theilen. 
Zunächst  diejenigen,  die  zusammen  den  vorderen  und  seitlichen  Ab- 
schluss    der  Bauchhöhle    bewerkstelligen,    dann    diejenigen,    die  von 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  8 


114  Rumpf  als  Ganzes. 

vorn  und  hinten,  von  oben  und  unten  nach  der  Scliulter  hinziehen, 
und  endlich  die  Muskehi  der  Hüften. 


Fig.  45.    Muskulatur  des  weiblichen  Torso  von  vorn. 

Von    diesen    drei    Gruppen    biklet    die    erste    die    Verbindung 
zwischen  Brustkorb  und  Beckenwand. 

Während  die  zweite  alle  scharfen  Ecken  und  Kanten  zwischen 


Rumpf  als  Ganzes. 


115 


Schultern,  Brust  und  Rücken  verbindet  und  ausfüllt  und  die  Umrisse 
des  Rumjjfes  in  die  oberen  Gliedmassen  in  weicben  Linien  binüber- 


Fig.  46.    Muskulatui  des  weibliclieu  Rückens. 


leitet,  sind  die  Hüftmuskeln  seitlich  und  hinten  durch  die  Kämme 
der  Beckenschaufeln,  vorn  durch  das  Leistenband  scharf  von  dem 
übrigen  Rumpfe  geschieden. 


116 


Rumpfmuskeln. 


Die  Muskeln  sind  bei  beiden  Gesclilechtern  dieselben,  jedoch 
scbwäclier  bei  der  Frau.  Schlechte  Entwickelung  derselben  kann 
den  weiblichen  ebenso  gut  wie  den  männlichen  Körper  entstellen. 
Bei    krankhaften  Störungen    der    gleichmässigen   Entwickelung    der 


Fig.  47.    RüokansicM  von  Mann  und  Frau  nacli  Riclier  zur  Vergleicliuug  der  Vertlieiluuj 

des  Fettpolsters, 
o  o  o  o  o  starke  Anhäufung  von  Fett. 


Muskeln  sind  es,  wie  oben  erwähnt,  namentlich  die  Schulter-  und 
Hüftmuskeln,  die  zuerst  angegriffen  werden.  Bei  guter  Ernährung 
müssen  auch  bei  der  Frau  trotz  des  reichlichen  Fettpolsters  die 
Muskelbäuche  deutlich  erkennbar  sein.  Abgesehen  davon,  dass  das- 
selbe   bei    ihr   im  allgemeinen  reichlicher  ist  als  beim  Manne ,    sind 


Brust.  117 

es  namentlicli  die  Nabelgegend,  Hüften  und  die  unteren  Parthien 
des  Rückens  (Fig.  47) ,  die  eine  kräftigere  und  charakteristische 
Vertheilung  des  Fettes  bei  der  Frau  besitzen.  Diese  und  andere 
Einzelheiten  werden  noch  weiter  besprochen  werden. 

Bei  der  Betrachtung  des  Rumpfes  als  Ganzes  haben  wir  somit 
hauptsächlich  zu  achten  auf  gleichmässige  und  symmetrische  Ent- 
wickelung  des  Skelets,  soweit  dasselbe  dem  Auge  und  der  Messung 
zugänglich  ist,  Ueberwiegen  der  Bauch-  und  Beckengegend  im  Ver- 
hältniss  zum  Oberkörper,  nach  den  oben  aufgestellten  Gesetzen  der 
Proportionslehre,   und  auf  den  Einfluss  des  Schnürens. 

Als  Muster  eines  gut  entwickelten  weiblichen  Torso  kann 
Tafel  11  gelten. 

Die  einzelnen  Theile  des  Rumpfes. 

B  r  u  s  t. 

Die  Brust  im  weiteren  Sinne  ist  derjenige  Theil  des  Rumpfes, 
der  von  oben  durch  die  Schlüsselbeine,  von  unten  durch  den  unteren 
Rippenrand  begrenzt  wird.  Beim  Weibe  erhält  er  sein  besonderes 
Gepräge  in  den  beiden  durch  die  wachsenden  Milchdrüsen  ver- 
ursachten Hervorwölbungen,  die  Brüste  im  engeren  Sinne,  das 
schönste  der  secundären  weiblichen  Geschlechtsmerkmale. 

Aus  ihrer  Beschaffenheit  kann  man  wichtige  Rückschlüsse  nicht 
nur  auf  die  Brust,  sondern  auch  auf  den  Körper  im  allgemeinen 
machen. 

Die  Grundlage  der  Brust  bildet  der  Brustkorb;  auf  sein 
Verhältniss  zu  den  übrigen  Theilen  des  Skelets  ist  bereits  hinge- 
wiesen. 

Wir  können  an  einen  normal  gebauten  Brustkorb  die  folgenden 
Bedingungen  stellen,   deren  Nichterfüllung  anatomische  Fehler  sind. 

1.  Die  Brustwirbelsäule  muss,  von  vorn  gesehen,  völlig  gerade 
in  der  Mittellinie  des  Körpers  verlaufen;  im  Profil  bildet  sie  einen 
leichten,  nach  hinten  convexen  Bogen  in  ihrer  oberen  Hälfte. 

2.  Die  Rippen  verlaufen  symmetrisch  in  einem  gleich- 
massigen  Bogen ,  liegen  hinten  beinahe  horizontal ,  senken  sich 
etwas    stärker   in    der  Seite,    liegen    wieder   horizontal  in  der  Linie 


118  Brustkorb. 

der  Brustwarze  und  steigen  von  da  unmerklicli  ohne  Knickung  gegen 
das  Brustbein  an. 

3.  Das  Brustbein  liegt  etwas  tiefer  als  die  vordersten  Punkte 
der  Rippen,  schliesst  sich  aber  deren  Wölbung  überall  gleichmässig 
an.  Der  Winkel  zwischen  Handgriff  und  Körper,  in  der  Höhe  der 
2.  Rippe  (Augulus  Ludovisi),   darf  nicht  scharf  hervortreten. 

4.  Die  gemeinschaftliche  Wölbung  des  Brustkorbes  ist  in 
seinen  höheren  Parthien  (bis  zur  4.  Rippe)  nach  oben  gerichtet,  in 
den  mittleren  (bis  zur  8.  Rippe)  nach  vorn,  und  erst  in  den  untersten 
Parthien  (bis  zur  12.  Rippe)  etwas  nach  abwärts.  Die  Wölbung 
muss  eine  ganz  gleichmässige  sein,  im  Profil  sowie  in  der  Ansicht 
en  face. 

5.  Der  untere  Rippenrand  bildet  in  der  Herzgrube  einen 
Winkel  von  beinahe  90  °. 

Als  gemeinschaftliche  Folge  dieser  Eigenschaften  kommt  hin- 
zu, dass  sich  die  Schlüsselbeine  und  die  Schulterblätter  in  guter 
Wölbung  dem  Brustkorb  glatt  anlegen. 

Die  häufigsten  Ursachen,  die  fehlerhafte  Bildung  veranlassen, 
sind  die  Rhachitis,  die  Anlage  zur  Schwindsucht  und  das  Schnüren. 

Rhachitis  veranlasst  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  und 
dadurch  unsymmetrische  Entwickelung ,  ungleichmässige  Wölbung 
der  Rippen,  die  bei  ihrer  Weichheit  durch  Zug  und  Druck  ver- 
unstaltet werden,  Knickung  des  Brustbeins  zwischen  Griff  und 
Körper  (Hühnerbrust),  Auftreibung  der  Rippenenden ,  wodurch  eine 
Verdickung  und  starke  Knickung  des  Brustkorbs  innerhalb  der 
Brustwarzenlinien  entsteht.  Durch  die  stärkere  Knickung  der  Rippen 
wird  der  Brustkorb  im  ganzen  flacher  und  breiter,  namentlich  in 
seiner   oberen  Wölbung,    seine    unteren  Parthien    fallen   stärker  ab. 

Die  Anlage  zur  Schwindsucht  ist  gekennzeichnet  durch 
einen  langen  und  schmalen  Brustkorb.  Mit  dem  gesunden  verglichen 
zeigt  der  schwindsüchtige  Brustkorb  demnach  weiter  von  einander 
abstehende  Rippen,  die  in  ihrem  ganzen  Verlauf  stärker  nach  unten 
ziehen,  wodurch  wiederum  eine  geringere  Wölbung  der  oberen  Par- 
thien und  eine  zu  geringe  Ausdehnung  in  die  Breite  veranlasst  wird. 
Dies  hat  zur  Folge,  dass  die  Schlüsselbeine  stärker  gekrümmt  sind, 
weiter  vorspringen  und  ebenso  wie  die  Schulterblätter  hervortreten. 


Brustmuskeln.  119 

Unter  den  Schlüsselbeinen  bilden  sieb  dann  tiefere  Gruben.  Der 
untere  Rippenrand  bildet  einen  sebr  viel  spitzeren  Winkel. 

Durch  das  Schnüren  wird  der  Brustkorb  in  seinen  unteren 
Parthien  stark  verengert,  die  Wölbung  wird  geringer  und  nament- 
lich sehr  verschärft  in  den  mittleren  Parthien,  so  dass  von  der 
4.  Rippe  ab  die  Wölbung  statt  nach  vorn,  mehr  nach  unten  hin 
steht.     Der  untere  Rippenrand  ist  ein  spitzer  Winkel. 

Alle  diese  drei  Ursachen ,  am  stärksten  allerdings  die  letzte, 
haben  die  Verunstaltung  veranlasst,   die  Fig.  44  deutlich  zeigt. 

Lungenkrankheiten,  namentlich  Brustfellentzündungen  in  jugend- 
lichem Alter  können  durch  Verwachsungen  einen  Theil  des  Brust- 
korbs sehr  wesentlich  in  seiner  Entwickelung  beeinflussen.  Es  finden 
sich  dann  an  der  früher  erkrankten  Stelle  Einziehungen  oder  Auf- 
treibungen, die  die  Symmetrie  stören. 

Am  lebenden  Weibe  können  wir  den  Brustkorb  nur  durch  die 
weichen  Theile  hindurch  fühlen.  Ob  er  gut  gebaut  ist,  können  wir 
beurtheilen  aus  dem  gleichmässigen  Heben  und  Senken  beim  Athmen, 
dann  aber  aus  der  Form  der  Weichtheile,  die  durch  den  Bau  des 
Brustkorbs  beeinflusst  ist. 

Von  grösseren  Weichtheilen  sind  es  namentlich  die  grossen 
Brustmuskeln  (Pectoralis  major),  welche  die  Form  der  Brust  be- 
einflussen (Fig.  45).  Ihre  Bündel  entsjDringen  an  der  ganzen  Vorder- 
fläche der  Brust  vom  unteren  Rippenrand,  dem  Brustbeinrand  und 
der  unteren  Fläche  des  Schlüsselbeins-  und  vereinigen  sich  zu  einem 
kräftigen  Muskelbauch,  dessen  Sehne  sich  am  Knochen  des  Ober- 
arms ansetzt.  Der  untere  Rand  dieses  Muskels  bildet  die  vordere 
Begrenzung  der  Achselhöhle,  die  demnach  beim  Senken  des  Armes 
sich  vertieft,  beim  Heben  verstreicht.  Je  kräftiger  er  ist,  desto 
stärker  wird  diese  Grenzlinie  hervortreten,  und  desto  gleichmässiger 
wird  die  obere  Wölbung  der  Brust  in  die  Schulter  übergehen. 

Ist  der  Muskel  schlecht  entwickelt,  dann  treten  die  Schultern 
vor,  und  es  entsteht  eine  tiefe  Einsenkung  zwischen  Schulter  und 
Brust  unterhalb  des  Schlüsselbeins  bis  in  die  Achsel  (vgl.  Fig.  21). 

Auf  den  grossen  Brustmuskeln,  den  äusseren  Rand  derselben 
nur  wenig  überragend,  liegen  die  Brüste  (vgl.  Fig.  45)  in  der 
Höhe  der  3. — 6.  Rippe. 


120  Brüste. 

Aus  diesem  Verliältniss  geht  hervor,  dass  der  Brustkorb  sowie 
der  Brustmuskel  einen  sehr  wesentlichen  Einfiuss  auf  die  Form  der 
Brust  im  engeren  Sinne  haben  müssen. 

Bevor  wir  uns  jedoch  mit  den  Brüsten  beschäftigen,  müssen 
wir  noch  die  Verhältnisse  der  Haut  in  kurzem  berücksichtigen. 

Die  Haut  ist  in  der  Gegend  der  Brustwarzen  besonders  zart 
und  dünn;  in  der  Mitte  nach  dem  Brustbein  zu  wird  sie  etwas 
dicker  und  heftet  sich  der  knöchernen  Unterlage,  der  sie  hier  un- 
mittelbar aufliegt,  fest  an.  Nach  den  Achseln  zu  wird  sie  eben- 
falls dicker,  liegt  dem  unter  ihr  liegenden  Brustmuskel  am  unteren 
Rande  wieder  etwas  fester  an ,  zugleich  aber  entwickelt  sich  hier 
eine  mächtigere  Fettlage,  die  die  Achselhöhle  auspolstert,  sich 
zwischen  Brustmuskel  und  Brustkorb  hineinschiebt  und  sich  am 
unteren  Rande  des  Muskels  nach  vorn  zu  allmälig  verliert. 

Zwischen  Haut  und  Muskel  liegt  über  der  4.  Rippe,  unter  der 
Brustwarze,  beim  Kinde  die  Anlage  der  Milchdrüse,  die  beim 
Knaben  nicht  zur  Entwickelung  kommt,  beim  Mädchen  aber  etwa 
vom  zehnten  Jahre  an  zu  wachsen  beginnt,  und  schliesslich  den 
Raum  von  der  3.  bis  zur  6.  Rippe  einnimmt. 

Die  Milchdrüse  bildet  anfänglich  einen  flachen  scheibenförmigen 
Körper,  dessen  Ausführungsgänge  nach  den  Brustwarzen  ziehen. 
Diese  sind  mit  ihrer  Axe  nach  aussen  gerichtet.  Später  entstehen 
zwei  halbkugelige  Erhabenheiten,  die  zunächst  dem  grossen  Brust- 
muskel in  ihrem  ganzen  Umfang  aufliegen.  Je  grösser  die  Drüsen 
werden,  desto  mehr  spannen  sie  die  Haut  in  ihrer  Umgebung  und 
schieben  sich  zwischen  diese  und  die  darunterliegenden  Theile  hin- 
ein. Da  nun  aber  die  Haut  bei  guter  Entwickelung  am  Brustbein 
fest  anhaftet,  so  wird  die  losere  Haut  aus  der  Achselgegend  stärker 
herangezogen,  während  über  dem  Brustbein  zwischen  den  wachsen- 
den Brüsten  eine  leichte  Vertiefung,  der  Busen,  bestehen  bleibt. 
Zugleich  drehen  sich  dann  die  Axen  der  Brustwarzen  etwas  mehr 
nach  vorn. 

Im  Stadium  der  ersten  Reife  wölbt  sich  der  wachsende  Drüsen- 
körper etwas  über  den  äusseren  Rand  des  Brustmuskels  vor  (Fig.  45), 
so  dass  die  halbkugelige  Brust  sich  in  leichtem  Winkel  von  der 
Hautfalte    abhebt,     welche,    den  Brustmuskel    in   sich   fassend,    die 


Brüste. 


121 


vordere  Aclisel- 
höhle  abschliesst 
(Fig.  48,  vgl.  auch 
Fig.  5). 

Um  die  wach- 
sende Drüse  ver- 
grössert  sich  stets 
auch  mehr  oder 
weniger  das  Fett- 
polster ,  welches 
die  Grestalt  der 
Drüse  mehr  ab- 
rundet und  die 
Uebergänge  zu 
den  umliegenden 
Theilen  weicher 
macht.  Je  kräf- 
tiger    die    Drüse . 

entwickelt  ist,  desto  praller  und  här- 
ter ist  die  Brust,  während  bei  stär- 
kerer Entwickelung  des  Fettpolsters 
die  Brust  grösser  und  weicher  wird. 
Je  fester  das  elastische  ünter- 
hautbindegewebe  gefügt  ist,  desto 
schwieriger  wird  daselbst  Fett  ab- 
gelagert, und  darum  ist  eine  vorwie- 
gend aus  Drüsensubstanz  bestehende 
Brust  meist  gepaart  mit  praller,  elasti- 
scher Haut ;  aus  demselben  Grunde  aber 
ist  sie  mit  der  Haut  sowohl  als  mit 
dem  darunter  liegenden  Brustmuskel  viel  fester  und  inniger  verbunden. 
Durch  die  Elasticität  der  Haut  und  die  feste  Anheftung  wird 
zugleich  die  wachsende  Brust  am  Herabziehen  verhindert,  und  wird 
eine  scheibenförmige  bis  halbkugelige  Hervorragung  bilden,  die  bei 
gleichmässiger  Spannung  der  Haut  sich  überall  in  weichen  Linien 
aus  der  Umgebung  erhebt. 


Fiy.  4.S.     ilj-Uiri«es  Jlüilrlieu 

mit  guter  Absetzung  der  Brust  gegen 

die  vordere  Acliselgrenze  (recMs). 

(Oesterreicherin.) 


122  Brüste. 

Neigimg  zu  Fettansatz  aber  geht  meist  gepaart  mit  geringerer 
Bindegewebsausbilduug  und  geringerer  Elasticität  der  Haut.  Dem- 
nacli  werden  vorwiegend  aus  Fett  bestehende  Brüste  schlaffer  sein, 
sich  senken  und  tiefer  stehen ,  und  eher  an  ihrem  unteren  Rande 
die  Haut  in  einer  Falte  abheben,  als  bei  ersterwähnter  Be- 
schaffenheit. 

Der  naturwissenschaftliche  Werth  der  Brust  hängt  aber  ab 
von  der  Entwickelung  des  Drüsenkörpers,  demnach  können  wir  von 
diesem  Standpunkt  aus  verlangen,  dass  die  Brust  hart  und  prall, 
nicht  zu  gross,  scheibenförmig  bis  halbkugelförmig  sei, 
dass  sie  ihrer  Unterlage  sowie  der  Haut  gut  anhaftet, 
dass  sie  zwischen  der  3.  und  6.  Rippe,  die  Warze  nicht 
tiefer  als  die  4.  Rippe,  steht  und  dass  sich  unter  der 
Brust  keine  Hautfalte  bildet. 

Ausserdem  muss  die  Warze  gut  und  gleichmässig  ent- 
wickelt sein  und  etwas  über  den  Warzenhof  empor- 
ragen. 

Der  Messung  zugänglich  ist  der  jeweilige  Abstand  der 
Brustwarze  n.  Derselbe  darf  bei  gut  entwickelten  Brüsten 
nicht  kleiner  sein  als  20  cm. 

Denselben  Standpunkt  hat  aber  auch  die  Kunst,  voran  die 
griechische,  stets  eingenommen,  und  so  deckt  sich  auch  hier  wieder 
das  Normale  mit  dem  Schönen. 

Da  wir  mit  dem  Tiefstehen  der  Brüste  den  Begriff  des 
Hängens  verbinden,  so  halten  wir  einen  hohen  Ansatz  derselben 
für  schön. 

Diese  Auffassung  ist  naturwissenschaftlich  begründet,  da  bei 
gut  gewölbtem  Brustkorb  die  Rippen  enger  an  einander  stehen  und 
horizontaler  verlaufen,  wodurch  der  obere  Theil  des  Brustkorbs  dem 
Ansatz  der  Brüste  eine  breitere  Fläche  bietet,  welche  durch  einen 
kräftig  entwickelten  Brustmuskel  noch  erweitert  und  abgerundet 
wird.  So  wird  gegenseitig  hoher  Brustansatz  und  gute  Entwicke- 
lung des  Brustkorbs  und  Brustmuskels  bedingt. 

Am  schwindsüchtigen  Brustkorb  stehen  die  Brüste  an  und  für 
sich  tiefer,  da  die  Rippen  alle,  und  demnach  auch  die  der  Warze 
entsprechende    4. ,    schräg   nach    abwärts    verlaufen    und    weiter  aus 


Brüste. 


123 


einander  stehen.  Ausserdem  aber  folgen  die  Brüste  dem  Gesetze  der 
Schwere  um  so  eher,  als  der  Brustkorb  mehr  abschüssig  und  die 
Gewebe  schlaff  sind.  Aus  demselben  Grunde  bildet  sich  unter  ihnen 
eine  Hautfalte  (vgl.  Venus  von  Botticelli,  Fig.  6). 


Fig.  49.    Gut  gebaute  Brust. 


Als  Beispiel  für  eine  gut  gebaute  Brust  diene  Fig.  49. 

Der  Brustkorb  ist  gut  und  gleichmässig  gewölbt,  die  Schlüssel- 
beine springen  nicht  vor,  unter  ihnen  wölbt  sich  die  Brust  gleich- 
mässig mit  breiter  oberer  Fläche,  ohne  dass  die  Rippen  sichtbar 
sind.  Die  kräftige  Entwickelung  des  Brustmuskels  ist  ausser  der 
gleichmässigen  Wölbung  an  der  guten  Ausprägung  der  vorderen  im 
Arm  sich  verlierenden  Achsellinie  erkennbar.     Die  Brüste  sind  halb- 


124  Brüste. 

kugelig,  hock  angesetzt,  liegen  dem  Brustmuskel  zum  grössten  Tlieil 
auf,  bilden  keine  Hautfalte.  Dass  sie  mit  der  Unterlage  verwachsen 
sind,  ist  ersichtlich,  aus  der  rechten  Brust,  die  mit  dem  rechten  ge- 
hobenen Brustmuskel  zusammen  emporsteigt.  Der  untere  Rippen- 
rand bildet  in  der  Herzgrube  einen  rechten  Winkel. 

Dasselbe  Verhältniss  zeigt  Tafel  H  bei  kleineren  Brüsten  und 
Fig.  27  bei  etwas  schwächerer  Entwickelung  des  Muskels  und 
stärkerem  Fettansatz. 

Als  Beispiel  für  eine  schlecht  gebaute  Brust  dient  Fig.  50,  das 
den  schwindsüchtigen  Typus  repräsentirt. 

Der  Brustkorb  ist  flach,  schmal  und  wenig  gewölbt,  die 
Schlüsselbeine  und  die  Schultern  treten  stark  hervor.  Die  2.  und 
der  Ansatz  der  3.  Rippe  ist  rechts  bei  der  seitlichen  Beleuchtung 
deutlich  sichtbar.  Der  Brustmuskel  ist  schwach  entwickelt,  so  dass 
die  vordere  Achsellinie  kaum  hervortritt.  Die  Brüste  sind  gesunken 
und  haben  die  Brusthaut  mit  herabgezogen ,  wodurch  eine  schräge 
Linie  vom  Brustbein  nach  aussen  entstanden  ist,  die  unter  der  Brust 
in  eine  Hautfalte  ausläuft.  Die  Brustwarze  steht  zwischen  der  5. 
und  6.  Rippe. 

Wenn  man  trotz  aller  dieser  Fehler  der  Grestalt  einen  gewissen 
jugendlichen  Liebreiz  nicht  absprechen  kann ,  so  erinnere  ich  nur 
wieder  an  die  Venus  des  Sandro  Botticelli,  die  denselben  Typus 
repräsentirt.  Auch  das  Krankhafte  kann  seinen  Reiz  haben,  aber 
schön  ist  es  nicht. 

Wir  haben  gezeigt,  dass  die  Beschaffenheit  der  Brüste  ausser 
vom  Drüsenkörper  selbst  abhängig  ist  von  der  Form  des  Brustkorbs, 
der  Stärke  der  Muskeln  und  der  Elasticität  der  Haut,  und  dass  ein 
Fehler  bei  einem  dieser  Elemente  auch  stets  eine  Entstellung  der 
Brüste  zur  Folge  hat. 

Ueber  den  Brustkorb  und  die  [Muskulatur  ist  bereits  ge- 
sprochen, die  Elasticität  der  Haut  jedoch  ist  nur  beiläufig  erwähnt, 
insofern  als  mit  geringerer  Elasticität  grössere  Neigung  zur  Fett- 
bildung  gepaart  geht. 

Ausserdem  aber  kann  Verringerung  der  Elasticität  die  ursprüng- 
lich schöne  Form  der  Brüste  vorübergehend  oder  auch  dauernd  ent- 
stellen.    Verringerung    der  Elasticität   tritt  ein,    wenn    auf  stärkere 


Brüste. 


125 


Anspaimimg  Erschlaffung  erfolgt,  oder  wenn  die  Grenze   der  Dehn- 
barkeit überschritten  ist.     Der  erste  Fall  findet  sich  bei  starker  Ab- 


Fig.  50.    Schleclit  a-ebaute  Brust. 


magerung   und   bei   Schwangerschaft,    der   letzte   bei  Neigung   zum 
Fettansatz. 

Starke    Abmagerung    als   Folge    acuter  Krankheiten    oder  an- 


126  Brüste. 

strengender  Lebensweise  kann  leiclit  durcli  Ruhe  und  gute  Kost 
wieder  verschwinden,  auch  die  durch  die  Schwangerschaft  ver- 
ursachte zeitweise  Füllung  der  Brüste  kann  verschwinden,  ohne  eine 
bleibende  Entstellung  zu  hinterlassen,  und  zwar  geschieht  dies  bei 
richtiger  Behandlung  viel  häufiger,  als  im  allgemeinen  angenommen 
wird.  Eine  meiner  Patientinnen,  die  sechsmal  geboren  hatte, 
zeigte  weder  an  den  Brüsten  noch  sonst  an  irgend  einem  Theil 
ihres  Körpers  die  geringsten  Spuren  der  überstandenen  Schwanger- 
schaften. 

Neigung  zu  Fettansatz  hingegen  verdirbt  die  Form  der  Brüste 
meist  dauernd,  und  zwar  um  so  eher,  wenn  er  mit  unzweckmässiger 
Ernährung  gejDaart  geht. 

Es  ist  dies  ein  Fehler,  der  die  Brüste  von  weitaus  den  meisten 
Künstlermodellen  in  sehr  kurzer  Zeit  unbrauchbar  macht. 

Diese  meist  der  ärmeren  Klasse  angehörigen  Mädchen  wachsen 
bei  mangelnder  Fleischkost  in  spärlichen  Körperverhältnissen  heran, 
wobei  dann  zur  Zeit  der  Reife  durch  stärkere  Fettablagerung  eine 
gewisse  Fülle  der  Formen  entsteht,  die  bei  mangelnder  Elasticität 
der  Haut  nur  von  äusserst  kurzer  Dauer  ist. 

Fig.  51  zeigt  eine  derartige  vergängliche  Schönheit.  Die  Ge- 
stalt zeigt  gedrungene,  aber  gefällige  Formen;  jedoch  deren  Run- 
dung ist  nicht  durch  kräftige  Muskeln  bedingt,  sondern  durch  den 
Fettansatz  der  jugendlichen  Reife.  Die  Brüste  sind  rund,  gut  ge- 
füllt und  prall;  jedoch  fehlt  die  gute  Ausprägung  der  vorderen 
Achselgrenze,  der  Beweis  des  Vorhandenseins  eines  kräftigen  Brust- 
muskels. 

Die  schräge  Linie,  die  vom  Brustbein  nach  aussen  unten  ver- 
läuft und  die  rechte  Brust  vom  Busen  scheidet,  beweist,  dass  die 
Brust  durch  ihre  Schwere  die  Haut  bereits  herabgezogen  hat.  Bei 
der  geringsten  Vermehrung  des  Gewichts  wird  die  untere  Begrenzung 
der  Brüste  zur  Falte,  und  dasselbe  tritt  ein,  wenn  die  jugendliche 
Fülle  durch  anstrengende  Lebensweise  oder  nach  Schwangerschaft 
verschwindet.  Die  höchste  Blüthe  ist  erreicht,  vielleicht  schon  über- 
schritten, so  oder  so  muss  sie  vergehen;  beaute  du  diable. 

Sehr  hübsch  und  sehr  wahr  ist  die  Anekdote,  die,  wie  ich 
glaube,  von  Cabanel  erzählt  wird.    Er  hatte  ein  sehr  schönes  Mäd- 


Brüste. 


127 


clien    für    schweres   Greld    als   Modell   angenommen    unter    der  Be- 
dingmig,  dass  sie  ein  streng  eingezogenes  Leben  führe. 


Fig.  51.    Vollentwickelte  Brust  einer  beaute  du  diable  (Bölimin). 


Eines  Tages  fand  er  sie  verändert  und  schickte  sie  weg.  Die 
Nacht  vorher  war  das  Mädchen  zum  ersten  Mal  von  der  vorge- 
schriebenen Lebensweise  abgewichen. 

Fig.  51  kann  zugleich    als  Vorbild    dienen  für    die    oben  auf- 


128  Bauch. 

gestellte  Behauptung,  dass  die  BescliafFenheit  der  Brüste  eines  der 
besten  Kriterien  ist  zur  Bestimmung  der  höclisten  Blüthe  einer  Frau. 

Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  dass  jede  Verminderung  einer 
einmal  erreichten  Fülle  den  Körper  nachtheilig  beeinflusst,  und  dass 
die  Brüste  derjenige  Körpertheil  sind,  an  dem  auch  die  geringste 
Abmagerung  am  ersten  und  deutlichsten  sichtbar  wird. 

Vor  der  höchsten  Blüthe  tritt  eine  stetige  Zunahme  in  der 
Rundung  der  Formen  ein.  Nach  derselben  tritt  Abmagerung  ein 
oder   eine   mit   Ueberspannung   der   Haut   einhergehende  UeberfüUe. 

Während  der  höchsten  Blüthe  muss  demnach  die  Form  der 
Brüste  derart  sein,  dass  die  geringste  Vermehrung  oder  Verminderung 
ihres  Umfangs  die  Form  beeinträchtigt. 

Beide  Fälle  sind  dadurch  gekennzeichnet,  dass  der  obere  Theil 
der  Brüste  sich  abflacht,  während  der  untere  Theil  sich  stärker 
rundet,  wobei  zugleich  die  Axe  der  Brustwarze  mehr  nach  oben 
gerichtet  wird. 

Aus  alledem  geht  weiter  hervor,  dass  die  höchste  Blüthe  um 
so  länger  dauert,  je  mehr  die  Form  der  Brust  durch  den  Drüsen- 
körper und  bindegewebige  Elemente  gebildet  wird,  um  so  kürzer, 
je  mehr  sie  ihre  Form   dem  Fettpolster  zu  verdanken  hat. 

Am  dauerhaftesten  sind  kleine ,  flache ,  hochangesetzte  Brüste 
mit  schön  gewölbtem  Brustkorb    und   kräftig    entwickeltem  Muskel. 

Das  Lebensalter  hat  |wenig  mit  der  Schönheit  der  Brust  zu 
machen;  ich  habe  ein  Mädchen  von  15  Jahren  mit  hängenden 
Brüsten  gesehen,  und  eine  Dame  von  60,  die,  dank  dem  kalten 
Wasser  und  körperlichen  Uebungen,  trotz  mehrfacher  Greburten  die 
vollendet  schöne  Form  ihrer  Brüste  bewahrt  hatte. 

Bauch. 

Der  Bauch  wird  von  oben  durch  den  unteren  RijDpenrand,  von 
unten  durch  die  Kämme  der  Darmbeinschaufeln  und  die  Leisten- 
bänder begrenzt.  Seine  Form  hängt  im  wesentlichen  ab  von  seiner 
muskulösen  Bedeckung  und  von  der  Form  der  oberen  und  unteren 
knöchernen  Grrenze. 

Die  für  den  unteren  Rippenrand  bereits  genannten  Bedingungen 


Meiseniaoli  HiffarEh.  &  Co.,Mmolwn. 


BÖHMISCHES    MÄDCHEN 
Pliotographie  Tiach.  dem.  LeTDan 


Becken. 


129 


gelten  auch,  für  die  Plastik  des  Bauches.  Der  Brustkorb  muss  eine 
gieichmässig  gewölbte  untere  Grenze  haben ,  die  am  Brustbein  in 
einem  nahezu  rechten  Winkel  zusammenstösst,  um  den  Bauchmuskeln 
eine  breite  Anheftungsfläche  zu  bieten. 

Das  Becken  (vgl.  Fig.  32)  liegt  grösstentheils  im  Inneren  des 
Körpers  verborgen;  dicht  unter  die  Haut  treten  nur  die  Darnibein- 
kämme  und  die  Vereinigung  der  Schambeine. 

Bei   normal   gebautem  Becken   des  Weibes   muss    der   grösste 


Fig.  52.    Weibliches  Becken. 

CC  KammiDreite  (Cristae),  SS  Dornbreite  (Spinae),  TT  Hüftenbreite  (Trocliantereu), 

X  X  Scliambeinvereinigung. 


Abstand  der  Darmbeinkämme  (Cristae)  mindestens  28  cm  be- 
tragen, während  ihre  vordersten  Enden,  die  Dornen  (Spinae),  min- 
destens 26  cm  von  einander  abstehen  müssen.  Noch  wichtiger  als 
die  Masse  selbst  ist  der  jeweilige  Unterschied,  der  durchschnittlich. 
3  cm,  nie  weniger  als  2  cm  betragen  soll. 

Ein  drittes  Breitenmass  ist  der  Abstand  der  Hüften  an  dem 
Oberschenkelknorren  (Trocbanteren) ;  dieser  muss  mindestens 
31  betragen,    also  2 — 3  cm  mehr  als    der  Kammabstand  (Fig.  52). 

Der  Unterschied  in  diesen  drei  Massen  lässt  Rückschlüsse  zu 
auf  die  Grestaltung  des  Beckenkanals  und  ist  deshalb  von  grosser 
Wichtigkeit  für  den  Geburtshelfer. 

Je  grösser  die  Masse  und  je  grösser  der  Unterschied  derselben 

Stratz,  Die  Scliönlieit  des  weiblichen  Körpers.  9 


130  Becken. 

unter  einander,  desto  besser  gewölbt  ist  das  Becken  und  desto  ge- 
räumiger seine  Höhle.  Die  normalen,  durcb  zahlreiche  Messungen 
festgestellten  Durchschnittsmasse  sind:  Dornbreite  26,  Kammbreite  29, 
Hüftbreite  31,5   (Differenz  3  und  2,5  cm). 

Das  breite  Becken  ist  ein  naturwissenschaftlicher  Beweis  für 
die  Tüchtigkeit  der  Besitzerin  zur  Fortpflanzung,  also  das  wichtigste 
secundäre  Greschlechtsmerkmal.  Zugleich  aber  wird  es  vom  künst- 
lerischen Standpunkt  als  Schönheit  angesehen.  Also  auch  hier  wie- 
der ein  sprechender  Beweis,  dass  das  Normale  und  das  Schöne  oft 
unbewusst  denselben  Gesetzen  gehorchen  müssen. 

Je  geringer  die  Wölbung  der  Beckenschaufeln  ist,  desto  mehr 
müssen  die  Dornen  nach  aussen  treten ,  bis  sie  schliesslich  ebenso 
weit  abstehen  als  die  Kämme  in  ihrer  grössten  Entfernung,  ja  es 
kann  sogar  vorkommen,  dass  die  Dornen  den  mittleren  Abstand  der 
Kämme  in  der  Breite  überschreiten.  Die  Erfahrung  hat  gelehrt, 
dass  dann  auch  die  Beckenhöhle  stark  verengert  wird,  und  dass  der- 
artige Fehler  in  der  Entwickelung  des  Beckens  in  weitaus  den 
meisten  Fällen  auf  Rhachitis  beruhen. 

Hand  in  Hand  mit  der  geringeren  Wölbung  der  Beckenschaufeln 
geht  aber  eine  geringere  Wölbung  der  von  ihr  entspringenden  mus- 
kulösen Bauchwand;  diese  hat  bei  dem  geringeren  Umfang  der 
knöchernen  Basis  eine  grössere  Last  zu  tragen  und  wenn  sie  ihrer 
Aufgabe  nicht  gewachsen  ist,  sinkt  sie  nach  unten,  es  entsteht  ein 
Hängebauch. 

Die  Vereinigung  der  Schambeine  liegt  hinter  dem  Schamberg, 
so  dass  ihre  obere  Grrenze  etwa  mit  der  Grenze  der  Schamhaare 
nach  oben,  zusammenfällt.  Bei  aufrechter  Stellung  liegt  ihr  vor- 
derster Punkt  ungefähr  in  derselben  senkrechten  Fläche  wie  die 
Dornen  (vgl.  Fig.  35).  Von  hier  zieht  gegen  die  Dornen  zu  jeder- 
seits  das  Leistenband,  das,  mit  den  Knochen  fest  verbunden,  die 
untere  Grenze  des  Bauches  bestimmt. 

Die  vordere  Bauchwand  besteht  ausschliesslich  aus  Muskeln 
und  Haut. 

Von  den  Muskeln  sind  die  wichtigsten  die  geraden  Bauch- 
muskeln (Fig.  45),  die  von  der  Mitte  des  unteren  Rippenrandes  zu 
den  Schambeinen  herabsteigen.    Wenn  sie  gut  entwickelt  sind,  müssen 


Bauch.  131 

sich  reclits  und  links  von  ihnen  zwei  Furchen  erkennen  lassen. 
Fehlen  derselben  ist  ein  Zeichen  ungenügender  Entwickelung. 

Die  übrigen  Bauchmuskeln  liegen  seitlich  über  den  Kämmen 
und  bilden  die  Weichen,  die  nach  hinten  in  die  Lenden  über- 
gehen; auch  sie  müssen  gut  ausgeprägt  sein,  da  sie  die  gute  Span- 
nung des  Bauches  in  die  Quere  bedingen. 

Fig.  45  zeigt  die  Lage  der  Muskeln,  welche  bei  guter  Ent- 
wickelung ebenso  viele  Hervorwölbungen  auf  der  Bauchfläche,  zwei 
mittlere  längere  und  zwei  kürzere  seitliche,  zum  Gesetze  machen. 
Einigermassen  wird  diese  Gestaltung  beeinflusst  durch  die  Vertheilung 
des  Fettpolsters,  das  bei  der  Frau  sich  in  der  Gegend  um  den  Nabel 
und  auf  dem  Schamberg  stärker  anhäuft.  Da  diese  Fettvertheilung 
ein  secundäres  weibliches  Geschlechtsmerkmal  ist,  so  muss  sie  unter 
normalen  Verhältnissen  deutlich  ausgeprägt  sein. 

Wenn  wir  nun  weiter  ins  Auge  fassen ,  dass  durch  die  von 
oben  und  seitlich  einsetzenden  Muskelmassen  der  Unterleib  abgeflacht 
und  zurückgedrängt  werden  muss,  soweit  er  unterhalb  der  Muskeln 
liegt  (also  nicht  die  Nabelgegend),  so  können  wir  am  gut  gebauten 
Bauche  das  Folgende  erkennen: 

Der  Bauch  ist  flach  gewölbt;  in  der  Mittellinie  so- 
wie jederseits  etwa  handbreit  davon  ziehen  zwei  Furchen 
herab,  die  sich  allmählig  in  der  am  stärksten  und  weich 
sich  vorwölbenden  Nabelgegend  verlieren,  unterhalb 
derselben  aber  wieder  etwas  deutlicher  werden.  Der 
Nabel  liegt  in  einer  (durch  die  Fettanhäufung  bedingten)  tieferen 
Grube.  Ausserhalb  der  seitlichen  Furchen  wölben  sich 
die  Weichen  stärker  hervor.  Der  üebergang  aller  dieser 
Furchen  und  Wölbungen  muss  weich  sein. 

Zwischen  Nabelgegend  und  Schamberg  bildet  der 
Umriss  im  Profil  eine  leichte  Wellenlinie,  aus  der  sich 
der  Schamberg  stärker  hervorhebt  (Fig.  53). 

Jedes  Abweichen  von  diesen  Vorschriften  ist  ein  Fehler,  ver- 
ursacht durch  schlechte  Ernährung,  fehlerhafte  Knochenbegrenzung 
nach  Rhachitis  etc.,  unrichtige  Fettvertheilung,  nicht  genügende  Ent- 
wickelung der  weiblichen  Geschlechtscharaktere ,  und  endlich  durch 
das  Schnüren. 


132 


Bauch. 


Fig.  53.    Wellenlinie  des  Rumpfes  im  Profil.    (Aufnahme  von  Heid,  Wien.) 


Ausser  den  Fehlern  treten  aber  auch  deren  Folgezustände 
mehr  und  mehr  hervor. 

Bei  schlechter  Ernährung,  d.  h.  ungenügender  Fleischkost,  ist 
die  Masse  der  nöthigen  Nahrung  grösser,  die  Därme  werden  stärker 


Bauch.  133 

ausgedehnt,  so  dass  die  Spannimg  des  Bauclies  zunimmt,  ohne 
dass  die  Muskehi  kräftiger  werden:  die  Bauchwand  wird  dünner, 
wölbt  sich  stark  vor  und  ist  wenig  modellirt,  es  entsteht  der 
Spitzbauch. 

Bei  zu  starkem  und  gleichmässig  über  den  ganzen  Bauch  ver- 
theiltem  Fettpolster  entsteht  der  gleichmässig  runde,  durch  keine 
Furche  in  seiner  Gestaltlosigkeit  getrübte  Froschbauch.  Ein  gut 
ausgebildetes  Exemplar  dieser  Grattung  zeigt  Fig.  19. 

Bei  schmalem  Brustkorb  ist  der  Verlauf  der  Bauchwand  nach 
dem  Becken  zu  verbreitet,  namentlich  aber  die  Wirkung  der  geraden 
Bauchmuskeln  bei  geringerer  Breite  beeinträchtigt.  Bei  ungenügender 
Wölbung  des  Beckens,  wie  sie  mamentlich  häufig  bei  Rhachitis  auf- 
tritt, ist  durch  das  Nachaussentreten  der  Dornen  ein  ähnliches  Ver- 
hältniss  geschaffen,  das  noch  ärger  wird,  wenn  zugleich  auch  ein 
enger  Brustkorb  besteht.  Die  ganze  Last  der  Baucheingeweide  ruht 
dann  auf  dem  unteren  Theil  der  an  und  für  sich  in  ungünstigen 
Verhältnissen  verkehrenden  Muskelwand ,  die  sich  mehr  und  mehr 
nach  unten  vorwölbt;  es  entsteht  ein  Hängebauch. 

Ein  sehr  wichtiges  Hülfsmittel  zur  Erzeugung  dieser  Difformi- 
täten  ist  der  Missbrauch  der  Corsets. 

Schnürt  man  die  Mitte  ein,  dann  verengert  sich  zunächst  die 
untere  Rundung  des  Brustkorbs ,  so  dass  alle  Muskeln  an  kurzer 
Haftfläche  liegen.  Die  geraden  Bauchmuskeln,  von  deren  Ent- 
wickelung  hauptsächlich  die  schöne  Form  des  Unterleibes  abhängt, 
können  sich  nicht  zusammenziehen,  da  die  Druckfurchen  mitten 
über  sie  hinlaufen ;  ihre  oberen  Parthien  sind  zur  TJnthätigkeit 
verurtheilt,  während  die  unteren  die  ganze  Last  der  herabgepressten 
Eingeweide  zu  tragen  haben.  Seitlich  werden  die  Weichen  ein- 
geschnürt, auch  hier  schwinden  die  Muskeln  und  das  Fett  sinkt 
nach  unten. 

Eine  einzige  Geburt  genügt,  um  alle  diese  ihrer  Widerstands- 
fähigkeit beraubten  Elemente  zeitlebens  in  einen  schlaffen,  herab- 
hängenden Sack  zu  verwandeln,  nachdem  sie  selbst  der  betroffenen 
Patientin  viel  mehr  Leiden  verursacht  hat,  als  je  im  Fluche  nach 
dem  Sündenfall  dem  Weibe  zugemuthet  worden  war. 

Schwangerschaften    unter    normalen  Verhältnissen    hinterlassen 


134  Bauch. 

nur  dann  bleibende  Spuren,  wenn  sie  sehr  zablreicli  und  rasch,  hinter 
einander  auftreten.  Bei  geschnürtem  Leibe  dagegen  ist  die  Stufen- 
leiter: Wespentaille,  Spitzbauch,  schwere  Geburt,  Hängebauch,  zweite 
schwere  Geburt,  faltiger  Hängebauch. 

Noch  rascher  verliert  sich  die  Schönheit  des  Bauches,  wenn 
während  der  Schwangerschaft  stark  geschnürt  wird,  dagegen  wird 
sie  durch  kräftiges  Einbinden  nacb  der  Geburt  erhalten. 

Die  Schwangerschaftsnarben  bilden  sich  bei  genügender  Elasti- 
cität  der  Bauchdecken  ganz  oder  docb  grösstentheils  zurück. 

An  den  Leisten  geht  der  Bauch  in  weichen  Linien  in  die 
Schenkel  über ,  in  der  Mitte  setzt  er  sich  fort  in  den  Schamberg. 
Die  leichte  cjuere  Einsenkung  darüber  ist  zugleich  die  obere  Grenze 
der  Schambehaarung.  Höher  hinauf  wachsende  Haare  sind  dem 
Manne  eigentbümlich  und  darum  bei  der  Frau  ein  Fehler. 

Es  ist  bereits  früher  darauf  hingewiesen,  dass  der  Laie,  durch 
Traditionen  der  bildenden  Kunst  veranlasst,  sieb  geneigt  fühlt,  die 
Behaarung  des  Schamberges  für  unschön  zu  halten.  Der  Arzt,  an 
den  Anblick  gewöhnt,  findet  sie  natürlicb  und  darum  nicht  hässlich 
bei  massiger  Entwickelung.  Starke  Entwickelung  ist  ein  Fehler, 
weil  sie  an  das  Thierische  und  Männliche  erinnert,  und  dadurch  den 
weiblichen  Geschlechtscharakter  verletzt. 

In  ausführlicher  Weise  hat  Brücke  ^)  die  Grenzlinien  zwischen 
Bauch  und  Schenkeln  beim  Weibe  besprochen.  Er  unterscheidet 
zwei  Hauptformen;  bei  der  einen  bilden  die  Trennungslinien  zwischen 
Scham  und  Schenkeln  einen  spitzen  Winkel,  verlaufen  steil  nach 
aufwärts  und  vereinigen  sich  mit  der  von  den  Dornen  nach  abwärts 
führenden  Beckenlinie,  bei  der  zweiten  bilden  sie  einen  stumpferen 
Winkel  und  verlaufen  tiefer  abwärts  nach  den  Schenkeln  zu,  während 
die  von  den  Dornen  absteigende  Beckenlinie  oberhalb  in  die  Furche 
zwischen  Schamhügel  und  Nabelgegend  ausläuft.  Die  erste  Form 
ist  bedingt  durch  geringere  Beckenneigung,  hohe  Darmbeinschaufeln 
und  näher  gestellte  Dornen,  die  zweite  durch  stärkere  Beckenneigung, 
breite  Darmbeinschaufeln  und  weit  gestellte  Dornen. 

Da   nun    eine    stärkere   Beckenneigung    (vgl.  Fig.  35)    ebenso 


^)  Brücke,  Schönheit  und  Fehler  der  menschlichen  Gestalt,  p.  111  ff. 


Bauch. 


135 


wie  ein  breites  Becken 
für  das  weibliche  Ge- 
schlecht charakte- 
ristisch sind,  so  kön- 
nen wir  ohne  weiteres 
der  zweiten  Form  den 
Vorzug  geben. 

Da  in  diesem 
Falle ,  bei  stärkerer 
Beckenneigung ,  die 
Schamspalte  ebenfalls 
mehr  nach  unten  und 
hinten  tritt,  so  ergiebt 
sich  daraus  die  weitere 
Folge ,  dass  die  Ge- 
staltung des  Bauches 
um  so  normaler  und 
darum  schöner  ist,  je 
weniger  in  der  auf- 
rechten Stellung  von 
vorn  die  Schamspalte 
sichtbar  ist. 

Ein  Beispiel  der 
ersten  Form  bietet 
Fig.  48,  bei  der  das 
Becken  noch  nicht  die 
volle  weibliche  Ent- 
wickelung  erreicht  hat. 
Eine  vorzügliche  Aus- 
bildung der  zweiten 
Form  zeigt  Fig.  54,  die 
einen  auch  im  übri- 
gen völlig  fehlerfreien 
Rumpf  aufzuweisen  hat.  Eine  dritte,  zwischen  Nabel  und  Schamberg 
etwas  höher  quer  verlaufende  Linie  erwähnt  Richer  ^ )  als  charakte- 

')  Anatomie  artistique,  p.  188. 


Fig.  54.    Weiblicher  Körper  mit  scliönen  G-renzlinieu 
zwisclien  Eixmpf  und  Schenkeln  (Oesterreicherin). 


136  Bauch. 

ristiscli  für  das  weibliche  Geschleclit.  Ich.  stimme  ihm  bei,  halte  jedoch 
diese  Linie  für  ein  Kunstproduct,  da  ich  sie  nur  zusammen  mit  anderen 
Folgen  von  starkem  Schnüren  gesehen  habe  ^). 

Die  zweite,  zwischen  Nabel  und  Schamberg  verlaufende  Linie 
darf,  wie  auch  Langer^)  hervorhebt,  nur  an  den  Seiten  deutlich 
sein  und  muss  in  der  Mittellinie  zu  einer  seichten  Furche  verflachen. 
Erst  bei  übermässiger  Fettbildung  tritt  sie  schärfer  hervor. 

Der  Nabel  kann  gross  oder  klein,  flach  oder  eingezogen  sein, 
hoch  oder  tief  stehen.  Da  ein  grosser  Nabel  die  Folge  eines 
mangelhaften  Verschlusses  des  Nabelrings  ist,  so  muss  ein  kleiner 
Nabel  schön  sein,  weil  er  die  Folge  besserer  Entwickelung  ist. 
Und  da  beim  Weibe  eine  stärkere  Fettanhäufung  um  den  Nabel, 
die  denselben  zugleich  vertieft,  zu  den  secundären  Geschlechts- 
charakteren gehört,  so  verdient  bei  ihr  ein  eingezogener  Nabel  den 
Vorzug.  Beim  Kind  steht  der  Nabel  am  tiefsten  und  rückt  mit 
zunehmender  Ausbildung  des  Körpers  bei  beiden  Geschlechtern  mehr 
und  mehr  nach  oben ;  Hochstand  des  Nabels  ist  demnach  ein  Zeichen 
besserer  Entwickelung. 

Für  den  Nabel  der  Frau  können  wir  in  Folge  dessen  als  Fehler 
bezeichnen,  wenn  er  gross,  flach  und  tiefstehend,  als  Vorzüge,  wenn 
er  klein,  eingezogen  und  hoch  angesetzt  ist. 

Von  den  Schamtheilen  sieht  man  bei  richtiger  Beckenneigung 
nicht  mehr  als  das  vordere  Drittel  in  der  aufrechten  Stellung  von 
vorn.  Bei  guter  Entwickelung  bilden  die  Schamlippen  zwei  pralle, 
von  vorn  nach  hinten  ziehende  Wülste,  welche,  auch  bei  massiger 
Spreizung  der  Beine,  an  der  Schamspalte  einander  anliegen  und 
die  darunter  liegenden  Theile  bedecken.  Bei  starker  Spreizung  er- 
scheinen die  Nymphen  als  zai'troth  gefärbte,  hahnenkammartige 
Gebilde  in  der  Tiefe. 

Ein  Fehler  ist  das  Klaffen  der  Schamspalte  und  das  Hervor- 
ragen der  Nymphen  über  die  Schamlippen.  Das  letztere  kommt 
auch  in  Europa  häufig  vor.  Die  Nymphen  erhalten  dann  eine  braune 
Farbe.  Unter  den  Hottentottinnen  ist  dieser  Fehler  sehr  häufig  und 
stark  ausgeprägt;  er  wird  als   „Hottentottenschürze"   beschrieben. 

1)  Vgl.  Brücke  1.  c.  p.  87. 

^)  Anatomie  der  äusseren  Formen,  p.  209. 


Rücken. 


137 


Rücken. 

Der  Rücken  bildet   die  gemeinschaftliclie  Kehrseite   von  Brust 
und   Bauch.      Seine    schöne    Gestaltung   hängt   in    erster   Linie   vom 
normalen  Bau  der  knöchernen  Unterlage  ab,   und 
dafür  gelten  dieselben  Vorschriften  wie  oben. 

Die  Wirbelsäule  muss,  von  hinten  betrachtet, 
ganz  gerade  verlaufen.  Durch  Rhachitis ,  durch 
unzweckmässige  Lebensweise,  hauptsächlich  Ueber- 
anstrengung  in  jugendlichem  Alter  mit  oder 
ohne  Rhachitis,  durch  tuberculöse  Wirbelkrank- 
heiten können  Verkrümmungen  entstehen,  die  als 
ebenso  viele  Fehler  zu  betrachten  sind. 

Im  jProfil  muss  die  Wirbelsäule  im  oberen 
Brusttheil  etwas  nach  hinten,  im  Lendentheil  sich 
nach  vorn  vorwölben,  wodurch  eine  leichte  Rundung 
in  der  Schultergegend  und  eine  Höhlung  im  Kreuz 
entsteht ;  diese  letztere  muss  beim  Weibe  besonders 
deutlich  ausgeprägt  sein,  weil  sie,  zusammen  mit 
der  stärkeren  Beckenneigung,  ein  secundäres  Ge- 
schlechtsmerkmal bildet. 

Eine  zu  starke  Rundung  des  oberen  Rücken- 
theils, der  runde  Rücken,  ist  ein  Fehler.  Der- 
selbe kann  nicht  bestehen ,  ohne  dass  auch  der 
Brustkorb  stark  nach  hinten  tritt  und  deshalb  die 
Brust  flach  wird  und  die  Schultern  nach  vorn 
sinken.  Es  ist  bekannt-^),  dass  eine  derartige 
Bildung  in  einzelnen  Geschlechtern  erblich  ist  und 
sich  namentlich  bei  Juden  häufig  findet. 

Fig.  55,  dem  Buche  von  Hofl'a  entnommen, 
zeigt  den  typischen  runden  Rücken. 

Hoöa   nimmt    an,    dass    eine    derartige   laxe 
Haltung  hauptsächlich  auf  Willensschwäche  beruht.    Ein  vergleichen- 
der Blick  auf  Fig.  21  jedoch  lehrt  uns,    dass  mangelhafte  Muskel- 


Fig.  55.    Runder 
Rücken  nacli  Hoifa. 


^)  Vgl.  Hoffa,  Orthopädische  Chirurgie,  p.  221. 


138  Rücken. 

entwickelung  denselben  Einfluss  ausüben  muss.  Im  ersteren  Fall 
müsste  demnach,  durch.  Muskelspannung  der  Fehler  ausgeglichen 
werden  können,  im  zweiten  nicht. 

Eine  zu  starke  Höhlung  im  Lendentheil,  der  hohle  Rücken, 
ist  ebenfalls  ein  Fehler,  der  wiederum  ein  starkes  Vorspringen  des 
Bauches  nach  Yorn  und  des  Gesässes  nach  hinten  veranlassen  muss. 
Er  findet  sich  physiologisch  in  der  späteren  Zeit  der  Schwanger- 
schaft, bei  der  das  Ueberwiegen  des  stark  gedehnten  Bauches  durch. 
TJebersinken  des  Oberkörpers  nach,  hinten  ausgeglichen  wird ;  dann 
aber  auch  bei  jeder  zu  starken  Neigung  des  Beckens,  wie  sie  nament- 
lich bei  Hüftgelenksentzündung  vorkommt. 

Ein  hohler  Rücken  geht  gepaart  mit  zu  schwacher  Entwicke- 
lung der  Rückenmuskulatur. 

Als  normale  können  wir  eine  Krümmung  ansehen,  die  ein 
Profil  giebt  wie  Fig.  35. 

Auf  der  Mittellinie  des  Rückens  sind  die  Dornfortsätze  der 
Wirbelbogen  deutlich  durch  die  Haut  fühlbar,  zum  Theil  auch  sicht- 
bar; am  stärksten  springt  oben  im  Nacken  der  7.  Halswirbel  ins  Auge. 

Seitliche  Verkrümmungen  der  Wirbelsäule  haben  stets  auch 
fehlerhafte  Bildung  des  Brustkorbes  zur  Folge. 

Der  Brustkorb  muss  auch  hinten  symmetrisch  gebaut  und  gut 
gewölbt  sein.  Ist  er ,  bei  flacher  Brust ,  zu  stark  gewölbt ,  dann 
treten  die  Schulterblätter  zu  stark  heraus ,  und  die  Schultern 
sinken  nach  vorn.  Ist  er,  wie  bei  der  Anlage  zur  Schwindsucht, 
zu  lang  und  zu  schmal,  dann  sinken  die  Schultern  herab  und  heben 
den  unteren  Winkel  der  Schulterblätter  heraus.  Ist  er  ungleich- 
massig  entwickelt,  dann  steht  das  eine  Schulterblatt  höher  als  das 
andere,  und  der  eine  Winkel  steht  weiter  entfernt  oder  schiefer  gegen 
die  Mittellinie  als  der  andere. 

Geringere  Fehler  der  Wirbelsäule  sowohl  wie  des  Brustkorbes 
lassen  sich  demnach  am  besten  nach  dem  Stand  der  Schulterblätter 
beurtheilen. 

So  zeigt  Fig.  56  einen  tieferen  Stand  des  rechten  Schulter- 
hlattes  mit  stärkerem  Hervortreten  seines  unteren  Randes  als  erstes 
Zeichen  einer  beginnenden  Rückgratsverkrümmung  nach  links  mit 
stärkerer  Wölbunsr  der  rechten  Hälfte  des  Brustkorbes. 


Rücken. 


139 


Dass  ein  zu  schmales  Becken 
die  Gestalt  des  Rückens  ver- 
derben muss,  geht  schon  daraus 
hervor,  dass  für  ihn  dasselbe 
Verhältniss  zwischen  Schulter- 
breite, Taillenbreite  und  Hüft- 
breite bestehen  muss,  wie  an  der 
Vorderseite  des  Rumpfes ,  und 
dass  die  Verringerung  der  Hüft- 
breite den  weiblichen  Geschlechts- 
charakter verschwinden  lässt. 

Von  besonderer  Wichtigkeit 
jedoch  ist  das  Kreuzbein ,  das 
beim  Weibe  sehr  viel  breiter  ist 
als  beim  Manne,  und  das  zur  Ge- 
staltung des  Rückens  um  so  mehr 
beiträgt,  als  es  dicht  unter  der 
Haut  liegt;  rechts  und  links  von 
ihm  liegen  die  hinteren  Dornen 
der  von  vorn  kommenden  Darm- 
beinkämme, deren  Abstand  zu- 
gleich die  obere  Breite  des  Kreuz- 
beines angiebt  und  mindestens 
10  cm  betragen  muss. 

Je  gleichmässiger  die  Wöl- 
bung der  Darmbeinkämme  ist, 
desto  besser  wird  die  Wölbung 
des  Rückens  in  den  Lenden,  die 
der  unteren  hinteren  Rippen- 
wölbung entsprechen  muss,  um 
eine  gleichmässige  Spannung  der 
daran  befestigten  Muskeln  zu  er- 
möglichen. 

Während  die  tiefer  liegenden  Rückenmuskeln  beinahe  alle  mit 
der  Wirbelsäule  parallel  verlaufen  und  die  Skelettheile  verbinden, 
abrunden  und  ihre  Uebergänge  verstreichen  lassen,    sind   die  höher 


Fig.  56.    Tiefstand  der  rechten  Sclmlter 

bei   beginnender  Rückgratsverkrümmung 

bei  einem  23jäln-igen  Mädchen  von 

holländisch-englischer  Abkunft. 


140  Rücken. 

liegenden  Rückenmuskeln,  also  gerade  diejenigen,  die  der  Oberfläclie 
das  Relief  geben,  alle  nach  der  Schulter  gerichtet  (Fig.  46). 

Um  das  feine  Relief  der  Rückenmuskeln  zu  verstehen,  ist  eine 
genaue  Kenntniss  derselben  nöthig;  für  unsere  Zwecke  genügt  es, 
darauf  aufmerksam  zu  machen,  dass  die  meisten  Muskeln  zum  Schulter- 
blatt und  von  diesem  zur  Schulter  ziehen,  dass  sich  aber  der  grosse 
Kapuzenmuskel  und  der  breite  Rückenmuskel  jederseits  darüber  hin- 
legen, so  dass  sich  an  ihnen  ausser  ihren  eigenen  auch  die  Bewe- 
gungen der  darunter  liegenden  Schulterblattmuskeln  gewissermassen 
verschleiert  in  wechselvollem  Spiele  markiren. 

Da  die  Muskeln  von  der  Mitte  nach  rechts  und  links  verlaufen, 
so  wird  sich  zwischen  den  Muskelbäuchen  bei  guter  Entwickelung 
eine  Rinne  bilden,  die  um  so  tiefer  wird,  je  stärker  die  Schultern 
nach  hinten  gezogen  werden.  Im  Kreuz  läuft  diese  Rinne  flach  aus, 
weil  hier  das  knöcherne  Gerüst  der  Haut  sich  anlegt.  Das  Relief 
des  Rückens  wird  vollendet  durch   die  Haut  mit  ihrem  Fettpolster. 

Auf  die  Vertheilung  des  Fettes  an  den  Schultern  kommen  wir 
noch  zu  sprechen;  für  den  übrigen  Rücken  ist  die  Thatsache  von 
Wichtigkeit,  dass  beim  Weibe  ein  stärkeres  Fettpolster  von  den 
Hüften  aus  über  die  Darmbeinkämme  nach  oben  zieht,  sich  seitlich 
und  oberhalb  der  Kreuzgegend  in  den  Lenden  stark  anhäuft  und 
dieselben  so  abrundet,  dass  sie  in  gleichmässiger  Wölbung  nach  den 
Hüften  hin  abfallen.  Richer  hat  auf  diesen  Umstand  besonders  auf- 
merksam gemacht  und  die  diesbezüglichen  Geschlechtsunterschiede 
im  Bilde  festgehalten  (vgl.  Fig.  47).  Beim  Manne  bleibt  der  Darm- 
beinkamm stets  deutlicher  sichtbar.  Am  Kreuz  haftet  die  Haut  der 
knöchernen  Unterlage  stets  mehr  an,  am  stärksten  aber  in  der  Gegend 
der  hinteren  Dornen,  woselbst  sich  bei  genügender  Fettbildung  zwei 
Grübchen,  die  Kreuzgrübchen,  formen,  die,  bei  seitlicher  Be- 
leuchtung deutlich  sichtbar,  ein  charakteristisches  Zeichen  schöner 
weiblicher  Körperbildung  sind  (Fig.  57). 

Als  charakteristisch  für  das  gut  gebaute  Weib  müssen  wir  an- 
sehen, dass  der  Abstand  dieser  Grübchen  mindestens  10  cm 
beträgt  (Breite  des  Kreuzbeins),  dass  sie  gleichmässig  rund 
und  nicht  länglich  sind  (breite  Wölbung  des  Hüftbeins)  und 
dass    ihre    Verbindung    mit    dem    oberen    Ende    des  Spaltes 


Rücken. 


141 


zwischen  den  Hinter- 
backen einen  Winkel  von 
90'^  bildet  (grössere  Kürze 
des  Kreuzbeins  als  beim  Manne). 

Eine  derartige  Configura- 
tion  des  Rückens,  bei  der  man 
mit  Siclierbeit  jeden  Einfluss 
des  Corsets  ausscbliessen  kann, 
bietet  das  javaniscbe  Mädchen 
Muakidja  (Fig.  57). 

Das  Schnüren  entstellt 
den  Rücken  zwar  weniger  und 
später  als  Brust  und  Bauch, 
übt  aber  trotzdem  einen  lang- 
sam sich  steigernden  nach- 
theiligen Einfluss ,  namentlich 
auf  die  Entwickelung  und  Aus- 
bildung der  langen  Rücken- 
muskeln. Dafür  sprechen  die 
Klagen  über  Rückenschmerzen 
von  Frauen,  die  an  das  Corset 
gewöhnt  sind  und  es  zeitweise 
ablegen.  Aeusserlich  sichtbar 
ist  der  Einfluss  an  den  schwä- 
cher entwickelten  Weichen  und 
an  der  Verflachung  der  mitt- 
leren Rückenfurche ;  später  wird 
der  ganze  Rücken  flacher,  das 
Muskelrelief  verliert  sich  ganz, 
die  Schulterblätter  stehen  ab, 
und  das  Kreuz  wird  hohl. 

Das  erste  Stadium  bei  noch 
gut  erhaltener  Wölbung  zeigt 
eine  junge  Pariserin  (Fig.  58). 

Ausser  am  Kreuz  haftet  die  Haut  auch  am  ganzen  Verlauf  der 
Wirbelsäule  fester  an    den  Dornfortsätzen,    so    selbst,    dass   sich   in 


Fig.  57, 


Schön  modeUirter  Rücken  eines 
javanischen  Mädchens. 


j^42  Kreuzgrübchen. 


seltenen  Fällen  aucli  hier  seichte  Grübclien  bilden.  Je  gleiclimässiger 
diese  Anbeftung  ist,  desto  deutlicher  zeichnet  sich  die  mittlere  Rücken- 
furche ab ,    die  demnach  einerseits   von    guter  Anheftung  der  Haut, 


Fig.  58.    Rücken  einer  Pariserin,  durch  Schnüren  verflacht. 

andererseits    von    kräftiger    Entwickelung    der  Muskeln    und    guter 
Wölbung  des  Brustkorbs  abhängig  ist. 

Eine  sehr  schöne  Ausbildung  des  Rückens  im  allgemeinen,   der 
mittleren  Rückenfurche  im  besonderen   zeigt  Fig.  59 ,    die   auch  die 


Verbindung  des  Rumpfes  mit  Kopf  und  Hals. 


143 


Kreuzgrübchen  schön 
und  deutlich  erkennen 
lässt. 

In  Fig.  62,  der 
seitlichen  Ansicht  der 
in  Fig.  54  abgebildeten 
Person,  ist  die  mittlere 
Rückenfurche  beson- 
ders gut  ausgeprägt. 
Wir  sehen  hier  zu- 
gleich, wie  die  schöne 
Gestalt  des  Rückens  mit 
der  von  Brust  und  Bauch 
zusammenfällt ,  da  die 
Schönheit  aller  dieser 
Theile  im  grossen  und 
ganzen  von  den  glei- 
chen Bedingungen  ab- 
hängig ist. 

Die  Verbindungen 

des  Rumpfes  mit  Kopf 

und  Gliedmassen. 

Abweichend  von 
der  üblichen  Darstel- 
lung habe  ich  die  Be- 
sprechung des  Kopfes 
und  des  Rumpfes  in 
den  Vordergrund  meiner 
Darstellung  gerückt,  um 
nun  erst  den  Hals  ledig- 
lich als  verbindendes 
Glied     dieser    Körper- 

theile  zu  besprechen.  Wenn  ich  dadurch  der  Gefahr,  in  Wieder- 
holungen zu  verfallen,  nicht  ganz  entgehen  kann,  ebenso  wie  später 
bei  der  Betrachtung  der  Schultern,  so  glaube  ich  andererseits  dadurch 


Fis. 


'i9.     liückcii  eines  Jladelieus  aus  Sclieveniiigeii 
mit  gut  gebildeten  Kreuzgrübolien. 


144  Hals. 

an  Deutlichkeit  zu  gewinnen.  Eine  scharfe  Scheidung  ist  ja,  wie 
oben  schon  hervorgehoben,  bei  der  unbestimmten  Begrenzung  ohne- 
hin erschwert. 

Hals. 

Unter  Hals  versteht  man  die  Verbindung  zwischen  Kopf  und 
Rumpf,  und  zwar  meist  nur  die  vordere  Seite,  während  man  deren 
hinteren  Abschnitt  mit  Nacken  bezeichnet.  Die  Begriffe  sind  auch 
hier  etwas  verwirrt;  anatomisch  am  zweckmässigsten  erscheint  es, 
die  ganze  Verbindung  als  Hals  zu  bezeichnen,  dessen  hintere  bis  an 
das  Schulterblatt  reichende  Hälfte  den  Nacken,  die  vordere  durch 
die  Schlüsselbeine  begrenzte  die  Büste  zu  nennen. 

Im  täglichen  Leben  versteht  man  unter  den  beiden  letzteren 
Begriffen  meist  sehr  viel  grössere  Bezirke,  ja  in  der  Satire  über 
weibliche  Mode  erstreckt  sich  die  Büste  selbst  bis  zum  Nabel. 

Die  knöcherne  Unterlage  des  Halses  wird  gebildet  von  dem 
Halstheil  der  Wirbelsäule,  der  bei  allen  Menschen  bis  auf  einige 
Millimeter  gleich  lang  ist.  Er  verläuft  in  einem  leicht  nach  voi'n 
convexen  Bogen. 

Die  obere  Grenze  bildet  vorn  der  Unterkiefer ,  hinten  der 
Schädelboden;  die  untere  vorn  das  Schlüsselbein,  und  in  der  Kehl- 
grube das  Brustbein,  hinten  der  erste  Brustwirbel  mit  der  sich 
daran  anschliessenden  1 .  Rippe  und  das  Schulterblatt.  Wie  man 
sich  leicht  bei  Vergleichung  von  Fig.  32  u.  34  überzeugen  kann, 
liegen  die  hinteren  Grenzen  höher  als  die  vorderen,  so  dass  demnach 
der  Hals  im  ganzen  von  oben  und  von  unten  durch  zwei  schräg 
nach  vorn  abwärts  verlaufende  Flächen  begrenzt  wird. 

Es  geht  daraus  ohne  weiteres  hervor,  dass  bei  der  stets 
gleichen  Länge  der  Halswirbelsäule  die  scheinbare  Länge  des  Halses 
ausschliesslich  abhängt  von  der  Lage  der  oberen  und  unteren  Be- 
grenzung. 

Er  wird  kürzer  erscheinen,  wenn  der  Unterkiefer  sich  nach 
unten  vorschiebt,  oder  wenn  die  Schlüsselbeine  und  der  Brustkorb 
vorn,   die  Schultern  seitlich  sich  heben. 

Fig.  60  verdeutlicht  diese  Verhältnisse. 

Bezüglich    der   oberen   Grenze    wissen   wir    bereits,    dass    der 


Hals. 


145 


weibliclie  Unterkiefer  klein  und  niedrig  sein  muss ;  dies  weibliche 
Geschlechtsmerkmal  hat  demnach  auf  die  Bildung  des  Halses  einen 
massgebenden  Einfluss,  wie  wir  gleich  sehen  werden. 


Fig.  60.    Weiblicher  Hals  und  Schulter  im  Profil. 

7,  //,  ///,  IV  1.  bis  4.  Rippe,  K  Kopfnicker  (Sternocleidomastoideus),  M  Mönchskappen 

oder  Kapuzenmuskel  (Trapezius),  D  Schultermuskel  (Deltoideus). 


Die  untere  Grenze  hängt  in  erster  Linie  ab  von  der  Bildung 
des  Brustkorbs. 

Im  Gegensatz  zum  Manne  hat  das  Weib  einen  schmäleren 
und  längeren  Brustkorb,  es  wird  sich  demnach  der  Hals  von  der 
Brustwölbung  weniger  scharf  absetzen.    Wenn  jedoch,  wie  bei  dem 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  10 


146  Hals. 

Brustkorb  der  Schwindsüchtigen,  die  Rippen  vorn  nach  abwärts  ver- 
laufen und  weiter  aus  einander  stehen,  dann  wird  nicht  nur  die  Brust 
verflacht,  sondern  es  muss  auch  der  obere  Rand  des  Brustbeins 
herabsinken,  und  mit  ihm  die  inneren  Enden  der  Schlüsselbeine. 
Gleichzeitig  sinken  aber  auch  an  dem  abschüssigen  Brustkorb  die 
Schultern  nach  unten,  so  dass  dadurch  ein  scheinbar  langer, 
dünner  Hals  entsteht,  der  für  Schwindsucht  charakteristisch  und 
darum  nicht  normal  ist. 

Man  muss  jedoch  bedenken,  dass  das  Schlüsselbein  des 
Weibes  dadurch  ausgezeichnet  ist,  dass  es  zierlicher,  gerader 
und  weniger  vorspringend  ist  als  beim  Ma.nne,  und  dass  es  bei 
normal  gebautem  Brustkorb,  demselben  dicht  anliegend,  nach  den 
Schultern  zu  sich  etwas  senkt.  An  den  Schlüsselbeinen  ist  demnach 
die  fehlerhafte  Bildung,  die  den  längeren  Hals  vortäuscht,  erkennbar 
daran,  dass  bei  dem  schmalen,  abschüssigen  Thorax  die  Krümmung 
eine  stärkere  wird,  wodurch  sie  mehr  hervorstehen,  und  dass 
die  inneren  Enden  an  der  Kehlgrube  tiefer  stehen. 

Bei  frühzeitiger  Verknöcherung  durch  Rhachitis  entsteht  ein 
plumper,  breiter,  dabei  aber  häufig  flacher,  selbst  eingedrückter  Brust- 
korb, zugleich  mit  Verdickung  und  Verkrümmung  der  Schlüsselbeine. 

Die  verdickten  und  unregelmässig  gekrümmten  Rippen  bilden 
mit  den  stark  vorspringenden  Schlüsselbeinen  eine  viel  dickere  und 
plumpere  Masse,  die  zwar  in  normaler  Höhe  steht,  aber  durch  ihre 
Massenzunahme  den  Hals  kürzer  und  dicker  erscheinen  lässt. 
Zugleich  aber  treten  aus  demselben  Grunde  die  Schulterknochen 
stärker  hervor  und  mehr  nach  oben,  wodurch  die  Kürze  des  Halses 
noch  erhöht  wird. 

Wir  sehen  daraus,  dass  die  Gestaltung  des  Halses,  was  das 
Skelet  anlangt,  lediglich  abhängt  von:  der  Kleinheit  der  Unter- 
kiefer, dem  geraden  und  schlanken  Verlauf  der  Schlüsselbeine  und 
der  guten  und  gleichmässigen  Wölbung  des  Brustkorbes. 

Als  Fehler  haben  wir  demnach  zu  betrachten:  starke  Ent- 
wickelung  des  Unterkiefers  nach  der  Länge  und  Breite,  starke  Krüm- 
mung, Verdickung  und  Vorspringen  der  Schlüsselbeine,  zu  schmalen 
und  abschüssigen,  oder  zu  breiten  und  plumpen  Brustkorb. 

Von  den  Muskeln  sind  es  namentlich   der  Kopfnicker  und  die 


Hals.  147 

Kapuzenmuskeln,  welche  die  Form  des  Halses  beeinflussen.  Ihr  Ver- 
lauf erhellt  aus  den  Fig.  60,  45  u.  46. 

Die  Kopfnicker  laufen  beiderseits  von  der  Kehlgrube  und  dem 
inneren  Schlüsselbeinrand  nach  oben  hinter  das  Ohr.  Der  vordere 
Theil  des  Halses  zwischen  ihnen  ist  durch  den  Kehlkopf,  die  Luft- 
röhre ,  die  Speiseröhre  und  die  kleineren ,  sie  umgebenden  Muskeln 
angefüllt.  Die  Kapuzenmuskeln  gehen  vom  seitlichen  Ende  des 
Schlüsselbeins  und  vom  oberen  Rand  des  Schulterblatts  fächerförmig 
nach  der  Wirbelsäule  und  dem  Hinterkopf.  Ihre  Wölbung  bildet 
die  Nackenlinie.  Zwischen  beiden  Muskeln  bleibt,  wie  auf  Fig.  60 
ersichtlich,  der  mittlere  Theil  des  Schlüsselbeines  frei,  über  dem  bei 
ungenügender  Entwickelung  des  Fettpolsters  die  so  sehr  gefürchteten 
als  Salzfässer  bezeichneten  Gruben  sich  bilden. 

Die  übrigen  Muskeln  des  Halses  beeinflussen  die  äussere  Ge- 
stalt desselben  nicht.  Die  beiden  genannten  Muskeln  sind  bei  guter 
und  gleichmässiger  Entwickelung  bei  allen  Bewegungen  des  Kopfes 
sichtbar,  in  der  geraden  aufrechten  Stellung  des  Kopfes  nach  vorn 
jedoch  müssen  sie  sich  in  der  gleichmässigen  Rundung  des  Halses 
verlieren  mit  Ausnahme  des  vorderen  Ansatzes  der  Kopfnicker  neben 
der  Kehlgrube. 

Diese  letztere  muss  deutlich  erkennbar  sein  (vgl.  Fig.  26) ;  ihr 
Fehlen  deutet  auf  Schwellung  der  darunter  liegenden  Schilddrüse, 
demnach  auf  Anlage  zum  Kropf,   die  krankhaft  und  unschön  ist. 

Die  Haut  des  Halses  ist  vorne  zart,  im  Nacken  etwas  dicker 
und  den  übrigen  Weichtheilen  fester  anhaftend.  Das  unter  ihr 
liegende  Fettpolster  rundet  die  Form  des  Halses  ab.  An  der  vor- 
deren Seite  zwischen  den  Kopfnickern  umgiebt  es  die  tieferliegenden 
Organe,  von  denen  der  Kehlkopf  das  wichtigste  ist.  Da  dieser  beim 
Manne  als  Adamsapfel  stark  vorspringt,  so  muss  eine  flache  gleich- 
massige  Wölbung  dieser  Stelle,  als  für  das  weibliche  Geschlecht 
charakteristisch,  als  besonderer  Vorzug  gelten. 

Beim  Kopf  ist  hervorgehoben  worden,  dass  das  Fettpolster  sich 
seitlich  in  den  Wangenparthien  stärker  anhäuft.  Bei  schmalem 
Unterkiefer  geht  das  Fettpolster  gleichmässig  in  das  des  Halses  über, 
so  dass  wir  das  Verstreichen  der  Unterkieferwinkel  und  den 
weicheren  Uebergang  der  Waugen  zur  vorderen  Halsfläche 


148  Hals.     Nacken. 

als  Vorzüge  betracliten  müssen,  weil  sie  dem  weiblichen  GescHeclit 
angemessen  sind. 

Aus  demselben  Grmide  muss  im  Profil  die  Umrisslinie  vom 
Kinn  zum  Halse  weich,  sein  und  einen  möglichst  stumpfen 
Winkel  bilden,  da  das  Gegentheil  nur  bei  starker,  männlicher  Ent- 
wickelung  des  Unterkiefers  möglich  ist. 

Ueber  die  gute  Füllung  der  Schlüsselbeingruben  ist  bereits 
gesprochen. 

Treffen  alle  diese  Bedingungen  ein,  dann  bildet  der  Hals  von 
den  Wangen  herab  vorne  eine  gieichmässig  gerundete ,  allmählig 
breiter  werdende  Fläche,  die  ohne  scharfe  Abgrenzung  gieichmässig 
über  die  Schlüsselbeine  in  die  Brustwölbung  übergeht. 

Ueber  dem  Kehlkopf  finden  sich  eine  oder  mehrere  hori- 
zontal verlaufende  Furchen ,  das  sogenannte  Collier  de  Venus ;  sie 
sind  ein  Zeichen  guter  Spannung  bei  elastischer  Haut  und  nor- 
malem Fettpolster ,  und  finden  sich  stets  bei  Kindern  und  jugend- 
lichen, gutgenährten  Individuen.  Da  sie  nur  bei  weichen  Formen 
vorkommen  können ,  so  sind  sie  ein  besonderer  Vorzug  weiblicher 
Bildung. 

Nicht  zu  verwechseln  sind  diese  nur  zart  angedeuteten  Quer- 
linien über  der  Kehle  mit  den  höheren,  unter  dem  Doppelkinn  bei 
zu  starker  Fettentwickelung  sich  bildenden  Querfalten. 

Die  zur  Schulter  herabreichende  Halsnackenlinie  wird,  wie  ge- 
sagt, durch  die  obere  Wölbung  des  Kapuzenmuskels  gebildet,  der 
sich  am  Rücken  und  der  hinteren  Schultergegend  gieichmässig  aus- 
breitet und  den  Nacken  in  weichen  Linien  mit  Rücken  und  Schultern 
verstreichen  lässt.  Zu  starke  Ausbildung  dieses  Muskels  bildet  bei 
Ringkämpfern  den  sogenannten  Stiernacken  und  ist  bei  Frauen  darum 
hässlich.  Bei  gleichmässiger  Entwickelung  des  Muskels,  der  Haut, 
sowie  auch  der  knöchernen  Unterlage,  muss  der  Nacken  nach  beiden 
Schulterblättern  in  gleichmässiger  Wölbung  herabziehen  und  in  der 
Mitte  unter  dem  7.  Halswirbel  sich  allmählig  zur  mittleren  Rücken- 
furche verflachen. 

Man  hat  den  dünnen  Hals  als  ein  Zeichen  der  Jungfräulich- 
keit angesehen  und  behauptet,  dass  selbst  einmaliger  Geschlechts- 
grenuss  sich  sofort  in  einer  Dickenzunahme  des  Halses  verrathe.    Ich 


Schultern.  149 

habe  mich  persönlicli  von  der  Richtigkeit  dieser  Annahme  nicht  über- 
zeugen können. 

Dass  der  Umfang  des  Halses  gleich  dem  der  Wade  sein  müsse, 
hat  Brücke  ^)  widerlegt,  der  durch  Messungen  nachgewiesen  hat, 
dass  bei  gieichmässiger  Entwickelung  die  Wade  stets  dicker  ist  als 
der  Hals. 

Schultern. 

Die  Verbindung  des  Rumpfes  mit  den  oberen  Gliedmassen  ist 
die  Schulter.  Ihre  Form  hängt  zunächst  ab  von  der  knöchernen 
Unterlage,  von   der  wir  bereits  ausführlich  gesprochen  haben. 

Normale  Verhältnisse  verlangen  demnach  gute  und  gleich- 
massige  Wölbung  des  Brustkorbs,  gerades,  gestrecktes,  der  Brust- 
contour  sich  anschmiegendes  Schlüsselbein ,  gut  anliegendes,  flaches 
Schulterblatt. 

Die  Muskeln,  welche  vom  Schulterblatt  zum  Arm  ziehen,  werden 
alle  bedeckt  durch  den  grossen  Schultermuskel  (Deltoideus,  Fig.  60), 
der  hauptsächlich ,  bei  übrigens  guten  Verhältnissen ,  die  Form  der 
Schulter  bedingt.  Er  entspringt  vom  seitlichen  unteren  Rand  des 
Schlüsselbeins  und  vom  Kamm  des  Schulterblatts,  bildet  demnach  eine 
Fortsetzung  des  Kapuzenmuskels  unterhalb  dieser  knöchernen  Leiste. 

Auf  den  Fig.  45,  46  u.  60  lässt  sich  seine  Lage  und  deren 
Einfluss  auf  die  Form  der  Schulter  leicht  erkennen ;  sehr  schön  aus- 
geprägt ist  er  auf  Fig.  22  und  Fig.  70. 

Er  dient  hauptsächlich  zum  Heben  des  Arms  und  zum  Halten 
desselben  in  erhobener  Stellung.  Von  vorn  schliesst  sich  ihm  un- 
mittelbar der  grosse  Brustmuskel  an,  der  neben  ihm  am  Oberarm- 
bein sich  befestigt. 

Von  der  guten  Entwickelung  des  Schultermuskels  hängt  die 
gleichmässige  kräftige  Abrundung  der  Schulter  ab,  die  sich  durch 
stärkere  Absetzung  gegen  den  übrigen  Arm  von  einer  anderen  durch 
Fettanhäufung  bedingten  Schulterrundung  unterscheidet.  Diese  letztere 
ist  ein  Zeichen  reiferen  Alters  und  darum  ein  Fehler,  sobald  sie  die 
darunter  liegenden  Muskelbäuche  verdeckt. 

')  1.  c.  p.  16. 


150  Schultern. 

Die  schöne  Form  der  Schulter  kann  durch  Muskelübung, 
Heben  der  Arme  etc.  hervorgehoben  und  durch  sie  auch  erhalten 
werden.  Brücke-^)  hebt  hervor,  dass  die  Albanerinnen,  die  ihre 
Lasten  mit  erhobenen  Armen  auf  dem  Kopfe  tragen,  besonders 
schöne  Schultern  besitzen.^ 

Von  der  guten  Gestaltung  dieser  Muskeln,  die  ja  auch  bei 
normalen  Verhältnissen  eine  analoge  Ausbildung  der  übrigen  Muskeln 
zur  Folge  haben  muss,  hängt  eine  Bildung  an  der  weiblichen  Schulter 
ab,  die  sich  bald  mehr,  bald  weniger  deutlich  auch  in  der  Ruhe 
findet;  dies  sind  ein  oder  zwei  flache  Grrübchen  an  der  Stelle,  wo 
die  Haut  dem  Kamm  des  Schulterblattes  an  der  Grenze  zwischen 
Kapuzenmuskel  und  Schultermuskel  fester  anhaftet. 

Wird  der  Arm  gehoben  und  dadurch  der  Schultermuskel  ver- 
kürzt und  verdickt,  so  vertiefen  sich  diese  Grübchen  zu  einer  halb- 
mondförmigen Furche,  die  sich  um  die  hintere  und  obere  Ansatz- 
stelle des  Muskels  bildet  (vgl.  Fig.  78,  rechter  Arm). 

Diese  Erscheinung  ist  demnach  als  ein  Zeichen  guter  Muskel- 
bildung und  demnach  als  Vorzug  anzusehen. 

Der  Stand  der  Schultern  ist  sehr  wechselnd.  Schon  bei  dem- 
selben Individuum  werden  bei  jedem  Athemzuge  die  Schultern  mit 
dem  Brustkorb  gehoben  und  gesenkt.  Jede  Bewegung  des  Armes 
verändert  den  Umriss  und  den  Stand  der  Schulter  (vgl.  Fig.  45,  46). 

Wir  müssen  demnach  zur  Vergleichung  stets  einen  symme- 
trischen Stand  mit  herabhängenden  Armen  einnehmen  lassen,  die 
Bewegungen  können  uns,  namentlich  bei  seitlicher  Beleuchtung, 
werthvoUe  Aufschlüsse  über  die  Entwickelung  der  Muskeln  ver- 
schaffen. 

Die  Achselhöhle  ist  nur  bei  erhobenem  Arm  sichtbar.  Ihre 
Grenzen  bilden,  wie  bereits  gesagt,  vorn  der  untere  Rand  des  grossen 
Brustmuskels,  hinten  der  äussere  Rand  des  grossen  Rückenmuskels. 
In  der  Tiefe  ist  sie  mit  einem  dicken  Fettpolster  versehen,  das  be- 
sonders zwischen  Brustmuskel  und  Brustkorb  kräftig  entwickelt  ist. 
Ihre  normale  Gestaltung  wird  abhängen  von  der  guten  Entwickelung 
der  sie  bildenden  Muskeln  und  von  guter  Wölbung  des  Brustkorbes, 


^)1. 


Hüften  und  Gesäss.  151 

Die  Haut  ist,  der  grossen  Bewegliclikeit  des  Armes  entsprecliend, 
in  der  Achselhölile  sehr  locker  an  der  Unterlage  befestigt,  während 
sie  an  der  Schulter  etwas  fester  mit  den  darunter  liegenden  Muskeln 
verbunden  sein  muss. 

Von  der  Behaarung  der  Achselhöhle  gilt  das  bereits  von  der 
übrigen  Körperbehaarung  Gresagte.  Als  Zeichen  der  Reife  ist  ein 
zarter  Flaum  normal  und  darum  schön ;  starke  Behaarung  ist  bei 
der  Frau  hässlich,  weil  sie  ans  Männliche  und  Thierische  erinnert. 

Hüften  und  Gesäss. 

Die  knöcherne  Grundlage  für  die  Hüfte  und  das  Gesäss  bilden 
die  Beckenschaufeln,  die  in  der  Mitte  durch  das  keilförmig  sich  ein- 
schiebende Kreuzbein  von  einander  geschieden  sind. 

Für  das  weibliche  Geschlecht  charakteristisch  ist  eine  breite, 
niedrigere,  weit  ausgebuchtete  Beckenschaufel,  ein  in  seinem  oberen 
Theil  breiteres  und  zugleich  kürzeres  Kreuzbein  und  eine  stärkere 
Beckenneigung,  durch  die  ein  hohleres  Kreuz  bedingt  wird. 

Diesen  Ansprüchen  muss  bei  guter  Bildung  die  knöcherne 
Unterlage  genügen,  ausserdem  muss  das  Becken  symmetrisch  sein 
und  keine  Zeichen  von  Rhachitis  erkennen  lassen. 

Nach  aussen  unter  die  Haut  tritt  nur  der  obere  Rand  der 
Beckenschaufel,  der  Kamm,  der  am  vorderen  Dorn  am  deutlichsten 
fühlbar ,  in  gleichmässigem ,  an  der  Seite  höher  stehendem  Bogen 
nach  hinten  verlaufen  muss;  sein  hinteres  Ende  ist  erkennbar  an 
den  bereits  erwähnten  Grübchen  über  den  hinteren  Dornen. 

Zur  Beurtheilung  der  richtigen  Verhältnisse  dienen  die  oben 
bereits  erwähnten  Breitenmasse. 

Die  vorderen  Muskeln  der  Hüfte  treten  in  der  Tiefe  vom 
Becken  an  den  Oberschenkelknochen,  so  dass  sie  mit  den  Schenkel- 
muskeln eine  Masse  bilden,  die  durch  das  Leistenband  vom  Bauche 
scharf  geschieden  ist.  Bei  Beugung  des  Oberschenkels  tritt  diese 
Grenze  noch  schärfer  hervor. 

Der  hintere  Theil  der  Hüfte  dagegen  erhält  seine  Form  haupt- 
sächlich durch  die  grossen  Gesässmuskeln  (vgl.  Fig.  46) ,  die  in 
kräftiger  Fleischmasse    vom    hinteren   Theil    des  Kammes    und   vom 


152 


Gesäss. 


äusseren  Rand  des  Kreuzbeins  nacli  der  hinteren  und  äusseren  Fläche 
des  Oberschenkelknochens  hinziehen. 


Fig.  Ol.    Hautfalten  über  der  (linken)  Hüfte  bei  geneigter  Haltung  des  Beckens. 

Durch    den    oberen   Ansatz    dieser  Muskeln    wird   zugleich    die 
untere  Begrenzung  des  Kreuzdreiecks  stärker  ausgedrückt,    die  sich 


Gesäss. 


153 


von  den  Kreiizgrübchen 
bis  zum  oberen  Ende  der 
Spalte  erstreckt,  und  dort 
in  rechtem  Winkel  mit 
der  gegenüberliegenden 
zusammentrifft. 

Innerhalb  dieses  Drei- 
ecks haftet  die  Haut  der 
Unterlage  fester  an,  so 
dass  sich  daselbst  nur  ein 
massiges  Fettpolster  ent- 
wickeln kann. 

Der  Abrundung  der 
weiblichen  Formen  ent- 
sprechend, ist  die  Ent- 
wickelung  des  Fettpolsters 
gerade  in  dieser  Gegend 
von  grosser  Bedeutung. 

Schon  von  vorn  ist 
dadurch  die  der  Frau  ei- 
genthümliche  Bildung  der 
Hüfte  deutlich  gekenn- 
zeichnet. Der  Umriss  des 
Oberschenkels  setzt  sich 
bei  leichter  Senkung  des 
Beckens  nach  der  anderen 
Seite  (position  hanchee) 
in  weicher  Linie  hoch  über 
den  Nabel  hinauf  fort,  so 
dass  bei  massiger  Fettlage 
und  etwas  weniger  elasti- 
scher Haut  sich  in  der 
Taille  ein  bis  zwei  quere 
Hautfalten  bilden,  sobald  von  oben  her  der  untere  Brustkorbrand 
einen  Druck  ausübt,  wie  es  in  der  geneigten  Beckenstellung  (Fig.  61) 
der  Fall  ist. 


Fig.  ü2.    Verlorenes  Profil  von  Fig.  54 
mit  schönen  Hüften. 


154 


Gesäss. 


Im  Gegensatz  zum 
Manne  zieht  sich  beim 
Weibe  das  mächtigere 
Fettlager  seitlich  über 
die  breiteren  und  fla- 
cheren Kämme  ununter- 
brochen nach  der  Len- 
dengegend hinauf  (vgl. 
Fig.  47),  wodurch  die 
Hüften  noch  breiter  und 
höher  erscheinen  und 
den  weiblichen  Ge- 
schlechtscharakter noch 
mehr  hervorheben. 

Bei  guter  Bildung 
muss  demnach  in  der 
seitlichen  Ansicht  die 
Hüfte  bis  an  die  Taille 
eine  gleichmässig  ge- 
rundete Fläche,  um  den 

Oberschenkelknorren 
dagegen,  wo  die  Haut 
der  Unterlage  wieder 
fester  anhaftet ,  eine 
flache  halbrunde  Grube 
bilden.  Diese  Gestaltung 
tritt  auch  bei  im  übri- 
gen mageren  Individuen 
deutlich  hervor  (Fig. 63). 
—  Sehr  schön  und  gleich- 
massig  ist  der  Ueb  er- 
gang des  Oberschenkels 
zur  Hüfte  in  Fig.  62. 
Unterhalb  des  Gesässmuskels  ist  die  Haut  mit  sehr  kräftigem 
Bindegewebe  an  das  Sitzbein  befestigt,  so  dass  diese  Befestigungen 
beiderseits  im  Halbkreis  in    der  Spalte    nach  oben   zusammenlaufen 


Fig.  6ü.    Abrunduiig  der  Hüfte  bei  einer  jungen 
Wienerin. 


Hüften  und  Gesäss.  155 

und  gewissermassen  zwei  Hauttaschen  formen,  in  die  die  Gesäss- 
muskeln  eingelagert  sind.  Wie  aus  Fig.  46  ersichtlicli ,  füllen  die 
Muskeln  jedoch  nicht  den  ganzen  Raum  aus,  der  im  übrigen  durch 
ein  sehr  pralles  und  reichliches  Fettpolster  austapeziert  ist.  Dieses 
wölbt  zusammen  mit  den  Muskeln  die  Hinterbacken  in  kräftiger 
Rundung  hervor.  Der  Form  des  Beckens  entsprechend  sind  dieselben 
bei  der  normal  gebauten  Frau  breiter,  niedriger  und  stärker  ab- 
gerundet als  beim  Manne,  und  treten,  der  grösseren  Beckenneigung 
entsprechend,  stärker  hervor. 

Ausser  dem  guten  Bau  des  Beckens  tragen '  demnach  kräftige 
Muskulatur,  pralles  Fettpolster  und  elastische  Haut  bei  zur  schönen 
Gestaltung  des  Gesässes. 

Je  elastischer  die  Haut  ist,  desto  kräftiger  wird  sich  die  Falte 
unter  den  Hinterbacken  spannen,  und  desto  praller  werden  sich  die- 
selben darüber  vorwölben;  da  ausserdem  bei  elastischer  Haut  deren 
Befestigung  im  Umkreise  des  Oberschenkelknorrens  eine  stärkere 
ist,  so  wird  das  Fettpolster  sich  mehr  nach  der  Mitte  zu  ausdehnen 
und  dadurch  einen  stärkeren  Verschluss  der  mittleren  Gesässspalte 
mit  gleichzeitiger  Vertiefung  derselben  zur  Folge  haben. 

Die  unteren  Querfalten  ändern  sich  mit  der  Stellung ;  je  stärker 
das  Bein  nach  aussen  gehoben,  oder  das  Becken  an  der  einen  Seite 
gesenkt  wird,  desto  schräger  nach  unten  wird  die  Falte  verlaufen 
und  zugleich  nach  aussen  sich  mehr  und  mehr  abflachen  (vgl.  Fig.  58). 
Noch  mehr  ist  dies  der  Fall  bei  Beugung  des  Oberschenkels  nach 
vorn.     Bei  starker  Beugung  verstreicht  die  Falte  völlig. 

Nach  aussen  verliert  sich  die  Falte  allmählig  in  der  Oberfläche 
des  Schenkels. 

Unter  dieser  Falte  findet  sich  häufig  eine  zweite ,  etwas 
seichtere.  Sie  ist  ein  Vorzug,  da  sie  sich  nur  bei  Frauen  findet, 
und  auch  bei  diesen  nur  bei  elastischer  Haut  mit  prallem  Fettpolster. 

Von  hinten  lässt  sich  diese  Falte  bei  geeigneter  Beleuchtung 
(Fig.  58)  leicht  erkennen,  im  Profil  giebt  sie  dem  Umriss  das  cha- 
rakteristisch Weibliche,  indem  sie  den  Uebergang  von  der  Hinter- 
backe zum  Schenkel  in  einem  weicheren,  doppelt  gebrochenen  Winkel 
vermittelt  (Fig.  62) ,  während  derselbe  beim  Manne  trotz  des  ge- 
ringeren Umfangs  des  Gesässes  viel  schärfer  accentuirt  ist. 


156 


Hüften  und  Gesäss. 


I 


Eine  sehr  schöne  Bildung  des 
Gesässes,  sowie  des  Rückens  über- 
haujDt  zeigt  die  Hinteransicht  einer 
jungen  Samoanerin  (Fig.  64).  Trotz 
massiger  Fettentwickekmg  kommen 
hier  bei  der  jugendlich -elastischen 
Haut  die  weichen,  weiblichen  Run- 
dungen gut  zum  Ausdruck.  Auch  die 
Grübchen  im  Kreuz  und  die  cj[uadra- 
tische  Form  der  Lendenraute  sind 
gut  ausgeprägt  (vgl.  Fig.  57  u.  59). 

Jedes  Abweichen  von  den  an- 
gegebenen Formen  muss  als  Fehler 
bezeichnet  werden.  Zu  starkes  Klaf- 
fen, zu  geringe  Wölbung  der  Hinter- 
backen bei  ungenügender  Fettent- 
wickelung, zu  kräftiges  Hervortreten 
und  Verschwommensein  der  Formen 
bei  zu  starker  Fettablagerung,  stark 
nach  unten  verlaufende  Falten  bei  zu 
schmalem  Becken  mit  hohem  Kreuz, 
alles  dies  sind  Fehler,  die  sich  von 
selbst  aus  dem  oben  Gesagten  er- 
geben. 

Hierbei  muss  noch  hervorgeho- 
ben werden,  dass  zu  starke  Fett- 
entwickelung stets  mit  Verringerung 
der  Elasticität  der  Haut  gepaart  ist, 
so  dass  die  gewucherten  Massen 
schlaff  herabhängen.  Sehr  häufig 
findet  sich  eine  solche  locale  Fett- 
anhäufung bei  zu  starkem  Schnüren, 
wodurch  das  Fett  aus  der  Lendengegend  herabgedrängt  wird. 

Richer  ^)  hat  darauf  aufmerksam  gemacht ,  dass  eine  abnorme 


Fig.  64.    Mädchen  aus  Samoa. 

Eückansiclit. 

(Aus  dem  ethnographischen  Museum 

in  Leiden.) 


^)  Anatomie  artistique,  p. 


Hüften  und  Gesäss. 


157 


Fettallhäufung  an  Hüften  und 
Gesäss  sich  bei  europäischen 
Frauen  in  grösserem  oder  ge- 
ringerem Masse  ziemlich  häufig 
findet.  Mir  scheint,  wie  ge- 
sagt, das  Schnüren  als  ursäch- 
liches Moment  von  grosser 
Wichtigkeit. 

Tritt  nach  stärkerer  Fülle 
wieder  Abmagerung  ein,  dann 
zeigt  sich  dies  am  Gesäss  da- 
ran, dass  sich  an  dem  inneren 
Winkel  mit  dem  Schwinden 
des  Fettpolsters  die  Haut  zu- 
nächst in  leichte  quere  Fal- 
teii  legt. 

In  leichtem  Masse  zeigt 
dies  Fig.  65  an  der  linken 
Seite.  An  derselben  Figur  ist 
die  beginnende  Abmagerung 
sichtbar  am  stärkeren  Hervor- 
treten der  Schulterblätter,  so- 
wie aus  der  stärkeren  Wölbung 
des  unteren  Theils  und  dem 
Herabsinken  der  Brüste. 

Diese  Zeichen  zeigen,  wie 
die  ersten  fallenden  Blätter,  das 
Herannahen   des  Herbstes  an. 

Bei  den  kurzlebigen  Künst- 
lermodellen, denen  dies  Mäd- 
chen auch  angehört,  finden  sie 
sich  sehr  bald. 

Bei  noch  stärkerer  Abmage- 
rung zeichnen  sich  schliesslich 
unter  der  Haut  ausschliesshch  *^^«-  ''■   ^''''''  ^«^^''"^  •'''^  Verweikens. 

die  vermagerten  Bündel   der  Gesässmuskel  ab,    während  neben    der 


158  Obere  Gliedmassen. 


klaffenden    Spalte    das    letzte    Fett   in    zwei   schlaffen   Hautsäckchen 
herabhängt. 

In  vortrefflicher  Weise  hat  Richer  in  seiner  Figur  „La  para- 
lysie  agitante"  neben  allen  anderen  auch  dieses  Kennzeichen  des 
Greisenalters  zum  Ausdruck  gebracht. 

c)  Obere  Crliedmassen. 

Ueber  die  Verhältnisse  der  oberen  Gliedmassen  zum  übrigen 
Körper  wissen  wir  bereits,  dass  bei  richtiger  Länge  derselben  das 
Handgelenk  des  herabhängenden  Arms  ungefähr  in  der  Höhe  der 
Schamtheile  zu  stehen  kommt,  während  der  Ellenbogen  etwa  die 
Höhe  der  Taille  erreicht. 

Ferner  ist  der  Abstand  des  Schultergelenks  vom  Ellenbogen- 
gelenk gleich  gross  wie  von  der  gegenüberliegenden  Brustwarze,  vom 
Ellenbogengelenk  bis  zum  Handgelenk  gleich  dem  Abstand  der  Brust- 
warze vom  Nabel. 

Die  Länge  der  Hand  entspricht  dem  Abstand  vom  Nabel  bis 
zum  Hüftgelenk  und  beträgt  ausserdem  ein  Neuntel  der  Körperlänge 
(nach  Langer). 

Ein  genauestes  Eingehen  auf  alle  Einzelheiten,  wie  dies  Richer, 
Langer  und  Brücke  gethan  haben,  erfordert  eine  sehr  ausgebreitete 
anatomische  Kenntniss,  der  wir  für  unsere  Zwecke  eine  ebenso 
genaue  Kenntniss  der  Krankheitserscheinungen  beifügen  müssten. 
Ich  will  diese  beim  Leser  nicht  voraussetzen  und  ihn  auch  nicht 
durch  die  Fülle  der  Einzelheiten  zu  sehr  ermüden  und  beschränke 
mich  darum  auf  die  wichtigsten,  häufigsten  und  am  leichtesten  er- 
kennbaren Fehler. 

Ebenso  wie  bei  den  übrigen  Körpertheilen  hängt  auch  bei  den 
Gliedmassen,  den  oberen  sowie  auch  den  unteren,  die  Form  in  erster 
Linie  von  der  Bildung  des  Skelets  ab. 

Am  Oberarm  besteht,  wie  am  Oberschenkel,  das  Skelet;aus  einem, 
am    Unterarm   und   am   Unterschenkel   aus  je   zwei   Röhrenknochen. 

An  allen  diesen  Röhrenknochen  macht  sich  als  häufigste  Ent- 
stellung der  Einfluss  der  Rhachitis  in  stets  derselben  charakteristi- 
schen Weise  geltend. 


159 


Das  Wesen  der  Rhachitis  besteht,  wie  gesagt,  in  einer  ab- 
normen Weichheit  der  Knochen,  auf  die  dann  eine  abnorme  Ablage- 
rung von  harter  Knochenmasse  folgt. 

An  den  Röhrenknochen  haben  wir  ein  schlankeres,  längeres 
Mittelstück  (die  Diaphyse)  und  zwei  kürzere,  dickere  Gelenkenden 
(die  Epiphysen)  zu  unterscheiden.  Der  Einfluss  der  Rhachitis  äussert 
sich  nun  bei  den  Röhrenknochen  in  der  Weise,  dass  das  Mittelstück 
nur  wenig  kürzer  und  dicker,  jedoch  mehr  oder  weniger  stark  ver- 
krümmt wird,  an  den  Gelenkenden  jedoch  tritt  eine  viel  stärkere 
Dickenzunahme  ein,  die  mehr  weniger  auch  die  Krümmung  der  Ge- 
lenkflächen und  damit  den  Stand  der  Gliedmassentheile  zu  einander 
beeinflusst. 

Am  Arm  können  wir  die  Verdickung  des  Oberarmbeinkopfes 
an  der  Schulter  wegen  der  darüber  liegenden  Muskeln  nicht  wahr- 
nehmen, eine  Verkrümmung  des  Mittelstückes  schon  eher,  ganz 
deutlich  aber  die  Verdickung  des  unteren  Endes  am  Ellenbogen,  die 
namentlich  an  der  inneren  Seite,  entsprechend  der  grösseren  Knochen- 
masse, stark  auffällt. 

Die  Folge  dieser  stärkeren  Auftreibung  des  inneren  an  und 
für  sich  schon  dickeren  Gelenkendes  ist,  dass  die  Gelenkfläche  des 
Ellenbogens  noch  stärker  als  normal  in  einer  nach  aussen  ansteigen- 
den Linie  verläuft.  Demnach  muss  auch  der  Unterarm  sich  schief 
ansetzen,  so  dass  er  bei  Streckung  des  ganzen  Armes  schief  nach 
aussen  verläuft. 

Wir  haben  also  als  Fehler,  verursacht  durch  Rhachitis  des 
Oberarmknochens,  zu  verzeichnen:  Verdickung  des  Ellenbogen- 
gelenks, namentlich  in  der  Breite  und  am  inneren  Rand.  Schiefer 
Ansatz  des  Vorderarms  (vgl.  Fig.  19,  rechter  Arm). 

Wenn  wir  die  Hand  auf  die  gegenüberliegende  Schulter  legen, 
dann  fühlen  wir  am  Unterarm  eine  gerade  knöcherne  Leiste,  die 
vom  Ellenbogen  zur  Kleinfingerseite  der  Hand  verläuft,  den  äusseren 
Rand  der  Elle  (Ulna).  An  diesem  Knochen  äussert  sich  die  Rhachitis 
gleichfalls  durch  Verdickung  der  Gelenkenden. 

Das  obe]'e  Ende  läuft  in  einen  rundlichen  Knopf  (Olecranon) 
aus,  der  sich  bei  gestrecktem  Arm  in  den  Oberarmknochen  hinein- 
senkt.     Bei    cputer    Bildung    entsteht    dann    in    der    dasell)st    fester 


160 


Ellenbogen. 


anliaftenden  Haut  ein  Grrübclien,  bei  Verdickung  des  Olecranon  aber 
durch  Verschiebung  der  Haut  eine  oder  mehrere  Falten. 

Das  untere  Ende  ist  das  EUenb einköpf chen  (Capitulum)  am 
Kleinfingerrande  des  Handgelenks,  dessen  kugelige  Verdickung  als  eines 

der   charakteristischen 
Zeichen  von  Hhachitis  be- 
reits oben  erwähnt  wurde 
(vgl.  Fig.  19,  linker  Arm, 
Fig.  20  ebenso). 

Der  zweite  Knochen 
des  Unterarms,  die  Spei- 
che (Radius),  ist  in  sei- 
nem oberen  Verlauf  durch 
die  Muskeln  bedeckt,  am 
Handgelenk  aber  legt  sich 
sein  breites  unteres  Ende 
neben  das  Ellenköpfchen 
und  giebt  bei  rhachiti- 
scher  Verdickung  dem 
Handgelenk  eine  plumpe, 
breite  Form. 

Als    durch   Rhachitis 
veranlasste     Fehler     des 
Unterarms     können     wir 
demnach    nennen:    Ver- 
dickung    des     Hand- 
gelenks mit  kugelför- 
migem    Hervortreten 
des  Ellenköpfchens. 
Verdickung  des  oberen  Ellenköpfchens  mit  Faltenbildung 
an    der    Hinterseite    des    Ellenbogens   bei    Streckung    und 
spitzem  Hervortreten  desselben  bei  Beugung. 

Der  spitze  Ellenbogen  (Fig.  66,  linker  Arm)  kann  aber 
ausser  durch  Rhachitis  auch  durch  anderweitige  Vergrösserung  des 
Olecranon,  z.  B.  durch  starke  Muskelarbeit  in  früher  Jugend,  ent- 
stehen, doch  ist,  wie  überhaupt,    so  auch  in  solchen  Fällen,   nicht 


Fig.  66. 
Spitzer  Ellenbogen.     (Aufnahme  von  Dr.  G.  Klein.) 


Arm. 


161 


mit  Sicherheit  auszumachen,  inwieweit  dann  die  Weichheit  der  Kno- 
chen durch  die  Jugend,  inwieweit  durch  die  Rhachitis  bedingt 
ist.  Die  einfachste  Erklärung  ist  wohl  die,  der  auch  Vierordt  zu- 
gethan  ist,  dass  eben  leichtere  Formen  von  Rhachitis  viel  häufiger 
vorkommen,  als  man  im  allgemeinen  anzunehmen  geneis^t  ist. 


Fig.  67.    Armaxe  in  Pronatiou  und  Supination. 

Um  die  richtige  Lage  der  Armknochen  zu  einander  zu  be- 
stimmen, lässt  man  den  Arm  gestreckt  herabhängen  und  die  Hand 
so  drehen,  dass  die  Hohlhand  nach  vorn  sieht  (Supination).  Dann 
muss  eine  gerade  Linie,  die  die  Mitte  des  Schulter-  und  des  Ellen- 
bogengelenks verbindet,  mit  ihrer  Verlängerung  zwischen  dem  vierten 
und  fünften  Finger  durchgehen  (Fig.  67,   Supination). 

Brücke,  Richer  u.  a.  nehmen,  namentlich  für  den  Mann,  an, 
dass  die  Verlängerung  dieser  Linie  das  Handgelenk  überhaupt  nicht 
trifft,    so    dass    nach  ihnen   der   schiefe  Ansatz    des  Vorderarms    als 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  11 


162  Arm. 

normal  gilt.  Es  scheint  in  der  That,  dass  beim  Manne  in  der 
Regel,  wohl  in  Folge  der  stärkeren  Muskelwirkung,  der  Vorder- 
arm stärker  im  Winkel  abstellt  als  beim  Weibe.  Ich  habe  mich 
jedoch  davon  überzeugen  können,  dass  die  von  Merkel  als  normal 
angenommene  Configuration  bei  gutgebauten  Frauen  häufig  genug 
vorkommt. 

Wird  in  derselben  Lage  die  Hand  mit  dem  Rücken  nach  vorn 
gebracht  (Pronation),  dann  haben  sich  Elle  und  Speiche  um  einander 
herumgewälzt,  jedoch  so,  dass  der  untere  Rand  der  Speiche  stärker 
nach  innen  tritt  als  die  Elle  nach  aussen.  In  dieser  Lage  läuft  die 
Verlängerung  der  oben  genannten  Linie  im  Zeigefinger  aus  (Fig.  67, 
Pronation). 

Zu  geringe  Entwickelung  des  Olecranon  ermöglicht  in  der 
Streckung  ein  zu  starkes  Ausweichen  der  Unterarme  nach  hinten, 
eine  Ueberstreckung,  die  auch  als  ein  häufig  vorkommender  Fehler 
angesehen  werden  muss  (Brücke). 

Nächst  den  Knochen  sind  es  die  Muskeln ,  die  die  Form  des 
Armes  bestimmen.  Am  Oberarm  ist  es  zunächst  der  grosse  Schulter- 
muskel, der  sich  seitlich  zwischen  die  vorn  verlaufenden  Beuger  und 
die  hinten  verlaufenden  Strecker  einschiebt. 

Die  Muskeln  des  Unterarms  bilden  zusammen  einen  gleich- 
massigen  Fleischkegel,  der  dicht  unterhalb  des  Ellenbogens  am 
dicksten,  nach  dem  Handgelenk  zu  in  dünneren  Sehnen  schmal 
ausläuft. 

Bei  guter  Entwickelung  der  Muskeln  müssen  demnach  eine 
gleichmässige  seitliche  Schulterwölbung,  eine  vordere  und  eine  hintere 
Ob  er  arm  Wölbung,  sowie  eine  cylindrische ,  nach  unten  schmäler 
werdende  Wölbung  des  Unterarms  erkennbar  sein. 

Während  zu  kräftige  Wölbung  der  Muskeln,  oder  gar  das 
Hervortreten  einzelner  Muskelbündel  an  männliche  Bildung  erinnert 
und  darum  beim  Weibe  ein  Fehler  ist,  so  ist  andererseits  schwäch- 
liche Armmuskelbildung,  die  sich  ja  leider  recht  häufig  findet,  als 
Zeichen  ungleichmässiger  Körperausbildung  (vgl.  Fig.  63)  zu  rügen. 

Die  Haut  ist,  namentlich  am  Oberarm,  bei  der  Frau  zarter  als 
beim  Mann;  das  Fettpolster  ist  reichlicher,  wodurch  der  Arm  eine 
mehr  gerundete  Form  erhält. 


Arm. 


163 


Da  jedocli  stärkere  Anhäufung  von  Fett,  namentlich  am  Ober- 
arm und  der  Schulter ,  ein  Zeichen  reiferen  Alters  ist ,  so  ist  ein 
runder  Frauenarm  nur  dann  schön,  wenn  sich  unter  der  Haut 
die  Wölbunsren  der  Muskeln  erkennen  lassen. 


Fig.  68     Scliöii  gerundeter  Arm  (Miinclineriii). 


Am  Ellenbogen  und  etwas  darunter  haftet  die  Haut  der  knöcher- 
nen Unterlage  etwas  fester  an,  wodurch  daselbst  am  Unterarm  eine 
kleine  Abflachung,  im  Ellenbogen  ein  bei  Streckung  sich  vertiefendes 
Grübchen  entsteht.    Eine  gute  Form  zeigt  der  linke  Arm  von  Fig.  68. 

Fig.  69  kann  als  Vorbild  dienen  eines  schön  gebauten  Arms  mit 
kräftig  entwickelten  und  doch  weichen,   echt  weiblichen  Formen. 


164 


Hand. 


Fig.  ü9.     (Scliöii  gebauter  Arm  und  Schulter  (Schwäbin). 

Eine  kleine  Hand  gilt  für  schön.  Vom  anatomischen  Stand- 
punkt können  wir  jedoch  nur  verlangen,  dass  sie  ein  Neuntel  der 
Körperlänge  betrage.  Sie  wird  demnach  bei  der  Frau  im  Verhältniss 
zur  Körperlänge  und  zum  Bau  des  Skelets  stets  kleiner  und  zier- 
licher sein  als  beim  Manne. 


Hand. 


165 


Als  Fehler  haben  wir  zu  betrachten  breite,  plumpe  Handfläche, 
dicke,  kurze  und  krumme  Finger,  starkes  Vortreten  der  Finger- 
knöchel und  Gelenke.    Alle  diese  Fehler  lassen  sich  auf  rhachitische 


70.    Kräftige  weiblich  geformte  Arme  und  Hände  eines 
Wiener  Mädchens. 


Entstellungen  zurückbringen,  und  ich  bin  geneigt,  sie  in  weitaus  den 
meisten  Fällen  auch  als  solche  aufzufassen. 

Je  breiter  die  Endglieder  sind,  desto  breiter,  kürzer  und  flacher 
müssen  auch  die  Nägel  sein. 

Die  Muskeln  treten  an  der  Hand  wenig  hervor,  dagegen  ist 
die  weichere  Fülle  durch  Fettansatz  ein  mit  Recht  geschätztes  weib- 


166  Untere  Gliedmassen. 

liclies  Gesctlechtsmerkmal,  das  bei  genügender  Elasticität  der  Haut 
die  Bildung  der  Grübchen  über  den  Gelenken  veranlasst. 

Als  Vorzüge  können  demnach  gelten:  schmale,  weich  ge- 
rundete Hand  mit  Grübchen  auf  den  Gelenkflächen,  ge- 
rade, schmaler  werdende  Finger,  gebogene  Nägel,  deren 
Länge  die  Breite  übertrifft. 

Kräftige ,  dabei  doch  weiblich  abgerundete  Arme  zeigt  ein 
Wiener  Mädchen  (Fig.  70).  An  der  linken  Hand  sind  die  Grübchen 
über  den  Fingergelenken  sehr  schön  ausgeprägt ;  der  Ansatz  der  Arme 
an  die  Schulter  ist  namentlich  rechts  als  mustergültig  zu  erkennen. 

Verschiedene  Gelehrte  haben  sich  darüber  gestritten ,  ob  und 
wie  oft  der  Zeigefinger  der  Menschen  länger  sei  als  der  Ringfinger. 
Da  nämlich  beim  Affen  der  zweite  Finger  stets  kürzer  ist  als  der 
vierte,  so  kann  die  grössere  Länge  des  zweiten  Fingers  als  ein 
Zeichen  höherer  Entwickelung  aufgefasst  werden. 

Casanova,  Mantegazza  u.  a.  thun  sich  zu  gute  mit  ihren  dies- 
bezüglichen Entdeckungen  und  halten  die  grössere  Länge  des  zweiten 
Fingers  für  eine  seltene,  schöne  Erscheinung.  Li  seiner  Physiologie 
des  Weibes,  die  mir  in  deutscher  Uebersetzung  vom  Jahre  1894  vor- 
liegt, hat  Mantegazza  denselben  Standpunkt  eingenommen.  Es  scheint 
ihm  demnach  unbekannt  zu  sein,  dass  Braune^)  bereits  im  Jahre  1874 
durch  zahlreiche  Messungen  nachgewiesen  hat,  dass  die  scheinbare 
Verkürzung  des  zweiten  Fingers  meist  auf  einer  schiefen  Stellung 
desselben  zu  den  Mittelhandknochen  beruht,  und  dass  bei  durch- 
schnittlich 70  ^jo  der  von  ihm  gemessenen  Menschen  der  zweite 
Finger  in  der  That  der  längere  war. 

Immerhin  aber  bleibt  bestehen,  dass  sich  dies  „Zeichen  höherer 
Entwickelung"  beim  Weibe  viel  häufiger  findet  als  beim  Manne. 

d)  Untere  Gliedmassen. 

Bei  der  Beurth eilung  der  Länge  der  Beine  im  Verhältniss  zum 
Rumpf  wird  häufig  ein  Fehler  gemacht,  indem  nicht  die  ganze 
Länge  der  .Beine  berücksichtigt  wird. 


^)  Festgabe  für  Carl  Ludwig.     Verlag  von  Vogel.     Leipzig  1874. 


Bein.  _____1_J5Z 

In  der  Mitte  senkt  sich,  wie  oben  besclirieben,  der  Rumpf 
tiefer,  während  die  Beine  schräg  nach  aussen  gegen  die  Hüften  zu 
abschneiden. 

Rechnet  man  nach  Richer  die  Körperlänge  gleich  7  ^/2  Kopf- 
längen, dann  ist  die  Länge  des  Rumpfes  mit  dem  Kopf,  in  der 
Mitte  gemessen,  bis  zum  Schamsjaalt  gleich  vier  Kopflängen,  die 
Fänge  des  Beines,  bis  zum  Hüftgelenk  gemessen,  ebenfalls  gleich 
vier  Kopflängen.  Die  Beine  überragen  deshalb  die  halbe  Körper- 
länge um  ein  Viertel  Kojjflänge  und  stehen  deshalb  um  ebensoviel 
höher  als  die  Körpermitte. 

Dies  ist  beim  Manne  genau  ebenso  wie  beim  Weibe.  Der 
Unterschied  zwischen  beiden  besteht  jedoch  in  Verhältnissen,  die 
durch  die  Form  des  Beckens  gegeben  sind.  Beim  Manne  ist  es 
schmal  und  hoch,  so  dass  der  mittlere,  zwischen  die  Beine  sich  ein- 
schiebende Rumpftheil  in  spitzerem  Winkel  tiefer  -nach  unten  tritt, 
wodurch  die  Körpermitte  scheinbar  am  Rumpfe  ebenfalls  tiefer  rückt. 
Bei  der  Frau  dagegen  ist  das  Becken  breit  und  flach,  der  mittlere, 
zwischen  die  Beine  sich  einschiebende  Rumpftheil  tritt  in  stumpfem 
Winkel  weniger  tief  und  die  Körpermitte  steht  demnach  scheinbar 
höher  als  beim  Manne. 

Dadurch,  dass  sich  der  Umriss  des  Beines  in  den  der  Hüften 
fortsetzt,  welche  wegen  der  steilen  und  hohen  Darmschaufeln  beim 
Manne  schmäler  und  länger  erscheinen,  wird  der  Eindruck  des 
längeren  Beines  beim  Manne  noch  erhöht. 

Die  Länge  des  Beines  lässt  sich  nach  Richer  bestimmen  auf 
vier  Kopflängen,  nach  Fritsch-Schmidt  ist  die  Länge  des  Ober- 
schenkels gleich  dem  Abstand  des  Hüftgelenks  von  der  Brustwarze 
der  anderen  Seite,  die  Länge  des  Unterschenkels  gleich  dem  Abstand 
des  Hüftgelenks  von  der  Brustwarze  derselben  Seite. 

Die  Länge  des  Oberschenkels  ist  ungefähr  gleich  der  Länge 
des  Unterschenkels  zusammen  mit  der  Höhe  des  Fusses. 

Man  hat  früher  angenommen,  dass  beim  Weibe  der  Schenkel- 
hals mehr  horizontal  zum  SchenkelkoiDf  verläuft  als  beim  Manne. 
Langer  ^)   hat  nachgewiesen ,    dass  dies  unrichtig   ist ,    und  dass  der 

1)  1.  c.  p.  229. 


168         '  Bein.  ^ 

mehr  oder  weniger  horizontale  Verlauf  des  Schenkelhalses  nichts 
mit  dem  Geschlecht  zu  thun  hat.  Höchst  wahrscheinlich  ist  der 
horizontale  Schenkelhals  und  die  dadurch  verursachte  Verkürzung 
des  Oberschenkels  in  den  meisten  Fällen ,  beim  Manne  sowie  beim 
Weibe,  auf  den  Druck  der  Körperlast  bei  rhachitischer  Anlage 
zurückzuführen. 

Von  den  Beinen  gilt  bezüglich  des  Knochengerüstes  im  all- 
gemeinen dasselbe,  was  von  den  Armen  gesagt  ist. 

Wir  haben  als  durch  Rhachitis  entstandene  Fehler  zu  be- 
zeichnen: Verdickung  des  unteren  Gelenkendes  des  Oberschenkel- 
knochens (Femur),  namentlich  an  seiner  inneren  Seite,  demgemäss 
Verdickung  des  Kniegelenks  und  schiefer  Ansatz  des 
Unterschenkels  an  den  Oberschenkel.  Verdickung  der  Unter- 
schenkelknochen am  Knie  und  an  den  Knöcheln,  demnach  plumpes, 
verdicktes  Sprunggelenk  und  schiefer  Ansatz  des  Fusses 
im  Sprunggelenk  bei  tieferem  Stand  des  massigeren  inneren 
Knöchels.  Dazu  kommt  beim  Beine  aber  noch  der  Druck  der  Körper- 
last und  dadurch  stärkere  Verkrümmung  der  mittleren  Stücke  der 
Röhrenknochen.  Die  gemeinschaftliche  Folge  aller  dieser  krankhaften 
Veränderungen  ist  die  Verkürzung  der  Gesammtlänge  des  Beines  ^). 

Je  nachdem  verschiedene  Momente,  wie  Beschäftigung,  Beruf, 
stärkere  oder  schwächere  Belastung  zusammengewirkt  haben,  erhalten 
wir  die  verschiedenen  Formen  der  krankhaften  Beine,  die  X-Beine, 
die  0-Beine ,  die  Säbelbeine  etc. ,  beim  Fusse  aber  den  mehr  oder 
weniger  ausgeprägten  Plattfuss. 

Gröbere  Fehler  derart  sind  leicht  zu  erkennen.  Hier  handelt 
es  sich  hauptsächlich  darum ,  auch  geringere  Grade  dieser  Ab- 
weichungen beurtheilen  zu  können. 

Es  ist  oben  schon  gesagt,  dass  man  sich  vom  geraden  Verlauf 
der  unteren  Gliedmassen  dadurch  überzeugen  kann,    dass    in  der  in 

')  Sehr  lehrreich  ist  eine  Beobachtung  von  E.  Dubois  (Archiv  für  Anthro- 
pologie XXV,  Heft  4).  Er  fand,  dass  das  Hirngewicht  stets  in  einem  genauen 
Verhältniss  zur  Sitzlänge,  nicht  dagegen  zur  Gesammtlänge  des  menschlichen 
Körpers  steht.  Der  Schluss  liegt  nahe,  dass  das  Missverhältniss  im  letzteren 
Falle  nicht .  durch  entwickelungsgeschichtliche  Störungen,  sondern  durch  krank- 
hafte, meist  durch  Rhachitis  veranlasste  Verkürzungen  der  unteren  Extremitäten 
bedingt  wird,  und  dass  dieselben  demnach  ausserordentlich  häufig  vorkommen. 


^ein^^____  169 

Fig.  30  angewiesenen  Stellung  die  Beine  sicli  an  vier  Punkten,  am 
oberen  Drittel  der  Oberschenkel,  am  Knie,  an  der  Wade  und  am 
inneren  Knöcbel  berühren  müssen.  Bei  Frauen  können  bei  guter 
Füllung  die  Oberschenkel  auch  in  ihrer  ganzen  Länge  einander  an- 
liegen, ohne  dass  dies  ein  Fehler  ist. 

Ein  weiteres  durch  Mikulicz  angegebenes  Mittel  ist,  sich  durch 
Messung  davon  zu  überzeugen,  dass  die  zweite  Zehe,  die  Mitte  des 
Sprunggelenks,  die  Mitte  des  Knies  und  die  Mitte  des  Hüftgelenks 
in  einer  geraden  Linie  liegen  (Fig.  71). 

Da  die  Lage  des  Hüftgelenks  selbst  an  der  Lebenden  oft  schwer 
zu  bestimmen  ist,  kann  man  statt  dessen  die  Mitte  des  Leisten- 
bandes setzen. 

Rückt  aus  besagter  Linie  die  Kniescheibe  nach  innen ,  dann 
besteht  ein  X-Bein,  ein  bei  Weibern  sehr  häufig  vorkommender  Fehler, 
der  in  leichtem  Grade  ebenso  wie  der  schiefe  Ansatz  des  Unterarms 
von  Einzelnen  darum  als  normal  angenommen  wird,  weil  er  so  ausser- 
ordentlich häufig  vorkommt. 

Mit  dem  X-Bein  darf  man  nicht  eine  durch  Beugung  verursachte 
Einwärtsdrehung  des  Knies  verwechseln,  wie  sie  Fig.  1  zeigt.  Am 
gestreckten  rechten  Bein  dieser  Figur  kann  man  erkennen,  dass 
dasselbe  völlig  gerade  ist. 

Unwillkürlich  sieht  man  jedoch  die  ächten  X-Beine  mit  milderen 
Augen  an,  da  sie  an  die  mit  Recht  beliebte  Stellung  erinnern,  welche 
die  Schamhaftigkeit  des  Weibes  so  schön  zum  Ausdruck  bringt. 

Aus  demselben  Grunde  findet  man  die  Abweichung  des  Knies 
nach  aussen,  das  0-Bein,  gerade  beim  Weibe  um  so  viel  hässlicher. 

Scheinbar  der  Geraden  von  Mikulicz  entsprechend  ist  eine  Ver- 
bindung des  X-Beins  mit  dem  Säbelbein,  wie  es  Fig.  19  zeigt.  Die 
Abweichung  des  Knies  nach  innen  wird  durch  den  im  Bogen  erst 
nach  aussen  und  dann  ebenfalls  nach  innen  abweichenden  Unter- 
schenkel ausgeglichen ,  so  dass  Fussgelenk ,  Knie  und  Hüftgelenk 
ungefähr  in  einer  Geraden  liegen. 

Wenn  die  vordere  Ansicht  des  Beines  gut  ist,  muss  es  die 
hintere  ebenfalls  sein.  In  der  seitlichen  Ansicht  hingegen  kann  durch 
rhachitische  Verkrümmung  sowohl  als  durch  Fehler  in  den  Knie- 
bändern (Brücke)  eine  Abweichung  entstehen,  die  man  nach  Brücke 


170 


Knie. 


an  einer  Linie  controliren  kann,  die  vom  Obersclienkelknorren  zum 
äusseren  Knöchel  gezogen  wird  (Fig.  72). 

Diese  Linie  muss  das  Knie  in  der  Mitte  seiner  Breite  treffen, 


Fig.  71.    Bestimmung  der  Geradheit 
des  Beines  uacli  Mikulicz. 


Fig.  72.    Brücke'sclie  Linie. 


wenn  das  Bein  gut  gestreckt  ist.  Trifft  sie  dasselbe  weiter  nach 
vorn,  dann  besteht  Ueberstreckung  oder  Abweichung  des  Unter- 
schenkels nach  hinten  bei  zu  langem  Kniebande,  trifft  sie  es  zu  weit 
nach  hinten,    dann  ist  das  Knie  zu  stark  nach  vorn   durchgebogen. 


Wade.     Knöchel.  171 

Da  einerseits  die  Muskeln  beim  Manne  stärker  entwickelt  sind 
als  beim  Weibe,  andererseits  aber  ein  absolut  dickerer  Schenkel 
schon  beim  heranwachsenden  Mädchen  ein  wichtiges  secundäres  Ge- 
schlechtsmerkmal bildet,  so  muss  die  Dicke  des  weiblichen  Schenkels 
hauptsächlich  auf  ein  stärkeres  Fettpolster  zurückgeführt  werden, 
und  demgemäss  müssen  die  Formen  der  Muskeln  viel  weniger  stark 
hervortreten  als  beim  Manne. 

Darum  ist  ein  flacher  Oberschenkel,  der,  entsprechend  der  vorn 
und  hinten  am  kräftigsten  entwickelten  Muskulatur,  das  Bein  von 
vorn  schmäler,  von  der  Seite  breiter  erscheinen  lässt,  dem  Manne 
eigenthümlich ,  der  Frau  dagegen  ein  runder  Oberschenkel ,  der  in 
jeder  Ansicht  dieselbe  weiche  Form  zeigt. 

Die  Muskulatur  spielt  beim  Weibe  nur  insofern  eine  Rolle,  als 
der  Oberschenkel,  dem  Fleisch  entsprechend,  im  oberen  Drittel,  also 
unterhalb  der  Schenkelknorren,  am  stärksten  gewölbt  sein  muss. 

Als  Fehler  ist  anzusehen,  wenn  das  Fett  darüber  so  stark  an- 
gehäuft ist,  dass  der  ümriss  des  Oberschenkels  von  der  Hüfte  in 
gerader  oder  gar  eingefallener  Linie  nach  dem  Knie  zu  abläuft. 

Auch  am  weiblichen  Knie  werden  die  Contouren  durch  stärkere 
Fettanhäufung  weicher,  jedoch  muss  das  Knie  dünn  sein,  weil  es 
sonst  an  rhachitische  Bildung  erinnert. 

Dasselbe  wie  vom  Oberschenkel  gilt  von  der  Wade  des  Weibes; 
während  man  an  der  Wade  des  Mannes  die  Muskeln  muss  erkennen 
können,  sind  dieselben  beim  Weibe  durch  stärkeres  Fettpolster  zu 
einer  gleichmässigen  Rundung  vereinigt,  die  im  oberen  Drittel  jedoch, 
den  in  der  Tiefe  liegenden  Muskelbändern  entsprechend,  den  stärksten 
Umfang  hat  (Fig.  73). 

Durch  unzweckmässige  Strumpfbänder  wird  ihre  Form ,  wie 
oben  bereits  erwähnt,  verdorben. 

Ein  schlanker  Knöchel  ist  ein  grosser  Vorzug,  weil  er 
einerseits,  beruhend  auf  zarterem  Knochenbau,  ein  secundäres  weib- 
liches Geschlechtsmerkmal  bildet,  andererseits  eines  der  wichtigsten 
Merkmale  ist,  um  frühere  Rhachitis  auszuschliessen. 

Enges  Handgelenk  und  enge  Knöchel  sind ,  wie  beim  Pferde 
die  engen  Fesseln,  das  hervorragendste  Zeichen   einer  guten  Rasse, 

Der   Fuss    ist   nächst    der   Taille    derjenige    Körpertheil,    der 


172 


Fuss. 


die    stärkste    Verunstaltung    durch    fehlerhafte    Bekleidung    zu    er- 
dulden hat. 

Was  seine  Grösse  betrifft,  so  gilt  von  ihm  dasselbe,  was  be- 
reits von  der  Hand  gesagt  ist.  Sie  muss  im  Verhältniss  stehen  zur 
Körpergrösse,   und  zwar  nach  Quetelet  sechs-  bis  höchstens  sieben- 


Fig.  73.    Schön  geformte  Waden  und  Füsse.    (Aufnahme  von  Heid,  Wien.) 


mal  in  derselben  enthalten  sein.  Die  Länge  des  Fusses  ist  demnach 
grösser  als  die  des  Kopfes;  nach  einer  alten  Regel  ist  die  Länge 
des  Fusses  gleich  dem  Umfang  der  geballten  Faust. 

Von  allen  Fehlern  des  Fusses  als  Ganzes  ist  der  häufigste  der 
Plattfuss,  der  meist  auf  Rhachitis  beruht. 

Während  bei  gut  gebautem  Fusse  seine  innere  Wölbung  der- 
art sein  soll,  dass  ein  Vögelchen,  wenn  auch  nur  ein  ganz  kleines. 


Fuss. 


173 


darunter  sitzen  kann,  sinkt  beim  Plattfuss  das  Gewölbe  ein  und  die 
Sohle  liegt  in  grösserer  Fläche  dem  Boden  an.  Von  dem  Vorhanden- 
sein eines  geringeren  Grades  von  Plattfuss  kann  man  sich  über- 
zeugen, wenn  man  den  mit  Wasser  befeuchteten  Fuss  auf  dem  Boden 
abdrückt  (Fig.  74). 

Der  guten  Wölbung  entspricht  ein  hoher  Rist. 

Wir  haben  demnach  als  Vorzüge  des  Fusses  die  gute  Wöl- 
bung und  den  hohen  Rist  zu  fordern. 

Eine    richtige  Wölbung  und    entsprechenden    Rist    zeigen    die 


Fig.  74.    Abdrücke  vom  normalen  («)  und  von  Plattfüssen  (&  c  d)  nach  Volkmann. 


Füsse  von  Fig  73 ;  sie  können  als  Muster  eines  schön  gebauten,  wenn 
auch  nicht  allzu  zarten,  weiblichen  Fusses  gelten. 

Da  beim  Fuss  ebenso  wie  bei  der  Hand  das  Skelet  viel  weniger 
von  Weichtheilen  bedeckt  wird  als  an  anderen  Körpertheilen,  so  übt 
seine  Bildung  einen  hervorragenden  Einfluss  auf  die  äussere  Form. 

Ein  Fehler  ist  ein  kräftiges,  grosses,  ans  Männliche  erinnerndes 
und  ebenso  ein  plumpes,  dickes,  durch  Rhachitis  verunstaltetes  Fuss- 
skelet,  und  aus  beiden  Gründen  ist  ein  zierlicher,  schmaler  Fuss  mit 
langen,  schmalen  Zehen  eine  Zierde  des  Weibes. 

Von  den  Zehen  ist  bei  guter  Entwickelung  die  zweite  am 
längsten.    Braune  ^)  hat  nachgewiesen,  dass  schon  beim  Embryo  die 

^)  Festgabe  von  Carl  Ludwig. 


174  Zehen. 

zweite  Zelie  am  längsten  ist,  und  dass  dies  bei  mehr  als  70  ^/o  von 
Erwachsenen,  die  er  mass,  ebenso  war. 

Die  scheinbar  grössere  Länge  der  grossen  Zehe  rührt  davon 
her,  dass  im  Stiefel  die  grosse  Zehe  gerade  bleibt,  während  die 
anderen  Zehen  eine  Krallenstellung  einnehmen ,  die  sie  kürzer  er- 
scheinen lässt. 

Abgesehen  von  dieser  Krallenstellung  bewirkt  der  dauernde 
Druck  zu  enger  Stiefel  eine  Drehung  der  grossen  Zehe  nach  ein- 
wärts mit  starkem  Hervortreten  ihres  verdickten  Mittelfussgelenkes. 

Dieser  sehr  häufig  vorkommende  Fehler  ist  besonders  deutlich 
in  Fig.  23. 

Weniger  ein  Fehler  als  vielmehr  ein  meist  unerhört  ver- 
klingender Nothschrei  der  Natur  nach  besserer  Bekleidung  sind  die 
Hühneraugen.  Bei  ihrer  geringen  Ausdehnung  können  sie  die  Form 
des  Fusses  nur  wenig  entstellen. 

Wie  es  scheint ,  will  sich  jedoch  die  Natur  der  leidenden 
Menschheit  erbarmen :  Pfitzner  ^)  hat  durch  eine  grössere  Reihe  von 
Untersuchungen  festgestellt,  dass  bei  einer  grossen  Anzahl  von 
Menschen  die  kleine  Zehe,  der  Lieblingsplatz  der  Hühneraugen,  an- 
statt aus  drei  nur  aus  zwei  Knochen  besteht,  woraus  er  schliesst, 
dass  die  kleine  Zehe  des  Menschen  in  einem  Rückbildungsprocess 
begriffen  ist  und  im  Laufe  der  Jahrhunderte  mehr  und  mehr  ver- 
schwinden wird. 

Auch  hier  scheinen  wieder  die  Frauen  den  Männern  in  der 
Entwickehmg  voraus  zu  sein,  denn  Pfitzner  fand  unter  je  hundert 
Frauen  41,  unter  je  hundert  Männern  blos  31,  deren  kleine  Zehe 
nur  zwei  Knochen  besass. 

Derselbe  Autor  stellte  fest ,  dass  auch  die  grosse  Zehe  bei 
Weibern  im  Verhältniss  viel  kleiner  ist  als  bei  Männern. 

Wir  können  demnach  als  Merkmal  guter  weiblicher  Bildung 
für  die  Zehen  festsetzen:  lange  zweite  Zehe,  kurze  erste  und  sehr 
kurze  fünfte  Zehe. 

Wir  haben  hiermit  die  wichtigsten  Punkte  zur  Beurtheilung 
der   unteren   weiblichen    Gliedmassen    hervorgehoben ;    zu    erwähnen 


^)  Citirt  bei  Havelock  EUis,  Mann  und  Weib. 


Ueberblick  der  gegebenen  Bedingungen  normaler  Körperbildung.      175 

bleibt  nur  noch,  dass  man  die  richtige  Grestaltung  derselben  sowie 
mögliebe  Fehler  auch  am  Gang,  namentlich  in  der  Ansicht  von 
hinten,  leicht  erkennen  kann. 

In  ergötzlicher,  jedoch  ernst  gemeinter  Weise  beschreibt  Walker 
im  21,  Kapitel  seiner  „Beauty  of  woman"  die  „External  indications; 
or  Art  of  determining  the  precise  figure,  the  degree  of  beauty,  the 
mindä,  the  habits  and  the  age  of  woman ,  notwithstanding  the  aids 
and  disguisses  of  dress". 

Jedem,  der  sich  dafür  interessirt,  kann  ich  diese  naive  Leetüre 
nur  empfehlen. 


XL 

Ueberblick  der  gegebenen  Bedingungen 
normaler  Körperbildung. 

Ich  hoffe,  dass  es  mir  gelungen  ist,  den  Leser,  der  bis  hierher 
meinen  Erörterungen  gefolgt  ist,  davon  zu  überzeugen,  dass  der 
Begriff  der  weiblichen  Schönheit  nicht  ausschliesslich  Greschmacks- 
sache  ist,  und  dass  es  einzelne  unumstössliche  Thatsachen  giebt,  die 
diesen  Begriff  ganz  unabhängig  von  der  individuellen  Auffassung 
bestimmen.  Der  Weg  ist  neu,  vieles  ist  noch  dunkel,  jedoch  bin 
ich  überzeugt,  dass  sich  noch  mehr  Gesetze  werden  feststellen  lassen, 
um  den  allgemeinen  Begriff  der  Schönheit  noch  schärfer  zu  um- 
schreiben. Absichtlich  habe  ich  es  auch  so  viel  möglich  vermieden, 
anatomische  Einzelheiten  zu  bringen,  um  durch  eine  zu  grosse  Fülle 
davon  den  Gesammteindruck  nicht  zu  verwischen. 

Wenn  wir  die  bisher  angeführten  Thatsachen  überblicken,  dann 
ergiebt  sich  zunächst,  dass  wir  eine  Reihe  von  Massen  besitzen, 
deren  Grösse  und  gegenseitiges  Verhältniss  durch  die  Natur  unab- 
änderlich vorgeschrieben  ist.  Ein  Körper,  der  die  geforderten  Masse 
besitzt,  ist  normal;  jedes  Abweichen  davon  ist  ein  Fehler, 

Schwankungen  innerhalb  der  normalen  Grenzen  bestimmen  die 
Individualität, 


176      Ueberblick  der  gegebenen  Bedingungen  normaler  Körperbildung. 


Als  wichtigste  Masse  zur  Beurtheilung  normalen  Körperbaus 
haben  wir  zu  bestimmen : 
»    1.  Körperhöhe, 

2.  halbe  Körperlänge  von  oben  zur  Bestimmung  der  Körpermitte, 

3.  Kopfhöhe, 

4.  Nasenschambeinlänge  (Modulus  von  Fritsch-Schmidt), 

5.  Brustumfang, 

6.  Schläfenbreite, 

7.  Schulterbreite, 

8.  Taillenbreite, 

9.  Hüftbreite, 

10.  Abstand  der  Brustwarzen, 

11.  Beckenmasse, 

a)  vordere  Dornbreite, 

b)  Kammbreite, 

c)  Schenkelknorrenbreite  (Hüftbreite), 

d)  hintere  Dornbreite, 

12.  Fusslänge. 

Zur  Verwerthung    dieser  Masse   haben   wir    zunächst   folgende 
Gleichungen: 

1.  Körperhöhe    =    7\'2 — 8    Kopf  höhen    =    10   Gesichtshöhen 
=  9  Handlängen  :=  6 — 7  Fusslängen  =  10^3  Untermoduli, 

2.  Schläfenbreite  =  Gesichtshöhe, 

3.  Armlänge  =  3  Kopf  höhen, 

4.  Beinlänge  =  4  Kopfhöhen  =  obere  Länge  bis  zum  Schritt, 

5.  Schulterbreite  =  2  Kopf  höhen, 

„    Brustumfang  x  Körperlänge       „  •  i  ,     i 

b.  ~ ^^~-  =  Korpergewicht  .  kg. 

Das  Verhältniss  der  einzelnen  Masse  unter  einander   wird  be- 
stimmt durch  den  jeweiligen  Unterschied.    Derselbe  muss  betragen: 

1.  zwischen  Schultern  und  Hüften  mindestens     4      cm, 

2.  „          Schultern  und  Taille                            „  16  „ 

3.  „          Hüften  und  Taille                               „  12  „ 

4.  „          Schenkelknorren  und  Kämmen          „  2,5  „ 

5.  „          Kämmen  und  vorderen  Dornen         „  3  „ 
wobei  die  erstgenannten  Abstände  jeweils  die  grösseren  sind. 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale.  177 

Als  niedrigsten  Werth  für  ein  bestimmtes  Mass  haben  wir : 

1.  Abstand  der  vorderen  Dornen  26  cm, 

2.  „  „     binteren  „          10    „ 

3.  „.  „     Brustwarzen  20    „ 
Weitere  Verbältnisse  sind: 

1 .  Stirnlänge  =:  Nasenlänge  =  Mund-  und  Kinnlänge  =  Obrlänge, 

2.  Augenspalte  zur  Mundspalte  zur  Gesiclitsbreite  =  2:3:5. 

Mit  der  Nasenscbambeinlänge  als  Modulus  können  wir 
nach  der  Metbode  von  Fritscb-Scbmidt  die  Masse  für  sämmtlicb.e 
Körpertbeile  construiren.  Da  diese  mit  den  übrigen  Normalmassen 
übereinstimmen,  so  haben  wir  damit  eine  doppelte  Controle  zur 
Beurtheilung  des  untersuchten  Körpers. 

Von  Winkeln  haben  wir  zu  messen: 

1.  Winkel  des  unteren  Ri]3penrandes  in  der  Herzgrube, 

2.  unteren  Winkel  des  Kreuzdreiecks; 

der  erste  muss  beinahe,   der  zweite  genau  90  **  betragen. 

Des  weiteren  ergeben  sich  aus  den  bisherigen  Betrachtungen 
eine  Reihe  von  körperlichen  Eigenschaften,  deren  Vorhandensein  als 
Vorzug,  deren  Abwesenheit  als  Fehler  aufgefasst  werden  muss. 

Hier  steht  obenan  die  Beeinflussung  des  Körpers  durch  das 
Greschlecht,  die  secundären  weiblichen  Geschlechtscharaktere, 
deren  wichtigste  ich  in  folgender  Tabelle  zusammengestellt  habe. 

Tabelle  I. 
Secundäre  weibliche  (reschlechtscharaktere 

gut  ausgeprägt:  schlecht  ausgeprägt: 

Vorzüge  Fehler 

Zierlicher  Knochenbau,  plumper  Knochenbau. 

Runde  Formen,  eckige  Formen, 

Brüste,  keine  Brüste. 

Breites  Becken,  schmales  Becken. 

Reiches,  langes  Haar,  dünnes,  kurzes  Haar. 

Gerade,  niedrige  Schamhaargrenze,  hohe,     spitz     zulaufende    Schamhaar- 

grenze. 
Spärliche  Achselhaare,  reichliche,  lange  Achselhaare. 

Keine  Körperbehaarung,  Schnurrbart  und   starke  Körperbehaa- 

rung. 
Stratz,  Die  Scliönlieit  des  weibliclien  Körpers.  12 


178 


Secundäre  Geschlechtsmerkmale. 


Vorzüge 

Zarte  Haut, 

Euncler  Schädel, 

Kleines  Gesicht, 

Grosse  Augenhöhlen, 

Hohe,  schmale  Augenbrauen, 

Niedriger,  schmaler  Unterkiefer, 

Weicher  Ueb  ergang  von  Wange  zum 
Hals, 

Runder  Hals, 

Feines  Handgelenk, 

Schmale  Hand  mit  längerem  Zeige- 
finger, 

Runde  Schultern, 

Gerade,  schmale  Schlüsselbeine, 

Schmälerer,  längerer  Brustkoi'b, 

Schlanke  Taille, 

Hohles  Kreuz, 

Voi'stehende,  gewölbte  Hinterbacken, 

Kreuzgrübchen, 

Runder,  dicker  Oberschenkel, 

Niedriger,  stumpfer  Schambogen, 

Weiche  Knieumrisse, 

Runde  Wade, 

Feines  Fussgelenk, 

Trockener  Fuss  mit 

schmalen  Zehen, 

Grössere  Länge  der  zweiten  und  grössere 
Kürze  der  fünften  Zehe, 

Breite  vordere  Schneidezähne, 


Fehler 
dicke  Haut, 
eckiger  Schädel, 
grosses  Gesicht, 
kleine  Augenhöhlen.  . 
niedrige,  buschige  Augenbrauen, 
hoher,  breiter  Unterkiefer, 
scharf  abgesetzter  Hals  mit  vorspringen- 
dem Unterkiefer, 
eckiger  Hals  mit  vorsteh  endem  Kehlkopf, 
plumpes  Handgelenk, 
breite  Hand  mit  längerem  Ringfinger. 

eckige  Schultern. 

gebogene,   dicke  Schlüsselbeine. 

kurzer  und  breiter  Brustkorb. 

Fehlen  der  Taille. 

gerades  Kreuz. 

flache,  kleine  Hinterbacken. 

keine  Kreuzgrübchen. 

flacher,  naagerer  Oberschenkel. 

hoher,  spitzer  Schambogen. 

scharfe  Knieumrisse. 

eckige  Wade, 

plumpes  Fussgelenk. 

plumper,  dicker  Fuss  mit 

breiten  Zehen. 

grössere  Länge  der  ersten  und  stärkere 

Entwickelung  der  fünften  Zehe, 
schmale  Vorderzähne. 


Mit  Berücksichtigung  der  Entwickelung,  Ernährung  und  Lebens- 
weise, sowie  des  Einflusses  von  Krankheiten  erhalten  wir: 


Tabelle  IL 


Vorzüge 
Symmetrie  beider  Körperhälften, 
Tiefer  Stand  der  Körpermitte, 
Normales  Körpergewicht, 

Glatte,  elastische  Haut, 
Gleichmässige  Muskelentwickelung, 
Feine  Gelenke, 
Gerade  Augenspalten, 
Gut  gewölbte  Oberlippe. 


Fehler 

Asymmetrie  beider  Körperhälften. 

hoher  Stand  der  Körpermitte. 

zu  grosses  oder  zu  kleines  Körper- 
gewicht. 

schlaffe,  faltige  Haut. 

ungleichmässige  Muskelentwickelung, 

plumpe  Gelenke. 

schiefe  Augenspalten. 

stark  vorspringende  Oberlippe,  dicke 
Oberlippe,  zu  kurze  Oberlippe  (Hasen- 
scharte). 


Entwickelung,  Ernährung,  Krankheiten  etc. 


179 


Vorzüge 
Gerade,  gleichgestellte  Zähne, 
Gleichmässige  Rundung  des  Gesichts, 

Schmale,  gerade  Nase, 

Rundes  Kinn  mit  Grübchen, 

Runde  Schultern, 

Gerade  Wirbelsäule, 

Gleichmässig  gewölbter  Brustkorb, 


Hochgestellte,  runde,  pralle  Brüste, 

Flacher,  runder  Leib, 
Gewölbter  Rücken, 
Gerade,  obere  Gliedmassen. 

Runder  Ellenbogen, 
Schmale,  lange,  kleine  Hand, 
Längerer,  zweiter  Finger, 
Gebogene,  lange  Nägel, 
Gerade,  lange  Beine, 

Schmaler,  langer  Fuss, 
Gerade  grosse  Zehe, 
Längere  zweite  Zehe, 


Fehler 

schräge,  unregelmässig  gestellte  Zähne. 

vorstehende  Backenknochen,  vorsprin- 
gende Kauwerkzeuge. 

breite  Nase,  Stumpfnase,  Mopsnase. 

Doppelkinn,  Hackenkinn. 

eckige,  stark  abfallende  Schultern. 

Verkrümmung  der  Wirbelsäule. 

flacher  Brustkorb,  schiefer  Brustkorb, 
Hühnerbrust,  Schusterbrust,  Trichter- 
brust. 

tief  angesetzte ,  sinkende ,  schlaffe 
Brüste,  Hängebrüste. 

Spitzbauch,  Hängebauch,  Froschbauch. 

flacher  Rücken,  runder  Rücken. 

schief  angesetzter  Unterarm,  Vortreten 
des  Ellenköpfchens. 

spitzer  Ellenbogen. 

kurze,  breite,  grosse  Hand. 

längerer  vierter  Finger. 

breite,  flache  Nägel. 

kurze  Beine,  krumme  Beine,  0-Beine, 
X-Beine,  Säbelbeine. 

plumper,  breiter  Fuss. 

nach  innen  gekrümmte  grosse  Zehe. 

längere  erste  Zehe. 


Diese  Tabelle  Hesse  sich  ohne  Mühe  noch  sehr  viel  mehr  ver- 
vollständigen, jedoch  ist  sie  hinreichend,  um  darzuthun,  wie  viel  Avir 
für  die  Beurtheilung  des  Körpers  bereits  gewonnen  haben. 

Es  sei  dem  Leser  überlassen,  unter  den  beigefügten  Abbil- 
dungen zahlreiche,  nicht  immer  erwähnte  Fehler  aufzusuchen.  Unter 
allen  bisher  gegebenen  Figuren  sind  nur  zwei,  die  allen  gestellten 
Anforderungen  genügen,  Tafel  II  und  Fig.  54;  die  letztere  findet 
sich  in  Fig.  62  im  verlorenen  Profil. 

Das  javanische  Mädchen  Fig.  24  entspricht  trotz  der  guten 
Verhältnisse  des  übrigen  Körpers  nicht  unseren  Ansprüchen.  Ent- 
sprechend ihrer  Rasse  hat  sie  einen  verhältnissmässig  zu  grossen 
Kopf  und  eine  weniger  entwickelte  Gesichtsbildung. 

Bei  Vergleichung  der  zweiten  mit  der  ersten  Tabelle  wird  man 
finden,  dass  verschiedene  Fehler  sowie  Vorzüge  auf  beiden  genannt 
sind.    Die  gleichen  Fehler  können  von  verschiedenen  Ursachen  her- 


180  Praktische  Verwerthung. 


rühren,  wie  die  Symptome  von  verschiedenen  Krankheiten.  Das- 
selbe Symptom  kann  von  dieser  wie  von  jener  Krankheit  verursacht 
werden ;  aber  nur  durch  Zusammenstellung  der  verschiedenen  Sym- 
ptome im  gegebenen  Falle,  durch  sorgfältiges  Sichten,  Messen  und 
Erwägen  erlangt  man  ein  deutliches  Bild  der  Krankheit  und  ihrer 
Complicationen. 


XII. 


Praktische  Verwerthung  der  wissenschaftlichen 
Auffassung  weibUcher  Schönheit. 

Wissenschaftliche  Untersuchungen  haben  nur  dann  für  weitere 
Kreise  Werth,  wenn  sie  einem  praktischen  Zwecke  dienstbar  gemacht 
worden  sind. 

Da  der  weibliche  Körper  als  solcher  seit  Abschaffung  des 
Sklavenhandels  keinen  Marktwerth  mehr  hat ,  so  besteht  das  Be- 
dürfniss,  denselben  nach  einem  festen  Massstabe  beurtheilen  zu 
können,  sich  eine  gewisse  Kennerschaft,  gleich  der  der  Pfei'de-  und 
Weinkenner,  anzueignen,  im  allgemeinen  nicht  mehr. 

Trotzdem  hat  auch  jetzt  noch  die  körperliche  Schönheit  für 
die  Besitzerin  einen  hohen  Werth,  um  so  mehr,  da  sie  zugleich  ein 
Zeichen  körperlicher  Gesundheit  ist. 

Die  Entwickelung  und  Ausbildung  weiblicher  Schönheit  kann 
willkürlich  befördert  oder  geschädigt  werden  und  zwar  am  meisten  in 
den  Jahren  des  Reifens.  Ein  fester  Massstab  zur  Beurtheilung  der- 
selben ist  demnach  von  grossem  Werth  für  alle,  die  heranwachsende 
Mädchen  zu  überwachen  haben. 

Den  Eltern  und  namentlich  den  Müttern  ist  die  heilige  Pflicht 
auferlegt,  in  zarter  Sorge  den  knospenden  Leib  des  zukünftigen 
Weibes  vor  allen  Schädlichkeiten  zu  wahren  und  durch  liebende 
Fürsorge  in  schöner  Blüthe  sich  entfalten  zu  lassen.  Mit  Dank- 
barkeit gedenke  ich    so  mancher   unter   ihnen,    die   mir  genug  ver- 


Praktische  Verwerthung  der  wissenscliaftliclien  Auffassung  etc.         181 

traute,  um  mir  einen  Antlieil  an  diesem  ilirem  erhabenen  Werke 
zu  gönnen. 

In  zweiter  Linie  liat  die  Kenntniss  des  normalen  weiblichen 
Körpers  einen  praktischen  Werth  für  den  Künstler  bei  der  Wahl 
seiner  Modelle,  für  den  Kritiker  bei  der  Beurtheiknig  des  Kunst- 
werks. 

Dass  für  den  ersten  der  künstlerische  Blick  und  die  Kenntniss 
der  Anatomie  allein  nicht  genügen,  habe  ich  bereits  an  einigen  Bei- 
spielen bewiesen,  die  sich  durch  zahlreiche  andere  vermehren  lassen. 

Für  den  Kritiker  ist,  wenn  er  seinen  Beruf  ernst  auffasst,  ein 
fester  Massstab  von  noch  viel  grösserer  Wichtigkeit,  da  er  sowohl 
das  Modell  als  das ,  was  der  Künstler  daraus  machte ,  zu  be- 
urtheilen  hat.  " 

Bevor  wir  diese  besonderen  Zwecke  näher  besprechen,  wollen 
wir  jedoch  zunächst  die  praktische  Verwendbarkeit  der  bisherigen 
Erörterungen  an  Beispielen  erproben. 

Man  hat  behauptet,  dass  sich  alle  körperlichen  Vorzüge  nie- 
mals an  einem  lebenden  Weibe  zusammen  finden  lassen.  Durch 
meinen  Beruf  kam  ich  öfters  in  die  Lage,  mich  von  der  Unrichtig- 
keit dieser  Auffassung  zu  überzeugen  und  dieselbe  objectiv  wider- 
legen zu  können.  Da  ich  jedoch  erst  allmählig  die  Grundlagen  zur 
objectiven  Beurtheilung  ausarbeitete,  so  sind  meine  ersten  Aufzeich- 
nungen nicht  alle  so  vollständig,  dass  ich  sie  verwerthen  kann. 
Ausserdem  aber  war  ich  aus  leicht  begreiflichen  Gründen  nicht  stets 
in  der  Lage,  mit  der  erforderlichen  Genauigkeit  und  Sorgfalt  alle 
wünschenswerthen  Messungen  vorzunehmen. 

Mehr  oder  weniger  berechtigte  Vorurtheile  verbieten  der  Frau, 
ihren  Körper  vor  dem  Manne  mehr  als  nöthig  zu  entblösseu.  Diese 
Vorurtheile  finden  sich  allerdings  bei  schönen  Frauen  viel  seltener 
als  bei  solchen,   die  Fehler  zu  verbergen  haben. 

Jedenfalls  ist  dem  Arzte  die  Pflicht  auferlegt,  diese  Gefühle 
möglichst  zu  schonen,  und  nur  selten  begegnet  er  Frauen,  die  so 
unbefangen  und  so  wenig  kleinlich  sind,  dass  sie  sich  ihres  Körpers 
nicht  schämen. 

Von  acht  Frauen  besitze  ich  genaue  Angaben ,  die  es  ermög- 
lichen, deren  Schönheit,  wenn  man  so  will,  schriftlich  zu  beglaubigen. 


182  Beispiele  guter  Körperbildung. 

Zwölf  weitere,  von  denen  ich  Aufzeiclinungen  gemacht  habe,  be- 
sitzen neben  vielen  Vorzügen  nur  wenige  und  unbedeutende  Fehler. 

Alle  Zwanzig  gehörten  alten  Familien  des  besseren  Standes 
an  und  waren  alle  unter  sehr  günstigen  äusseren  Umständen  auf- 
gewachsen. 

Als  Beispiel  wähle  ich  Eine  aus  den  letzten  Zwölf. 

Jungverheirathete  Frau  von  24  Jahren. 

Körperlänge  1G8,5  cm. 

Kopflänge  21  cm. 

Beinlänge  90  cm  (bis  zum  Oberschenkelknorren). 

Schrittlänge  82,  bei  gespreiztem  Bein  84  cm. 

Brustumfang  88,5  cm. 

Nasenschambeinlänge  (Modulus)  62,5  cm. 

Schulterbreite  38,5  cm. 

Taillenbreite  21  cm. 

Hüftbreite  34,5  cm. 

Brustwarzenabstand  23,5  cm. 

Becken: 

Dornbreite  26,5  cm. 
Kammbreite  29  cm. 
Hüftbreite  34  cm. 
Hintere  Dornbreite  12  cm. 

Körpergewicht  60  kg. 

Aus  diesen  Massen  ergiebt  sich  zunächst  die  seltene  Erschei- 
nung, dass  die  Kopflänge  beinahe  achtmal  in  der  Körperlänge  ent- 
halten ist. 

Da  die  Schrittlänge  82  cm  beträgt,  so  liegt  die  Körpermitte 
nur  2^/2  cm  höher,  also  noch  unterhalb  der  oberen  Schamhaar- 
grenze. 

Das  Bein  ist  um  6  cm  länger  als  vier  Kopflängen. 

Der  Unterschied  zwischen  Schultern  und  Taille  ist  17,5, 
zwischen  Hüften  und  Taille  13,5  cm ,  also  jeweils  1  -^/a  cm  mehr 
als  nöthig. 


Beispiele  guter  Körperbildung.  183 

Die  Schultern  übertreffen  die  Hüften,  wie  vorgeschrieben, 
um  4  cm. 

Am  Becken  übertrifft  die  Kammbreite  die  Dornen  um  2,5  cm, 
die  Hüftbreite  sogar  um  5  cm  die  der  Kämme. 

Der  Abstand  der  hinteren  Dornen  von  12  cm  ist  ein  Beweis 
für  besondere  Breite  des  Kreuzbeins. 

Auch  der  Brustwarzenabstand  überschreitet  das  erforderliche 
Mass  um  8^/2  cm,  trotzdem  in  diesem  Falle  die  Brüste  selbst  nicht 
gross  waren. 

Wir  sehen  daraus,  dass  die  Längenmasse  ebenso  wie  die 
Breitenmasse  den  Normalsatz  schöner  Verhältnisse  stellenweise  sogar 
beträchtlich  überschreiten. 

Wenn  wir  das  Körpergewicht  aus  der  Länge  und  dem  Brust- 
umfang berechnen,  kommen  wir  auf  61,2  kg.  Statt  dessen  haben  wir 
hier  nur  60  kg,  also   1,2  kg  zu  wenig. 

Bei  den  übrigens  normalen  Verhältnissen  können  wir  daraus 
schliessen,  dass  die  höchste  Blüthe  noch  nicht  erreicht  ist. 

In  der  That  machte  der  zartgebaute  Körper  auch  einen  sehr 
jugendlichen  Gresammteindruck. 

Der  einzige  Fehler,  den  ich  an  diesem  sonst  tadellosen  Leibe 
entdecken  konnte ,    war    ein    etwas  schiefer  Ansatz  des  Vorderarms. 

Da  jedoch  das  Ellenköpfchen  nicht  hervortrat,  und  das  Hand- 
gelenk sehr  schmal  war,  so  ist  in  diesem  Falle  Rhachitis  als  Ursache 
auszuschliessen. 

Ein  ganz  ähnliches  Beispiel  habe  ich  bei  anderer  Gelegenheit^) 
veröffentlicht : 

Die  Masse  betrugen: 

Körperlänge  167  cm. 

Kopflänge  21  cm. 

Beinlänge  88  cm  bis  zum  Schenkelknorren. 

Schulterbreite  38  cm. 

Taille  22  cm. 

Hüftbreite  34  cm. 


Zeitschrift  für  Geburtshülfe  und  G-ynäkologie,  33,  p.  121. 


J^g4  Beispiele  guter  Körperbildung. 

Becken: 

Vordere  Dornen  26  cm. 
Kämme  29  cm. 
Hüften  33  cm. 
Hintere  Dornen  10,5  cm. 

Bei  beiden  Frauen  war  die  Beckengegend  besonders  schön  aus- 
gebildet ,  die  unteren  Grenzen  des  Kreuzdreiecks  bildeten  einen 
Winkel  von  genau  90  ° ,  die  Kreuzgrübchen  waren ,  dem  breiten 
Kreuzbein  entsjjrecheud ,  sehr  gut  ausgeprägt,  besonders  bei  der 
Letzteren,  bei  der  ich  übrigens  keinen  einzigen  Fehler  nachzuweisen 
im  Stande  war. 

Leider  kann  ich  nicht  die  Photographien  Beider  als  weitere 
Belege  hinzufügen.  Die  Zweite  gestattete  mir  allerdings,  eine  di- 
optrische  Aufnahme  ihres  Rückens  an  obengenannter  Stelle  zu  ver- 
öffentlichen, jedoch  entbehrt  dieselbe  für  unsere  Zwecke  den  objec- 
tiven  Werth  der  Photographie. 

Schwieriger  wird  die  Sache,  wenn  wir  zur  Begründung  unseres 
Urtheils  ausschliesslich  auf  eine  oder  mehrere  Photographien  an- 
gewiesen sind. 

Bei  der  Verwerthung  von  Photographien  zur  Bestimmung  der 
Proportionen  muss  man  alle  diejenigen  ausschalten,  bei  denen  durch 
Einstellung  des  Apparates  auf  den  Kopf  der  Unterkörper  perspec- 
tivisch  stark  verkürzt  ist.  Dieser  sehr  häufig  vorkommende  Fehler 
lässt  sich  leicht  mit  der  Bestimmung  des  Augenpunktes  aus  der 
Staffage  nachweisen. 

Absolut  sichere  Resultate  erreicht  man  nur  dann,  wenn  man 
mit  Linsen  von  möglichst  grosser  Brennweite  möglichst  kleine  Auf- 
nahmen macht  und  diese  dann  nachträglich  vergrössert.  Auch  dann 
noch  empfiehlt  es  sich,  die  Messungen  an  Negativen  oder  Dia- 
positiven vorzunehmen,  da  das  Albuminpapier  beim  Aufkleben  nach 
der  Richtung  der  grösseren  Dehnbarkeit    des  Papiers    gezerrt  wird. 

Allerdings  lassen  sich  viele,  wenn  nicht  die  meisten  Detail- 
fragen an  guten  Aufnahmen  mit  ziemlicher  Sicherheit  feststellen ; 
eine  genaue  Bestimmung  der  Verhältnisse  ist  jedoch  nur  dann  mög- 
lich, wenn  die  Aufnahme  in  symmetrischer  Stellung  genau  von  vorn 


Beispiele  guter  Körperbildung.  185 

genommen  ist.  Und  aucli  dann  noch  fehlt  die  Möglichkeit,  die 
Körperlänge  in  Centimetern,  sowie  den  Brustumfang  und  damit  das 
Körpergewicht  zu  bestimmen. 

Trotzdem  kann  man  immerhin  einigermassen  befriedigende 
Resultate  erzielen. 

Als  Beispiel  wähle  ich  die  Photographie  eines  Mädchens  aus 
Wien ,  welche  ich  durch  die  freundliche  Vermittelung  der  Kunst- 
handlung von  Amsler  und  Ruthardt  erhielt  (siehe  Abbildung  Tafel  I). 

Da  der  OberkörjDer  leicht  nach  hinten  übergebeugt  ist,  lässt 
sich  der  Fritsch'sche  Modulus  nicht  messen,  dagegen  kann  man  die 
Verhältnisse  der  Figur  nach  Kopflängen  bestimmen  (Fig.  75). 

Trägt  man  neben  dem  Umriss  die  Kopflängen  an  einem  Mass- 
stab ab,  dann  zeigt  sich  zunächst  auch  hier  wieder,  dass  die  Körper- 
länge nur  um  weniges  kürzer  ist  als  acht  Kopflängen.  Denkt  man 
sich  die  Figur  gerade  aufgerichtet,  dann  dürfte  das  Verhältniss 
etwa  =  7^/4  sein.  Die  Beinlänge  beträgt  ziemlich  genau  vier 
Kopflängen,  so  dass  die  Körpermitte  noch  unterhalb  der  oberen 
Schamhaargrenze  zu  liegen  kommt. 

Die  Lage  der  Schulterbreite,  Taille  und  Hüftbreite  ist  auf  der 
Figur  mit  punktirten  Linien  angegeben ;  an  der  obersten  ist  die 
wahrscheinliche  Lage  der  Gelenke  sowie  der  äusseren  Schulterbreite 
bei  gesenkten  Armen  durch  Kreuzchen  bezeichnet.  Durch  Messung 
kann  man  sich  überzeugen,  dass  das  Verhältniss  der  drei  Masse  den 
Anforderungen  entspricht ,  und  zwar  um  so  mehr ,  als  die  Verkür- 
zung auf  allen  drei  Linien  ungefähr  die  gleiche  ist. 

Das  rechte  Bein  ist  so  gestellt,  dass  wir  mit  Hülfe  der 
Mikulicz'schen  Linie  (vgl.  Fig.  71)  den  völlig  geraden  Verlauf  des- 
selben mit  Sicherheit  feststellen  können. 

Im  allgemeinen  lässt  sich  zunächst  sagen,  dass  der  Körper 
gute  Proportionen  bietet,  dass  jedoch  die  Länge  der  Beine  das  nor- 
male Durchschnittsmass  dabei  nicht  unbeträchtlich  überschreitet. 

Zur  Vergleichung  habe  ich  in  den  Umriss  einer  anderen  Auf- 
nahme desselben  Mädchens  (Fig.  76)  die  Construction  von  Fritsch 
eingezeichnet. 

Hier  lässt  sich  zunächst  die  Nasenschambeinlinie  trotz  der 
asymmetrischen  Haltung  mit   etwas  grösserer   Sicherheit  bestimmen. 


186 


Beispiele  guter  Körperbildung. 


Das  Ueberwiegen  der  Schulterbreite  über  die  übrigen  Breiten- 
masse tritt  hier  noch  deutlicher  hervor.     Construirt  man  die  Fritsch- 


Fig.  75.    Bestimmung  des  Wiener  Mädcliens  (Tafel  I)  iiacli  Kopflängen. 


sehe  Figur,  dann  fällt  die  Scheitelhöhe  genau  hinein.  Dasselbe  ist 
der  Fall  mit  der  linken  Schulter  und  Brust.  Die  rechte  Schulter 
ist    mit    der    Brust    etwas  gesenkt   und    steht   tiefer.     Dieser   tiefere 


Beispiele  guter  Körperbildung. 


187 


l- 


Stand  ist  jedoch  nur  abhängig   von  der  Stellung;    denn  Nabel   und 
Hüftgelenke  stehen  in  der  richtigen  Höhe. 

Die   Längenverhältnisse    am    Arme   sind   richtig;    denn    sobald 
der  tiefere  Stand   der  Schulter  aus- 
geglichen wird,  fallen  die  Messpunkte 
in  die  Gelenke. 

Am  Bein  stehen  sie  etwas  höher, 
und  bei  der  Gesammthöhe  ergiebt  sich, 
dass  dieselbe  auf  Kosten  der  Beine 
um  das  Stück  hx  grösser  ist,  als  die 
Construction  verlangt. 

Die  Kopfbreite  lässt  sich  aus 
keiner  der  beiden  Figuren  bestimmen. 

Aus  beiden  Messungen  erhalten 
wir  demnach  das  übereinstimmende 
Ergebniss ,  dass  alle  Proportionen 
richtig  sind,  dass  jedoch  die  Beine  die 
üblichen  Verhältnisse   überschreiten. 

Dies  ist  kein  Fehler;  wir  können 
es  im  Gegentheil  als  einen  Vorzug 
ansehen,  da  dadurch  die  Körpermitte 
am  Rumpf  um  so  tiefer  tritt.  Ausser- 
dem aber  ist  durch  die  Lage  der 
Mikulicz'schen  Linie  die  Form  des 
rechten  Beins  als  völlig  normal  ge- 
kennzeichnet. Es  hat  dabei  einen 
schlanken  Knöchel,  und  wenn  wir  die 
innere  Tangente  ziehen,  sehen  wir,  dass 
dieselbe  das  obere  Drittel  des  Ober- 
schenkels, das  Knie  und  den  inneren 
Knöchel  berührt.  Die  schwächer  aus- 
gebildete Wade  erreicht  diese  Linie 
nicht,  und  dies  ist  bei  den  sonst  richtigen  Verhältnissen  ein  Beweis, 
dass  wir  es  mit  einem  noch  nicht  voll  entwickelten  Mädchenkörper 
zu  thun  haben.  Die  Betrachtung  der  Tafel  lässt  im  übrigen  alle  oben 
erwähnten  Vorzüge  erkennen;  hervorzuheben  sind  der  runde  Ellen- 


Fig.  76. 

Bestimmung  des  Wiener  Mädchens 

nach  dem  Modulus  von  Fritsch. 


188  Beurtheilung  nach  Massen. 

bogen,  der  gutgewölbte  Brustkorb,  der  gute  Ansatz  der  Jugendlieben, 
ebenfalls  nocb  nicht  vollentwickelten  Brüste ,  und  der  gutgeformte 
Fuss  mit  längerer  zweiter  Zehe. 

Besonders  beachtenswerth  ist  in  diesem  Falle ,  dass  kein  ein- 
ziges Zeichen  vorhanden  ist,  das  auf  Rhachitis  oder  auf  Schwind- 
sucht deutet. 

Wir  haben  vor  uns  eine  schöne,  gesunde  Knospe,  die  ihre 
höchste  Blüthezeit  noch  nicht  erreicht  hat. 

Ein  weiteres  Beispiel  ist  eine  17jährige  Berlinerin,  Margarethe 
E.  Ich  war  in  der  Lage ,  alle  Masse  selbst  zu  nehmen ,  Professor 
G.  Fritsch  nahm  in  verschiedenen  Stellungen  photographische  Auf- 
nahmen und  war  so  freundlich,  mir  dieselben  zu  überlassen.  Ausser- 
dem aber  hat  Frau  Paczka  in  liebenswürdigster  Weise  das  Modell 
künstlerisch  verwerthet. 

Wir  haben  so  von  demselben  Mädchen  die  Masse,  die  natur- 
getreue Aufnahme  und  die  künstlerische  Auffassung  zur  Vergleichung 
vor  uns. 

Die  Masse  sind: 

Körperlänge  166  cm. 

Kopflänge  23  cm. 

Beinlänge  85  cm  bis  zum  Oberschenkelknorren. 

Schrittlänge   79  cm. 

Brustumfang  85  cm. 

Nasenschambeinlänge  (Modulus)  66  cm. 

Schulterbreite  38  (Umfang  92)  cm. 

Taillenbreite  22,4  (Umfang  65)  cm. 

Hüftbreite  32   (Umfang  90)  cm. 

Brustwarzenabstand   19,75  cm. 

Scheitelschritthöhe  87  cm. 

Becken: 

Dornbreite  23  cm. 
Kammbreite  27,25  cm. 
Hüftbreite  31  cm. 
Hintere  Dornbreite   1 1  cm. 


Beurtheilung  nach  Massen.  j^89 

Hieraus  folgt  zimäclist,  dass  die  Kopflänge  7,2mal  in  der 
Körperlänge  enthalten  ist,  dass  demnacli  der  Kopf  unverhältniss- 
mässig  gross  ist. 

Das  Bein  ist  um  7  cm  kürzer  als  vier  Kopflängen. 

Die  Körpermitte  liegt  unterhalb  der  oberen  Schamhaargrenze. 

Der  Unterschied  zwischen  Schultern  und  Taille  ist  15,6,  zwi- 
schen Hüften  und  Taille  9,6,   also  um  0,4  und  um  2,4  cm   zu  gering. 

Die  Schultern  übertreffen  die   Hüften  um  6  statt  um  4  cm. 

Daraus  können  wir  schliessen  auf  ein  stärkeres  Ueberwiegen 
der  Schulterparthie,  was  an  mehr  männliche  Bildung  erinnert  oder 
an  zu  geringe  Entwickelung  des  Beckens  denken  lässt. 

Die  Beckenmasse  haben  einen  Unterschied  von  4,25  und 
3,75  cm,  sind  dabei  aber  im  allgemeinen  klein;  wir  haben  also  ein 
typisch  weiblich  geformtes  Becken,  das  jedoch  im  Verhältniss  zur 
Körpergrösse  nicht  besonders  stark  entwickelt  ist. 

Da  der  hintere  Dornabstand  11  cm,  also  1  cm  über  das  Mass 
beträgt,  so  ist  daraus  zu  schliessen,  dass  das  Becken  selbst  weiblich 
ist,  jedoch  die  Schaufeln  geringer  ausgebildet  sind. 

Von  den  übrigen  Massen  ist  auffallend,  dass  trotz  der  zu 
kurzen  Beine  die  Körpermitte  doch  noch  unterhalb  der  oberen 
Schamhaargrenze  zu  liegen  kommt.  Auf  die  Masse  allein  ange- 
wiesen, müssen  wir  die  Erklärung  für  diese  Thatsache  vorläufig 
schuldig  bleiben. 

Was  können  wir  nun  aus  den  Massen  allein  schliessen? 

Zunächst,  dass  das  Mädchen  noch  nicht  völlig  entwickelt  ist, 
da-  der  Körper  für  den  Kopf  zu  klein  ist  und  das  Becken  trotz 
guter  Masse  zu  klein  für  die  Schultern. 

Ferner  haben  wir  irgend  einen  Fehler  anzunehmen ,  der  die 
Verkürzung  der  Beine  veranlasst  hat. 

Damit  steht  im  Zusammenhang  die  Verkürzung  der  ganzen 
Körperlänge,  die,  nach  dem  Fritsch'schen  System  berechnet,  10 ^^^ 
Untermoduli  (hier  =  16,5),  also  170,5  cm  betragen  müsste  statt 
166  cm,   demnach  um  4,5  cm  zu  kurz  ist. 

Von  den  verschiedenen  Aufnahmen,  welche  Professor  G.  Fritsch 
von  dem  Mädchen  gemacht  hat,  sind  zwei  in  Fig.  77  und  78  repro- 
ducirt.     Beide  Aufnahmen  sind    unter    nicht  gerade    sehr   günstigen 


190 


Beurtheiluncf  nach  Photogrammen. 


äusseren  Umständen  mit 
Blitzliclit  gemacht ;  auf 
künstlerische  Auffassung  ist 
dabei  absichtlich  kein  Werth 
gelegt;  sie  sollen  nichts 
weiter  sein  als  wissenschaft- 
liche Documente. 

Zur  Vergleichung  mit 
den  absoluten  Massen  habe 
ich  zunächst  in  die  Umrisse 
der  ersten  Photographie 
(Fig.  77)  einige  Grelenk- 
punkte  und  den  Modulus  ein- 
c^etrao-en,  daneben  auf  den 
Modulus  die  Normalmasse 
in  vollen  Linien  construirt 
und  nach  der  Vorschrift 
von  Fritsch  in  punktirten 
Linien  die  wirklichen  Masse 
der  Margarethe  beigefügt 
(Fig.  79). 

Endlich  ist  in  Fig.  80 
ein  Massstab  in  Kopflängen 
mit  einer  dioptrisch  nach 
der  Photographie  hergestell- 
ten Profilzeichnung  des  Mäd- 
chens zusammengestellt. 

Aus  der  Vergleichung 
der  Figuren  können  wir  jetzt 
eine  Reihe  von  Erscheinun- 
gen erklären,  die  uns  bei 
der  Vergleichung  der  Masse 
bereits  auffielen. 

In  Fig.  80  ist  auffällig, 
dass  das  Kreuz  wenig  eingebogen  ist,  in  Fig.  77  resp.  79,  dass  die 
Begrenzungslinien   des    Unterleibs    gegen    die    Schenkel    einen   sehr 


Fi 


77.    17jährige  Berlinerin  nacli  einer  Anfnalime 
von  Gr.  Fritsch. 


Beurtheilung  nacli  Photogrammen. 


191 


Fig.  78.    Dieselbe  von  liinten. 


spitzen  Winkel  bilden.  Daraus  geht  hervor,  dass  die  Neigung  des 
Beckens  eine  sehr  geringe  ist,  dass  in  Folge  dessen  ein  grösserer 
Theil  der  Schamspalte  von  vorn  zu  sehen  ist,  und  dass  bei  dem  zu 
hohen  Stande  dieser  Theile  es  erklärlich  ist,  warum  die  Körpermitte 


192 


Beurtheiluno'  nach  Pliotogrammen. 


trotz  der  kurzen  Beine  docli  nocli  unterhalb  der  oberen  Schambaar- 
srenze   steht.     Wäre    das  Becken   bei   sonst   gieichen  Verbältnissen 


Fig.  79.    Proportionen  von  Margaretlie,  vergliclien  mit  dem  Canon  von  Fritscli. 

stärker  geneigt,  dann  müsste  die  Körpermitte  viel  böber  am  Unter- 
leib in  die  Höbe  treten. 

Der  scheinbare  Widerspruch  ist  also  erklärt  durch  das  Zu- 
sammentreffen von  zwei  Fehlern :  zu  schwache  Beckenneigung  und 
zu  kurze  Beine. 


Beurtheilung  nach  Pliotogrammen  und  Massen. 


193 


Die  Kürze  der  Beine  hängt,  wie  aus  Fig.  79  hervorgeht, 
namentlich  ab  von  der  Verkürzung  unterhalb  des  Knies,  und  zwar 
lehrt  uns  der  Anblick  von  Fig.  77, 
dass  es  sich  um  einen  etwas  schief 
angesetzten  und  zugleich  verkrümm- 
ten Unterschenkel,  ausserdem  aber 
um  einen  leichten  Grad  von  Plattfuss 
handelt. 

Ebenso  sind  auch  die  Arme  im 
Vorderarm  verkürzt,  und  in  Fig.  77 
erkennen  wir  deutlich  am  rechten  Arm 
das  vorspringende  Ellenköpfchen. 

Ausser  der  Verkürzung  und  Ver- 
krümmung von  Unterschenkel  und 
Unterarm,  ausser  dem  vorspringenden 
Ellenköpfchen  haben  wir  noch  Ver- 
dickung der  Handgelenke  und  der 
Knöchel,  und  damit  ebensoviele  Zei- 
chen einer  früheren  Rhachitis. 

Trotz  der  krankhaften  Verkür- 
zung des  Beines  bleibt  aber  immer 
noch  ein  gewisses  Missverhältniss  zwi- 
schen der  Kopflänge  und  der  Körper- 
länge ;  denn  selbst  bei  einer  Länge 
von  170,5  cm  ist  sie  doch  nur  gleich 
7,4  Kopflängen. 

Dies  Verhältniss  ist  aber  kenn- 
zeichnend für  einen  noch  nicht  völlig 
ausgewachsenen  Körper. 

Es  ist  aber  auch  ersichtlich,  dass 
trotz  gut  entwickelter  Muskeln,  die 
sich  namentlich  am  Oberarm  und 
Rücken  sehr  schön  ausprägen ,  die 
Formen  etwas  Eckiges  haben;  ferner 
treten  die  Schlüsselbeine  und  die  Mus- 
keln darüber  stark  vor,    alles   in  Folge  von    geringer  Entwickelung 

Stratz,  Die  Scliöulieit  des  weibliclieii  Körpers.  13 


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Fig.  80.    Dioptrisclie  ProfilzeicliuuiiE 
uacli  Eopfläugeu. 


194  Fehler  und  Vorzüge. 

des  Fettpolsters  der  Haut.  Aucli  dies  ist  ein  Zeichen  entweder 
schlechter  Ernährung  oder  noch  nicht  vollendeten  Wachsthums. 
Gegen  erstere  sprechen  aber  die  kräftige  Muskulatur,  die  gut  ent- 
wickelten Brüste  und  die  glatte  Haut. 

Wir  haben  somit  lauter  Zeichen ,  aus  denen  hervorgeht ,  dass 
das  Mädchen  seine  volle  Reife  noch  keineswegs  erreicht  hat,  dass 
es  halb  Kind,  halb  Jungfrau  ist. 

Auffallend  bei  dem  sonst  mageren  Körper  ist  die  relative 
Grösse  der  Brustdrüsen  bei  verhältnissmässig  wenig  von  einander 
entfernten  Warzen.  Dies  erklärt  sich  aus  der  grossen  Elasticität 
der  Haut,  die  wir  auch  als  den  grössten  Vorzug  dieses  Körpers 
betrachten  können. 

Während  die  Haut,  wie  besonders  aus  Fig.  77  ersichtlich,  am 
Busen  dem  Brustbein  fest  anhaftet,  hat  sie  der  wachsenden  Brust- 
drüse hier  gar  nicht,  in  der  Achselhöhle  nur  widerstrebend  nach- 
gegeben, bis  die  grösste  Masse  der  Drüse  seitlich  ausgewichen  ist; 
die  Warzen  aber  sind  in  gleicher  Entfernung  von  einander  stehen 
geblieben. 

Ein  weiterer  Vorzug  ist  der  schöne  Bau  des  Auges. 

Bei  Vergleichung  der  gegebenen  Abbildungen  lassen  sich  leicht 
noch  zahlreiche  weitere  Fehler  und  Vorzüge  entdecken. 

In  der  Hauptsache  ist  der  Hauptreiz  die  jugendliche  Frische, 
der  Hauptfehler  die  Üeberreste  der  englischen  Krankheit. 

Im  folgenden  werden  wir  sehen,  was  der  Künstler  daraus 
machen  kann.  — 

Ich  glaube,  dass  die  angeführten  Beispiele  genügend  dargethan 
haben,  dass  man  nach  festen  Regeln  jeden  gegebenen  Körper  be- 
urtheilen  kann,  ohne  dass  dabei  irgend  welche  Beimischung  von 
persönlichem  Geschmack  in  Frage  kommt ;  und  damit  kommen  wir 
nun  auch  zur  praktischen  Nutzanwendung  der  gesammelten  Ein- 
drücke. 


Verwerthung  des  Modells.  195 


XIII. 


Verwerthung  in  der  Kunst  und  Kunstkritik. 

Modelle. 

Wenn  wir  das  Modell  kennen,  so  müssen  wir  über  das  feine 
GefüH  staunen,  mit  dem  Frau  Paczka  dessen  Vorzüge  zu  erhöhen 
und  die  Fehler  zu  bedecken  wusste,  ohne  dabei  jemals  das  Original 
und  damit  die  Naturtreue  zu  verleugnen. 

Tafel  III  ist  eine  getreue  Nachbildung  des  Werkes  der  Künst- 
lerin, das  direct  auf  die  Aluminiumplatte  gezeichnet  wurde. 

Die  gewählte  Stellung  erinnert  an  den  betenden  Knaben  im 
Berliner  Museum. 

Frau  Paczka  wusste  nicht ,  dass  das  Mädchen  Rhachitis  hatte, 
trotzdem  aber  hat  sie  die  Zeichen  derselben  als  hässlich  empfunden 
und  sie  so  weit  abgeschwächt,   dass  sie  nicht  störend  wirken. 

Die  grössten  Schwierigkeiten  boten  die  Beine ;  hier  galt  es,  die 
leichte  X-Form,  den  Plattfuss,  die  Verdickung  des  Fussgelenkes,  die 
Krümmung  und  Verkürzung  des  Unterschenkels  zu  bedecken. 

Das  linke  Bein  ist  zunächst  im  ganzen  etwas  nach  aussen  ge- 
dreht, wodurch  sich  die  leichte  X-Stellung  desselben  weniger  scharf 
markirt.  Im  rechten  Beine  ist  durch  die  Einwärtsbeugung  des  Knies 
die  X-Stellung  in  natürlicher  Weise  motivirt  und  wirkt  darum  nicht 
als  Fehler. 

Dadurch  aber,  dass  diese  Beugung  stärker  ausgedrückt  ist, 
lässt  sie  den  Fehler  am  nicht  gebeugten  Bein  beinahe  verschwinden. 

Durch  Verkürzung  ist  rechts,  durch  Drehung  links  die  Ver- 
krümmung der  Unterschenkel  dem  prüfenden  Auge  entzogen,  der 
Mangel  in  der  Länge  derselben  ist  ausgebessert. 

Die  Drehung  des  linken  Fusses  nach  aussen  ist  gross  genug, 
um  die  Messung  des  geraden  Verlaufes  durch  die  Mikulicz'sche  Linie 
zu  vereiteln,  und  doch  auch  wieder  nicht  so  gross,  dass  an  dem 
Tiefertreten  des  inneren  Fussrandes  der  Plattfuss  erkannt  Averden  kann. 


196  ,  Verwerthung  des  Modells. 

Am  rechten  Fuss  ist  durcli  die  Bewegung  der  feMerhafte  Stand 
desselben  völlig  verwisclit. 

Die  Knöchel  sind  etwas  höher  gestellt  und  etwas  schlanker 
gezeichnet. 

Somit  hat  Frau  Paczka  durch  gut  gewählte  Stellung  und  einige 
leichte  Verbesserungen  ihre  Aufgabe  in  glücklichster  Weise  gelöst. 

Das  Verhältniss  des  Kopfes  zur  Körperlänge  ist  in  dem  Kunst- 
werk wie  7  zu  1 ,  also  noch  ausgeprägter  zu  Gunsten  der  Kopf- 
grösse. 

Die  Begrenzungslinie  zwischen  Rumpf  und  Beinen  bildet  einen 
stumpfen  Winkel,  und  die  Stellung  ist  so  gewählt,  dass  die  Becken- 
neigung eine  grössere  ist. 

Durch  dieselbe  Bewegung  wird  die  Beckenjaarthie  mehr  nach 
vorn  gebracht,  sie  erscheint  grösser  und  zeichnet  die  Muskeln 
deutlicher. 

Am  Oberkörper  ist  die  schöne  Entwickelung  der  Brüste  und 
der  Muskulatur  des  Modells  unverändert  beibehalten. 

Alle  diese  Mittel  haben  denselben  Zweck,  die  Weiblichkeit  und 
die  Jugend  des  Modells  noch  mehr  hervortreten  zu  lassen. 

So,  wie  sie  vor  uns  steht,  ist  es  eine  halbgeöffnete  Mädchen- 
knospe ,  die  mit  leichtem  Schritte  dahinwandelt ,  um  die  lächelnde 
Zukunft  mit  ihren  offenen  Armen  zu  umfassen. 

In  der  Ansicht  von  hinten  (Tafel  IV)  war  es  weit  schwieriger, 
die  gegebenen  Fehler  zu  verbergen ;  am  rechten,  zum  Theil  bedeckten 
Bein  ist  das  Problem  wieder  durch  die  Beugung  im  Knie  gelöst; 
am  linken  ist  die  Einw^rtsstellung  des  Knies  dadurch  gemildert,  dass 
das  Becken  im  Hüftgelenk  nach  rechts  tiefer  gestellt  ist.  Doch  lässt 
sich  nicht  leugnen,  dass  trotzdem  der  Fehler  nicht  völlig  ver- 
schwunden ist. 

Die  freundliche  Künstlerin  möge  mir  verzeihen,  dass  ich  ihr 
Werk  dazu  benutzte,  um  auch  zugleich  ein  wenig  die  Künstlerseele 
zu  analysiren;  aber  ich  fand  die  Gelegenheit  zu  verlockend,  um 
darzuthun ,  dass  der  echte  Künstler  unbewusst  den  Massstab  des 
Schönen  in  sich  trägt,  und  seinem  Gefühle  folgend  als  hässlich  ver- 
meidet, was  wir  Männer  der  Wissenschaft  als  krank  und  fehlerhaft 
brandmarken. 


Bildende  Kunst.  197 


Und  indem  ich  dieses  Beispiel  anführte ,  habe  ich  zugleich 
gesagt,  was  mein  Buch  dem  Künstler  sein  soll.  Es  soll  ihn  nichts 
Neues  lehren,  es  soll  ihm  nur  den  wissenschaftlichen  Beweis  liefern, 
dass  sein  Gefühl  das  richtige  ist,  es  soll  ihm  ein  Wegweiser  sein 
im  Gebiete  des  Schönen  und  ihn  überzeugen,  dass  sein  Schönheitssinn 
denselben  Naturgesetzen  unterworfen  ist,  denen  wir  uns  alle  beugen 
müssen.     Wir  glauben  zu  schieben,  und  wir  werden  geschoben. 

Aus  alledem  geht  hervor,  dass  das  Werk  des  Künstlers  in 
hohem  Masse  von  seinem  Modell  abhängig  ist.  Wir  haben  eingangs 
schon  erwähnt,  dass  Werke  anderer  dafür  nur  einen  schlechten  Er- 
satz bieten,  da  auch  sie  unter  dem  Einfluss  des  gewählten  Modells 
sowie  der  jeweiligen  Mode  stehen.  Wir  können  auch  nochmals  auf 
die  goldenen  Worte  Dürers  zurückweisen,  um  zur  Natur  und  immer 
wieder  zur  Natur  zurückzukehren.  „Kunst  und  Natur  sei  Eines  nur," 
sagt  Lessing. 

Aber  dabei  muss  man  sich  hüten,  nicht  alles  für  baare  Münze 
anzunehmen,  was  in  der  Natur  vorkommt,  sondern  man  muss  ent- 
weder -einen  sehr  gut  geschulten  künstlerischen  Blick  haben  oder  in 
zweifelhaften  Fällen  die  Wissenschaft  zu  Hülfe  nehmen. 

Freilich  kann  nicht  jeder  Maler  malen,  was  er  will;  häufig 
muss  er  malen,  was  er  kriegt.  Dies  gilt  nicht  allein  von  Bildniss- 
malern, die  häufig  die  scheusslichsten  Gesichter  aus  keinem  anderen 
Grunde  malen  müssen,  als  weil  deren  Besitzer  oder  Besitzerinnen  mit 
irdischen  Gütern  gesegnet  sind,  dies  gilt  auch  von  Malern,  die  in 
der  Wahl  ihres  Gegenstandes  völlig  frei  sind. 

Es  lassen  sich  Hunderte  von  Beispielen,  besonders  unter  der 
grossen  Zahl  moderner  Maler  anführen,  aus  deren  Werken  sich  ein 
reichbesetztes  Krankenhaus  zusammenstellen  liesse.  Entweder  haben 
die  Künstler  keine  besseren  Modelle  gehabt,  oder  sie  haben  deren 
Fehler  nicht  gesehen. 

Dass  im  letzteren  Falle ,  wie  Brücke  meint ,  die  Liebe  eine 
grosse  Rolle  spielt,  ist  nicht  so  ganz  unwahrscheinlich. 

Wenn  wir  für  diesen  Punkt  die  Literatur  zu  Rathe  ziehen,  so 
finden  wir  in  der  That  bei  den  meisten  Schriftstellern  die  Beobach- 
tung, dass  es  die  Liebe  ist,  die  das  Weib  veranlasst,  ihren  Körper 
den  Blicken  des  angebeteten  Künstlers  preiszugeben. 


198  Künstlermodelle. 

Das  ist  der  Fall  in  Heyse's  Paradies,  in  Zola's  l'oeuvre,  selbst 
in  Goethe's  Briefen  aus  der  Schweiz  sagt  die  erfahrene  alte  Matrone, 
dass  es  viel  leichter  sei,  ein  Weib  zu  finden,  das  seinen  Körper  der 
Liebe,   als  eines,   das  ihn  nur  den  Augen  des  Mannes  preisgiebt. 

Dass  dem  liebenden  Weibe  gegenüber  der  Künstler  seine  Ob- 
jectivität  oft  schwer  bewahren  kann,  liegt  in  der  menschlichen  Natur 
begründet. 

Eine  andere  und  meiner  Ansicht  nach  höhere  Auffassung  findet 
sich  in  du  Maurier's  Trilby  (S.  95). 

„She  was  equally  unconscious  of  seif  with  her  clothes  on  or 
without;  she  could  be  naked  and  unashamed." 

Das  ist  dasselbe  Gefühl,  was  wir  am  unverdorbenen  Kinde 
sehen;  die  erste  Regung  der  Liebe  zerstört  es,  wie  dies  ja  auch  bei 
Trilby  der  Fall  ist. 

Die  höchste  Auffassung  habe  ich  nur  bei  einem  einzigen 
Schriftsteller  gefunden,  und  zwar  bei  dem  holländischen  Dichter 
Vosmaer. 

In  seiner  „Amazone"  will  die  schöne  Marciana  erst  dann  dem 
Künstler  Modell  stehen,  nachdem  sie  sich  davon  überzeugt  hat,  dass 
er  sie  nicht  liebt. 

Das  ist  eine  Frau,  die  weiss,  dass  sie  schön  ist,  und  die  sich 
aus  reiner  Liebe  zur  Kunst  entkleidet,  aber  nicht  vor  dem  Manne, 
sondern  vor  dem  Künstler,    und   zwar   vor  dem   grossen  Künstler. 

Ein  gleicher  Geist  beseelte  die  schöne  Frau  Charlotte  Fossetta, 
das  Modell  von  Dannecker's  berühmter  Ariadne.  Sie  bot  sich  dem 
Künstler,  in  dessen  Hause  sie  verkehrte,  an  mit  den  Worten:  „Und 
Sie  glauben  in  der  That,  dass  meine  Erscheinungsformen  Ihrer 
Kunst  zu  wirklicher  Förderung  gereichen  könnten?  Gut  denn,  ver- 
fügen Sie  über  mich,  wenn  Sie  meinen,  Neues,  Geniales  schaffen 
zu  können"  ^). 

Derartige  Frauen,  wie  Charlotte  Fossetta,  Agnes  Sorel,  Paola 
Borghese,  Diana  von  Poitiers,  Lady  Digby  u.  a.  giebt  es  aber  nur 
wenige.     Weit  häufiger  sind  die,    die  sich  aus  Liebe  zum  Künstler 


^)  C.  Beyer,    Dannecker's  Ariadne,   Zeitschrift  für  bildende  Kunst.     See- 
mann &  Co.,  1897,  Heft  10,  p.  244. 


Kunstkritik.  199 

als  Modell  hergeben.  Man  denke  nur  an  die  Gemahlinnen  von 
Rubens,  die  Frau  von  van  der  Werö'  u.  a. 

Weitaus  die  meisten  Künstler  sind  auf  bezahlte  Modelle  an- 
gewiesen, die  sich  meist  aus  den  ärmeren,  schlecht  genährten  Klassen 
rekrutiren,  so  dass  man  nur  ausnahmsweise  schöne  Gestalten  unter 
ihnen  findet. 

Unter  den  hundert  Lichtbildern  in  dem  bekannten  „Act"  von 
Koch  und  Rieth  hat  kein  einziges  dieser  Künstlermodelle  einen  nor- 
malen Körper,  ebensowenig  in  den  50  Freilichtstudien  von  Koch. 
Im  Kinderact  von  Max  Peiser  findet  sich  nur  ein  einziges  Mädchen 
(Blatt  41),  das  normal  gebaut  ist.  Also  Eine  unter  200,  die  aus 
dem  Modellstehen  einen  Beruf  machen. 

Nur  ausnahmsweise  finden  sich  unter  den  zahlreichen  Samm- 
lungen photographischer  Actstudien  Aufnahmen ,  die  einen  künst- 
lerischen Eindruck  machen  und  von  richtiger  Yerwerthung  des 
Modells  zeugen.  Meist  wird  das  Modell  nicht  vortheilhaft  gestellt 
oder  der  Eindruck  durch  eine  geschmacklose  Staffage  verdorben. 
Davon  unterscheiden  sich  vortheilhaft  die  leider  etwas  veralteten 
Wiener  Acte  von  Heid,  einige  Wiener  Aufnahmen  von  0.  Schmidt, 
sowie  eine  Münchener  Serie  von  Recknagel,  der  wahrhaft  künst- 
lerisches Fühlen  nicht  abzusprechen  ist. 

Fig.  81  ist  ein  Münchener  Modell  von  17  Jahren.  Beleuchtung 
und  Gruppirung  sind  harmonisch  ausgesucht,  der  Gegensatz  zwi- 
schen dem  schlanken  glatten  Mädchenkörper  und  dem  zottigen 
Hundeleib  kommt  gut  zur  Geltung,  alle  Vorzüge  des  ziemlich  tadel- 
losen Modells  sind  richtig  gewürdigt,  die  Fehler  geschickt  verdeckt; 
das  Ganze  macht  einen  abgeschlossenen,  künstlerischen  Eindruck, 
gleichviel,  ob  man  die  Gruppe  „Nymphe  der  Diana"  oder  „Mädchen 
mit  Hund"  bezeichnen  will. 

Wenn  der  Künstler  sich,  was  vielfach  geschieht,  dadurch  helfen 
will,  dass  er  von  einem  Modell  diesen,  von  einem  anderen  jenen 
Körpertheil  benutzt,  dann  thut  er  der  Natur  Gewalt  an,  indem  er 
die  Individualität  zerstört.  Auf  diese  Weise  wird  er  niemals  im 
Stande  sein,  ein  harmonisches  Gebilde  zu  schaffen. 

Es  giebt  nur  zwei  Wege :  Entweder  ein  tadelloses  Modell  oder 
die  sachverständige  Verbesserung  und  Verdeckung  der  Fehler,   wie 


200 


Kunstkritik. 


es  Frau  Paczka   gethan   hat.     Und   für   diesen    letzteren   Fall   kann 
das  Urtheil  des  Arztes  oft  von  Nutzen  sein. 

Yiel  gehört  dazu,  ein  Kunstwerk  zu  erschaffen,  fast  noch  mehr 
gehört  dazu,  es  richtig  zu  beurtheilen. 


Fig.  81.    Müuchener  Modell  von  17  Jahren  mit  riissiscliem  Windhund. 
(Aufnahme  von  Recknagel  Nachfolger.) 

Der  vollendete  Kritiker  muss  die  Geschichte,  die  Technik  der 
Kunst,  sowie  den  dargestellten  Gregenstand  genau  kennen,  und  das 
ist  für  die  meisten  Menschen  beinahe  unmöglich  zu  vereinigen.  Dass 
sich  trotzdem  so  viele  Kritiker  finden,  liegt  an  der  grossen  Selbst- 
überschätzung der  Menschen  im  allgemeinen.     Nirgends  tritt  dieselbe 


TAi-^jz:;.  ji 


MciseRbach  Eiffarth  i  Co.,  Kürichi 


JUNGE  S  1v1/aj  iCiir: « 
Nach  einer  AlqrapMe    von    Cornelia,  Paczka> . 


Meisenbacli  Riffarfti  a:Co.,Münclien 


RÜCKANSICHT  EINES  JUNGEN  MÄDCHi'.NS 
TM  ach   einer  AlprapHie    von    Cornelia,  Paczka. 


Erhaltung  körperlicher  Schönheit.  201 

deutliclier  zu  Tage  als  in  der  Beurtheilung  des  Portraits  irgend 
einer  bekannten  Persönliclikeit.  Hier  glaubt  jeder,  dass  er  berechtigt 
und  im  Stande  ist,  alle  möglicben  und  unmöglichen  Fehler  zu  ent- 
decken. 

Ein  Urtheil,  sei  es  Lob  oder  Tadel,  auszusprechen  ist  leicht, 
es  zu  begründen  ist  schwer,  aber  doch  die  eigentliche  Aufgabe  einer 
sachverständigen  Kritik.  Ich  hoffe,  dass  die  kurzen  Andeutungen, 
die  ich  im  Lauf  meiner  Arbeit  eingestreut  habe ,  dazu  beitragen 
können,  auch  in  dieser  Hinsicht  die  Besseren  unter  den  Kunst- 
kritikern zu  läutern.  Um  richten  zu  können,  muss  man  erst  etwas 
wissen. 


XIV. 

Vorschriften  zur  Erhaltung  und  Förderung 
weiblicher  Schönheit. 

Der  Eingeweihte  steht  erstaunt  vor  der  Fülle  von  Mitteln,  die 
das  Weib  besitzt,  um  Vorzüge  zu  heucheln,  die  sie  nicht  hat,  und 
Fehler  so  geschickt  zu  verbergen ,  dass  sich  dieselben  in  Vorzüge 
verändern.  Darin  ist  das  Weib  Meister,  und  es  wäre  vermessen,  ihr 
darüber  noch  Vorschriften  geben  zu  wollen ;  das  hiesse  Eulen  nach 
Athen  tragen. 

Wer  Fehler  hat  und  sie  verbergen  will,  für  den  sind  alle  Mittel 
erlaubt,  und  wenn  eine  Frau  ihren  an  und  für  sich  schon  schlechten 
Körper  noch  mehr  im  Dienste  der  Mode  verderben  will,  um  ihren 
glücklicheren  Schwestern  ähnlich  zu  sehen,  so  hat  sie  fremden  Rath 
dabei  nicht  nöthig. 

Meine  Absicht  ist  nicht,  wie  in  einem  Kochbuch  Recepte  für 
Schönheit  oder  ein  Verzeichniss  der  zahlreichen,  mir  bekannt  ge- 
wordenen Toilettengeheimnisse  herauszugeben;  ich  will  vielmehr 
darauf  hinweisen,  wie  jedes  Weib  die  ihr  von  der  Natur  verliehenen 
Gaben   am  besten   entwickeln   kann,    und   da   dieselben  am  meisten 


202  Erziehung. 

beim  heran wacliseiiclen  Geschleclite  sowohl  günstig  als  ungünstig 
beeinflusst  werden  können,  so  richten  sich  meine  Worte  hauptsäch- 
lich an  die  Mütter. 

Ich  habe  oben  bereits  darauf  hingewiesen,  dass  Schönheit  stets 
individuell  ist,  dass  wir  deshalb  keine  mathematisch  umschriebene 
Form  der  Schönheit  haben,  sondern  dass  dieselbe  die  höchste  Aus- 
bildung einer  Individualität  ist  innerhalb  der  unabänder- 
lich feststehenden  Grrenzen  normaler  Entwickelung. 

Vorschriften  lassen  sich  deshalb  nur  geben  für  die  feststehenden 
Grenzen;  doch  ist  selbst  hierbei  häufig  der  Rath  und  die  Erfahrung 
eines  Sachverständigen  nöthig,  und  insofern  will  ich  gerne  den  Vor- 
wurf auf  mich  nehmen,  dass  ich  eine  Oratio  pro  domo  halte,  indem 
ich  darauf  aufmerksam  mache,  welche  grosse  Rolle  im  Leben  der 
Frau  der  Arzt  zu  spielen  berufen  ist. 

Ich  glaube  nicht,  dass  dieselbe  unnöthig  ist.  Allerdings  be- 
steht schon  seit  Jahren  in  England  die  Sitte,  dass  alljährlich  die 
ganze  Familie,  und  namentlich  deren  weibliche  Mitglieder,  zum  Zahn- 
arzt pilgert,  um  sich  das  Gebiss  nachsehen  zu  lassen,  gleichgültig, 
ob  dasselbe  gut  oder  schlecht  ist. 

Ausser  den  Engländern  zeigt  aber  niemand  seine  Zähne,  so- 
lange sie  noch  gesund  sind,  und  alle  anderen  Körpertheile  werden 
von  allen,   die  Engländer  einbegriffen,  vernachlässigt. 

Es  giebt  allerdings  einzelne  Ausnahmen,  und  wie  mir,  ist  es 
wohl  jedem  Arzte  hie  und  da  einmal  vorgekommen,  dass  eine  Mutter 
ihre  Tochter  untersuchen  lässt,  um  die  Gewissheit  zu  haben,  dass 
dieselbe  nicht  krank  ist. 

Wie  viel  Unheil  könnte  verhütet  werden,  wenn  diese  Sitte  all- 
gemein wäre,  und  wenn  in  solchen  Fällen  weder  die  Mütter  noch 
die  Aerzte  sich  durch  eine  gewisse  falsche  Scham  davon  abhalten 
Hessen,  die  Untersuchung  so  gründlich  vorzunehmen,  als  der  Ernst 
der  Sache  es  erheischt. 

Es  ist  ja  im  allgemeinen  viel  leichter,  eine  deutlich  aus- 
gesprochene Krankheit  zu  erkennen,  als  einen  Körper  daraufhin  zu 
untersuchen,  dass  er  keine  Krankheit  oder  Spuren  davon  besitzt. 

Die  Sorge  für  den  Körper  des  Mädchens  beginnt  eigentlich 
schon  vor  der  Geburt,  da  zu  starkes  Schnüren  während  der  Schwanger- 


Erziehung.  203 

Schaft  den  kmcHichen  Körper  zeitlebens  zu  verderben  im  Stande  ist. 
Die  schwerstwiegenden  Sünden  werden  aber  meist  in  der  Periode 
des  Wachsens  und  Reifens  begangen. 

Ich  bilde  mir  nicbt  ein,  dass  es  mir  gelingen  wird,  viele  Prose- 
lyten  zu  werben  —  der  alte  Sömmering  ist  schon  beinahe  hundert 
Jahre  todt,  und  noch  immer  werden  Corseten  getragen  —  wenn  ich 
aber  auch  nur  eine  oder  einige  Mütter  bekehrt  habe,  dann  ist  dies 
Buch  nicht  umsonst  geschrieben. 

Die  erste  Regel  lautet:  Weite  Kleider  vor  und  enge  Kleider 
nach  der  Geburt,    im   eigenen  Interesse    und  in  dem  des  Kindes. 

Jeder  Druck  beeinträchtigt  den  Raum  für  das  werdende  Kind 
und  hemmt  es  in  seiner  Entwickelung.  Die  an  und  für  sich  schon 
in  dieser  Zeit  stark  gespannte  Bauchwand  wird  durch  Druck  von 
aussen  noch  mehr  aus  ihrer  natürlichen  Lage  gedrängt,  die  Muskeln 
erschlaffen  und  sind  nie  wieder  im  Stande ,  ihre  frühere  Elasticität 
zu  erlangen. 

In  den  letzten  Monaten  der  Schwangerschaft  sind  statt  des 
Corsets  Binden  empfehlenswerth,  die  den  Bauch  unterhalb  des  Nabels 
stützen  und  heben,  ohne  zu  drücken. 

Um  die  Elasticität  der  Haut  und  damit  die  schöne  Form  der 
Brüste  und  des  Unterleibs  zu  erhalten,  empfiehlt  es  sich,  nament- 
lich in  der  letzten  Zeit  der  Schwangerschaft,  diese  Theile  häufig, 
mindestens  zweimal  täglich,  mit  einer  möglichst  kalten  Lösung  von 
30°/oigem  Alkohol  gründlich  zu  waschen. 

Nach  der  Geburt  muss,  namentlich  in  den  ersten  Wochen,  durch 
enge  Kleider  die  Bauchwand  so  lange  in  ihrer  Lage  erhalten  und 
unterstützt  werden,  bis  sie  wieder  ihre  volle  Elasticität  erlangt  hat. 
Dies  ist  meistens  nach  6  Wochen  der  Fall.  Jeder  Tag  weniger  ist 
ein  Leichenstein  auf  dem  Grabe  der  Schönheit. 

In  England  erhält  das  Mädchen,  das  sich  verheirathet ,  eine 
Leibbinde  mit  auf  den  Weg,  die  genau  sich  an  die  Form  des  jung- 
fräulichen Leibes  anschliesst.  Dieselbe  wird  sofort  nach  der  Geburt 
angelegt,  drückt  wohl  am  ersten  und  zweiten  Tag,  wirkt  dann  aber 
wohlthuend  durch  den  Halt,  den  sie  gewährt,  und  erhält  seiner  Be- 
sitzerin die  jugendliche  Form  des  Bauches. 

Die  indischen  Frauen,  deren  Beispiel  jetzt  viele  Holländerinnen 


204 


Erziehuncp. 


nachalimen ,    binden    den  Unterleib    nach    der  Geburt   sehr   fest  ein, 
wobei  sie  sich  der  javanisclien  Gurita  (Fig.  82)  bedienen. 


Fig.  82.    Indische  Gurita. 


Die  Gurita  ist  eine  aus  zwei  in  der  Mitte  an  einander  genähten 
viereckigen  Leinwandlappen  bestehende  Binde.  Der  äussere  Lappen 
ist  in  fünf  bis  zehn  Streifen  jederseits  gespalten.  Die  inneren  nicht 
gespaltenen  Lappen  werden  fest  um  den  Leib  angezogen,  wo  nöthig, 
wird  darunter  noch  ein  zusammengefaltetes  Tuch  zur  Erhöhung  des 


Erziehung.  205 

Druckes  gelegt,  und  dann  werden  die  Enden  der  äusseren  Streifen 
fest  in  der  Mitte  geknüpft.  Man  kann  nun,  ohne  die  Gurita  abzu- 
nehmen, jeden  einzelnen  Knoten  nach  Bedarf  enger  und  weiter 
machen.  Noch  mehr  Halt  giebt  eine  Gurita,  die  bis  zur  Mitte  des 
Oberschenkels  (a)  herabreicht. 

Deutschland,  Frankreich  und  andere  gebildete  Länder  aber, 
in  denen  das  Schnüren  des  Unterleibs  nach  der  Entbindung  ver- 
nachlässigt und  von  manchen  Aerzten  thörichterweise  selbst  abge- 
rathen  wird,  sind  die  Heimath  der  Hängebäuche. 

Wie  für  die  Mutter  enge,  so  sind  für  das  Kind  nach  der  Ge- 
burt weite  Kleider  angemessen.  Je  freier  es  sich  bewegen  kann, 
desto  besser  können  Gliedmassen  und  Brustkorb  sich  ausdehnen  und 
entwickeln. 

Darum  ist  die  zweite  goldene  Regel  für  das  heranwachsende 
Mädchen:  Weite  Kleider  und  freie  Bewegung.  Und  dies  gilt 
nicht  nur  für  den  Säugling,  sondern  für  das  ganze  Zeitalter  des 
Wachsthums. 

So  natürlich  das  scheint,  so  viel  wird  dagegen  gesündigt. 
Namentlich  die  freie  Bewegung  wird  oft  falsch  aufgefasst.  Das 
Spielen  der  Kinder,  ihnen  von  der  Natur  angeboren,  fördert  ihre 
Entwickelung  viel  mehr  als  das  systematisch  betriebene  Turnen,  bei 
dem  von  jedem  ohne  Rücksicht  auf  jeweilige  Körperkraft  dasselbe 
gefordert  wird. 

Zu  früh  angestellte  Versuche,  ein  Kind  gehen  zu  lernen,  sind 
schädlich.  Wenn  es  die  nöthige  Kraft  besitzt,  wird  es  von  selbst 
laufen.  Erzwingt  man  dies  zu  früh,  dann  werden  die  zu  schwachen 
Beine  krumm. 

Faule  Kinder  sind  meist  auch  schwache  Kinder.  Wenn  ein 
Kind  wächst,  hat  es  mehr  Bedürfniss  nach  Ruhe  als  ein  Erwachsener. 
Kinder  zu  ermahnen,  dass  sie  gerade  sitzen,  ist  gut;  .ihnen  aber 
schlechte  Stühle  ohne  Lehne  zu  geben,  um  sie  dazu  zu  zwingen, 
ist  eine  Sünde,  die  das  erwachsene  Kind  mit  einem  krummen 
Rücken  büsst. 

Die  dritte  goldene  Regel  ist:  Kräftige  Nahrung,  frische 
Luft  und  reichlicher  Schlaf.  Sie  sind  für  Darm,  Lungen  und 
Nerven  das,    was  weite  Kleider  und    freie  Bewegung    für  Knochen, 


206  Kleidung. 

Muskeln  und  damit  für  die  Körperform  sind.  Da  aber  alle  Theile 
des  Körpers  in  einander  greifen,  so  kann  die  gleiclimässige  Versorgung 
aller  nicht  entbehrt  werden. 

Als  vierte  goldene  Regel  gilt:  Die  Pflege  der  Haut,  und 
dabei  ist  Wasser  und  Seife  in  sehr  reicbliclier  Menge  für  täglichen 
Grebrauch  ein  lange  noch  nicht  genug  geschätztes  Mittel  der  weib- 
lichen Kosmetik. 

Schmutzige  Kinder  können  ja  auch  schön  sein,  dies  zeugt  je- 
doch nur  von  der  Unverwüstlichkeit  der  menschlichen  Natur  und 
ist  kein  Argument  gegen  den  Rath,  durch  peinlichste  Reinlichkeit  die 
Thätigkeit  der  Haut  und  damit  die  Schönheit  des  Körpers  zu  erhöhen. 

Wer  weiss ,  wie  viel  schöner  Murillo's  Zigeunerknaben  sein 
Avürden,  wenn  sie  sich  regelmässig  gewaschen  hätten. 

Wenn  das  Mädchen  zur  Jungfrau  heranreift,  dann  verfällt  es 
dem  Corset,  und  zwar  um  so  eher,  je  weniger   „Figur"    es  hat. 

Brücke  ^)  hat  schon  darauf  hingewiesen,  dass  gerade  die  Back- 
fische mit  gedrungenen  Formen  „sich  zu  den  schönsten  Gestalten 
auswachsen",  sobald  sie  emporschiessen. 

Je  früher  man  ein  Corset  anlegt,  desto  mehr  verdirbt  es  die 
Gestalt  und  vereitelt  die  volle  Entwickelung  der  Körperformen.  Ich 
habe  bereits  oben  auf  die  nachtheiligen  Folgen  des  Corsets  hin- 
gewiesen. Hier  sei  nur  nochmals  hervorgehoben,  dass  ich  das  Corset 
als  solches  keineswegs  verdamme,  sondern  nur  den  Missbrauch,  der 
damit  gemacht  wird. 

Das  Corset  ist  eine  vortreffliche  Stütze  für  die  Last  der  Kleider, 
die  den  unteren  Theil  des  Körpers  verhüllen,  und  dient  dazu,  den 
Druck  derselben  auf  eine  grössere  Oberfläche  zu  vertheilen. 

Um  diesem  Zweck  zu  entsprechen,  muss  es  drei  Bedingungen 
genügen : 

Es  muss  auf  den  Hüften  ruhen ,  damit  es  die  weichen  Theile 
nicht  zu  sehr  drückt. 

Es  muss  lose  sitzen,  um  weder  die  Bewegungen  des  Körpers 
zu  hemmen,  noch  die  unter  ihm  liegenden  Organe,  den  Magen,  die 
Leber  und  die  Gedärme  zu  beengen. 

')  1.  c.  p.  71. 


Kleidung.  207 

Es  darf  nicht  hoch  hinaufreichen,  um  weder  die  Athmung  zu 
hindern,  noch  die  Rückenmuskehi  in  ihrer  Bewegung  und  Ausbildung 
zu  beeinträchtigen. 

Dazu  kommt  endlich  noch,  dass  die  Schwere  der  Unterkleider 
auf  das  geringste  Mass  beschränkt  sein  soll ;  je  weniger  und  je 
leichtere  Unterkleider  getragen  werden ,  desto  leichter  ist  die  Auf- 
gabe des  Corsets. 

Von  allen  mir  bekannten  Formen  ist  das  Corset  Ceinture  so- 
wie ein  von  Madame  Gache-Sarraute,  docteur  en  medicine,  in  Paris 
angegebenes  Modell  (auch  für  Fettleibige  geeignet)  das  beste  und 
naturgemässeste. 

Die  Frage,  wann  ein  Corset  angelegt  werden  soll,  ist  ebenso 
schwierig  im  allgemeinen  zu  entscheiden,  als  der  Zeitpunkt  der 
höchsten  Blüthe.  Vor  derselben  ist  es  schädlich,  während  und  nach 
derselben  empfehlenswerth.  Da  aber  dieselbe,  wie  ich  oben  aus- 
einandersetzte, bald  im  15.,  bald  im  30.  Jahre  und  noch  später  ein- 
tritt, so  ist  hier  eine  Entscheidung  nur  im  individuellen  Falle 
möglich. 

Jedenfalls  kann  man  das  sagen,  dass  das  Corset  nicht  eher 
angelegt  werden  darf,  als  bis  die  Hüften  so  breit  sind,  dass  sie 
ohne  Schnüren  eine  Stütze  gewähren. 

Und  werden  Sie  jetzt  Ihr  Corset  ablegen,  verehrte  Leserin? 
Nein,  gewiss  nicht.  Dann,  bitte,  erbarmen  Sie  sich  wenigstens  Ihrer 
unschuldigen  Tochter  und  verhüten  Sie,  dass  sie  zu  früh  ihren  Körper 
entstellt.  Später  wird  sie  es  ja  doch  schon  von  selbst  thun,  aber 
dann  haben  Sie  sich  wenigstens  nichts  vorzuwerfen. 

Der  zweite  dunkle  Punkt  in  unserer  Gesittung  ist  der  Fuss. 
Frau  Paczka  versicherte  mir,  dass  sie  noch  nie  einen  schönen  weib- 
lichen Fuss  gesehen  habe.  Ich  war  glücklicher,  aber  nicht  oft.  Auch 
die  Füsse  werden  meist  schon  in  der  Jugend  verdorben  und  zwar 
nicht  nur  im  Reiche  der  Mitte. 

Zahllos  sind  die  Schwestern  von  Aschenbrödel,  denen  kein 
Opfer  zu  gross  ist,  um  ihre  grösseren  Füsse  in  kleinere  Schuhe  zu 
zwängen.  Diese  Unsitte  würde  nur  dann  aufhören,  wenn  man  wieder 
anfinge,  auf  blossen  Füssen  oder  auf  Sandalen  zu  gehen.  Dass  dies 
aber   nicht   geschieht ,    dafür    sorgen    die  zahlreichen  Vertreterinnen 


208  Weibliche  Rassenschönheit. 

des  schönen  GescUechts,  die  ihre  Füsse  nicht  mehr  zeigen  können. 
Den  Muth,  den  zu  kleinen  Schuh  aufzugeben,  um  einen  schönen  Fuss 
zu  besitzen,  werden  nur  wenige  haben. 

Passende  Strumpfbänder  findet  man  jetzt  häufiger  als  vor 
einigen  Jahren;  doch  ist  auch  hierin  noch  manches  zu  verbessern. 
Für  Kinder  und  junge  Mädchen  ist  es  am  besten,  überhaupt  keine 
Strümpfe,  sondern  Socken  tragen  zu  lassen,  die  das  Bein  nirgends 
beengen  ^). 

Wenn  ich  mir  schliesslich  noch  den  bescheidenen  Rath  erlaube, 
dem  Frauenarzt  Gelegenheit  zu  geben,  durch  rechtzeitiges  Eingreifen 
so  manchen  sorgfältig  verborgen  gehaltenen  Krankheitsherd  im 
Keime  zu  ersticken ,  so  glaube  ich  in  grossen  Zügen  alles  erwähnt 
zu  haben,  was  zum  Heil  und  Wohlsein  des  reifenden  Weibes  gethan 
werden  kann. 

Ob  ich  tauben  Ohren  gepredigt  habe,  wird  die  Zukunft  lehren. 
Aber  eines  steht  fest :  dass  die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers 
nichts  anderes  ist  als  der  Inbegriff  höchster  Gesundheit. 

Und  die  Schönheit  der  Seele  ?  Glückselig  derjenige,  der  in  der 
Lage  war,  eine  schöne  Frauenseele  so  recht  von  Grund  aus  kennen 
zu  lernen.  Aber  darüber  schreiben  ist  Sünde,  denn  das  lässt  sich 
nur  fühlen  im  tiefsten  Herzen. 


XV. 
Weibliche  Rassenschönheit. 

Bei  der  Besprechung  des  Gesichtes  (S.  101)  habe  ich  beiläufig 
erwähnt,  dass  wir  berechtigt  sind,. die  indogermanische  Rasse  als 
die   höchststehende    aller  jetzt  lebenden  Menschenrassen    anzusehen. 


^)  Eine  sehr  ausführliche,  namentlich  für  die  Verfertigung  von  Kleidern 
werthvolle  Besprechung  findet  sich,  wissenschaftlieh  und  doch  allgemein  ver- 
ständlich behandelt,  in  dem  Handbuch  der  angewandten  Anatomie  von 
L.  Pfeiffer.     1899,  Spamer,  Leipzig. 


Weibliclie  Rassenscliönheit. 


209 


und  dass  demnach  das  indogermanische  Ideal  weiblicher  Schön- 
heit als  Massstab  auch  für  alle  anderen  Rassen  angesehen 
werden  muss. 

Dass  diese  Auf- 
fassung auch  von 
höher  entwickel- 
ten Mitgliedern  der 
niederen  Rassen  ge- 
theilt  wird,  habe  ich 
zu  wiederholten  Ma- 
len auf  meinen  Reisen 
beobachten     können. 

Als  ich  im  Jahre 
1892  Japan  bereiste, 
fand  ich  überall  Bil- 
derbogen ,  mit  den 
„schönsten  japani- 
schen   Mädchen"    in 

Lichtdruck.     Mein 
Dragoman  Jnu-suka, 
ein  Japaner  geringe- 
rer Herkunft,  wählte, 
dazu  aufgefordert,  als 
die     seiner     Ansicht 
nach  schönsten  Mäd- 
chen ,      gerade      die, 
welche    den    japani- 
schen     Rassentypus, 
die  schiefgeschlitzten 
Augen  und  die  breite 
Nase,  am  besten  re- 
präsentirten.  Dem  ja- 
panischen   Photographen    Farsari    in    Yokohama,     der    sich    selbst- 
gefällig „Artist"   nannte,  es  auch  war  und  demgemäss  höhere  Preise 
rechnete,  stellte  ich  die  gleiche  Frage.    Farsari  suchte  unter  seinen 
zahlreichen  Photographien  die  heraus,  die  auch  in  Europa  für  schön 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  14 


Fig.  83.    Japanisclies  Mädchen  aus  Kobe  im  Bade. 


210 


Rassentypus  und  Rassenschönheit. 


gelten  konnten.  Einen 
sehr  schön  gebildeten  Kör- 
per sowie  ein  auch,  für 
europäische  Begriffe  sehr 
anmuthiges  Gesicht  zeigt 
Fig.  83,  eine  japanische 
Venus  im  Bade. 

Nach  dem  gleichen 
Grundsatz  habe  ich  in 
Soerabaia  unter  mehr  als 
600  javanischen  Mädchen 
die  am  meisten  dem 
europäischen  Schönheits- 
ideal entsprechenden  aus- 
gesucht —  zwei  davon 
sind  in  Fig.  24  und  57, 
ein  weiteres  in  Fig.  84 
wiedergegeben  —  und 
hatte  die  Genugthuung, 
dass  die  anwesenden  ja- 
vanischen Aerzte  meine 
Auffassung  theilten. 

Aber  nur  die  höher 
entwickelten  Individuen 
urtheilen  so,  die  grosse 
Masse  wird  stets  die  Wei- 
ber des  eigenen  Stammes 
für  die  schönsten  halten, 
und  eine  höhere  Auffas- 
sung überhaupt  nicht  be- 
greifen können.  Bei  uns 
ist  es  ja  ebenso;  Gewohn- 
heit ,  Ueberlieferung  ist 
alles,   ein  selbstständiges 

Fig.  84.    Satidja.    20jäl]riges  Mädchen  aus  Java.  tt   n     -in     i    i      •   i         i/ 

Urtheii  ündet  sich  selten, 
und  Reformatoren,   die  mit  der  Tradition  brechen,  werden  erst  von 


Rassenschönheit.  211 

späteren  Gesclileclitern  anerkannt.  Ich  erinnere  hier  nur  an  die 
grossen  Reformatoren  der  Musik,  Beethoven  und  Wagner. 

Jedoch  müssen  wir  einen  strengen  Unterschied  machen  zwi- 
schen Rassen  typ  US  und  Rassenschönheit. 

Als  Rassentj^pus  kann  jedes  Individuum  gelten,  das  die  der 
Rasse  eigenthümlichen  Merkmale  besitzt;  Rassenschönheit 
aber  kommt  einem  Kör]3er  zu,  bei  dem  die  Rassenmerkmale 
soweit  abgeschwächt  sind,  dass  sie  die  Grenzen  der  Schön- 
heit nicht  überschreiten. 

Es  wäre  demnach  sehr  einfach,  mit  Zugrundelegung  des 
Rassentypus  die  jeweils  schönsten  Individuen  auszusuchen.  Das 
ist  aber  nicht  so  einfach,  als  es  scheint. 

„Was  in  Büchern  häufig  als  Grundtypus  der  Negerphysiogno- 
mie dargestellt  wird"  —  schreibt  Missionär  Kölle  ^)  —  „würde  von 
den  Negern  als  eine  Karikatur  oder  im  besten  Falle  als  eine 
Stammesähnlichkeit  angesehen  werden,  die  aber  in  Bezug  auf  Schön- 
heit hinter  der  Masse  der  Negerstämme  zurückbliebe." 

Unsere  anthropologischen  Kenntnisse  haben  in  den  letzten 
Jahrzehnten  in  ausserordentlichem  Masse  zugenommen,  durch  zahl- 
reiche photographische  Aufnahmen  sind  wir  mit  der  Körperform 
aussereuropäischer  Völker  beinahe  noch  vertrauter  geworden  als  mit 
unserer  eigenen;  aber  die  meisten  Forscher  haben  sich  begnügt  oder 
begnügen  müssen  mit  einigen  wenigen ,  nicht  ausgewählten  Exem- 
plaren, oder  sie  haben,  wenn  eine  Wahl  möglich  war,  stets  die  charak- 
teristischen Figuren,  die  den  Rassentypus  in  oft  übertriebenem 
Masse  zeigten,  ausgesucht,  nicht  aber  die  schönsten  Individuen. 

In  den  anthropologischen  Acten  finden  wir  demnach  meist  die 
am  wenigsten  schönen  Vertreterinnen  fremder  Völker,  und  diese 
wieder  meist  als  Angehörige  niederer  Volksklassen.  Die  besser 
situirten  Kreise,  die  die  schönsten  Individuen  hervorbringen,  sind 
dem  Studium  des  Fremden  oft  überhaupt  nicht  zugänglich. 

Eine  Ausnahme  macht  u.  A.  der  Maler  Castellani  ^) ,    der   mit 


1)  Citirt  bei  Ploss-Bartels,  Das  Weib,  1897,  I,  p.  64. 

^)  Les  Femnies  du  Congo.  Flammarion  1898,  p.  5.  In  der  „  lUustrirten 
Zeitung"  vom  16.  Nov.  1898,  Nr.  2942,  p.  685,  findet  sich  dieselbe  dunkle  Schön- 
heit mit  der  Unterschi-ift :  Samoanermädchen. 


212 


Rassenschönlieit. 


der  Unterschrift  „Nigra  sum  sed  formosa"  die  Photographie  eines 
Negermädchens  veröffentlicht,  das  an  Schönheit  alle  bisher  bekann- 
ten Typen  weit  übertrifft  (Fig.  85). 

Auch  Selenka  hat  einige  besonders  schöne  Typen  fremdländi- 


Fig.  85.    Mädchen  aus  dem  Kongostaat. 
(Aufnalipie  von  Castellani.) 


scher  Frauenschönheit  veröffentlicht,  unter  denen  namentlich  ein 
Basutomädchen  und  zwei  Samoaner  Mädchen  ^)  hervorzuheben  sind. 
Neben  vollkommenem  Ebenmass  der  Körperbildung  findet  sich  bei 
allen  drei  auch  ein  für  unsere  Begriffe  nicht  unschönes  Gresicht,  ein 


^)  Der   Schmuck   des   Menschen.     Vita   1900,   Fig.  71,   73  und  83   links, 


en  face. 


Fremde  Völker.  213 

Beweis  melir,  dass  man  Schönheit  auch  unter  niederen  Völkern 
finden  kann,  wenn  man  sie  nur  suchen  will. 

Besonders  schöne  Körperformen  zeigt  eines  der  Mädchen  von 
Samoa,  dem  durch  seine  Kleidung  aus  Blumen  ein  besonderer 
poetischer  Reiz  verliehen  wird,  neben  dessen  Naturschönheit  die 
phantastischen  Gemälde  von  Rochegrosse  gekünstelt  erscheinen 
(Fig.  128). 

Jedoch  sind  in  der  Literatur  nur  ausnahmsweise  schöne  Typen 
bekannt  gemacht  worden,  ausserdem  aber  sind  die  Gelehrten  noch 
lange  nicht  einig  über  die  endgültige  Vertheilung  und  die  charak- 
teristischen Merkmale  der  einzelnen  Menschenrassen. 

Exacte  Angaben  über  weibliche  Rassenschönheit  im  Allge- 
meinen wären  nur  dann  möglich,  wenn  man  eine  grössere  Anzahl 
ausgesuchter  Individuen  mit  einander  vergleichen  könnte,  deren 
Rasseneigenthümlichkeiten  genau  bekannt  sind.  Diese  Möglichkeit 
besteht  zur  Zeit  nicht. 

Dem  indogermanischen  Ideal  am  nächsten  stehen  unter  den 
nichteuroiDäischen  Völkern  die  Javanen,  die  Chinesen,  die  Japaner, 
die  Samoa-  und  Sandwichinsulaner  und  einige  afrikanische  Stämme. 

Unter  Javaninnen,  Japanerinnen  und  Chinesinnen,  sowie  bei 
einigen  Negerinnen  und  den  vielgemischten  Bewohnerinnen  Aegyp- 
tens  habe  ich  häufig  vollendet  schöne  Körper  gesehen,  sehr  selten 
ist  es  mir,  gleich  Castellani,  begegnet,  dass  ich  auch  ein  nach 
unseren  Begriffen  schönes  Gesicht  fand.  Dies  traf  sich  dagegen 
viel  häufiger  unter  den  Mischlingen,  die  väterlicherseits  europäisches 
Blut  hatten. 

Aehnlich  wie  in  der  griechischen  Kunst  scheint  sich  auch  in 
der  Natur  das  Gesetz  zu  finden,  dass  die  harmonische  Ausbildung 
des  übrigen  Körpers  der  des  Gesichtes  vorangeht. 

Von  den  vier  genannten  Völkern  sind  es  namentlich  die 
Chinesinnen  der  nördlicheren  Districte,  die  sich  durch  schönen 
Körperbau  auszeichnen,  und  die  bekannte  Verstümmelung  der  Füsse 
unter  den  Chinesinnen  höherer  Stände  erklärt  sich  vielleicht  durch 
den  Umstand,  dass  alle  Chinesen  auffallend  kleine  Hände  und 
Füsse  haben,  wodurch  die  Modedamen  genöthigt  sind,  die  grosse 
Masse  zu  überbieten,  d'etre  plus  royaliste  que  le  roi. 


214  Rassenschönheit. 

Dass  bei  allen  diesen  Völkern  der  weibliclie  Körj)er  sich,  im 
Durchs chnitt  besser  entwickelt  als  der  ihrer  europäischen  Schwestern, 
erklärt  sich  aus  den  in  dieser  Beziehung  viel  besseren  hygienischen 
Zuständen:  Der  Körper  wird  nicht  durch  enganliegende  Kleider 
verunstaltet,  Hunger  und  Kälte  sind  unbekannt,  und  die  schwäch- 
lichen Individuen  werden  nicht,  wie  bei  uns,  durch  Aerzte  künstlich 
am  Leben  und  zur  Nachzucht  erhalten. 

Obwohl  wir  demnach  unter  den  weiblichen  Körpern  dieser 
Völker  manchen  vollendet  schönen  finden  können,  so  werden  doch 
bezüglich  des  Kopfes  auch  die  Schönsten  unter  ihnen  niemals  unser 
Schönheitsideal  erreichen  können. 

Denn  der  Kopf  bleibt  im  Verbältniss  zum  übrigen  Körper 
—  soweit  bekannt  —  stets  zu  gross ,  die  Kauwerkzeuge  über- 
wiegen gegen  die  Augen-  und  Stirngegend,  das  Gesicht  gegen 
den  Schädel. 

Diese  Verhältnisse  finden  sich  deutlich  bei  einem  arabischen 
Mädchen  von  etwa  16  Jahren  aus  Kairo  (Fig.  86),  dessen  Körper 
beinahe  tadellos  gebaut  ist.  Trotz  der  schlanken  Figur  hat  der 
Körper  nur  7,5  Kopflängen. 

Der  Unterkiefer,  Mund  und  Nase  treten  stark  hervor,  die 
Stirn  ist  niedrig,  das  Gesicht  grösser  als  der  Schädel. 

G.  Fritsch  ^)  hebt  hervor,  dass  manche  niederstehende  Völker 
die  normale  Beinlänge  erreichen,  viele  Europäerinnen  dagegen  nicht. 
Er  schreibt  dies  der  europäischen  Lebensweise  zu. 

Die  Hautfarbe  ist  bei  den  Javaninnen,  Chinesinnen  und 
Japanerinnen  der  besseren  Stände  oft  h.eller  als  die  mancher  euro- 
päischen Brünetten.  Von  den  Negerinnen  schreibt  Castellani^): 
„Quant  ä  la  couleur,  j'affirme  egalement  que  j'ai  vu  sur  le  continent 
africain  des  creatures,  d'un  ton  d'or  pale  ou  meme  de  cuivre  rouge, 
dont  la  peau  pouvait  lutter,  comme  finesse  de  grain  et  comme 
satine,  avec  les  peaux  blanches  les  plus  delicates." 

Was  ich  von  noch  niederer  stehenden  Völkern,  von  Papuas, 
manclien  malayischen  Stämmen,  Ainos,  Indianern  u.  A.  gesehen  habe. 


')  Meyer's  Conversationslexikon,  Artikel  „Mensch". 
2)  1.  c.  p.  3. 


Rassenschönheit. 


215 


Fig.  86.    Arabisches  Mädchen  aus  Kairo. 
(Photographie  nach  dem  Leben  von  Plüschow,  Rom.) 


berechtigt  mich  zu  dem  Ausspruch,  dass  man  unter  ihnen  überhaupt 
nie    ein    dem    europäischen    gleichstehendes    Schönheitsideal    finden 


216 


Rassenscliöiili  eit. 


wird,  und  dass  man  sich  bei  ihnen  begnügen  müsste,  als  Rassen- 
schönheit denjenigen  Typus  aufzustellen,  der  noch  einigermassen 
dem  europäischen  sich   nähert ,    in  demselben  Sinne ,    wie    etwa   ein 


Fig.  87.    14jälirige  Perserin  von  gutem  Stande  im  Nationalcostüm. 
(Aus  dem  ethnographischen  Museum  in  Leiden.) 

Zugpferd   auch   schön    sein   kann,    aber   doch  niemals    die   Vorzüge 
eines  Vollblutpferdes  erreichen  wird. 

Unter  den  nichteuropäischen  Völkern  indogermanischer 
Rasse  erfreuen  sich  namentlich  die  Cirkassierinnen  und  Georgie- 
rinnen des  Rufs  grosser  körperlicher  Schönheit,  ebenso  die  ihnen 
benachbarten  Kurdinnen,   Perserinnen,  bis  hinunter  in  das  südliche 


Rassenschönlieit.  217 

Asien ,  wo  die  dunkleren  Repräsentantinnen  der  indoeuropäischen 
Rasse,  die  Parsis  und  die  Hindus  wohnen. 

Herr  Dr.  Schmeltz,  der  Director  des  ethnographisclien  Museums 
in  Leiden,  war  so  freundlich,  mir  einige  von  Herrn  W.  Bosschard 
empfangene  authentische  Photographien  zur  Verfügung  zu  stellen, 
die  die  eigenthümliche  Schönheit  der  Kurdinnen  und  Perserinnen 
zu  bestätigen  sehr  geeignet  sind. 

Fig.  87  stellt  ein  etwa  14jähriges  junges  Mädchen  aus  Persien 
im  Nationalcostüm  dar,  wie  es  innerhalb  des  Hauses  getragen  wird, 
bestehend  aus  weiter,  reichgestickter  Sammetjacke  und  kurzen,  weit- 
abstehenden Röckcheu.  Die  Beine  sind  von  der  Mitte  des  Ober- 
schenkels ab  nackt. 

Das  Gfesicht  dieses  Mädchens,  das  noch  halb  die  kindlichen 
Formen  bewahrt  hat,  ist  sehr  regelmässig  gebildet,  die  Augen  zeigen 
die  Schönheitsfalte  über  dem  oberen  Lide,  und  die  sehr  regelmässig 
gezeichneten  Augenbrauen  berühren  sich  fast  über  der  Nase.  An 
der  Hand  ist  die  reine  Form  der  Finger  und  die  bedeutende  Länge 
des  zweiten  Fingers  hervorzuheben. 

Die  Beine  und  namentlich  die  Füsse  der  Perserinnen  sind  von 
besonders  reiner  Form,  mit  äusserst  zierlichen  Gelenken.  Zum 
Theil  mag  dies  daran  zugeschrieben  werden,  dass  dieselben  nirgends 
durch  Kleidung  beengt  werden,  vielleicht  aber  ist  auch  die  in  Per- 
sien sehr  allgemein  verbreitete  Schönheit  der  unteren  Grliedmassen 
die  Ursache  geworden,  dass  dieselben  nicht  bedeckt  wurden.  Auf 
der  Strasse  werden  dieselben  in  ein  Paar  von  einander  getrennte 
Beinkleider  gehüllt,  die  Füsschen  in  weite  Pantoffel  gesteckt,  der 
Oberkörper  und  das  Gesicht  in  einen  weiten  Mantel  gehüllt,  der  die 
ganze  Gestalt  verhüllt. 

Unter  den  wenigen  nackten  Figuren  der  Bosschard'schen 
Sammlung  war  nur  eine  in  aufrechter  Stellung.  Bei  der  Aufnahme 
ist  nicht  auf  die  Körpermitte  eingestellt,  so  dass  der  Unter- 
körper stark  perspectivisch  verkürzt  erscheint  (Fig.  88),  was  durch 
den  stark  anlaufenden  Fussboden  bewiesen  wird.  An  der  Photo- 
graphie gemessen  würde  die  Körpermitte  etwa  handbreit  über  der 
oberen  Schamhaargrenze  stehen,  und  demnach  die  Beine  auffallend 
kurz    sein.     Zur  Bestimmung   der  Proportionen   ist    die    Figur    aus 


218 


Rassenschönheit. 


diesem  Grunde  wenigr  sre- 
eignet. 

Die  Beine  scheinen, 
soweit  sicli  das  beurthei- 
len  lässt,  mit  Ausnahme 
einer  leichten  Krümmung 
des  Unterschenkels  über 
den  Knöcheln ,  gut  ge- 
baut, namentlich  ist  die 
Bildung  der  Zehen  sehr 
fein.  Die  Armaxe  ver- 
läuft am  nicht  verkürzten 
rechten  Arm  völlig  ge- 
rade, das  Handgelenk  ist 
■^.  schmal  und  regelmässig. 
Brüste  und  Nabel  sind 
tief  angesetzt,  jedoch  von 
guter  Form,  Die  langen 
Haare ,  nach  persischer 
Sitte  in  dünne  Zöpfe  ge- 
flochten, reichen  bis  an 
die  Fingerspitzen  herab. 
Die  Körperbehaarung  ist 
spärlich,  jedoch  ist  dabei 
zu  bedenken,  dass  die 
Körperhaare  nach  der  dort 
üblichen  Sitte  kurz  ge- 
schnitten und  ausgerissen 
werden.  In  dem  regel- 
mässig gewölbten  Gesicht 
stört  die  allzustarke  Ent- 
wickeln ng  der  Nase.  Auch 

hier  sind  die  Augenbrauen  sehr  scharf  gezeichnet  und  berühren  sich 

fast  über  der  Nasenwurzel. 

Im    Ganzen   genommen   hat   diese    Gestalt   beinahe    ebensoviel 

Fehler   als  Vorzüge    und  berechtigt  zu  dem  Schlüsse,   dass   bei  den 


Fig.  88.    22jälirige  Perserin. 
(Aus  dem  ethnographischen  Museum  in  Leiden.) 


Rassenschönheit. 


'219 


Fig.  89.    Kurdische  Frauen.     (Aus  dem  ethnograpliisclien  Museum  in  Leiden.) 


Perserinnen  wegen  dem  scharf  ausgeprägten  Nationaltypus  weib- 
liche Schönheit  nur  in  verhältnissmässig  wenigen  Exemplaren  zum 
Ausdruck  kommen  kann  und  auch  dann  meist  wohl  von  kurzer 
Dauer  ist. 

Die  den  Perserinnen  stammverwandten  Kurdinnen  zeigen  gleich 
diesen  als  grösste  Vorzüge  sehr  regelmässige  Gesichtszüge  (Fig.  89) 
und  auffallend  kleine  und  schön  geformte  Hände  und  Füsse. 

Cirkassierinnen  und  Gleorgierinnen  waren  leider  nicht  in  der 
Sammlung  vorhanden. 

Auch  im  nördlichen  Afrika  finden  sich  unter  den  Mauresken 
zahlreiche  sehr  schöne  Frauengestalten,  von  denen  das  regelmässige 
Gresicht  einer  20jährigen  Maurin  (Fig.  90)  Zeugniss  ablegen  kann. 
Das    Original,    ein  Ladenmädchen    aus   Algier,    ist,    wie   mir   mit- 


220 


Eassenschönlieit. 


getheilt  wurde ,  dort  niclit  nur  wegen  ihrer  Schönlieit ,  sondern 
auch  wegen  ihrem  liebenswürdigen  und  heiteren  Wesen  zu  einer 
gewissen  Berühmtheit  geworden. 


Fig.  90.    Kopf  einer  20jälirigen  Mauriii  aus  Algier. 

Vorläufig  muss  ich  mich  auf  diese  noch  recht  unvollständige 
Ausbeute  indogermanischer  Frauenschönheit  ausserhalb  Europas  be- 
schränken. 

Auch  für  europäische  Rassenschönheit  habe  ich  kein 
endgültiges  Resultat  erreichen  können.  Daran  ist  zum  Theil  die 
alles  gleich  machende  Richtung  unserer  Zeit  schuld,   die  die  Rassen 


Untersucliungsmethode.  221 

mehr  und  mehr  verwischt,  dann  auch  die  SchAvierigkeit,  gerade  von 
den  schönsten  Repräsentantinnen  des  weiblichen  Greschlechts  in  ge- 
nügender Zahl  Masse  und  Photographien  zu  erhalten. 

Ich  begnüge  mich  mit  der  Aufzählung  dessen ,  was  ich  ge- 
funden habe,  und  enthalte  mich  allgemeiner  Schlussfolgerungen, 

In  der  Hoffnung,  zahlreichere  Untersuchungen  in  demselben 
Geiste  anregen  zu  können,  schicke  ich  die  Beschreibung  der  Methode 
voraus,  welche  sich  mir  als  am  meisten  geeignet  erwiesen  hat. 

Methode    der   Untersuchung. 

Wo  es  möglich  war,  nahm  ich  am  lebenden  Körper  die  folgenden  Masse 
mit  Bandmass  und  Tasterzirkel: 

1.  Körperlänge:  Scheitel  bis  Ferse. 

2.  Mittellänge:  Scheitel  bis  zum  Schritt. 

3.  Kopflänge:  Scheitel  bis  Kinn. 

4.  Beinlänge:  Hüftgelenk  (Mitte  der  Schenkelbeuge  oberhalb  des  Schenkel- 
knorrens bis  Mitte  der  Fusssohle). 

5.  Nasenschambeinlänge    (unterer     Nasenrand     bis     oberer     Symphysen- 
rand  =  Höhe  der  Hüftgelenke). 

6.  Schulterbreite:  Acromialenden  bei  hängenden  Armen. 

7.  Kleinste    Taillenbreite   in   aufrechter    Stellung    bei    etwas   gespreizten 
Armen. 

8.  Grösste  Hüftbreite  in  aufrechter  Stellung  bei  geschlossenen  Beinen. 

9.  Brustwarzenabstand  in  aufrechter  Stellung. 

10.  Fusslänge  an  der  Sohle  gemessen. 

11.  Brustumfang  (in  der  Höhe  der  Brustwarzen). 

12.  Hintere   Dornbreite   (Abstand    der   Kreuzgrübchen)    bei   seitlicher   Be- 
leuchtung in  aufrechter  Stellung. 

Ausserdem  nahm  ich  die  dist.  spinar. ,  cristar.  und  trochanter.,  welch 
letztere  meist  mit  der  Hüftbreite  zusändmgtifällt. 

Der  Messung  folgte  eine  photographische  Aufnahme,  nach  welcher  sich 
die  gefundenen  Masse  mit  dem  Fritsch'schen  Canon  vergleichen  Hessen.  Eine 
Berechnung  nach  Kopflängen  ergab  sich  aus  den  Massen  selbst. 

Hatte  ich  nur  Photographien  zur  Verfügung,  so  niusste  ich  mich  damit 
begnügen,  in  das  dioptrische  Bild  den  Canon  einzuzeichnen,  in  vielen  Fällen 
bei  unsymmetrischer  Haltung  oder  starker  optischer  Verkürzung  einzelner  Glied- 
massen konnte  ich  allein  nach  Koijflängen  berechnen.  Viele  Aufnahmen  ge- 
statteten überhaupt  keine  Messung. 

Unter  den  zahlreichen  mir  vorliegenden  Objecten  unterzog  ich 
alle ,  die  mir  nach  dem  Augenmass  geeignet  erschienen ,  einer  ge- 
naueren Messung. 


222 


Europäische  Rassenschönheit. 


Fig.  91.     22jä]u'iges  Mäilclieii  aus  Sclieve)iiiigeii. 


Unter  diesen  gemessenen  Objecten  wählte  ich  wiederum  die- 
jenigen aus,  die  sich,  am  meisten  den  Normalmassen  näherten,  und 
darunter  wieder  diejenigen,  die  ausser  normalen  Massen  auch  ander- 
weitig die  meisten  körperlichen  Vorzüge  zeigten. 


Niederland. 


223 


Die  Zahl  der  Mes- 
sungen erwähne  ich  nur 
nebenbei.  Sie  ist  von 
untergeordneter  Bedeu- 
tung ;  höchstens  könnten 
grössere  Reihen  den  Be- 
weis liefern,  dass  das 
eine  Volk  durchschnitt- 
lich mehr  Schönheiten 
besitzt,  als  das  andere. 
Zu  einem  solchen  Be- 
weise sind  aber  meine 
Zahlen  zu  klein. 

Niederland. 

Bei  einem  22jähri- 
gen Mädchen  aus  Scheve- 
ningen,  das  für  einige 
wenige  Künstler  Modell 
steht,  fand  ich  vom  Nor- 
malen nur  sehr  wenig 
abweichende  Masse.  Sie 
gilt  als  das  zur  Zeit 
beste  Berufsmodell. 

Fig.  91  zeigt  sie 
in  ihrer  Nationaltracht, 
Fig.  92  in  gleicher  Grösse 
entkleidet,  um  die  Ver- 
schiedenheitin der  Taille 
zu  zeigen.  Diese  ist  bei 
der  bekleideten  Figur 
etwas  hinaufgerückt,  und 
theilt  die  Grestalt  etwa  im  Verhältniss  von  1  :  2,  was,  verglichen  mit 
der  Gesammtlänge,  ungefähr  die  Theilung  im  Goldenen  Schnitt  ist. 
Das  Mädchen  hat  niemals  ein  Corset  getragen. 


Fig.  92.     J)iosellit'  entkleidet. 
(Rückansiclit  Fig.  59.) 


224 


Niederland. 


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(      ; 

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}         1 

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-^ 


Die  Masse  sind: 

1.  Körperlänge  152  cm. 

2.  Mittellänge  80  cm. 

3.  Kopflänge  20  cm. 

4.  Beinlänge  83,5  cm. 

5.  Nasenscliambeinlänge  58  cm. 

6.  Schulterbreite  36  cm. 

7.  Taillenbreite  22  cm. 

8.  Hüftbreite  32  cm. 

9.  Brustwarzenabstancl  22  cm. 

10.  Fusslänge  23  cm. 

11.  Brustumfang  90  cm. 

12.  Hintere  Dornbreite  10  cm. 
Becken:    Dornbreite  23,5  cm, 

J^fÄ  \        0       <  ;         Kammbreite    26   cm,    Hüftbreite 

31  cm. 

Die  halbe  Körperlänge  be- 
trägt 76  cm ,  demnach  liegt  die 
Körpermitte  4  cm  über  dem  unte- 
ren Rand  der  Schamspalte,  also 
noch  unterhalb  der  oberen  Scham- 
haargrenze. 

Die  Kopflänge  ist  in  der  Ge- 
sammtlänge  7  ^jö  mal  enthalten.  Die 
Beine  sind  länger  als  vier  Kopf- 
längen. 6,6  Fusslängen  entspre- 
chen der  Körperlänge. 

Ein  Fehler  ist,  dass  die  Taille 
um  2  cm  zu  breit  ist.  Construiren 
wir  zu  der  Figur  den  Canon  von 
Fritsch  (Fig.  93),  so  ergiebt  sich, 
dass  alle  Hauptmasse  völlig  mit 
der  Normalgestalt  übereinstimmen,  ja  dieselbe  in  der  Schulterbreite 
sogar  noch  übertreffen.  Besonders  auffallend  ist  diese  Ueberein- 
stimmung  in  den  Extremitäten.  Nur  die  Brustwarzen  stehen  tiefer 
als  normal,  zugleich  aber  weiter  nach  aussen. 


K(\ 


Fig.  93. 


Canon  des  Mädcliens  aus 
Sclieveningen. 


Niederland.  225 

Die  Betrachtung  der  Photographie  (Fig.  92)  lehrt,  dass  nament- 
lich die  Arme  und  Beine  von  selten  reiner  Form  sind.  Die 
Armaxe  verläuft  völlig  gerade  (am  linken  Arm  deutlich ) ,  am 
(linken)  Standbein  trifft  die  Mikulicz'sche  Linie  alle  Gelenke  in 
der  Mitte. 

Die  Brüste  überschreiten  die  Grenze  des  Normalen  und  be- 
ginnen sich  zu  senken.  Dafür  spricht  der  besonders  starke  Brust- 
umfang (90  cm)  und  der  tiefere  Stand  der  Brustwarzen.  Dies  so- 
wie die  um  2  cm  zu  breite  Taille  deutet  an,  dass  das  Mädchen  seine 
Blüthezeit  überschritten  hat.  Trotzdem  aber  bietet  der  Körper  sehr 
schöne  Formen.  Die  Schultergegend  ist  besonders  kräftig  ent- 
wickelt.    Fig.  59  zeigt  die  Rückansicht. 

Die  Mädchen  von  Scheveningen  zeichnen  sich  meist  aus  durch 
eine  besonders  weisse,  zarte  Haut  und  frische,  rothe  Wangen. 
Sie  sind  das  Vorbild  der  Gesichter  von  „Milch  und  Blut".  Diesen 
Vorzug  besitzt  das  Modell  in  hohem  Masse. 

In  Niederland  gelten  die  Frauen  aus  Friesland  und  Seeland 
für  die  schönsten.  Unter  den  letzteren  sind  die  Bewohnerinnen  der 
Inseln  Walcheren  und  Schouwen  nachweislich  stark  gemischt  mit 
spanischen  Elementen,  die  im  80jährigen  Kriege  sich  dort  nieder- 
liessen.  Demgemäss  ist  der  blonde  Typus  am  schönsten  in  Fries- 
land, der  dunkle  am  schönsten  in  Seeland  vertreten.  Ausser  dem 
zarten  Colorit  zeichnen  sich  die  Friesinnen  besonders  aus  durch 
kleine  Füsse  und  schlanke  Gelenke.  Merkwürdig  ist,  dass  Fries- 
land zugleich  auch  die  ärmste  und  am  meisten  von  Tuberculose 
heimgesuchte  Gegend  Niederlands  ist.  Ein  Vorbild  friesischer  Schön- 
heit kann  ich  leider  zur  Zeit  nicht  geben. 

Ein  holländisches  21  jähriges  Mädchen  aus  besserem  Stande, 
dessen  Canon  völlig  mit  dem  Fritsch'schen  Normalmass  überein- 
stimmte, gab  folgende  Masse: 

1.  Körperlänge  166  cm.  7.  Taillenbreite  22,5  cm. 

2.  Mittellänge  85  cm.  8.  Hüftbreite  34,5  cm. 

3.  Kopflänge  21  cm.  9.  Brustwarzenabstand  22,5  cm. 

4.  Beinlänge  87  cm.  10.  Fusslänge  22  cm. 

5.  Modulus  64  cm.  11.  Brustumfang  83,5  cm. 

6.  Schulterbreite  35,5  cm.         12.  Hintere  Dornbreite  10  cm. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  15 


226  Belgien. 

Becken:  Dornbreite  22,5  cm,  Kammbreite  29,75  cm,  Hüftbreite 
84  cm.  —  Länge  der  Hand  16  cm. 

Hervorzuheben  ist  bei  diesen  Massen  die  kleine  Hand,  die, 
statt  9mal,  10  ^/s  mal  in  der  Körperlänge  enthalten  ist.  Die  Körper- 
länge ist  gleich  7,9  Kopflängen,  also  beinahe  in  klassischem  Ver- 
hältniss. 

Die  Körpermitte  (83  cm)  liegt  2  cm  über  dem  Schritt,  die 
Brüste  sind  hoch  angesetzt,  die  Beine  haben  3  cm  mehr  als  vier 
Kopflängen,  Arm-  und  Beinaxen  verlaufen  völlig  gerade. 

Da  das  Mädchen  im  letzten  halben  Jahre  noch  um  1  cm  ge- 
wachsen ist,  kann  man  im  Zusammenhang  mit  der  um  2  cm  zu  kleinen 
Schulterbreite  annehmen,  dass  die  höchste  Blüthe  noch  nicht  erreicht  ist. 


Belgien. 

Unter  sechs  ausgesucht  schönen  Photographien  aus  Brüssel, 
die  ich  der  Freundlichkeit  des  Herrn  Alexandre  verdanke,  fand  ich 
nur  Eine,  die  eine  directe  Messung  nach  Kopflängen  gestattete. 
(Fig.  94  u.  95.) 

Aus  dem  Schema  ergiebt  sich,  dass  die  Figur  acht  Kopf- 
längen erreicht,  die  Körpermitte  (x)  sehr  tief  steht,  das  Bein  vier 
Kopflängen  überschreitet,  und  dass  Arm-  und  Beinaxen  völlig  ge- 
rade verlaufen. 

Wenn  wir  die  Figur  nach  der  durchschnittlichen  Kopflänge 
von  20  cm  berechnen  und  messen,  so  würde  die  Gesammtlänge 
160  cm  betragen,  die  Taille  21  cm,  Schulterbreite  37  cm,  Hüftbreite 
33 — 34  cm.  Verhältnisse,  die  völlig  der  Norm  entsprechen.  Die 
Stellung  erschwert  eine  exacte  Anwendung  der  Fritsch'schen  Methode. 

Die  Photographie,  Fig.  94,  darf  als  Muster  einer  guten  Auf- 
nahme gepriesen  werden.  Das  Modell  steht  erhöht,  aus  der  per- 
spectivischen  Verkürzung  der  Umgebung  kann  man  ableiten,  dass 
der  Apparat  genau  auf  die  Körpermitte  eingestellt  ist,  wodurch  eine 
richtige  Vergleichung  der  Proportionen  des  Körpers  ermöglicht  wird. 

Wie  in  Niederland  der  blonde,  so  ist  in  Belgien  der  brünette 
Typus,  den  dieses  Mädchen  repräsentirt,  vorherrschend.  Unter  an- 
derem kennzeichnet  ihn  die  stärkere  Pigmentirung   der  Brustwarze, 


Belgien. 


227 


Fig.  94.    Mädchen  aus  Brüssel. 


die  dunkle  Farbe  der  Augen  und  der  Haare.  Am  Halse  springt 
der  rechte  Kopfnicker  in  Folge  der  Drehung  des  Kopfes  nacli 
links  stark  vor.  Der  etwas  magere  Hals,  sowie  die  zarten  Brüste 
deuten  an,  dass  die  völlige  Reife  dieses  Körpers  nocli  nicht  ein- 
getreten ist. 


228 


Spanien. 


Fig.  95.    Bestimmung  des  Brüsseler  Mädchens  nach  Kopflängen. 


Spanien. 

Unter  den  zahlreichen  Photographien  nordspanischer,  haupt- 
sächlich aus  Barcelona  stammender,  Frauen  und  Mädchen  fand  ich 
neben  einigen  völlig  normal  gebauten  Gestalten  einen  besonderen, 
stets  wiederkehrenden,  eigenthümlichen  Typus  vertreten,  der  in 
seinen  Proportionen  von  den  aufgestellten  Gesetzen  etwas  abweicht. 


Spanien. 


229 


Ein  Beispiel  dieses 
Typus  ist  ein  offenbar  noch 
sehr  junges  Mädchen,  das 
Verhältnisse  zeigte,  wie  sie 
von  Hay  und  Thomson 
(vgL  Fig.  11  u.  12)  als 
normal  angegeben  werden. 
Da  das  Mädchen  auf  einem 
Piedestal  aufgestellt  und 
die  Centrirung  auf  die  Kör- 
permitte gerichtet  ist,  dür- 
fen wir  die  Proportionen 
als  der  Wirklichkeit  ent- 
sprechend ansehen. 

Schon  bei  Betrachtung 
der  Photographie  (Fig.  96) 
erscheint  der  Rumpf  auf- 
fallend lang,  auf  der  diop- 
trischen  Zeichnung  lässt 
sich  nachmessen,  dass  die 
Schrittlänge  von  oben  17, 
von  unten  12  Theile  einer 
Gesammtlänge  von  29  Thei- 
len  beträgt.  Die  Körper- 
mitte steht  demnach  statt 
2  bis  4  mindestens  10  cm 
über  dem  Schritt  und  um 
ein  Beträchtliches  höher  als 
die  obere  Schamhaargrenze. 
Die  unteren  Extremi- 
täten zeigen  zwar  Verkür- 
zung, jedoch  keinerlei  Ver- 
krümmung, so  dass  an  rhachitische  Einflüsse  nicht  gedacht  werden 
kann.  Trotz  der  Verkürzung  der  Beine  ist  die  Gesammtlänge  =  8  Kopf- 
längen. Wir  haben  hier  also  die  merkwürdige  Erscheinung,  dass,  wie 
ich  es  oben  ausdrückte,  der  aristokratische  Kopf  für  die  plebejischen. 


Fig.  96.    Spanierin.    Mädclien  aus  Barcelona. 


230 


Spanien. 


Beine    eintritt.   —   Abgesehen   von    diesem    Missverhältniss    in    den 
Längenmassen    ist    an    diesem   Körper    nicht   viel    auszusetzen,    die 


Fig.  97.    Bestimmung  des  spanischen  Mädchens  nach  Kopflängen. 

Breitenniasse  sind  im  Gegentheil  besonders  schön  ausgeprägt.  Messen 
vi^ir  an  der  linken,  nicht  verkürzten  Körperhälfte  die  Schulterbreite, 
Taille  und  Hüftbreite,  so  erhalten  wir  ein  Verhältniss  von  3,6  :  2  :  4, 


Spanien.  231 

oder,  wenn  wir  die  hier  besonders  schlanke  Taille  auf  18  cm  rechnen, 
32,4  cm  Schulterbreite,  18  cm  Taille  und  36  cm  Hüftbreite.  Jeden- 
falls sind  hier  die  Hüften  nicht  allein  relativ  sehr  stark  entwickelt, 
sondern  sie  übertreffen  auch  absolut  die  Schulterbreite  um  einige 
Centimeter. 

Im  Einzelnen  sind  als  besondere  Schönheiten  hervorzuheben: 
der  kleine,  wohlgebildete  Fuss,  der  gerade  Arm,  der  schöngeschnit- 
tene Mund,  das  grosse  Auge  mit  der  Schönheitsfalte  darüber,  der 
hohe  Ansatz  und  die  gute  Form  der  Brüste,  deren  Kleinheit,  ebenso 
wie  die  für  eine  Brünette  sehr  schwache  Pigmentirung  des  Warzen- 
hofs auf  Rechnung  des  jugendlichen  Alters  kommen. 

Wir  haben  einen  Körper  vor  uns,  der  in  seinen  Einzelheiten 
nur  Vorzüge  zeigt,  im  Ganzen  genommen  seine  Fehler  in  den 
Längenproportionen  durch  besonders  stark  hervortretende  Vorzüge 
in  der  Breite  mildert.  Er  könnte  ein  Beispiel  sein  für  einen  von 
der  Natur  angestrebten  Ausgleich  der  verschiedenen  Proportionen, 
für  den  von  v.  Larisch  aufgestellten  Grundsatz  der  architektoni- 
schen Massenvertheilung,  wenn  sich  eine  derartige  Gestalt 
regelmässig  wiederfinden  Hesse. 

Nun  ist  es  in  der  That  auffallend,  dass  in  Catalonien  derartige 
Gestalten  sich  nicht  so  selten  finden. 

Bei  weiterer  Entwickelung  kommt  ein  anderes  Kennzeichen 
hinzu,  das  in  dem  Bau  dieser  Körper  begründet  ist,  nämlich  die 
besondere  Gestaltung  der  Brüste.  Diese  erreichen  meist  eine  sehr 
bedeutende  Grösse,  dabei  treten  sie  in  Folge  der  guten  Wölbung 
des  Brustkorbs  stark  nach  aussen,  so  dass  die  Brustwarzen  weit  von 
einander  abstehen  und  die  Brustaxen  einen  sehr  stumpfen  Winkel 
mit  einander  bilden.  Die  kräftige  Entwickelung  der  Brüste  zu- 
sammen mit  den  auffallend  breiten  Hüften  im  Gegensatz  zu  der 
schlanken  Taille  giebt  dem  Körper  ein,  wenn  man  will,  über- 
trieben weibliches  Gepräge,  einen  bis  an  die  äusserste  Grenze  des 
Erlaubten  ausgeprägten  weiblichen  Geschlechtscharakter. 

Derartige  Gestalten,  wie  sie  u.  a.  Goja  in  seinen  schönen 
Bildern  wiederzugeben  liebt,  haben  in  ihrer  südländischen  Farben- 
pracht, dem  leicht  gelbblassen  Teint,  den  blauschwarzen  Haaren  und 
den  glänzenden  Augen   einen  bezaubernd  malerischen  Reiz  in  ihren 


232 


Spanien. 


Farben;  die  Formen  aber  sind  sehr  vergänglich  und  gestatten  ihren 
Trägerinnen   nur    die   sehr  kurze   Blüthezeit   der   beaute    du   diable. 
Wir    können    diesen   Typus    als    den    „cat aionischen"    be- 
zeichnen, im  Gegensatz  zu  den  südspanischen  Typen. 


Fig.  98.     Sevillana. 


Die  schönsten  Frauen  mit  tadellosen  Formen  zeitigt  Süd- 
spanien, hauptsächlich  Andalusien  und  Castilien.  Dieselbe  Farben- 
pracht wie  im  Norden,  dabei  aber  schlankere,  geschmeidigere 
Formen;  die  Beine  sind  von  der  richtigen  Länge,  die  Handfesseln 
und  die  Knöchel  von  reinster  Form.  Berühmt  sind  die  kleinen  Füsse 
der  Andalusierinnen  mit  ihrem  hohen  Rist.     Vielleicht  ist  diese  auf- 


Spanien. 


233 


fallende  Scliönlieit  südspanischer  Frauen  auf  eine  frühere  Kreuzung 
mit  maurischem  Blute  zurückzuführen. 

Eine  Eigenthümlichkeit    vieler    spanischer  Frauen    ist    die    be- 
sonders starke  Körperbehaarung,    der    sich    früher    oder    später    ein 
dunkler  Flaum    an  der  Oberlippe    gesellt.     Manche    halten    das    für 
einen  neuen  Reiz;  ich  kann 
darin  nur  eine  Annäherung 
an  den  männlichen  Typus 
sehen     und     damit     einen 
Fehler. 

Unter  den  Mädchen 
aus  Barcelona  fand  ich  nur 
Eine,  die  bei  7 ^,'4  Kopf- 
höhen völlig  normale  Pro- 
portionen und  dabei  tadel- 
lose Formen  zeigte;  die 
Beinlänge  betrug  4  ^/2  Kopf- 
längen, die  Brüste  waren 
gut  entwickelt  und  hoch 
angesetzt,  Arm-  und  Bein- 
axen  verliefen  völlig  gerade. 

Bei  zwei  Südspanie- 
rinnen, die  ich  zu  messen 
Grelegenheit  hatte ,  waren 
die  Verhältnisse  ebenfalls 
völlig  normal.  Eine  der- 
selben, eine  Kunstreiterin, 
zeichnete  sich  aus  durch 
selten  schöne  Muskulatur  an  Armen  und  Beinen,  die  trotz  ihrer  Kraft 
die  weibliche  Anmuth  der  Formen  bewahrt  hatten.  Leider  fehlt  von 
beiden  die  Photographie  und  die  Controle  mit  dem  Fritsch'schen  Canon. 

Von  befreundeter  Seite  erhielt  ich  eine  Reihe  sehr  schön  aus- 
geführter Aufnahmen  von  Brustbildern  südspanischer  Schönheiten. 
Die  regelmässigste  Entwickelung  des  Gesichts  zeigt  ein  Mädchen 
aus  Sevilla  (Fig.  98)  und  eine  Dame  aus  Valencia  (Fig.  99). 

Beide    haben    die    Schönheitsfalte    über    den    grossen    dunklen 


Fig.  dd.     Dame  ans  Valencia. 


234  Frankreich. 

Augen,  liochstehende,  sclimal  und  scharf  gezeichnete  Augenbrauen, 
schmalen  Nasenrücken,  regelmässigen,  gut  gewölbten  Mund  mit 
schön  ausgeprägtem  Grübchen  zwischen  Nase  und  Oberlippe.  Bei 
beiden  sind  Mundparthie ,  Nase  und  Stirn  gleich  gross ,  bei  beiden 
ist  das  Gesicht  dicht  unterhalb  der  Augen  am  breitesten.  Die  feine, 
nach  dem  Unterkiefer  sich  stark  verjüngende  Umgrenzung  der 
Wangen  kommt  bei  der  Sevillana  besonders  schön  zur  Geltung  an 
der  Seite,  die  durch  die  Mantille  nicht  verhüllt  ist. 

Die  kühn  geschwungene  Adlernase,  die  neben  den  Augen  dem 
Gesicht  das  charakteristische  Gepräge  verleiht,  würde  die  Symmetrie 
stören,  wenn  sie  nicht  so  schmal  wäre.  Sie  zeigt  das  höchste  Mass 
des  Erlaubten  innerhalb  der  Grenzen  weiblicher  Schönheit. 

Die  Grösse  der  Augenspalten,  vereinigt  mit  dem  starken  Her- 
vortreten der  Augäpfel  lässt  bei  der  Dame  aus  Valencia  die  Augen 
noch  grösser  erscheinen.  Aber  das  ist  ein  für  die  Trägerin  gefähr- 
licher Vorzug:  die  gerade  bei  solchen  Augen  häufige  Röthe  der 
Entzündung  verwandelt  den  Vorzug  leicht  in  einen  sehr  entstellen- 
den Fehler. 

Frankreich. 

In  Frankreich  gilt  Arles  als  die  Heimath  der  schönen  Frauen. 
In  Marseille  fiel  es  mir  auf,  dass  man  auch  unter  dem  Volke  häufig 
schöne  Frauengestalten  antrifft,  gross  und  schlank,  mit  kleinen, 
hochgewölbten  Füssen.  Von  der  Pariserin  sagt  man,  dass  sie  klein 
und  mehr  elegant  als  schön  sei.  Aus  eigener  Erfahrung  kann  ich 
sagen,  dass  ich  unter  französischen  Patientinnen  besserer  Kreise 
mehrere  sehr  schöne  gesehen  habe ,  und  dass  beinahe  alle  sich 
durch  kleine  Füsse  und  noch  kleinere  Hände  auszeichneten.  Mes- 
sungen habe  ich  an  den  Lebenden  nicht  vorgenommen. 

Photographien  habe  ich  bisher  allein  aus  Paris  erhalten,  je- 
doch muss  man  bei  derartigen  Centren,  in  denen  alles  zusammen- 
strömt, sehr  vorsichtig  sein. 

Unter  allen  professionellen  Schönheiten,  die  in  den  „poses 
plastiques"  das  grosse  Publikum  zu  entzücken  suchen,  ist  keine 
einzige ,  die  einen  normalen  Körper  hat.  Die  vielgerühmte  Clara 
de  Chimay,  die  erste  dieser  Kategorie,  erreicht  nur  6,6  Kopflängen; 


Frankreich. 


235 


Arme  und  Beine  sind  im  Verhältniss  zum  Rumpf  zu  kurz,  die  Kniee 
stehen  einwärts,  Nabel  und  Brüste  zu  tief;  ausserdem  ist  die  Form 
des  Rumpfes  durch  ein  unter  dem  Tricot 
angebrachtes  Corset  seiner  natürlichen 
Linien  beraubt.  Fig.  100  gestattet  eine 
Yergleichung  mit  dem  Fritsch'schen  Ca- 
non. Sie  repräsentirt  einen  Typus,  der 
dem  unter  Pferdekennern  bekannten  „Bra- 
banterkopf"   entspricht. 

Zum  Glück  ist  nun  zwar  die  be- 
wusste  Künstlerin  überhaupt  keine  Fran- 
zösin; ihre  zahlreichen  Nachahmerinnen 
französischer  Abkunft  sind  aber  nicht 
viel  besser. 

Dass  es  jedoch  unter  den  Bewohne- 
rinnen von  Paris  sehr  schöne  Gestalten 
giebt,  beweisen  allein  schon  die  oben 
abgebildeten  Köpfe  (Fig.  14  u.  42).  Von 
der  ersteren,  einer  bekannten  Schauspie- 
lerin, konnte  ich  an  einem  Kostümbild 
mit  einiger  Sicherheit  richtige  Propor- 
tionen, jedenfalls  normale  Länge  der 
Beine,  nachweisen. 

Unter  einer  Anzahl  Pariser  Act- 
studien  waren  zahlreiche  sehr  gut  gebaute 
Frauengestalten  zu  finden;  bei  den  meisten 
jedoch  erlaubte  die  gewählte  Stellung 
keine  Controle  durch  Messung.  Eine  der 
besten  Figuren  besitzt  ein  20jähriges 
Künstlermodell  aus  Paris  (Fig  101),  dessen 
Proportionen  in  Fig.  102  aufgezeichnet  sind. 

Die  Körperhöhe  beträgt  beinahe  8, 
die  Länge  der  Beine  4,2  Kopfhöhen.    Mit 
dem  Fritsch'schen  Schlüssel  berechnet,  ist 
eine  geringe  Verkürzung  im  Unterschenkel  zu  entdecken,  im  übrigen 
sind  die  Verhältnisse  des  Körpers   völlig   normal;    die  Mikulicz'sche 


Fig.  100.    Proportionen  von  Clara 

de  Cliimay   (      )  vergliclien  mit 

dem  Canon  von  Fritsch. 


236 


Frankreich. 


Zehe. 


Axe  verläuft  völlig 
gerade  (linkes  Bein). 
Die  Körpermitte  liegt 
unterhalb  der  oberen 
Scbamhaargrenze. 

Der  Körper  dieses 
Mädchens  macht  zu- 
nächst den  Eindruck 
grosser  Jugendlich- 
keit in  allen  seinen 
Formen ;  die  weiche 
Rundung  des  Gesich- 
tes, die  dünnen  Arme, 
die  im  Yerhältniss 
zur  Taille  wenig  her- 
vortretenden Hüften 
erinnern  an  das  Kind- 
liche ,  während  im 
Gegensatz  dazu  die 
Brüste  kräftig  ent- 
wickelt sind. 

Als  besondereVor- 
züge  dieser  Gestalt 
sind  hervorzuheben : 
Die  schöngeformten 
Augen  mit  hoher 
Falte  darüber,  der 
kleine,  hochstehende 
Nabel ,  die  geraden 
Beine  und  nament- 
lich die  auffallend 
reine  Form  der  Füsse 
mit  grösster  Länge 
der  zweiten  Zehe  und 
sehr  kleiner  fünfter 
Das  reiche   Kopfhaar,   im  Gegensatz  zu    der   namentlich  in 


Fig.  101.    20jäliriges  Mädchen  aus  Paris, 


Frankreich. 


237 


der  AclLselhölile  (links)  schwachen  Körperbehaarung  verdient  eben- 
falls hervorgehoben  zu  werden. 

Als  Hauptfehler   ist   eine,    allerdings  nur   sehr   geringe,   Ver- 


Fig.  102.    Proportionen  des  Pariser  Mädchens. 


dickung  am  äusseren  Knöchel  und  am  Unterarm  oberhalb  des  Hand- 
gelenks zu  erwähnen,  die  wohl  als  ein  Ueberrest  einer  leichten 
Rhachitis  angesehen  werden  muss. 

Diese  Grestalt  ist  das  Prototyp  dessen,  was  die  Franzosen  „une 


238  Deutschland. 


fausse  maigre"  nennen,  die  Repräsentantin  der  zierlichen  französi- 
schen Grisetten ,  halb  Kind ,  halb  Weib ,  wie  sie  Gravarni ,  Grevin, 
Boutet  u.  A.  durch  ihre  Kunst  verherrlicht  haben.  In  Kleidern 
erscheinen  sie  wie  halbwüchsige  Jungen,  und  erst  bei  der  Ent- 
blössung  wird  —  mit  Ueberraschung  —  der  gutentwickelte  Busen 
entdeckt ;  eine  Pointe,  die  bei  vielen  modernen  französischen  Roman- 
schriftstellern sehr  beliebt  ist. 

In  Ermangelung  besserer  muss  ich  mich  mit  diesem  Vorbild 
französischer  Frauenschönheit  begnügen.  Einige  weit  vollkommenere 
Körper  sind  leider  durch  ihre  Stellung  oder  durch  schlecht  gewählte 
Staffage  für  Wiedergabe  nicht  geeignet.  Nicht  immer  ist  der 
Photograph  zugleich  auch  Künstler  genug,  um  das  Schöne  als 
solches  zu  erkennen  und  sich  mit  der  Schönheit  als  solcher  zu 
begnügen. 

Als  grösster  Vorzug  der  Pariserin  hat  seit  lange  der  kleine 
Fuss  gegolten,  und  wenn  in  dem  bekannten  Couplet  im  „Bettel- 
studenten" die  Polin  als  „der  Weiber  Schönste"  bezeichnet  wird,  so 
muss  sie  doch,  um  dem  Ideal  zu  entsprechen,  „von  der  Pariserin 
das  Füsschen"   besitzen. 

In  der  That  finden  sich  in  Paris,  sowie  auch  im  südlichen 
Frankreich  nicht  nur  kleine  und  elegante  Frauenstiefel  und  Schuhe, 
sondern  auch  kleine  und  schöngebaute  Füsse  darin.  Diesen  Vorzug 
theilen  die  Französinnen  jedoch  mit  den  Spanierinnen  der  südlichen 
Gegenden. 

Deutschland. 

In  Deutschland  sind  es  hauptsächlich  die  südlichen  Länder, 
die  sich  des  Rufes  erfreuen,  schöne  Frauen  zu  besitzen.  Augsburg, 
München,  Ulm  sowie  die  Rheinlande  streiten  um  den  Vorrang.  Dass 
auch  in  Sachsen  „schöne  Mädchen  wachsen",  mag  ja  wohl  vor- 
kommen, wie  ich  aus  eigener  Erfahrung  bestätigen  kann,  bei  den 
Sächsinnen  im  allgemeinen  findet  man  jedoch  bei  sehr  geringer 
Körpergrösse  mehr  das  Zierliche,  Freundliche  und  Gemüthliche  vor- 
herrschen, wirkliche  Körperschönheit  aber  sehr  selten;  vorall  in  den 
niederen  Klassen  des  nördlichen  Deutschland  ist,  wie  schon  Brücke 
hervorgehoben  hat,  weibliche  Schönheit  eine  grosse  Seltenheit. 


Deutschland. 


239 


Es  liat  mich,  darum  auch 
nicht  verwundert,  dass  ich  unter 
einer  grösseren  Zahl  Berliner 
Berufsmodelle  keine  einzige  nor- 
male ,  geschweige  denn  schöne 
Gestalt  gefunden  habe. 

Weit  bessere  Verhältnisse 
finden  sich  in  München.  Fig.  103 
ist  ein  16jähriges  Münchener 
Modell,  das  sich  vor  seinen  Ber- 
liner CoUeginnen  zunächst  durch 
gerade,  gut  gebaute  Beine  aus- 
zeichnet; das  rechte,  gestreckte 
Bein  entspricht  den  Anforde- 
rungen  der  Mikulicz'schen  Axe. 

Der  Rumpf  zeigt  zum  Theil 
noch  kindliche  Formen,  die  Breite 
des  Beckens  und  die  Ausbildung 
der  Brüste  hat  ihren  Höhepunkt 
noch  nicht  erreicht,  und  darum 
erscheint  die  Taille  noch  breit 
und  wenig  ausgeprägt. 

Der  rechte  gestreckte  Arm 
zeigt  eine  gerade  Armaxe,  der 
Nabel  ist  hoch  angesetzt,  die 
vordere  Achselfalte  trotz  der 
nachlässig  verschämten  Haltung 
gut  sichtbar.  Die  Füsse  erschei- 
nen, wegen  noch  nicht  vollende- 
tem Längenwachsthum  des  Kör- 
pers, im  Verhältniss  zu  gross.  Ein 
Fehler  ist  die  Einwärtsdrehung 
der  grossen  Zehen,  als  Folge  unzweckmässiger  Fussbekleidung. 

Zeichen  von  Schwindsucht  und  Rhachitis  sind  nicht  wahrzu- 
nehmen; eine  Controle  mit  dem  Fritsch'schen  Schlüssel  verbietet  die 
Haltung  der  Figur. 


Fig.  103.    löjähriges  Münchener  Mädchen. 
(Aufnahme  von  Recknagel.) 


240 


Deutsdiland. 


Fig.  104.    Münchener  Mädchen  von  17  Jahren.    (Aufnahme  von  Recknagel.) 

Nicht  uninteressant  ist  es,  mit  diesem  den  Körper  eines  anderen 
Müncliener  Mädcliens  von  17  Jahren  zu  vergleichen  (Fig.  104).  Es 
ist  dieselbe,  die  oben  in  kauernder  Stellung  mit  dem  Hunde  abge- 
bildet  ist.     Hier  hat    der  Rumpf    seine  volle  Länge    erreicht,    die 


Deutschland, 


241 


Breitenmasse ,  34  Scliulter, 
18  Taille,  30  Hüften,  ent- 
sprechen völlig  den  normalen 
Anfordermigen.  Die  Körper- 
mitte liegt  unterhalb  der 
oberen  Schamhaargrenze,  die 
Körperhöhe  beträgt  7,7  Kopf- 
höhen, die  Beinhöhe  mehr 
als  4.  Mit  dem  Fritsch' sehen 
Schlüssel  ergeben  sich  wenig 
von  der  Norm  abweichende 
Proportionen :  nur  eine  leichte 
Verkürzung  derUnterschenkel 
und'des  Unterarms  um  je  1  cm. 

Bei  Betrachtung  der 
Photographie  ergeben  sich 
als  Vorzüge :  Regelmässige 
Bildung  des  Gesichts,  nament- 
lich des  Mundes,  gutgewölb- 
ter Brustkorb  mit  hoch  an- 
gesetzter, kleiner  Brust;  sehr 
gute  Ausbildung  der  vorderen 
Achselgrenze  mit  (namentlich 
links)  sehr  kräftig  entwickel- 
tem grossem  Brustmuskel, 
kleiner,  tiefer,  nicht  zu  tief 
stehender  Nabel,  trotz  der 
Magerkeit  weiche,  sehr  ju- 
gendliche Formen.  Als  Fehler 
sind  am  Oberkörper  zu  be- 
zeichnen: das  Fehlen  der  Falte 
über  den  Augen  und  die  allzu- 
dürftige Abrundung  der  Arme. 

Während  der  Oberkörper  sonach  ziemlich  tadellos  ist,  bieten 
die  unteren  Gliedmassen  eine  ganze  Reihe  von  Fehlern :  nach  ein- 
wärts gestellte,    zu   dicke   Kniegelenke,    eckige  Oberschenkel,    sehr 

Stratz,  Die  Scliönlieit  des  weiblichen  Körpers.  16 


Fig.  105.     20jäliriges  Mädchen  vom  Rhein. 


242 


Deutschland. 


plumpe  Pussgelenke,  und  clurcli  Schuliwerkl  verunstaltete ,  platte 
Füsse  mit  Einwärtsdreliung  der  grossen  Zehen.  Die  Mikulicz 's  che 
Axe  schneidet  das  Knie  (links)  im  äusseren  Drittel. 


Fig.  106.    Proportionen  der  Rlieinländerin. 


Dass  es  trotz  dieser  Fehler  gelingt,  mit  einem  solchen  Modell 
einen  brauchbaren  Effect  zu  erzielen,  beweist  die  obenerwähnte  Auf- 
nahme (Fig.  81). 


Deutschland. 


243 


Einen  völlig  tadel- 
losen Körper  zeigt  ein 
20jäliriges  Mädchen  aus 
dem  Rheinland  (Fig.  105), 
das  vor  12  Jahren  in 
Karlsruhe  Modell  ge- 
standenhat. Die  Körper- 
höhe entspricht  7  '^/i  Kopf- 
höhen, und  die  Propor- 
tionen stimmen  mit  dem 
Fritsch'schen  Schlüssel 
völlig  über  ein  (Fig.  106). 

Die  Körj)ermitte 
steht  um  2  cm  höher 
als  der  Schritt,  demnach 
auffallend  tief.  In  der 
Aufnahme  von  vorn  fin- 
den sich  alle  oben  ( S .  1 7  8 ) 
erwähnten  Vorzüge  ver- 
treten und  entheben  mich 
der  Mühe ,  sie  einzeln 
aufzuzählen.  Hervorzu- 
heben wäre  höchstens, 
dass  sich  bei  gutem 
Haupthaar  eine  auffal- 
lend geringe  KörjDcr- 
behaarung  findet,  in  den 
Achselhöhlen  überhaupt 
nichts ,  am  Schamberg 
sehr  wenig,  und  dass 
die  Zeigefinger  und  zwei- 
ten Zehen  die  Länge  der 
vierten  Finger  und  Zehen 
übertreffen. 

Auf  der  Rückansicht  (Fig.  107)  ist  der  obere  Theil  des  Rumpfes 
im  Verhältniss  zu  dessen  unterer  Hälfte  zu  kräftig  ausgefallen,  weil 


Fig.  107.    Rückaiisiclit  von  Fig.  105. 


244  Oesterreich. 

bei  der  photograpliisclien  Einstellung  nicht  genügend  berücksichtigt 
wurde,  dass  die  Schultern  durch  die  Beugung  zu  stark  in  den 
Vordergrund  kamen.  Ausserdem  ist  die  Beleuchtung  zu  stark  von 
oben,  und  nicht  genug  seitlich  gewählt,  um  die  gut  ausgebildeten 
Kreuzgrübchen  zur  vollen  Geltung  zu  bringen. 

Nach  den  bisherigen  Erfahrungen  müssen  wir  diesem  Mädchen 
vom  Rhein  den  Preis  der  Schönheit  vor  all  ihren  deutschen  Schwe- 
stern zuerth  eilen. 

Oesterreicli. 

Ein  Land,  das,  wie  Oesterreich,  aus  so  zahlreichen  heterogenen 
Elementen  zusammengesetzt  ist,  besitzt  mehr  als  irgend  ein  anderes 
eine  grosse  Anzahl  verschiedener  Rassentypen,  denen  ebensoviele 
Rassenschönheiten  entsprechen.  In  der  Hauptstadt  Wien  strömt 
alles  zusammen  und  wer  kann  ausmachen,  ob  ein  dort  photo- 
graphirtes  Mädchen  eine  Oesterreicherin  im  engeren  Sinne ,  eine 
Ungarin,  eine  Böhmin,  eine  Dalmatinerin  oder  eine  Tyrolerin,  oder 
vielleicht  alles  zugleich  ist. 

Um  diesem  Dilemma  zu  entgehen,  spreche  ich,  wie  bisher, 
von  Oesterreicherin  im  allgemeinen,  und  nur  dann  von  Wienerin, 
Böhmin  u.  s.  w.,  wenn  mir  die  Herkunft  bekannt  ist. 

Als  Beispiele  schön  gebauter  Körper  habe  ich  bereits  eine 
Oesterreicherin  (Fig.  54  u.  62),  eine  Böhmin  (Taf.  H)  und  vor  allen 
ein  Wiener  Mädchen  (Taf.  I)  angeführt  ^). 

Es  wurde  oben  bereits  erwähnt,  dass  die  Deutsch-Oesterreiche- 
rinnen,  besonders  die  Frauen  aus  dem  Erzherzogthum  Oesterreich, 
aus  Kärnthen  und  Krain  gewisse  Schönheiten  in  höherem  Masse 
und  häufiger  besitzen,  als  andere  Völker.  Dazu  gehört  zunächst 
das  Grübchen  im  Kinn. 

Dass  auch  die  Brüste  der  Oesterreicherinnen  schon  lange  den  Ruf 
besonderer  Schönheit  haben,  beweist  ein  altes  Volkslied,  das  Hyrtl  ^) 


^)  Alle  drei  sind  photographirt  durch  die  Kunstanstalt  von  0.  Schmidt, 
"Wien,  die  auch  die  folgende  Fig.  112  hergestellt  hat.  Die  ältere,  Heid'sche 
Sammlung,  enthält  die  besten  Modelle,  jedoch  sind  hier  die  Photographien  iu 
technischer  Hinsicht  noch  sehr  mangelhaft. 

2)  Topographische  Anatomie,  I,  p.  628,  7.  Aufl.,  1882. 


Oesterreicli. 


245 


citirt.     Der   Sänger  wünsclit 
für  seine  Liebste: 

Den  Kopf  aus  Prag,    die  Füss' 

vom  Rhein, 
Die  Brüst'  aus   Oesterreicli 

im  Schrein, 
Aus  Frankreich  den  gewölbten 

Bauch  .  ,  . 

Die  scliöne  Form  der 
Brüste  hängt  ebenso  wie  das 
Grübchen  im  Kinn  ab  von 
einer  elastischen,  zarten, 
dabei  aber  der  Unterlage 
gut  angehefteten  Haut, 
und  demnach  haben  wir  wohl 
diese  als  den  Hauptvorzug 
der  Oesterreicherinnen  anzu- 
sehen, der  ausser  den  beiden 
genannten  Vorzügen  noch 
einen  schönen  Teint  zur 
Folge  hat. 

Wenn  wir  die  zahl- 
reichen Sammlungen  öster- 
reichischer ActjDhotographien 
durchmustern,  dann  ist  es 
in  der  That  auffallend,  wie 
häufig  sich,  namentlich  bei 
jüngeren  Modellen,  diese  Vor- 
züge, namentlich  aber  die 
schönen  Brüste  finden. 

Da  aber  diese  vorzüg- 
liche Beschaffenheit  der  Haut 
und  des  Unterhautbindege- 
webes meist  auch  eine  stär- 
kere Fettablagerung  zur  Folge  hat,  so  verlieren  sehr  viele  dieser 
Gestalten    mit    der    zunehmende    Grösse    und    Schwere    der    Brüste 


Fig.  108.     Mitdulxeu  aus  Wien  von  IT  Jahren 

mit  völlig  normalen  Proportionen. 

(Aufnahme  von  Heid.) 


246 


0  esterreich. 


sehr  bald  ihre  jugend- 
lichen Reize. 

Weit  seltener  sind 
auch  der  Unterleib  und 
die  Extremitäten  von 
entsprechender  Vollen- 
dung der  Pormen. 

Als  Typus  eines 
schön  gebauten  jugend- 
lichen Mädchenkörpers 
mit  vollen  Formen  ver- 
weise ich,  im  Gegen- 
satz zu  dem  schlanken 
Mädchen  von  Tafel  I, 
auf  eine  1 7jährige Wie- 
nerin aus  der  Heid- 
schen  Serie  (Fig.  108, 
109, 110),  die  von  vorn, 
vom  Rücken  und  im 
Profil  aufgenommen  ist. 
Zunächst  ist  her- 
vorzuheben ,  dass  das 
Mädchen  bei  einer 
Körperhöhe  von  wenig 
mehr  als  7  Kopf  höhen 
völlig  normale  Pro- 
portionen mit  dem 
Fritsch'schen  Schlüssel 
zeigt  (Fig.  111).  Zur 
Messung  der  Propor- 
tionen wurde  eine  an- 
dere ,  mehr  geeignete 
Aufnahme  desselben 
Modells  gewählt.  —  Die  Körpermitte  steht  dicht  über  dem  oberen 
Rand  der  Schamspalte,  demnach  besonders  tief.  Die  Beine,  mit  der 
Mikulicz'schen  Axe  bestimmt,  verlaufen  völlig  gerade  und  betragen 


Fig.  109.    Dieselbe  von  hinten. 


Oesterreich. 


247 


3^/4  Kopf  höhen,  demnach 
ein  Viertel  Kopf  höhe  mehr 
als    die   halbe  Körperlänge. 

Gestützt  auf  die  pho- 
tographischen Aufnahmen 
können  wir  als  Vorzüge  ver- 
zeichnen: weiche,  runde  und 
doch  kräftige  Körperformen, 
Schönheitsfalten  über  den 
Augen,  Grrübchen  im  Kinn, 
kleiner,  tiefer,  hochangesetz- 
ter Nabel,  reichliches  Haupt- 
haar (namentlich  in  Fig.  109 
und  110  deutlich)  bei  ge- 
ringer Körperbehaarung, 
runde  Ellenbogen,  lange, 
weichgeformte  Hand  mit 
Grübchen  und  geraden,  nach 
der  Spitze  schmäler  werden- 
den Fingern,  gerade,  lange, 
runde  Beine,  schmales  Knie, 
runde,  kräftige  Wade  mit 
weichem  Umriss,  gut  ge- 
formte Füsse  mit  längster 
zweiter  Zehe. 

In  der  Rückansicht  ist 
hervorzuheben  der  weiche 
und  doch  kräftige  Ueber- 
gang  vom  Nacken  zur  Schul- 
ter, gut  ausgeprägte  mittlere 
Rückenfurche  und  schöne 
Kreuzgrübchen,  pralle,  runde 
Hinterbacken  mit  zweiter,  doppelter  Wölbung  darunter  am  inneren 
Oberschenkel,  deutliches  Hervortreten  der  Muskelsehnen  in  der  Knie- 
kehle, weibliche  Form  der  Waden.  Die  Geradheit  der  Beine  springt 
besonders  in  der  Rückansicht  deutlich  in  die  Augen. 


Fig.  110,    Dieselbe  im  Profil. 


248 


Oesterreich. 


In  der  Profilansiclit  ist  trotz  der  schlaifen  Haltung  die  schöne 
Form  der  Brüste  zu  erkennen.  Trotz  ihrer  strotzenden  Fülle  hat 
die  rechte,   jugendliche  Brust  sich  nicht  gesenkt,  sie  ist  sehr  hoch 


Fig.  111.    Proportionen  der  ITjährigeu  Wienerin. 

angesetzt;  die  Verbindungslinie  mit  der  Achsel,  ist  durch  den  kräf- 
tigen Brustmuskel  deutlich  niarkirt.  Am  Arme  sind  die  in  der 
Streckung  sichtbaren  Grübchen  am  Ellenbogen  erkennbar. 

Als  Fehler  sind  zu  betrachten  die  etwas  plumpen  Gresichtszüge,, 
die  grosse  Ohrmuschel  und  das  schwer  gebaute  Fussgelenk. 

Die  frühzeitige  Fülle    dieses  kräftigen  Mädchenkörpers  beruht 


Oesterreich. 


249 


zum  Theil  auf  der  guten  Muskulatur,  zum  Theil  aber  auch  auf 
starker  Fettablagerung ,  die  den  scfiönen  jugendliclien  Formen  ein 
baldiges  Ende  durch  stärkere  Anhäufung  prophezeien  lässt. 

Eine   derartige  Gestalt  wird  —  namentlich    bei    den    fferins'en 


Fig.  112.    Kopf  einer  Oesterreicherin.     (Aufnahme  von  0.  Schmidt,  Wien.) 


Vorzügen  des  Gesichts  —  in  Kleidern  wenig  oder  gar  keinen  Ein- 
druck machen,  weil  sie,  selbst  bei  geringer  Bedeckung,  plump  er- 
scheinen würde. 

Dieses  Mädchen  ist  —  vom  künstlerischen  Standpunkt  be- 
trachtet —  geboren  um  nackt  zu  sein,  und  das  hat  sie  mit  so 
manchen  klassischen  Statuen  von  Göttinnen  gemeinsam. 

Durch  eine   besonders   regelmässige  Bildung  des  Gesichts  und 


250 


Oesterreich. 


weiclien  Uebergang  vom  Kopf  zum  Hals ,  sowie  durch  eine  schöne 
Form  der  Brüste  zeichnet  sich  Fig.  112  aus,  die  ebenfalls  in  Wien 
gemacht  ist.    Diese,  sowie  das  freundliche  Köpfchen  von  Fig.  41  mit 


Fig.  lia.    Kopf  des  Wiener  Mädchens  (Tafel  I),  3  Jalire  später. 
(Aufnahme  von  0.  Schmidt,  Wien.) 

dem  Grübchen  im  Kinn  und  dem  weichen  Mund  dürfen  als  würdige 

Vertreterinnen   österreichischer   Frauenschönheit   angesehen  werden. 

Von    dem   Wiener   Mädchen    (Taf.    I)    von    17    Jahren    giebt 

Fig.  113  den  Kopf  in  einer  Aufnahme,  die  drei  Jahre  später,  also 


Italien.  251 

etwa  bei  zwanzigjährigem  Lebensalter,  von  Sclimiclt  in  Wien  ge- 
macht ist. 

Es  erinnert  viel  an  die  Raffael'sche  Fornarina.  Die  volleren 
Formen  dieser  späteren  Aufnahme  haben  die  Schönheit  des  freund*- 
liehen  Gresichtes  keineswegs  beeinträchtigt,  was  bei  der  grossen 
Regelmässigkeit  der  Züge  auch  zu  erwarten  war.  Heryorzuheben 
ist  in  dieser  Aufnahme  der  schöne  Bau  des  Auges  und  seiner  Um- 
gebung, die  besonders  gut  zur  Geltung  kommt. 

Aus  Ungarn,  das  den  Ruf  hat,  besonders  schöne  Frauen  zu 
besitzen,  habe  ich  keine  authentischen  Photographien  erhalten  können. 

Italien. 

Italien  war  und  ist  noch  immer  das  Eldorado,  nach  dem  die 
Künstler  pilgern,  um  ihre  Seele  mit  Bildern  von  todter  und  lebender 
Schönheit  zu  füllen.  Deutsche  sowie  französische  Maler  suchten  die 
Offenbarung  der  Schönheit  in  Rom,  und  ihre  Bilder  sind  beredte 
Zeugnisse  dessen,  was  sie  gefunden.  Von  neueren  Malern  hat  keiner 
eine  naturgeschichtlich  reinere  Form  weiblicher  Schönheit  gefunden 
oder  geschaffen  wie  der  vielverkannte  Anselm  Feuerbach.  Die  beiden 
nackten  weiblichen  Figuren  auf  seinem  Urtheil  des  Paris  haben  acht 
Kopflängen  und  schliessen  sich  bis  auf  die  kleinsten  Details  dem 
Canon  von  Fritsch  an. 

Solche  Kunstwerke  sagen  uns  mehr  als  die  begeisterten  Schilde- 
rungen von  Reisenden,  die,  erfüllt  von  schönen  Bildern,  nur  kurze 
Zeit  in  Italien  weilen  und  überall  nur  das  Schöne  sehen  wollen. 
Mit  Recht  hebt  Bogumil  Golz  hervor,  dass  bei  längerem  Aufent- 
halt bald  ein  Zustand  der  Ernüchterung  folgt  und  das  früher  be- 
fangene Auge  auch  das  Hässliche  in  sich  aufnimmt.  In  Italien 
findet  man  ebensowenig  als  anderswo  das  Schöne  ringsum  auf  der 
Strasse,  man  muss  es  suchen  und  darf  dabei  die  Geduld  nicht  ver- 
lieren. Unzweifelhaft  besitzt  Italien  sehr  viel  mehr  Schönheit  als 
die  meisten  anderen  Länder,  vollendete  Schönheit  ist  aber  hier  wie 
dort  eine  grosse  Seltenheit. 

Volkmann  ^)  fand  wenig  schöne  Frauen  in  Rom,  viel  mehr  in 


^)  Historisch-kritische  Nachrichten  von  Italien. 


252 


Italien. 


Neapel      und 
Venedig.   Ick 
liabe  bei  mei- 
nem  Aufent- 
halt in  Italien 
den  Eindruck 
bekommen, 
dass   über- 
haupt in  Süd- 
italien   die 
weibliche 
Schönheit 
äusserst    sel- 
ten  ist ,    dass 
dieselbe   jedoch   zunimmt,   je   weiter 
man  nach  Norden  kommt.   Die  schön- 
sten Frauengestalten  sah  ich  in  Florenz 
und  Mailand,   und  zwar  in  grösserer 
Anzahl    als    irgend   wo    anders.     Bei 
Sonnenuntergang   vereinigt    sich    die 
schöne  Welt    von    Florenz    auf    dem 
Cascine.   Ich  empfehle  jedem,  zu  Fuss 
und  nicht  im  Wagen  dorthin  zu  gehen, 
denn    die    weibliche    „schöne    Welt" 
findet  sich  unter  den  Fussgängerinnen 
häufiger    als    in    den    eleganten    Ka- 
rossen des  Corso. 

Von  italienischen  Actstudien  sind 
die  bekanntesten  die  von  Gloeden  in 
Sicilien,  Plüschow  in  Rom  und  die 
Mailänder  Serie.  Unter  den  ersteren  finden  sich  sehr  schöne  Männer- 
und  Jünglingsgestalten,  aber  wenige  und  nicht  hervorragende  Frauen'; 
dies  stimmt  mit  der  Beobachtung  von  Volkmann,  Ploss,  mir  u,  a.^ 
dass  in  den  südlichen  Theilen  Italiens  weibliche  Schönheit  schwer 
zu  finden  ist. 

Unter    einigen^  hundert  Aufnahmen    von    Plüschow    fand    ich 


Fig.  114.    Süditalieiieriii  J.  Viti. 
(Aufnahme  von  Plüschow,  Rom.) 


Italien. 


253 


Fig.  115.    Proportionen  der  J.  Viti. 


verscliiedene  selir  gut  gebaute  Körper,  namentlicli  unter  den  lialb- 
erblühten  Mädchen,  unter  den  erwachsenen  Frauen  nur  eine,  deren 
Stellung  jedoch  eine  exacte  Messung  nicht  zuliess, 

Fig.  114  ist   eine  Aufnahme    der  16jährigen  J.  Viti,   Fig.  115 


254  Italien, 

giebt  die  Proportionen  nacli  Kopflängen  und  nach  Fritsch,    in  eine 
andere  Aufnahme  eingetragen. 

Der   Körper   misst   6,75   Kopflängen,    Hände   und   Füsse   sind 


Fig.  116.     Süditalieneriii.    Junges  Mädchen  von  lä  Jahren. 
(Aufnahme  von  Plüschovp,  Eom.) 

zwar  sehr  gut  geformt,'  aber  unverhältnissmässig  gross,  die  Länge 
der  Extremitäten  ist  geringer,  als  der  Canon  verlangt.  Diese^  Pro- 
portionen kennzeichnen  zusammen  mit  den  schwachen,  jungfräu- 
lichen Brüsten,  dem  mageren  Oberleib  und  der  schwachen  Körper- 
behaarung den  wachsenden  Körper,  die  heranreifende  Jungfrau. 


Italien. 


255 


Der  Kör- 
per zeiclinet 

sich    aus 
durch  gerade 
Axen   der 
Extremi- 
täten ,    gute 
Form  des  ge- 
räumigen 
Beckens,  ho- 
hen   Ansatz 
der    Brüste, 
trotz   der 
Magerkeit  weiche   Formen,    sehr   regel- 
mässig geformte  Hände  und  Füsse  und 
gut  proportionirtes  Gesicht. 

Selbst  wenn  wir  uns  (in  Fig.  115) 
die  linke  Schulter  gesenkt  vorstellen, 
liegt  die  Brustwarze  noch  höher  als  der 
Canon  verlangt.  Es  ist  demnach  an- 
zunehmen, dass  nach  beendigtem  Wachs- 
thum  dieser  Körper  völlig  den  Anforde- 
rungen  des  Canons  genügen  wird. 

Einem  noch  jugendlicheren  Stadium, 
einem  Mädchen  von  etwa  13  Jahren,  ge- 
hört das  liebliche  Gesicht  von  Fig.  116. 
Sehr  schön  ist  darin  die  reine 
Bildung  des  Mundes,  die  schöne  Form 
der  schwermüthigen  Augen  und  der  zarte 
Umriss  des  kindlichen  Gesichtes.  Bei 
Vergleichung  mit  den  Köpfen  der  beiden 
Spanierinnen  (Fig.  98  u.  99)  fällt  auf, 
dass  die  kleine  Italienerin  einen  ver- 
hältnissmässig  breiteren  Nasenrücken,  dabei  aber  eine  kleinere 
Nase  hat,  als  die  beiden  andern.  Auch  hier  ist  die  Grenze  des 
Erlaubten    im    individuell    Schönen    erreicht.     Eine    etwas    breitere 


Fig.  117.  NorcUtalienerin.  Mädchen 
aus  Mailaiid  (nacli  dem  Leben). 


256 


Italien. 


Fig.  118.    Proportionen  des  Mailänder  Mädchens. 


oder    etwas    grössere    Nase    würde    die    Symmetrie    des    Gesichtes 
verletzen. 

In    der  Mailänder  Serie   fand  ich  unter  200  Modellen  12 ,    die 
nur   ganz    geringe  Fehler   aufzuweisen  hatten ,    also    6  '^jo    Tadellose 


Eussland.  257 

unter  den  Berufsmodellen,  das  weitaus  günstigste  Yerhältniss  unter 
den  von  mir  gemachten  Beobachtungen. 

Die  schönste  der  Mailänderinnen  ist  hier  (Fig.  117)  abgebildet. 
Fig.  118  giebt  ihre  Proportionen. 

Die  Gestalt  hat  acht  Kopflängen.  Bei  der  Berechnung  nach 
dem  Fritsch'schen  Canon  sind  die  Beine  um  0,008  der  Gresammt- 
länge,  also  um  etwa  1,5  cm  zu  kurz;  an  den  oberen  Extremitäten 
sind  die  Hände  um  ein  Greringes  zu  klein.  Die  Schulterbreite  ist 
ebenfalls  um  1  cm  verkürzt.  Alle  übrigen  Masse  stimmen  auf  ^J2  cm 
genau,  der  Nabel  steht  sogar  noch  etwas  höher,  als  verlangt  wird. 

Schulterbreite ,  Taillen-  und  Hüftbreite  stehen  im  Yerhältniss 
12  :  7  :  11,  würden  also  bei  einer  Taille  von  21  cm  die  Masse 
36  :  21  :  33  cm  ergeben;  die  Taille  wäre  also  genau  12  cm  schmäler 
als  die  Hüften,  und  15  statt  16  cm  schmäler  als  die  Schultern. 
Dies  stimmt  mit  der  nach  dem  Canon  gemachten  Berechnung.  Die 
Körpermitte  fällt  mit  der  oberen  Schamhaargrenze  zusammen,  die  in 
Folge  der  geringen  Entwickelung  der  Schamhaare  besonders  tief  steht. 

Als  besondere  Vorzüge  der  Figur  sind  zu  nennen:  Reichliches 
Haupthaar,  grosse  Augenhöhlen,  schmale,  scharfgezeichnete  Augen- 
brauen, die  Schönheitsfalte  über  den  Augen,  weite  Augenspalte,  gut 
geschnittener  Mund,  kleiner  Unterkiefer,  schmales  Handgelenk,  hoher 
Ansatz  der  Brust,  kleiner,  hochstehender  Nabel,  weicher  TJebergang 
der  Hüfte  zum  Schenkel ,  niedere  Schamhaargrenze ,  geringe  Ent- 
wickelung der  Schamhaare,  gerade  Beinaxe,  gut  gebildeter  Fuss 
mit  grösster  Länge  der  zweiten  und  sehr  kleiner  fünfter  Zehe  u.  s.  w. 

Russlaud. 

Aus  Russland  habe  ich  bisher  nur  eine  Photographie  erhalten 
können  (Fig.  119),  deren  Stellung  leider  eine  genaue  Controle  durch 
Masse  unmöglich  macht. 

Immerhin  kann  man  nachmessen,  dass  das  rechte,  gestreckte 
Bein  länger  ist  als  vier  Kopflängen.  Die  Füsse  sind  besonders  gut 
geformt,  mit  hohem  Rist,  feiner  Ferse  und  längerer  zweiter  Zehe. 
Der  im  Bilde  stark  verkürzte  Oberkörper  gestattet  keine  weiteren 
Schlüsse,  als  dass  der  Brustkorb  gleichmässig  und  gut  gewölbt  ist. 

Stratz,  Die  Schönheit  des  weiblichen  Körpers.  17 


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Dänemark. 


259 


Dänemark. 

Die  Däninnen  zeich- 
nen sich,  ebenso  wie 
die  Skandinavierinnen, 
durcli  auffallend  blanke 
Hautfarbe  und  zartes 
Colorit  aus,  sowie  durch 
einen  meist  sehr  regel- 
mässigen Bau  der  Ex- 
tremitäten. 

Professor  Leopold 
Meyer  war  so  liebens- 
würdig ,  mir  einige 
Photographien  zur  Ver- 
fügung zu  stellen,  die 
von  Dr.  Kuhn-Faber 
aufgenommen  sind. 

Die  erste  (Fig.  120), 
ein  schwarzhaariges 
Mädchen  aus  Kopen- 
hagen, zeigt  diese  Vor- 
züge in  hohem  Masse. 
Arm-  und  Beinaxen 
verlaufen  völlig  ge- 
rade, die  Gliedmassen 
sind  muskulös  und 
kräftig ,  haben  dabei 
jedoch  feine ,  scharf 
umschriebene  Gelenke ; 
namentlich  am  linken 
Bein  ist  das  Fussge- 
lenk  und  das  Knie  als  mustergültig  zu  betrachten. 

Bei  einer  Gesammthöhe  von  7^/4  Kopf  höhen  steht  die  Körper- 
mitte unterhalb  der  oberen  Schamhaargrenze,  die  Beine  betragen 
etwas  weniger  als  4  Kopfhöhen  (Fig.  121). 


Fig.  läO.     yuliwaizliuarige  Dänin. 
(Aufnalime  von  Dr.  Kuhn-Faber.) 


260 


Dänemark. 


Das  Gesicht  zeigt  ebenso  wie  das  der  anderen  Dänin  etwas 
vorstehende  Jochbogen,  zwischen  den  schmalen  Augen  leicht  sich  ein- 
ziehenden, dabei  aber  schma- 
len Nasenrücken  und  ziem- 
lich kräftigen  Unterkiefer. 
Am  Rumpf  fällt  ebenso 
wie  an  den  Extremitäten  die 
kräftige  und  doch  zierliche 
Ausbildung  des  Skelets,  so- 
wie der  Muskulatur  ins  Auge. 
Die  Breite  des  Beckens  ver- 
schwindet beim  Vergleich 
mit  dem  sehr  breiten  und 
fast  männlich  gewölbten 
Brustkasten.  Die  Breiten- 
masse des  Rumpfes  stehen 
im  Verhältniss  2  :  3  :  3,5. 
Es  würde  dementsprechend 
die  Schulterbreite  35 ,  die 
Taille  20,  die  Hüftbreite 
30  cm  betragen.  Diese  Ver- 
hältnisse zusammen  mit  den 
gut  geformten,  jedoch  sehr 
kleinen  Brüsten  geben  der 
Grestalt  einen  sehr  jugend- 
lichen ,  knabenhaften  Ge- 
samtcharakter, wie  wir  ihn 
auf  alten  Amazonenstatuen 
antreffen. 

Legt  man  den  Fritsch'schen  Schlüssel  an,  so  ergiebt  sich,  dass 
die  Beine  im  Verhältniss  zu  kurz  sind ;  die  Verhältnisse  dieser  Figur 
sind  genau  dieselben ,  wie  sie  Fritsch  ^)  für  die  Venus  von  Thor- 
waldsen  gefunden  hat. 

Ausser  den  erwähnten  sind  als  besondere  Vorzüge  dieser  Ge- 


Fig.  121. 
Proportionen  der  schwarzhaarigen  Dänin. 


^)  Fritsch-Harless,  Die  Gestalt  des  Menschen,  Taf.  XXV,  Fig.  4. 


Dänemark. 


261 


V 


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H   'Ar 


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1 


1 


'S: 


-N 


stalt  kervorziiheben  der 
gut  gewölbte,  kleine  Fuss 
mit  längster  zweiter  Zehe, 
der  kleine,  hochstehende, 
tiefe  Nabel,  der  schöne 
Uebergangvon  der  Schul- 
ter zum  Arm ;  als  Fehler 
die  zu  reichliche  Behaa- 
rung des  Schamberges  und 
die  spitz  zusammenlaufen- 
den Grenzlinien  zwischen 
Rumpf  und  Schenkeln. 

Die  zweite,  ein  roth- 
blondes Mädchen  aus  Ko- 
penhagen (Fig.  122),  zeigt 
im  allgemeinen  dieselben 
Verhältnisse  wie  die  erste, 
jedoch  ist  hier  der  weib- 
liche Charakter  der  Brei- 
tenmasse am  Rumpf  stär- 
ker ausgeprägt,  die  Kör- 
perbehaarung von  völlig 
weiblichem  Typus ,  und 
die  Augen  sind  tiefer  und 
mit  der  Schönheitsfalte 
ausgestattet.  Die  Form 
des  Knies  und  des  etwas 
platten  Fusses  ist  weniger^ 
rein.  Die  Beine  sind  auch 
hier,  mit  dem  Fritsch- 
schen  Schlüssel  gemessen, 
etwa   um  1  cm    zu  kurz. 

Um  der  Schönheit  dieser  Gestalt  völlig  gerecht  zu  werden, 
müsste  sie  in  Farben  wiedergegeben  werden ,  da  die  Photographie 
das  zarte  Spiel  von  Weiss  und  Roth  nur  unvollständig  wiedergiebt. 

Auffallend  ist,   dass    diese    beiden  Däninnen  —  vielleicht    zu- 


Fig.  122.    Rothhaarige  Dänin. 
(Aufnahme  von  Dr.  Kuhn-Faber.) 


262 


Gemischte  Rassen. 


!!*^, 


'"'^'^.jJUlm'^fi^  -  *- 


fällig  —  genau  dieselben  Propor- 
tionen zeigen  wie  die  Thorwaldsen- 
schen  Idealgestalten.  Dies  legt 
mir  die  Vermutliung  nahe,  dass 
dem  grossen  Dänen,  trotzdem  er 
wahrscheinlicli  italienische  Modelle 
gehabt  hat,  doch  als  Ideal  eine 
Dänin  vorgeschwebt  hat. 

Cremisclite  Rassen. 


Mischung  der 


Nach  Bartels  ^)  wird  durch 
Rassen  die  Schön- 
heit meist  gesteigert,  jedoch  hebt 
er  mit  Recht  hervor,  dass  bei 
aussereuropäischen  Typen  die  Mi- 
schung mit  weissem  väterlichem 
Blut  meist  als  Veredelung  ange- 
sehen werden  muss. 

Von  aussereuropäischen  Ras- 
sen werden  viele,  unter  anderen 
die  ganze  malaische  Rasse,  von 
manchen  Anthropologen  als  Mi- 
schung angesehen.  Die  besseren 
Elemente  dürften  bei  den  Malaien 
durch  Hindublut  geliefert  sein; 
inwieweit  dies  bei  körperlich  be- 
vorzugten Stämmen  unter  den 
malaischen  Völkern,  wie  die  Ha- 
waiinsulaner  und  Samoaner,  eine 
Rolle  gespielt  hat,  dürfte  wohl 
schwer  zu  entscheiden  sein.  Immer- 
hin gilt  von  allen  diesen  Völkern 

das  bereits  Erwähnte,  dass  sich  häufig  gute  Körper,  äusserst  selten 

schön  gebildete  Gresichter  unter  ihnen  finden. 
')  Ploss-Bartels,  Das  Weib.     1897,  I,  p.  58. 


Fig.  123.    I8j ähriges  Mädcheu  von 

cMiiesiscli-malaisclier  Abkunft. 

(Aus  Hagen,  Anthropologischer  Atlas.) 


Gemischte  Rassen. 


263 


Sehr  reichhaltig  an  schö- 
nen Individuen  sind  unsere  dies- 
bezüglichen photographischen 
Documente,  soweit  mir  be- 
kannt, nicht. 

In  einer  grösseren  Samm- 
lung, die  Hagen  in  seinem 
Anthropologischen  Atlas  ost- 
asiatischer und  melanesischer 
Völker  ^)  vereinigt  hat,  ist  auf- 
fallend, dass  gerade  die  besten 
Gestalten  sich  unter  den  Misch- 
lingen finden. 

Ein  ISjähriges  Mädchen 
von  chinesisch-malaischer  Ab- 
kunft (Fig.  123)  zeigt  bei  nur 
6,5  Kopf  höhen  in  derGesammt- 
höhe  ziemlich  normale  Propor- 
tionen mit  dem  Fritsch'schen 
Schlüssel,  gerade  Axen  an  allen 
Extremitäten,  ohne  irgendwie 
bemerkenswerthe  Fehler,  dabei 
aber  einen  Kopf,  der  nach  eu- 
ropäischen Begriffen  keines- 
wegs als  schön  bezeichnet 
werden  kann. 

Völlig  reine  Proportionen 
nach  Fritsch  bei  einer  Ge- 
sammthöhe  von  7,5  Kopf  höhen 
hat  ein  17jähriges  Mädchen  aus 
Singapore,  das  von  einem  Tamil 
und  einer  Malaiin  abstammt 
(Fig.  124).  Dass  die  Länge  der 
Beine  (=  4  Kopf  höhen)  normal 
ist,  scheint  um  so  auffallender,  als  an  den  Unterschenkeln  eine  leicht 

1)  Wiesbaden,  Kreiders  Verlag,  1898. 


Fig.  124.    ITjäliriges  Mädclien  aus  Singapore. 

Mischrasse:  Tamil  und  Malaiin. 

(Aus  Hagen,  Anthropologisclier  Atlas.) 


264 


Gemischte  Rassen. 


wohl 

erste 


rhachitische  Krümmung  zu  er- 
kemien  ist,  gepaart  mit  ebenfalls 
rhachitischer  Verdickung  der  Knö- 
chel und  Handgelenke  (links). 

Trotz  der  reinen  Proportionen 
ist  diese  Gestalt,  auch  abgesehen 
von  den  unregelmässigen  Zügen 
des  im  Verhältniss  zum  Kopf  viel 
zu  grossen  Gesichtes,  nicht  schön 
zu  nennen.  Der  Brustkasten  ist 
zwar  breit,  aber  flach,  wodurch 
eine  leichte  Senkung  der  jugend- 
lich gefüllten  Brüste  bedingt  wird. 
Arme  und  Beine  sind  zu  mager 
und  haben  die  völlige  Reife  noch 
nicht  erreicht  zu  einer  Zeit,  da  die 
Brüste  bereits  ihre  kaum  erreichte 
Reife  bereits  wieder  überschreiten. 
Weit  vortheilhafter  erscheint 
dieser  Körper  in  der  Rückansicht 
(Fig.  125),  worin  namentlich  am 
Rumpf  wenig  auszusetzen  ist. 

Ob  und  inwieweit  die  Mischung 
des  Blutes  in  solchen  Fällen  die 
Körperform  beeinflusst  hat,  lässt 
sich  hier  ebenso  schwer  ausmachen, 
als  bei  den  malaischen  Stämmen 
überhaupt. 

Alle   diese  Mischlinge    stehen 
jedoch    in    jeder    Beziehung    weit 
hinter  denen,  die,  meist  väterlicher- 
seits ,     indogermanisches    Blut    in 
ihren  Adern  haben. 
Bei  Mischehen  innerhalb  der  europäischen  Rassen  dürfen  Avir 
annehmen,  dass  körperliche  Vorzüge  einer-  oder  beiderseits  die 
und  häufigste  Veranlassung  für  Rassenkreuzungen  abgeben. 


Fig.  125.    Rückansicht  von  Fig.  124. 


Gemischte  Rassen. 


265 


In  den  meisten  Fällen  ist  es 
jedoch,  schwer,  den  Einfluss  der 
verschiedenen  Rassen  väterlicher- 
und  mütterlicherseits  nachzuweisen. 

Bei  einem  23jährigen  Mäd- 
chen, das  in  Fig.  126  u.  127  ab- 
gebildet ist,  liess  sich  eine  Mischung 
von  holländischem  Blut  väterlicher- 
seits und  französischem  Blut  müt- 
terlicherseits mit  Sicherheit  fest- 
stellen. 

Das  Resultat  der  Mischung 
ist  in  diesem  Falle  ein  recht  gün- 
stiges zu  nennen. 

Die  Masse  sind:  ^ 

Körperlänge  159  cm. 
Kopflänge  20,5  cm. 
Rumpf  länge  bis  zum  Schritt  85  cm. 
Modulus  60  cm. 
Beinlänge  85,5  cm. 
Schulterbreite  35,5  cm. 
Taille  20  cm. 
Hüftbreite  31  cm. 
Brustwarzenabstand  21,75  cm. 
Hintere  Dornbreite  10,5  cm. 
Fusslänge  23  cm. 
Handlänge  19  cm. 
Brustumfang  80  cm. 
Körpergewicht  51  kg. 

Die  Körpermitte  liegt  tief, 
unterhalb  der  oberen  Schamhaar- 
grenze. 

Bei  Construction  des  Fritsch- 
schen  Canons   stimmen   die   Masse   auffallend;   nur   die  Hände   sind 
zu  lang  (Fig.  127). 

Dass  Brustwarzen  und  Nabel  zu  tief  stehen,    erklärt  sich  aus 


Fig.  126.    asjäliriges  Mädchen  von 
niederländiscli-französischer  Abkunft. 


266 


.Gemischte  Rassen. 


dem  Umstand,  dass  das  Modell  ein  auffallend  hohles  Kreuz  (Lordose) 
hatte,    wodurch  die  obere  Wölbung   der  Brust,   sowie  die    Neigung 

des  Beckens  in  der  Ansicht  von  vorn 
die  Verhältnisse  der  einzelnen  Theile  des 
Rumpfes  stark  verschoben  haben. 

Auf  der  Ansicht  von  vorn,  deren 
dioptrische  Contour  nach  der  Photo- 
graphie in  Fig.  127  eingetragen  wurde, 
ist  die  Stellung  ziemlich  symmetrisch ; 
die  linke  Schulter  steht  etwas  tiefer  als 
die  rechte.  Trotzdem  kann  man  erkennen, 
dass  Arm-  und  Beinaxen  ziemlich  gerade 
verlaufen.  Die  Beine  berühren  sich  an  den 
vorgeschriebenen  vier  Punkten,  die  Miku- 
licz'sche  Axe  geht  durch  die  zweite  Zehe. 

Im  Verhältniss  zum  Alter  ist  die 
Brust  nicht  stark  entwickelt  und  zeigt 
durch  leichte  Senkung,  dass  die  höchste 
Blüthe  bereits  überschritten  ist,  eine 
Blume ,  die ,  halb  aufgeblüht ,  bereits 
wieder  verwelkt.  Die  Erklärung  dafür 
finde  ich  in  dem  ermüdenden  Beruf  des 
Mädchens  (als  Modell) ,  sowie  in  einer 
leichten  chronischen  Erkrankung  innerer 
Organe,  die  ihren  Einfluss  auch  auf  die 
äusseren  Formen  des  Körpers  geltend 
macht. 

Ausserdem  sind  als  Fehler  an  diesem 
Körper  hervorzuheben :  Eine  leichte  Ver- 
krümmung des  Beines  oberhalb  der 
Knöchel  und  eine  Verdickung  und  Ver- 
krümmung im  Handgelenk,  die  besonders 
links  deutlich  hervortritt.  Beides  als 
Zeichen  früherer  Rhachitis. 
In  der  Ansicht  von  hinten  ist  hervorzuheben  das  gute  Relief 
des  Rückens   und    die  gute  Ausbildung    der  Kreuzgrübchen.     Unter 


Fig.  127.     Canon  des  Mädchens 
von  gemischter  Easse. 


268  Gemischte  Rassen. 


den  Kniekelilen  werden  die  Beine  entstellt   durcli  die  Druckfurchen 
der  Strumpfbänder. 

Von  Grieclienland  und  der  Schweiz  habe  ich  nur  fehlerhafte, 
von  England,  Polen,  Norwegen,  Schweden  und  Portugal  überhaupt 
keine  Modelle  erhalten  können.  Dass  es  aber  in  England  und  ebenso 
in  Norwegen  und  Schweden  gute  Modelle  giebt,  geht  aus  manchen 
vortreif liehen  Actstudien  dortiger  Künstler  zur  Genüge  hervor;  das- 
selbe dürfte  der  Fall  sein  mit  den  anderen  bisher  nicht  [berück- 
sichtigten Ländern. 

Aus  meinen  bisherigen  Beobachtungen  ergiebt  sich,  dass  ich 
zehn  Niederländerinnen ,  eine  Belgierin ,  drei  Spanierinnen ,  sechs 
Oesterreicherinnen  (worunter  zwei  Wienerinnen  und  eine  Böhmin), 
eine  Deutsche  mit  tadellosen  Proportionen  gefunden  habe,  und  dass 
bei  einer  Französin  mit  grosser  Wahrscheinlichkeit  gleichfalls  tadel- 
lose Proportionen  bestehen. 

Ferner  zeigen  unter  allen  bisher  gemessenen  Frauen  die  Mai- 
länderinnen den  grössten  Procentgehalt  von  körperlicher  Schönheit 
im  allgemeinen  und  körperlicher  Vorzüge  im  besonderen. 

Es  bleibt  noch  sehr  viel  zu  erledigen.  Namentlich  wird  sich 
bei  reichlicherem  Material  die  Nothwendigkeit  herausstellen,  bei  den 
grossen  europäischen  Völkern  mehr  und  mehr  die  verschiedenen,  in 
ihnen  vereinigten  Elemente  von  einander  zu  scheiden. 

„Die  Feststellung  der  Rassenmerkmale"  —  schreibt  mir  Pro- 
fessor G.  Fritsch  aus  Kairo  —  „ist  bisher  ja  in  der  That  aus 
Mangel  an  Material  stets  unerledigt  geblieben  und  wird  wohl  noch 
lange  nicht  vollständig  erledigt  werden  können." 

Ich  bitte,  diesen  letzten  Abschnitt  meines  Buches  als  einen 
Versuch  in  der  angestrebten  Richtung  zu  betrachten,  ich  hoffe,  auf 
dem  eingeschlagenen  Wege  weiter  fortschreiten  und  das  Meinige 
zur  Lösung  der  Frage  beitragen  zu  können,  und  schliesse  mit  der 
Bitte  an  alle  Leser  und  Leserinnen  um '  freundliche  Unterstützung 
zur  Erfüllung  dieser  Aufgabe. 


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VERLAOSWERKE 


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UNION  DEUTSCHE  VERLAQSGESELLSCHAFT 

STUTTGART,  BERLIN,  LEIPZIG. 


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Lichtbild'  Studien . 

Dreissig  Heliogravüren 

nach  Aufnahmen  von 

ALFRED^ENKE^ 

Folio.    In  eleganter  Mappe.    Preis  20  Mark. 

INHAL  T: 
1.  Engadiner  Bäuerin.  —  2.  Morgen  in  San  Martina.  —  3.  Venezianischer 
Muschelhändler.  —  4.  Schloss  am  Meer.  —  5.  Studie.  —  6.  Vorfrühling.  — 
7.  Auf  der  Weide.  —  8.  Italienische  Villa.  —  9.  Studie.  —  10.  Gewitter  in  den 
Bergen.  —  //.  Im  Klostergarten.  —  12.  Erwartung.  —  13.  Studie.  —  14.  Villa 
d^Este.  —  15.  Ave  Maria.  —  16.  Bergsee.  —  17.  Orientalin.  —  18.  Herbstmorgen 
am  Königssee.  —  19.  Bergamaske.  —  20.  Mondnacht  in  Florenz.  —  21.  Bacchan- 
tin. —  22.  Sonntagsfrieden.  —  23.  Bei  der  Arbeit.  —  24.  Mühle  im  Gebirg.  — 
25.  In  der  Kirche.  —  26.  Am  Waldbach.  —  27.  Sehnsucht.  —  28.  Dorfgasse.  — 
29.  Studie.  —  30.  Ein  stiller  Winkel. 


Urteile  der  Presse. 


Der  bekannte  Schriftsteller  J.  C.  Heer  äussert  sich  über  das  Werk  in 
der  „Neuen  Züricher  Zeitung"  wie  folgt: 

Als  die  Kunst  der  Photographie  entdeckt  wurde,  trat  sie  zunächst  jahr- 
zehntelang in  den  Dienst  der  reinen  Wiedergabe  der  Wirklichkeit,  war  sie  ein 
durchaus  naturalistisches  Kunstgewerbe.  In  neuerer  Zeit  aber  hat  sich  zu  der 
stetig  wachsenden  Vervollkommnung  der  technischen  Hilfsmittel  eine  ausser- 
ordentliche Verfeinerung  des  Geschmacks  und  der  Auffassung  gesellt,  welche, 
wie  die  auch  aus  der  Schweiz  viel  besuchte  photographische  Ausstellung  in 
Stuttgart  bewies,  die  Photographie  aus  dem  Rahmen  des  Kunstgewerbes  in  die 
Höhen  der  wirklichen  Kunst  erhebt.  Ein  glänzendes  Zeugnis  dafür  sind  die 
Lichtbild-Studien  Alfred  Enkes  in  Stuttgart,  wahre  Kabinettstücke  der  photo- 
graphischen Kleinmalerei ,  Genres  und  Landschaften,  wie  sie  der  Künstler  auf 
Ferienfahrten  in  Italien ,  den  Schweizer-  und  österreichischen  Alj^en  entdeckt 
hat.  Glückliches  Finden  und  feinfühlige  Wahl  des  Motivs,  Schönheit  der  Be- 
lichtung und  plastische  Modellierung  fesseln  uns,  ob  der  Künstler  das  Figürliche 
oder  Landschaftliche  bevorzugt,  und  Blatt  um  Blatt  überrascht  uns  lebhaft,  wie 
ausserordentlich  fügsam  sich  ihm  die  Technik  erweist.  Graziöse,  pikante  Anmut 
atmet  gleich  der  jugendliche  Frauenkopf  auf  dem  Titelblatt,  realistische  Kraft 
die  alte,  gemütliche  Bäuerin  in  der  dunklen  strengen  Tracht  des  Unterengadins, 
Böcklinsche  Stimmung  das  zerfallende  Schloss  am  Meer  und  die  träumerische 
italienische  Villa  zwischen  Cypressen  und  Lorbeer.  Ob  uns  nun  Enke  einen 
Morgen  in  den  italienischen  Alpen  mit  duftigem  Gebirgshintergrund,  einen  Vor- 
frühlingstag im  lichten  Gehölze,  ein  Tierstück  von  der  Weide,  ein  Gewitter  über 
dem  See  und  Dorf  des  Gebirges,  die  Tonnen,  die  im  Klostergarten  arbeiten, 
den  italienischen  Hof,  in  dem  ein  Mädchen  seinen  Freund  erwartet,  den  herrlichen 
Gartenaufgang  der  Villa  d'Este  oder  den  alten  Pfarrer,  der  auf  einer  Bank 
sitzend  die  Hände  zum  Ave  Maria  faltet,  oder  kokette  junge  Frauenbilder,  eine 
orientalische  Träumerin  mit  sphinxartigem  Ausdruck,  eine  jugendliche  Bacchantin, 
einen  verwitterten  Bergamasken  oder  ein  feines,  schicksalerfahrenes  Mütterchen 
in  der  Kirche  schildert,  haben  alle  Blätter  reiche  Stimmung  und  Poesie  und  ge- 
winnen wie  das  Werk  als  Ganzes  durch  die  überaus  sympathische  Stoffwahl,  durch 
die  reiche  Abwechselung  von  Bild  zu  Bild.  Die  Wiedergabe  der  einzelnen  Stücke 
durch  die  Verlagsanstalt  ist  tadellos  vollkommen,  der  Preis  im  Verhältnis  zum 
Gebotenen  durchaus  billig,  und  wir  denken,  dass  das  schöne  Werk  nicht  nur  bei 
den  Photographen,  die  darin  einen  Triumph  ihrer  Kunst  sehen  müssen,  sondern 
auch  in  kunstfreundlichen  Familien  die  wärmste  Aufnahme  findet  und  ein  her- 
vorragendes Zugstück  des  bevorstehenden  Weihnachtsmarktes  in  den  Kreisen 
wird,  wo  der  Sinn  für  lebensunmittelbare,  doch  poesiereiche  Kunst  zu  Hause  ist. 


....  Die  Reihe  umfasst  zum  grössten  Teil  Landschaftsbilder  aus  Deutsch- 
land, besonders  aus  dem  Hochgebirge,  und  aus  Italien,  Wal dpartieen,  Genrebilder, 
mehrere  schöne  Frauenbilder  (Orientalin,  Bacchantin  und  drei  Studienköpfe), 
Charakterköpfe  von  Landleuten.  Besonders  stimmungsvoll  und  fesselnd  sind  die 
Blätter :     Schloss   am   Meere ;    Vorfrühling  (eine   blätterlose   Birkenwaldpartie) ; 


Italienische  Yilla;  Gewitter  in  den  Bergen-,  Villa  d'Este;  Herbstmorgen  am 
Königssee;  Mondnacht  in  Florenz.  Die  ursprünglichen  photographischen  Auf- 
nahmen müssen  geradezu  unübertrefflich  gelungen  sein;  denn  die  in  der  Kunst- 
anstalt von  Meisenbach,  Riffarth  &  Co.  in  München  hergestellten  Nachbildungen  in 
Heliogravüre  lassen  an  Feinheit  nichts  zu  wünschen  übrig  und  wirken  mit  vollendet 
schöner  Perspektive  oder  treten  wie  zum  Greifen  plastisch  dem  Beschauer  entgegen. 
Die  Grundfarbe  der  Bilder  ist  in  verschiedenartigen  Abstufungen  von  Schwarz, 
Blau,  Braun  und  Rot  gehalten,  wie  sie  für  das  betreffende  Bild  am  günstigsten 
wirkt.  Gedruckt  sind  die  Bilder  auf  feinem  Kupferdruckpapier  in  Folioformat. 
Die  Originalbilder  haben  als  photographische  Kunstblätter  zu  Anfang  dieses 
Jahres,  als  sie  im  Landesgewerbe-Museum  in  Stuttgart  ausgestellt  waren,  all- 
gemein höchste  Bewunderung  erregt.  Kölnische  Zeitung  Nr.  993,  1899. 


....  Hier  haben  Herausgeber,  Verlag  und  Reproduktionskunst  miteinander 
gewetteifert,  um  ein  Werk  zu  publiziren,  das  wir  getrost  in  die  vorderste  Reihe 
der  Kunstgaben  für  das  Fest  stellen  dürfen.  Es  ist  hier  nicht  der  Platz,  auf 
den  eminenten  Werth  solcher  photographischen  Aufnahmen  hinzuweisen,  die 
Jedem,  der  sich  den  Luxus  einer  Gemäldegalerie  nicht  gestatten  kann,  einen 
hohen,  ästhetischen  Genuss  bereiten  werden.  Die  grossen  Fortschritte  unserer 
Amateurphotographen,  die  Alfred  Lichtwark  die  Legitimirung  ihres  Kunstzweiges 
verdanken,  hat  Enke  sehr  gut  verwerthet,  und  daher  präsentiren  sich  uns  denn 
seine  Landschaften,  Porträts,  Stimmungsbilder,  Beleuchtungsstudien  wie  echte 
Kunstwerke.  Aufnahmen,  wie  die  „Erwartung",  „Bacchantin",  „Sonntagsfrieden", 
„Vorfrühling",  können  geradezu  als  vorbildlich  bezeichnet  werden.  So  kann  nur 
ein  Künstler  sehen,  und  in  der  Hand  des  feinen  Künstlers  wird  der  Photographen- 
apparat sozusagen  zur  Palette;  er  erschliesst  uns  ein  Reich  fruchtbarer  künst- 
lerischer Thätigkeit,  während  derselbe  Apparat  in  den  Händen  des  Dilettanten 
nur  selten  und  mehr  zufällig  einmal  ein  künstlerisch  gelungenes  Bild  produziren 
wird.  Den  Amateurphotographen  sei  das  bedeutsame  Werk,  das  übrigens  für 
jeden  Freund  der  Musen   ein  prächtiges   Geschenk  ist,   wärmstens    empfohlen. 

Mänchener  Neueste  Nachrichten  Nr.  554,  1899. 


Wer  sich  mit  der  Entwickelung  der  Photographie  in  Deutschland  während 
der  letzten  zehn  Jahre  beschäftigt,  trifft  immer  wieder  auf  die  Namen  Alfred 
Enke-Stuttgart  und  W.  v.  Gloeden-Taormina.  Bei  beider  Arbeiten,  über  deren 
technische  Vollendung  jedes  Wort  erübrigt,  tritt  das  Streben  nach  bildmässiger 
Wirkung  scharf  hervor,  sie  betrachten  ihre  Kamera  als  ein  wirklich  künstlerisches 
Werkzeug.  Jenes  Bestreben  führt  in  ungeschickten  Händen  nur  allzu  oft,  gelinde 
gesagt,  zu  Trivialitäten,  bei  den  beiden  Meistern  aber  zu  geradezu  erstaunlichen 
Leistungen.  Alfred  Enke  hat  soeben  eine  herrliche  Mappe  von  30  „Lichtbild- 
Studien"  —  nach  seinen  Aufnahmen  in  Heliogravüren  reproduziert  —  bei  der 
Union  Deutsche  Verlagsgesellschaft  in  Stuttgart  erscheinen  lassen ;  die  Sammlung 
enthält  Landschaften,  Architekturstücke,  Studienköpfe  etc.  —  eine  Fülle  des 
Schönen.  Velhagen  und  Klasings  Monatshefte,  Heft  5,  1900. 


Nous  avons  regu  un' süperbe  album  d'heliogravures  de  M.  Alfred  Enke, 
edite  par  1',, Union  Deutsche  Verlagsgesellschaft",  de  Stuttgart.  II  se  compose 
de  trente  planches,  executees  d'apres  des  cliches  photographiques  de  M.  Enke, 
dont  les  sujets  varies  forment  un  ensemble  des  plus  interessants. 

Tous  les  tableaux  sont  composes  avec  goüt  et  denotent  chez  leur  auteur 
un  sentiment  artistique  tres  cultive.  Quand  nous  aurons  dit  que  les  planches 
sortent  des  ateliers  de  la  maison  Meisenbach  de  Munich,  nos  lecteurs  com- 
prendront  toute  la  valeur  artistique  de  cette  belle  publication  de  grand  luxe. 

Bulletin  du  Photo-Club  de  Paris,  Janv.  1900. 


Wer  pliotographische  Aufnahmen  machen  will,  welche  über  die  Erinnerung 
an  Personen  und  Landschaften  hinaus  dauernd  Eindruck  machen  sollen  ,  weil 
sie  die  Schönheit  der  Glestalten,  ergreifende  Stimmungen  darstellen,  der  muss 
die  künstlerische  Bildung  eines  Malers  sich  erworben  haben.  Die  Lichtbildstudien 
verdanken  einem  so  gebildeten  Künstler  ihre  Entstehung.  Mit  scharfer  Beob- 
achtung und  Kenntniss  des  Erreichbaren  hat  der  aus  anderweiter  Thätigkeit 
viel  bekannte  Urheber  das  von  ihm  Aufgenommene  gefunden  und  gefesselt. 
Wer  die  geschmackvoll  verzierte  Mappe  öffnet  und  ein  Bild  angesehen  hat, 
z.  B.  den  Sonntagsfrieden,  der  wird  erst  ruhen,  bis  er  sämmtliche  Bilder  an- 
geschaut hat.  Schwer  ist  es,  Einem  Vorzug  zu  geben,  besonders  aufmerksam 
sei  gemacht  auf  Morgen  in  St.  Martino,  Villa  d'Este,  In  der  Kirche,  Engadiner 
Bäuerin,  Bacchantin  u.  s.  w.  Die  Bildfindung  ist  ein  Meisterstück  des  Urhebers 
Alfred  Enke,  der  sich  damit  in  der  Reihe  der  kunstgebildeten  Photographen 
einen  Platz  gesichert  hat.  Im  In-  und  Auslande  wird  die  Sammlung  die  Auf- 
merksamkeit der  Sachverständigen  auf  sich  ziehen.  Die  Lichtbild-Studien  werden 
ein  Schmuck  eines  jeden  Ausstellungstisches  sein,  bewundert  werden  und,  weil 
sie  andere  Mappen  an  Schönheit  übertreffen,  weite  Verbreitung  finden.  Die 
Heliogravüren  sind  in  der  Kunstanstalt  von  Meisenbach,  Riffarth  &  Co.  (München 
und  Schöneberg-Berlin)  in  bekannter  Meisterschaft  hergestellt. 

Berliner  Börsen-Zeitung  Nr.  547,  1899. 


Durch  dieses  vornehme  Werk  wird  einem  Mangel  abgeholfen,  der  für 
den  seriösen  Photographen  bisher  bestanden  hat,  der  Mangel  einer  Schule  der 
künstlerischen  Photographie,  durch  den  Anschauungsunterricht  nämlich.  Sonst 
bildeten  die  Ausstellungen,  die  Illustrationen  der  Hefte,  die  Jahreszusammen- 
stellungen der  prämiirten  Bilder,  wie  sie  das  „Photogramm"  veranstaltet,  die 
alleinigen  Vorlagen,  die  Jedem  zugänglich  waren.  Jede  derselben  leidet  aber 
an  ihren  besonderen  Nachtheilen,  man  kann  weder  alle  Ausstellungen  besuchen, 
noch  sich  alle  Hefte  halten.  Dazu  kommt  der  Umstand  des  kleinen  Formates 
und  der  meist  groben  Ausführung,  auf  die  die  Hefte  angewiesen  sind.  Deshalb 
begrüssen  wir  mit  Freuden  die  Enke'sche  Mappe  aus  30  Bildern  15x20,  durch 
Heliogravüre  in  der  vornehmsten  Art  ausgeführt  und  ausgestattet.  Dieses  Werk 
beweist  durch  den  Umfang  und  die  Vielseitigkeit,  wie  Grosses  durch  die  Photo- 
graphie zu  erzielen  ist.  Mcht  auf  eine  und  die  andere  Auffassung  der  Natur 
ist  diese  Sammlung  beschränkt.  Sonst  werden  durch  das  Spezialisiren  bedeutende 
Resultate  erreicht.  Der  Meister  arbeitet  sich  einen  Stil  aus,  an  dem  wir  einen 
Kühn  oder  einen  Hinton  beim  ersten  Blick  erkennen.  Die  Vielseitigkeit  aber, 
welche  Enke  eigen  ist,  glauben  wir  bei  keinem  Anderen  zu  finden.  Jedes  Bild 
ist  originell,  jedes  erschliesst  neue  Möglichkeiten  der  photographischen  Kunst. 
Bei  der  Photographie  kommt  in  erster  Reihe  die  Auffassung  und  dann  wieder 
die  Auffassung  und  dann  nochmals  die  Auffassung.  Diese  Gabe  ist  bei  Enke 
Genie.  Das  Werk  kennzeichnet  den  Stand  der  künstlerischen  Photographie^ 
wie  sie  namentlich  von  Malern  aufgefasst  wird.  Die  Bilder  zeichnen  sich  alle 
durch  die  Directheit,  durch  die  Empfindung  für  die  malerischen  Momente  und 
durch  die  volle  Verwerthung  derselben  bei  Vermeidung  störender  Momente  aus, 
sowie  durch  technische  Vollendung.  Das  Werk  darf  in  keinem  Verein,  keiner 
Photo-Bibliothek  fehlen.  Für  den  Preis  von  vier  Kartons  13x18  Platten  ver- 
schafft sich  jeder  Photograph  die  Anleitung  zu  einem  zielbewussten  Vorgehen, 
wodurch  er  nicht  allein  den  Geschmack  erzieht  und  sich  die  Mittel  zur  dauernden 
Befriedigung  beschafft,  sondern  sich  auch  Hunderte  von  werth losen  Aufnahmen 
erspart.    Mit  einem  Worte,  es  zeigt  ihm,  wie  er  sehen  und  was  er  festhalten  soll. 

Der  Amateiir-Photograph,  December  1899. 


Yerlag-  yon  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 

Die  Frauen  auf  Java. 

Von 

Dr.  C.  H.  Stratz. 

Eine  gynäkologisclie  Studie.    Mit  41  Abbildungen  im  Text. 

gr.  8.     1897.     geh.     M.  5.- 

stratz  hat  in  dem  vorliegenden  Werke  einen  wichtigen  Beitrag  zu  unseren  Kennt- 
nissen von  den  Naturvölkern  geliefert ,  der  nicht  nur  praktischen  Werth  für  die  medlcinische 
Behandlung  der  Naturvölker  hat,  sondern  auch  vom  anthropologischen  Standpunkte  aus  neue 
Einblicke  in  das  Leben  der  Naturvölker  gestattet. 

Correspondenzbl.  d.  deutsch.  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie  w.  Urgeschichte  1898. 

In  diesem  Buche,  das  er  bescheiden  eine  Studie  nennt,  giebt  S.  nicht  etwa  einen  trockenen 
Rechenschaftsbericht  über  seine  mehr  als  5jährige  Thätigkeit  auf  Java,  das  er  als  ei-ster  ge- 
schulter Gynäkologe  betrat;  vielmehr  werden  in  stets  anziehender  Sprache  auch  kulturhistorische 
und  ethnographische  (rassen-anatomische)  Fragen  ventilirt.  Centralbl.  f.  Gytiäkologie.  1898. 


Die  sociale  Frage 
im  Lichte  der  Philosophie. 

Vorlesungen  über  Socialphilosophie  und  ihre  Geschichte. 

Von 

Professor  Dr.  Ludwig  Stein. 

gr.  8.    1897.    geh.  M.  16.—,  eleg.  geb.  M.  18.50. 

Die  philosophische  Beleuchtung,  in  welche  Professor  Stein,  der  bekannte  Herausgeber 
des  „Archiv  für  Philosophie",  die  „sociale  Frage"  rückt,  hellt  die  bereits  zurückgelegte  Weg- 
strecke der  socialen  Entwicklung  des  Menschengeschlechts  auf  und  deutet  die  Richtung  an ,  in 
welcher  sich  die  vorgeschrittene  Menschheit  nach  wissenschaftlicher  Voraussicht  social  weiter 
bewegen  dürfte. 

Als  Philosoph  steht  Prof.  Stein  allem  Parteigetriebe  fern;  er  untersucht  nur  „das  dem 
politischen  Kräftespiel  des  Augenblickes  zu  Grunde  liegende  Beharrende  und  Generelle:  die 
ewigen  Interessen  der  menschlichen  Gattung". 

Das  umfassende ,  aus  akademischen  Voi-lesungen  hervorgegangene  Werk  zerlegt  seinen 
Stoff  in  drei  Gruppen.  Die  ersten  vier  Kapitel  charakterisiren  das  Problem,  den  augenblicklichen 
Stand  und  die  Methoden  der  philosophischen  Behandlung  der  „socialen  Frage".  Im  ersten 
Abschnitt  werden  alsdann  die  „Urformen  des  Gemeinschafts-  und  Gesellschaftslebens"  untersucht. 
Dem  augenblicklichen  Stande  der  Sociologie  gemäss  werden  hier  in  acht  Kapiteln  die  Anfänge 
von  Familie,  F.igenthum,  Gesellschaft,  Staat,  Sprache,  Recht,  Religion,  Kunst  und  Wissenschaft 
geschildert  und  aus  der  Aufdeckung  des  Ursprungs  aller  Formen  menschlichen  Zusammenlebens 
und  Zusammenwirkens  philosophisch  werthvolle  Schlüsse  für  unser  künftiges  sociales  Verhalten 
abgeleitet.  Der  zweite  Abschnitt  bietet  in  zwanzig  Vorlesungen  eine  Geschichte  der  Social- 
philosophie. Es  ist  dies  der  erste  deutsche  Versuch  einer  geschichtlichen  Erfassung  der  social- 
philosophischen  Probleme  von  der  Antike  ab  bis  in  unsere  Gegenwart  hinein.  Ein  sorgfältiges 
Litteraturverzeichnlss  orientirt  den  Leser  über  alle  ernstlich  in  Betracht  kommenden  Special- 
arbeiten der  jeweilig  behandelten  Epoche. 

Der  dritte  Abschnitt  endlich  (S.  511  — 792)  enthält  in  acht  Vorlesungen  die  Grundzüge 
eines  Systems  der  Socialphilosophie.  Hier  werden  die  Grundfragen:  Individuum,  Gesellschaft, 
Staat  präcisirt,  die  Wandlungsformen  des  Eigenthumsbegriffs  kritisch  erörtert,  und  in  einem 
Rechtsso  cialismus  (S.  598  — G60)  die  Lösung  des  Problems  gefunden,  wobei  die  Scheidlinie 
zwischen  Socialref  ornaern,  denen  sich  der  Verfasser  beizählt,  vind  Socialdemo  kr  aten 
(S.  648)  scharf  markirt  hervortritt.  Wie  das  Recht  müssen  auch  Religion,  Moral,  Kunst,  Wissen- 
schaft und  Ei'ziehung  socialisirt  werden.  Das  ganze  Buch  mündet  in  einen  socialen  Optimismus 
aus,  der  sich  als  nothwendiges  Resultat  des  vom  Verfasser  streng  innegehaltenen  evolutionistischen 
Standpunktes  von  selbst  ergibt. 

Der  Verfasser  vermeidet,  soweit  möglich  imd  thunlich,  philosophische  Kunstausdrücke; 
er  schreibt  klar  und  gemeinverständlich.  Das  vornehm  ausgestattete  Buch  wird  jedem  gebildeten 
Paus  eine  willkommene  Gabe  sein. 


Yerlag  von  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 

Die  Frau  als  Mutter. 

Schwangerschaft,  Geburt  und.  Wochenbett,  sowie  Pflege  und  Ernährung 

der  Neugeborenen  in  gemeinverständlicher  Darstellung. 

Von  Dr.  Hans  Meyer, 

Docent  für  Geburtshülfe  und  Frauenkrankheiten  in  Zürich. 
Zweite  Auflage,     kl.  8.     1900.     geh.  M.  3.60,   in  Leinwand  gebunden  M..4.20. 

Das  ist  ein  treffliches  Buch,  welches  der  bekannte  Zürcher  Gynäkologe  den  jungen 
Frauen  auf  den  Weihnachtstisch  legt.  Auf  eine  Einleitung ,  welche  ein  feines  psychologisches 
Verständniss  der  Seele  des  Weibes  beurkundet,  folgen  drei  Abschnitte:  I.  Verlauf  von  Schwanger- 
schaft, Geburt  und  Wochenbett.  II.  Diätetik  und  Leitung  der  Schwangerschaft,  der  Geburt  und 
des  Wochenbettes.  III.  Die  Pflege  und  Ernährung  der  Neugeborenen.  —  Ueberall  schöpft  der 
Verfasser  aus  reicher  eigener  Erfahrung,  und  die  schwere  Kunst,  den  umfangreichen  Stoif  ein- 
zudämmen und  allerorts  allgemeinverständlich  zu  sein,  hat  er  ausgezeichnet  verstanden.  Man 
vermisst  nichts  Wesentliches  und  findet  nichts  üeberflüssiges.  Einige  Kapitel,  wie  der  Abschnitt 
„Das  Nichtbeachten  des  Schreiens  als  Erziehungsmittel"  und  die  Predigt  über  das  Ammenwesen, 
richtiger  —  Unwesen,  sollten  laut  aller  Welt  verkündigt  werden.  Das  Buch  kann  jeder  jungen 
Familie  ein  zuverlässiger  Rathgeber  sein.         Correspondenzbl.  f.  Schweizer  Aerzte,  1899,  Nr.  24. 

ETHIK. 

Eine  Untersuchung  der  Thatsachen  und  Gesetze  des  sittlichen  Lebens. 
Von  Wilhelm  Wundt. 

Z-^;^ei+e    ■u.m.gea.xloeiiete    ,A.iafla.ge_ 

gr.  8.    1892.    geh.  M.  15.— 

Aberglaube  und  Zauberei 

von  den  ältesten  Zeiten  bis  auf  die  Gegenwart. 
Von  Dr.   Alfr.  Lehmann. 

Deutsche  autorisierte  Ausgahe  von  Dr.  Petersen. 

Mit  75  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen,     gr.  8.    1898.    geh.    M.  12. — 
in  Leinwand  geb.  M.  13. — 

Inhal  t: 

Einleitung:  Das  Verhältnis  des  Aberglaubens  und  der  jMagle  zu  Keligion  und  Wissen- 
schaft. —  Aberglaube  und  Zauberei  bei  den  wilden  Völkern. 

I.Abschnitt.  Die  Weisheit  der  Chaidäer  und  ihre  Entwicklung  in  Europa. 
Die  Chaidäer.  —  Die  Griechen  und  Körner.  —  Die  Hebräer.  —  Die  ersten  christlichen  Jahr- 
hunderte. —  Die  Nordländer  und  Finnen.  —  Das  Mittelalter  bis  zum  Beginn  der  Hexenprozesse.  — 
Das  Teufelsbündnis  und  die  Hexensabbate.  —  Die  Blüte  und  der  Verfall  der  Magie. 

II.  Abschnitt.  Die  Geheimwissenschaften.  —  Das  Verhältnis  der  gelehrten  Magie 
zur  Zauberei  des  Volkes.  —  Die  heilige  Kabbala.  —  Der  Ursprung  der  Geheimwissenschaften.  — 
Die  gelehrten  Magier  vor  Agrippa.  —  Agrippa  und  die  okkulte  Philosophie.  —  Die  einzelnen 
magischen  Wissenschaften.  —  Magia  naturalis.  — •  Die  Popularisierung  der  Wissenschaften. 

III.  Abschnitt.  Der  moderne  Spiritismus  und  Okkultismus.  —  Die  Vor- 
geschichte des  modernen  Spiritismus.  —  Das  Auftreten  des  Spiritismus  in  Amerika.  —  Die 
Verbreitung  des  Spiritismus.  —  Die  dialektische  Gesellschaft.  —  Crookes  und  die  psychische 
Kraft.  —  Zöllner  und  die  vierdimensionalen  Wesen.  —  Theosophie  und  Fakirismus.  —  Der 
Spiritismus  im  letzten  Dezennium. 

IV.  Abschnitt.  Die  magischen  Geisteszustände.  —  Der  Mensch  als  Centrum  der 
magischen  Kräfte.  —  Das  menschliche  Beobachtungsvermögen.  —  Die  Bedeutung  der  Beobach- 
tungsfehler für  den  Aberglauben.  —  Zitterbewegung  und  deren  magische  Wirkungen.  —  Schlaf 
und  Traum.  —  Die  Bedeutung  der  Träume  für  den  Aberglauben.  —  Das  Nachtwandeln.  —  Das 
Eingreifen  des  TJnbewussten  in  das  Bewusstsein,  —  Die  normale  Suggestibilität.  —  Hypnose  und 
Autohypnose.  —  Die  magischen  Wirkungen  der  Narkosen.  —  Hysterie  und  Hysterohypnose.  — 
Technische  Hilfsmittel  der  Magie.   —  Schluss.  —  Litteraturverzeichnis. 

Das  Werk  ist  schon  während  des  Erscheinens  als  Lieferungs-Ausgabe  von  der  gesamten 
Presse  als  eine  vortreffliche  zusammenfassende  Darstellung  dieses  grossen  Gebietes  mensch- 
licher Irrungen  auf  das  wärmste  begrüsst  worden.  Vermöge  der  licht-  und  geistvollen,  dabei 
gemeinverständlichen  and  anregenden  Darstellung  wird  Lehmanns  „Aberglaulie  und  Zauberei" 
von  jedem  Freund  einer  ernsteren  Bildungslektüre  mit  Genuss  gelesen  werden. 


Yerlag  von  FERDINAND  ENKE  in  Stuttgart. 

Grundriss  der  Anatomie  für  Künstler. 

Von  Prof.  M.  Duval. 
Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  med.  F.  Neelsen. 

Autorisirte  deutsche  Uebersetzung.    Mit  77  Holzschnitten. 

8.     1890.     geh.  M.  6.—,  in  Leinwand  geb.  M.  7.— 

Kin  auch  von  der  deutschen  Presse  warm  empfohlener,  an  den  verschiedensten  Kunstakademien 
eingeführter  Leitfaden,  der  mit  knapper  Fassung  lebhafte,  anregende  Darstellungs weise  verbindet. 

Aesthetik  der  Natur. 

Von  Ernst  Hallier. 

Für  Künstler,  Naturkundige,  Lehrer,  Gärtner,  Land-  nnd  Porstwirthe,  Eeisende, 
Geistliche,  sowie  für  Freunde  der  Natur  überhaupt  ausgearbeitet. 

Mit  109  Holzschnitten  und  6  Utliographirten  Tafeln. 
gr.  8.     1890.     geh.  M.  10.—,  eleg.  in  Leinw.  geb.  M.  11.— 

Kulturgeschichte  der  Menschheit 

in  ihrem  organischen  Anfban. 

Von  Julius  Lippert. 
Ztvei  Hände, 

gr.  8.    geb.    1886  u.  1887.    Preis  M.  20.—,  eleg.  geb.  M.  25.— 

Inhalt: 
Einleitung.  —  Die  Lebenslursorge  als  Prinzip  der  Kulturgeschichte.  —  Die 
Urzeit,  —  Ausblick  auf  die  Verbreitung  der  Menschheit.  —  Die  ersten  Fort- 
schrittsversuche der  Lebensfürsorge.  —  Die  Zähmung  des  Feuers.  —  Die  Fort- 
schritte des  Werkzeugs  als  Waffe.  —  Ausblick  auf  die  Entwickelung  differenzierter 
Geräte.  —  Fortschritte  der  Speisebereitung.  —  Fortschritte  des  Schmuckes  und 
der  Kleidung  und  ihr  sozialer  Einfluss.  —  Der  beginnende  Anbau  und  die  Ver- 
breitung der  jüngeren  Völker  in  Europa.  —  Das  Nomadentum  und  die  Ver- 
breitung der  Zugtiere.  —  Die  Nahrungspflanzen  im  Gefolge  der  Kultur.  —  Die 
Genussmittel  engeren  Sinnes  und  ihre  kulturgeschichtliche  Bedeutung. 

Lipperts  leitender  Grundgedanke  ist,  die  Lebensfürsorge  als  das  treibende 
Agens  in  der  Entwickelung  der  menschlichen  Kultur  anzusehen;  er  geht  von  dem 
Grundsatz  aus:  unsre  Bedürfnisse  sind  unsre  treibenden  Kräfte,  und  von  diesem  Ausgangs- 
punkte aus  deduziert  er  in  streng  logischer,  von  echt  philosophischem  Geiste  getragener  Welse 
den  ganzen  Aufbau  unsrer  Kultur.  In  der  geistvoll  klaren  Einleitung  zeichnet  er  uns  den  TJi-- 
menschen,  so  wie  er  sich  uns  noch  im  Wilden  der  heutigen  Welt  darstellt,  als  ein  Wesen,  welches 
beinahe  ohne  Phantasie  und  Gedächtnis  auch  den  erschütterndsten  Naturerscheinungen  seiner  Um- 
gebung im  ganzen  fast  gleichgültig  gegenüberstand  und  die  höchsten  Glieder  der  Tierwelt  nur  um 
weniges  überragte.  Die  an  den  Urmenschen  herantretenden  Anforderungen  der  Lebensfürsorge 
weckten  in  dem  Menschen  Thätigkeiten,  welche  zunächst  als  unbewusst  vorhandene  „Reflex- 
bewegungen" sich  geltend  machten,  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  fortpflanzten,  sich  mit  der 
Zeit  anhäuften,  und  so  den  „vererbten  Instinkt"  bildeten.  Die  Lebensfürsorge  oder  der  Darwinische 
Kampf  ums  Dasein  führte  zur  Erweckung,  Entwickelung  und  allmählichen  Vervollkommnung  der 
Geisteskräfte  des  Menschen,  welche  uns  so  hoch  über  alle  andern  Glieder  der  organischen  Schöpfung 
erheben.  Aus  der  Sorge  für  das  Notwendigste  entstand  die  Sorge  für  das  Nützliche,  dann  für 
das  Angenehme;  aus  Eitelkeit  und  wirklichem  Bedürfnis  entstand  die  Sorge  für  Kleidung,  Nah- 
rung und  Obdach,  aus  der  Not  das  sittliche  und  das  Pflichtgefühl,  die  Schamhaf tigkeit ,  die 
Eechtsbegrifle,  die  Idee  der  Religion,  die  Fürsorge  für  die  Zukunft,  der  Mensch  wurde  erfinde- 
risch und  haushälterisch  und  er  lernte  sich  den  Anforderungen  anbequemen,  welche  das  einfache 
physische  Dasein  an  ihn,  den  Wehrlosen  und  Schwächeren,  machte.  So  entstanden  in  ihm  Er- 
innerungsvermögen oder  Gedächtnis,  Ideen,  Vorstellungen,  Gewohnheiten,  Begriffe,  Sprache  u.  s.  w. 
Dies  ist  der  Entwickelungsgaug  der  Kultur,  wie  ihn  Lippert  mit  logischer  Schärfe  und  in  echt 
philosophischem  Geiste  schildert,  und  zwar  in  so  streng  logischem  Gedankengang,  in  solcher 
Klarheit  und  Fasslichkeit ,  dass  jeder  Denkende  und  Strebsame  auch  ohne  philosophische  Vor- 
bildung seinen  Ideen  und  Darlegungen  mit  höchstem  Interesse  zu  folgen  vermag.  Lipperts 
Buch  ist  ein  Werk  ersten  Ranges  von  höchstem  Interesse  und  grösster  Lehr- 
haftigkeit  für  jeden  Gebildeten.  {Ausland  1886.  Nr.  24.)