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Full text of "Die Slawen in Deutschland; beiträge zur volkskunde der Preussen, Litaurer und Letten, der Masuren und Philipponen, der Tschechen, Mägrer und Sorben, Polaben und Slowinzen, Kaschuben und Polen"

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■Barbar!)  (College  S-töran? 


BOUGHT   WITH    INCOME 


THOMAS   WREN   WARD 


'he  ium  of  $5000  was  received  in   1858, 

"  tbe  income  lo  be  annually  expended 

lor  (he  puichase  ol  books." 


► 


1 


DIE 


VXSLAWEN  IN  DEUTSCHLAND 


BEITRÄGE  ZUR  VOLKSKUNDE 


DER 


PREUSSEN,    LITAUER   UND    LETTEN,    DER    MASUREN 

UND  PHILIPPONEN,  DER  TSCHECHEN,  MÄHRER  UND  SORBEN, 

POLABEN  UND  SLOWINZEN,  KASCHUBEN  UND  POLEN 


Von 


Dr.  FRANZ  TETZNER 


MIT    215    ABBILDUNGEN,    KABTEN    UND    PLÄNEN, 
SPBAGHFBOBEN  UND   15   MELODIEN 


BRAUNSCHWEIG 

DRUCK  UND  VERLAG  VON  FRIEDRICH  VIEWEG  UND  SOHN 

1902 


kvf-  n Z^ 


Alle  Rechte,  namentlich  dasjenige  der  Übersetzung  in  fremde  Sprachen, 

vorbehalten 


Dem  Gedächtnis  der  Meinen: 

seit 

Peter  Teczner 

(1352,  1365,  1367),  Rathsherr   und  Mitstilter  der  Leprosen-Kapelle  in  Chemnitz, 

Paul  Tezner 

(1602  —  1666)  zu  Bernsdorf 
und 

Johann  August  Tetzner 

(1793—1866),  Freiheitskämpfer  und  Chronist,  Bürger  von  Werdau. 


VORWORT. 


Mit  zwei  Völkergruppen  haben  die  Deutschen  in  lebhafter 
Wechselwirkung  gestanden,  mit  den  Romanen  und  mit  den  Slawen. 
Wie  sich  das  erstemal  geschichtlich  die  deutsche  Bildung  selbst- 
ständig machte  und  aus  der  römischen  siegreich  herauslöste,  habe 
ich  in  dem  Werke  darzuthun  versucht:  „Geschichte  der  deutschen 
Bildung  und  Jugenderziehung  von  der  Urzeit  bis  zur  Errichtung 
von  Stadtschulen"  *). 

Die  andere  Schnittlinie  zweier  Kulturen,  der  deutschen  und 
slawischen,  beginnt  zeitlich  etwa  da,  wo  die  römische  aufhört, 
und  hat  ihr  Ende  noch  nicht  erreicht.  Unserem  grofsen  Vater- 
lande gehören  eine  Anzahl  Volksteile  und  Völkersplitter  an,  die 
ihm  im  Laufe  der  Geschichte  eingegliedert  wurden  und  die  eine 
besondere  Eigenart  entwickelt  und  ihre  alte  Sprache  erhalten 
haben.  Das  Volkstum  dieser  Stämme  zu  erforschen,  war  seit 
Jahren  meine  Aufgabe;  die  Früchte  waren  u.  a.  die  Werke  „Die 
Slowinzen  und  Lebakaschuben"  und  „Dainos"  l). 

Nun  giebt  es  wohl  einige  brauchbare  Werke  über  deutsche 
Volkskunde,  ein  solches  über  die  Slawen  in  Deutschland  fehlt 
aber.  Diese  Lücke  will  das  vorliegende  Werk  ausfüllen.  Es  ist 
heute  noch  nicht  möglich,  jeden  Volksteil  gleichmäfsig  oder  inner- 
halb der  Gesamtheit  in  allen  volkstümlichen  Beziehungen  zur 
Darstellung  zu  bringen,  da  fehlen  allzu  viel  Vorarbeiten.  So  ist 
beispielsweise  von  dem  geschichtlich,  konfessionell  und  mundart- 
lich so  vielfach  gegliederten  Polenvolke  noch  keine  ähnliche 
deutsche  Einzelarbeit,  wie  etwa  die  über  die  Litauer,  Sorben, 
Slowinzen,  erschienen;  ja  nicht  einmal  die  Anfänge  dazu  sind 
vorhanden.    Oder   es  ist  noch  nicht  versucht  worden,   einzelne 

*)  Vgl.  8.  519,  520. 


VIII  Vorwort. 

volkstümliche  Erscheinungen  bei  den  Slawen  auf  Herkunft,  Ver- 
bindung, Verwandtschaft,  Geschichte  zu  prüfen,  wobei  sich  oft 
herausstellen  würde,  dafs  solche  Eigenarten  oftmals  nur  erstarrte 
deutsche  oder  allgemeine  Gebräuche  sind.  Alle  derartigen  Arbeiten 
würden  als  Vorstufen  einer  grofsen  slawischen  Volkskunde  nötig 
sein,  die  zu  schreiben  hier  nicht  in  meinem  Sinne  lag.  Ich  wollte, 
auf  Grund  eigener  Anschauung  bei  allen  slawischen  Völkern,  zu- 
nächst das  Volkstümliche  schildern,  was  mir  in  die  Augen  sprang. 
Ein  gleichmäfsiges  Erschöpfen  der  Volkskunde  aller  Volksteile 
lag  weder  in  meiner  Aufgabe,  noch  in  dem  mir  zugemessenen 
Räume.  Man  wolle  im  Titel  das  Wörtchen  zur  nicht  vergessen. 
Baumgründe  verboten  auch  die  Aufnahme  einer  gröfseren  ge- 
schichtlichen Einleitung,  einiger  älterer  ethnographischer  Berichte 
und  die  ausfuhrliche  Behandlung  einiger  anderer  Stücke,  beson- 
ders bei  den  Litauern,  Sorben  und  Polen.  Trotz  der  Abkürzungen 
mufste  ich  den  freundlichst  zugestandenen  Raum  doch  noch  über- 
schreiten und  danke  dem  Verlag  für  sein  Entgegenkommen,  wie 
für  die  dem  Werke  gegebene  Ausstattung. 

Wegen  der  öfter  ungleichmäfsigen  Schreibung  der  slawischen 
Worte  bitte  ich  um  Nachsicht;  hoffentlich  nimmt  sich  die  deutsche 
Rechtschreibung  einmal  u.  a.  jener  ostdeutschen  Ortsnamen  an  und 
duldet  nicht  slawische  Lautwerte,  unbegründete  Dehnungen  u.  a. 

Jene  Studien  sind  mir  eine  Quelle  reiner  Freude  gewesen, 
das  Suchen,  Tasten  und  Finden  mit  allen  Schwierigkeiten  und 
Erfolgen.  Vielleicht  leiste  ich  der  Volkskunde  unseres  Vater- 
landes einen  Dienst,  wenn  ich  ihren  Freunden  diese  Studien  über- 
gebe. Wer  an  meinem  Buche  etwas  zu  ergänzen,  zu  berichtigen 
oder  anzudeuten  weifs,  den  bitte  ich  um  Mitteilung,  damit  mir 
nichts  entgeht,  was  zu  wissen  nötig  ist 

Die  Ausarbeitung  begann  1895  und  ward  Mitte  1900  ab- 
geschlossen; einzelne  Nachträge  konnten  während  des  Druckes 
eingeschoben  werden. 

Leipzig,  Nordstrafse  53  I,  im  Oktober  1901. 

Dp.  Franz  Tetzner. 


IN  HALTSVERZEICHNIS. 


•• 


Seite 

Einleitung.    Übersicht  über  die  Slawen  in  Deutschland 1 —    4 

Literatur  1.    Geschichtliches  2.    Tabelle  3.    Karte  der  Slawen 
in  Deutschland  4. 

Die  baltischen  Volksstamme  in  Deutschland. 

(Altpreufsen,  Litauer,  Letten) 5 — 178 

Die  Preufsen 7 —  23 

Literatur 7 —    8 

I.  Geschichte 8—15 

II.  Sitten  und  Gebräuche 15 —  23 

Das  preufsische  Vaterunser 23 

Die  Litauer 24—112 

Literatur 24 —  25 

I.  Sprachgebiet 25 —  86 

II.  Geschichte 36 —  49 

III.  Christian  Donalitius  und  die  litauische  Literatur  ....  49 —  65 

1.  Donalitius  und  seine  Nachfolger  49.  2.  Dainos  57. 
3.  Sprichwörter  63. 

IV.  Die  Maldininker 65—  74 

V.  Feste  und  Spiele 74—  88 

1.  Talkos  74.  2.  Jahres-  und  Familienfeste  79. 
3.  Spiele  85. 

VI.  Sinnen  und  Sagen 88—  94 

1.  Glaube  und  Aberglaube  88.  2.  Träume  und  Vor- 
ahnungen 94. 

VII.  Geräte      94—101 

VIII.  Hausbau 101—112 

1.  Das  Wohnhaus  101.  2.  Das  Gehöft  104:  A.  Wohn- 
haus 106,  B.  Speicher  106,  C.  Keller  109,  D.  Bauchhaus 
109,  £.  Badestube  110,  F.  Flachstrockengestell  111, 
G.  Scheune  111,  H.  Futterraum  111,  J.  Stall  112. 

Litauische  Sprachproben  (Vaterunser,  Donalitius,  Daina)  .  112 


Die  Kuren  (Letten) 113—178 

Literatur 113 

I.  Geschichtliches 113—124 

II.  Gebiet 124—135 

III.  Haus  und  Hof 136—148 


X  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

IV.  Beschäftigung 148—154 

Landbau  148.    Krähenfang  149.    Fischfang  150. 

V.  Feste  und  Feierlichkeiten 154—162 

Sonn-  und  Wochentag  154.     Geburtstag  157.    Hoch- 
•      zeit  158.    Begräbnis  160.    Kirchenfeste  160. 

VI.  Aberglaube 162—165 

Heilung  162.     Feldglück  164.     Fischglück  164. 

VH.  Charakter 165—167 

VIII.  Sagen,  Lieder  und  Sprüche  aus  dem  preufsischen  Lett- 
lande   167—178 

A.  Sagen  167.  B.  Sprachliches  168.  0.  Deutsche 
Lieder  168.  D.  Litauische  Lieder  171.  E.  Lettische 
Lieder  176.  F.  Kurische  Sprichwörter  177.  G.  Das 
lettische  Vaterunser  177. 

Die  westslawischen  YoUtsstämme  in  Deutschland, 

(Masuren,  Philipponen,  Tschechen,  Mährer,  Sorben,  Polaben, 

Slowinzen,  Kaschuben,  Polen) 179 — 499 

Die  Masuren 181—211 

Literatur 181 

I.  Das  masurische  Sprachgebiet  in  Deutschland 181 — 186 

II.  Zur  Geschichte  der  Masuren 186 — 188 

IIL  Masurische  Wanderungen 188 — 211 

IV.  Das  masurische  Vaterunser 211 

Die  Philipponen 212 — 248 

Literatur 212 

I.  Geschichte 212 — 218 

II.  Besiedelung 218 — 220 

1.  Anbau  218.     2.  Beschäftigung  219. 

m.  HauB  und  Hof 220—239 

1.  Haus  und  Hof  220.  2.  Klöster  226.  3.  Kirchhöfe 
227.    4.  Kirchen  231.    5.  Dörfer  234. 

IV.  Gebräuche 239—244 

1.  Kleidung  239.  2.  Taufe  240.  3.  Hochzeit  241. 
4.  Begräbnis  242.  5.  Beichte  242.  6.  Feste  248.  7.  Unter- 
schiede von  der  russischen  Kirche  244. 

V.  Geistiges  Leben 244 — 248 

1.  Charakter  244.     2.  Geschichten  245.     3.  Lieder  247. 
VI.  Philipponisches  Vaterunser 248 

Die  Tschechen 249—270 

Literatur 249 

I.  Zur  Geschichte  der  Tschechen  und  ihrer  Siedelungen  .  .  249 — 258 
1.  Die  Tschechen  in  Deutschland  249.  2.  Hummels- 
herrschaft 250.  3.  Hussitische  Kolonieen  250.  4.  Sachsen- 
gänger 250.  5.  Katholische  Tschechen  251.  6.  Evangeli- 
sche Tschechen  254 :  a)  Straufseney  254,  b)  Hussinetz  255, 
c)  Grofsfriedrichstabor  257,  d)  Friedriohsgrätz  257,  e)  Peters- 
grätz  258,  f)  Eatibor  258. 

II.  Sitten  und  Gebräuche 258—262 

1.  Hochzeit  258.      2.  Taufe  259.       3.  Begräbnis  259. 
4.  Weihnachten  260.      5.   Ostern  261.      6.  Pfingsten  und 


Inhaltsverzeichnis.  XI 

Seite 
andere   Feste   261.      7.   8piele  262.      8.   Hussitische  Ab- 
weichungen 262. 

HI.  Haus 263—266 

1.  Hausbau  263.     2.  Gerät  und  Zierat  264. 

IV.  Volksdichtung 266—270 

1.  Volkslieder  266.  2.  Tschechische  Sprichwörter  und 
Redensarten     aus     dem     Kirchspiele     Tscherbeney    268. 

3.  Geister  270. 

V.  Tschechisches  Vaterunser 270 

Die  Mährer 271—281 

Literatur 271 

I.  Zur  Geschichte  des  Volkes  und  seiner  Siedelungen  .    .    .  271 — 275 

IL  Sitten  und  Gebräuche 275—279 

1.  Fastenzeit  275.  2.  Karwoche  276.  3.  Ostersonntag 
276.     4.  Ostermontag  276.     5.  Osterdienstag  276.     6. 1.  Mai 

276.  7.  Pfingsten  276.     8.  Johannistag  277.     9.  Kirmes 

277.  10.  Weihnachten  277.  11.  Bpiphaniasfest  277. 
12.  Hochzeit  277.  13.  Kindtaufe  278.  14.  Todesfälle  278. 
15.  Kinderspiele  279. 

III.  Wohnung,  Kleidung,  Kunst,  Volksglauben 279 — 281 

1.  Häuser  279.     2.  Kleidung  280.     3..  Volkskunst  280. 

4.  Grabschmuck  280.     5.  Volksglaube  281. 

IV.  Mährisches  Vaterunser 281 

Die  Sorben 282—344 

Literatur 282—283 

I.  Sprachgebiet 283—294 

H.  Dorf  und  Gehöft 294—305 

in.  Kleidung 305—810 

IV.  Götter  und  Geister 310—313 

V.  Sitten  und  Gebräuche 313—340 

1.  Hochzeit  313.  2.  Taufe  324.  3.  Krankheit  und 
Begräbnis  325.  4.  Ostern  331.  5.  Pfingsten  382.  6.  Weih- 
nachten 333.  7.  Ernte  333.  8.  Spinnstuben  335.  9.  Allerlei 
Glaube  338.     10.  Segenbriefe  340. 

VI.  Musik,  Tanz  und  Gesang,  Lied  und  Spruch 340—345 

VII.  Das  sorbische  Vaterunser 345 

Die  Polaben 346—387 

Literatur 346—347 

I.  Sprachgebiet 347—350 

IL  Siedelung 350—361 

1.  Geschichte  850.  2.  Dorf  anläge  352.  3.  Gehöft  355. 
4.  Hausinschriften  357. 

III.  Kleidung  und  Gerät 361—368 

IV.  Feste  und  Gebräuche ...  368—386 

1.  Hochzeit  368.  2.  Krankheit  und  Begräbnis;  Aber- 
glauben 374.  3.  Geburt  und  Taufe  379.  4.  Kirchliche 
Feste  380.  5.  Dorffeste  382.  6.  Allerlei  Aberglaube  in 
Haus  und  Feld  385. 

V.  Polabisches  Vaterunser 386—387 


XII  Inhalts  Verzeichnis. 

Seite 

Die  Slowinzen 388—440 

Literatur 388 — 389 

I.  Sprachgebiet 389 — 391 

IL  Geschichte 391—403 

III.  Die  Klucken 403—437 

1.  Lage  and  Umgebung  403.  2.  Ortsgeschiohte  405. 
3.  Haus  und  Hof  408.  4.  Beschäftigung  415.  5.  Charakter 
420.  6.  Kleidung  422.  7.  Alltagsleben  423.  8.  Gerät, 
Zierat  424.  9.  Volkslieder  und  Spruchdichtung  426. 
10.  Sagen  und  Märchen  430.  11.  Aberglauben,  Sitten  und 
Gebräuche  431.    Familienfeste  432. 

IV.  Sprachliches 437—440 

V.  Slowinzisches  Vaterunser 440 

Die  Kaschuben 441 — 468 

Literatur 441 

I.  Sprachgebiet 441—445 

II.  Geschichte 445—450 

III.  Wohnung,  Beförderung,  Kleidung 450—457 

Boden  450.    Haus  450.    Beförderung  455.   Kleidung  455. 

IV.J^amilienfeierlichkeiten 458 — 462 

Hochzeit  458.  Kindheit  und  Taufe  461.  Krankheit 
und  Tod  461. 

V.  Aberglaube  und  Gebräuche      462—465 

Geister  462.  Glück,  Unglück,  Zukunft  462.  Advents- 
zeit 463.  Osterzeit  464.  Johannisfest  464.  Tanz  und 
Spiel  464.     Gerät  464. 

VI.  Kaschubische  Sprichwörter  und  Lieder 466 — 468 

VII.  Kaschubisches  Vaterunser 468 

Die  Polen 469—499 

Literatur 469—470 

L  Sprachgebiet 470 — 474 

II.  Zur    Geschichte    und    Kulturgeschichte    der    Polen    in 

Deutschland 474—483 

III.  Sitten  und  Gebräuche 483—492 

1.  Tanz  und  Musik  483.  2.  Hochzeit  485.  3.  Kind- 
taufe 489.  4.  Begräbnis  489.  5.  Ostern  490.  6.  Andere 
Feste  491.     7.  Geräte  492. 

IV.  Götter  und  Geister 492—493 

V.  Lieder  und  Sprichwörter 493 — 499 

VI.  Polnisches  Vaterunser 499 

Zusätze  und  Berichtigungen 500 — 501 

Sach-  und  Namenverzeichnis 502 — 518 

Schriften  des  Verfassers 519 — 520 


Volkslieder  und  Volksmelodieen. 

(Die  Melodien  sind  durch  vorgesetztes  *  gekennzeichnet). 


Litauer: 

Seite 

*Unsre  Hausfrau  trank  ein  Bchlückchen.    Litauisch 112 

Ygl.  Bartsch,  Dainu  balsai  124  f.,  340  f. 

Kuren  (Letten): 

Gute  Vögel  in  unser  Land,  Ligo.    Livisch 161 

Johannis  kommt.    Livisch 162 

•Ein  Fähnrich  zog  zum  Kriege 168 

Vgl.  Erk,  Liederhort  II,  136  f. 

Ich  war  ein  junger  Bursche 169 

Ach  Schiffsmann,  du  f einslieblicher  Mann 169 

Vgl.  WolfE,  Poet.  Hausschatz  6.  Aufl.     S.  184. 

Köln  am  Rhein,  du  schönes  Stadtchen 170 

Vgl.  Jenenser  Anstichlied  „Kleine  Kugeln  mulis  man  giefsen". 

Der  Seemann  auf  dem  wilden  Meer 171 

*  Soldat  nur  bin  und  bleib  ich.    Litauisch 171 

Vgl.  Bartsch  a.  a.  O.  152. 

Zwischen  Johanni  und  Michaeli.    Litauisch 172 

Es  flog  die  Amsel.    Litauisch 172 

O  Ahornsträuchlein.    Litauisch 173 

Auf  der  grünen  Feldflur  mähen.     Litauisch 173 

Drunten  im  Thale.    Litauisch 173 

Aus  dem  Hörnchen  trinkend.    Litauisch 174 

Ich  will  die  Magd  zum  Vater  senden.    litauisch 174 

Durch  den  Garten  ging  ich  einst  übers  Rosenbeet.    Litauisch    ...        .174 

Sprach  die  Mutter:  Geh  zum  Strande.    Litauisch 175 

Hohe  Berge,  ebne  Wiesen.    Litauisch 175 

Ich  armer  Bursche.    Litauisch      175 

*Ich  stand  auf  hohem  Berge.    Lettisch 176 

Vgl.  Bartsch  387. 

Hei  ich  flieg  ins  Gärtchen  klein.    Lettisch 176 

Vgl.  Bartsch  213. 

Werd  ich  in  dem  Gärtlein  wohl.    Lettisch 176 

Ich  diente  meinem  Herrn  ein  Jahr.    Lettisch      177 

Vgl.  Bartsch  138. 


XIV  Inhaltsverzeichnis. 

Masuren: 

Seite 

*Wenn  der  Schnee.    Masurisch 190 

Blümelein  im  Schatten  stand.    Masurisch 190 

Vgl.  Goethe. 

Mägdlein  hütet  im  Thal  die  Erde.    Masurisch 191 

Hänschen,  wohin  auf  dem  hellbraunen  Pferd.    Masurisch 191 

Vier  der  Jahre  dient  ich  treulich  einem  Ackerwirt-    Masurisch    ....  191 

Vgl.  Boger  80. 

Mägdelein  klagte  sehr,  wo  doch  ihr  Hänschen  war.     Masurisch    ....  192 

Schönes  Mädchen,  ich  liehe  dich.    Masurisch 207 

Aus  fremdem  Lande  kam  er  herein.    Masurisch 208 

Philipponen: 

Des  Propheten  Wort  gedachte  ich.    Philipponisch 247 

Es  heut  des  Lebens  kurze  Zeit.    Philipponisch 247 

Mufs  klagen  und  mufs  weinen.    Philipponisch 247 

War  zur  trüben  Donau  Wogen.    Bussisch 247 

Tschechen: 

Auf  der  Schlaneyer  Brücke.    Tschechisch 266 

Vgl.  Boger  854. 

Hänschen,  welch  ein  Narr  du  bist.    Tschechisch 266 

Ihr  Herren  Musikanten  da.    Tschechisch 267 

Wo  ist  meine  Mutter,  o  Vater-  mein.    Tschechisch 267 

*Ich  weifs  ein  herrliches  Böselein.    Tschechisch 268 

Sorben: 

*  Jetzt  hört  einmal,  ihr  Christenleut.  Sorbisch  u.  Deutsch 323 

*Was  haben  nur  die  Leute  all.    Sorbisch 323 

*Es  sind  nun  sieben  Jahre  her.    Sorbisch 323 

*Wir  führen  sie.    Sorbisch 323 

•Vier  Pferdchen  sind  angespannt.    Sorbisch 324 

Das  Mädchen  zog  nach  Weihnachten 324 

Gebt  uns,  gebt,  wollt  ihr  uns  etwas  geben.    Sorbisch 338 

Polaben: 

Ein  schönes  Mädchen  einsam  safs 373 

Der  Jäger  in  dem  grünen  Wald 373 

Vgl.  Ebner,  Deutscher  Sang  u.  Klang  132. 

Du  sagst,  Du  wolltet  mich  nehmen 373 

\  *Wer  soll  Braut  sein.    Polabisch 374 

Slowinzen: 

Ach  könnt  ich  doch  in  meinem  ganzen  Leben 427 

Vgl.  Böhme,  Volksl.  203.    Boger  481. 
Unsere  Mutter,  gute  Mutter.    Slowinzisch 427 


Volkslieder  und  (*)  Volksmelodien.    Abbildungen.  XV 

Seite 

Un8re  Herden  sprangen  in  die  Wälder.    Slowinzisch 428 

Ach  die  Frau  hat  Geld  im  Walde.    Slowinzisch 428 

*Weit  ists  übers  breite  Meer.     Slowinzisch 429 

An  des  Meeres  Seite  hütet.     Slowinzisch 429 

Paul  Kojic  mäht  die  Wiese.    Slowinzisch      429 

*Ach  Mariechen  ging  herum  im  Walde.    Slowinzisch 429 

Kaschuben: 

Ach  mein  Kranz  v.  Lavendel.    Kaschubisch 460 

Ach,  ach,  ach  mein  Mann  schlägt  mich.    Kaschubisch 460 

*Ein  armer  Fischer  bin  ich  zwar.    Kaschubisch 466 

Vgl.  Erlach,  Volksl.  d.  Dtsch.  1835  m,  116:  Bürkli. 
Ein  wunderschöner  Dreschflegel  mit  der  Heugabel.    Kaschubisch     .    .    .  '  467 

Wer  Blüten  will  im  Garten  sehn.    Kaschubisch 468 

Unsre  Mutter,  kleines  Bebhuhn.    Kaschubisch    . 468 

Meine  Mutter,  matka.    Kaschubisch 468 

Polen: 

Auf  dem  Häuslein  drinn'  im  Nestchen.    Polnisch 495 

Es  stürzte  ein  grüner  Baum  auf  der  Heid.    Polnisch 495 

Es  liegt  ein  Dorf  im  Thale.    Polnisch 496 

Die  Sterne  blitzen,  kalt  ist  die  Nacht.    Polnisch 496 

Was  für  Flegeln,  was  für  Gabeln.    Polnisch 496 

Gnädiger  Herr,  komm  lafs  dich  sehn.   Polnisch 496 

Wifst  ihr  Schwestern,  was  mir  gestern.    Polnisch 497 

Herr,  erhöre  mein  brünstiges  Flenn.    Polnisch 497 

Es  hat  mich  heut  um  Mitternacht.    Polnisch 497 


Abbildungen. 

(Die  Karten  und  Pläne  sind  durch  beigefügtes  *  gekennzeichnet.) 


.Seite 

V  *i.  Die  westslawischen  und  baltischen  Volksteile  inDeutsch- 
land       4 

2.  „Ein  alter  heidenischer  Preufs."     Nach  Waisselius 16 

3.  Altpreufsische  Männertracht.    Nach  Hartknoch .18 

4.  Altpreufsische  Frauentracht.    Nach  Hartknoch 18 

5.  AltpreuXsischer  Priester  vor  der  Bockheiligung.    Nach  Hartknoch  •  19 

6.  Bomowe.    Nach  Hartknoch 20 


</    *7.  Gesamtübersicht    des    litauischen    Sprachgebiets   in 

Preufsen  und  Rufsland 26 

/  *8.  Das  litauische  Sprachgebiet  in  Preufsen 28 

9.  Tolminkemen •, 56 


XVI  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 

10.  Hey  dekrag  -Werdener  Grabschmuck 83 

11.  Litauischer  Friedhof 84 

12.  Litauer  im  17.  Jahrhundert.    Nach  Lepner 95 

13.  Litauer  am  Ende  des  19.  Jahrhunderts 96 

14.  Kriwule 97 

15.  Stockgriff 97 

16.  Lichtständer 98 

17.  Handmühle 99 

18.  Kanklys      99 

19.  Cymbel 100 

Brummeisen 100 

20.  Grundrifs  des  einfachen  litauischen  Wohnhauses 101 

21.  Orundrifs  des  geteilten  grösseren  litauischen  Wohnhauses 102 

22.  Haffhaus 103 

23.  Schoner  Haus 103 

24.  Olsiader  Gehöft 105 

\  *25.  Litauisches  Gehöft  in  Rufsland 106 

26.  Preufsisch-litauisches  Wohnhaus 107 

27.  Russisch-litauisches  Wohnhaus 108 

28.  Samogi  tische  Klete  aus  dem  17.  Jahrhundert 108 

29.  Neue  samogitische  Klete 109 

30.  Klete  in  Szwiekszna 109 

31.  Litauische  Klete  in  Nimmersatt 110 


i   *32.  Das  lettische  Sprachgebiet  in  Ostpreufsen 127 

33.  Haus  in  Nidden  mit  Flunderschnüren 134 

34.  Grundriüs  eines  Preiler  Hauses 137 

35.  Vorderansicht  eines  Preiler  Hauses 137 

36.  Bommelsvittener  Haus 139 

37.  Grundriß  zweier  Preiler  Stuben 139 

38.  „               *            „             „        139 

89.  Grundrifs  eines  Niddener  Hauses 141 

40.  Grundrifs  eines  Helneragener  Hauses 141 

41.  Grundrifs  eines  Bauernhauses  in  Karkelbeck 141 

42.  Grundrifs  eines  kurischen  Insthauses 141 

43.  Melneragener  Gehöft 144 

44.  Preiler  einteiliger  Giebelschmuck 146 

45.  Nehrungsarne 146 

46.  Zweiteiliger  Giebelschmuck 146 

47.  Giebelköpfe 146 

48.  Grabkreuze 146 

49.  Grabplatten 147 

50.  Grabzeichen  für  Männer  und  Frauen  in  Bommelsvite 147 

51.  Grabzeichen  für  Kinder  in  Bommelsvitte 147 

52.  Keitelkahn 152 

53.  Kaulbarschnetz 153 

54.  Dorschangel 153 

55.  Kurrennetz 153 

56.  Winternetz 153 

57.  Zese 153 


• 


Abbildungen.  XVII 

Seite 

58.  Kescher 153 

59.  Bernsteinkescher 153 


*60.  Masurisches  und  philipponisches  Sprachgebiet 185 

61.  Masurin  mit  altem  Kopfschmuck 189 

62.  Masurischer  Strohspeicher    .    , 197 

63.  Giebelfenster  in  Masaren 197 

64.  Masurisohe  Giebelzier  in  der  Sensburger  Gegend 198 


*65.  Die  ostpreufsischen  Philipponendörfer 216 

66.  Alter  Philipponenpflug  (1833),  Seiten-  und  Oberansicht.     Gabel  .    .  219 

67.  Gersafs  -  Balkenende 220 

68.  Firsthalter 220 

69.  Giebelzier  im  philipponischen  Gebiete  bei  Philipponen  und  Masuren  221 

70.  Giebelzier  mit  Giebelbrett 221 

71.  Drei  Zierschnitte  des  Giebelbretts 221 

72.  Fischerhütte 221 

73.  Keller 221 

74.  Schaluppe 223 

75.  Wohnhaus 223 

76.  Wohnhaus  mit  niedrigem  Anbau 223 

77.  Wohnhaus  mit  hohem  Anbau 223 

78.  Kleines  Gehöft 223 

79.  Gröfseres  Gehöft 223 

80.  Philipponenstuben 224 

81.  Philipponenstuben 224 

82.  Rosenkranz  der  Philipponen 224 

83.  Hand  beim  Kreuzschlagen 224 

84.  Heuschützer 225 

85.  Pope  im  Eckertsdorf  er  Mönchskloster 226 

86.  Philipponin,  philipponische  Nonnen  mit  Rosenkranz.    Bekreuzigung 

des  Philipponen 227 

87.  Evangelischer  Grabschmuck  in  Philipponendörfern 228 

88.  Philipponischer  Grabschmuck 228 

89.  Schönfelder  Philipponenkirche 229 

90.  Vorderseite  der  Eckertsdorfer  Philipponenkirche 230 

91.  Grundrifs  der  Eckertsdorfer  Philipponenkirche 231 

92.  Philipponenhaus.    Philipponen  in  jetziger  Tracht 240 

93.  Patenkreuz  der  Philipponen 241 


*94.  Die     tschechischen     evangelischen      und      katholischen 

Kirchspiele  in  Oberschlesien 251 

95.  Scheiterhaufen 261 

96.  Haus  in  Schlaney 263 

97.  Podiebrader  Häuser 263 

98.  Schlaneyer  Wohnstube 264 


XVIII  Inhaltsverzeichnis. 

Seite 
99.  Schulzenstock.    Knopfinschrift  des  Schlaneyer  8chulzenstookes  .    .    264 

100.  Der  Gemeindestock  von  Schlaney 265 

101.  Tschechischer  Grabschmuck 266 


*102.  Mährisches  Sprachgebiet 274 

103.  Haus  bei  Peterwitz 279 

104.  Saal  in  Grofspeterwitz 279 

105.  Dirschkowitzer  Haus.    A.  Giebelansicht,  B.  Grundrifs 279 

106.  Grabzier  in  Katscher 280 


* 


107.  Das  sorbische  Sprachgebiet 284 

*108.  Die  niedersorbischen  Kirchspiele 286 

*109.  Die    obersorbischen    evangelischen,     katholischen    und 

altlutherischen  Kirchspiele  1900 287 

Drei  Dorfformen 294—295 

*110.  Schematischer  Plan  des  Dorfes  Gurhow 295 

111.  u.  112.  Werbener  Hofräume 297 

113.  Giebelschmuck 298 

114.  Werbener  Wohngebäude 298 

^  115.  Hausgeräte  aus  dem  wendischen  Volksmuseum  in  Bautzen  ....  300 

116.  Bemalte  Thonteller  aus  dem  Museum  für  sächsische  Volkskunde  .  300 

117.  Schulzenzeichen 300 

i  118.  Sorbische  Gehöfte  im  Spreewald 30K  o 

119.  Haus  in  Burg  mit  gebrochener  Ecke  und  mit  Gang 302 

U20.  Wendische  Wohngebäude  in  Kalbitz 802 

j  121.  Wendischer  Gutshof  in  Schönau 302 

122.  Stall  und  Speicher  mit  Gang  in  Burg 303 

123.  u.  124.  Werbener  Gehöfte.     (123  zum  Wohngebäude  114,    124  aus 

dem  Grofsbauernviertel) 304 

\  125.  Wendengruppe  aus  der  Parochie  Klitten 305 

126.  Sorbische  Tracht  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts.    Nach  Anton  .    .  306 

\  127.  Aussterbende  niedersorbische  Tracht  in  Schorbids 307 

128.  Sorbische  Trauertracht,  am  12.  Juni  1782,  in  Muskau.   Nach  Leske  308 

129.  Hoyerswerdaer  Brautjungfern  mit  Fes 309 

130.  Sorbische  Trauung,  12.  Juni  1782,  in  Muskau.     Nach  Leske  .    .    .  314 

131.  Bürger  Feststräufse  aus  Füttern  und  künstlichen  Blumen    .    .    .    .  316 
\  132.  Kahnfahrt  zur  Trauung  in  Burg 317 

133.  Papitzer  Braut  (Rückansicht) 318 

134.  Trauernde  Niedersorbin  mit  Plachta 326 

135.  Hölzerner  Grabschmuck  in  Schleife 326 

136.  Grabschmuck  aus  der  Gegend  von  Neschwitz 327 

137.  Briesener  Holzkreuz 827 

138.  Papitzer  Holzplatte 327 

139.  Burger  Grabschmuck 327 

140.  Holzplatten  auf  dem  Mittelpunkt  von  Grabkreuzen  zu  Königswartha  328 

141.  Werbener  Holzkreuz 328 

142.  Totenbrett  in  der  Werbener  Kirche.     Seitliche,  Kopf-   und  untere 

Ansätze  an  Werbener  Totenbrettern 328 


Abbildungen.  XIX 

Seite 
143.  Ernte  in  Burg 334 

V  144.  Spinnstabe  in  Papitz 336 

145.  Spinnstubenspiel  „Du  hast  den  Schlüssel8 337 

V  146.  Musikinstrumente  aus  dem  wendischen  Volksmuseum  zu  Bautzen    340 
147.  Schnarre,  Klapper 342 


^    *  Das  hannoversche  Wendland 350 

*148.  Schematischer   Grundrifs  eines  Dorfrundlings  im  han- 
noverschen Wendlande 352 

/   *149.  Dorf  Klennow 352 

j  *  150.  Südöstlicher   Teil   des   hannoverschen   Wendlandes   vor 

der  Landvermessung  von  1775 352 

151.  Braunschweiger  Klapperbrett 355 

152.  Grundrifs  eines  Küstener  Wohnhauses 356 

153.  Lübelner  Gehöft 356 

;  154.  Altes  Haus  in  Belitz  1777 356 

^  155.  Häuser  in  Schreyahn 356 

/  156.  Dorfansicht  in  Schreyahn 356 

157.  Flacher  Giebelschmuck  aus  Holz  (Klennow) 357 

158.  ,  „  (Dolgow) 357 

159.  Körperlicher  Giebelschmuck  aus  Zink  (Dolgow) .  357 

160.  Giebelbrett  mit  Giebelschmuck 357 

161.  Kamin  in   einem  Hause   aus   dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts  zu 

Serau  bei  Satemin 358 

162.  Dönz  mit  zwei  Butzen 360 

163.  Hochzeitspaar  um  1800 362 

164.  Spinnerin  um  1880 363 

165.  Grofsvater  mit  Haspel 364 

166.  Markt-  und  Tanzanzug  bis  1880 367 

167.  Kreuz  in  grabgrofser  Fassung 376 

168.  Hölzerne  aufrechtstehende  Kreuze  und  Grabplatten  aus  Holz     .    •  376 


*169.  Das  slowinzische  Sprachgebiet  um  1900 390 

j  *170.  Karte  von  den  Grundstücken  der  Büdner  zu  Bchmolsiner 

Klucken 407 

171.  Rauchkate  in  den  Selesener  Klucken 409 

172.  Slowinzisches  regelmäßiges  Haus 409 

173.  Im  Slowinzenland 410 

174.  Gehöfte  in  den  Selesener  Klucken 411 

175.  Gehöft  in  den  Bchmolsiner  Klucken 412 

176.  „         .      ,  ,  „  412 

177.  Netznadel  mit  Bock 418 

178.  Lischke 424 

179.  Steinerne  Handmühle 425 

180.  Klnckener  und  Garder  Holz-Grabplatten 425 

181.  Alter  Fritzower  Holzgrabschmuck 426 


Tabellen. 


Seite 

Die  Slawen  in  Deutschland 3 

•    Die  Letten  in  Deutschland 112 — 116 

Die  Philipponendörfer 217 


« 


XX  Inhaltsverzeichnis:    Abbildungen.    Tabellen. 

Seite 

*182.  Die  letzten  lebakaschubischen  Kirchspiele 442 

*183.  Die  kaschubischen  Kirchspiele  Pommerns  um  1800  .    .   .  443  jl 

184.  Das  Giesebitzer  Moor,  der  Lebasee,  dahinter  die  Nehrung,  der  i 

Fuchsberg     . 451  , 

185.  Kaschubisches  Dorf 452  ) 

186.  Giesebitzer  Lebawiese 453  \ 

187.  Czarnowsker  Kaschubenhäuser 454  i 

188.  Grundrifs  eines  Krockower  Hauses 454  f 

189.  Giebelzier  aus  dem  Neustadter  Kreise 454  1 

190.  Kaschubischer  Keller  in  Krockow 455 

191.  Leiterwagenseite  in  Krockow 455 

192.  Handschuh 455  j 

193.  Kaschubische  Tracht  im  Jahre  1820.    Nach  Lorek 456 

194.  Typen  aus  Czarnowske 457 

195.  Grabschmuck 462 

196.  Flechtkämme .464 

197.  Slawisches  Binderjoch 46R  ' 

198.  Früherer  Bock  in  Bohlschau 465' 

199.  Jetziger  Bock  in  Bohlschau 465  I 

I 

* 

*200.  Die  Polen  und   Kaschuben  in  Westpreufsen,   Posen  und 

Schlesien 473 

201.  Batajer  Gehöfte 478 

;    202.  Polnisches  Gehöft  bei  Posen 47' 

203.  Vorderansicht  eines  Batajer  Hauses 479 

204.  Grundrifs  eines  Hauses  in  Zegrze 479 

205.  Grundrifs  eines  Backwitzer  Hauses 479  » 

206.  Durchschnitt  eines  Backwitzer  Schornsteins 479 

207.  Giebelzier  aus  Posen 480 

208.  Bamberger  Kopfputz 481 

209.  Sokoltracht 482 

210.  Tracht  aus  der  Krakauer  Gegend 484 

211.  Madchentracht  bei  Krakau 485  \ 

212.  Buker  Musikanten 486  '» 

213.  Holzkreuze  mit  Inschriftplatten 489 

214.  Polnische  Schulzen-  und  Gemeindezeichen 492 


i 


Einleitung. 

■■ 

Übersicht  über  die  Slawen  in  Deutschland. 


Literatur. 

A  n  d  r  e  e :  Globus,  Illustrierte  Zeitschrift  für  Länder-  und  Völkerkunde.  Braun- 
schweig,  Vieweg  u.  Sohn.    Jährlich  2  Bde.    Bis  1901:   1.  bis  80.  Bd. 

Beheim-Schwarzbach:  Hohenzollernsche  Kolonisationen.  Leipzig  1874. 
töckh:    Der  Deutschen  Volkszahl  etc.    Berlin  1869. 

..  Fircks:  Die  preufsische  Bevölkerung  etc.  1890.  Zeitschrift  des  königl. 
preufs.  staust.  Bureaus  1893,  S.  189  bis  296. 

Gehre:  Die  neue  deutsche  Kolonisation  in  Posen  und  Westpreufsen.  Großen- 
hain 1899. 

Giesebrecht:  Wendische  Geschichten  aus  den  Jahren  780  bis  1189.  Berlin 
1843. 

Hanusch:    Die  Wissenschaft  des  slawischen  Mythus  etc.    Lemberg  1842. 

Lippert:     Die  Religionen  der  europäischen  Kulturvölker  etc.    Berlin  1885. 

Tteitzen:     Siedelung  und  Agrarwesen.    Berlin  1895  ff. 

ftünster:     Cosmographia.    Basel  1550. 

Bhamm:  Zur  Entwickelung  des  slawischen  Speichers.  (Globus  77,  18.  bis 
22.  Heft.) 

Schaffarik:  Geselchte  der  slawischen  Sprache  und  Literatur.  Ofen  1826.  — 
„  Slawische  Altertümer.    Deutsch  von  Mosig  von  Ährenfeld. 

Leipzig  1843/44. 

Schulze:  Die  Kolonisierung  und  Germanisierung  zwischen  Saale  und  Elbe. 
Leipzig  1896. 


Mündliche  und  schriftliche  Nachrichten  der  Herren:  Dr.  Andree, 
Bischof  Baranowski,  v.  Below,  Geh.-Rat  Prof.  Dr.  Bezzenberger, 
Dr.  Bielenstein,  L.  Blöde,  Amtsvorsteher  Bohn,  PopeBorischewitz, 
P.  Freyberg,  Dr.  Gaigalat,  Frau  Gerfs,  P.  Hahn,  L.  Jakameit, 
Jankus,  P.  Jopp,  P.  Jurkschat,  L.  Kaschkat,  P.  Emet, 
P.  Kossyk,  L.  Kuczius,  Dr.  f^gowski,  Dr.  Lorentz,  P.  Lotto, 
Propst  A.  v. Maltzew,  L.  Marquardt,  L.  Mente,  P. Neumeister, 
Geh.  Justiz-Rat  Dr.  Passarge,  L.  Paulat,  P.  Pohlmann,  P.  Poppe, 
P.  Pylda,  Oberbibliothekar  Dr.  Reicke,  L.  Reschat,  Forstbeamter 
Rokitensky,  C.  Rollwage,  Rektor  Römer,  C.  Salkowski,  Prof.  Dr. 
Schmidt,  L.  Scholze,  Hegierungsbeamter  Smilgewicz,  L.  Stodt- 
meister,  Prof.  P.  Szczybalski,  Rittergutsbesitzer  Treichel,  cand. 
jur,  Trullay,  C.  Vahlbruch,  Rektor  Wanieck,  P.  Wegeli,  Dr. 
Wolter,  L.  Zwikirsch  u.  v.  a. 


Tetsner,  Die  Slawen  in  Deutschland. 


2  Die  Slawen  in  Deutschland. 

Als  die  ostdeutschen  Völker,  teilweise  von  den  römischen  Kaisern 
als  Hülfßtruppen  nach  Süden  gerufen,  ihr  Land  verlief  sen,  drängten 
die  Slawen  nach. 

Der  slawischen  Überflutung  Ostdeutschlands  wurde  durch  Karl 
den  Grolsen  805  vorläufig  ein  Damm  gesetzt,  als  die  Saale -Elbelinie 
oder  die  Marktstrafse  Lorch,  Regensburg,  Erfurt,  Magdeburg,  Bardowiek, 
Kieler  Bucht  zur  Grenze  bestimmt  ward.  Die  Geschichte  der  sächsischen, 
salischen  und  staufischen  Kaiser  ist  voll  der  Kämpfe  mit  den  Slawen. 
Die  Einführung  der  Burgwart-  und  Militärstrafsen Verfassung  durch 
König  Heinrich  und  die  Einleitung  der  grolsen  deutschen  Besiedelung 
Ostgermaniens  durch  Albrecht  den  Bären  und  Wiprecht  von  Groitzsch, 
den  Grafen  Adolf  und  den  Deutschen  Orden  brachen  die  slawische 
Macht.  Es  vollzog  sich  ein  jahrhundertelanges  allmähliches  Aufgehen 
im  Deutschtum.  Innerhalb  der  Reichsgrenzen  bewahrten  eine  Anzahl 
Stämme,  die  im  vorliegenden  Buch  behandelt  werden  sollen,  Lebens- 
kraft. Sie  erlebten  grösstenteils  noch  die  Zeit,  da  eine  zweite  Slawen - 
welle  Deutschland  überwallte,  die  nicht  zu  unterschätzende  der  Sachsen - 
ganger.  Von  diesen  soll  nicht  die  Rede  sein,  sondern  nur  von  den 
alten,  nun  grösstenteils  germanisierten  Stämmen.  Sie  gliedern  sich  in 
eine  baltische  und  eine  westslawische  Gruppe.  Die  baltische  wird  mit 
Recht  als  besonderes  Glied  neben  die  slawische  gestellt  und  zerfällt  in 
Preuf8en,  Litauer  und  Letten.  Von  den  Westslawen  blieben  die  Masuren 
mit  den  Philipponen,  die  Tschechen,  Mährer,  Sorben,  Polaben,  Slowinzen, 
Kaschuben  und  Polen  übrig.  Die  Tabelle  (Seite  3)  giebt  Aufschluls 
Über  ihre  Seelenzahl,  Heimat,  Konfession,  Mutter-  und  Kirchensprache, 
die  Karte  (Seite  4)  über  ihr  Wohngebiet  innerhalb  Ostdeutschlands 
Grenzen. 

Die  sich  anschließenden  Darstellungen  beruhen  auf  Reisen  durch 
die  slawischen  Striche  Deutschlands  und  der  angrenzenden  Gebiete 
(1895  bis  1900).  Die  hier  ergänzten  Ergebnisse  wurden  zuerst  im 
Globus  (1896  bis  1900)  niedergelegt;  ferner  u.  a.  in  folgenden  Zeit- 
schriften :  Leipziger  Zeitung,  Münchener  Allgemeine  Zeitung,  Zeitschrift 
für  Kulturgeschichte,  Geographische  Zeitschrift,  Altpreufsische  Monats- 
schrift, Aus  allen  Weltteilen,  Nord  und  Süd,  Westermanns  Monatshefte, 
Unsere  Dichter  in  Wort  und  Bild. 

Vorbeugen  möchte  ich  der  irrtümlichen  Meinung,  die  aufgeführten 
Gebräuche  und  Gewohnheiten  seien  nicht  auch  Gemeingut  der  um- 
wohnenden deutschen  Dorfbevölkerung.  Unsere  slawischen  Volks- 
splitter gehören  meist  dem  Bauernstande  an,  und  der  Gegensatz  von 
Stadt  und  Land  ist,  was  Volkskunde  angeht,  trennender,  als  der  von 
deutsch  und  slawisch.  Aber  Sprache  und  Sprachschatz  sind  an  sich 
die  wichtigsten  Teile  jedes  Volkstums;  sie  bedingen  auch  die  Zahl  der 
behandelten  Völker. 


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■4. 


DIE 


•  • 


BALTISCHEN  VOLKSSTAMME 


IN 


DEUTSCHLAND. 


(ALTPREUSSEN,  LITAUER,  LETTEN.) 


Die  Preufsen. 

Literatur. 

-Acta  Borussica.    Königsberg  1730—1732. 
Altpreufsische  Monatsschrift,  herausgegeben  von  Beicke.    Königsberg,  seit 

1864.    Fortsetzung  der  Preufsischen  (seit  1829)   und  Neuen  Preußischen 

Provinzialbl.  (seit  1846). 
Ambrassat:    Die  Provinz  Ostpreufsen.    Königsberg  1896. 
Armstedt:    Geschichte  der  Haupt-   und  Besidenzstadt  Königsberg.    Stutt- 
gart 1899. 
Arnold t:    Kurtzgefafste  Nachrichten  von  allen  seit  der  Reformation  an  den 

lutherischen  Kirchen  in  Ostpreufsen  gestandenen  Predigern.    Königsberg 

1777# 
Baczko:    Nankes  Wanderungen  durch  Preufsen,  2  Bde.    Hamburg  1800. 
Bernecker:    Die  pre ufaische  Sprache.    Strafsburg  1896. 
Bezzenberger  und  Simon:    Das  Elbinger  Deutsch -Preufsische  Vokabular. 

Königsberg  1897. 
Boetticher:      Die    Bau-    und    Kunstdenkmäler    der   Provinz    Ostpreufsen. 

Königsberg  1891  ff. 
David:     Preufsische    Chronik,    herausgegeben   von   Hennig   und    8ohulz. 

Königsberg  1812—17. 
Dusburg:    Ohronicon  Prussiae,  herausgegeben  von  Hartknoch.   Frankfurt 

und  Leipzig  1679. 
Frischbier:    Preußisches  Wörterbuch,  2  Bde.    Berlin  1882/83. 
Frydwald:     Die   Gemaine,    auch    gancz   Bechtme&ige   Apweichunge,   der 

Lande  Preufsen,  von  denn  Kreucz  Herren  wegen  Irer  grausamen  Tyranneien. 

Krakau  1578. 
(Gervais):    Notizen  von  Preufsen,  2  Bde.    Königsberg  1795/96. 
Grünaus  preufsische  Chronik,  herausgegeben  von  Perlbach  und  Wagner. 

Leipzig  1875—92. 
Harn  och:     Statistik  der  evangelischen  Kirche  in  Ost-  und  Westpreufsen. 

Neidenburg  1890. 
Hartknoch:     Alt-  und  neues  Preufsen.    Frankfurt  1684. 
Hasenkamp:    Ostpreufsen  unter  dem  Doppelaar.    Königsberg  1866. 
Hecht:    Aus  der  deutschen  Ostmark.     GunVbinnen  1897. 
Hennenberger:    Grofse  Landtafel  von  Preufsen.    Königsberg  1629.  —  Er- 

clerung    der    preufsischen    gröfseren   Landtaffel.      Königsberg    1595.   — 

Kurtze  und  wahrhafftige  Beschreibung  des  Landes  zu  Preufsen.    Königs- 
berg 1584. 
Hörn:    Kulturbilder  aus  Altpreufsen.    Leipzig  1886. 
Jeroschin:    Die   Kronike   von   Pruzinlant,   herausgegeben  von  Strehlke. 

Leipzig  1865. 
Kataloge  des  Prussiamuseums.    Königsberg  1893  ff. 
Lemke:   Volkstümliches  in  Ostpreufsen,  3  Teile.  AUenstein,  dann  Mohrungen 

1884—99. 
Lohmeyer:    Geschichte  von  Ost-  und  Westpreufsen.    Gotha  1881. 


8  Die  Preußen:   Geschichte. 

Mo  eller:     Danziger   Frauen  trachtenbuch    1605,   herausgegeben    von   Bert- 
ling.    Danzig  1886. 
V/ Nesselmann:    Die  Sprache  der  alten. rieuTsen.    Berlin  1845.  —  Thesaurus 
•  linguae  prussicae.    Berlin  1873. 

Nostitz:    Haushaltungsbuch  des  Fürstentums  Preufsen  1578,  herausgegeben 
von  Lohmeyer.    Leipzig  1893. 

Passarge:    Aus  dem  Weichseldelta.   Berlin  1857.  —  Aus  baltischen  Landen. 
Glogau  1878.  —  Baltische  Novellen.    Leipzig  1884. 

Perlbach:    Preufsische  Regesten.    Königsberg  1876. 

Preufs:    Preufsische  Landes-  und  Volkskunde.    Königsberg  1835. 

Preufsen,  Erleutertes.    Königsberg  1724—42. 

Preufsische  Provinzialblätter,  siehe  Altpreufsische  Monatsschrift. 

Pierson:  Bilder  aus  Prenfsens  Vorzeit.  Berlin  1872. 
"*  Bhesa:  Prutena,  2  Bde.  Königsberg  1809,  1824.  —  Nachrichten  von  allen 
seit  1775  an  den  evangelischen  Kirchen  angestellten  Predigern.  Königs- 
berg 1834.  —  Nachrichten  und  Bemerkungen  aus  den  Feldzügen  1813/14 
aus  dem  Tagebuch  eines  Feldgeistlichen.  Berlin  1814.  —  Kirchengeschichte» 
Vorlesungen,  Manuskript  von  Kurschat. 

Bunau:     Historia  vnd  einf eltige  beschreibung  etc.    Wittemberg  1582. 

Schirrmann  und  Hirsch:     Pfarralmanach   für   die   Provinz   Ostpreufsen. 
(  Königsberg  1897. 

Schultze:    Grammatik  der  altpreufsischen  Sprache.    Leipzig  1897.. 

Schütz:    Historia  rerum  Pruss.     Zerbst  1592. 

Vater:     Die  Sprache  der  alten  Preufsen.    Braunschweig  1825. 
\  Voigt:     Geschichte   Prenfsens,    9   Bde.     Königsberg    1827  —  39.    —    Codex 
diplomaticus  Prussicus,  6  Bde.     Königsberg  1836 — 65. 

WaisBelius:     Chronica   alter  Preusscher,  EifClendischer  und   Curlendischer 
Historien.     Königsberg  1599. 

Weber:    Preufsen  vor  500  Jahren.    Danzig  1878. 

(Vgl.  hier  wie  bei  den  folgenden  Abschnitten  auch  die  vorige  Literatur.) 


I.     Geschichte. 

Der  Name  der  Preufsen  (Pruzi,  Pruzzi,  Pruteni,  Prutheni)  begegnet 
uns  gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts  in  einer  Gegend,  wo  früher 
Esthen,  Goten,  Heruler,  Samen  als  ansässig  bezeichnet  wurden.  Es 
schenkten  nämlich  Boleslaws  Stiefmutter  Oda  und  deren  Söhne  Nisica 
und  Lambertus  und  der  Pommernfürst  Dagone  dem  Papst  Johann  XV. 
um  992  die  Stadt  Schinesghe  mit  allem  Zubehör  längs  des  Meeres  bis 
Pruzze.  Ob  die  von  Tacitus,  Kassiodor,  Jordanis,  Einhart  genannten 
Aisten,  Esthen  ein  geschlossenes  gleichartiges  Volk  waren,  ist  ebenso 
wenig  zu  entscheiden,  als  die  Frage,  ob  Goten  und  Heruler  nur  als 
Herrscher  an  der  Küste  und  an  den  Flüssen  safsen.  Um  500  dankte, 
wenn  des  Kassiodor  Zeugnis  nicht  als  ein  „Musterbrief"  anzusehen  ist, 
der  Ostgotenkönig  Dietrich  den  Hasten  für  ein  Bernsteingeschenk.  Seit 
dem  9.  Jahrhundert  treten  dann  einzelne  Völkernamen  auf,  und  die 
Esthen  sind  die  nördlicher  lebenden  Maarahvas.  Es  ist  kein  Grund  vor- 
handen, die  frühzeitig  erwähnten  Samen  nicht  als  Teilbezeichnung  der 
Preufsen  anzunehmen,  ebenso  wenig  wohl  die  Sudauer  und  Galinder, 


Urgeschichte.  9 

die  schon  Ptolemäus  kennt.  Die  Grenze  des  Preufsenlandes  legt  der 
Ordenschronist  P.  v.  Dusburg  zwischen  Weichsel,  Memel,  Meer  und 
Rulsland.  Aber  das  Gebiet  zwischen  Weichsel,  Otta  und  Drewenz  war 
von  Polen  besiedelt  worden,  wie  aus  einer  Urkunde  vom  Jahre  1239 
hervorgeht,  und  Liebe  und  Nogat  waren  die  Westlinien  der  preulsischen 
Graue.  Im  Norden  und  Osten  wohnten  Litauer,  die  von  manchen  noch 
heute  für  völlig  gleichen  Stammes  angesehen  werden,  aber  in  ihrer 
Sprache  und  Geschichte  doch  abweichen.  Der  Name  Preulsen,  der  wohl 
fälschlich  schon  von  älteren  Geschichtsschreibern  mit  Lit  protas,  Ver- 
stand, wurzelverwandt,  genannt  wird,  ward  nach  Untergang  der 
politischen  Freiheit  der  alten  Preulsen,  auf  das  1525  weltlich  gewordene 
Herzogtum  und  1701  auf  das  neue  Königtum  aufserhalb  Deutsch- 
lands übertragen  und  für  die  sämtlichen  Lande  der  preulsischen 
Könige  angenommen,  während  seit  dem  1.  April  1878  das  Stammland 
in  die  Provinzen  Ost-  und  Westpreufsen  geteilt  ward.  Die  alte  Grenze 
unterlag  verschiedenen  Änderungen,  die  östliche  und  südliche  geht  auf 
den  zwischen  Witold  und  dem  Orden  1422  geschlossenen  Frieden  am 
Melnosee,  die  westliche  auf  den  zweiten  Thorner  Frieden  und  nach  den 
polnischen  Teilungen  auf  die  Neugestaltung  nach  den  Freiheitskriegen 
zurück. 

Die  alte  preufsische  Geschichte  ist  sagenumwobener  als  die  meisten 
Sagenreichen  Urgeschichten.  Im  Anklang  an  die  gotische  Einwanderung 
von  Norden  her  werden  die  Brüder  König  Widewuto  und  Oberpriester 
oder  Kriwe  Pruteno  als  die  ersten  Führer  bezeichnet,  die  von  Gotland 
her  übers  Frische  Haff  auf  Flötsen  ankamen  und  in  Glück  und  Segen 
ihr  Volk  beherrschten.  Sie  haben  ein  Lebensjahrhundert  überschritten, 
als  sie  bei  einer  Volksversammlung  eichenla abgeschmückt  den  Scheiter- 
haufen an  der  heiligen  Eiche  ihres  Romowe  besteigen.  Brüderlich  ver- 
eint, nach  Ermahnungen  ans  Volk,  ein  Loblied  den  Göttern  singend, 
scheiden  sie  unter  Blitz  und  Donner  im  Feuer  ab,  nachdem  die  12  Söhne 
Widewut8  die  12  Gaue  in  Besitz  genommen  hatten.  Damit  soll  wohl 
die  glückliche  Zeit  vor  der  Zersplitterung  in  Gaue,  die  sich  nur  lose 
aneinander  fügten  und  im  Kriege  nicht  immer  unterstützten,  angedeutet 
werden.  Jedenfalls  führten  die  Preulsen  ein  ruhiges,  der  Jagd  und 
Fischerei,  dem  Ackerbau  und  der  Viehzucht  geweihtes  Leben  in 
geschlossenen  Dörfern  unter  ihren  Gauführern  und  Priestern,  den 
Waidelotten,  verehrten  ihre  Götter  und  verschönten  das  Leben  durch 
Br&uche  und  Feste.  Da  kam  der  erste  Glaubensbote,  der  heilige 
Adalbert  von  Prag,  und  ward  am  23.  April  997  bei  Fischhausen 
(in  Cholinun  =  Kallen)  von  ihnen  erschlagen;  nicht  besser  erging  es 
seinem  Nachfolger  ßrun,  der  am  14.  Februar  1009  mit  18  Begleitern 
von  ihnen  enthauptet  ward.  Dieser  Spröfsling  des  sächsischen  Kaiser- 
hauses soll  nach  dem  Zeugnis  Thietmars  v.  Merseburg  bis  an  die  Ost- 
grenze vorgedrungen  sein.  Nach  den  Tschechen  und  den  Sachsen 
versuchten   nun  die  Polen  mit  Feuer  und  Schwert   das  Christentum 


10  Die  PreuTsen. 

einzufahren.  Boleslaw  I.  (992  bis  1025)  machte  einen  Teil  tribut- 
pflichtig, die  Dänenkönige  Eanut  der  Grofse  (1015  bis  1035)  und 
Kanut  IV.  (1076  bis  1086)  zwangen  die  Samen  zur  Unterwerfung; 
von  1107  bis  1115  holte  Boleslaw  III.  wiederholt  Beute  aus  Preulsen 
und  schickte  immer  neue  Missionare.  Dals  die  Preulsen  sich  nicht 
gutwillig  alle  Räubereien  gefallen  liefsen  und  nun  auch  nach  Masovien 
vorrückten ,  ist  nicht  zu  verwundern.  Auf  was  die  Bekehrer  leider 
meist  ihr  Augenmerk  lenkten,  geht  aus  nicht  wenigen  Zeugnissen  hervor. 
Papst  Innocenz  III.  ermahnte  1212  die  Herzöge  von  Polen  und  Pommern, 
die  zum  Christentum  übergetretenen  PreuTsen  doch  ja  mit  Sklaven- 
diensten zu  verschonen.  Der  getaufte  preufsische  Fürst  Warpodo 
schenkte,  um  seiner  Güter  nicht  verlustig  zu  gehen,  dem  Bischof 
Christian  von  PreuTsen  1216  das  Land  Lansanien,  der  Fürst  Suava- 
buno  1218  das  Löbauische  Land.  Papst  Honorius  III.  verlieh  1217 
den  aus  den  Nachbarländern  zum  Schutz  der  Neubekehrten  in  Preulsen 
Herbeieilenden  Kreuz  und  Ablafs,  befahl  aber,  durch  Erfahrungen 
gewitzigt,  doch  ja  nicht  irdischen  Gewinnes  wegen  nach  Preulsen  zu 
ziehen. 

Das  eroberte  Kulmer  Land  gab  Konrad  von  Masovien  1222  zum 
grölsten  Teil  dem  Bischof  Christian,  auf  dessen  Rat  wohl  des  Herzogs 
Einladung  an  den  Orden  zurückzuführen  ist.  Die  Gesandtschaft  traf 
den  Hochmeister  Hermann  von  Salza  1226  in  Venedig,  der  auch  zusagte, 
wenn  ihm  das  zu  erobernde  Land  als  Eigentum  zufiele.  Kaiser  und 
Papst  gewährten  ihm  dies,  forderten  1230  zum  Kreuzzuge  auf,  und 
1231  kam  Hermann  Balk  mit  seinem  Heere  im  Lande  an.  Ihn  mögen 
die  Gedanken  beseelt  haben,  die  ihm  Felix  Dahn  unterlegt: 

• 

Wo  des  Perkunos  Steine  ragen, 

Von  Urwaldflchten  schwarz  umsäumt, 

Wo  wilde  Steppenhengste  jagen 

Und  im  Gestrüpp  der  Rohrwolf  heult, 

Dort,  statt  am  Jordan  zu  vergeuden 
Des  Bitters  Mut,  des  Bauers  Kraft, 
Dort  sollt  ihr  fechten,  hau'n  und  reuten 
Mit  Axt  und  Grabscheit,  Schwert  und  Schaft. 

Nicht  nur  Krieger  kamen,  Burggraf  Burkhart  von  Magdeburg 
führte  500  waffenfähige  Pilger  und  grotse  Scharen  anderer  Deutscher 
an,  die  das  Land  gefallener  Preulsen  bekamen.  Hermann  Balk  gründete 
Thorn  und  gab  1232  die  erste  Kulmer  Handfeste,  die  1251  erneut 
ward  und  die  Verhältnisse  der  Bevölkerung  regelte.  Sie  ist  die  Grund- 
lage jener  Verordnungen,  auf  die  auch  der  Name  der  Freibauern  oder 
Kölmer  zurückgeht.  Es  vollzog  sich  nun  ein  blutiger  Kampf,  blutiger 
als  die  Eroberung  der  Marken  an  der  Elbe.  Die  Ritter  legten  Burgen 
an,  schufen  eine  Art  Militärgrenze,  Flüsse  und  Furten  wurden  bewacht. 
Wer  sich  bekehrte,  behielt  anfänglich  sein  Eigentum,  den  Hartnäckigen 
und  Gefallenen  ward  es  genommen.     So  verlieh  1242  der  Landmeister 


Ordenskämpfe.     Durbener  Schlacht.  H 

Heinrich  v.  Weida  dem  edlen  T.  v.  Tyfenow  erblich  drei  preußische 
Dörfer  mit  allen  Rechten  und  sechs  Dörfer,  die  er  verkaufen  konnte. 
Dafür  mutete  er  die  Preufsen,  denen  er  Land  anwies,  so  streng  halten, 
wie  der  Orden  selbst. 

Immer  neue  Scharen  Kreuzritter  zogen  ein.  Der  milde  Hermann 
Balk,  der  den  Preufsen  ihr  Besitztum  liefs,  starb.  Seine  Nachfolger 
fühlten  sich  als  unumschränkte  Herren.  1245  forderte  Innocenz  IV. 
den  Hochmeister,  die  Ordensbrüder  und  das  Kreuzheer  in  Preufsen  auf, 
die  treulosen  (preufsischen)  Christen,  die  den  heidnischen  Preufsen  und 
Litauern  beistünden,  mit  aller  Macht  zu  unterdrücken.  Was  liefs  sich 
aus  dieser  Bestimmung  nicht  alles  machen.  1249  konnte  schon  ein 
Frieden  mit  den  neubekehrten  Preufsen  aus  Pomesanien,  Ermland, 
Pogesanien,  Natangen  und  Barten  geschlossen  werden.  Die  dem  Heere 
zu  Hülfe  gekommenen  jungen  Adligen  erhielten  grofsen  Grundbesitz 
und  hatten  nur  die  Pflicht,  bei  Besitz  von  über  40  Hufen  zu  Pferde 
mit  zwei  Begleitern  beim  Ordensaufgebot  zu  erscheinen.  Diese  Ritter- 
gutsbesitzer besafsen  die  Gerichtsbarkeit,  nur  die  über  Leben  und 
Tod  hatte  sich  der  Orden  vorbehalten;  die  Kölmer,  die  mit  einem 
Pferde  erscheinen  mufsten,  übten  die  niedere  Gerichtsbarkeit  aus  und 
waren  dem  Komtur  direkt  untergeben.  Das  kölmische  Schulzenamt 
war  erblich,  die  edlen  ordenstreuen  Preufsen  hatten  die  Rechte  der 
Rittergutsbesitzer,  ohne  zu  Feld  erscheinen  zu  müssen.  Die  gewöhn- 
lichen Freien  blieben  Freilehnsleute,  die  Bauern  und  Handwerker  waren 
frei,  die  Abgefallenen  und  früher  unfreien  Preufsen  bildeten  den  Bauern- 
stand. Sie  hatten  ein  oder  zwei  Hufen  im  Besitz,  waren  zwar  nicht 
leibeigen,  mufsten  aber  viele  Lasten  tragen.  Die  wichtigsten  Gesetze 
waren  1255  nach  Waisselius  die  folgenden  sieben:  Die  getauften 
Preufsen  „sollen  und  mögen tt  allerlei  Guter  erwerben  und  mit  aller 
Gerechtigkeit  wie  in  anderen  Ländern  besitzen,  Testamente  setzen, 
dürfen  Witwen  eingewanderter  Deutschen  heiraten,  ehrliche  und 
männliche  können  zu  Rittern  geschlagen  werden,  die  Preufsen  dürfen 
Handwerke  lernen  und  nach  allen  Orten  verziehen,  sie  dürfen  nach 
Belieben  zum  kölmischen  und  polnischen  Recht  halten,  und  „die  nicht 
anbeten  und  wirdigen  die  Abgötter a,  mögen  alle  Privilegien  geniefsen. 

Nach  Niederwerfung  des  grofsen  Aufstandes,  der  auf  die  Durbener 
Sohlacht  (13.  Juli  1260)  folgte,  suchte  der  Komtur  alle  sicheren  edlen 
Preufsen  mit  Wohlthaten  zu  überhäufen,  dafs  sie  feste  Stützen  des 
Ordens  inmitten  der  eroberten  Lande  seien.  So  befreite  er  den 
Preufsen  Gedun,  der  beim  Abfall  seiner  Landsleute  dem  Orden  zu 
Hülfe  geeilt  war,  mit  seinen  Söhnen  vom  Zehnten  und  jeder  anderen 
Leistung,  nur  sollte  er  mit  Panzer  und  Waffen  die  gewohnten  Kriegs- 
dienste leisten.  Was  er  im  Kriege  verloren  hatte,  ersetzte  ihm  der  Orden. 
Wer  ihn  etwa  verletzen  würde,  sollte  mit  dem  Leibe  büfsen,  wenn  die 
Seinigen  nicht  Wergeid  zu  geben  vorzögen;  seine  Nachkommen  aber  er- 
hielten dauerndes  Erbrecht.     Die  Preufsen  Szinte,  Pisc,  Pogononie  und 


12  Die  PreuJsen. 

Azovirth,  wahrscheinlich  einer  Sippe  angehörig,  erhielten  40  Hafen 
rechts  und  links  der  Drewenz  und  die  niedere  Gerichtsbarkeit;  die 
höhere,  über  Tod  und  Leben,  behielt  sich  der  Bischof  vor.  Ihre  Pflichten 
bestanden  in  der  Abgabe  von  Getreide,  Wachs  und  Pfennigen  und  im 
Kriegsdienst,  von  dem  überhaupt  keiner  der  Belehnten  frei  war.  Ein 
anderer  Preufse  wurde  Herr  von  fünf  Familien  und  bekam  sein  früheres 
Land  erblich,  ein  dritter  mufste  gegen  Erbrecht  und  Verleihung  von 
20  Familien  Dienst  mit  Schild  und  Speer  zur  Landwehr,  zum  Burgenbau 
und  aulserdem  Rekognitionszins  leisten.  Der  Edle  Wergule  besafs  sogar 
die  hohe  und  niedere  Gerichtsbarkeit  über  25,  Waydote  und  Kleytin 
über  5  Familien,  ebenso  1262  der  Preufse  Tyrune  und  seine  Erben 
über  7  Familien  im  Dorfe  Trentitten  bei  Laptau.  Auch  er  hatte  mit  seinen 
Leuten  mit  Schild  und  Lanze  Heeresfolge  zu  leisten  und  beim  Burgenbau 
zu  helfen,  mufste  dazu  eine  jährliche  Abgabe  von  einem  Pfund  Wachs  und 
einem  Eölmer  oder  fünf  Königsberger  Pfennigen  an  den  Bischof  leisten, 
durfte  aber  sein  Gut  mit  denselben  Leistungen  weiter  verkaufen.  Der 
Preufse  Palstok  empfing  für  seine  Dienste  während  des  Aufstandes  1 260 
sechs  Haken  eines  Dorfes  bei  Labiau  zu  Erbrecht,  auf  denen  er  Familien 
ansiedeln  sollte,  die  ihm  den  Zehnten  gaben.  Die  edlen  Preufsen 
eigneten  sich  schnell  deutsche  Bildung  an,  besuchten  sogar  teilweise 
die  gelehrten  deutschen  Schulen.  So  Herkus  Monte  in  Magdeburg. 
Dafs  sie  dabei  ihr  Volkstum  nicht  vergafsen,  beweist  gerade  wieder 
Herkus  Monte.  Einst  wollten  die  Natanger  ein  Opfer  thun.  Da  warfen 
sie  das  Los  über  die  gefangenen  Christen.  Das  traf  einen  Magdeburger 
Bürger,  Herzhals  mit  Namen.  Herkus  Monte  befreite  ihn  und  liels 
das  Los  aufs  neue  werfen.  Das  traf  ihn  wieder.  Nochmals  erlöste 
ihn  der  Preufsenheld.  Aber  such  zum  dritten  Male  ward  Herzhals 
getroffen  und  machte  nun  keine  Anstrengung  mehr,  sondern  ergab  sich 
willig  in  sein  Schicksal. 

Der  Orden  umklammerte  das  Land  immer  fester  von  innen  und 
aufsen.  Es  folgte  Aufstand  auf  Aufstand.  Das  Geschick  der  Preufsen 
mufste  sich  bald  erfüllen,  trotzdem  sie  lange  heldenhaft,  wie  die 
Buren,  fochten.  —  Zersplitterung  und  Verrat  auf  der  einen  Seite, 
bessere  Kriegstüchtigkeit  und  immer  neue  Scharen  von  Kreuzfahrern  be- 
wirkten, dafs  auch  noch  die  Gaue  Sudauen,  Nadrauen,  Schalauen  unter- 
lagen, das  Land  um  1283  als  erobert,  die  Edlen  als  unterworfen  gelten 
konnten,  soweit  sie  nicht  schon  längst  auf  Seiten  des  Ordens  standen. 
Besiegelt  war  das  Los  des  Volkes,  nachdem  1273  der  Held  Herkus 
Monte  gehängt  und  damit  Natangen  überwunden  wurde.  Durch  den 
Verrat  Sareckas,  dessen  Kämpfe  Soldat  in  seinem  gleichnamigen 
Epos  besungen  hat,  fiel  auch  Schalauen.  Nochmals  drangen  800  Litauer 
über  die  Nehrung  ein.  Als  aber  der  Landmeister  Konrad  von  Thier- 
berg  das  ganze  noch  nicht  völlig  beruhigte  Land  durchzog,  die  Hütten 
verbrannte,  Männer  und  Weiber  fortschleppte,  kroch  alles  zu  Kreuz; 
auch  Pogesanien  war  nun  erobert.    Die  Selbständigkeit  des  Volkes  war 


Landordnung  Siegfrieds  von  Feuchtwangen.  13 

gebrochen,  aber  der  Orden  war  politisch  genug,  die  Zügel  nicht  über- 
mässig straff  zu  ziehen;  besonders  schonte  man  die  Sprache.  1284 
verschrieb  der  Bischof  Heinrich  von  Ermland  den  Preufsen  Gaudinis, 
Poburs,  Cantune,  Cawald,  Argaldinus  und  ihrem  Oheim  Skanthilt  das 
Feldlos  Spalt  das  einst  ihr  Vater  Stirnis  im  Felde  Eapheim  bei  Gut- 
stadt besessen,  als  Erblehen.  Dafür  sollten  sie  mit  einem  Reüsigen 
Kriegsdienst  leisten  und  von  jedem  Pflug  ein  Mafs  Weizen  und  Roggen, 
von  jedem  Haken  ein  Mafs  Weizen  und  jährlich  zwei  Pfund  Wachs 
der  Kirche  Zinsen.  Andere  Treue  erhielten  ähnliche  Schenkungen,  nur 
die  Biberjagd,  das  Berg-  und  Salzregal,  wie  die  hohe  Gerichtsbarkeit 
behielt  sich  der  Orden  meist  selbst  vor.  Der  12.  Hochmeister,  Siegfried 
v.  Feuchtwangen,  gab  1308  nach  Waisselius  eine  Landordnung  in  30 
Artikeln.  Aus  ihnen  ersehen  wir,  dafs  im  preufsischen  Ordenslande  Juden, 
Schwarzkünstler,  Zauberer  und  Weydeler  (Waidelotten)  nicht  geduldet 
wurden,  dafs  30  böhmische  Groschen  eine  Gute  Mark  gelten  und  das 
preußische  Gesinde  allsonntäglich  beim  zuständigen  Priester  Beichte 
thun  und  Predigt  anhören  sollte.  Die  Herrschaft  durfte  bei  drei  Mark 
Strafe  mit  dem  Gesinde  nicht  preufsisch  reden,  keinen  Preufsen  „zu 
einem  Regiment  setzen"  oder  dulden,  dafs  Preufsen,  Mann  oder  Weib, 
Bier  schenkten  und  andere  Erbe  bewohnten  und  Äcker  bebauten,  als 
wüste.  Wenn  ein  Dienstbote  entlief,  so  konnte  man  ihm  nachreisen 
und  bei  einem  Ohr  annageln.  Die  Dienstboten  durften  zur  Erntezeit 
nicht  heiraten.  Die  Brauer,  Markt  Verkäufer  und  Handwerker  hatten 
besondere  Vorschriften.  Für  Gastgebote,  Köstungen,  Kindelbiere  und 
Freiersleute  wurde  festgesetzt,  dafs  Schulzen  Gäste  auf  sechs,  Bürger  auf 
vier,  Bauern  auf  zwei  Fässer  Bier  haben  durften,  aber  nur  Montags, 
bei  10  Mk.  Strafe.  Zu  einem  „Lawelbier"  und  Kirchgang  waren  eine 
Mahlzeit  und  vier  Fässer  gestattet,  Strafe  war  nur  mit  Geld,  nicht  mit 
Bier  zu  bezahlen.  Sonntags  durfte  nichts  gekauft,  Kleider  sollten  nicht 
anders  gefärbt  werden.  Nur  die  Krüger  waren  ermächtigt,  Heringe, 
Bier,  Öl,  Honig,  Salz  in  den  Städten  zu  kaufen.  Das  Erbe  zu  ver- 
äul8ern  oder  wüste  Güter  ohne  Erlaubnis  zu  gebrauchen,  fortgelaufene 
Bauern  aufzunehmen,  das  notwendige  Vieh  pfänden,  war  verboten. 
Ein  Gärtner  konnte  zwei  Pferde  halten ;  niemand  durfte  roden,  wenn  er 
nicht  seinen  Acker  dahin  verlegen  wollte.  Alle  Jahre  sollten  die 
Schulzen  mit  ihren  Ratsherren  die  Grenzen  bereiten  und  nötigenfalls 
erneuern.  Das  Würfelspiel  war  untersagt.  Der  Eid  war  dem  Angeklagten 
zuzuschieben.  Vormund  und  Gericht  ward  geregelt.  Der  Schulze 
mufste  vier  Wochen  nach  Martini  dem  Pfarrer  den  Decem  einmahnen. 
Ein  Schulz  besafs  vier  freie  Hufen,  einen  Hengst  und  einen  Harnisch 
zu  einem  Mann.  Er  mufste  auf  eigene  Zehrung  reisen  und  den  Herren 
beistehen;  dreimal  im  Jahre  sollten  in  den  Städten  die  Satzungen 
vorgelesen  werden.  Und  wo  ein  Preufse  einem  die  Neige  zutrank,  da 
mufste  er  „bei  seinem  Halse u  „von  Frischem  anheben u. 

Die  Preufsen  fühlten  sich  unter  der  Ordensherrschaft  wohler  als 


14  Die  Preufsen. 

unter  der  Adelswillkür  des  jungen  Herzogtums.  Wurde  auch  1525  ihr 
unterthäniger  Widerstand  gebrochen,  so  dauerte  der  Kampf  um  Besserung 
der  Verhältnisse  doch  über  den  Untergang  des  Volkstums  und  der  Sprache 
hinaus.  Nach  Einführung  der  Reformation  erhielten  sie  noch  1545 
einen  „Catechismus"  „jn  vndeüdsoher  Peussnischer  sprach",  und  dagegen 
das  „deüdsche".  Er  enthielt  nur  die  Hauptstücke  ohne  Luthers  Er- 
klärung und  war  so  schlecht  in  der  Sprache,  dafs  desselbigen  Jahres  noch 
ein  „Catechismus,  in  preussnischer  sprach  gecorrigiret",  herauskam,  der 
bis  auf  Druckfehlerverbesserungen  mit  dem  ersteren  übereinstimmt.  Als 
Hauptsitz  der  Sprache  wird  ein  Teil  Samlands  bezeichnet,  in  Natangen 
sei  die  Sprache  nicht  viel  anders,  in  Wehlau  auch  nicht.  Grotse  Ver- 
breitung scheint  er  nicht  gefunden  zu  haben.  Das  Erscheinen  des 
Enchiridion  von  Abel  Will  knüpft  scheinbar  an  Nichtvorhandenes  an. 
Abel  Wills  Buch  führt  den  Titel:  „Enchiridion.  Der  kleine  Katechis- 
mus Doctor  Martin  Luthers,  Teutsch  und  Preufsisch.  Gedruckt  zu 
Königsberg  in  Preufsen  durch  Johann  Daubman  1561."  Die  erste  Vor- 
rede ist  vom  Markgraf  Albrecht  zu  Brandenburg ,  in  Preufsen ,  zu 
Stettin,  in  Pommern,  derKassuben  und  Wenden  etc.  unterzeichnet.  Die 
zweite  schrieb  der  Übersetzer  Abel  Will,  Pfarrherr  zu  Pobethen.  Er 
rühmt  der  Fürsten  Fürsorge  um  die  Ausbreitung  "der  reinen  Lehre, 
kommt  auch  auf  den  Pickuls,  den  Teufel  zu  sprechen  und  bietet  den 
Inhalt  der  oben  genannten  Katechismen  in  abweichender  Form.  Dazu 
gesellen  sich  die  Lutherschen  Erklärungen,  Beichte,  Morgen-  und  Abend- 
segen, Benedicte  und  Gratias,  Haustafel,  Trau-  und  Taufbüchlein, 
Gebete.  —  Man  hat  den  alten  Pfarrherrn,  der  des  Preufsischen  kaum 
mächtig  war  und  der  sich  der  Hülfe  eines  Tolken  bedienen  mufste,  von 
alter  Zeit  her  bis  heute  weidlich  gescholten,  weil  er  so  viele  Fehler 
gemacht  habe.  Es  bleibt  nur  eigentümlich,  dafs  sich  damals  kein 
Gelehrter  gefunden  hat,  der  die  Sache  besser  konnte.  Sicher  ist,  dafs 
Will  und  sein  Tolke  ganz  andere  Dinge  zu  thun  hatten,  als  auf  Etymologie 
zu  achten.  Will  hätte  es  auch  gar  nicht  gekonnt  und  wollte  noch  viel 
weniger  Sprachgelehrter  sein,  der  kirchliche  Unterricht  war  sein  Ziel. 
Aber  es  finden  sich  auch  sonst  so  grofse  sachliche  und  grammatische 
Fehler,  dafs  that sächlich  die  Sprache  im  gröfsten  Verfall  gewesen  sein 
mufs,  wie  etwa  heute  die  slowinzische.  Will  mufs  immerhin  noch  für 
einen  Kenner  gegolten  haben,  der  Altstädter  Pfarrer  Johann  Funk  in 
Königsberg  hatte  ihn  ja  dem  Landesherrn  empfohlen  und  dabei  nicht 
bedacht,  was  ihm  dabei  „für  eine  Arbeit  im  Catechismo"  auferlegt 
worden.  Will  schreibt  an  Funk  (Neue  preufsische  Provinzialbl.,  andere 
Folge  VII,  396,  Königsberg  1855;  vgl.  auch  Altpr.  Mon.  11,  533  bis 
545  über  Wills  mühseliges  Leben,  Erblindung  und  Tod  im  Löbenioht- 
schen  Hospital)  u.  a.: 

„Nun  hätte  ich  wohl  erhofft,  dafs  ich  meinen  Tolken  —  bei  dieser 
Arbeit  geruhlich  hätte  brauchen  wollen,  damit  solche  Arbeit  so  viel 
schleuniger  von  Statten  ginge,  dieweil  er  sonderlich  von  anderen  dieser 


Abel  Will  und  die  altpreufaische  Literatur.  15 

Sprache  wohl  kundig,  und  auch  darin  von  Gott  mit  sonderen  Gnaden 
begabt.  Aber  — ,  dafs  der  Weltfürst  Satan  —  solches  zu  hindern, 
in  keinem  Wege  ablassen  will.  Denn  der  Hauptmann  in  Grünhoff 
(George  v.  Eichicht)  denselben  Tolken  vielfältig  aufgeboten,  data  er  ins 
Schaarwerk  hat  ziehen  müssen  und  ihm  auch  solches  Schaarwerk  auf- 
erlegt, das  seine  Vorfahren  und  auch  er  zuvor  niemals  haben  thun 
dürfen.  Nun  hat  er  etliche  Schaarwerk-Tage  versessen,  insonderheit 
zu  der  Zeit,  wenn  ich  bei  ihm  gewesen,  und  er  nur  im  Dollmetschen 
hat  corrigiren  geholfen,  —  hat  ihn  der  Hauptmann  aufs  unglimpfüchste 
angefertigt  und  übel  abgefertigt  mit  Worten.  —  Die  weil  aber  mir  — 
unmöglich  ist,  solchen  Gatechismus  in  preufsische  Sprache  zu  bringen, 
will  ich  —  gebeten  haben,  mir  —  zu  rathen.  —  Pobethen,  den  26.  Juli 
Anno  1659.     K  A.  W.  williger  Abel  Will,  Pfarrer." 

Als  Simon  Grünau  in  der  Reformationszeit  seine  preufsische 
Chronik  schrieb,  behauptete  er,  das  Preufsische  stünde  den  benachbarten 
Sprachen  nicht  nach  und  führte  ein  fehlerhaftes  Vaterunser  und  eine 
Reihe  preufsischer  Worte  an.  Hundert  Jahre  später  meinte  Arnos 
Comenius  schon,  es  gäbe  nur  noch  ein  einziges  preufsisches  Dorf;  das 
war  nun  freilich  nicht  richtig.  Aber  Bedürfnis  nach  neuen  preufsischen 
Büchern  hatte  man  auch  nicht.  Im  Petersburger  Exemplar  des  Kate- 
chismus findet  sich  die  Notiz,  der  letzte  Preufse  sei  1677  auf  der  Neh- 
rung gestorben,  Hartknoch  meint  1684:  „Es  ist  jetzt  kein  einziges 
Dorf  mehr  übrig,  in  welchem  alle  Leute  die  alte  Sprache  auch  nur  ver- 
stehen sollen,  sondern  hier  und  dort  sollen  noch  einige  alte  Leute  sein, 
so  dieselbe  verstehen/  Um  1700  war  wohl  die  Sprache  erloschen; 
aufser  den  oben  genannten  Werken,  dem  handschriftlichen  Elbinger 
Vokabular  und  sonstigen  Wörtern  und  Kleinigkeiten  ist  nichts  von  der 
Sprache  übrig  geblieben.  Viel  länger  hielten  sich  die  alten  Sitten,  und 
wir  gewinnen  durch  den  Ordenschronisten  Dusburg  1326,  zum  Teil 
auch  durch  den  unzuverlässigen  Simon  Grünau  1521,  Joh.  Meletius 
1551,  besonders  aber  durch  Hennenberger  1584,  1595,  Schütz  1592, 
Waisselius  1599  und  später  durch  Hartknoch  1684,  zu  deren  Zeiten  das 
preufsisch  sprechende  Volk  noch  nicht  ausgestorben  war,  einen  hübschen 
Einblick  in  das  Leben  und  die  Sitten  der  Preufsen. 

n.     Sitten  und  Gebräuche. 

Die  weltliche  Herrschaft  über  die  einzelnen  Gaue  führte  ein  selbst- 
gewählter  Gaufürst  (dux  et  capitaneus),  später  ward  er  als  kleiner  König 
bezeichnet.  Wie  grofs  sein  Einflufs  war,  sieht  man  daraus,  dafs  das 
Volk  den  Widerstand  aufgab,  sobald  der  Führer  sich  dem  Feinde 
gestellt  hatte.  Die  alten  Preufsen  zerfielen  in  Adelige,  Freie  und 
gewöhnliches  Volk  und  unterschieden  sich  nach  der  Gröfse  ihrer  Besitz- 
tümer, die  auf  die  Söhne  vererbt  wurden.  Die  Frau  wurde  gekauft 
und    spielte    eine    untergeordnete   Rolle,    zumal    Vielweiberei    an    der 


DU  Preiiten. 


,  Ein  alter  heidenischer  Preufs.'  (Titelbild  des  Waincliu»,  Phantasie,  wie  Abb.  3 — 6.) 
Umschrift:     Der  alten  Preufsen  Form,  und  gestalt, 
Allhie  int  klärlich  abgemalt, 
Wie  sie  nemlich,  gegangen  recht, 
Mit  Kleidung,  Wehr  und  Waffen  schlecht. 
Hsrtknoch,  Alt-  und  neues  Preufsen  1684,  S.  220/21,  sagt  zu  demselben 
Bilde:    .Defswegen  sie  keine  andere  Waffen  gehabt,  als  nur  erstlich  eine  lange 
Keule  mit  Bley  vollgegossen ,  hernach  auch  sonsten  kleine  Knüttel  auch  mit 
Bley,  sechs  oder  acht,   darnach  nach  dem  einer  mehr  oder  weniger  um  sich 
stecken   konte,   mit   welchen    sie   gewifs   werften   kunten.      Diese   Preulsisclie 
Knüttel  können  wir  nennen  plumbatas,   das  ist  Bleykäulen,   wegen  defs  ein- 
gegossenen Bleyes,  wiewohl  uns  nicht  unbewust,  dafs  vor  Zeiten  plumbatae  eine 
Art  Pfeilen  gewesen  (Vegetius  I,  de  re  mit.,  17,  et  lib.  4,  29)."   Vgl.  Sehnte  3  b. 


Die  Winterfischerei.  17 

Tagesordnung  war.  Das  Leben  widmete  man  dem  Ackerbau,  dem  Handel, 
der  Fischerei.  Dafs  sich  die  Art  der  letzteren  nicht  von  der  heute  am 
Haff  und  im  Lebasee  unterschied,  beweist  am  besten  Hennenberger 
(Erclerung,  vor  dem  Register)  durch  Schilderung  der  Winterfischerei: 

„  Zu  Winterszeiten  wenn  alle  Teich  und  See  wol  zugefroren  sein,  ist 
in  diesen  Mitnachtischen  Lendern  die  beste  Fischerey;  denn  in  allen 
Seen  und  Teichen  wissen  sie  wo  die  besten  Züge  seyn,  so  nicht  haffte 
haben,  da  ha  wen  sie  dann  eine  gute  vierkantige  Wuhne,  oder  Loch 
durch  das  Eiss,  darnach  uff  beyden  Seiten  hawen  sie  wiederumb  kleine 
Wuhnen  weit  herumb  her  nach  dem  Lande  werts,  so  weit  voneinander, 
daz  man  sie  mit  einer  ziemlichen  langen  stangen  von  einem  Loch  zum 
andern  erreichen  mag.  Wan  sie  fast  nach  dem  Lande  werts  kommen, 
lenken  sie  sich  mit  der  kleinen  Wuhnen  zusammen,  wenn  sie  schier 
zusammen  gekommen,  also  das  sie  mit  der  langen  stangen  einander  ab- 
reichen mögen,  haben  «ie  in  der  mitten  wiederumb  ein  grosse  Wuhne 
oder  Loch  gemacht,  das  Garn  allda  auszunemen.  In  der  Ersten  und 
grösten  Wuhnen  giebt  man  ein,  Erstlich  die  lange  Stangen,  auff  jegliche 
Seiten  eine,  daran  seind  lange  Bastene  starke  Leinen,  die  wie  an  die 
flügel  des  Garns  gebunden  sein,  auff  jeglicher  Seiten  hat  einer  eine 
Gabel,  oben  daran  ein  Greutz,  damit  er  sie  unter  die  Arme  fasset,  mit 
dieser  scheubet  er  die  Stange  von  einem  Loch  zum  andern,  Vorn  aus 
gehet  einer,  der  hat  ein  gar  krummen  Hacken,  und  vorn  ein  Nagel 
daran,  wo  die  Stange  nicht  recht  zum  Loche  kompt,  suchet  er  sie  mit 
demselbigeu  Hacken  und  bringet  sie  damit  in  das  Loch  das  sie  der 
ander  mit  der  Gabeln  zum  andern  Loch  weiter  fort  schiebe,  Hinter 
diesem  seind  andere  so  umb  das  andere  Loch  die  Strenge  und  das 
Garne  nacher  ziehen,  welches  uff  beyden  seiten  geschiehet,  bis  sie  zu 
der  letzten  und  anderen  grossen  Wuhne  kommen,  da  ziehen  sie  eines 
nach  dem  andern  heraus,  bis  sie  endlich  das  Garn  auch  heraus  ziehen. 
Darinnen  man  oftmals  gar  gute  und  ein  grofse  Menge  Fische  fehet, 
Und  ist  dis  die  beste  Fischerey. u 

Die  Preufsen  trugen  wollene  und  leinene  Kleider  und  tauschten  sie 
gegen  Pelze  ein.  Die  Abbildungen  des  Waisselius  und  Hartknoch  geben 
einen  Begriff  aus  den  letzten  Zeiten,  als  auch  das  Kerbholz  noch  als 
Kalender  diente.  Haus-  und  Jagdtiere,  Erzeugnisse  des  Ackerbaues, 
Met  und  gegorene  Stutenmilch  machten  die  Nahrung  aus.  Sie  übten 
Gastfreundschaft  in  ausgedehntem  Mafse  und  unterschieden  sich  von 
anderen  Völkern  dadurch,  dafs  sie  das  Strandrecht  nicht  geltend  machten. 
Jeder  fand  sichere  Zuflucht  bei  ihnen,  und  Adam  von  Bremen  meinte, 
es  könne  gar  viel  Lobenswertes  von  ihren  Sitten  gesagt  werden,  wenn 
sie  nur  den  christlichen  Glauben  hätten,  dessen  Prediger  sie  unmensch- 
lich verfolgten.  Sie  glaubten  an  ein  Fortleben  nach  dem  Tode  ganz  in 
der  sinnlichen  Art  der  Naturvölker  und  legten  ihre  Toten  geschmückt 
ins  Grab,  als  sollten  sie  das  alte  Leben  in  einem  anderen  Lande  weiter- 
führen.     Als    1249    die    unterworfenen    Pogesanier,    Ermländer    und 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  2 


Die  Preufsen. 


Hartknoch,  a.  a.  0.,  8.  202 ;  „Die  Weiber  hatten  leinene  Kleider,  welche 
sie  Zweiffels  frey  ao  umgebunden,  wie  die  heutige  Littauische  Weiber  in 
Preufien  ihre  Decken  umzunehmen  pflegen.  Den  Hals  zierten  nie  mit 
knpffernen  und  Messingen  Bingen,  und  hatten  auch  sonderliche  Ohren- 
gehänge. Die  Männer  hatten  kurtze  Röcke,  entweder  von  Leinw&th,  oder 
auch,  wo  es  etwas  Vornehmes  war,  von  schlechten  weifsen  Tuch.  Es  waren 
aber  diese  Böcke  nicht  weit,  wie  bey  den  Parthern  und  Sarmaten,  sondern 
ganlz  eng  umb  den  Leib,  wie  die  Teutschen  haben  zu  tragen  pflegen.  — 
Hosen  —  bifs  an  die  Erde  herab  gehangen,  defswegen  mufcten  sie  dieselben 
unten  an  den  Schuhen  (von  Leder  oder  Bast)  —  anbinden." 


Alt  preußischer  Priester.  19 

Xatanger  dem  Kurehe  und  anderen  Göttern  das  Ernteopfer  zu  versagen 
versprachen,  willigten  sie  auch  ein,  die  Leichen  Verbrennung  zu  unter- 
lassen. Aber  die  Art,  den  Toten  mit  BeiDen  Lieblinge  stocken  aus- 
zustatten, währte  fort     Gab  man  ehemals  Waffen   mit  ins  Grab,  so 

Abo.  5. 


Alt  preußisch  er  Priester  vor  der  Bockheiligung. 
(Nach  Hsrtknoch,  S.   173.) 

jetzt  dem  Schulzen  in  der  Schulzentracht  mit  Schulzen  stiefeln  den  Stab 
und  die  Peitsche.  Der  Priester  mutete  den  Angehörigen  Bescheid 
sagen,  ob  er  nach  dem  Begräbnis  den  Toten  gesehen  habe,  und  sollte 
dann  Gestalt,  Waffen,  Kleider,  Gesinde,  Pferde  beschreiben.  Erst  wenn 
der  Tote  am  Hause  -vorübergegangen  und  ein  Zeichen  ins  Thor 
gehaneu,  beruhigte  man  sieb. 


20  Die  Preufsen. 

Die  religiöse  Herrschaft  übten  die  Priester  und  Priesterinnen  aus, 
an  deren  Spitze  der  Oberpriester  stand.  Jene  wurden  auch  Sigenoten, 
bei  Leichenbestattungen  (1249)  Tulissonen  und  Ligaschonen  genannt, 
dieser  führte  den  Namen  Kriwe,  oder  Kriwe  Kriwaito.     Der  Sitz   des 


Altpreu falsches  Romowe.     (Nach  Hwtknocli,  S.    116.) 

Kriwe  hiefs  Romowe.  Ob  nun  freilich  nur  ein  Romowe  bestand, 
oder  jeder  Gau  eins  besafs,  ist  ungewtfs,  wahrscheinlich  ist  das 
letztere.  Der  zuverlässige  Orden schron ist  Peter  von  Dusburg  er- 
wähnt einen  Kriwe  im  nadrauischen  Romowe.  Hartknoch  bildet 
ein  solches  Romowe  ab,  giebt  aber  keine  Quellen  und  (Erklärungen  an. 
Es  ist  ein  richtiger  Dorfrundling,  in  dessen  Mitte  das  eigentliche  Heilig- 
tum mit  den  Götterbildern  uud  dem  heiligen  l-'euer  stand.  Der  Kriwe 
mufste  dies  Feuer  böten,  er  hatte  die  Opferungen  zu  besorgen,  z.  B.  hatte 
er  Gefangene  zu  opfern  und  den  dritten  Teil  der  Beute  nach  dem  Sieges- 
feste  den  Göttern  darzubringen.     Er  mufste   auch  die  religiösen  Feste 


Bomowe.  21 

leiten  und  nach  dem  Begräbnis  den  Hinterbliebenen  Mitteilung  machen 
über  die  Art  des  Übertrittes  des  Verstorbenen  ins  andere  Leben.  Das 
heilst,  er  mufste  sagen,  in  welchem  Zustande  er  den  Toten  vorbei- 
kommen sah.  Nach  der  Einführung  des  Christentums  führten  die 
Priester,  die  sich  nicht  bekehrt  hatten,  heimlich  ihren  Dienst  weiter 
und  hatten  immer  Anhänger.  Allmählich  verlor  sich  ihre  Macht.  Als 
„Weideier,  Pilweysen,  Schwarzkunstige,  wie  solche  gottvergesser  heissen", 
waren  sie  den  Verfolgungen  ausgesetzt,  wurden  erst  vermahnt,  ver- 
loren um  1408,  nach  Simon  Grünau,  die  Rechte  und  wurden  schliefslich 
getötet.  Aber  ihre  Aufgabe,  das  ceremonielle  Festmachen  der  Diebe 
(Hartknoch,  S.  165),  das  Heilen  u.  a.  blieb  bestehen  und  ging  auf  die 
alten  Weiber  über,  denen  man  wie  den  Kranken  aus  dem  Wege  ging, 
weil  einem  sonst  kein  Werk  geraten  könnte. 

Am  wenigsten  geklärt  sind  unsere  Anschauungen  über  den  Götter- 
himmel der  alten  Preufsen;  Peter  von  Dusburg  sagt,  sie  hätten  Sonne, 
Mond  und  Sterne,  den  Donner,  Vögel,  vierfüfsige  Tiere  und  Kröten 
verehrt  und  heilige  Haine,  Felder  und  Gewässer  gehabt.  1249  wird 
der  Gott  Kurche,  vom  ermländischen  Bischof  werden  1418  Patollus  und 
Natrimpe  erwähnt.  Simon  Grünau  hat  in  seiner  bekannten  Art  einen 
ganzen  Olymp  geschaffen.  Dem  preufsischen  Mönch  und  Patrioten  war 
alles  recht,  was  zum  Lobe  des  Volkes  dienen  konnte.  Waisselius  und 
Hartknoch  haben  diese  Götterschar  trotz  aller  Zweifel  auch  aufgenom- 
men. Da  thronen  bei  Waisselius  Occopirnus,  der  Gott  des  Himmels  und 
der  Erden,  Schwayxtix,  der  Gott  des  Lichtes,  Ausschweytus,  der  Gott  der 
Kranken  und  Gesunden,  Antrympus,  der  Gott  des  Meeres,  Potrympus, 
der  Gott  der  Flüsse,  Perdoytus,  der  Gott  der  Schiffe,  Pergribrius,  „der 
lesset  wachsen  Laub  und  Grass tt,  Pelwitus,  „der  macht  reich  und  füllt 
die  Scheuren tf  (Bilwiz?),  Perkunus,  der  Donnergott,  Peckullus,  der 
Höllengott,  Pockallos,  der  Gott  der  fliegenden  Geister,  Puschkaytus 
der  Erdgott  „unterm  Holunder44,  die  Berstucke  oder  „Erdleutlein",  die 
Merkopate  oder  „Erdleute". 

Zu  dem  abgebildeten  Romowe  des  Perkun,  PikoH  und  Potrimp, 
dessen  Eiche  „sechs  Ellen  dick  zwerch  über"  war,  konnte  kein  Regen 
durchdringen.  Wer  Blätter  von  der  Eiche  am  Halse  trug,  sei  es  Mensch 
oder  Vieh,  entging  vielem  Unglück.  Noch  jetzt  läfst  ja  der  Slawe  zu 
Ostern  in  der  Kirche  seine  Weidenruten  segnen  und  hängt  sie  in 
Stube  und  Stall  zu  gleichem  Zwecke  auf.  Das  bei  Hartknoch  ab- 
gebildete, von  etwa  30  Häusern  umgebene  Romowe  mit  Opferfeuer,  Holz- 
stölsen  und  Wall  hat  auch  ein  heiliges  Gewässer.  Hartknoch  führt 
ferner  die  Eiche  Curchos  bei  Heiligenbeil,  die  27  Ellen  dicke  Götter- 
eiche bei  Marienburg,  in  die  Alle  ihre  Namen  einschnitten,  und  die 
Wehlauer  an  und  meint,  auch  Linden  und  Holunderbüsche,  wo  die 
unterirdischen  Männlein  wohnten,  seien  heilig  gehalten  worden.  Den 
Schlangen  zollte  man  bis  auf  die  jüngste  Zeit  grofse  Verehrung.  Die 
den  Göttern  dargebrachten  Opfer  waren  blutige  und  unblutige.     Man 


22  Die  Preufaen. 

opferte  die  Gefangenen,  die  Führer  hoch  zu  Rofs,  die  Jungfrauen  und 
Bräute  geschmückt.  Den  Göttern  opferte  man  weifse  Pferde,  beim 
Erntefest,  besonders  ceremoniell,  einen  Bock.  Mit  dem  Blute  ward  das 
Vieh  besprengt  Das  Fleisch  ward  gebraten  und  verzehrt.  Dazu  afs 
man  Kuchen  und  trank  Bier.  Den  Schlangen  und  Hausunken  gab  man 
Milch  und  Speise. 

Die  Hauptfeste  waren  die  Frühlingseinsegnung  mit  der  Bitte  um 
Gedeihen  der  Landwirtschaft  und  das  Fest  des  Ernteanfangs.  Bei 
beiden  Festen ,  einer  Art  Bauernbieren ,  füllte  der  Priester  eine  Schale 
in  der  Rechten  mit  Bier,  redete  jeden  Gott  der  Reihe  nach  an,  nahm 
die  Schale  Bier  zwischen  die  Zähne,  trank  sie  aus  und  warf  sie  ohne 
Hülfe  der  Hände  über  seinen  Kopf.     Dann  tranken  alle. 

Beim  Ernteanfang  aber  fing  einer  die  Ernte  an  und  brachte  die 
erste  Gabe  nach  Hause.  Am  anderen  Tage  begannen  dann  die  Haus- 
genossen dessen  Feld  abzuernten,  und  dann  folgten  die  anderen  der 
Reihe  nach.  Zu  Ostern  war  das  Frischgrünepeitschen  in  Gebrauch  und 
wurde  beispielsweise  von  des  Hochmeisters  Mägden  geübt  (Passarge, 
Aus  dem  Weichseldelta  342). 

Die  Familienfeste  wurden  mit  besonderem  Glänze  gefeiert,  nament- 
lich die  Hochzeit,  obgleich  ja  der  Mann  Herr  über  das  Leben  der  Frau 
und  ihrer  Kinder  war,  nach  dem  Tode  sofort  eine  andere  nehmen 
konnte  und  die  Frau  nur  Magd  neben  Magd  war.  —  Die  Braut  wurde 
durch  zwei  Freunde  dem  Bräutigam  scherzweise  entführt,  und  er  mufste 
sie  zurückkaufen.  Ehe  die  Braut  vom  Bräutigam  nach  Hause  geholt 
ward,  lud  sie  die  Anverwandten  zu  einem  Gastmahle  ein  und  sang  ein 
Klagelied,  wie  das  bekannte  litauische,  von  Goethe  in  die  Fischerin 
übernommene.  Der  Bräutigam  schickte  ihr  dann  den  Wagen  entgegen. 
An  der  Grenze  sprang  einer,  der  in  der  einen  Hand. einen  Feuerbrand,  in 
der  anderen  eine  Kanne  Bier  hatte,  hervor,  rannte  dreimal  um  den  Braut- 
wagen und  forderte  die  Braut  auf,  des  Herdes  im  neuen  Hause  wie  im  alten 
zu  walten.  Wenn  der  Wagen  vor  der  Thür  ankam,  schrie  alles:  „Der 
Wagentreiber  kommt. u  Mit  einem  Sprunge  setzte  sich  nun  der  Bräu- 
tigam auf  den  an  der  Thür  mit  Kissen  und  Handtuch  belegten  Stuhl, 
bis  die  Braut  herausgeführt  und  auf  den  Stuhl  gesetzt  ward.  Hatte 
die  Braut  Bier  getrunken,  so  wurde  sie  um  den  Herd  geführt,  die 
Fülse  wusch  man  ihr,  sprengte  mit  dem  Wasser  Brautbett,  Vieh,  Haus. 
Dann  verband  man  ihr  die  Augen,  strich  ihr  Honig  in  den  Mund,  und 
stiefs  sie  dann  zum  Zeichen  der  Besitzergreifung  an  alle  Thüren.  Man 
beschüttete  sie  mit  Getreide  aller  Art  und  nahm  das  Tuch  wieder  ab. 
Beim  Gastmahle  verwendete  man  ungeschnittenes  Vieh.  Yor  dem 
Abgange  ins  Brautbett  schnitt  man  ihr  die  Haarlocken  ab,  und  die 
Frauen  setzten  ihr  einen  Kranz  mit  weifsem  Tuch  („abgloyte"  =  „ab- 
glopte?")  auf.  Den  mufste  sie  tragen,  bis  sie  einen  Sohn  bekam.  Im 
Bette  prügelte  man  sie  und  setzte  dem  Paare  Bocksnieren  vor,  dafs  es 
fruchtbar  wäre.     Am  anderen  Morgen  afs  es  den  Rest  des  Brauthahns. 


Feste.  23 

Die  Begräbnisgebräuche  Bind  in  vielen  Stücken  noch  heute  ahnlich. 
Die  Nachbarn  kamen  alle  zum  Sterbenden,  klagten  und  weinten,  während 
der  Priester  betete.  Nach  dem  Tode  wurde  der  Leichnam  gewaschen 
und  in  Schuhen  und  weilsen  Kleidern  auf  den  Stuhl  gesetzt.  Dabei 
trank  man  in  der  Totenstube  mit  Schalen  Bier  aus  dem  Backtroge, 
trank  auch  dem  dabeisitzenden  Toten  zu  mit  den  Worten:  „Warum 
bist  du  denn  gestorben,  hattest  dus  nicht  so  gut  bei  uns,  hattest  eine 
schöne  Frau  und  Kinder  u.  s.  w.  Warum  bist  du  nur  von  uns 
gegangen ?a  Dann  gab  man  ihm  Schwert  und  Münzen,  der  Frau  Nadel 
und  Zwirn  mit  und  trug  die  Leiche  zum  Grabe.  Die  Blutsverwandten 
ritten  nebenher,  hieben  mit  dem  Degen  in  die  Luft:  „Lauft  ihr  Teufel  in 
die  Hölle. u  Auf  diese  Weise  beschreibt  ja  auch  der  Biograph  Wiprechts 
von  Groitzsch  das  Ende  von  dessen  Grofsvater  Wolf,  dem  Herrn  über 
Pommern  und  das  Balsamerland:  „Schliefslich  konnte  Wolf  vor  Alters- 
schwäche nicht  mehr  auf  dem  Rosse  sitzen,  da  banden  ihn  die  Seinen 
darauf,  damit  er  ihnen  so  im  Kriege  voranzöge.  Als  er  gestorben  war, 
trugen  sie  nach  ihrer  Barbarensitte  den  Leichnam  zum  Tempel  der 
Götter,  umliefen,  nach  den  Sippen  geordnet,  in  Schlachtrüstung  mit 
gezückten  Schwertern  die  Totenbahre  und  feierten  unter  Klagen  sein 
Leichenbegängnis. u 

Dann  folgte  ein  schwelgerisches  Totenmahl;  was  an  Speisen  unter 
den  Tisch  fiel,  ward  nicht  aufgehoben,  das  war  für  den  Toten.  Nun 
fegte  der  Priester  die  Stube  aus  und  jagte  die  Seele  fort:  „Fort,  ihr 
habt  gegessen  und  getrunken."  An  dem  lärmenden  Feste  beteiligten  sich 
auch  die  anfangs  so  stillen  Weiber.  —  Lebhaft  tritt  uns  das  Leben  und 
Treiben  der  alten  Preuf sen  zuerst  besonders  in  des  Matthäus  Waisselius 
von  Bartenstein,  Pfarrers  zu  Lauckheim,  Buch  entgegen,  das  1599  in 
Königsberg  bei  Osterberger  erschien,  mit  vielen  Wappen  und  einem 
alten  heidnischen  Preufsen  als  Titelbild  geziert  ist  und  Chronica  „Alter 
Preusscher,  EifElendischer  und  Curl endischer  Historien u  heifst. 

Als  Sprachprobe  diene  das  Vaterunser  nach  Abel  Will  1561: 

Täwa  Noüson  kas  tu  essei  Endangon. 

Swintints  wirst  twais  Emnes. 

Pereit  twais  Rijks. 

Twais  Quäits  audäsin,  kagi  Endangon  tijt  deigi  nosemien. 

Nouson  deinennien  geitien  dais  noümans  schan  deinan. 

Bhe  etwerpeis  noümans  noäsons  äuschantins,  kai  mes  etwerpimai  noüsons 

auschautenikamans. 
Bhe  ni  weddeis  mans  emperbandäsnan. 
Schläit  isrankeis  mans,  esse  wissan  wargan.     Amen. 


Die  Litauer. 

Literatur. 

Aleksandrow:   Litauische  Studien.    Dorpat  1888. 

Baranowski  und  Weber:    Ostlitauische  Texte.    Weimar  1882. 

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Basanaviczius:    Lituviszkos  pasakos.    Shenandoah  1899. 

Beheim-Schwarzbach:  Friedrich  Wilhelms  I.  Kolonisation  in  Litauen. 
Königsberg  1879. 

Benecke:    Fische,    Fischerei   und   Fischzucht    in    Ost-   und   Westpreufsen. 
Königsberg  1885. 
>7JBezzenberger:    Litauische  Forschungen.    Göttingen  1882.  —   Beitrage  zur 
/  Geschichte  der  litauischen  Sprache.     Göttingen  1877.   —  Litauische   und 

lettische  Drucke  des  16.  und  17.  Jahrhunderts.    Göttingen  1874  ff. 

Bock:  Versuch  einer  wirtschaftlichen  Naturgeschichte  von  Ost-  und  West- 
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Brand:   Beysen  (1673)  durch  die  Marck  etc.,   herausgegeben  von  Hfennin. 
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-    Bretkius:   Postilla.    Königsberg  1591. 

Donali tius:  Ausgabe  von  Bhesa:  Das  Jahr.  Königsberg  1818.  —  Aus- 
gabe von  Schleicher.  Petersburg  1865/7.  —  Ausgabe  von  Nessel-« 
mann.  Königsberg  1869.  —  Ausgabe  von  Passarge  (Übersetzung). 
Halle  1894.  —  „Kurzgefafste  Nachrichten",  Ausgabe  von  Tetzner  in 
„Unsere  Dichter  in  Wort  und  Bild",  V.  Leipzig  1895.  —  Donalitius- 
literatur,  vergl.  Altpreuft.  Mon.  34,  S.  278  ff. 

Freyberg:  Geschichte  der  evangelischen  Kirchengemeinde  Tolminkemen. 
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Gaigalat:  Die  Wolfenbütteler  litauische  Postillenhandschrift  d.  J.  1578. 
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Geitler:   Litauische  Studien.    Prag  1875. 

Girenas:  Die  litauische  Frage  etc.  Tilsit  1888.  —  Über  einige  Mifsgriffe. 
Tilsit  1894. 

Glagau:  Litauen  und  die  Litauer.    Tilsit  1869. 
«/»  Goldbeck:  Vollständige  Topographie  des  Königreichs  Preufsen.    Königsberg 
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Hoffheinz:   Giesmiu  balsai.    Heidelberg  1894. 

Jurkschat:   Litauische  Märchen  etc.    Heidelberg  1899. 

Krause:   Litauen  und  dessen  Bewohner.     Königsberg  1834.   . 

Kurschat:  Litauisches  Wörterbuch,  3  Bde.  Halle  1870/73/83.  Grammatik 
der  litauischen  Sprache.    Halle  1876. 

Lasicius:   De  diis  Samagitarum.     Basel  1615.    (Benutzt:  Ausg.  v.  1627.) 

Lepner:   Der  Preufsische  Litauer  (1690).     Danzig  1744. 

Leskien  und  Brugmann:  Litauische  Volkslieder  und  Märchen  etc.    Strafs- 
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~    Litauisch-Literarische  Gesellschaft:   Mitteilungen.    Heidelberg  1883  ff. 

Mielcke:  Anfangsgründe  einer  litauischen  Sprachlehre.  Königsberg  1800.  — 
Litauisch-deutsches  und  deutsch-litauisches  Wörterbuch.    Königsberg  1800. 


»  i 


Die  Litauer.  25 

Moswid:  Der  litauische  Katechismus  vom  Jahre  1547,  herausgegeben  von 
Bezzenberger.    Göttingen  1874. 

Nast:    Die  Volkslieder  der  Litauer.    Tilsit  1893. 

Nesselmann:  Litauische  Volkslieder.  Berlin  1858.  —  Litauisches  Wörter- 
buch.   Königsberg  1850/1. 

Nestor:  Ausgabe  von  Schlözer,  V.    Göttingen  1809. 

Pisanski:  Entwurf  einer  preufsischen  Literärgeschichte  in  4  Büchern,  her- 
ausgegegen  von  Fhilippi.    Königsberg  1886. 

Prätorius:  Nachricht  von  der  Litauer  Arth  etc.  (Erleutertes,  Preufsen 
1724;  Tetzner,  Dainos  5,  11  ff.).  —  Deliciae  prussicae,  herausgegeben 
von  Pierson.    Berlin  1871. 

Preufs:  Litauen  vor  300  Jahren.     Tilsit  1898. 

Bhesa:  Vorrede  zur  litauischen  Bibel.  Königsberg  1816.  —  Dainos.  Königs- 
berg 1825. 

Buhig:  Betrachtang  der  litauischen  Sprache.  Königsberg  1745.  —  Litauisch- 
deutsches  und  deutsch-litauisches  Lexikon.    Königsberg  1747. 

Schleicher:  Handbuch  der  litauischen  Sprache,  2  Bde.  Prag  1856/7.  — 
Litauische  Märchen  etc.  Weimar  1857.  —  Litauisches  Lesebuch.  Prag 
1857.  —  Briefe  über  die  Erfolge  einer  wissenschaftlichen  Heise  nach 
Litauen.    Wien  1852. 

(Schliupas):    Lietuviszkiejie  Basztai  ir  Basztininkai.    Tilsit  1890. 

Szyrwid:  Punkty  kazan  1629,  herausgegeben  von  Garbe.  Göttingen  1884. 
—  Dictionarium  trium  linguarum.    4.  A.    Wilna  1677. 

Tetzner:  Dainos,  litauische  Volksgesänge  mit  Einleitung,  Abbildungen  und 
Melodieen.    Leipzig  1897. 

Thomas:  Litauen  (nach  den  Wegeberichten).     Tilsit  1885. 

Veckenstedt:   Die  Mythen,   Sagen  und  Legenden  der  Zameiten,   2  Bände» 

Heidelberg  1883. 
Völkel:  Litauisches  Elementarbuch.    Heidelberg  1879,  2.  Aufl.  1898. 
Weifs:  Preufsisch- Litauen  und  Masuren,  3  Bde.    Budolstadt  1878/9  (Litauer 

167—173,  Masuren  173—179,  Zigeuner  180,  Philipponen  180—183).    * 
Wiehert:   Litauische  Geschichten.    Leipzig  1890. 
Wiedemann:  Handbuch  der  litauischen  Sprache.    Strafsburg  1897. 
Wolter:    Zahlreiche  Aufsätze  über  Bussisch  -  Litauen  in  den  Mitt.  d.  lit  lit» 

Ges. 
Zweck:  Litauen.    Stuttgart  1898. 

I.     Sprachgebiet. 

Das  litauische  Sprachgebiet  umfafste  noch  Mitte  des  17.  Jahr- 
hunderts ein  Gebiet,  das  von  folgender  Linie  eingeschlossen  ward: 
Königsberg,  Slonim,  Rjäschitza,  Dünaburg,  kurische  Südgrenze  bis 
Polangen,  karische  Nehrung,  Königsberg.  Dabei  lagen  alle  diese  Städte 
mitten  im  litauischen  Sprachgebiet,  wenn  auch  in  den  Städten  selbst 
die  polnische  und  in  Preufsen  die  deutsche  Sprache  an  erster  Stelle 
herrschend  waren.  Besonders  die  Ostlinie  (Slonim,  Grodno,  Wilna, 
Dünaburg)  ist  früher  weiter  der  Beresina  und  dem  Dnjepr  zugekehrt 
gewesen.  Für  die  Nordgrenze  ist  die  Düna  und  die, Gegend  Dünaburgs 
von  Interesse.  Selbst  litauische  Patrioten,  die  doch  dem  ursprünglichen 
Sprachgebiet  möglichst  viel  beirechnen  möchten,  nehmen  Dünaburg  mit 
seinen  wenigen  litauischen  Bewohnern  heute  nicht  mehr  für  sich  in 
Beschlag.      „Dort  wohnen  genau   so  Litauer,  wie  in    Petersburg  oder 


26  Die  Litauer. 

Moskau,  sie  sind  eben  eingewandert/  In  einem  Bericht  von  1603  aber 
wird  wiederholt  die  litauische  Bevölkerung  in  der  Umgegend  Dün ab urgs 
erwähnt.  Ich  meine  die  „Wahrhafftige  erschreckliche  und  unerhörte 
geschichtt  so  sich  in  Lifflandt  (bezeichnete  damals  Kur-,  Liv-  undEsth- 
land)  zugetragen  in  das  einige  Gebiethe  Dünborch  (in  Kurland),  ge- 
schrieben durch  Herrn  Friedrich  Engell,  Pastore  daselbsten"  (Jahres- 
bericht der  Felliner  literarischen  Gesellschaft  1889,  S.  236  bis  241): 
„4.  zeugt  Jochim  Friedewoldt,  das  in  einem  Kruge  an  der  Dühne, 
unter  Ihr  Fürstlich  Gnaden  gelegen,  im  Boroschen  OloS  der  Hoff  zu- 
gehörig, ein  Litauer  Bauer  ein  Krüger  gewesen;  der  hatt  so  viel 
Menschenfleisch  gekochet  und  den  überdünischen  Pauren  verkauft. 

7.  In  der  Sieckelsche  Witme  (Widdern  =  Predigerwohnung)  ist 
ein  Littower  gewesen,  alls  der  Pastor  auf  sgetzogen ;  der  hatt  seine 
Hunde  und  Katzen  vertzehret,  so  woll  einen  lamen  Jungen,  Jahn 
Stuckens  Schwester  Sohn,  noch  ander  2  Persohnen,  so  woll  auch  des 
Pastorn  Yiehemagt,  mit  nahmen  Anna,  auff gefressen. 

8.  Diesen  (Bauer  Martin)  hatt  gemelter  Littower  sambt  andern 
Dieben  vom  Galgen  genommen  und  aufgefressen.  Bezeugt  Friedrich 
Engell,  Pastor  daselbst,  hat  solches  am  Tage  Reminiscere  erfahren  und 
selbst  gesehen. 

28.  Der  Krüger  ist  ein  Littower;  darumb  dals  er  3  Gesind  aufs- 
gemordet und  auffgefressen ,  auffs  Rad  gelecht.  Testis  Gothard  Budt- 
berchi.u 

Aber  noch  heute  wohnen,  nach  Manteuffel,  nördlich  von  Düna- 
burg,  bei  Bjäschitza,  in  der  Umgegend  von  Ciskad,  etwa  250  Litauer 
in  64  Gehöften  der  Orte  Girnokale,-  Jaudzime,  Kejdany,  Olchowka, 
Pilwale  u.  s.  w. 

Die  geschichtlichen  Ereignisse  der  letzten  zwei  Jahrhunderte  waren 
nicht  dazu  angethan,  die  Sprache  besonders  zu  pflegen.  Der  russische 
Teil  war  im  Süden  der  polnischen,  im  Osten  der  weifsrussischen ,  im 
Norden  und  Westen  der  deutschen,  im  Innern  anfangs  der  polnischen, 
später  durch  die  Beamten  der  russischen  Überflutung  ausgesetzt. 
Und  so  schrumpften  die  Grenzen  immer  weiter  zusammen.  Heute 
liegen  Grodno  und  Dünaburg,  selbst  Suwalki,  auf  serhalb  des  litauischen 
Sprachbereichs.  [Tafel  des  litauischen  und  des  letzten  preulsischen 
Sprachgebiets  (Pobethen),  Abb.  7.]  Und  die  alte  Königsstadt  Wilna  ist 
längst  polemisiert.  Von  gröfseren  Städten  ist  nur  Kowno  rings  von  litaui- 
schen Dörfern  umgeben,  in  der  Altstadt  ist  noch  eine  litauische  Kirche. 
Die  Bevölkerung  der  Stadt  selbst  aber  ist  polnisch,  r,die  Intelligenz 
spricht  clie  Sprache  Warschaus,  nur  die  Bauern  haben  ihre  Vatersprache 
bewahrt11.  Dasselbe  Verhältnis  hat  nach  Angabe  des  bekannten  Bischofs 
und  Schriftstellers  Baranowski  in  allen  Städten  und  gröfseren  Orten 
Litauens  statt.  Die  litauische  Sprache  erhält  sich  nur  deshalb  so  lange, 
weil  so  wenig  Eisenbahnen  das  Land  durchfurchen.  Zum  Sprachgebiet 
gehören   aufser  dem   Gouvernement  Kowno    oder  Saraogitien   die   an- 


Geschichte  des  Sprachgebiets.  27 

grenzenden  Teile  der  Gouvernements  Wilna,  Grodno  und  Suwalki  und 
kleine  Teile  von  Minsk  und  Witebsk.  Freilich  wird  gerade  in  dieBen 
Teilen  das  litauisch  -  polnisch  -  russische  Sprachgemisch  noch  bunter 
durch  die  zahlreichen  Deutschen  und  Juden.  Wilna  zählt  unter 
130  000  Einwohnern  60  000  Juden,  Kowno  je  die  Hälfte  von  Wilna, 
Grodno  gar  unter  50  000  Einwohnern  40  000  Bewohner  vom  Stamme 
Sem.  Und  die  Juden  radebrechen  alle  Sprachen,  das  Deutsch  an  den 
Firmen  kommt  in  folgender  edler  Gestalt  vor:  Kaffe  und  Schokolad, 
Razizen,  Harrschneiden,  Parikmacherei,  Resieren  und  Froasieren,  Kos- 
meticus  Waaren.  Juschkiewitsch  führt  in  den  Wielonaer  „ Hochzeits- 
gebräuchen a  eine  Daina  an,  darin  heifst  es : 

„Kannst  du  Kownos  Juden  zählen?" 
„Danke,  danke!" 

Eine  genaue  Zählung  und  Sichtung  der  Bevölkerung  nach  Sprachen 
wäre  ebenso  unmöglich  als  unfruchtbar.  Man  müfste  denn  diejenigen 
einer  Sprache  zuordnen,  die  eben  nur  eine  Sprache  kennen.  Deren 
Zahl  ist  jedoch  in  den  Kreisen  Wilna  und  Suwalki  gering.  Schon  der 
regelrechte  ausgedehnte  Marktverkehr  bedingt  das  Erlernen  der  not- 
wendigsten Sprachen.  Meine  Wirtin  in  Eowno  verstand  die  sämt- 
lichen oben  erwähnten  Sprachen,  aufserdem  das  in  besseren  russischen 
Kreisen  gebräuchliche  Französisch.  Etwas  sprachfester  ist  die  gesamte 
Landbevölkerung  des  inneren  Samogitiens,  die  wie  die  polnische  römisch- 
katholisch ist  und  schon  deshalb  zur  griechisch-katholischen  Beamten- 
welt in  Gegensatz  steht.  Dafs  die  litauische  Sprache  überhaupt  dort 
noch  nicht  zum  Trödel  der  Rumpelkammer  zu  zählen  ist,  bedarf  nur 
eines  Hinweises  auf  die  1500  litauischen  Priester,  die  Jenseits  der 
preußischen  Grenze  wirken.  Diese  Zahl  ist  nicht  zu  unterschätzen, 
wenn  man  bedenkt,  wie  spärlich  dort  die  Kirchen  gesäet  sind.  Im  nörd- 
lichen Teile  Samogitiens  giebt  es  auch  griechisch-katholische  Litauer 
und  an  der  Grenze  evangelische.  So  scheiden  sich  in  Russisch  -  Krot- 
tingen  streng  die  katholischen  Schameiten  von  den  eingewanderten 
evangelischen  Litauern. 

Die  litauische  Sprachgrenze  in  Rufsland  umschlietst  etwa 
l1/)  Millionen  Litauer;  sie  beginnt  bei  Dubeningken  an  der  Grenze, 
berührt  das  Quellgebiet  der  Scheschuppe  nördlich  von  Suwalki,  zieht 
sich  nördlich  von  Grodno  hin  (im  ganzen  Gouvernement  2180  Litauer) 
und  erreicht  das  N Jementhal,  die  südlichsten  versprengten  litauischen 
Gemeinden  wohnen  im  Kreise  Slonim  (1886:  1156  Litauer  in 
Pogirren  und  Zetela).  Dann  wendet  sich  die  Grenze  nördlich  nach 
Nowagrodek  im  Gouvernement  Minsk,  wo  ebenfalls  inmitten  von 
Polen  und  Weifsrussen  verstreut  litauische  Bevölkerung  haust.  Nach 
Norden  hin  trifft  die  Grenze  auf  den  Kreis  Oschmiana,  woselbst 
in  Lasduny  die  Beichte  litauisch  abgehört  wird.  Nun  schliefst 
die  Grenze  die  alte  Grofsfürstenstadt  Wilna  aus  und  mündet  an  der 
samogiti  sehen  Grenze  bei  der  Disna  ein.     An  der  Düna  wendet  sich 


28  Die  Litauer. 

die  Grenze  zu  einigen  entfernten  Dörfern  im  Kreise  Rjäschitza  (etwa 
400  Litauer  im  Gouvernement  Witebsk),  umgeht  Dünaburg  und  mündet 
in  die  kurländisch  -  samogitische  Grenze  ein.  Auch  auf  der  kurischen 
Seite  wohnen  noch  Litauer,  mit  Letten  und  Deutschen  vermischt.  Die 
angegebene  Süd-  und  Ostgrenze  umschliefst  aber  nur  die  äufsersten 
Gemeinden,  die  Hauptbevölkerung  ist  polnisch  und  weifsrussisch.  — 
Nicht  in  Betracht  kommen  die  litauischen  Kolonieen,  so  die  in  Peters- 
burg, wo  regelmäfsiger  Gottesdienst  in  der  katholischen  Katharinenkirche 
stattfindet.  Ebenso  die  nordamerikanischen  Kolonieen  in  Plymouth, 
Chicago,  Mahanoy  City,  New  York,  Canada;  ihre  Zahl  soll  1/2  Million 
betragen,  1895  besafsen  sie  15  Kirchen  und  5  Schulen.  Das  Litauische 
wird  auf  den  russischen  Schulen  nicht  gepflegt,  die  litauischen  Schüler 
der  kurischen  und  polnischen  Gymnasien  kommen  aber  unter  sich  zu- 
sammen und  pflegen  litauische  Lektüre  und  Grammatik.  Da  der  Druck 
litauischer  Bücher  in  den  60er  Jahren  von  Murawjew  in  anderen  als 
russischen  Lettern  verboten  ward,  beziehen  sie  ihre  Literatur  aus 
Deutschland,  wo  etwa  13,  und  aus  Amerika,  wo  9  Zeitungen  erscheinen. 
Drei  davon  sind  besonders  für  Rufsland  berechnet.  Neuerdings  aber 
pflegen  einige  für  die  Intelligenz  berechnete  Blätter,  wie  Yarpas  und 
Ukininkas,  Belletristik,  Volks-  und  Landwirtschaft,  Literatur-  und 
Kulturgeschichte;  litauische  Novellen  und  Dramen  erschienen  neben 
aufklärenden  Schriften.  Und  die  Zeitungen,  die  als  Literatur  nur  die 
Dainos,  kirchliche  Schriften  und  das  „noch  nicht  wieder  aufgefundene 
Bibelbruch  stück tt  neben  Donalitius  anführen  und  die  litauische  Literatur 
damit  für  abgethan  hielten,  haben  falsch  prophezeit;  es  sind  in  den 
letzten  Jahrzehnten  litauische  Literaturwerke  entstanden,  die  getrost 
in  die  Weltliteratur  eingereiht  werden  dürfen. 

Die  litauische  Sprachgrenze  in  Deutschland  (Tafel,  Abb.  8)  ist 
im  Laufe  der  Jahrhunderte  nicht  blols  zurückgedrängt,  sondern  auch 
durchbrochen  und  umschlossen  worden,  dal s  heute  kaum  mehr  von  einem 
geschlossenen  litauischen  Sprachgebiet  die  Rede  sein  kann.  Ursprünglich 
waren  die  drei  Landschaften  Sudauen,  Nadrauen  und  Schalauen  rein 
litauisch.  Der  Orden  vermehrte  zunächst  die  Anzahl  der  deutschen 
Burgen;  nach  aufsen  und  von  aufsen  wurde  germanisiert.  Gegen  Ende 
des  17.  Jahrhunderts  gehörte  noch  alles  Land  nördlich  vom  Pregel  bis 
nach  Königsberg  hin  zum  Sprachgebiet;  und  vom  heutigen  Regierungs- 
bezirk Gumbinnen  die  Kreise  Darkehmen  und  Goldap  und  was  nördlich 
davon  lag.     Alle  und  Deime  galten  als  Grenze. 

Friedrich  der  Grofse  sagt,  dafs  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts 
über  300  000  Einwohner  durch  Krieg  und  Pest  umgekommen  seien, 
durch  seines  Vaters  Kolonisation  aber  das  Land  reicher  und  frucht- 
barer als  irgend  eine  andere  preufsische  Provinz  geworden  wäre  und 
V2  Million  Einwohner  zähle.  Hiernach  kann  die  Zahl  der  Litauer 
kaum  bedeutender  gewesen  sein  als  heute,  denn  die  herbeigerufenen 
Siedler  waren   Deutsche.      Zufälligerweise  haben   wir   ein  Verzeichnis 


GSBEftß 


'  Jlfrrejierveiort* . .. 


Geschichte  des  Sprachgebiets.  29 

der  Kirchspiele,  in  denen  litauisch  gepredigt  wurde,  aus  dem  Jahre 
1719,  also  vor  der  deutschen  Besiedelung.  Wir  sind  so  in  der  Lage, 
die  damalige  Sprachgrenze  feststellen  zu  können.  Das  litauische 
Sprachgebiet  umfafst  danach  den  Teil  Ostpreufsens ,  der  nördlich  von 
folgender  Linie  liegt:  Labiau,  Petersdorf,  Norkitten,  Muldschen,  Jod- 
lauken, Trempen,  Darkehmen,  Szabinen,  Goldap,  Dubeningken.  In 
diesem  Teile  wirkten  62  litauische  Pastoren,  davon  je  zwei  in  Rag- 
nit  und  Tilsit  und  drei  in  Memel.  Ausserdem  gab  es  einen  solchen 
in  Königsberg,  auch  wohnten  südlich  von  dieser  Linie  vereinzelt 
litauische  Familien.  Es  spricht  für  die  Zähigkeit  des  Stammes,  dafs 
Friedrich  Kurschat  1876  in  seiner  Grammatik  auf  der  Sprachkarte, 
wohl  ohne  Kenntnis  jenes  Berichtes  von  Lysius,  die  Grenze  fast 
genau  so  wiedergiebt,  nur  hier  und  da  zu  Gunsten  des  Volkes  südlicher 
legt.  Litauische  Kirchspiele  gab  es  damals  in  den  Kreisen  Memel, 
Heydekrug,  Niederung,  Tilsit,  Ragnit,  Pillkallen,  Labiau,  Insterburg, 
Goldap,  Stallupönen,  Gerdauen,  Darkehmen,  Gumbinnen,  Wehlau. 
1848  war  die  Sprachgrenze:  Labiau,  Laukischken,  Plibischken,  Nor- 
kitten, Obelischken,  Jodlauken,  Didlacken,  Bailethen,  Darkehmen, 
Kleschowen,  Gawaiten,  Tolminkemen,  Dubeningken. 

Meine  durch  Fragebogen  im  März  1897  erhaltenen  Zahlen  beziehen 
sich  auf  die  geschlossenen  Kirchspiele  der  einzelnen  Kreise,  als  deren 
Vertreter  das  Kirchdorf  gilt.  Sich  neu  abgrenzende  Seelsorgerbezirke 
werden  allmählich  zu  Kirchspielen;  solange  sie  dies  noch  nicht  waren, 
habe  ich  deren  Einwohner  zu  den  alten  Kirchspielen  gerechnet.  Die 
Kirchspiele  selbst  sind  räumlich  sehr  ausgedehnt,  im  Kirchort  selbst 
überwiegt  meist  das  Deutsche.  Zu  jedem  Kirchspiel  gehören  eine 
Menge  Dörfer,  Dörfchen  und  Schulen.  Als  Beispiel  sei  Tolminkemen 
erwähnt,  das  ja  seit  einigen  Jahrzehnten  völlig  germanisiert  ist,  von 
ihm  ward  Rom  inten  abgezweigt.  Das  tolminkemische  Kirchspiel  hat 
aulser  dem  Kirchdorf  und  den  anderen  Schuldörfern  Ballupönen, 
Didszullen,  Islaudszen,  Kiaunen,  Kubillen,  Lankischken,  Pickeln,  Pöw- 
gallen,  Schackeln,  Theweln,  Warnen  noch  die  Dörfer:  Bergenthal, 
Budszedehlen,  Czerwonnen,  Deeden,  Elluschönen,  Jessatschen,  Jagdbude, 
Kaseleken,  Kublischken,  Martischken,  Makunischken ,  Meldienen  mit 
dem  Rettungshause  Bethanien,  Motzkuhnen,  Oszeningken,  Pallädszen, 
Raudohnen,  Samonienen,  Sergunen,  Waldaukadel,  Werxnen. 

Vor  300  Jahren  erklang  hier  fast  nirgend  ein  deutscher  Laut, 
noch  vor  200  Jahren  gehörten  aufser  den  jetzigen  zehn  ostpreufsischen 
Kreisen  Königsberg-Land,  Fischhausen,  Wehlau,  Gerdauen,  Darkehmen, 
Gumbinnen  zum  litauischen  Sprachbereich.  1848  befanden  sich  in 
diesen  Kreisen  nur  wenig  Leute  noch,  die  des  Deutschen  nicht  mächtig 
gewesen  wären.  Zu  Muldszen  im  Gerdauischen  erlosch  die  litauische 
Predigt  im  vorigen  Jahrhundert,  ebenso  in  den  Stranddörfern  von 
Fischhausen  und  Königsberg  -  Land.  Dasselbe  Ereignis  vollzog  sich 
um  1890  zu  Bailethen  im  Darkehmischen  und  zu  Plibischken  im  Weh- 


30  Die  Litauer. 

lauischen.  Plibischken  hatte  um  1800  noch  1000  litauische  Kommuni- 
kanten. Im  Gumbinnischen  wurde  1883  zu  Niebudszen  das  letzte  Mal 
litauisch  gepredigt. 

Heute  verläuft  die  südliche  Sprachgrenze  der  gemischt- sprachigen 
Kirchspiele  von  Nidden  (Nehrung)  über  Gilge,  Lauki senken,  Mehlauken, 
Popelken,  Berschkallen  (Insterburg) ,  Inst  erburg  -  Land ,  Georgenburg, 
Aulowönen,  Grünheide,  Pelleningken ,  Kraupischken  (Ragnit),  Mall- 
wischken (Pillkallen) ,  Küssen,  Pillkallen,  Kattenau,  Warningken, 
Bilderweitschen ,  Eydtkuhnen,  Stallupönen,  Göritten,  Pillupönen,  En- 
zuhnen,  Melkemen,  Szittkemen,  Dubeningken. 

Südlich  von  dieser  Linie  wird  kein  litauischer  Gottesdienst  ab- 
gehalten und  von  den  Pastoren  das  Litauertum  für  erloschen  erklärt; 
man  predigt  aber  litauisch  nordlich  davon  in  jedem  Kirchspiel.  Das 
so  begrenzte  litauische  Sprachgebiet  hat  einige  rein  deutsche  Inseln; 
in  jeder  der  drei  gröfseren  Städte  Tilsit,  Memel  und  Ragnit  besteht 
neben  der  deutsch -litauischen  Landgemeinde  eine  rein  deutsche  Stadt- 
gemeinde, die  die  Vorherrschaft  des  Deutschtums  endgültig  besiegeln. 
Und  von  der  angeführten  Kirchspiellinie  haben  die  Orte  Georgenburg 
(Insterburg) ,  Warningken  (Pillkallen),  Bilderweitschen  (Stallupönen) 
keinen  selbständigen  litauischen  Gottesdienst  mehr,  sondern  halten  sich 
soweit  sie  nicht,  wie  in  Bilderweitschen,  den  deutschen  besuchen,  zu  den 
nächstliegenden  deutsch-litauischen  Kirchspielen.  Die  Grenzlinie  selbst 
bleibt  der  eigentümlichen  Lage  jener  drei  Orte  wegen  unverändert. 
Im  Übrigen  ist  die  litauisch  -  ostpreufsische  Ostgrenze  deshalb  keine 
Sprachgrenze,  weil  jenseits  der  Grenzpfähle  die  litauische  Sprache  vor- 
wiegt. Die  natürliche  Westgrenze  hat  sich  infolge  des  unfruchtbaren 
Bodens  am  unveränderlichsten  in  den  Händen  der  Letten  erhalten. 
Derselbe  natürliche  Grund  ist  die  Ursache  der  Slowinzeninsel  am  Leba- 
see  inmitten  des  völlig  germanisierten  Pommerns.  Es  gehören  also 
zum  litauischen  Sprachgebiet  hinsichtlich  der  Kirchensprache  vollständig 
die  fünf  Kreise  Memel,  Heydekrug,  Tilsit,  Ragnit,  Niederung;  teilweise 
aber  die  fünf  Kreise  Pillkallen  (ohne  Warningken !),  Labiau  Ost,  Inster- 
burg Nord,  Stallupönen  Nordost,  Goldap  Ost. 

Dieser  Sprachbezirk  hat  eine  Einwohnerzahl  von  415  411,  die 
Zahl  der  Litauer  beträgt  davon  120  693,  d.  i.  29,1  Proz.  der  Gesamt- 
bevölkerung. Diese  Zahl  verteilt  sich  auf  die  lutherische,  katholische 
und  baptistische  Kirche.  Die  reformierten  apostolischen  und  israeliti- 
schen Gemeinden  haben  keinen  litauischen  Gottesdienst.  Hinsichtlich 
der  Zahl  der  litauisch  -  deutschen  Kirchspiele  folgen  die  Kreise  so : 
Tilsit  12,  Heydekrug  und  Ragnit  je  11,  Memel  und  Stallupönen  je  9, 
Niederung  und  Pillkallen  je  8,  Labiau  6,  Goldap  2;  nach  der  absoluten 
Anzahl  der  Litauer  folgen  die  Kreise:  Tilsit  27  004,  Heydekrug  26  362, 
Memel  24  464,  Ragnit  16  324,  Labiau  10  060,  Niederung  9680,  Pill- 
kallen 4607,  Stallupönen  1302,  Goldap  450,  Insterburg  440.  Nach 
der  relativen:  Heydekrug  61,9  Proz.,  Memel  47,4  Proz.,  Tilsit  38  Proz., 


Südgrenze.    Volkszahl.  31 

Labiau  Ost  30  Proz.,  Ragnit  27  Proz.,  Niederung  19,2  Proz.,  Pillkallen 
10  Proz.,  Goldap  Ost  4,3  Proz.,  Stallupönen  Nordost  3  Proz.,  Inster- 
burg  Nord  1,6  Proz. 

Würde  man  die  drei  deutschen  Gemeinden  in  Memel,  Tilsit  und 
Ragnit  von  der  Berechnung  ausschlief sen ,  so  würden  die  ersten  vier 
relativen  Zahlen  lauten:  Memel  70  Proz.,  Heydekrug  61,9  Proz.,  Tilsit 
58,1  Proz.,  Ragnit  33  Proz. 

Hinsichtlich  der  Lebenskraft  des  Litauertums  zerfällt  der  litauische 
Sprachbezirk  in  fünf  Teile. 

Der  erste  Teil  umfafst  den  Kreis  Memel,  mit  Ausschlufs  der 
Stadt  gemeinde,  und  die  Kirchspiele  Rufs,  Einten  und  Saugen  vom 
Kreise  Heidekrug.  In  diesem  Teile  tragen  die  Litauer,  alt  wie  jung, 
noch  allenthalben  Tracht,  besonders  die  Frauen;  die  lettischen  auf 
der  Nehrung  und  in  den  Stranddörfern  die  vielfältigen  schwarzen,  die 
litauischen  auf  dem  Festlande  die  buntgestreiften  Röcke.  Ausserdem 
überwiegt  das  Litauertum  in  allen  Gemeinden,  regelmässiger  sonn- 
tägiger litauischer  Gottesdienst,  litauische  Konfirmation  ist  überall  zu 
finden.  Die  beiden  Nehrungsgemeinden  haben  deutsche  Konfirmation 
eingeführt.  Für  diese  sind  das  Litauische  wie  das  Deutsche  gleich 
fremde  Sprachen,  und  das  neu  gelernte  Deutsch  klingt  gemäfs  der 
Schriftsprache,  ist  aber  nicht  etwa  das  vorgerückte  Platt  wie  auf  der 
südlichen  Nehrungshälfte. 

Der  zweite  Teil  reicht  südlich  von  der  Linie  Nidden ,  Rufs  bis 
Schakuhnen,  Plaschken,  Pokraken,  Tilsit,  Piktupönen,  Laugszargen. 
Ihm  mangelt  von  den  vorhin  angegebenen  Kennzeichen  die  aus- 
gesprochene Tracht.  Wohl  wird  noch  hier  und  da  von  älteren  Frauen 
die  Marginne  getragen,  auch  läfst  sich  hier  und  da  noch  ein  Bast- 
sohlenträger blicken,  der  Nachwuchs  aber  trägt  moderne  Kleidung. 
Dieser  Teil  liegt  gröfstenteils  rechts  vom  Njemen  und  Rufsstrom  in 
den  Kreisen  Tilsit  und  Heydekrug  und  kennzeichnet  zugleich,  mit 
Ausschlufs  von  Tilsit- Stadt,  die  Südgrenze  des  ostpreufsischen  Bezirks, 
wo  die  Deutschen  in  den  evangelischen  Gemeinden  in  der  Minder- 
heit sind. 

Der  dritte  Teil,  südlich  der  oben  angegebenen  Linie  Nidden- 
Laugszargen,  reicht  südlich  bis  Inse,  Kaukehmen,  Pokraken,  Jurgait- 
schen,  Lengwethen,  Budwethen,  Wisch  will,  Schmalleningken.  Hier  sind, 
mit  Ausnahme  der  Gemeinden  Inse,  Schillgallen  (kath.),  Riedelsberg 
(kath.)  überall  die  Deutschen  in  der  Mehrheit.  Es  findet  jedoch  noch 
sonntäglicher  Gottesdienst  und  alljährliche  litauische  Konfirmation  statt. 
Der  Teil  umfafst  das  linke  Njemenufer  in  den  Kreisen  Tilsit,  Ragnit, 
Niederung,  Heydekrug. 

Der  vierte  Teil,  südlich  der  vorhin  genannten  Linie  Inse- 
Schmalleningken ,  reicht  südlich  bis  Gilge,  Laukischken,  Mehlauken, 
Popelken,  Skaisgirren,  Jurgaitschen ,  Szillen,  Kraupischken ,  Küssen, 
Pillkallen,  Schillehnen.     Er  umfafst  also  den  südlichen  Teil  der  Niede- 


32  Die  Litauer. 

rung,  Labiau  Ost,  Ragnit  Süd,  Pillkallen  Nord.  In  diesem  Teile  sind 
die  Litauer,  wie  im  vorigen  Kreise,  in  den  Gemeinden  in  der  Minder- 
heit. In  Lauknen  nur  überwiegen  die  Litauer.  Tracht  trifft  man 
nirgend  mehr,  die  litauische  Konfirmation  ist  erloschen,  aber  in  allen 
Gemeinden  findet  sonntäglich  litauischer  Gottesdienst  statt. 

Im  Kirchspiel  Willuhnen  giebt  es  noch  einige  ziemlich  rein  er- 
haltene Salzburger  Kolonieen,  soWensken,  Scharkabude,  Kumelupchen; 
die  Wirtschaften  sind  Muster  von  Fleils  und  Ordnung. 

Der  fünfte  Teil,  südlich  der  oben  angegebenen  Linie  von  Popelken 
bis  Schillehnen,  reicht  südlich  bis  Berschkallen  (litauische  Predigt 
jährlich  einigemal),  Insterburg  -  Land  (zweimal),  Georgenburg  (kein- 
mal), Aulowönen  (einigemal),  Grünheide  (zwölfmal),  Pelleningken 
(zweimal),  Mallwischken  (viermal),  Kattenau  (zwölfmal),  Warningken 
(keinmal),  Willuhnen  (Sommers),  Schirwindt  (viermal)  und  umfafst 
aufserdem  folgende  zehn  südlich  sich  anschliefsende  Grenzkirchspiele: 
Bilderweitschen  evangel.  (keinmal),  Bilderweitschen  kath.  (regelmäfsig, 
95  Ortschaften  sind  eingepf arrt) ,  Eydtkuhnen  (einmal),  Stallupönen 
(vierzehntägig),  Göritten  (viermal),  Pillupönen  (mehrmals),  Enzuhnen 
(dreimal),  Melkehmen  (viermal),  Szittkehmen  (Sommers),  Dubeningken 
(viermal).  Dieser  fünfte  Teil  umfafst  also  Insterburg  Süd,  Pillkallen 
Süd,  Stallupönen  Nordost,  Goldap  Ost.  In  diesem  Kreise  hat  nur  die 
Bilderweitschener  katholische  Insel  das  Litauertum  überwiegend,  in 
allen  anderen  Kirchspielen  tritt  es  in  verschwindender  Minderheit  auf. 
Es  wird  den  alten  Leuten  zu  Gefallen  noch  einigemal  litauisch  ge- 
predigt. Die  Pastoren  brauchen  meist  nicht  litauisch  zu  können, 
sondern  dürfen  den  jährlich  mehreremal  stattfindenden  Gottesdienst 
von  litauisch  sprechenden  Kollegen  halten  lassen.  In  den  drei  Ge- 
meinden Georgenburg,  Warningken  und  Bilderweitschen  (evangel.)  ist 
sogar  dies  nicht  nötig,  da  die  wenigen  Litauer  den  litauischen  Gottes- 
dienst der  Nachbargemeinde  besuchen  oder  sich  am  deutschen  betei- 
ligen, den  sie  ebenso  gut  verstehen.  Die  Jugend  ist  völlig  deutsch. 
Die  Namen  nur  erinnern  an  die  alte  litauische  Abstammung.  In  dem 
Grenzteile  und  auch  in  rein  deutschem  Gebiete  werden  staatliche  Be- 
kanntmachungen aber  immer  noch  in  deutscher,  litauischer  und  polni- 
scher Sprache  veröffentlicht. 

Obgleich  diese  Kreise  ziemlich  fest  geschlossen  sind,  finden  sich 
doch  einige  Kirchspiele  südlich  des  zweiten  Kreises,  die  über  50  Proz. 
Litauer  zählen,  nämlich  Inse  55,5  Proz.  (Niederung),  Lauknen  59  Proz. 
(Labiau)  und  die  kleinen  katholischen  Kirchspiele  Bilderweitschen 
83,3  Proz.  (Stallupönen)  und  Riedelsberg  60  Proz.  (Tilsit). 

Fast  rein  litauische  Kirchspiele  sind  die  um  Memel  herum :  Deutsch- 
Krottingen  92,3  Proz.,  Nidden  89,1  Proz.,  Dawillen  83,1  Proz.,  Prökuls 
76,1  Proz.,  Plicken  74,1  Proz.;  das  Gleiche  gilt  von  der  baptistischen 
Gemeinde  Bruiszen  mit  100  Proz.  Litauern  und  sämtlichen  katholi- 
schen Gemeinden  aufser  Tilsit  und  Memel. 


Preufüisch  Süd li tauen.  33 

Hinsichtlich  der  Eonfession  zählt  Deutsch  -  Litauen  unter  seinen 
78  deutsch -litauisohen  Gemeinden  7  katholische,  4  baptistische  und 
67  evangelische. 

Von  den  katholischen  entfallen  je  eine  auf  Memel  (Memel  mit 
800  =  50  Proz.  Litauern),  Ragnit  (Riedelsberg  mit  300  =  60  Proz.  Li- 
tauern) und  Stallupönen  (Bilderweitschen  mit  550  =  83,3  Proz.  Litauern), 
je  zwei  auf  Heydekrug  (Szibben  und  Schillgallen  mit  je  500  =  76,9 
Proz.  Litauern)  und  Tilsit  (Tilsit  mit  150  =  12,5  Proz.  und  Robkojen 
mit  595  =  96  Proc.  Litauern).  So  klein  die  katholischen  Gemeinden 
sind,  die  sich'  zum  gröfsten  Teile  aus  russischen  Litauern  gebildet 
haben,  so  treu  halten  sie  an  ihrer  Muttersprache  fest.  Die  3295  katho- 
lischen Litauer  machen  56,6  Proz.  ihrer  Gemeinden  aus. 

Nicht  so  zäh  bewahren  die  Baptisten  das  Litauertum.  Ragnit- 
Ikschen  mit  10  =  3  Proz.  Litauern  hat  keinen  litauischen  Gottes- 
dienst, ebensowenig  die  rein  deutsche  Prökulser  Gemeinde.  Tilsit  mit 
30  =  10  Proz.  und  Memel  mit  70  =  18,9  Proz.  Litauern  werden  nur 
von  Alexen  mit  90  =  33,3  Proz.  und  von  Bruiszen  mit  200  =  100  Proz. 
Litauern  übertroffen.  Im  ganzen  verfügten  die  fünf  deutsch-litauischen 
Baptistengemeinden  über  400  =  24,8  Proz.  Litauer. 

Die  Evangelischen  zählen  an  deutsch  -  litauischen  Kirchspielen  in 
Memel  7,  Heydekrug  8,  Tilsit  9,  Ragnit  9,  Niederung  8,  Pillkallen  8, 
Labiau  Ost  5,  Insterburg  Nord  6,  Stallupönen  Nordost  8,  Goldap  Ost 
2  Kirchspiele.  Von  diesen  70  Kirchspielen  wird  in  67  litauischer 
Gottesdienst  gehalten.  In  diesen  70  Kirchspielen  leben  28,8  Proz. 
=  116  998.  evangelische  Litauer.  Am  treues ten  bewahren  die  Maldin- 
inker  das  Litauertum,  die  in  ihren  Laiengottesdiensten  deutsch  und 
litauisch  predigen,  beten  und  singen. 

Von  den  ostpreufsischen  Litauern  sind  97  Proz.  evangelisch, 
2,7  Proz.  katholisch,  0,3  Proz.  baptistisch;  in  früheren  Verzeichnissen! 
sind  auch  (1890)  95  litauische  Juden,  20  Dissidenten,  1  Griechisch- 
Katholischer  namhaft  gemacht  worden.  Soweit  es  sich  nicht  um  vor- 
übergehend Anwesende  handelt,  sind  bis  jetzt  solche  von  Gemeinde- 
vorstehern nicht  namhaft  gemacht  worden;  die  Juden  verstünden  wohl 
etwas  litauisch,  betrachteten  dies  aber  nicht  als  Muttersprache.  Die 
Zahl  war  übrigens  schon  1890  eine  verhältnismäfsig  geringe. 

Von  der  Gesamtbevölkerung  Preufsisch-Litauens  bilden  die  Litauer 
überhaupt  29,1  Proz.,  die  Evangelischen  28,1  Proz.,  die  Katholischen 
0,8  Proz.,  die  Baptisten  0,1  Proz. 

Kurschat  nahm  1890  für  die  nun  reindeutschen  Kreise  Wehlau, 
Gumbinnen  und  Darkehmen  373  an,  für  sämtliche  anderen  ost- 
preufsischen Kreise  1020,  v.  Fircks  für  Preufsen  aufs  er  halb  der  zehn 
litauischen  Kreise  1470. 

Von  gröfseren  Städten  aufserhalb  des  Bezirks  kommen  nur  Königs- 
berg und  Berlin  in  Betracht,  von  denen  ersteres  1890  469,  letzteres 
705  Litauer  zählte.     In  den  anderen  Grofsstädten  leben  Litauer  nur 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  g 


34  Die  Litauer. 

sehr  vereinzelt,  und  wenn  man  den  Namen  auf  -eit,  -at,  -ies,  -wicz  be- 
gegnet, wird  der  Träger  des  Namens  bestätigen,  dafs  meist  schon  der 
Vater  und  Grofsvater  Deutsche  waren. 

Das  deutsch-litauische  Völkergemisch  im  Sprachbezirk  erhält  noch 
durch  drei  an  den  Grenzen  wohnende  neue  Völker  Farbe:  die  Russen, 
Polen  und  Letten. 

Die  Zahl  der  Litauer  in  früheren  Zeiten  ist  erst  seit  1831  auf 
Grund  genauerer  Angaben  festzustellen,  solche  haben  Fircks,  Böckh, 
Völkel,  Eurschat  zusammengestellt.  Die  Zahlen  schwanken  zwischen 
119  000  und  150  000  und  machen  trotz  der  Unsicherheit  der  Angaben 
und  der  Zähl  weise  den  Eindruck,  dafs  das  Litauertum  in  Ostpreufsen 
sich  zäh  hält,  aber  doch  allmählich  abnimmt. 

Im  Kreise  Memel,  der  47,4  Proz.  =  24  464  Litauer  zählt,  wird  in 
neun  Kirchen  deutsch-litauischer  Gottesdienst  gehalten;  die  reformierte, 
die  jüdische  und  die  evangelische  Stadtgemeinde  halten  keinen  litaui- 
schen mehr,  dagegen  die  katholischen  (50  Proz.  =  800)  und  baptistische 
(18,9  Proz.  =  70)  und  die  evangelischen  Landgemeinden  zu  Krottingen 
(92,3  Proz.  =  4800),  Dawillen  (83,1  Proz.  =  2700),  Memel -Land 
(50  Proz.  =  6000),  Nidden  (89,1  Proz.  =  814),  Plicken  (74,1  Proz. 
=  2000),  Prökuls  (76,1  Proz.  =  7080),  Schwarzort  (50  Proz.  =  200). 

Im  Kreise  Heydekrug,  der  61,9  Proz.  =  26  362  Litauer  aufweist, 
sind  sämtliche  elf  Gemeinden  doppel  sprachig.  Die  eine  baptistische 
Gemeinde  zu  Bruiszen  ist  fast  rein  litauisch  (100  Proz.  =  200),  die 
beiden  katholischen  Gemeinden  zu  Schillgallen  und  zu  Szibben  haben 
je  76,9  Proz.  =  500  Litauer.  Die  übrigen  acht  evangelischen  Kirch- 
spiele zählen  zu  Karkeln  5,9  Proz.  =  80  Litauer,  zu  Kalninken 
36,8  Proz.  =  350,  zu  Kinten  73,5  Proz.  =  3730,  zu  Rufs  60,9  Proz. 
=  4502,  zu  Saugen  64  Proz.  =  3200,  zu  Schakuhnen  55,5  Proz. 
=  2500,  zu  Werden  60  Proz.  =  6000,  zu  Wieszen  70,6  Proz. 
=  4800. 

Neue  Kirchspiele  lösen  sich  seitdem  von  Saugen,  Werden,  Wieszen  r 
Koadjuten  und  Plaschken  ab;  im  Kreise  Memel  von  Krottingen. 

Im  Tilsiter  Kreise,  mit  58,1  Proz.  =  27  004  Litauern,  überwiegen 
links  vom  Njemen  die  Deutschen,  rechts  die  Litauer.  Gemeinden  mit 
deutscher  Kirchensprache  sind  die  Tilsiter  reformierte,  die  apostolische, 
die  israelitische  und  die  evangelische  Stadtgemeinde.  Doppels^rachig 
sind  die  baptistische  Gemeinde  zu  Tilsit  mit  10  Proz.  =  30  Litauern, 
die  katholische  daselbst  (12,5  Proz.  =  150)  und  zu  Robkojen  (96  Proz. 
=  595),  sowie  die  neun  evangelischen  Dorfgemeinden  zu  Koadjuten 
(66,6  Proz.  =  4000),  Laugzargen  (68,6  Proz.  =  1420),  Nattkischken 
(60,6  Proz.  =  2000),  Piktupönen  (51,8  Proz.  =  3015),  Plaschken 
(65,3  Proz.  =  2824),  Pokraken  (52,4  Proz.  =  1100),  Rucken 
(66,6  Proz.  =  2730),  Wilkischken  (40  Proz.  =  1640).  Der  Seelsorg- 
bezirk  Neu  -  Argeningken  zweigt  sich  aus  den  an  Heinrichswalde  an- 
grenzenden Gemeinden  ab. 


Statistik  der  Bevölkerung.  35 

Im  Ragniter  Kreise,  mit  27  Proz.  =  16  324  Litauern,  wohnen  in 
zwei  Kirchspielen  nur  Deutsche,  im  evangelischen  zu  Ragnit- Stadt 
und  im  baptistischen  zu  Ragnit -Ikschen,  deren  10  Litauer  (3  Proz.) 
am  deutschen  Gottesdienst  teilnehmen,  während  die  200  Ragniter 
Litauer  in  die  evangelische  Landkirche  gehen.  Elf  Gemeinden  sind 
doppelsprachig,  die  zu  Budwethen  (23,1  Proz.  =  1500),  Jurgaitschen 
(29,7  Proz.  =  1900),  Kraupischken  (20  Proz.  =  1600),  Lengwethen 
(14,3  Proz.  =  400);  Ragnit-Land  (33,4  Proz.  =  3460),  Rautenberg 
(18,6  Proz.  =  800),  Schmaleninken  (33,3  Proz.  =  800),  Szillen 
(26,2  Proz.  =  1854),  Wischwill  (46,7  Proz.  =  3500);  aufser  diesen 
evangelischen  Gemeinden  besitzt  das  katholische  Kirchspiel  Riedelsberg 
noch  60  Proz.  =  300  Litauer.  —  Der  Seelsorgbezirk  Lenkeningken 
zweigt  sich  von  Ragnit  ab;  ein  Jetzt  neugebildetes  Kirchspiel  ist 
Gr.  Szugken. 

In  der  Niederung  befinden  sich  19,2  Proz.  =  9680  Litauer  in 
samtlichen  acht  evangelischen  Kirchspielen,  nämlich  in  Grofsfriedrichs- 
dorf  13,8  Proz.  =  800,  in  Heinrichs walde  12,2  Proz.  =  900,  in  Inse 
55,5  Proz.  =  1000,  in  Kaukehmen  24,8  Proz,  =  2000,  in  Lappienen 
3  Proz.  =  150,  in  Neukirch  9,9  Proz.  =  600,  in  Seckenburg  35,4  Proz. 
=  1730,  in  Skaisgirren  22,7  Proz.  =  2500. 

Ueber  Pillkallen  sind  10  Proz.  =  4607  Litauer  in  sämtlichen 
neun  evangelischen  Kirchspielen  verteilt,  doch  gehen  die  wenigen 
Warninkener  Litauer  zum  litauischen  Gottesdienst  nach  Pillkallen.  Es 
sind  ansässig  in  Küssen  5,1  Proz.  =  300,  in  Lasdehnen  32,6  Proz. 
=  3000,  in  Mallwischken  1,1  Proz.' =  40,  in  Pillkallen  2,9  Proz. 
=  300,  in  Schillehnen  22,2  Proz.  =  600,  in  Schirwindt  0,9  Proz. 
=  50,  in  Warningken  0,1  Proz.  =  5,  in  Willuhnen  5,7  Proz.  =  312 
Litauer. 

Labiau  zerfällt  sprachlich  in  zwei  Teile.  Der  Westen  ist  rein- 
deutsch, nämlich  die  Kirchspiele  Kaymen,  Labiau,  Legitten.  Ostlabiau 
hingegen  ist  mit  seinen  30  Proz.  =  10  060  Litauern  in  der  katholi- 
schen Gemeinde  zu  Alexen  (33,3  Proz.  =  90),  wie  in  den  übrigen  fünf 
evangelischen  Gemeinden  deutsch  -  litauisch.  Der  litauischen  Sprache 
rechnen  sich  zu  in  Gilge  46,5  Proz.  =  2000,  in  Laukischken  16,6  Proz. 
=  15^0,  in  Lauknen  59  Proz.  =  3170,  in  Mehlauken  19,7  Proz. 
=  1500,  in  Popelken  25  Proz.  =  1800  Bewohner.  —  Die  grofse 
Wald-  und  Moorgegend  am  Haff  und  am  Gilgestrom,  mit  der  zahl- 
reichen litauischen  Bevölkerung,  steht  im  merkwürdigen  Gegensatz 
zum  deutschen  Westen  dieses  Kreises. 

Im  Kreise  Insterburg  ist  die  Südhälfte  deutsch:  In sterburg- Stadt, 
Didlacken,  Jodlauken,  Norkitten,  Obehlischken ,  Puschdorf,  Saalau;  als 
reindeutsch  können  auch  die  beiden  Institute  gelten:  das  Seminar  zu 
Karalene  und  die  Strafanstalt  zu  Insterburg,  wiewohl  beide  auf  die 
Litauer  Rücksicht  nehmen.  Die  rein  evangelische  Nordhälfte  von 
Insterburg  hingegen  ist  schwach,  aber  gleich mäfsig  mit  Litauern  über- 

3* 


36  Die  Litauer. 

säet  (1,6  Proz.  =  400).      Es   nennen   sich  in  Aulo wohnen   1,6  Proz. 
=  80  Bewohner  Litauer,  in  Berschkallen  1,7  Proz.  =  80,  in  Georgen- 

i  bürg  0,5  Proz.  =  30,  in  Grünheide  5,5  Proz.  =  200,  in  Insterburg- 

!  Land  0,6  Proz.  =  30,    in  PeUeningken   0,6  Proz.  =  20.      In   allen 

diesen  Kirchen,    mit  Ausnahme  von   Georgenburg,   findet  litauischer 
Gottesdienst  statt. 

Von  der  Nordosthälfte  des  Kreises  Stallupönen,  mit  3  Proz. 
=  1302  Litauern,  gilt  dasselbe  wie  von  Nord  -  Insterburg.  Sämtliche 
acht  evangelische  Kirchspiele  und  das  katholische  zu  Bilderweitschen 
(83,3  Proz.  =  550)  weisen  Litauer  auf;  die  5,8  Proz.  =  150  evangeli- 
schen Litauer  zu  Bilderweitschen  aber  haben  keinen  besonderen  litaui- 
schen   Gottesdienst.      Übrigens    zählen    Eydtkuhnen    0,1  Proz.  =  8, 

!  Enzuhnen  0,3  Proz.  ==•  20,  Göritten  1,8  Proz.  =  50,  Kattenau  1,5  Proz. 

|     ,  =80,  Melkemen  0,9  Proz.  =  54,  Pillupönen  8  Proz.  =  350,  Stallu- 

;  pönen  0,4  Proz.  =  50  Litauer. 

Im  Goldaper  Kreise  sind  nur  die  beiden  evangelischen  Kirchspiele 
an  der  russischen  Grenze  doppelsprachig  (4,3  Proz.  =  450  Litauer), 
davon  hat  Szittkemen  4,9  Proz.  =  250  und  Dubeningken  3,8  Proz. 
=  200  Litauer.     Das  angrenzende  Rominten  ist  deutsch. 

Wie  weit  nun  im  litauischen  Bezirke  eine  eigenartige  vom  Deut- 
schen unterschiedene  Sitte  herrscht,  ist  schwer  festzustellen.  Gerade 
einige  in  die  Augen  springende  Eigenarten  sind  vielleicht  weniger  bei 
den  Deutschen  in  Ostpreufsen,  dafür  aber  in  entfernten  deutschen 
Gauen  zu  finden  und  können  also  nicht  als  unterscheidende  Merkmale 
gelten.  Im  grofsen  und  ganzen  aber  kann  daran  festgehalten  werden, 
dafs  im  ersten  der  angegebenen  fünf  Bezirke,  also  auf  der  Nehrung 
und  jenseits  des  Memelstromes,  das  Deutschtum  noch  den  wenigsten 
Einflufs  ausgeübt  hat,  dasselbe  gilt  für  die  Inser  Gegend  am  Haff,  für 
den  grofsen  Moorbruch  im  Nordosten  des  Kreises  Labiau  und  für  die 
Grenzdörfer,  die  abseits  von  den  Yerkehrsstrafsen  liegen. 

n.    Geschichte. 

Der  Kiewer  Mönch  Nestor  berichtet  um  1100  von  Einfällen  des 
russischen  Grofsfürsten  Jaroslaw,  der  den  Litauern  um  1040  und  1044 
Tribut  abdrang.  Noch  ältere  Kriegszüge  galten  um  983,  1012  und 
1038  den  Jadwingen.  Die  russischen  Einfälle  wiederholten  sich  1132. 
Das  ursprünglich  friedliche  Yolk  mufste  sich  der  Angriffe  wehren,  so 
gut  es  konnte,  und  drehte  bald  den  Spiefs  um.  Die  Angriffe  von  zwei 
Seiten  führten  das  Yolk  zur  Einheit.  Die  Gewalt  der  kleinen  Fürsten 
oder  Dorfschulzen,  und  selbst  die  des  mächtigen  Kriwe  Kriweito,  des 
Oberpriesters,  vereinigte  der  sagenhafte  Grofsfürst  Ringold  (1204  bis 
1239)  auf  seine  Person.  Er  heerte  Zeit  seines  Lebens  in  den  russi- 
schen Gebieten,  besiegte  die  russischen  Grofsfürsten  wiederholt  einzeln 
und  insgesamt  und  dehnte  seine  Herrschaft  bis  Smolensk  und  Witebsk 


Mindowe,  Gedimin.  37 

aus.  Sein  Sohn  und  Nachfolger  Mindowe  (1240  bis  1263)  gab  dem 
Vater  an  Kraft  und  Tüchtigkeit  nichts  nach.  Im  hellen  Glänze  er- 
strahlten seine  Thaten,  und  die  berühmte  litauische  Schlauheit,  der 
Mangel  jeglicher  Sentimentalität  und  Resignation,  die  stolzfreudige 
Kraft,  mit  den  Thatsachen  zu  rechnen  und  des  Schicksals  Stern  in  der 
eigenen  Brust  zu  tragen,  zeichnen  ihn  ebenso  aus,  wie  die  späteren 
Heldenkönige.  Von  allen  Seiten  bedrängt,  verdarb  er  zunächst  den 
Ordenskriegern  das  räuberische  Gelüst,  unter  dem  Mantel  der  Missionie- 
rung sein  Land  nehmen  zu  wollen.  Er  trat  1252  zum  Christentum 
über  und  liefs  sich  im  folgenden  Jahre  zum  König  der  Litauer  krönen. 
Nach  einem  Vertrage  über  die  neue  Memelburg  1252  schenkte  er  dem 
Orden  1254  die  Lande  Wangen  und  Carsow,  1257  und  1259  Be- 
sitzungen in  Liyland  und  versprach  dem  anfangs  hülfreichen  Orden, 
der  sich  sein  Land  zur  Interessensphäre  erkoren,  sein  ganzes  Land, 
wenn  er  kinderlos  stürbe.  Er  gründete  auch  in  seiner  Hauptstadt 
Wilna  ein  römisch  -  katholisches  Bistum.  Dem  Orden  genügte  das 
nicht,  er  suchte  einen  neuen  Anlafs,  sich  eher  in  den  Besitz  Litauens 
zu  setzen,  und  holte  sich  bei  Durben  1260  und  bei  Dorpat  tüchtige 
Niederlagen.  Mindowe  verliefs  den  aufgezwungenen  Glauben  und  wufste 
alle  baltischen  Stämme  zum  nationalen  Freiheitskampfe  zu  begeistern. 
Dies  eine  Mal  finden  wir  Preufsen  und  Letten,  Hoch-  und  Niederlitauer 
im  gemeinsamen  Kampfe  um  ihr  Volkstum  vereinigt.  Verräterhand 
tötete  den  Helden,  sein  Sohn  Troiden  (1270  bis  1282)  hatte  harten 
Stand,  50  Jahre  tobte  der  Bürgerkrieg,  bis  der  Grofsfürst  Witen 
(f  1315),  der  Sohn  des  Litauerfürsten  Putuwer  (f  1292),  den  stark 
erschütterten  Staat  neu  befestigte.  Vielleicht  sind  es  jene  Kriege,  die 
jene  Daina  schufen: 

Sie  trieben,  trieben,  trieben  zusammen, 
Der  Dörfer  Schulzen  trieben  zum  Kriege. 
O  Gott,  der  Bruder,  der  junge  Bruder, 
Sonst  niemand,  niemand,  der  reiten  könnte. 

Sein  Nachfolger  war  Gedimin;  er  regierte  von  1316  bis  1341  und 
war  der  mächtigste  litauische  Herrscher.  Er  eroberte  Kiew  und  Now- 
gorod, war  Herr  von  Wolhynien  und  nannte  sich  König  der  Litauer 
und  Russen.  Er  besafs  das  mächtigste  slawische  Reich  seiner  Zeit. 
Im  Innern  beugte  er  mit  starker  Hand  selbstsüchtige  Bojaren  und 
ordnete  das  Staatswesen.  Aber  er  erkannte  die  Übermacht  der  christ- 
lichen Bildung  und  zog  deshalb  deutsche  Handwerker  und  Künstler, 
christliche  Mönche  und  Gelehrte  in  sein  Land.  Er  baute  seinen  Christen 
Kirchen  und  liefs  seine  Söhne  griechisch-katholische  Fürstentöchter 
der  Moskauer  Herrscher  heiraten.  Die  Bestrebungen  der  Ordens- 
brüder wufste  er  wohl  zu  werten  und  war  nicht  gesonnen,  denen 
Einlafs  zu  gewähren,  die  ihn  berauben  wollten.  Den  päpstlichen  Ge- 
sandten, die  aus  Müs  Verständnis  seine  Taufe  einleiten  wollten,  sagte 
er:     „Hab'  ich  je  die  Absicht  gehabt,  Christ  zu  werden,  so  soll  mich 


38  Die  Litauer. 

der  Teufel  taufen.  Die  Christen  lassen  Gott  in  ihrer  Weise  verehren, 
die  Russen  nach  ihrem  Brauch,  die  Polen  nach  dem  ihrigen,  und  wir 
verehren  Gott  in  unserer  Weise.  Alle  aber  haben  wir  einen  Gott. 
Was  redet  ihr  mir  von  Christen?  Wo  findet  man  mehr  Frevel,  mehr 
Unrecht,  Gewaltthat,  Verderben  und  Wucher  als  bei  den  Christen  und 
namentlich  bei  solchen,  die  Geistliche  zu  sein  scheinen,  wie  die  Kreuz- 
träger?44  (Vergl.  Schiemann:  Rufsland,  Polen  und  Livland  I,  227.) 
Man  sieht,  Gedimins  Heidentum  richtete  sich  nicht  gerade  gegen  die 
Christen,  denen  er  wohlgesonnen  war.  Die  Verwüstungen,  die  er  in 
Gemeinschaft  mit  Polens  Heeren  vornahm,  waren  vom  Papst  geschürt 
und  dem  verbündeten  Polenfürsten  zum  Dank  ausgeführt  worden.  Die 
Christen  nahmen  schreckliche  Rache.  Der  Böhmenkönig  Johann  be- 
teiligte sich  1328  an  dem  Ereuzzuge  gegen  die  Heiden  Litauens,  der 
70  000  Litauer  als  Beute  bot.  Sie  wurden  als  Gefangene  in  das  Ordens- 
land geführt,  6000  davon  getauft.  Kein  Wunder,  dafs  ein  Held  wie 
Gedimin  Gleiches  mit  Gleichem  vergalt.  Ein  Glück  für  Litauen  war 
es,  dafs  Gedimins  ritterliche  Heldensöhne  und  Nachfolger,  Olgert 
(t  1377)  und  Keistut  (1341  bis  1382)  dem  Vater  ebenbürtig  waren, 
„ganze  Kerle",  nennt  sie  ein  Historiker.  Selten  regierte  ein  Brüder- 
paar in  so  einträchtiger  Gesinnung  wie  die  beiden.  Keistut  hatte 
seinen  Thron  in  Kowno  oder  Troki,  Olgert  in  Wilna.  Das  Reich  er- 
streckte sich  vom  Schwarzen  bis  zum  Baltischen  Meere,  von  dem  drei- 
mal erstürmten  Moskau  bis  zu  den  rechten  Nebenflüssen  der  Weichsel. 
Aber  keine  der  zahllosen  Dainos  enthält  Erinnerungen  an  Jene  Helden- 
fahrten, nur  die  Erwähnung  des  Ölbaumes,  der  Donau  und  entfernter 
Städte  blieb  als  Rest.  —  Aber  der  Orden  blieb  auch  nicht  unthätig.  In 
Winrich  von  Kniprode  (1351  bis  1382)  war  ihm  ein  tüchtiger  Grofs- 
komtur  erstanden.  Der  Orden  hatte  es  auf  die  völlige  Vernichtung 
abgesehen,  man  ging  in  den  Krieg  wie  auf  die  Jagd  und  machte  das 
Dorf  erverbrennen  zum  Sport.  Das  erhöhte  die  Zähigkeit  der  Litauer. 
Im  Kampfe  um  Sein  oder  Nichtsein  entwickelte  das  angegriffene  Volk 
eine  ungeahnte  Kraftfülle.  Zweimal  drang  1365  Keistut  bis  zur 
Ordensburg  Eckersberg  vor,  ward  gefangen  und  entkam.  Winrich 
zerstörte  1362  Kowno,  schon  im  nächsten  Jahre  baute  das  Volk  Neu- 
Kowno  daneben.  In  der  mörderischen  Schlacht  bei  Rudau  1370  siegte 
der  Orden  und  drang  1378  bis  Wilna  vor,  aber  zu  Pfingsten  desselben 
Jahres  zerstörte  endgültig  Keistut  die  Burg  Eckersberg,  1 382  erdröhnten 
seine  Kanonen  vor  Insterburg.  Und  wenn  in  Handbüchern  steht, 
Winrich  habe  die  Unterwerfung  Litauens  vollendet,  so  ist  das  falsch. 
Von  diesen  Preufsenfahrten  hat  der  Dichter  Peter  Suchen wirt  ein 
lebensvolles  Gemälde  entworfen.  Er  machte  selbst  eine  solche  1377 
mit  und  schildert,  wie  man  im  Litauerlande  „schlug,  fing  und  brannte, 
der  viel  hehren  Maria  wegen  und  um  den  Glauben  der  hochgeehrten 
Christenheit  zu  mehren".  Auch  Oswald  von  Wolkenstein  war  dabei, 
ein  Stück  Brot  als  Wegzehrung  in  der  Tasche  tragend,  und  blieb  acht 


Witold.  39 

Jahre  in  Preufsen.  Suchenwirt  sagt,  man  führte  die  Menschen  weg 
wie  Jagdhunde,  brannte  die  Dörfer  an,  dafs  der  Himmel  erglühte. 
Was  ihnen  weh  that,  that  uns  wohl,  an  ihrem  Gut  und  Land  konnte 
man  seine  Freude  haben.  Nikolaus  von  Jeroschin  sagt  gelegentlich 
der  Schlacht  am  Walde  Winse  1277  in  Sudauen  von  den  Kreuzherren: 
Sie  trieben  über  tausend  Weiber  und  Kinder  raubbeladen  fort,  nur 
sechs  Christen  blieben  tot,  „daz  andre  her  gar  ane  not  mit  dem  roube 
allintsam  vrolich  heim  zu  lande  quam".  —  Im  Gegensatz  zur  Hand- 
lungsweise der  Ritter  führt  Dlugols  das  Verhalten  Keistuts  nach  der 
Zerstörung  Eckersbergs  und  der  Gefangennahme  des  Pflegers  Johannes 
Snrbach  an:  Die  Litauer  wollten  ihn  den  Göttern  zum  Opfer  dar- 
bringen, aber  Keistut  liefs  es  nicht  zu.  —  Man  kam  in  den  grofsen 
Waldwüsten  nur  schwer  fort,  meist  fanden  sich  vereinzelte  kleine 
Dörfer,  seltener  bevölkerte  reiche  Gegenden.  An  einem  Tage  tötete 
das  Ordensheer  60  Mann,  von  1321  bis  1377  wurden  zehn  solcher 
Fahrten  gegen  die  blinden  Heiden  unternommen.  Man  schätzt  die 
Anzahl  der  getöteten  und  gefangenen  Feinde  in  den  85  verflossenen 
Kriegsjahren  auf  1/i  Million.  Die  kriegerischen  Unternehmungen 
gingen  von  Königsberg  und  Riga  aus  und  hatten  ihre  Stützpunkte  in 
den  neu  angelegten  Burgen,  wieTapiau,  Heilsberg,  Bartenstein,  Labiau, 
Memel,  Tilsit,  Ragnit;  die  entvölkerten  Gebiete  an  der  Alle  und  Deime 
wurden  mit  unterworfenen  Litauern  besiedelt.  —  Olgerts  Sohn  Jagiello 
(1377  bis  1434)  bahnte  sich  den  Weg  zum  Throne,  indem  er  seinen 
Onkel  Keistut  töten  und  dessen  Sohn  Witold  gefangen  setzen  liefs. 
Durch  seinen  Übertritt  zum  katholischen  Christentum  und  seine  Ver- 
mählung mit  der  polnischen  Erbprinzessin  Hedwig  wurden  die  litaui- 
schen Fürsten  1386  polnische  Könige.  Doch  erzwang  sich  das  litauische 
Volk  einen  eigenen  Grofsf ürsten ,  Witold,  der  noch  einmal  die  Macht 
litauischen  Heldentums  offenbart,  wie  das  Abendrot  vor  einer  Nacht, 
der  kein  Morgen  folgt.  Unerschrocken,  tapfer,  politisch  und  diplo- 
matisch, schlau  und  jeglicher  Sentimentalität  abhold,  war  er  ein  wür- 
diger Nachfolger  seines  Vaters  und  Grofsvaters.  Er  kannte  nur  ein 
Ziel:  sein  Vaterland  grofs  und  frei  unter  seinem  Scepter  zu  wissen. 
Allein  und  ohne  Beistand  war  dies  unmöglich,  der  Orden  bot  ihm 
zunächst  Hülfe;  seinetwegen  wurde  Witold  römisch-katholisch,  trat 
aber  zum  griechischen  Glauben  über,  sobald  die  russischen  Grofs- 
fürsten  Gewähr  grösserer  Unterstützung  boten.  Als  ihn  jedoch 
Jagiello  anerkannt  und  zum  Bundesgenossen  genommen  hatte,  wurde 
er  wieder  römisch-katholisch.  Der  freie  Blick  gegenüber  religiösen 
Dingen  ergab  sich  aus  den  ganzen  Zeitverhältnissen.  Aber  Witold 
war  zu  ehrlich  oder  naiv  dabei.  Er  konnte  nicht  begreifen,  dafs  man 
den  Juden  drückende  Ausnahmegesetze  gab,  und  schützte  sie  1389 
durch  Vorrechte.  Seine  griechischen  Bischöfe  suchte  er  selbständig 
und  unabhängig  von  Konstantinopel  zu  machen,  und  in  dem  vom 
Orden   zurückeroberten  Schameiten  fanden  gleichzeitig    unter  seinem 


40  Die  Litauer. 

Beiseln  und  seinem  Einflufs  römische  Massentaufen  statt.  1415  be- 
zeugten 60  neugetaufte  Schameiten  zu  Eonstanz  vor  Kaiser  und  Papst 
Witolds  Vorkämpfe  für  christliche  Gesittung  in  Litauen.  1418  er- 
schienen ebenda  20  griechische  Bischöfe  seines  Reiches  auf  seinen 
Befehl  in  der  Meinung,  es  gelte  auf  der  Kirchen  Versammlung  alle  Be- 
kenntnisse zu  vereinen  und  Mißstände  auszurotten.  Von  Hussens 
Tode  hatte  er  nichts  gehört,  noch  viel  weniger  davon,  dafs  die  römische 
Kirche  in  keiner  dogmatischen  Sache  nachzugeben  gesonnen  war.  Im 
Kampfe  für  sein  Vaterland  verband  er  sich  zuerst  mit  dem  Orden 
gegen  Polen,  schlug  aber  dann  mit  seinem  Vetter  1410  bei  Tannen- 
berg die  Deutschherren  und  wufste  den  Friedensvertrag  so  zu  wenden, 
dafs  ihm  der  Orden  verbunden  blieb,  er  selbst  Schameiten,  sein  Vetter 
aber  nichts  erhielt.  Neue  Kämpfe  mit  dem  Hochmeister  führten  ihn 
nach  Preufsen,  wo  er  1422  als  Sieger  schaltete.  Im  September  schlofs 
er  am  Melnosee  Frieden  mit  den  Deutschherren  und  legte  die  noch 
Jetzt  bestehende  oatpreufsische  Ostgrenze  des  Ordenslandes  fest,  behielt 
aber  Goldap  und  Stallupönen.  Seitdem  ist  Sudauen,  Nadrauen  und 
Schalauen  unter  deutscher  Herrschaft.  Das  Verhältnis  zu  Jagiello 
trübte  sich  Jedoch.  Dem  Kaiser  Sigismund  war  dies  passend,  er  wollte 
ein  schwaches  Polen  und  trug  darum  dem  Grofsfürsten  Witold  die 
Königskrone  an.  Dessen  Edelinge  hatten  ihn  schon  1398  mit  Gedimins 
Titel  zum  König  der  Polen  und  Russen  ausgerufen.  Witold  entbot 
nun  aufs  neue  1429  seine  Bojaren  zum  Krönungstage  nach  Wilna,  um 
von  Sigismunds  Gesandten  die  verheifsene  Weihe  zu  empfangen.  Aber 
die  Polen  liefsen  die  Gesandtschaft  nicht  über  die  Grenze,  die  Ver- 
sammlung löste  sich  auf;  Witold  kehrte  enttäuscht  zurück,  er  stürzte 
vom  Pferde  und  starb  am  27.  Oktober  1430  kinderlos  in  Troki.  Litauen 
fiel  an  Polen  und  teilte  dessen  Geschicke.  (Vgl.  Lohmeyer,  Mitt.  d. 
L.  L.  G.  II,  203  f.) 

Bei  der  dritten  Teilung  Polens  1795  nahm  Rufsland  den  gröfseren 
Teil  Litauens  und  bildete  daraus  sechs  Regierungsbezirke:  Kowno, 
Wilna,  Grodno  (diese  sind  noch  heute  litauisch),  Minsk,  Witebsk, 
Mohilew.  1812  mufste  Preufsen  noch  seinen  Anteil  von  1795  ab- 
treten: das  litauische  Suwalki. 

Die  preufsischen  Litauer  gehörten  seit  1422  zum  Orden,  bis  der 
letzte  Hochmeister  Albrecht  das  Land  1525  in  ein  weltliches  Herzog- 
tum verwandelte  und  als  Lehen  Polens  erklärte.  Nach  dem  Tode 
Albrechts  empfing  der  Brandenburger  Kurfürst  Joachim  II.  die  erbliche 
Mitbelehnung.  1618  wurde  Preufsen  mit  Brandenburg  vereint,  1660  im 
Frieden  zuOliva  unabhängig  von  Polen  und  1701  alB  Königreich  erklärt. 

Unterdessen  hatte  Litauen  einen  erfreulichen  Kulturaufschwung 
genommen.  Albrecht  hatte  1525  zugleich  die  Reformation  eingeführt, 
und  mit  ihr  entwickelten  die  Litauer,  die  vorher  kein  Wort  in  ihrer 
Muttersprache  aufgezeichnet  hatten,  zugleich  eine  eigene  Literatur,  die 
sich  allerdings  streng  in  den   Bahnen  der  kirchlichen  Erbauung  und 


Bretke,  Szyrwid.  41 

des  Unterrichts  hielt.  Albrecht  gewährte  jedem  Geistlichen  vier  Hufen 
Land,  zwanzig  deutschen  und  acht  litauischen  Alumnen  die  Mittel  zum 
theologischen  Studium  und  sorgte  eifrig  für  den  Bau  neuer  Kirchen. 
Unter  ihm  erblühte  nicht  nur  die  erste  preufsische,  sondern  auch  die 
erste  litauische  Literatur.  Der  Ragniter  Archidiakonus  Moswid  gab 
1547  ein  Büchlein  heraus,  das  die  Fibel,  den  lutherischen  Katechismus 
und  11  Kirchenlieder  enthielt.  Sein  NeSe  Bartholomäus  Willentas  und 
Stan.  Rapagelanus  hatten  schon  zuvor  Gesangbuch verse  gemacht. 
Willentas,  der  seit  1550  als  litauischer  Pfarrer  in  Königsberg  wirkte 
und  im  Oktober  1587  starb,  lieferte  die  ersten  Anfänge  einer  Bibel- 
übersetzung, indem  er  Jesaias  53  f.,  die  Sonntags  -  Evangelien  und 
-Episteln  in  seine  Muttersprache  übersetzte.  An  Bedeutung  übertrifft 
die  beiden  Jons  Bretke  oder  Bretkunas.  Dieser  wurde  zu  Bammeln 
bei  Friedland  geboren,  erhielt  die  Pfarre  zu  Labiau,  woselbst  er  ohne 
Tolken  predigte.  Das  wird  ihm  immer  hoch  angerechnet,  es  scheinen 
also  die  Pfarrer  im  allgemeinen  Deutsche  gewesen  zu  sein.  1587  ward 
er  litauischer  Pfarrer  in  Königsberg  und  starb  im  Oktober  1602  oder 
1 603.  Zufälligerweise  fand  ich  im  ersten  Königsberger  Immatrikulations- 
buche seinen  Namen.  (Anno  salutis  Humanae  separatae  MDLV  =  1555 
Rectore  per  aestatem  Simone  Titio  artium  et  medicinae  doctore  dederunt 
nomin a  14.  Junii  Johannes  Bretke  Fridlantensis  natus  in  pago  vicino 
Bamlen  pauper  pupillus  numeravit  5  gr.)  In  der  Postilla  1591  „per 
Jana  Bretkunau  unterzeichnet  er  sich  „  Johannes  Bretkius".  Seine 
Hauptwerke  sind  aufser  der  Postille  das  neue  Gesangbuch  1589  mit 
76  Liedern  und  die  vollständige  Bibelübersetzung  1579  bis  1590,  die 
aber  nicht  gedruckt  wurde. 

Ein  Zeitgenosse  des  Bretkunas  war  der  schameitische  Domherr 
Nikolaus  Dauksza,  der  1595  einen  Katechismus,  1599  eine  Postille  und 
später  Predigten  herausgab.  1625  veröffentlichte  Johannes  Rhesa, 
wohl  der  1598  bis  1621  zu  Tolminkemen  wirkende  Pfarrer,  eine 
litauische  Übersetzung  der  Psalmen.  Die  Literatur  bewegte  sich  nun 
100  Jahre  lang  in  denselben  Gleisen;  in  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts 
beginn^  ein  neuer  Zweig  zu  erblühen,  das  litauische  Wörterbuch. 

Der  erste  Verfasser  eines  solchen  war  der  Jesuit  Konstantin  Szyrwid, 
der  zu  Wilna  (1677:  4.  Auflage)  für  den  Gebrauch  der  studierenden 
Jugend  ein  dreisprachiges  Lexikon  veröffentlichte,  in  dem  polnische 
Wörter  litauisch  und  lateinisch  erklärt  werden. 

Die  ruhige  Entwickelung  des  17.  Jahrhunderts  wurde  durch  den 
Tatareneinfall  von  1656  bis  1657  unterbrochen,  der  13  Städte  und 
249  Dörfer  wegfegte  und  dem  Lande  100  000  Menschen  durch  Krank- 
heit und  Gefangennahme  entraffte.  Durch  die  Pest  von  1708  bis  1711 
wurden  154  445  Menschen  vernichtet,  so  dafs  nur  ein  Viertel  der 
alten  Bewohnerzahl  Preufsens  übrig  blieb. 

Doch  nun  beginnt  eine  Glanzzeit  Litauens.  Als  Friedrich  1701 
zum  ersten  König  in  Preufsen  gekrönt  ward,  wandte  man  sein  Augen- 


% 


42  Die  Litauer. 

merk  reger  dem  Lande  zu,  aber  erst  der  Nachfolger  Friedrich  Wilhelm.  I. 
(1714  bis  1740)   ward   der  wirkliche  Besiedler  Litauens;    und  unter 
Friedrich  dem  Grolsen  (1740  bis  1786)  wurde  der  Ausbau  fortgesetzt; 
man  legte  unter   anderem  viele  Straf  sen   an.      Aus  dem  Namen  der 
Ortschaften,  die  zur  Zeit  Friedrich  Wilhelms  I.  vorhanden  waren,  ersieht 
man    recht  deutlich    die  grofse  Waldeinöde   Litauens  wie  mitten  im 
Forst    (Widgirren),     gelichtet    (Skaisgirren) ,     Birkenteer    gewonnen 
(Dagutehlen,    Dagutschen),    Teer   gebrannt  wird   (Smaledunen,    Teer- 
bude, Smaleninken),  wo  Holzmeiler  kohlen  (Trakehnen,  Traken,  Traki- 
ninken)  und  durch  Ausbrennen  (Iszdagen)  oder  Umschlagen  (Iszlaudszen) 
der  Wald  verkleinert  (Gireliszken)  und  die  Heide  bewohnbar  (Schilenen, 
Schilgalen)   gemacht  worden  ist.      In   diesem  Punkte  hat   der  König1 
vielleicht  eher  zu  viel  gethan;  die  Waldungen  der  frischen  Nehrung 
fielen    auf    den    Rat    übelkundiger    Ratgeber,    —    der    Wald    wurde 
schutzlos.    Gleich  im  ersten  Jahre  seiner  Regierung  weilte  er  in  Litauen 
und  besuchte  es  dann  noch  achtmal.     Er  bestimmte,  dafs  Einwanderer 
steuerfrei  wären  und  billigen  Grundbesitz  erwerben  könnten.     Er  ver- 
teilte Vieh  und  Aussaat  an  die  Siedler,  hielt  es  aber  doch  für  nötig, 
einen  Befehl  ergehen  zu  lassen,  dals  von  einem  Zwange,  einzuwandern, 
keine  Rede  sei.     Die  Einwanderer  kamen  in  Scharen,  namentlich  den 
des  Glaubens  wegen  Vertriebenen  bot  der  König  freudig  die  Hand. 
1724  erschienen  3900  Schweizer,  Pfälzer  und  Franken,  1732  folgten 
15  508  Salzburger.    Insgesamt  nahm  er  deren  20694  auf.    Zu  gleicher 
Zeit  hatte  Leopold  von  Dessau  für  17  000  Thaler  Land  erworben  und 
besiedelte  es  rund  um  Norkitten.   Noch  heute  nennen  sich  die  Bewohner 
nach  ihrem  Heimatlande  und  bewahren  teilweise  ihre  alten  Sitten.     Die 
Urenkel  jener  Emigranten  zeigen   das  Erbstück  der  Ahnen,   das  zu- 
gleich Familienbuch  geworden,  die  Bibel,  um  derenwillen  sie  dereinst 
verjagt    wurden.      Einige    Bauern    tragen    französische    Namen;    die 
Herzen   schlagen   deutsch.      Im  ganzen  hat  der  König  von   1721   bis 
1727    für    Litauen    2  430  289    Thaler    aufgewandt    (Stadelmann, 
Fr.  W.  L),    für  ganz  Ostpreufsen  6  Millionen.      Mit  welcher  Sorgfalt 
der  viel  verlästerte  König  seine  Provinz  pflegte,  ist  aus  den  zahlreichen 
Verordnungen    ersichtlich,    die    sich    auf    Ackerbau    und   Viehzucht, 
P^scherei  und  Gartenpflege,   Vorwerke  und  Volkswohlfahrt  beziehen. 
Bald  ist  es  ein  Verbot,  in  Ställen  und  Scheunen  zu  rauchen,  bald  eine 
Aufforderung,  die  Kraniche  und  die  für  jeden  bestimmte  Zahl  schäd- 
licher Vögel  zu  vernichten  ]),  dann  wieder  ein  Anweis,  Zigeuner,  Bettler 
und  anderes  liederliches  Gesindel  nach  der  nächsten  Garnison  zu  schicken 
und  allgemein  Nachtwächter  anzustellen,  sodann  ein  Befehl,  die  Stroh- 
schindeldächer abzuschaffen  und  das  Schi  eisen  mit  Pistolen  bei  Hochzeiten 


!)  Noch  1744  wiederholte  Friedrich  der  Grofse  am  22.  Juni  in  deutscher 
und  litauischer  Sprache  die  Aufforderung  zum  Vertilgen  der  Sperlinge  und 
Krähen. 


Kulturarbeit  Friedrich  Wilhelms  I.  43 

zu  unterlassen ;  aber  auch  ein  Gebot  für  Reisende  erging,  in  ordentlichen 
Schenken  oder  Krügen  zu  übernachten;  ausgenommen  waren  vornehme 
und  reputierliche  Leute.  Die  Scharwerker  sollten  im  Ragniter  und  im 
Jnsterburger  Kreise  von  Ostern  bis  Michaelis  wöchentlich  zwei,  von 
Michaelis  bis  Ostern  monatlich  einen  Tag  arbeiten.  Immer  wieder 
verlangte  er  Auskunft  oder  Vorschläge  zur  Hebung  der  Wohlfahrt;  der 
sprichwörtlich  sparsame  Fürst  konnte  sehr  wohl  freigebig  sein,  wenn 
es  seines  Volkes  Heil  galt. 

Er  begründete  die  landwirtschaftliche  Musteranstalt  Trakehnen, 
die  wegen  ihrer  Pferdezucht  noch  heute  bekannt  ist,  errichtete  land- 
wirtschaftliche Professuren  in  Halle  und  Frankfurt  a.  0.  und  vergafs 
auch  nicht  die  geistige  Hebung;  1723  schuf  er  an  der  Königsberger 
Universität  ein  litauisches  Seminar  zum  Unterricht  junger  Theologen 
und  Lehrer  und  liels  schon  zuvor  vom  Professor  Lysius  das  Kirchen- 
und  Schulwesen  eingehend  revidieren.  Unter  seiner  Regierung  erschien 
die  erste  litauische  Bibel;  Gesangbuch  und  Katechismus  wurden  1719 
neu  übersetzt,  in  Halle  hielt  F.  W.  Haack  (aus  D.  Krottingen)  litauische 
Vorlesungen  und  gab  1730  das  erste  deutsch-litauische  Wörterbuch  heraus. 
Dabei  vergafs  er  die  Germanisierung  nicht,  sein  Grundsatz  war: 
„Je  mehr  Deutsche  ins  Land  kommen,  desto  besser  wird  es."  Und  die 
Deutschen  rodeten  und  besiedelten  denn  auch  fleifsig  und  breiteten 
sich  aus.  Aber  sie  wurden  unzufrieden,  als  sie  neben  dem  Scharwerks- 
dienst auch  noch  Abgaben  geben  sollten,  und  die  Verhältnisse  zwischen 
den  Litauern  und  Deutschen  waren  nicht  immer  die  besten.  In  den 
Gedichten  des  Donalitius  werden  sie  als  die  Bringer  loser  Sitten,  als 
herrische,  unkirchliche  Eindringlinge  dargestellt.  Aber  so  oft  dieser  auch 
den  Besiedlern  am  Zeuge  flicken  will,  das  niufs  er  doch  immer  wieder 
zugestehen,  dals  sie  arbeitsam  und  fleifsig  sind  und  die  von  ihm  über 
alles  geliebten  Litauer  oft  beschämen.  Das  schönste  Denkmal  hat  der 
Thätigkeit  des  grofsen  Königs  sein  Sohn  Friedrich  der  Grofse  gesetzt, 
indem  er  in  einem  Briefe  an  Voltaire  27.  Juli  1739  schreibt  (vergl. 
Altpreufs.  Mon.  1885,  S.  1888):  „Preufsisch  Litauen  ist  ein  Herzogtum, 
das  30  deutsche  Meilen  lang  und  20  breit  ist,  doch  auf  der  deutschen 
Seite  von  Samogitien  etwas  schmaler  zuläuft.  Diese  Provinz  ward  zu 
Anfang  dieses  Jahrhunderts  von  der  Pest  verwüstet  und  es  kamen 
mehr  als  300  000  Einwohner  vor  Krankheit  und  Elend  um. 

Seit  der  Zeit  hat  der  König  keine  Ausgabe  gespart,  um  seine 
heilsamen  Absichten  durchzusetzen.  Zuerst  gab  er  sehr  weise  Verord- 
nungen, baute  dann  alles  wieder  auf,  was  durch  die  Pest  verfallen 
war,  und  liels  aus  allen  Gegenden  tausende  von  Familien  kommen. 
Die  Äcker  wurden  urbar,  das  Land  bevölkerte  sich  wieder,  der  Handel 
blühte  von  neuem,  und  gegenwärtig  herrscht  in  dieser  fruchtbaren 
Provinz  mehr  Ueberflufs  als  jemals.  —  Nun  leben  eine  halbe  Million 
Einwohner  in  Litauen.  Es  hat  mehr  Städte  und  mehr  Herden  als 
ehemals  und  ist  reicher  und  fruchtbarer  als  irgend  eine  Gegend  in 


44  Die  Litauer. 

Deutschland.  Und  alles,  was  ich  Ihnen  gesagt  habe,  hat  man  nur 
dem  Könige  zu  verdanken,  der  nicht  blofs  verordnete,  sondern  auch 
selbst  über  die  Vollziehung  wachte,  Pläne  entwarf  und  sie  allein  aus- 
führte; keine  Mühe,  keine  Beschwerden  scheute,  ungeheure  Summen 
aufwandte  und  es  nie  an  Versprechen  und  Belohnung  fehlen  liels,  um 
das  Glück  einer  halben  Million  denkender  Wesen  zu  sichern,  die  nun 
ihm  allein  ihren  Wohlstand  und  ihre  gute  Lage  verdankend 

Und  gleich  unmittelbar  darauf  brach  Friedrichs  Groll  in  hellen 
Flammen  aus.  „ Wären  Sie  hier",  schreibt  er  am  8.  August  desselben 
Jahres  von  den  litauischen  königlichen  Stutereien  aus  an  Jordan, 
„ wären  Sie  hier,  ich  Heise  Ihnen  die  Wahl  zwischen  dem  artigsten 
litauischen  Mädchen  und  der  schönsten  Stute  von  meiner  Zucht.  — 
Ihre  Ehrbarkeit  ärgere  sich  hieran  nicht,  denn  hier  zu  Lande  ist  ein 
Mädchen  nur  dadurch  von  einer  Stute  unterschieden,  dafs  es  auf  zwei 
und  diese  auf  vier  Fülsen  geht.44 

Die  Landbewohner  Ostpreulsens  und  Litauens  zerfielen  damals  in 
vier  Stände:  die  Adligen  und  Amtmänner,  die  Kölmer  oder  Freibauern, 
die  Bauern  oder  Scharwerker  und  die  Knechte.  An  der  Spitze  der 
Landbevölkerung  standen  die  wenigen  Adligen  und  königlichen  Amt- 
männer, die  zugleich  Domänenpächter  waren.  Sie  hatten  ausgedehnten 
Landbesitz,  der  von  den  gewöhnlichen  Bauern,  den  Schar  werkern ,  be- 
arbeitet werden  mulste.  Jedes  Dorf  innerhalb  eines  Amtsbezirkes  hatte 
seinen  zugewiesenen  Landbezirk  und  seine  bestimmten  Arbeitstage,  der 
Amtmann  schickte  dann  den  Schulzen  herum,  wenn  beispielsweise  der 
Roggenschnitt  beginnen  sollte.  Dann  machten  sich  die  Dorfinsassen 
zur  bestimmten  Stunde  mit  ihren  Geräten  auf  und  gingen  in  das 
ihnen  zugeordnete  Feld.  Nach  beendigter  Arbeit  kehrten  sie  nach. 
Hause  zurück,  um  ihre  eigene  Feldarbeit  zu  thun.  Die  Scharwerker 
hatten  ihre  kleinen  Bauernhäuschen,  und  seit  den  50er  Jahren  mussten 
diese  bei  ihren  Feldern  liegen.  Ein  solcher  Scharwerker  hatte  öfter 
seine  eigenen  Knechte.  Es  ist  uns  die  Scharwerkerkarte  von  Tolmin- 
kemen  aufbewahrt,  die  genau  erkennen  läfst,  welchen  Anteil  die  ein- 
zelnen Dörfer  an  den  Domänenfeldern  zu  bestellen  hatten. 

Zwischen  Bauern  und  Adligen  standen  die  Freibauern  oder  Kölmer, 
nach  dem  Kulmer  Recht  benannt.  Sie  waren  vom  Schar  werker  dien  st 
befreit  und  bestellten  ihre  Güter  mit  Knechten.  In  Tolminkemen  gab 
es  zur  Zeit  des  Donalitius  einen  Amtmann  und  Domänenpächter,  dessen 
Domänen  aber  über  das  Dorf  hinausgingen,  etwa  fünf  Kölmer  und 
200  Scharwerker.  Das  Schar  werkleben  tritt  uns  lebhaft  aus  Donalitius 
entgegen,  wenn  er  (Sommer  136,  Übersetzung  von  Passarge)  singt: 

Während  sich  Seimas  also  ereifert,  da  knarret  die  Thüre, 
Und  herein  tritt  Fritz,  der  allen  willkommene  Schulze. 
Seht,  so  sprach  er,  sogleich  den  Befehl  des  Herrn  verlesend, 
Übermorgen,  so  heifst's,  erscheinen  die  Bauern  zum  Scharwerk, 
Um  aus  den  Ställen  des  Herrn  herauszuschaffen  den  Dünger. 


Entwässerung  des  Moorbruchs.  45 

Darum  bringt  mir  alle  die  Wagen  gehörig  in  Ordnung, 

Und  stellt  zeitig  euch  ein  mit  Haken  und  Forken  zum  Laden. 

Allen  Bauern  ist  ja  bekannt,  wie  viel  ihnen  obliegt, 

Jeder  kennt  gut  auch  genau  den  ihm  angewiesenen  Morgen. 

Ich  auch  werd'  unter  euch,  so  Gott  will,  wacker  mich  tummeln, 

Werde  nicht  blofs,  wenn  den  Dünger  ihr  streut,  euch  ehrlich  bewachen, 

Sondern  auch  lehren,  wenn's  Zeit,  ihn  zu  laden  und  ab  ihn  zu  fahren.  — 

Sieh,  da  versammelten  sich  die  Scharwerksleute  in  Haufen. 

üäner  hier  seinen  Haken,  die  neue  Forke  ein  andrer 

Bringend,  so  sputeten  sie  sich  alle,  so  rasch  sie  nur  konnten. 

Albas  hatte  mit  Fleifs  sich  neue  Leitern  verfertigt, 

Auch  MertRchuks  auf  die  Achse  gestreift  die  kräftigen  Bäder. 

Beide  klapperten  dann  mit  den  übrigen  Leuten  ins  Scharwerk! 

Aber  die  Knechte  auch,  die  sich  neue  Sohlen  geflochten, 

Liefen  eilig  herbei,  wetteifernd,  wer  wohl  der  erste. 

Seit  jener  Zeit  haben  sich  die  Verhältnisse  der  Litauer  sehr  zum 
besseren  gewendet.  Die  Russenherrschaft  im  siebenjährigen  Kriege,  die 
Aulhebung  der  Leibeigenschaft  1804,  das  Unglücksjahr  1807,  die  darauf 
folgende  freudige  Erhebung  und  die  Neugestaltung  der  politischen  und 
socialen  Verhältnisse  gingen  an  Litauen  nicht  spurlos  vorüber.  Die 
Hebung  des  Volksschulwesens,  die  Verbesserung  der  Wege  und  Ver- 
kehrsstrafsen  brachte  die  abgelegenste  Reichsprovinz  dem  grofsen 
Yaterlande  näher,  und  willig  folgen  die  Litauer  dem  grofsen  Wege  des 
Fortschrittes.    • 

Jetzt  eben  hat  man  wieder  ein  grofses  Gebiet,  „den  Moorbruch" 
am  grolsen  Friedrichsgraben,  zur  Ackerbaukolonisation  ausersehen. 
45  000  ha  sollen  entwässert  und  fruchtbar  gemacht  werden.  Die  Ansiedler 
bekommen  nach  ihren  Mitteln  eine  Fläche  urbar  gemachten  Moores 
mit  Haus  auf  etwa  20  Jahre  in  Pacht.  Die  Kätnerstellen  umfassen  3, 
die  Bauernstellen  15  ha  (zu  18  Mark  Pachtpreis  für  1  ha).  Zwischen 
zwei  zu  bewirtschaftenden  Flächen  wird  immer  eine  frei  gelassen. 
Der  dritte  Teil  bleibt  Grasland,  Kartoffel-,  Zwiebel-  und  Gemüse- 
bau soll  am  lohnendsten  sein.  Die  Gemeinde  Gilge  erntet  jährlich 
allein  60000  Kohlköpfe  und  führt  sie  im  Herbst  auf  Kähnen  nach 
Labiau  und  Königsberg.  Freilich  mufs  man  sehr  auf  der  Hut  sein, 
dafs  das  Wasser,  wie  im  Spreewalde,  die  Niederung  nicht  überschwemmt 
und  die  Ernte  verschlingt.  Die  Zeiten  des  Schacktarps,  des  noch  nicht 
tragenden  Eises,  und  die  des  Eisschmelzens,  wenn  die  ganze  Niederung 
unter  Wasser  steht,  sind  hier  am  drückendsten.  —  Jene  Moorfelder 
bieten  aufserdem  ein  gutes  Brennmaterial.  Die  Urbarmachung  der 
Gegend  soll  dem  kleinen  und  sparsamen  litauischen  Bauer  Gelegenheit 
zur  Landerwerbung  und  zur  Verbesserung  seiner  Lage  bieten. 

Manche  haben  von  einer  „litauischen  Frage u  gesprochen,  die  ist 
aber  längst  gelöst.  Wer  glaubt  wohl,  die  Litauer  wollten  in  Europa 
eine  politische  Rolle  spielen? 

Wollen  sie  ein  eigenes  Reich  errichten?  Etwa  einen  baltischen 
Pufferstaat  zwischen  Slawen  und  Germanen  ?    Meines  Wissens  ist  dieser 


1 


46  Die  Litauer. 

naheliegende  Gedanke  weder  in  einer  Zeitung  ausgesprochen  worden 9 
noch  giebt  es  eine  politische  Fraktion  dieser  Anschauung. 

Als  der  unpolitische  Verein  Byrute  gegründet  ward,  mag  der 
Namengeber  allerdings  daran  gedacht  haben,  Byrute  werde  aufs  neue 
einen  Witold  gebären.  Der  kriegerische,  zum  Tode  geweihte  Fürst  war 
aber  nie  ein  Hort  der  Zukunft,  eher  seine  Vorgänger  mit  ihren  civili- 
sierten  Siedlern.  Die  ostpreufsischen  Litauer  stehen  so  zu  ihrem  König- 
und  zu  Kaiser  und  Reich  und  haben  dies  bei  Huldigungen  in  Berlin 
und  beim  Besuche  preußischer  Könige  in  Litauen  so  oft  in  Lied  und 
Wort  zum  Ausdruck  gebracht,  dafs  an  eine  politische  Erhebung  von 
allgemeinem  Gepräge  gar  nicht  zu  denken  ist.  Nun  ist  aufserdem  dies 
Bauern volk  so  entschieden  praktisch,  am  Alten  hängend  und  auf  des 
Hauses  und  Ackers  Gedeihen  und  die  eigene  Wohlfahrt  bedacht,  dals 
es  für  derartige  politische  Fragen  weder  Zeit  noch  Lust  hat.  Und  wie 
steht  es  mit  den  geistigen  Führern?  Man  mufs  da  von  dem  Tages- 
geschwätz mancherlei  abziehen.  Der  Städter  hält  gern  den  Dörfler, 
das  sind  ja  fast  alle  Litauer,  für  niedriger  stehend,  für  bauernstolz, 
listig,  verschlagen.  Richter  sind  oft  nicht  gut  auf  die  Litauer  zu 
sprechen  eben  wegen  jener  Eigenschaften.  So  sagt  man  auch  den 
Führern  bald  Beschränktheit  und  Naivetät,  bald  Geriebenheit  und  Ver- 
schmitztheit nach,  die  hübsch  hinter  dem  Busche  hält.  In  welcher 
Weise  mit  ihnen  gewisse  Zeitungen  umspringen,  geht  daraus  hervor, 
dafs  man  über  einen  litauischen  Reichstagskandidaten  berichtete,  er  wäre 
nach  seinem  Durchfall  einstimmig  zum  Nachtwächter  seines  Heimats- 
ortes ernannt  worden  und  hätte  die  Wahl  dankend  angenommen. 

Die  litauischen  Führer  denken  gar  nicht  an  eigene  Fürsten.  Sind 
die  einen  königstreu,  so  sind  andere  mehr  demokratisch  und  halten 
vom  Wirken  der  Fürsten  überhaupt  nicht  viel.  Sie  haben  getrost 
Witolds  Bild  als  Zimmerschmuck  und  meinen:  „Was  hatte  denn 
sein  ganzes  gewaltiges,  kriegerisches  Streben  für  Zweck?  Die  ruhige 
bürgerliche  Entwickelung  mit  Entfaltung  wirtschaftlicher  und  geistiger 
Kraft  in  den  Tagen  Gedimins  hätte  uns  weiter  gebracht;  aber  Witold 
mulste  ja  Krieg  führen. u  So  geben  auch  diese  den  jetzigen  Herrschern 
vor  allen  anderen  und  weiteren  die  gröfste  Ehre.  Beim  Donalitius- 
fest  in  Lasdinehlen  stimmten  alle  Litauer  mit  Freuden  in  den  Gesang 
deutschpatriotischer  Lieder  ein  und  riefen  das  Hoch  auf  Kaiser,  König 
und  Reich. 

Besteht  ein  politisches  Band  zwischen  den  preuf Bischen  und 
russischen  Litauern?  Nein.  Die  russische  Grenze  ist  eine  hohe 
Schranke,  selbst  für  den,  „der  über  die  Wiesen  gehttf.  Sie  läfst  nicht 
viel  mehr  als  privaten  Verkehr  zu.  Ein  Nationallitauer  in  Eydtkuhnen 
sagte:  „Was  könnte  uns  mit  den  Litauern  jenseit  der  Grenze  verbinden, 
wo  die  unwissendsten  Menschen  der  Welt  wohnen  ?u  So  übertrieben 
diese  Redensart  ist,  so  bezeugt  sie  doch  die  Kluft.  Die  l1/2  Millionen 
russischen  Litauer  von  Suwalki  bis  Petersburg,  von  Polangen  bis  Düna- 


Die  litauische  Frage.  47 

buirg  beziehen  ihre  geistige  Nahrung  zum  gröfsten  Teil  aus  Preufsen, 
seitdem  man  den  Druck  litauischer  Bücher  in  nichtrussischen  Lettern 
▼erboten  hat.  Wohl  sollen  die  in  Russland  unterdrückten  Litauer 
einmal  dem  preulsischen  Könige  ihre  Unterth  an  Schaft  angeboten  haben. 
Mir  selbst  sagte  man  scherzhaft  in  einer  alten  litauischen  Hauptstadt 
mit  rot- schwarz -weilsen  Schilderhäuschen:  „Das  bedeutet,  wir  werden 
bald  deutsch. tt  Politisch  ist  Kussisch  -  Litauen  kaum  in  Frage  zu 
ziehen,  da  ein  selbständiges  Vorgehen  fehlt.  Wie  aber  ist  es,  wenn 
einzelne  Führer  scheinbar  im  Namen  des  Volkes  Bundesgenossen  suchen? 
Etwa  ein  Ungarnbündnis  —  diesen  Scherz  hatte  sich  ein  dea  Litauern 
feindliches  Blatt  geleistet. 

Aber  ein  Bund  mit  den  Polen?  Ja,  die  Polen  zögen  die  Litauer 
gern  in  ihre  Bewegung,  und  es  giebt  einige  Priester  Jen  seit  der  Grenze, 
die  in  diesem  Sinne  wirken  mögen.  Die  polnischen  Blätter  lassen  es 
an  Schmeichelei  nicht  fehlen.     Da  heilst  es : 

„Die  Polen  sind  zwar  dem  sehnsüchtig  melancholischen  Bestreben 
der  Litauer  geneigt,  ihr  nationales  Element  wieder  aufzufrischen.  Doch 
dieses  Zunicken  dauert  nur  so  lange,  als  die  Litauer  mit  den  Polen 
gemeinsame  Sache  machen.  Unglücklicherweise  hat  in  der  letzten  Zeit 
der  Geist  der  Einigkeit  und  Freundschaft  erkalten  müssen,  namentlich 
da  die  Litauer  an  eine  Abtrünnigkeit  von  den  Polen  denken,  ohne  zu 
überlegen,  data  die  Litauer  den  Polen  ihr  ganzes  Dasein  verdanken. 
Die  Polen  haben  den  Litauern  sogar  ein  dauerndes  Monument  gesetzt: 
Mickiewicz,  Kraszewski,  Eondrotowicz  sind  unter  den  Polen  Apostel  für 
das  Litauertum  gewesen.  So  ein  Denkmal  werden  die  Litauer  sich 
nie  setzen  können."  —  «Wir  haben  den  Polen  einen  Goethe  und  Schiller 
gegeben,  die  Litauer  Mickiewicz  und  Kraszewski",  sagte  ein  als  Dichter 
bekannter  Bischof  umgekehrt,  und  ein  anderer  fügt  hinzu:  „Natürlich 
haben  jene  schön  klingenden  Worte  gar  keine  Geltung  in  den  Augen 
der  Litauer,  denn  die  Litauer  hatten  schon  damals,  als  noch  kein 
Vöglein  von  den  Polen  sang,  eine  gewisse  Kultur  erreicht.  Aufserdem 
verdanken  die  Polen  den  litauischen  Jagelionen  ihren  politischen  und 
bürgerlichen  Aufschwung  —  das  gestehen  selbst  die  Polen  ein;  die 
besten  geistigen  Kräfte  unter  den  Polen,  auch  die  oben  genannten 
Koryphäen,  sind  Litauer  gewesen,  die  polnisch  schrieben.  Somit  fällt 
alles,  was  Jene  Zeitung  flunkert,  ins  Wasser,  und  gegen  die  litauische 
Geistlichkeit  findet  man  in  den  litauischen  Zeitungen  keine  Bespötte- 
lungen und  Verfolgungen  wie  in  den  polnischen.  Daher  ist  dieser 
Artikel  als  eine  elende  chauvinistische  Täuschung  der  Leser  anzusehen/ 

Anders  wirbt  ein  anderes  Polenblatt.  Die  polnischen  Pane  hätten 
zwar  das  litauische  Volk  geschunden,  aber  jene  seien  ja  litauischen,  nicht 
polnischen  Blutes.  Man  wolle  nicht  polonisieren.  Der  Redakteur  trank 
sogar  auf  der  Schriftstellerversammlung  zu  Krakau  auf  das  Wohl 
der  neu  erstandenen  litauischen  Nationalliteratur.  Aber  die  Litauer 
mülsten  bei  den  Polen  bleiben,  diese  seien  die  Kulturträger  der  Welt! 


48  Die  Litauer. 

„Die  Polen  wollen  die  Litauer  täuschen,  mit  leeren  Behauptungen  blenden 
und  honigsüfsen  Versprechungen  einlullen. u  —  Man  sieht,  polemisierende 
Politiker  finden  keine  Gegenliebe,  die  Gründe  sind  einfach.  Die  Polen 
sind  die  Nationalfeinde  der  Litauer.  Das  baltische  Volk  hatte  die 
ältere  Kultur.  Aber  die  Polen  haben  ihm  unter  Jagiello,  trotz  aller 
Heldenhaftigkeit  Witolds,  Selbständigkeit  und  Recht  untergraben  und 
allmählich  vernichtet,  sie  haben  in  den  ersten  beiden  Teilungen  an 
erster  Stelle  litauische  Provinzen  ausgeliefert,  sie  sagen  noch  heute 
unverhohlen:  „Helft  uns  nur  Polen  aufrichten,  dann  gehört  ihr  hübsch 
dazu,  dürft  euren  evangelischen  und  griechischen  Glauben  sofort  mit 
dem  katholischen  vertauschen  und  euer  baltisches  Volkstum  dem 
unseren  opfern.  Ihr  möchtet  gern  eure  Muttersprache  behalten?  Nun, 
Hülfe  ist  in  dem  Herrn!"  Man  kann  sich  denken,  dafs  das  litauische 
Volk  lieber  dem  Wilnaer  Gouverneur  seine  „8000  Rubel  Gehalt -für 
Vernichtung  des  litauischen  Volkstums  verzieh",  als  die  Redensarten 
seiner  polnischen  Bedrücker.  „Die  Polen  begreifen  nur  das,  was  die 
Wasser  Litauens  auf  die  Polenmühle  fliefsen  lassen",  sagt  man  an- 
gesichts der  Worte  einer  Wochenschrift:  „Alle  Litauer,  die  sich  von 
den  Polen  separieren  wollen,  sind  Wagehälse  mit  langen  Ohren." 
Darum  giebt  es  kaum  einen  Nationallitauer,  der  ernsthaft  mit  Polen 
paktieren  und  die  Kastanien  für  den  alten  Erbfeind  aus  dem  Feuer 
holen  möchte.  Und  wenn  auch  1863  einige  unruhige  Köpfe  am  Auf- 
stande teilnahmen:  für  den  weit  gefahrlicheren  Bedrücker  geschah  es 
kaum,  es  war  der  angeborene  dunkle  Freiheitstrieb,  der  überall  seine 
Anhänger  hat;  die  polnischen  Herren  in  den  ehemaligen  Königsstädten 
Wilna  und  Kowno  sorgen  durch  ihre  Geringschätzung  gegenüber  den 
litauischen  Bauern  schon  dafür,  dafs  eine  Freundschaft  nicht  auf- 
kommt. 

So  haben  die  Litauer  gar  keine  politischen  Sondergelüste?  Nein, 
in  Europa  nicht,  vielleicht  aber  für  Amerika.  Jedes  litauischen  Jüng- 
lings Ideal  ist  Amerika.  Man  lese  des  litauischen  Dichters  Ketorakis 
Novelle  „Amerika  im  Dörrhaus tt,  um  diese  Sehnsucht  nachzuempfinden. 

Hoch  die  Auswanderung!  Und  immer  nach  den  Gebieten  an  den 
canadischen  Seeen!  Dort  giebt  es  zahlreiche  Vereine,  grofse  Zeitungen, 
eine  reiche  Literatur,  da  entstehen  Dramen,  Novellen  und  Gedichte  und 
dürfen  gedruckt  werden.  Amerika  ist  das  Ziel  so  vieler.  Und  ein 
Litauer  meinte:  „Was  würde  man  in  Europa  sagen,  wenn  eines  Tages 
aus  dem  Scholse  des  grofsen  Völkergemisches  in  Südcanada  ein  neuer 
Burenstaat  inselhaft  sich  abgrenzte,  ein  Litauen  in  Amerika  ohne  die 
Fehler  und  Mängel  jenes  alten  Reiches,  das  Byrutes  Sohn  lenkte?  Wohl 
ohne  König,  vielleicht  ein  Territorium  der  Vereinigten  Staaten,  aber 
doch  ein  Staat."  Aber  das  sind  ja  ungefährliche  Zukunftsträume,  die 
Deutschland  kaum  berühren.  Selbst  die  alten  Rufer  im  Streite  haben 
diese  Frage  nicht  erwogen.  Sie  haben  vielmehr  immer  nur  die  wissen- 
und  wirtschaftliche    Hebung  des  Volkes  erstrebt  und  dafür   gesorgt. 


Litauische  Bestrebungen.  49 

Daukantas,  Wolontschewski,  Juschkiewitsch,  sie  alle  wollten  nur  Hebung 
der  Schulen,  der  Bildung,  Verbesserung  der  Bodenkultur  und  Gewerbe. 
Versagte  die  Schule,  so  stiftete  man  Privatschulen,  genügte  ihnen  die 
Kirche  nicht,  so  vertiefte  man  den  Geist  in  Gebet 8 Versammlungen ,  die 
nirgends  so  zahlreich  als  in  Ostpreulsisch  -  Litauen  sind. 

Es  bleibt  uns  nun  die  Frage  übrig:  Was  wollen  denn  die  ost- 
preulsischen  Litauer  Besonderes? 

Sie  haben  nur  ein  einziges  Verlangen:  „Schont  unsere  Mutter- 
sprache. tf  Sie  wollen  nur,  dats  in  den  untersten  Schulklassen  litauischer 
Gemeinden  die  Unterrichtssprache  litauisch  sein  soll.  Für  die  Religion 
möchte  man  diese  immer  beibehalten,  während  die  anderen  Lehrgegen- 
stände nach  und  nach  in  deutscher  Sprache  erteilt  werden  sollen. 
Diese  Forderung  ist  berechtigt  Ihr  sollte  schon  Rechnung  getragen 
werden,  nachdem  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  Kaiser  Friedrich  III.  so 
warm  für  Litauen  eintraten.  Man  ist  längst  darüber  einig,  dafs  die 
muttersprachlichen  Mundarten  in  den  Unterklassen  die  sprachliche 
Grundlage  bilden  müssen,  die  sehr  zu  berücksichtigen  ist.  Wie  viel 
mehr  erst  eine  fremde  Muttersprache  eines  treuen  Volkes!  So  wird 
auch  das  Kind  des  Litauers  eine  viel  gesichertere  Grundlage  in  seiner 
Bildung  erhalten,  wenn  es  anfänglich  in  der  Sprache  seiner  Eltern 
unterrichtet  wird. 

Die  Menge  des  litauischen  Volkes  vertritt  ihre  Forderung  mals- 
voll. Sie  geht  bewufst  allmählich  im  Deutschtum  auf,  bevorzugt 
deutsche  Namen  und  deutsche  Bildung.  Sie  wufste  sich  eins  mit  dem 
deutschen  Bruder,  als  sie  mit  Ruhm  für  Friedrich  den  Grolsen,  mit 
Tapferkeit  gegen  Bonaparte,  mit  Auszeichnung  bei  Amiens  gefochten. 
In  Liedern  preist  der  Litauer  seine  Könige  von  Friedrichs  I.  Krönung 
bis  Wilhelms  IL  Thronbesteigung.  Jahr  für  Jahr  wird  das  litauische 
Sprachgebiet  kleiner  und  durchsetzter,  das  der  Sprachgelehrte  hegen 
möchte  wie  der  Nordamerikaner  seinen  Nationalpark.  Die  flexions- 
reichste indogermanische  Sprache,  die  noch  lebt  und  ihre  alten  Formen 
erhalten  hat,  ist  zugleich  in  Sang  und  Sage  der  Träger  ehrwürdiger 
Stoffe  und  Anschauungen,  wurzelnd  in  einer  Zeit,  da  Germanen  und 
Romanen,  Balten  und  Slawen  eine  einzige  Familie  bildeten. 

m.    Christian  Donalitius  und  die  litauische  Literatur. 
1.    Donalitius  und  seine  Nachfolger. 

» 

Christian  Donalitius  wurde  am  1.  Januar  1714  in  Lasdinehlen 
geboren. 

Lasdinehlen  bedeutet  Ort  im  Haselgebüsch.  Es  ist  ein  kölmisches 
Gut  und  hat  gegenwärtig  7  Familien  mit  44  Einwohnern;  in  des 
Dichters  ersten  Jahren  gehörte  es  zum  Kirchspiel  Gumbinnen  und 
wurde  1725  zu  dem  neugegründeten  Szirgupönen  geschlagen.     Jetzt 

Tetzner    Die  Slawen  in  Deutschland.  4 


50  Die  Litauer. 

ist  die  Sprache  des  Ortes  und  der  ganzen  Gegend  rein  deutsch, 
litauisch  sind  nur  noch  die  Familiennamen:  damals  war  es  infolge 
der  Besiedelung  nach  der  Pest  halb  deutsch,  halb  litauisch. 

Ob  des  Donalitius  Vater,  der  frühzeitig  starb,  ein  Urlitauer  oder 
ein  Eingewanderter  war,  ist  kaum  aufzuhellen.  Der  Name  Donalitius, 
der  allein  für  des  Dichters  Eltern  und  Geschwister  urkundlich  aufrecht 
zu  erhalten  ist,  ergiebt  sich  als  eine  Latinisierung,  und  der  Wort  stamm 
kann  ebenso  gut  die  lateinische  Übersetzung  eines  deutschen  Wortes 
(„Schenk",  vergl.  Ml.  donale,  donalia),  als  der  litauische  Ausdruck  für 
Brötchen  (donele,  „  Brotmann  u),  sogar  die  Ableitung  von  einem  englischen, 
vielmehr  keltischen,  Namen  sein.  Im  1 7.  Jahrhundert  wanderten  wieder- 
holt aus  Schottland  und  England  Kaufleute  und  Händler  in  Ostpreufsen 
ein,  Kant  stammt  ja  auch  aus  schottischem  Geschlecht.  So  finden  wir 
in  Westpreulsen  1640  einen  Donalson,  1735  einen  Doneelson  (Altpr. 
Mon.  1892,  S.  29).  Der  Name  Donalitius  kommt  nicht  mehr  vor,  ein 
ähnlicher,  Donalies,  ist  heute  wie  damals  nicht  zu  selten. 

Nach  der  Lieblingsbeschäftigung  der  Söhne  ist  man  geneigt  an- 
zunehmen, dals  der  Vater  neben  der  Besorgung  des  kölmischen  Gutes 
sich  mit  mechanischen  Arbeiten  abgegeben  habe;  seine  sieben  Kinder 
scheinen  diesen  Hang  geerbt  zu  haben.  Eine  Bruderstochter  Christians 
zählt  sie  auf  und  nennt  auch  die  Brüder:  1.  Friedrich,  Goldschmied 
in  Königsberg;  2.  Michael,  der  das  väterliche  Gut  erhielt  und  am 
1.  Mai  1757  in  Tolminkemen  „als  ein  Juwelier  seiner  Kunst"  starb,  und 
3.  Adam,  Huf-  und  Waffenschmied  in  Jocunen.  Und  Bock  sagt  auf 
S.  199  im  ersten  Teil  seiner  1782  erschienenen  preußischen  Natur- 
geschichte: „Die  beyden  Brüder  Donaleitis,  davon  der  eine  als  Prediger 
zu  Tolminkemen  gestorben,  der  andere  als  Goldarbeiter  und  Juwelier 
in  Königsberg  lebet,  sind  hier  im  Lande  durch  Verfertigung  der  sonder- 
barsten musikalischen,  aerometrischen ,  hydraulischen  und  anderer 
physikalischen  Instrumente,  Uhren  u.  dergl.  einem  jeden  bekannt." 

Der  Vater  starb  arm,  die  Mutter  aber  scheint  auf  die  Erziehung 
der  Söhne  viel  gegeben  zu  haben.  Christian  besuchte  die  Kneip- 
hof sehe  Kathedralschule  in  Königsberg  und  scheint  in  einem  damit 
verbundenen  Pauperhause  Aufnahme  gefunden  zu  haben,  bevor  er  zum 
theologischen  Studium  auf  der  Universität  überging.  Damals  bestand 
Königsberg  aus  drei  Städten,  deren  eine  der  pregelumflossene  vom 
Ordensmeister  Winrich  von  Kniprode  gegründete  Kneiphof  war.  Winrich 
hatte  die  Schule  1381  nach  dem  Muster  der  Elbinger  Stadtschule  ein- 
gerichtet (vergl.  Erleutertes,  Preufsen  III,  S.  352  bis  391,  Königsberg 
1726).  Anfänglich  sollen  die  Stadtkinder  darin  „allerley  freye  künste" 
lernen  und  den  Chorgesang  üben.  Die  Pauperschüler  und  die  Hälfte 
der  Präceptoren  mufsten  den  Kirchengesang  besorgen,  die  Leichen 
begleiten  u.  s.  w.  Sie  hatte  eine  Armenbibliothek,  der  beispielsweise 
Simon  Dach  1648  einen  schönen  zweibändigen  Demosthenes  stiftete; 
ein  gewisser  Kuhn  vermachte  dem  Pauperhaus  1767  die  Summe  von 


Donalitius  in  Königsberg.  51 

1190  fl.  (Bock  a.  a.  0.  I,  S.  203).  Die  Pauperschüler  speisten  teil- 
weise im  Universitätskonvikt.  Bock  berichtet  (I,  S.  59):  „In  der 
Communität  speisen  ordentlich  auf  Tischen  84,  und  also  an  jedem 
Tische  12  Studenten  Mittags  und  Abends,  wobey  noch  bis  27  Knaben, 
die  bey  den  Tischen  aufwarten,  ihren  vorläufigen  Unterhalt  finden  und 
dabey  zur  Schule  gehalten  werden,  auch  in  den  drei  grotsen  Stadt- 
schulen den  Unterricht  unentgeltlich  geniefsen."  Die  Bruderstochter 
Christians  berichtet  noch,  „dals  er  sich  auf  der  Universität  sehr 
kümmerlich  hat  durchbringen  müssen,  wie  er  denn  einmal  vor  Hunger 
sogar  niedergesunken  ist".  Aufser  den  Namen  seiner  Universitätslehrer 
und  seiner  Mitgliedschaft  am  litauischen  Seminar  des  Dr.  Schulz  wissen 
wir  von  seinem  Leben  vor  Antritt  des  Tolminkemer  Pfarramts  nur  das, 
was  er  selbst  mitgeteilt  hat. 

Er  wurde  am  27.  September  1736  als  Christianus  üonaleitis  Gumbin. 
Bornes,  aus  der  Kathedralschule  unter  die  akademischen  Bürger  auf- 
genommen. 1679  war  schon  ein  Insterburger  Johannes  Donalaitius, 
1680  ein  Michael  Donalaitis,  1706  ein  Insterburger  Johann  Donalitius, 
1709  ein  Ditlakener  Chr.  Alb.  Donalitius,  1762  noch  ein  Königsberger 
Chr.  Friedr.  Donaleitis  und  1812  ein  Wischwiller  Fr.  E.  Leop.  Donalitius 
immatrikuliert.  Die  Studienjahre  unseres  Christian  Donalitius  fielen 
also  in  die  grolse  Zeit,  da  Friedrich  Wilhelm  die  Siedler  ins  Land  zog. 
Sie  verwandelten  die  Einöden  in  blühende  Gärten.  Donalitius  freilich 
ist  voll  Gift  und  Galle  gegen  sie,  die  wohl  auf  die  Litauer  als  Niedrig- 
stehendere herabgesehen  haben  mögen.  „Als  sich  das  Litauervolk 
mit  dem  deutschen  mischte,  da  schwand  auch,  haben  wir's  doch  gesehen, 
Bescheidenheit,  Sitte  und  Anstand/  (Sommer,  348.) 

Dem  wirtschaftlichen  Aufschwünge  ging  ein  geistiger  nebenher. 
Königsberg  bleibt  geweiht  durch  Kants  Wirksamkeit.  Der  Philosoph 
erblickte  in  der  preulsischen  Krönungsstadt  1724  am  22.  April  das 
Licht  der  Welt  und  ist  bekanntlich  nicht  aus  dem  nächsten  Umkreise 
seiner  Vaterstadt  herausgekommen.  Er  studierte  hier  und  wurde  1755 
Docent  und  1770  Professor.  Donalitius  hat  ihn  kaum  gekannt,  aber 
der  geistige  Einflufs,  der  von  dem  grotsen  Weisen  ausging,  sickerte  in 
hundert  und  aber  hundert  Rinnsein  in  die  Bildung  seiner  Zeitgenossen 
ein.  —  Die  Pflege  des  Litauischen  erfreute  sich  besonderer  Teilnahme. 
In  Königsberg  selbst  wirkten  Schulz  und  Quandt,  die  zugleich  Lehrer 
des  Donalitius  waren.  Der  Oberhof prediger  Dr.  Quandt  veranlagte  den 
ersten  Druck  einer  litauischen  Bibel  1735  und  die  verunglückte  Neu- 
ansgabe des  litauischen  Gesangbuches.  Bisher  war  nur  das  Neue 
Testament  von  Schustehrus  1701  ins  Volk  gekommen,  die  Chylinskische 
Bibel  (1659  bis  1662)  war  nur  bis  zum  Hiob  gedruckt  worden.  Gesang- 
bücher hatten  nach  Moswid  1547  und  Bretke  1589  herausgegeben 
Sengstock  1612,  Klein  1666,  Richovius  1685,  Schustehrus  1705,  Behrendt 
1732,  Glaser  1736,  dann  Schimmelpfennig  1751,  Ostermeyer  1785,  Mielcke 
1832,  Keber  1832,  Kurschat  1841,  1844,  Glogau  1875,  Kelch  1880. 

4* 


52  Die  Litauer. 

In  der  deutschen  Literatur  aber  regten  sich  die  Keime  einer  späteren 
Prachtblüte,  die  Vorliebe  für  die  Idylle  und  später  für  das  Volkslied. 
Die  Jahreszeiten  Thomsons  wurden  allgemein  bewundert,  der  Königs- 
berger Professor  Werner,  der  Vater  des  Dichters  Zacharias  Werner, 
besang  in  lateinischen  Hexametern  nach  des  englischen  Dichters  Vor- 
gang den  gleichen  Stoff.     Es  bleibt  noch  zu  untersuchen,  wenn  das 
Gedicht  noch  vorhanden  ist,  ob  und  inwieweit  Donalitius  von  Werner 
abhängig  ist.    Im  Übrigen  hat  freilich  Donalitius  von  den  Bewunderern 
des  Volksliedes  nichts  gewufst,  die  mit  Ruhigs  Veröffentlichung  einiger 
Dainos   und    mit  Perceys   englischer  Volksliedersammlung   erwuchsen 
und  in  Bürger,  Lessing,  Herder  und  Goethe  ihre  Führer  sahen.     Auch 
Herder,  sein  Landsmann,  der  1 744  zu  Mohningen  geboren  ward,  scheint 
ihm    unbekannt    geblieben    zu    sein.      Dals   Donalitius   seinen   älteren 
Zeitgenossen  Philipp  Ruhig,  Pfarrer  in  Walterkemen,  einen  Vorgänger 
seines  Freundes  Jordan,  gekannt  hat,  ist  nicht  unwahrscheinlich.    Dieser 
gehört  zu  den  62  litauischen  Pfarrherren  inPreufsen,  die  1719  ihr  Gut- 
achten über  den  neuen  Katechismus  des  Heinrich  Lysius  abgaben,  an 
der  von  Quandt  veranlagten  Bibelübersetzung  und  an  verschiedenen 
litauischen  Gesangbuchsausgaben  beteiligt  waren,  und  ist  als  Verfasser 
des    ersten    gröfseren    litauischen  Wörterbuches    1744    bis   1747   und 
Veröffentlicher  der  ersten  Dainos  in   deutscher  Übersetzung  bekannt. 
Ruhig  stammt  aus  Kattenau  und  wurde  am  6.  Oktober  1692  immatri- 
kuliert.   Neue  Wörterbücher  schrieben  Mielcke  1800,  Nesselmann  1851, 
Kurschat  1870  und  1883.      In  letzter  Linie,  gehen   diese   litauischen 
Veröffentlichungen  auf  den  tüchtigen  König  Friedrich  Wilhelm  I.  zurück; 
der  wie  Herzog  Albrecht  für  Litauen    sorgte.      Als   Student  wohnte 
Donalitius  mit  seinem  Studienfreunde  Sperber  zusammen,  der  vor  ihm 
und  mit  ihm  als  Präzentor  in  Tolminkemen  wirkte.     Jener  wurde  am 
27.  September  1736,  Sperber  am  15.  Mai  1734  immatrikuliert.     Beide 
werden  als  arm  bezeichnet,  sie  hausten  im  alten  Collegium  Albertinum, 
Stube   C.  und    speisten    „wie    arme  Studenten"    in    der  Kommunität. 
Seine  Studien  dehnten  sich  nicht  blofs  auf  die  Gottesgelahrtheit,  sondern 
auch  auf  die  Sprachen  aus.   Briefe  an  befreundete  Pfarrer  und  sonstige 
Notizen  bestätigen  dies.      Im  Scherz  citiert  er  die   „Hiade"   (Äneide) 
des  Virgil,  dessen  Bukolika,  den  Vers  des  Ovid,  dals  der  Wille  zu  loben 
sei,  wenn  die  Kräfte  fehlen,  und  andere  Stellen  und  Anklänge  (Hesiod, 
Theokrit)    aus  lateinischen  und  griechischen  Klassikern,  einmal  auch 
Geliert  und  deutsche  Kirchenlieder.    Die  litauische  Schriftsprache  hatte 
laich  vor  ihm  auf  kirchliche  Schriften  und  Gesangbuch sverse  beschränkt. 
Unter  Schulzens  Anleitung  widmete   er   sich  der  litauischen  Sprache, 
die   er   nach  eigener  Angabe  besser  zu  reden   als   orthographisch  zu 
schreiben  verstand.  —  Nach  Beendigung  seiner  Studien  finden  wir  ihn 
1740   als  Kantor,    1742   als  Rektor  in   Stallupönen.     Pfingsten  1742 
wurde  er  als  Pfarrer  nach  Tolminkemen  berufen,  er  blieb  aber  aus  Mit- 
leid für  die  Schulkinder  noch  bis  zum  Spätsommer  und  trat,  nach  einer 


Donalitius  in  Tolminkemen.  53 

Prüfung,  in  Königsberg,  am  24.  November,  sein  Amt  an.  Am  11.  Oktober 
1744  vermählte  er  sich  mit  der  Witwe  seines  Amts  Vorgängers  in 
Stallupönen,  Anna  Regina  geb.  Ohlefant  aus  Goldap,  einer  Tochter  des 
Stadtrichters  daselbst.  Er  blieb  bis  zu  seinem  Lebensende,  am 
18.  Februar  1780,  als  treuer  Hirt  seiner  Gemeinde  in  Tolminkemen, 
obwohl  er  die  Besoldung  mittel mäfsig  schlecht  nennt. 

Als  die  Bussen  1757  Ostpreufsen  besetzten,  floh  er  in  die  Romin- 
tische  Heide  und  verrichtete  die  Amtshandlungen  in  der  Jagdbude. 
Am  Alexander-Newski-Fest  soll  er  in  der  Kirche  gesagt  haben,  ihm  sei 
von  der  russischen  Obrigkeit  befohlen  worden,  über  Alexander  Newski 
zu  predigen.  Der  sei  gewifs  ein  guter  Mann  gewesen,  aber  Donalitius 
kenne  ihn  nicht  und  wolle  darum  lieber  über  2.  Tim.  4,  14  sprechen: 
„Alexander,  der  Schmied,  hat  mir  viel  Böses  erwiesen,  der  Herr  bezahle 
ihm  nach  seinen  Werken,  vor  welchem  hüte  du  dich  auch,  denn  er  hat 
unseren  Worten  sehr  widerstanden. a  —  Das  Ende  seines  Lebens  wurde 
ihm  durch  den  Streit  mit  dem  Tolminkemischen  Amt  wegen  der  Feld- 
separation  sehr  verbittert. 

Es  ist  wünschenswert,  dafs  Donalitius  seinen  Platz  in  der  deutschen 
Literaturgeschichte  bekommt.  Er  hat  in  Deutschland  Zeit  seines  Lebens 
geweilt  und  deutschen  Boden  und  deutsche  Staatsangehörige  in  seinen 
Gedichten  behandelt,  ganz  abgesehen  davon,  dats  er  deutsch  gepredigt» 
deutsch  gedichtet  und  deutsche  Prosa  geschrieben  hat.  Von  litauischen 
Dichtungen  sind  sechs  Fabeln,  eine  poetische-  Erzählung  und  vier 
Idyllen  aufbewahrt;  der  Sprachfertigkeit  nach  ist  dies  wohl  auch  die 
zeitliche  Reihenfolge.  Sämtliche  Gedichte  sind  in  Hexametern  ge- 
schrieben, dies  ist  bemerkenswert.  Donalitius  hatte  in  seinem  Volke 
gar  keine  Vorgänger,  er  schuf  die  dichterische  Form,  die  vorher  kein 
neues  Kulturvolk  nachgeahmt  hatte,  die  Form  Virgils,  neu  *). 


*)  Inhalt  der  Werke  des  Dichters.  Deutsche  Werke:  Kleine  deutsche 
Gedichte,  1.  „Unschuld  sei  mein  ganzes  Leben"  (1774).  2.  „Der  Gott  der 
Finsternis,  der  abgefeimte  Teufel  erbauet  gern  den  Thor  durch  eingehauchte 
Zweifel  und  dieser  ranzt  sogleich  den  Unflat  in  ein  Buch  zum  Leid  der 
Redlichen  und  seinem  eigenen  Fluch  etc."  (1775).  3.  „Ihr  Schatten  schneller 
Zeit,  ihr  leicht  beschwingten  Stunden."  (An  den  Amtsrat  Donalitus,  nach 
dem  Verlust  seiner  Gattin.)  4.  „Allerley  zuverlässige  Nachrichten"  (1773  bis 
1779).  Autobiographische  und  amtliche  Nachrichten.  Darin  u.  a.:  Diese 
Verordnung  (Separation)  habe  auf  Ersuchen  der  k.  k.  und  D.  Camer  in 
Gumbinnen  den  Litauern  zugut  ins  Litauische  übersetzt.  —  Felix  parochia, 
ubi  nulla  regia  via,  felicior  illa,  ubi  nulla  regia  villa;  sed  felicissima  ista, 
ubi  nullus  Nobilita;  —  experto  crede  Buperto.  —  Kann  wohl  ein  Prediger, 
der  allenthalben  ein  Exempel  sein  soll,  Karten  spielen,  NB.  um  Geld ,  tanzen 
und  leichtsinnig  sein?  —  Mein  Temperament  war  natürlich  munter,  und 
ich  konnte  auf  meinem  Forte -Piano  und  Flügel  singen  und  spielen.  —  Um 
nicht  skandalös  zu  leben,  habe  ich  oftmals  Simsons  Kraft  annehmen  müssen ; 
—  wenn  mein  Succ.  eine  entsetzliche  Hitze  im  Geblüt  besitzt  und  sich  nicht 
mäfsigen  kann,  so  prophezeie  ich  ihm,  dafs  er  in  Tolm.  eine  Fischbrücke 
(wie  in  Königsberg,  in  deren  Nähe  die  Fischweiber  sitzen)  erleben  wird,  wo 


54  Die  Litauer. 

Die  ersten  Gesänge  des  Messias  wurden  1748,  also  später  ver- 
öffentlicht, als  Donalitius  zu  dichten  begann.  Die  vier  Idyllen  sind 
vollständig  von  den  „Seasons"  Thomsons  verschieden.  Thomsons 
Jahreszeiten  waren  1726  bis  1730  erschienen,  so  da£s  Donalitius 
als  Student  gewils  davon  gehört  hat.  Thomson  aber  ergeht  sich 
fast  nur  in  handlungslosen  Naturschilderungen;  wenn  man  bei  Dona- 
litius die  Schilderung  der  beschneiten  Bäume  und  der  Vögel  im 
Lenz  vergleicht,  so  ersieht  man  am  besten  die  Art  der  unabhängigen 
verwandten  Dichtweise.  Kleists  „Frühling",  der  1749  erschien,  ist  weit 
von  der  realistischen  Behandlungsweise  unseres  litauischen  Dichters 
entfernt. 

Die  Fabeln  sind  selbständig  geschaffen,  sie  haben  verwandte  Züge 
in  den  litauischen  Yolksfabeln  und  im  Äsop.  Nach  Sitte  damaliger  Zeit 
fügt  er  eine  Nutzanwendung  hinzu,  die  besonders  breit  ist  und  beinahe 

man  sich  einander  zum  schändlichen  Spektacul  an  die  Köpfe  fafst  und  sich, 
herumrauft.  —  Der  ganze  Acheron  find  sich  an  zu  bewegen  (Amtmann 
Buhigs  Verlangen  nach  Separation  von  der  Gemeinde  1775)  und  der  Beelzebub, 
der  oberste  Teufel,  gab  sich  als  Präsident  in  diesem  Spiele  an.  Ich  mufste, 
wie  der  kleine  David,  mit  meiner  Schleuder  herumschmeifsen  und  endlich 
nach  Berlin  gehen,  um  Bettung  bitten  und  Gewalt  schrein.  —  (Abdruck  der 
deutschen  Schriften,  Tetzner,  Unsere  Dichter,  V.)  Aufser  zahlreichen  kultur- 
geschichtlich interessanten  Notizen  in  den  Kirchenbüchern  sind  noch  ein 
litauischer  und  ein  deutscher  Brief  in  Prosa  mit  litauischen  Versen  erhalten 
geblieben,  im  letzteren  erwähnt  er  seine  Lieder  und  Compositionen  „die 
Freundschaft  Davids  und  Jonathans,  die  Wirtschaft  der  ersten  Menschen, 
Glück  und  Unglück"  (verloren),  er  berichtet  von  einer  kleinen  Gesellschaft 
in  seinem  Hause  unter  Amtsgenossen,  in  der  jene  Lieder  und  aus  seinen  erhal- 
tenen Werken  vorgetragen  wurden.  Durch  viele  mechanische  Arbeit  (Garten- 
bau, Obstveredelung,  Klavierbau,  Barometeranfertigung)  sei  seine  Hand  un- 
geschickt geworden.  Er  schwelgt  in  Citaten  aus  dem  klassischen  Altertum 
und  rät,  ordentlich  das  Litauische  zu  pflegen  und  nur  an  eine  litauische 
Gemeinde  als  Pfarrer  zu  gehen. 

Litauische  Werke:  1.  Das  Gastmahl  des  Fuchses  und  des  Storches 
(der  Fuchs  läfst  den  Storch  ein,  bewirtet  ihn  schäbig  und  mufs  dann  später 
das  Gleiche  vom  Storch  ruhig  hinnehmen).  2.  Der  Köter  auf  dem  Jahrmarkt 
(denkt,  da  ist  alles  umsonst  und  wird  schändlich  zerschlagen,  nachdem  er 
Miene  gemacht,  nur  etwas  Leder  zu  nehmen).  3.  Der  Hund  Dickkopf  (das 
Schäflein  mufs  ihm  die  Wolle  vom  Leibe  geben,  weil  Wolf,  Fuchs  und 
Habicht  fälschlich  beschwören,  das  Schaf  Vater  habe  noch  drei  Scheffel 
Hochzeitsgrütze  dem  Hund  zurückzugeben).  4.  Fabel  vom  Mistkäfer  (der 
Mistkäfer  wird  seiner  unreinen  Nahrung  wegen  von  den  übrigen  Käfern  ge- 
scholten, meint  aber,  er  sei  kein  Schadenstifter,  wie  diese).  5.  Der  Wolf  als 
Bichter  (tötet  das  Zicklein,  das  ihm  das  Wasser  getrübt  haben  soll).  6.  Der 
Eichbaum  als  Prahlhans  (gegenüber  den  anderen  Bäumen,  wird  vom  Sturm 
geknickt).  7.  Der  Schulze  Fritz  erzählt  von  einer  litauischen  Hochzeit  (vgl. 
S.  81  f.;  später  stückweise  in  den  „Herbst"  eingewebt).  8.  Die  Gaben  des 
Herbstes.  9.  Die  Sorgen  des  Winters.  10.  Die  Freuden  des  Frühlings.  11.  Die 
Arbeiten  des  Sommers.  (Die  letzten  vier  Idyllen  schildern  die  Natur  in  den 
vier  Jahreszeiten  und  die  ländlichen  Arbeiten  und  Feste  der  litauischen 
Scharwerker  mit  scharfer  Charakterisierung  des  Schulzen,  des  Amtmanns, 
Wachtmeisters,  der  einzelnen  Bauern,  der  Weiber,  der  Salzburger  u.  s.  w.) 


Dichtweise  des  Donalitius  55 

den  Anschein  giebt,  als  habe  er  diese  Fabeln  als  Teile  von  Predigten 
▼erwandt;  vielleicht  hat  er  sie  auch  für  seine  Stallupöner  Schüler 
gedichtet,  doch  weist  der  Inhalt  eher  auf  Erwachsene  hin.  Vom 
schwedischen  Dichter  TegneV  ist  es  ja  bekannt,  dals  er  öfter  gereimte 
Predigten  in  der  Kirche  vortrug,  und  auch  in  Deutschland  kam 
es  vor,  dals  Pastoren  nicht  blols  Thema  und  Teile,  sondern  auch 
ganze  Predigtstücke  in  Versen  von  der  Kanzel  verkündigten.  Den 
Höhepunkt  seiner  Kunst  zeigen  die  Idyllen  und  von  diesen  der  zuerst 
gedichtete  Herbst.  Den  Inhalt  bilden  die  täglichen  Beschäftigungen 
der  Schar  werker,  die  Feste  und  Bräuche  seiner  Volksgenossen.  Eine 
bestimmte  Handlung  fehlt  dem  Ganzen,  also  auch  eine  Reihenfolge, 
oder  ein  organischer  Zusammenhang,  und  die  Zusammenstellung  Rhesas, 
der,  mit  dem  Frühling  beginnend,  das  Ganze  als  „Jahr"  herausgab, 
war  willkürlich  oder  lehnte  sich  an  ein  verlorenes  "Werk  des  Dona- 
litius an;  Pisanski  (f  1790)  berichtet  nämlich,  Christian  Donalitius 
habe  in  einem  nachher  auch  in  das  Deutsche  übersetzten  Gedichte  von 
659  Versen  in  ungereimten  Hexametern  die  vier  Jahreszeiten  besungen. 
Im  grossen  wie  im  kleinen  müssen  wir  also  von  der  Hauptforderung  an 
ein  Kunstwerk,  Einheit  und  Fortschritt  der  Handlung  und  Gruppierung 
um  einzelne  Personen,  absehen.  Der  freischaffende,  ohne  Vorbild 
dichtende  Meister  hatte  aber  auch  nicht  Literarhistoriker  vor  Augen,  als 
er  schrieb.  Er  dichtete  für  seine  Freunde,  die  Gefallen  am  „Fritz" 
gefunden  hatten,  und  hat  sich  nie  um  die  Veröffentlichung  gekümmert. 

Man  hat  seine  Kunst  mit  der  eines  Chodowiecki,  Hans  Sebald 
Beham  und  Jan  Steen  verglichen.  Jedenfalls  hat  die  nachtigall- 
durchtönte  Romintische  Heide  und  die  scharwerkende  litauische  Be- 
völkerung keinen  bedeutenderen  Sänger  gehabt.  Freunde  seiner  Dich- 
tungen weihten  ihm  am  8.  April  1896  einen  einfachen  Denkstein  in 
seinem  Geburtsorte. 

Zu  den  bekannteren  litauischen  Dichtern  und  Schriftstellern  gehören 
WoloDtschewski(1801  bis  1875),  Daukantas  (1793  bis  1864),  die  Brüder 
Juschkie witsch ,  Guschutis,  Baranowski  (lebt  in  Suwalki),  Wileischis 
(lebt  in  St  Petersburg),  Baß ana witsch  (lebt  in  Bulgarien),  Schliupas 
(lebt  in  Amerika),  Jankus  (lebt  in  Bitehnen)  und  Sauerwein,  Jener 
neue  Mezzofanti,  der  in  40  Sprachen  dichtet.  Die  Dramen  behandeln 
meist  Stoffe  aus  der  litauischen  Geschichte,  so  den  Sieg  bei  Tannen- 
berg, die  Eroberung  Kownos,  Keistut  u.  a.  Sie  wurden  in  Tilsit  und 
in  Amerika  wiederholt  aufgeführt.  Die  Lyrik,  Epik  und  Novellistik 
stellt  sich  auch  in  den  Dienst  der  nationalen  Sache,  neuerdings  aber 
weit  mehr  in  den  der  wirtschaftlichen  und  sittlichen  Hebung.  Da 
hier  nicht  der  Ort  und  Baum  vorhanden  ist,  den  Inhalt  der  litauischen 
Lieder  in  seiner  grofsen  Mannigfaltigkeit  zu  erschöpfen  und  die  eigen- 
tümlichen Melodieen  zu  charakterisieren,  weise  ich  auf  das  Werkchen 
„Dainos"  (Nr.  3694  der  Reclamscheu  Universalbibliothek)  hin,  und  will 
nur  kurz  die  Hauptstoffe  andeuten. 


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Inhalt  der  Dainos.  57 


2.     Dainos. 


Die  Dainos  spiegeln  das  äulserliche  und  das  Seelenleben  eines 
Landvolkes  wieder,  mit  all  den  kleinen  Leiden  und  Freuden  des  ein* 
fachen,  grofsstadtfremden  Menschen,  ohne  die  gewaltigen  Seelenkämpfe 
grofser  Naturen,  ohne  die  Geschickes  wirrungen  und  vielfädigen  Ver- 
wickelungen der  Kultur-  oder  Romanmenschen.  Diese  Klarheit  und 
Durchsichtigkeit  bestimmt  wohl  auch  hervorragende  Forscher,  diese 
Volkspoesie  „im  ganzen  inhaltlich  unbedeutend"  zu  nennen.  Freilich 
werden  keine  gewaltigen  und  spannenden  Probleme  gelöst,  wenn  des 
„Flachses  Qual"  vom  Säen  bis  zum  Tragen  des  Hemdes,  oder  die  täg- 
liche Haus-  und  Feldarbeit  des  Bauern  (Donalitius)  oder  Abschied  und 
Wiederkunft  den  Inhalt  des  Liedes  bilden.  Schillersche  Ideendich- 
tungen und  Faustsche  Lebensfragen  sind  dem  Volke  so  fremd  wie 
Sudermannsche  Ehrenfragen  und  Nietzschesche  Umwertungen.  Aber 
gerade  diese  Stoffbeschränktheit  und  die  Enge  des  Gesichtskreises 
sammelt  alle  Strahlen  des  Lebens;  kleine,  leuchtende  Gemälde  voll  Lieb- 
reiz und  Zauber  entstehen  und  erfüllen  den  singenden  Bauernburschen 
und  das  trällernde  Landmädchen  mit  eigenster  Seelenstimmung. 

Der  preulsisch-litauische  Jüngling  fühlt  sich  als  preußischer  Soldat. 
Die  Deutschherrenkämpfe  sind  vergessen,  die  Kriege  mit  Ungarn  und 
Kosaken  von  der  Gegenwart  verdunkelt,  die  Kämpfe  mit  den  Franzosen 
seit  Friedrich  H.  bis  auf  Wilhelm  I.  aber  hallen  in  einer  ganzen  Anzahl 
von  Soldatengesängen  wieder;  mitunter  ist  der  Mangel  an  Initiative 
eigentümlich ! 

Der  Franzosenkaiser  ist  ein  Räuberfürst, 

Doch  der  Preufsenkönig  ist  ein  Kriegesheld. 

Der  Franzosenkaiser  prahlt  bei  seinem  Heer : 

In  den  Grund  zerhauen  werden  wir  sie  all. 

Doch  der  Preufsenkönig  spricht  zu  seinem  Heer: 

Gott  nur  mag  entscheiden,  wem  das  Glück  gehört.  (!) 

Der  kurze  abgerissene  Ton  ist  genau  der  der  deutschen  Volks- 
lieder. Die  Übergänge  und  Zwischensätze  sind  vermieden.  Die  Ant- 
wort folgt  der  Frage  ohne  Nennung  der  Redenden,  oder  die  Frage  fehlt 
ganz,  und  die  Antwort  wird  nur  angedeutet.  Andererseits  werden 
blofse  Anzeigen  episch  ausgeführt:  das  Rofs  wird  gefragt  und  giebt 
Antwort.  „Die  Sonne  spricht u,  während  die  menschliche  Rede  ohne 
Angabe  des  Sprechenden  aufgeführt  wird.  Schmückende  Beiwörter 
sind  ständig,  so  die  weifse  Hand,  die  „hoheu  oder  „neue"  Klete,  das 
braune  Röfslein,  der  bunte  Brief,  die  helle  Wand,  die  grüne  Eiche,  das 
liebe  Mütterchen.  Die  Koseformen  sind  viel  zahlreicher  wie  beim  deut- 
schen Volkslied  und  wirken  in  der  Übersetzung  nicht  immer  schön: 
Gottchen,  Köpfchen.  Der  Soldat  ist  ja  in  seiner  Sprache  sehr  zu 
Verkleinerungsformen   geneigt,   er  sagt  Trittchen  (Stiefel),  Klüftchen 


58  Die  Litauer. 

(Anzug),  Kistchen  (Bett,  Koffer)  u.  s.  f.     Aber  die  Verkleiner uDgssilben 
sind  in  allen  litauischen  Liedern  typisch. 

Aus  einzelnen  Dainos  klingt  der  Dienst  wieder,  die  Freude,  des 
Königs  Rock  zu  tragen,  auf  Wache  zu  ziehen,  Flinte  zu  putzen,  nament- 
lich das  Sitzen  zu  Rofe.  Denn  Litauer  und  Litauerinnen  sind  vorzüg- 
liche Reiter.  Der  auch  in  deutschen  Minneliedern  auftretende  Gedanke« 
dals  der  Vogel  Bote  ist,  kommt  wiederholt  vor.  Wie  die  weitsen  Vögel 
der  Gudrun  Botschaft  bringen,  erscheinen  hier  waschenden  Litauerinnen 
Schwäne  oder  in  Menschen  verwandelte  Schwäne,  Kunde  zu  geben. 

Die  Tierfabel  ist  der  einzige  epische  Stoff,  der  uns  öfters  in  den 
Dainos  begegnet.  Falsch  aber  wäre  es,  aus  diesem  Grunde  auf  eine 
Einwanderung  aus  Asien  hinzuweisen,  wie  dies  gethan  worden  ist. 
Wer  je  unter  Landleuten  gelebt  hat,  weils,  dafs  das  Verhältnis  zu 
den  Tieren  naturgemäfs  ein  viel  vertraulicheres  ist,  als  der  Kultur- 
mensch denkt.  Der  Landmann  redet  mit  den  Tieren  wie  mit  ver- 
ständigen Wesen  und  legt  ihnen  seine  Gefühle  und  Denkkraft  bei. 

Der  Vater  erzieht  das  Söhnlein  auf  seinem  Höfchen  und  freut 
sich  darauf,  es  bald  mehr  lehren  zu  können.  Knabe  und  Mädchen 
wachsen  im  Hause  auf,  geraten  wohl  auch  einmal  in  Nachbars 
Garten  und  werden  eingeschlossen,  weil  ihnen  die  Birnen  zu  verlockend 
waren.  Goethes  Bemerkung  (Rhesa-Kritik)  vom  Fehlen  solcher  Lieder 
trifft  nicht  zu. 

Die  Kleinen  schaffen  dem  älteren  Bruder  das  Essen  aufs  Feld. 
Wenn  der  Knabe  nur  erst  gröfser  ist,  meint  der  Vater,  will  ich  ihm 
ein  braunes  Röfslein,  seidene  Zäume,  silberne  Steigbügel  und  goldene 
Sporen  geben,  dafs  er  prächtig  ausgerüstet  ist. 

An  Silber,  Gold  und  Seide  sind  die  Dainos  reich,  im  Gegensatz  zur 
Wirklichkeit;  man  dachte  an  den  bekannten  Reichtum  der  Edelinge,  als 
Wunschhort.  Häufig  ist  das  Jauchzen  am  Schlüsse:  Fadurileli,  Fale- 
raleraleralerilosch,  und  der  ständige  Vergleich  mit  Blumen  und  Bäumen. 
Der  Bruder,  das  Söhnlein  ist  immer  ein  zartes  Kleecben,  eine  Eber- 
raute oder  Eiche,  oder  eine  Päonie;  der  Vater  eine  Eiche,  das  Mädchen 
eine  zarte  Lilie,  liebe  Nelke,  oder  Rose;  die  bekümmerte  Frau  eine 
welke  Melisse  oder  Minze;  der  unglückliche  Mann  eine  graue  Weide. 
Verstorbene  oder  ferne  Geliebte  oder  Verwandte  zeigen  sich  in  Blumen 
oder  Vögel  verwandelt.  Aus  den  Gräbern  wachsen  die  Blumen  her- 
vor, mit  denen  man  die  Lebenden  verglich.  Der  Rautenkranz  ist  das 
Zeichen  der  Jungfrau,  das  Flachsfeld  das  Gebiet  des  Weibes,  wie  der 
Saatacker  das  des  Mannes. 

Das  Mädchen  schaltet  nun  im  Hause,  am  Webstuhl,  in  der  hohen 
Klete,  und  mit  der  Harke  im  Garten.  Der  Bursche  zieht  zu  den 
Soldaten  und  trägt  der  Geliebten  Ring  am  Mittelfinger.  Auf  das 
Mädchen  übt  der  Soldat  auch  in  Litauen  einen  ganz  anderen  Eindruck 
als  der  gewöhnliche  Bursche,  selbst  wenn  letzterer,  wie  dies  häufig  der 
Fall  ist,  lieber  in  der  Stadt  ein  feiner  Herr  geworden  und  nicht  litaui- 


Dainos:   Liebesleben.  59 

scher  Bauer  geblieben  ist.  Beim  Heere  zeichnet  sich  der  (Bursche  als 
tüchtiger  Reiter  aus. 

Die  Soldatenlieder  haben  alle  die  zarten  und  alle  die  kräftigen 
Töne  wie  die  deutschen;  sie  sind  aber  doch  weicher.  Der  Bursche 
weint  und  möchte  am  liebsten  zu  Hause  bleiben;  nicht  etwa  aus  Feig- 
heit, wie  man  fälschlich  gemeint  hat.  Heimgekehrt,  dient  der  Bursche 
seinem  Yater  weiter,  oder  er  arbeitet  auf  dem  Hofe  eines  anderen  und 
verdient  dabei,  wie  weiland  Jakob,  erst  die  Güter  (Huhn,  Ente,  Gans, 
Schaf,  Schwein,  Ochs,  Pferd,  Kuh),  bis  er  in  zehn  Jahren  die  Tochter 
zur  Frau  erhält.  Ein  Bursche  klagt  darüber,  dafs  er  des  Vaters  Hof 
«inst  nicht  erben  kann,  und  in  einem  alten  Yolksliede  aus  der  Zeit  der 
Leibeigenschaft  grämen  sich  Bursche  und  Mädchen,  dats  sie  vom 
Yater  nicht  losgekauft  werden. 

In  zartesten  Farben  ist  das  Liebesleben  geschildert,  wenn  sich  ver- 
einzelt auch  herzlose  Gedanken  hineindrängen.  Die  liebste  Nelke,  das 
liebe  Gartenblümchen  mit  goldenen  Eimern  und  silbernen  Tragen  soll 
nicht  dem  Wunsche  ihres  Herzens  folgen,  sondern  eine  Geldheirat 
flchliefsen,  aber  das  Mädchen  grämt  sich  so  darüber,  dals  es  frühzeitig 
stirbt. 

Dort  steht  ein  Mädchen  am  Herdfeuer  und  denkt  des  treulosen 
Geliebten,  der  Ton  ist  so  zart  wie  das  Lied  Mörickes ;  und  in  Ghamissos 
Frauenliebe  und  -Leben  finden  sich  zahlreiche  Gedanken  aus  den  Dainos. 
Die  auch  von  Schiller  dichterisch  verklärte  Ausrede  der  Tochter  gegen- 
über der  Mutter,  dals  der  Wind  die  Thür  bewegt  und  der  Rautenkranz 
beim  Wasserholen  vom  Nebel  befeuchtet  worden  sei,  kehrt  in  mehreren 
Liedern  wieder,  die  immer  damit  enden,  dafs  das  Mädchen  zugiebt, 
beim  Geliebten  gewesen  zu  sein.  Eine  solche  Daina  ward  auch  von 
Lessing  veröffentlicht,  bei  ihm  hat  sie  Schiller  gelesen. 

Ein  kecker  Bursche  ruft:  Ich  heirate  dich,  wenn  ich  keine 
Schönere  finde;  ein  zurückgewiesener  Schuldenmacher  wünscht  dem 
Mädchen,  dafs  es  sitzen  bleibe.  Mit  Stolz  bekennt  die  eine,  sie  habe 
300  Freier  aus  Danzig,  Küstrin,  Memel,  Königsberg;  aber  wer  käme 
ihrem  einzig  Geliebten  gleich,  der  hell  und  klaren  Blickes  wie  ein 
prächtiges  Bild  dastehe,  „ tritt  den  Boden  er,  nach  Dukaten  klingt's tt. 
Das  Leben  ohne  den  Liebsten  ist  wie  Weberarbeit  ohne  Weberschiffchen, 
wie  Mäherarbeit  ohne  den  Wetzstein.  Der  Geliebte  kann  den  Tod  der 
Braut  nicht  glauben,  trotzdem  sie  eingesargt  und  auf  den  Friedhof 
geschafft  und  eingesenkt  wird;  erst  als  man  ihr  die  letzte  Hand  voll 
Erde  giebt,  glaubt  er's  und  möchte  sich  mit  dem  Schwerte  den  Kopf 
abschlagen.  Das  Mädchen,  das  leichtsinnig  Ring  und  Rautenkranz  hin- 
gegeben hat,  vertrinkt  ihren  Kummer  und  beweint  die  verlorene  Jugend. 

Der  ins  Wasser  gefallene  oder  vom  Winde  entführte  Rautenkranz 
{vergl.  Baumbach)  ist  des  öfteren  der  Gegenstand  der  litauischen  Volks- 
dichtung, und  der  Liebste,  der  ihn  holen  will,  ertrinkt,  wie  im  deutschen 
Yolksliede.     Vereinzelt  erinnert  die  Aufforderung  zur  Rückholung  des 


60  Die  Litauer. 

Kranzes  an  Sigunes  Aufgabe  an  Tschionatulander ,  das  Gürtelband 
zurückzuholen.  „Das  Wasser  war  viel  zu  tief"  ist  der  Grundgedanke 
jener  Daina,  die  an  das  Lied  von  den  Königskindern  mahnt.  Das  tiefste 
Wasser  heilst  litauisch  Dunajus,  damit  ist  eigentlich  die  Donau  gemeint; 
merkwürdig  bleibt  es,  dafs  die  gröfste  Zahl  der  Ströme  auf  der  Völker- 
strafse  von  Asien  her  in  der  Stammsilbe  übereinstimmt,  der  asiatische 
Tanais  (Oxus);  der  Don  und  sein  Neben fluls,  der  Donez;  der  Tanaster 
(Dniester),  der  Tanapris  (Dniepr),  die  Donau,  die  Düna;  aber  auch 
damit  ist  nicht  die  Einwanderung  der  Litauer  von  Asien  her  erwiesen. 

Auch  die  polnischen  Volkslieder  nennen  als  Hauptstrom  die  Donau. 

Der  alte  Freier  wird  mit  dem  Dornstrauch  verglichen,  dem  Tannen- 
und  Fichtennadeln  unters  Haupt  gehören,  wie  auch  ein  lettisches  Volks- 
lied meint.  Er  wird  vom  Mädchen  verhöhnt,  seine  Spur  mit  dem  Besen 
verwischt,  es  will  zum  einzig  Geliebten  sich  legen,  wie  die  Lilie  neben 
den  Majoran.  Ein  Mädchen  harkt,  weint  mehr,  als  sie  harkt;  die 
Mutter  ist  ihr  gestorben.  Ein  Knabe  kommt,  dem  klagt  sie  ihr  Leid. 
„Wir  sind  zwei  Waisen u,  ruft  der  Jüngling,  „auch  mir  starb  die  Mutter. tt 
Da  reichen  sie  sich  die  Hände  für's  Leben. 

Rührend  sind  die  zarten  Weisen,  welche  die  Jungfrau  beim  Gedanken 
an  den  Liebsten  erklingen  läfst;  wiederholt  begegnen  uns  die  Bilder, 
die  Rückert  in  dem  Liede  „Ich  kann  nicht  sitzen,  ich  kann  nicht 
spinnen u  entworfen  hat,  und  wenn  sie  an  den  Abschied  von  Vaters 
Haus  und  Hof,  Garten  und  Wald  sinnt,  erschallt  so  wehmütig  ihre 
letzte  Weise  an  den  Rauten  garten  und  an  das  Weberschiffchen.  Wenn 
Schiller  der  Jungfrau  von  Orleans  ähnliche  Töne  in  den  Mund  legt,  so 
will  ich  nicht  die  Entlehnung  andeuten,  wohl  aber ,  dafs  die  einfachsten 
inneren  Gefühle  aller  Zeiten  und  Völker  dieselben  sind. 

Zahlreiche  Lieder  besingen  den  Rautenkranz,  der  das  Zeichen  der 
Jungfrau  ist,  wie  blühende  Kornähren  am  Hute  und  die  Sporen  das 
Zeichen  des  Jünglings.  Der  Rautenkranz  wird  treu  gehütet  und  ist 
dem  rechten  Mädchen  nicht  um  Geld  und  Gut  feil.  Geht  es  aber  durch's 
Flachsfeld  und  der  Rautenkranz  fällt  herab,  so  gilt  dies  als  Zeichen 
baldiger  Heirat,  dann  liegt  der  Frau  die  Pflege  jenes  Feldes  ob,  wie 
dem  Manne  die  des  Getreideackers.  Bei  der  Hochzeit  erklingen  wie 
auch  bei  den  Slawen  Brautkranzlieder,  in  die  sich  nicht  selten  der 
deutsche  Kehrreim  mischt:  „Schöner,  grüner  Jungfernkranz. u  Bei 
der  Heirat  bekommt  der  Bursche  den  Rautenkranz,  dann  verwelkt  er 
am  Holzhaken  in  der  Klete. 

Auch  die  zahlreichen  Rätsellieder  gedenken  der  Raute.  So  heilst 
es  in  einem:  „Was  grünt  Sommer  und  Winter  durch?  Die  Raute 
im  Garten,  die  Tanne  im  Wald.  —  Was  ist  leichter  als  Flaumfeder? 
Des  Liebchens  Hand,  die  meine  Schulter  drückt.  Was  ist  schwerer 
wie  Stein?  Des  Witwers  Hand,  die  meine  Schulter  drückt.14  —  Danach 
ist  wohl  das  schöne  Lied  von  Rhesa  gedichtet,  das  der  Kunstpoesie 
angehört: 


Dainos:   Eheleben.  61 

Als  mich  Mütterchen  jüngst  schalt, 
Sprach  sie:  geh  hinaus  zum  Wald, 
Hole  mir  bei  Wohl  und  Weh 
Wintermai  und  Sommerschnee. 

Irrend  sucht  ich  auf  den  Höhn, 
In  den  Thälern,  an  den  Seen; 
Frommer  Hirte,  sag  mir  an, 
Wo  ich  beides  finden  kann;  u.  s.  f. 

(Tetzner,  Dainos,  S.  32.) 

Der  Hirt  erbittet  Liebe  und  den  Ring  zum  Pfände  für  seinen 
Rat  und  erhält  beides.  Nun  bringt  das  Mädchen  der  Mutter  beides: 
Tannenreis  und  Wellenschaum,  denn  ,,  Tannengrün  ist  Wintermai, 
Wellenschaum  ist  Sommerschnee u.  Rätsel  und  Mären  bilden  den 
Unterhaltungsstoff  der  Rockenstuben,  bis  der  Bräutigam  zum  Mädchen 
zur  Hochzeit  kommt. 

Nun  zieht  die  junge  Frau  in  das  Heim  des  Mannes,  oft  weit  weg, 
übers  Haff-  Die  Stimmung  in  den  Dainos,  die  das  Leben  nach  der 
Hochzeit  behandeln,  nimmt  ein  anderes  Gepräge  an.  Dem  Litauer  ist 
der  Heimathof  der  Wunschort  der  Dainos,  die  Fremde  ist  ihm  das 
„ Elend"  im  Sinne  der  alten  Deutschen.  Der  beklagenswerten  Waise 
sind  darum  Sonne,  Mond  und  Sterne  Eltern  und  Brüder;  und  die 
anglückliche  Frau  wendet  sich  mit  ihrer  Klage  an  Wetter  und  Wind 
und  wandernde  Sterne  und  Vögel.  Bursch  und  Mädchen  werden  bleich 
und  grau.  Der  Mann  freilich  ist  stark  im  Besitze  seines  neuen  Eigen- 
hofes, er  pflegt  sein  braunes  RöTslein  mit  „reinem  Hafer",  zieht  bei 
Lerchensang  mit  „ goldenem **  Pflug  hinaus,  das  Brachfeld  zu  pflügen, 
oder  geht  auf  die  Jagd,  um  wilde  Tauben  und  Häher  zu  schieisen; 
aber  das  eheliche  Leben  selbst  erfreut  sich  nicht  der  Gunst  des  Liedes. 
Das  ist  aber  in  allen  Literaturen  so,  die  Brautzeit  ist  die  Poesie,  das 
Eheleben  die  Prosa.  Erst  eine  höhere  Lebensauffassung  Endet  das 
Zusammenleben  zwischen  Mann  und  Frau  der  dichterischen  Verherr- 
lichung würdig;  das  Volkslied  kaum.  Da  sitzt  die  junge  Frau  zu 
Hause  und  wird  scheel  von  den  Schwägerinnen  und  der  Schwieger- 
mutter angesehen.  Wie  hat  sie  in  dem  Vaterhause  mit  Majoran  alles 
so  schön  rein  gefegt  und  die  Gläser  mit  Seife  blitzblank  geputzt;  jetzt 
wäscht  sie  mit  Thränen.  Der  Mann  ist  kaum  von  der  Feldarbeit 
zurückgekehrt,  so  geht  er  auch  schon  zur  Schenkin  ins  Wirtshaus 
und  wird  der  Gattin  untreu,  sitzt  den  ganzen  Abend  beim  Alus  und 
läfst  sein  Weib  vergeblich  warten.  Das  harrt  und  grämt  sich  und 
bittet  die  Winde,  der  lieben  Mutter  Botschaft  zu  bringen.  „Wenn  ich 
ein  Vögiein  war,  um  zur  Mutter  fliegen  zu  können  !a  Sie  weifs,  die 
schöne  Zeit  der  Liebe  ist  vorbei,  und  Laima  sendet  keinen  Sonnenstrahl 
mehr.  Der  Gatte  schlägt  die  Frau,  und  die  Anverwandten  helfen  ihr 
nicht,  Vater,  Mutter  und  Schwester  rufen  vielmehr  dem  Manne  zu : 
„Schilt  nur,  schlag  nur",  wenn  nicht  der  starke  Bruder  mit  dem 
Schwerte  den  Schwager  zur  Ruhe  und  Ordnung  verweist.    Das  Trinken 


62  Die  Litauer. 

soll  schuld  an  allem  sein,  denn  seit  sich  Hopfen  und  Gerste  verbanden 
wie  Schwester  und  Bräutigam,  giebt's  in  der  Welt  Zank  und  Streit. 
Das  Mädchen,  dem  nicht  geholfen  werden  kann,  sehnt  sich  nach  dem 
Grabe  oder  —  nach  der  Schenke.  Es  wäre  nun  freilich  verkehrt  und 
der  Wirklichkeit  gar  nicht  entsprechend,  wenn  man  diese  Anschauung 
der  Dainos  als  allgemein  vorkommend  und  der  Regel  entsprechend  hielte ; 
die  vereinzelten  Vorkommnisse  eignen  sich  aber  der  dramatischen 
Verknüpfung  wegen  und  weil  sie  das  Gemüt  ergreifen,  eher  zu  dichte- 
rischer Darstellung  als  das  traute,  ruhig  dahinfliegende  Familienleben; 
sie  erregen  auch  die  Aufmerksamkeit  und  Beachtung  der  Hörer  eher, 
und  es  gewährt  einem  so  weichen  Volke,  wie  dem  der  Litauer,  Genug- 
thuung,  die  Rolle  des  Gekränkten  zu  spielen.  Merkwürdig  ist  es 
übrigens,  dafs  gerade  das  Lied  vom  Schelten  und  Schlagen,  das  in 
ähnlicher  Fassung  auch  bei  den  Sorben  und  Polen  wiederkehrt,  bei  der 
Hochzeitsfeier  dann  gesungen  wird,  wenn  es  am  lustigsten  zugeht,  so 
dats  das  Ganze  nicht  viel  mehr  als  Scherz  ist.  Jene  Stoffe  aber  für 
bare  Münze  und  alltäglich  zahlreich  vorkommende  Thatsachen  zu 
nehmen,  wäre  genau  dasselbe,  als  wenn  man  das  Leben  eines  Volkes 
in  den  Berichten  von  Gerichtsverhandlungen  oder  in  Sudermannschen 
und  Ibsenschen  Dramen  dargestellt  glaubt. 

Des  Lebens  Einerlei  verrinnt  unter  Leid  und  Freud,  Krankheit  und 
Todesfällen.  Das  Litauer volk  hat  eine  Menge  von  Totenliedern.  An 
der  Bahre  ertönen  diese  eigenartigen  Raudos,  deren  Inhalt  von  einer 
seltenen  Gemütstiefe  Zeugnis  ablegt. 

Einer  Eigentümlichkeit  der  Dainos  mufs  noch  gedacht  werden, 
das  sind  im  Gegensatze  zum  deutschen  Volksliede  die  zahlreichen 
Pflanzen-  und  Tiernamen  und  die  Ortsangaben.  Wir  hören  da  die 
Städtenamen:  Tilsit,  Memel,  Küstrin,  Königsberg,  Danzig,  Berlin,  RigaT 
Moskau,  Grodno,  Kowno.  Die  Donau  und  der  Niemen,  das  Haff  und  das 
Meer,  der  Dünensand  und  heimatliche  Berge  bilden  den  Schauplatz 
der  Handlungen.  Holunder  und  Wacholder,  Ahorn,  Fichte,  Tanne, 
Linde,  Eiche,  Faulbaum,  Kirsch-  und  Apfelbaum,  sogar  die  Olive  zieren 
die  Orte.  Rose,  Lilie,  Nelke,  Päonie  blühen  im  Garten  und  bieten 
Vergleiche  mit  Gärtner  und  Gärtnerin.  Was  stark  duftet  und  rot  und 
weils  gefärbt  ist,  erfreut  sich  besonderen  Wohlwollens,  wie  Melisse, 
Raute,  Krauseminze,  Thymian,  Lavendel,  Klee,  Eberraute,  Majoran. 
Es  fehlen  auch  nicht  die  Nutzgewächse  Roggen,  Gerste,  Hafer,  Hopfen, 
Flachs,  Heidelbeeren  und  das  giftige  Bilsenkraut.  Bei  vielen  Bäumen 
und  Pflanzen  mögen  sich  religiöse  oder  medizinische  Erinnerungen  an- 
knüpfen, wie  nicht  minder  an  das  Wald vögelein ,  die  Schwäne,  den 
Kuckuck,  den  Storch. 

Wie  der  Pole  das  „Dreikraut" ,  so  kennt  der  Litauer  ein  sagen- 
haftes Pflänzlein,  das  nur  an  gewissen  Orten  und  zu  gewissen  Zeiten 
(zu  Johanni)  gefunden  wird.  Auch  auf  die  neunerlei  Kräuter  des 
Johannisstrauches  wird  hier  und  da  Gewicht  gelegt;  unklar  ist,  was  für 


Sprichwörter.  63 

Beziehungen  Ölbaum,  Faulbaum  und  Eberraute  (Gottesbäumchen)  in 
den  Dainos  haben.  Wendische  Mädchen  zeichnen  gern  ihre  Lieder  in 
ein  Büchlein  auf,  litauische  kaum.  „Wenn  einer  ein  Liedchen  sich 
dichtet  und  es  gefällt  den  Mädchen,  singens  alle  mit,  aber  aufschreiben 
thats  keiner41,  meinte  ein  litauischer  Postillon  aus  der  Crottinger  Gegend. 

3.    Sprichwörter. 

Eines  jeden  Nägel  sind  nach  seiner  Art  gekrümmt.  Es  ist  Zeit, 
sich  in  den  Wagen  zu  setzen.  Eines  Hundes  Stimme  dringt  nioht  zum 
Himmel  (ist  erfolglos).  Er  geht  umher,  wie  Jakob  unter  den  Schweinen 
(stolz).  Gott  gab  Zähne,  er  wird  auch  Brot  geben.  Er  sputet  sich 
wie  der  Deutsche  in  den  Himmel.  Dem  Dummen  wird  auch  mit  der 
Lischke  vorgeläutet.  Bin  haben  neun  Eilen  befallen.  Es  schläft  sich 
kalt,  wenn  der  Alus  gärt  (wenn  man  Sorgen  hat).  Handle  wie  ein 
Jud,  und  zahl  wie  ein  Bruder!  Du  kannst  nicht  mit  den  Nägeln 
aufmachen,  wenn  die  Zähne  nötig  sind.  Ich  füttere  die  Kuh,  und 
er  milkt  sie.  Was  du  abhandeln  kannst,  brauchst  du  nicht  zu  be- 
zahlen. Heilig  wie  ein  Schwein,  rein  wie  ein  Schweinetrank.  Faul, 
wie  ein  Elch.  Ähnlich  gemünzt,  ähnlich  gemahlen  (Atkalts,  atmalts. 
Das  Kind  ähnelt  dem  Vater  sehr).  Den  Walddieb  hat  noch  niemand 
gehängt.  Die  Zwiebel  ist  überall  am  Platze.  Die  Gerechtigkeit  hat 
sich  aufgehängt,  den  Frieden  haben  die  Hunde  totgebissen.  Es  ist 
Bchlimm,  wenn  aus  dem  Bastschuh  ein  Stiefel  wird.  Geh  in  den 
Wald  nicht  ohne  Axt,  und  in  die  Kirche  nicht  ohne  Gesangbuch. 
Auch  ein  kluges  Huhn  verbrennt  sich  den  Schnabel  in  Brennesseln. 
Je  näher  der  Stadt,  desto  tiefer  die  Tümpel  und  bissiger«  die  Hunde. 
Die  Wärme  bricht  die  Knochen  nicht.  Die  Paresken  kommen  weiter 
in  der  Wirtschaft,  als  die  Stiefel.  Der  Lehm  ist  unser  aller  Bruder. 
Schweig,  aber  liebe  Gott!  Sie  jammert,  wie  Waischterienne  nach 
einem  neuen  Tuche.  Der  Sohn  beiist  in  den  Apfel,  und  seinen 
Kindern  werden  die  Zähne  stumpf.  Die  Herde  kommt  von  allein. 
Du  wirst  dich  mit  den  Störchen  erheben  und  wirst  mit  den  Baben 
herunterfallen  (Hochmuth  kommt  vor  dem  Fall).  Wenn's  auf  die 
Gröfse  ankäme,  finge  die  Kuh  den  Hasen.  Manches  Wort  fliegt  als 
Sperling  aus  und  kehrt  als  Ochse  zurück.  Was  du  ausgetrieben 
hast,  umist  du  weiden.  Wie  der  Glaube,  so  das  Opfer.  Am 
Jungen  sieht  man,  ob's  der  Vater  ist.  Wer  thoricht  ist,  kauft  das 
Pferd,  bevor  er's  geritten  hat.  Ein  schlechter  Kaufmann  kauft  das 
Ferkel  im  Sack.  Den  flüchtigen  Hasen  kannst  du  nicht  aufhalten. 
Wer  als  Dohle  geboren  ist,  bleibt  eine  Dohle;  wer  als  Pfau  geboren  ist, 
bleibt  ein  Pfau.  Schulden  sind  keine  Wunden,  sie  heilen  nicht  von 
selber.  Ein  früher  Gast  bleibt  nicht  zur  Nacht.  Ein  böser  Mensch 
spaltet  aus  einem  Splitter  einen  ganzen  Wagen  voll.  Vorm  Wolf  läuft 
er,  beim  Bären  bleibt  er.      In  wessen  Wagen    er  sitzt,   dessen  Lied 


64  Die  Litauer. 

mu£s  er  singen.  Mir  ist  es  Schlaf,  dir  Arbeit.  Wie  der  Topf,  so  der 
Deckel.  Im  Busche  sind  mehr  krumme  Bäume  als  gerade.  Nenn 
mich  einen  Backofen,  aber  Brot  wirst  du  nicht  in  mir  backen.  Wer 
Bären  fuhrt,  hat  auch  an  Bären  seine  Freude.  Ein  Bauer  ist  immer 
unter  den  Nägeln  schwarz.  Wem  es  nicht  bitter  ist,  der  zieht  kein 
Gesicht.  Blas  gegen  den  Wind!  So  lang  es  Brot  giebt,  ist  die  Hungers- 
not blind.  Er  wird  sich  seines  Geburtstages  erinnern  (er  wird  unter 
dem  Drucke  der  Verhältnisse  oder  vor  Angst  das  Unmögliche  möglich 
machen).  Sieh  ihm  in  die  Augen,  und  frag  nach  seiner  Gesundheit! 
Geschehe,  was  will,  der  Litauer  wird  nicht  untergehen.  Er  fürchtet 
sich,  wie  der  Teufel  vor  Perkun.  Sei  selbst  nicht  bös,  dann  kann  dir 
auch  der  Böse  nichts  thun.  Der  Deutsche  wird  bald  so  klug  sein  wie 
der  Litauer.  Der  Bär,  von  der  Eichel  getroffen,  brüllt;  vom  Ast 
niedergedrückt,  ist  er  still.  Ich  hab  ihm  Gutes  gethan,  er  gräbt  mir 
eine  Grube.  Ein  Reicher  ist  hochmütig  und  gefährlich.  Der  Magen 
kann  leicht  gefüllt  werden.  Der  ist  glückseliger,  dem  man  mitsgönnt, 
als  den  man  bejammert.  Trunkne  prahlen.  Wer  arbeitet,  der  hat 
was.  Ein  böser  Traum  trifft  eher  ein,  als  ein  guter.  Die  Menschen 
gehen  lieber  mit  glücklichen  Leuten  um,  als  mit  elenden.  Des 
Menschen  Leben  vergeht  wie  Schaum.  Das  Verhängnis  ist  unver- 
meidlich. Der  Tod  fragt  nicht  nach  den  Zähnen.  Auch  ein  guter 
Mensch  kann  zornig  werden.  Eile  mit  Weile!  Jede  Henne  scharrt 
nach  ihrer  Art.  Er  frifst,  als  hätte  er  zuvor  an  der  Hungerkette 
gehangen.  Es  ist  nicht  immer  Johannisfest  (ein  guter  Tag).  Ich 
melke  die  Kuh,  und  er  hält  die  Hörner.  Der  wurmige  Apfel  fällt 
bei  Windstille,  der  grüne  muls  vom  Winde  herunter  geschlagen 
werden.  IJinterm  Meer  gilt  der  Ochs  einen  Groschen,  aber  geh 
und  hol  ihn! 

Die  hauptsächlichsten  Verbreiter  der  litauischen  Literatur  sind 
die  Kalender,  von  denen  sechs  in  Preufsen  und  drei  in  Amerika 
erscheinen,  und  etwa  ein  Dutzend  Zeitungen.  Die  in  Tilsit  gedruckte 
liberale  „Neue  litauische  Zeitung"  mit  über  3000  und  der  kon- 
servative „Tilsiter  Pilger"  mit  ziemlich  2000  Abonnenten  sind  ge- 
wöhnliche, viel  gelesene  Wochenblätter,  ebenso  die  in  Memel  ge- 
druckte „Litauische  Zeitung"  mit  1000  Abonnenten;  sie  bringen 
Tagesneuigkeiten.  Den  Kukatisten  dient  der  „Friedensbote",  er 
bietet  Tagesgeschichte  und  hauptsächlich  Religiöses.  Das  Prökulser 
Vereinsblatt  hat,  wie  die  beiden  vorher  genannten,  einige  hundert 
Abonnenten.  —  An  ein  gebildeteres  Publikum  wenden  sich  Monats- 
und Halbmonatsblätter,  wie  Varpas  (Glocke),  Ukininkas  (Land- 
wirt), „Vaterlands Wächter"  und  „Rundschau"  (etwa  500  Leser), 
deren  Abonnenten  zahl  1000  nicht  erreicht.  Die  beiden  letzteren 
sind  in  römisch-katholischem  Geiste  geschrieben,  die  ersteren  liberal. 
Diese  behandeln  die  sociale  Frage  und  Politik,  bringen  Dramen, 
Gedichte,  Novellen  und  Aufsätze  über  Kunst  und  Wissenschaft.     Eine 


Geschichte  der  Maldininker  im  18.  Jahrhundert.  65 

eigene  litauische  Druckerei  von  Martin  Jankus  in  Bit  ebnen  macht 
sich  um  Verbreitung  von  Literatur  auch  in  Rufsland  und  Amerika 
verdient. 


IV.    Die  Maldininker. 

Die  Worte  Maldininker  oder  Surinkimininker  sind  abgeleitet 
von  Litauisch  Malda  =  Gebet  und  Surinkimas  =  Versammlung.  Der 
erste  Ausdruck  hat  einen  spöttelnden  Nebensinn  bekommen  und  wird 
von  ihnen  selbst  nicht  angewendet,  ist  aber  sonst  gang  und  gäbe. 
Auf  deutsch  nennen  sie  sich  am  liebsten  Bruder,  bezw.  Schwestern, 
auch  Gebetsversammler ,  Erweckte,  Bekehrte.  Die  Fernerstehenden 
gebrauchen  die  Namen  „Fromme",  „Heilige",  „Mucker".  In  keinem 
deutschen  Lande  ist  das  religiöse  Vereins-  und  Sektenwesen  so  ent- 
wickelt als  in  Ostpreußen,  nirgends  tritt  es  so  offen  hervor  als  hier. 
Und  gerade  von  den  Maldininkern  kann  man  so  Widersprechendes 
aus  dem  Leumund  von  allerlei  Leuten  hören. 

Zinzendorf  hatte  nach  Gründung  seiner  Herrnhuter  Gemeinde 
bereits  1727  die  ersten  Missionare  in  alle  Welt  geschickt.  Diese  sollten 
den  Christen  und  zwar  den  verlorensten  Stammen  eine  andere  als  die 
orthodoxe  Lehre  predigen,  die  bei  den  meisten  kein  christliches  Leben 
im  Gefolge  zeitigte.  Ein  heiliger  gottgeweihter  Lebenswandel,  thätige 
Liebeswerke,  Bulse,  inniges  Versenken  ins  Erlösungs-  und  Bekehrungs- 
werk, pflichtgetreue  Arbeit  in  Acker  und  Garten,  Haus  und  Hof,  das 
waren  ihre  Ziele;  daneben  wurden  die  Äufserlichkeiten  bald  zu  Haupt- 
sachen: Meiden  von  Tanz,  Theater,  Tabak,  geistigen  Getränken, 
lustigem  Wesen,  lautem  Lachen  u.  dergl.  In  den  dreilsiger  Jahren 
des  18.  Jahrhunderts  finden  wir  solche  Herrnhuter  Missionare  bei 
den  Kaschuben.  Geistesgewaltige  Priester  gehen  auf  ihre  Lehre  ein, 
zumal  fromme  Patrone,  Rittergutsbesitzer  und  deren  Witwen  und 
gealterte  Schwestern,  die  Herrnhuter  Brüder  mit  Freuden  in  ihr  Schlots 
aufnahmen.  Die  Pastoren  in  Schmolsin,  Garde,  Glowitz,  Zezenow, 
besonders  Schimanski  und  Beyer  wirkten  mit  grofsem  Segen  unter 
dem  trunksüchtigen  slawischen  Stamme.  —  Um  dieselbe  Zeit  nun  hatte 
Friedrich  Wilhelm  I.  die  Salzburger  nach  dem  abgelegenen,  durch 
Krieg  und  Pest  entvölkerten  Litauen  gerufen.  Die  um  ihres  Glaubens 
willen  Vertriebenen  brachten  schon  ein  lebendiges  Christentum  mit, 
die  Herrnhuter  Wanderprediger  suchten  es  recht  auszubauen.  Bereits 
1733  kamen  die  Missionare  Demuth  und  Böhnisch  und  hielten  Gebets- 
versammlungen ab,  noch  zwei  andere,  Hof  er  und  Grenzer,  werden 
namhaft  gemacht.  Ein  Salzburger  Siedeier,  Namens  Goffer,  hatte 
solchen  in  der  Insterburger  Gegend  beigewohnt  und  lernte  litauisch, 
um  auch  unter  diesem  Volke  solche  Zusammenkünfte  zu  veranstalten. 
Drei  Lehrer:  Demke  und  die  Brüder  Jurkschat,  wirkten  nun,  als 
geborene  Litauer,  um  Insterburg  und  Tilsit.     Es  entstanden,  wie  man 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  5 


68  Die  Litauer. 

alles  kam  zur  rechten  Geltung.  Benjamin  Schmolck,  Bogatzki  u.  a. 
wurden  übersetzt;  die  Erleuchteten  dichteten  selbst,  so  die  oben  er- 
wähnten Demke  und  Jurkschat.  Bereits  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahr- 
hunderts liels  der  Bruder  Mertikaitis  für  die  Maldininker  ein  eigenes 
Gesangbuch,  „das  Psalmbuch tf,  erscheinen,  das  113  Lieder  enthielt. 
Im  Gegensatz  zum  litauischen  offiziellen  Gesangbuch  erfreute  sich  das 
Psalmbuch  trotz  der  frömmelnden  Art  und  trotz  der  Riesenlänge 
mancher  Lieder,  grofser  Anerkennung  und  Beliebtheit.  Die  neuen 
Auflagen  wurden  rasch  vergriffen  und  erschienen  in  vermehrter  Auf- 
lage. Von  gewisser  Seite  wurde  das  Psalmbuch  freilich  nicht  für  voll- 
wertig gehalten.  Mielcke  sagte:  „Es  hat  ein  gewesener  Soldat  und 
Litauer  aus  der  Niederung  ein  litauisches  Gesangbuch  (um  1800)  auf 
seine  Kosten  herausgegeben.  Er  hat  darin  verschiedene  Gesänge  aus 
dem  Ostermeierschen  Gesangbuch  genommen,  viele  aber  selbst  gedichtet» 
und  wiederum  andere  von  schlechten  litauischen  Schulmeistern  über- 
setzte zusammengerafft  und  unter  die  Litauer  gebracht.  Es  kommen 
darin  die  absurdesten  Dinge,  übertrieben  mystische  Ausdrücke,  närrische 
Epitheta  und  ganz  abgeschmackte  Wendungen  vor,  die  dem  vernünftigen 
Gottesdienst  des  Singens  zuwider  sind.tf  (VergL  Schwede,  Zur  Ge- 
schichte der  litauischen  Gesangbücher.  Lit  Lit  M.  III,  S.  403.)  Der- 
artige Urteile  verhinderten  nicht,  dafs  die  Psalmu  knygos  1876  in 
12.  Auflage  im  Umfang  von  404  Liedern  erschienen.  Und  gerade 
zu  Mielckes  Zeit  hatten  die  Surinkimininker  an  Ausbreitung  und 
Einfluls  gewonnen.  Ein  Schiffer  aus  der  Memeler  Gegend,  Klimkus 
Grygolait,  wurde  auf  einer  Reise  nach  England  „erweckt".  Er  hatte 
Visionen,  sagte,  Gott  hätte  ihn  zu  seinem  Rüstzeug  auserwählt,  dafs  er 
seinem  Volke  Bulse  predige.  1807  zog  er  in  die  Grenzgegend  zwischen 
Memel  und  Schmaleninken,  in  die  Ortschaften  um  Wisch  will  und  Eydt- 
kuhnen.  An  der  Scheschuppe  und  am  Njemen  wurden  Gebetsversamm- 
lungen abgehalten,  die  Elimkenaten  wuchsen  täglich  an  Zahl;  Preuk- 
schat  wirkte  in  der  Tilsiter  Pflege,  Albuschait  in  der  Ragniter,  wie 
Dr.  Gaigalat  in  einem  Vortrage  über  die  Maldininker  ausführte.  Die 
Prediger  waren  meist  Bauern,  die  im  Herbst  nach  Beendigung  der 
Ackerarbeit  ihre  Missionsthätigkeit  aufnahmen.  Es  waren  gewöhnlich 
tüchtige,  strebsame  Ackerleute,  die  ihr  Besitztum  gut  verwalteten. 
Sie  nahmen  nie  Lohn  an,  blieben  bei  der  Lehre  der  Bibel  und  empfahlen 
noch  Arnds  wahres  Christentum  und  Bogatzkis  Schatzkästlein.  Viele 
Pfarrer  waren  auf  ihrer  Seite,  so  der  Ragniter  Superintendent  Malkwitz. 
Jener  Soldat,  den  Mielcke  erwähnt,  war  vielleicht  der  Bruder  Dargys. 
Der  eignete  sich  vorzüglich  zu  seinem  Amte  und  erlebte  dann  auch  die 
Blüte  der  Gebetsversammlungen.  Er  hatte  sich  durch  eigenes  eifriges 
Lernen  in  wissenschaftlichen  und  geistlichen  Büchern  tüchtig  vor- 
bereitet, hatte  1813  die  Freiheitskämpfe  mitgemacht  und  zog  nun 
wie  ein  Sendbote  von  Dorf  zu  Dorf;  er  benutzte  aufser  geistlichen 
auch  philosophische  Bücher,  berief  kraft  seines  Ansehens  die  Maldininker- 


Sekten  der  Maldininker.  69 

Prediger  in  Synoden  zusammen,  setzte  ab  und  ein  und  wurde  von 
allen  anerkannt.  Die  1848  er  Verfolgungen  brachten  auch  ihm  Ein- 
kerkerung seitens  des  Tilsiter  Landrats.  Dies  Martyrium  erhöhte 
nur  seinen  Ruhm.  Zudem  erlangte  Malkwitz  nicht  nur  die  Freilassung 
des  Dargys,  sondern  auch  einen  königlichen  Befehl  Friedrich  Wil- 
helms IV.,  der  eine  Gel  den  t  Schädigung  gewährte.  Dargys,  der  willig 
und  ohne  Murren  ins  Gefängnis  gezogen  war,  schlug  dies  Geldgeschenk 
au 8  und  lehrte  vor  wachsender  Zuhörerschar.  Die  Verfolgungen 
wirkten  wie  im  Urchristentum,  das  Martyrium  wurde  vorbildlich  und 
erweckte  neue  Bekennen  Das  Oberkonsistorium  that  den  rechten 
Schritt  und  liefe  die  Unschädlichen  gewähren.  Eine  mildere  Richtung 
unter  Jurkunas  gestattete  sogar  mäfsigen  Genuls  von  Tabak  und 
geistigen  Getränken.  Schlimmer  war  Klimkats  Schüler  Petrick,  der  das 
Alte  Testament  als  Lehrgrundlage  betrachtete,  noch  gefährlicher  dessen 
Schüler  Sonder,  der  folgerichtig  das  Alte  Testament  auch  ins  Leben 
umsetzen  wollte,  seine  Frau  verstiefs  und  mit  seinen  Mägden  in  Viel- 
weiberei lebte.  Er  forderte  den  Zehnten  von  seinen  Gläubigen,  hatte 
drei  grofse  Reiseboote,  auf  denen  die  Prediger  missionierend  aus- 
zogen und  liefs  sich  wie  einen  Patriarchen  verehren.  1848  träten  eine 
Anzahl  Brüder  aus  der  Landeskirche  aus,  die  meisten  blieben  ihr  treu, 
spalteten  sich  aber  in  zwei  Lager.  Die  alte  Richtung  bewahrte  ihre 
alte  Freiheit.  In  der  Versammlung,  die  in  eines  wohlhabenden  Bruders 
Behausung  stattfindet,  singen  sie  zunächst  ein  Lied  aus  den  Psalm u 
Knygos.  Dann  knieen  sie  nieder  auf  den  Fufsboden,  und  der  Verkünder 
betet  lange  und  laut.  Nun  steht  man  auf,  der  Gebet sversammler  liest 
und  erklärt  einen  Bibelabschnitt.  Kniegebet  und  Schlutslied  folgen.  Die 
neue  Richtung  trägt  gescheiteltes  Haar,  ausgesucht  einfache  Kleidung 
in  Schwarz  und  Weifs,  verwirft  mit  der  farbigen  Marginne  alles  Bunte 
und  hafst  die  abschweifenden  volkstümlichen  Erklärungen.  Man  betet 
still  im  Versammlungszimmer  beim  Ein-  und  Austritt.  Man  singt  das 
dreimal  Heilig,  und  die  Predigt  erstreckt  sich  nur  auf  Ermahnung  und 
Spruchwiederholung.  Die  Alten  tadeln  an  den  Neuen:  Starrheit  der 
Lehre  und  Sucht ,  äulserlich  aufzufallen ,  diese  umgekehrt  an  jenen : 
Menschen  Satzung  und  Abweichung  von  der  Heiligen  Schrift.  Gemeinsam 
ist  beiden  ein  tugendhaftes  Leben,  das  den  Gerichten  nichts  zu  thun 
giebt,  ferner  die  eifrige  Unterstützung  des  Missionswerkes,  der  häufige 
Genuls  des  Abendmahls.  Die  Verkünder  dagegen  predigen  nur,  geben 
an,  Visionen  zu  haben  und  durch  Handauflegung  Kranke  heilen  zu 
können.  Sie  bilden  sich  selbst  aus,  sobald  sie  glauben,  Gott  habe  ihnen 
das  Predigtamt  gegeben.  Sie  stehen  in  hohem  Ansehen  bei  den 
Brüdern  und  wissen  es  sich  auch  zu  erhalten.  Gegenwärtig  steht  an 
der  Spitze  der  bekannte  Christoph  Kukat,  ein  ehemaliger  Besitzer  in 
der  Tilsiter  Gegend,  der  mehrere  Kirchen  sein  eigen  nannte.  Er  ist 
schon  in  ganz  Deutschland  als  Wanderlehrer  thätig  gewesen,  ward 
einmal  für  irrsinnig  erklärt,  erhielt  aber  schlief slich  vom  Oberkirchen- 


70  Die  Litauer. 

rat  die  Erlaubnis  zum  Predigen.  Er  leitet  die  religiöse  Wochen- 
schrift „Friedensbote"  (Pakajaus  Paslas),  die  Vereinsschrift  des  Ost- 
preul8ischen  Gebetsvereins.  Diese  erscheint  in  einer  Auflage  von 
reichlich  500  in  Memel,  hat  zur  Hälfte  litauischen,  zur  Hälfte  deutschen 
Text. 

Aus  dem  Munde  der  Litauer  selbst  hörte  ich  die  widersprechend- 
sten Urteile  über  das  Thun  und  Treiben  der  Surinkimininker  und  ihre 
Predigten.  Die  Übelgesinnten  sagen  ihnen  Muckerei  und  Schein- 
heiligkeit nach,  schlimmere  Zungen  sprechen  im  Gegensatze  zu  der 
gerühmten  Keuschheit  von  „Kinder vereinen"  und  nannten  die  Verkünder 
Betrüger  oder  schlaue  Schelme.  Sie  zögen  zur  Herbstzeit  aus, -weil  da 
die  Gläubigen  geschlachtet  und  gebacken  hätten.  Ihr  Wirken  sei 
nicht  unschädlich.  Dem  gegenüber  sagen  ernste  Männer:  Die  Mal- 
dininker  wirken  nur  Gutes,  vermeiden  politische  Streitigkeiten;  Uneinig- 
keiten schlichten  sie  durch  eigene  Schiedsgerichte,  sie  geben  den  ab- 
legenen  Dörfern  mit  der  geistlichen  geistige  Nahrung  und  sind  Träger 
der  Kirchlichkeit  und  des  Opferwillens. 

Einst  traf  ich  eine  ganze  Gesellschaft  Maldininker  auf  einem 
Memelschiffe.  In  schwarzer  Tracht,  Landpastoren  ähnelnd,  kamen  sie 
zusammen,  reichten  sich  die  Hände  und  küfsten  sich.  Sie  waren  auf 
einer  Missionsfahrt  von  Tilsit  nach  Rufs  und  Schwarzort  begriffen. 
Im  Mittelpunkte  stand  ihr  Führer.  Er  mochte  50  Jahre  alt  sein;  sein 
blühendes  Gesicht,  seine  ganze  Haltung  wirkten  vorteilhaft:  „Nein, 
wir  sind  nicht  studierte  Personen,  uns  hat  Gott  das  Predigtamt  gegeben, 
ich  bin  Kukat."  Mit  glaubensfreudigem  Eifer  und  Überzeugung  be- 
gann er  nun  sogleich  sein  Werk  der  Bekehrung.  „Es  kann  eben 
niemand  seine  Bekehrung  erzählen,  weil  er  nicht  bekehrt  ist.  Ja,  bis 
zum  20.  Jahre  lebte  ich  auch  so  dahin,  dahin.  Rauchen,  Tanzen,  Bier- 
trinken, Kirchegehen,  alles  that  ich,  gern,  aber  unbekehrt,  und  Gott 
erschien  mir  im  Gesicht  und  berief  mich  zu  meinem  Amte,  und  er  er- 
wählte mich  zum  Rüstzeug  und  zeigte  mir  Hölle  und  Himmel.  Ja,  da 
sagen  viele,  der  Kukat  schwindelt  doch,  er  ist  nicht  dort  gewesen. 
Zweifelt  nur,  Gott  thut,  was  er  will."  Wie  sah  es  denn  nun  im  Him- 
mel und  Hölle  aus?  „Ja,  das  können  Worte  nicht  beschreiben,  in  der 
Hölle  sah  ich  viel  eitel  Trauer  und  Herzeleid  und  hörte  die  Klagen  der 
Verdammten  und  die  Siegesfreude  der  Teufel,  im  Himmel  aber  ist  eitel 
Wonne  und  Seligkeit  und  Freude  die  Fülle,  und  die  Engel  singen  und 
spielen  mit  den  Gläubigen  in  Gemeinschaft. tf  Über  die  diesen  Ab- 
straktis  zu  Grunde  liegenden  Konkreta  gab  er  jedoch  keine  Auskunft; 
er  war  erstaunt,  dafs  man  sich  mit  anderen  als  biblischen  Studien  ab- 
geben könne,  Bekehrung  sei  alles,  was  vom  Menschen  zu  verlangen 
sei,  alles  andere  sei  sinnlos.  Die  Bibel  legte  er  so  aus,  wie  sie  der 
lülementarlehrer  verständlich  gemacht  hatte,  sie  war  ihm  schlechthin 
Gottes  Wort,  auch  der  Katechismus  mit  seinen  Erklärungen.  Der  un- 
kritischen,  oft  falschen  Bibelauslegung   bot   indes  eine  volkstümliche 


Eine  Versammlung  der  Maldininker.  71 

Beredsamkeit  und  Versinnbildlichung  die  Hand,  und  so  kam  oft  ein 
ganz  trefflicher  Gedanke  heraus,  der  allerdings  gar  nicht  in  der  Bibel 
stand.  Derbe  Worte  scheute  er  nicht.  Die  Sünden  des  Volkes  ver- 
glich er  mit  dem  Schweinetroge  des  verlorenen  Sohnes.  Seine  Mit- 
verkündiger  sekundierten  ihm  vortrefflich,  und  ihre  Augen  glänzten, 
wenn  er  von  seinen  Missionsreisen  durch  ganz  Deutschland  sprach: 
„Ja,  warum  kann  ich  nur  Deutsch  und  Litauisch,  die  Polen  verstehen 
mich  schon  nicht  mehr;  wenn  ich  aber  Französisch  und  Englisch 
könnte,  dann  wollte  ich  die  ganze  Welt  durchziehen. u  Peinlich  war 
mir  die  offene  Rede  der  so  liebenswürdigen  Leute,  wer  sich  bekehre, 
bekäme  Speise  und  Trank,  Wohnung  und  Führung,  so  lange  er  bei 
Brüdern  sei;  es  könnte  scheinen,  als  ob  sie  das  Gottesreich  samt  dem 
Linsengericht  für  eine  neue  Seele  geben  wollten.  Aber  das  meinten 
sie  gar  nicht,  denn  der  Sinn  der  Bede  war  kein  anderer  als  der:  Du 
bist  hier  gewifs  in  einem  wildfremden  Lande  ohne  Freunde  und  Be- 
kannte, hier  aber  hast  du  Menschen,  die  dir  alles  in  Fülle  geben, 
nur  mulst  du  ihr  Bruder  sein.  Eukat  erklärte,  man  könnte  ihm  ja 
sein  gottverliehenes  Predigt amt  nicht  wehren,  und  dem  möchte  man  die 
fortgesetzten  Bekehrungsversuche  zu  Gute  halten;  das  glaube  er  aber, 
—  alles  Wissen  sei  nicht  mehr  im  Vergleiche  zu  seiner  geistlichen 
Wirksamkeit,  als  das  Schwarze  seines  Fingernagels. 

Bald  waren  die  „Verkünder"  von  Rufs  nach  Calberg  zu  einem 
„Bruder"  gefahren.  Nach  einstündigem  Marsche  gelangten  auch  wir 
an  das  erleuchtete  grofse  Wohnhaus.  Lauter  Choralgesang  tönte  uns 
entgegen.  Beim  Eintritt  ins  Innere  war  rechts  ein  Doppelzimmer  mit 
etwa  50  Frauen  und  20  Männern  gefüllt,  die  erst  im  Gebet  knieend, 
dann  auf  Bänken  und  Stühlen  sitzend,  die  eigentümlichen  litauischen 
Choräle  sangen.  Die  Melodie  „Liebster  Jesu  wir  sind  hier"  war  so 
verändert,  dafs  man  sie  kaum  wiedererkennen  konnte.  Die  ineinander 
verschwimmenden  Töne  schlugen  zitternd  leis  immer  noch  eine  Quarte 
nach  oben  nach,  die  Übergänge  zu  den  nächsten  Noten  schwankten 
in  kleinsten  Tonzwischenräumen  selbst  über  die  kurzen  Verspausen, 
gleichzeitig  sangen  die  Deutschen  den  deutschen,  die  Litauer  den 
litauischen  Text.  Die  Männer  waren  einfach  und  gewöhnlich  in 
Bauerntracht  gekleidet,  die  von  der  allerorts  üblichen  nur  durch  das 
breite  russische  Mützenschild  abweicht.  Marginnen  und  Paresken  sah 
ich  nicht.  Die  Frauen  trugen  dieselben  einfachen  gestreiften  Bauern- 
röcke, wie  allerwärts;  nur  die  weifsen  blumenrandigen  Kopftücher,  die 
am  Halse  oder  meist  im  Nacken  zusammengebunden  waren,  stachen 
hervor,  zumal  die  drückende  Hitze  des  1.  August  nicht  die  Abnahme 
jenes  Kopfschmuckes  zu  bewerkstelligen  vermochte.  Der  Raum  war 
ziemlich  hell  durch  Deckenlampen  erleuchtet,  nur  auf  dem  Predigttische 
brannte  eine  Setzlampe.  Ich  wurde  vorderhand  ins  linke  Zimmer  ge- 
führt, man  wartete  auf  mein  Kommen.  Da  safsen  denn  schon  mehrere 
Verkünder  und  Freunde  beisammen,  der  Hausherr  begrülste  uns  und 


72  Die  Litauer. 

lad  uns  zum  Abendmahl  ein,  da  gab  es  Bier,  Kaffee  und  Milch,  Brot, 
Fleisch  und  Früchte  vorzüglich  und  in  Hülle  und  Fülle.  Galant  ge- 
währte man  meiner  Frau  einen  Ehrenplatz,  und  nach  kurzem  Imbifs 
gingen  wir  in  die  Versammlung  und  erhielten  unseren  Sitz,  trotz 
Sträubens,  auf  der  Bank  der  Prediger.  Über  das  lange  und  harte 
Enieen  auf  Holzdiele  oder  Stein  sehen  die  Brüder  ebenso  leicht  hinweg, 
wie  über  die  Filzpantoffeln  des  einen  Verkünders.  Eukat  safs  am 
Tische,  neben  ihm  je  ein  Bauernpriester.  Nach  dem  Gesänge  des 
Chorales  betete  der  Linke  ein  deutsches  Gebet  von  der  Sündhaftigkeit 
und  Bulse  der  Menschen,  worin  sich  ein  fortwährendes  Stöhnen  Sünden- 
beladener  Gemüter  mischte.  Es  folgte  ein  neuer  Choral,  der  mit  der- 
selben Inbrunst  und  in  Gott  versenkter  Miene  zu  Ende  gesungen  ward, 
und  dann  eine  litauische  Predigt  und  der  Gesang  des  Liedes:  „Herr 
Jesu  Christ,  dich  zu  uns  wend.u  Nun  erhob  sich  Eukat,  las  die  Ge- 
schichte von  Pauli  Bekehrung  aus  der  Bibel  vor,  wie  sie  jeder  tüchtige 
Pastor  vorlesen  kann,  und  ergriff  dann  das  Wort  zur  Predigt  Eukat 
ist  ein  bedeutender  Redner.  Es  Bietst  aus  seinem  Munde  ohne  Anstols 
und  Versprechen. 

Die  Kraft  und  Volkstümlichkeit  seiner  Rede  wird  durch  eine 
wohlklingende  Stimme  unterstützt;  Eifer  und  Stärke  des  Vortrages 
sind  aber  für  den  beschränkten  Raum  viel  zu  grofs,  und  würden  eher 
nach  St.  Peter  in  Rom  passen.  Er  eiferte  gegen  die  Namenchristen,  die 
Religionslehrer,  die  Religion  nur  als  Fach  lehren,  er  erhob  sich  gegen  die 
studierten  Pastoren,  die  den  geistlichen  Beruf  nicht  von  Gott  empfangen 
hätten,  sondern  von  ihren  Eltern  auf  die  sichere  Pfründe  aufmerksam 
gemacht  worden  wären.  Diese  predigten  in  der  Eirche  Bekehrung  und 
bekehrten  wohl  auch  und  seien  doch  selbst  nicht  bekehrt.  Ja,  des  Vaters 
Geld  verstudieren,  sich  gemütlich  erhalten  lassen  und  mit  allen  Mitteln 
einem  ernährenden  Amte  zustreben,  das  sei  nicht  der  Boden,  der  einen 
wahrhaften  Priester  hervorbringe.  Sie  können  auch  gar  nicht  frei 
predigen,  müssen  erst  aus  Büchern  lesen  und  auswendig  lernen  oder 
vorlesen,  Gottes  Wort  ist  ihrem  inneren  Wesen  fremd.  Und  was  thut 
ihr?  Ja,  wie  viele  habe  ich  gesehen,  beten  ganz  andächtig  in  der 
Eirche,  singen  und  hören  der  Predigt  zu.  Und  ist  die  Eirche  aus,  — 
gehen  sie  in  ein  Geschäft  und  kaufen  für  die  Woche  ein.  Die  haben 
alle  der  Stimme  des  Herrn  nicht  Folge  geleistet,  der  überall  schreit  und 
überall  erscheint,  aber  verstopfte  Ohren  findet.  Und  da  haben  wir  die 
Gelehrten,  die  grofsen  Professoren,  die  das  Wort  verworfen  haben 
„wahrhaftiger  Gott  vom  Vater  in  Ewigkeit  geboren  und  auch  wahr- 
haftiger Mensch  von  der  Jungfrau  Maria  geboren".  Am  jüngsten  Tage, 
mit  den  Socialdemokraten  und  Säufern  zusammen,  ha,  wie  freut  sich 
der  Teufel,  dafs  er  sie  mit  seinen  Elauen  zwacken  kann. 

Mit  der  Gewalt  eines  Bulspredigers  ertönen  immer  wieder  die 
Worte,  die  dem  Saulus  vor  Dasmaskus  zugerufen  wurden;  die  Stimme 
schlug  einmal  über  und  wurde  heiser.     Die  Farben  waren  grell,  die 


Eine  Missionsfahrt  der  Maldininker.  73 

erwähnten  Erörterungen  im  einzelnen  oft  unzutreffend,  im  ganzen 
aber  wirksam. 

Es  folgten  der  Reihe  nach  von  Seiten  der  anderen  Verkünder  ein 
langes  seufzerreiches  litauisches,  dann  ein  deutsches  Gebet  und  das 
Vaterunser;  zum  Schlüsse  sang  man:  „Unsern  Ausgang  segne  Gott", 
und  zerstreute  sich  nach  einem  stillen  Gebet.  Ein  Bruder  gab  uns  das 
Geleit  nach  unserer  eine  Stunde  entfernten  Wohnung.  Eine  abermalige 
Einladung  zur  Gebets  Versammlung  anderen  Tages  früh  6  Uhr  konnten 
"wir  nicht  annehmen,  weil  wir  Rufs  und  seine  Umgegend  kennen  lernen 
mufsten.  Auf  dem  Nachhausewege  nachts  11  Uhr  erklangen  von  den 
Bänken  vor  der  Hausthür  die  schwermütigen  Dainos,  einzeln  und  im 
Wechselsang,  hier  und  da  beim  Klange  der  Ziehharmonika. 

Früh  10  Uhr  sollte  die  Missionsfahrt  der  Maldininker  nach 
Schwarzort  stattfinden.  Schon  in  der  Frühe  kamen  von  allen  Himmels- 
richtungen zu  Fufs  und  zu  Flofs,  Wagen  und  Boot  die  Litauer,  um 
am  Feste  teilzunehmen.  V2I2  Uhr  langte  der  gemietete  Dampfer  aus 
Tilsit  an,  war  aber  bereits  so  mit  Anhängern  überladen,  dals  niemand 
mehr  mitbefördert  werden  sollte.  Nun  zogen  die  stundenweit  Herbei- 
geeilten ergeben  in  ihr  Los  nach  Hause.  Ich  aber  drängte  mich  vor, 
die  seltene  Gelegenheit  nicht  zu  versäumen.  Kein  Mensch  konnte 
sitzen  und  sich  bewegen,  so  war  das  Schiff  vollgestopft.  Heute  waren 
viele  Litauerinnen  aus  Minge  und  Einten,  Skirwith  und  Inse,  Heyde- 
krug  und  Loye  in  ihrer  Tracht  erschienen.  Ueber  den  10  bis  20  ge- 
bauschten, reichgefalteten  kurzen  Unterröcken  befand  sich  der  selbst- 
gewebte vierzigfaltige  Oberrock,  buntfarbig,  die  drei  Hauptfarben 
bevorzugend,  langgestreift,  neu.  Einzelne  hatten  aus  der  Swirne  den 
grünseidenen  Rock  geholt  und  darüber  gezogen.  An  der  rechten  Seite 
hing  das  seiden-  und  perlengestickte  Handtäschchen.  Die  Schürze 
ähnelte  dem  Oberrocke,  war  aber  meist  noch  flimmerdurchwirkt  und 
wies  ein  reichgesticktes  oder  blumig  gewebtes  lang  wallendes  Band  auf. 
Der  Oberkörper  war  von  einem  weitärmeligen  Hemd  bekleidet,  das  am 
Hals-  und  Ärmelbund,  wie  am  Lätzchen  seidene  Stickerei  aufwies.  An 
der  Brust  prangte  eine  grofse  Brosche  aus  Bernsteinperlen.  Ein  ärmel- 
loses sammtneB  Schnürleibchen  schlols  sich  über  dem  Oberrocke  an. 
Auf  dem  Kopfe  der  Jungfrauen  befand  sich  über  dem  kranzartig  ge- 
wundenen Zopfe  ein  grüner  oder  blumiger  Kranz  und  bei  den  Frauen 
noch  ein  eigen  gefaltetes  Tuch.  In  der  Hand  ruhte  Gesangbuch, 
Taschentuch  und  Majoranstrauls,  die  Verlobte  trug  am  Mittelfinger 
den  Goldring.  Die  lettischen  Mädchen  Schwarzorts  und  Niddens  haben 
dieselbe  Tracht,  nur  ist  der  Oberrock  nicht  bunt,  sondern  schwarz.  Im 
Gespräch  mit  ihnen  stellte  sich  nun  bald  heraus,  dafs  so  mancher  und 
manche  nicht  der  Bekehrung,  sondern  des  schönen  Ausfluges  wegen 
mitfuhr.  Sie  hatten  einen  guten  Grund,  um  sich  von  zu  Hause  loszu- 
reifsen,  hörten  dem  Missionsgottesdienste  einige  Minuten  zu  und  gingen 
dann,  befreundet  oder  verliebt,  in  die  schönen  Anlagen  Schwarzorts, 


74  Di©  Litauer. 

die  vom  Haff  bis  zum  Baltischen  Meere  die  Düne  durchqueren.  Der 
Missionsgottesdienst  fand  auf  einer  prachtvollen  Waldwiese  inmitten 
alter  Föhren  und  Fichten  statt. 

Gegen  800  Männer  und  Frauen  hatten  sich  versammelt  Inmitten 
stand  der  Predigttisch;  Verlauf  und  Inhalt  boten  nichts,  was  von  dem 
am  vorigen  Tage  Gehörten  besonders  abgewichen  hätte.  Einige  der 
ßauernpriester  fuhren  abends  8  Uhr  mit  nach  Tilsit  zurück,  andere  zogen 
zu  den  Brüdern  der  nächsten  Dörfer,  Kukat  blieb  vorläufig  in  Rufs. 

Ich  nahm  den  Eindruck  mit,  dals  die  Leute  trotz  mancher  Ab- 
sonderlichkeiten tüchtige  und  brauchbare  Menschen  sind,  der  Nutzen, 
den  sie  bringen,  Jedenfalls  gröfser  als  der  Schaden  ist  und  üble  Nach- 
reden wohl  einmal  von  einem,  aber  sicher  nicht  angesichts  der  Gesamt- 
heit der  Wahrheit  entsprechen;  über  die  Aufgabe  und  den  Zweck  des 
Lebens  freilich  haben  sie  eine  verkehrte  Ansicht.  Früh  5  Uhr  erreich- 
ten wir  Tilsit.  Die  ganze  Nacht  hindurch  aber  erklang  der  schmelzende 
Gesang  der  Burschen  und  Mädchen,  bald  deutsch,  bald  litauisch.  Und 
noch  lange  tönten  mir  die  Lieder  im  Ohre: 

„Mein  Herz  ist  ein  8chränkchen, 
Kein  Schlüssel  hängt  dran, 
Doch  in  Tilse  wohnt  einer, 
Der  allein  herein  kann." 

V.  Feste  und  Spiele. 

1.  Talkos.  Von  allen  Festen  der  Litauer  sind  die  Talkos  in  ihrer 
Ursprünglichkeit  und  Eigenart  am  lebendigsten  erhalten  geblieben. 
Eine  Talka  ist  ein  Arbeitsschmaus  und  wurde  früher  ebensogut  in 
slawischen  wie  in  germanischen  Gemeinden  gefeiert.  Die  Easchuben 
haben  sie  teilweise  noch  jetzt,  in  Deutschland  treten  sie  nur  noch  hier 
und  da  auf,  im  russischen  Litauen  sind  sie  aber  noch  in  Blüte.  Sie 
reichen  in  die  Zeit  der  Leibeigenschaft  zurück  und  sind  gemäls  dem 
Gange  ins  Scharwerk  gebildet.  Friedrich  Wilhelm  I.  hatte  1722  die 
Frone  dahin  gemildert,  dafs  die  Bauern  nur  48  Tage  für  den  könig- 
lichen Amtmann  und  Domänenpächter  zu  arbeiten  hatten;  1723  er- 
gänzte er  für  zwei  litauische  Kreise  die  Anordnung  so,  dafs  im  Sommer- 
halbjahre jeder  Scharwerker  wöchentlich  zwei  Tage,  im  Winterhalbjahre 
monatlich  einen  Tag  Dienst  leisten  mufste.  Hatte  nun  der  Schulze 
den  Schar  wer  kern  seines  Dorfes  auf  Befehl  des  Amtmannes  den  Tag 
und  die  Art  der  Beschäftigung  zwei  Tage  vorher  mitgeteilt,  so  zogen 
die  Bauern  mit  Gesang  zur  festgesetzten  Stunde  auf  das  ihnen  bekannte 
Feld  und  arbeiteten  unter  seiner  Aufsicht  gemeinsam  bis  zum  Abend 
ohne  Entgelt.  Die  Gemeinsamkeit  zeitigte  die  Geselligkeit  und  rasche 
Erledigung  der  Arbeit.     Vergl.  Donalitius,  Sommer  307 f.: 

Kinder,  beeilt  euch  flink,  ihr  seht,  schon  dämmert  der  Abend, 

Morgen  schon  heifst  es,  gemach  die  Sensen  rüsten  und  schärfen. 

Hört  ihr  nicht  schon,  wie  die  Wachtel  mahnt,  zu  beginnen  den  Heuschnitt» 


Talkos:   Düngerfuhr -Schmaus.  75 

Wie  sie  verlangt,  dafs  zum  Winterbedarf  wir  setzen  die  Haufen? 
Aber  es  ist  auch  Zeit;  das  Fest  des  beilegen  Jobannes 
Feiern,  wie  allen  bekannt,  wir  übermorgen  mit  Schmausen 
Und  nicht  lange,  dann  heifst's  hinaus  auf  die  Felder  zur  Arbeit ! 

Seit  alters  nahm  man  das  Düngerfabren,  Mähen,  Einernten,  Flachs- 
brechen zur  Zeit  gewisser  Tage  vor.  So  erledigten  die  Easchuben  den 
gemeinsamen  Roggenschnitt  in  der  Zeit  des  Dominiktages  (4.  August). 
Freunde  und  Bekannte  halfen  bei  dieser  und  anderer  Arbeit  unent- 
geltlich dem  einen  Bauer  und  erhielten  die  gleiche  Hülfe  an  einem 
folgenden  Tage.  Abends  oder  vielmehr  nachts  darauf  wurde  ein  echtes 
Bauernf  est  geleiert,  das  zeitgenössische,  von  der  Kultur  beleckte  Bericht- 
erstatter als  den  Ausbund  aller  Tollheit,  Ungebührlichkeit  und  Ver- 
schwendung schildern.  Lorek  weist  auf  die  wirtschaftliche  Schädigung 
hin,  man  verprasse  dabei  soviel,  als  man  im  ganzen  Winter  zum  Leben 
brauche;  andere  betonen  die  sittliche  Gefahr,  und  auch  der  für 
litauischen  Brauch  begeisterte  Donalitius  scheint  die  Talkos  nicht  zu 
lieben,  wenn  man  seine  Verse  (Sommer  4491)  liest: 

„'s  war  im  vorigen  Jahre,  da  hat  der  nichtsnutzige  Plautschun 

Auf  der  Talka  bei  Kaspar  sich  so  unmäfaig  betrunken, 

Dafs  in  dem  Dunkel  der  Nacht,  das  Feld  durchirrend,  sein  neues 

Wetzzeug,  samt  der  schartigen  Sense  sogar,  er  verloren 

Und  erst  beim  Grauen  des  Morgens  mit  Mühe  nach  Haus  sich  gefunden.11 

Die  erste  grössere  Talka  findet  im  Juni  statt;  das  ist  die 
Mieschlu(n) talka  (Düngerfuhr- Arbeitsschmaus ;  Lit.  mieszlinis  =  Juni, 
Düngermonat).  Auf  Ansage  kommen  bei  dem  Morgengrauen  Knechte 
und  Bauern  mit  Wagen  und  Feldgerät  zu  dem  betreffenden  Besitzer. 
Sie  versammeln  sich  in  der  kleinen  Stube  (Bakawoje),  wo  lange  Tafeln 
aufgestellt  sind.  In  dieser  Stube  spielt  das  Essen  und  Trinken  eine 
Hauptrolle.  Jeder  Wirt  setzt  seine  Ehre  darein,  recht  viel  und  recht 
vielerlei  und  etwas  Besonderes  zu  bieten.  Um  6  Uhr  sind  alle  zur 
Usiraschite  (Anmeldeessen)  vereint.  Auf  dem  Tische  steht  Weilsbrot 
und  ein  Teller  mit  Kastinis.  Das  ist  Butter,  aus  Vollmilch  mit  Kräutern 
gebuttert.  Sie  ist  an  Fett  ärmer,  wird  ganz  in  der  Weise  der  reinen 
Butter  geformt  und  ist  sehr  beliebt.  Nun  geht  es  stramm  an  die  Arbeit. 
Um  8  Ubr  versammelt  sich  die  Gesellschaft  wieder  zum  Frühstück 
oder  Halbmorgen  (Pusrytis,  Donalitius:  Pusryczei).  Es  giebt  Kartoffel- 
brei mit  Speck  und  aufserdem  dicke  Schlickermilch.  Brot  ist  stets  auf 
dem  Tische,  wird  aber  wenig  gegessen.  Um  10  Uhr  hält  man  Prisch- 
pitis  oder  Frühmittag,  bestehend  aus  Schwarzbrot  und  Käse.  Mittags 
12  Uhr  findet  man  sich  wieder  beim  Mittagsessen  (Pietai)  zusammen. 
Die  Wirtin  hat  Sauerkohlsuppe  mit  Schweinefleisch  (Kopustai  su  Mesa) 
gekocht.  Dann  giebt  es  dicke  Milchsuppe  mit  grolsen  Nudelstücken. 
Nun  folgt  eine  zweistündige  Mittagspause  und  dann  dreistündige  tüch- 
tige Arbeit.  Zu  Halbabend  (Wakarine)  oder  Vesper  (Paweczerka)  um 
5  Uhr  bietet  die  Hausfrau  Pellkartoffeln  mit  Kastinis,  dazu  dicke  Milch. 


76  Die  Litauer. 

Uin  8  Uhr  reicht  man  das  Abendbrot  (Weczere).  Da  liegt  auf  dem 
Tische  ein  ungeheuerer  Käse,  50  Pfd.  schwer,  zuweilen  ist  es  ein 
Warschkis,  ein  Fettkäse,  den  man  aus  Vollmilch  bereitet  hat.  Daneben 
stehen  Brot  und  Butter,  selten  Bier,  immer  aber,  wie  überhaupt  bei 
allen  Mahlzeiten,  Schnaps.  Eine  Art  Milchsuppe  aus  Biestmilch  mit 
Gerinnseln  (Padaszas)  schliefst  die  Mahlzeit1).  Wird  das  Brot,  die 
Butter  oder  der  Käse  frisch  angeschnitten,  so  reicht  man  immer  der 
Wirtin  das  erste  Stück.  Und  wenn  neue  Kartoffeln  oder  eine  neue 
Speise  das  erste  Mal  gegessen  wird,  versetzen  sich  die  Nachbarn  einen 
leichten  Schlag.  Um  10  Uhr  schliefst  man  die  Arbeit  ab,  geht  wieder 
in  die  Pakawoje  und  verharrt  bei  Tanz,  Spiel,  Gesang  und  Erzählen 
bis  etwa  2  Uhr.     Dann  geht  oder  fährt  man  nach  Hause. 

Ähnlich  verläuft  der  Roggenschnittschmaus,  die  Rugiu(n)talka. 
Roggenschnitt  und  Einfuhr  sind  mitunter  desselben  Tages.  Auch  sie 
dauert  einen  Tag  und  beginnt  etwas  früher,  zu  Jakobi  (15.  Juli).  Die 
eigentliche  Talka  findet  natürlich  abends  statt,  nachdem  die  Schnitter 
mit  einer  Ansprache  dem  Hauswirt  einen  Kranz  überreicht  haben, 
der  aus  den  letzten  Ähren  geflochten  worden  ist.  Das  gegenseitige 
Begiefsen  mit  Wasser,  wenn  ein  neues  Werk  unternommen  wird,  hat 
sich  bei  der  Roggenernte  noch  heutigestages  bei  den  Litauern  und 
bei  den  slawischen  Völkern  erhalten,  das  Kranzüberreichen  auch  bei 
den  Deutschen.  Donalitius  schildert  den  Beginn  der  Rugiutalka  mit 
folgenden  Worten  (Übersetzung  von  Passarge.     Sommer  505): 

Während  ich  solches  erwog,  erhob  sich  wieder  ein  Lärmen, 

Und  ich  wähnt',  eine  brüllende  Kindviehherde  zu  hören; 

Aber  es  brachte  den  Erntekranz  das  Volk  des  Plautschunas. 

Wisset  ihr  doch,  wie  fürchterlich  weit  die  Litauer  brüllen, 

Wenn  um  Jakobi  Zeit,  nachdem  der  Roggen  gehauen, 

Unter  Jubel  und  Tanz  sie  singen:  „Nun  bringen  den  Kranz  wir*  — 


l)  Andere  beliebte  Speisen  der  Litauer  sind  Schaltinosei,  eine  Art  ge- 
füllter Klöfse  (kalte  Nasen),  die  warm  gegessen  werden;  Budwinei,  rote, 
eingesäuerte  Buben  mit  Fleisch  zu  Suppe  gekocht;  Schupinis,  ganze  Kar- 
toffeln mit  Bauchfleisch  gekocht  und  Sahne  darüber  gegossen;  Bulbine, 
Kartoffelsuppe;  Putra,  Mehlsuppe;  Kuosche,  Grützbrei  mit  Speckgriefen, 
die  gewöhnliche  Kost;  Kiselus,  Hafergrützbrei,  die  Fastenspeise ;  Blincei, 
Plinzen;  Klezkei,  grüne  Klöfse  mit  $peck  oder  Sahne;  Konkuline,  Mehl- 
suppe mit  Klöfschen;  Kruopine,  Graupensuppe.  Yergl.  Donalitius,  Herbst 
412  ff.  (Passarge): 

Und  verschwende  nicht  thöricht,  was  doch  bei  den  Speisen  nur  Zuthat, 
Dafs  du  zuletzt  nicht  müfstest  der  Zuthat  gänzlich  entbehren. 
Buben  und  gelbe  Möhren,  auch  Pastinak  wurzeln  und  "Winken, 
Bartsch  von  roten  Buben,  und  eingesäuerter  Kohlkopf; 
Erbsen  auch,  mit  Bohnen  gemischt  und  im  Topfe  gesotten; 
Erbsenbrei,  von  gutem  Geschmack,  wie  die  köstliche  Grütze; 
Dann  die  Kissehl,  der  Hafermehlbrei,  der  tüchtig  gekocht  hat; 
Oder  noch  weiter  Kartoffeln,  zu  vielen  Gerichten  verwendet, 
Endlich  die  Schwämme  verschiedener  Art,  wenn  reichlich  geschmolzen: 
Alles  wird  gut  dir  schmecken  und  auch  vortrefflich  bekommen. 


Kleine  Talkos,  Flachsbrechfest.  77 

Mertschus  und  Lauras  schleppten  ins  WaBser  die  Mädchen,  wofür  dann, 
Um  sich  sofort  zu  rächen,  Laurene  samt  Pakulene 
Männer  und  Bursche  begossen  mit  voügefülleten  Eimern. 

Donalitius  bat  hier  ganz  aus  eigener  Anschauung  geschildert.  War  ja 
sein  Vater  litauischer  Kölmer  auf  dem  Gutsbezirke  Lasdinehien.  Hatte 
er  selbst  doch  als  Pfarrer  zu  Tolminkemen  umfangreiche  Ländereien. 

Kleinere  Talkos,  den  erwähnten  beiden  ähnlich,  finden  das  ganze 
Jahr  über  statt;  sie  werden  durch  die  unentgeltliche  Hülfe  der  Nach- 
barn bedingt.  Beim  Heumähen,  der  Schienpjute,  beim  Neubau  irgend 
eines  Hauses  (Budawojimas)  und  in  anderen  außerordentlichen  An- 
gelegenheiten verknüpft  man  Fest  und  Arbeit.  Hingegen  erfolgen  beim 
Schweineschlachten  nicht,  wie  früher,  Einladungen. 

Am  poesiereichsten  aber  ist  das  Flachsbrechfest,  Linu(n)talka  oder 
Linumina.  Es  wird  Mitte  Oktober  bis  Ende  November  gefeiert  und 
findet  nur  nachts  statt.  Wenn  man  im  Litauischen  den  Ausdruck  eine 
Arbeit  feiern  gebraucht,  so  stehen  dem  auch  im  deutschen  Sprach- 
gebiete ähnliche  Erscheinungen  zur  Seite.  Das  Düngerfahren  wird  in 
Teilen  Mitteldeutschlands  als  Düngerfest  und  als  „  Geburtstag u  an- 
gesehen, ähnlich  ist  es  beim  Scheuer-  und  Schlachtfest.  Die  Linutalka 
findet  in  der  Pirtis  und  in  der  Scheune  statt.  Nachmittags  3  Uhr 
kommen  aus  dem  Dorfe  und  seiner  Umgebung  Burschen  und  Mägde 
in  der  Bakawoje  zusammen.  Um  5  Uhr  ifst  man  Abendbrot,  be- 
stehend aus  Kartoffelsuppe  und  Fleisch.  Zuweilen  trinkt  man  Thee, 
sehr  selten  das  Sonntagsgetränk  Kaffee.  Nun  geht  es  in  die  Scheune. 
Auf  der  Tenne  liegt  der  zuvor  in  der  Schardine  getrocknete  Flachs. 
Mittels  der  Flachsbreche  werden  nun  die  Flachsstengel  von  den 
Burchen  zerbrochen  und  von  der  Rinde  befreit.  Die  Mädchen  rei- 
nigen die  zerbrochenen  Stengel  von  dem  feineren  Abfall.  Ganz  rein 
ist  nun  der  Flachs  immer  noch  nicht,  er  wird  aber  in  die  Klete 
geschafft  und  nach  Bedarf  im  Winter  vollständig  gereinigt  und  ver- 
sponnen. Das  Flachsbrechen  dauert  die  ganze  Nacht  durch,  bis  früh 
8  Uhr,  bei  Tage  wird  geschlafen,  gegen  Abend  wieder  angefangen. 
Auf  einem  grösseren  Gute  dauert  das  Flachsbrechen  vier  bis  fünf 
Nächte.  Jetzt  brennt  man  in  der  Scheune  Petroleumlampen,  früher 
den  Kienspan  oder  Schiburys  auf  dem  Kienspanleuchter  oder  Schi- 
bengschtis.  Um  72 10  Uhr  hält  man  das  Vornachtessen  in  der 
Scheune  ab,  Prischnaktine  im  Unterschiede  zum  eigentlichen  Abend- 
essen (Wakarine)  benannt,  da  giebt  es  Brot,  Wurst,  Alus  und  Schnaps. 
Zum  Nachtessen  (Naktine)  um  12  Uhr  reicht  man  Kartoffelbrei  mit 
Speck  und  aufserdem  dicke  Milch.  Gekochtes  Obst  giebt  es  niemals, 
dieses  essen  nur  Vornehme.  Nun  ruht  man  zwei  Stunden.  Von  2  bis 
5  Uhr  arbeitet  man  und  nimmt  dann  den  Morgenimbils ,  Auschrine, 
ein,  bestehend  aus  Warmbier  mit  Honig,  Brot  und  Kastinis.  V28  Uhr, 
zur  Pusritis,  folgt  das  stärkste  Mahl:  Kohlsuppe  mit  Fleisch,  Milch- 
suppe mit  Maccaronistückchen ,  Pellkartoffeln ,  Trank.     So  lustig  und 


78  Die  Litauer. 

heiter  jeder  Abend  ist,  so  folgt  doch  am  letzten  Flachsbrechtage  das 
au 8 gelassenste  Fest.  Die  mannigfaltigsten  Tänze  wechseln  mit  Daina- 
sang  und  Geschichtenerzählen.  Ein  beliebtes  Spiel  der  Linutalka  ist 
das  Strohstrickspiel  oder  Suschimuschte.  Es  legt  sich  einer  mit  ver- 
bundenen Augen  auf  die  Tenne,  irgend  ein  anderer  schlägt  mit  dem 
Strohstrick.  Der  Geschlagene  muls  den  Schläger  erraten,  dann  mufe 
sich  dieser  auf  die  Tenne  legen.  Das  Spiel  entspricht  dem  erz- 
gebirgischen  „Schinkenkloppen",  wird  aber  in  Samogitien  sogar  von 
Priestern  und  Vornehmen  mitgespielt.  An  Stelle  des  Strohseiles  ist  ein 
gewundenes  Handtuch  getreten. 

Der  nächtliche  Aufenthalt  in  der  Jauje  und  Pirte  hat  etwas  Aben- 
teuerliches und  giebt  denn  auch  zu  allerhand  Bräuchen  Anlats.  Man 
erzählt:  der  Teufel  (Weins)  habe  seinen  Sitz  in  der  Pirte  oder  Duoba 
und  zwar  im  Ofen  oder  in  einem  Balken.  Ein  Bursch  versichert,  den 
Teufel  citieren  zu  können,  wenn  sich  ein  Kamerad  findet,  der  mit  dem 
Bösen  zu  kämpfen  geneigt  ist.  Findet  sich  ein  solcher,  so  schlägt  der 
Bursch  einen  Keil  in  eine  Balkenritze  oder  hebt  einen  Balken  in  die 
Ecke  und  spricht  dabei  eine  nur  ihm  verständliche  Zauberformel. 
Dann  kommt  der  Weins  und  spricht:  „Wer  will  mit  mir  kämpfen ?u 
Da  meldet  sich  der  Kamerad,  der  Kampf  beginnt,  und  der  Teufel  wird 
selten  Sieger.  Der  Bursche  drängt  ihn  nämlich  in  die  Nähe  des  Ofens, 
drückt  ihn  an  die  glühenden  Kacheln  oder  Platten,  bis  er  um  gut 
Wetter  bittet.  Wenn  man  ein  Kreuz  schlägt,  reifst  der  Böse  von  selbst 
aus,  darum  mufs  jener  Kämpfer  sein  Schmuckkreuz,  das  er  etwa  trägt, 
vor  dem  Kampfe  weglegen.  Der  Weins  kümmert  sich  um  materielle 
Sachen  nicht,  bringt  kein  Geld,  kauft  aber  gern  die  ungetauften  Kinder 
von  Bauern,  er  lärmt,  wirft  Sand,  verwandelt  sich  in  einen  Raben  oder 
einen  Menschen,  und  ist  als  solcher  wohl  gar  auf  der  Linutalka  an- 
wesend. Von  Furchtsamen  sagt  man:  „Er  hat  Angst,  wie  ein  Weins 
vor  dem  Kreuze." 

Auch  die  Irrlichter  oder  Schwakeles,  die  der  Litauer  für  Seelen 
Verstorbener  hält,  und  die  in  Gefechten  umherwandern  und  an  Dächern 
zu  sehen  sind,  kommen  in  die  Pirte.  Es  ist  nun  vorgekommen,  dafs 
übermütige  Burschen  solche  Irrlichter  auslöschten,  oder  jagten  und 
quälten.  Da  sollen  sich  diese  Schwakeles  in  böse  Geister  verwandelt 
und  den  Burschen  auf  dem  Linutalka  erschlagen  haben. 

Eine  Haupttalka,  eine  Art  Kirmes  und  Schlachtfest,  schildert  ein 
unbekannter  Autor  des  17.  Jahrhunderts  (vergl.  Preufs,  S.  12):  „„Das 
Landvolk  in  Samogitien  feiert  noch  jetzt  ein  Opfer  und  Festschmaus 
nach  heidnischer  Weise  alljährlich  gegen  Ende  des  Oktobermonats, 
wenn  die  Feldfrüchte  eingebracht  sind,  auf  folgende  Art.  An  dem 
Festplatze  kommen  alle  mit  ihren  Weibern,  Kindern  und  Knechten 
zusammen,  bestreuen  einen  Tisch  mit  Heu,  legen  darauf  Brote  und 
stellen  zu  beiden  Seiten  des  Brotes  zwei  Gefäfse  mit  Bier.  Alsdann 
führen   sie   ein  Kalb,  einen  Eber  und  eine  Sau,  einen  Hahn  und  ein 


Jahres-  und  Familienfeste.  79 

Huhn  herbei '  und  andere  Haustiere ,  nach  der  Reihe  männliche  und 
weibliche.  Diese  schlachten  sie  nach  heidnischem  Opferbrauche  also. 
Zuerst  beginnt  ein  Priester  oder  Vorbeter  unter  Hersagen  eines  ge- 
wissen Spruches  mit  einem  Stocke  auf  das  Tier  zu  schlagen;  darauf 
Schlagen  alle  Anwesende  mit  ihren  Knütteln  auf  das  Tier  los  und 
sprechen  dabei:  „Dies  Opfer  bringen  wir  dir,  o  Gott  Ziemiennik 
(Winter-  oder  Erdgott),  und  danken  dir  dafür,  dafs  du  uns  auch  in 
diesem  Jahre  vor  Feuer,  Schwert,  Pest  und  allen  Feinden  beschützen 
wollest. u  Darauf  verspeisen  sie  das  Fleisch  der  geopferten  Tiere, 
schneiden  aber  zuvor  von  jedem  Gericht  ein  Stückchen  ab  und  werfen 
das  zur  Erde  und  in  alle  Winkel  des  Hauses ,  wobei  sie  sprechen : 
„Nimm,  o  Ziemiennik,  unser  Opfer  gnädig  an."  Und  darauf  schmausen 
sie  alle  feierlich  und  reichlich." u  Auch  die  Weise,  zur  Arbeit  zu  singen, 
führt  unser  Gewährsmann  noch  Guagninus  an:  „Sie  haben  ein  schwarzes, 
recht  schlechtes  Brot,  indem  sie  das  Korn  samt  der  Kleie,  oft  sogar 
mit  den  ganz  unausgedroschenen  Ähren  zermalmen.  Dazu  gebrauchen 
sie  Handmühlen,  deren  es  in  jedem  Hause  drei  bis  fünf  giebt;  wenn 
sie  diese  mit  den  Händen  drehen,  stimmen  sie  dabei  altherkömmliche 
ländliche  Lieder  an.  Überhaupt  ist  das  Männern  wie  Weibern  eigen- 
tümlich, dafs  sie  jede  Arbeit  mit  bestimmten  Liedern  begleiten.  Sie 
haben  auch  eine  Art  lange  hölzerne  Trompeten,  denen  sie  seltsame  und 
grausige  Töne  entlocken/  —  Die  Vergnügungen  der  Spinnstuben  kennt 
man  nicht,  wenn  auch  in  jeder  Familie  gesponnen  wird ;  dagegen  bieten 
die  Jahrmärkte  Gelegenheit  zu  Vergnügungen  für  die  Jugend  beiderlei 
Geschlechtes. 

2.  Jahres-  und  Familienfeste.  Die  Zwölfnächte  sind  heilig, 
die  Träume  innerhalb  derselben  treffen  ein.  Der  Schimmelreiter  zieht 
auf  einzelnen  litauischen  Dörfern  noch  herum.  Es  darf  in  dieser  Zeit 
nichts  gedreht  werden.  Am  heiligen  Abend,  der  der  Andacht  ge- 
widmet ist,  vermögen  Tiere  miteinander  zu  sprechen,  sie  reden  über 
das  neue  Jahr  und  ob  das  heurige  Futter  langt  Der  Bauer,  der  zu- 
hören will,  stirbt.  Auch  soll  man  in  weifsen  Kleidern  schweigend  die 
Obstbäume  mit  Strohbändern  mitternachts  umhüllen,  dafs  böse  Geister 
fern  bleiben  und  die  Tragfähigkeit  der  Bäume  grölser  wird.  Der 
Christbaum  hat  sich  in  Litauen  noch  nicht  durchgängig  eingebürgert. 
Am  Sylvesterabend  fahren  die  schameitischen  Burschen  in  die  nächste 
Kirche,  wo  die  Geburt  Christi  ausgestellt  ist.  Am  Neujahrstage  ist 
Tanzabend.  Am  6.  Januar,  am  Dreikönigstage,  macht  man  wie  am 
Sylvesterabend  mit  dem  Messer  oder  mit  Kreide  drei  Kreuze  oder  Druiden- 
füfse  an  alle  Thüren  oder  schreibt  die  Namen  der  heiligen  drei  Könige 
daran.  Zu  Pauli  Bekehrung  (25.  Januar)  legen  sich  alle  Tiere  auf  die 
andere  Seite,  d.h.  sie  geben  ein  Zeichen,  dafs  ein  neues  Leben  beginnt. 
Die  Fastnacht  ist  ein  rechtes  Fest  des  jungen  Volkes.  Von  früh 
morgens  an  wird  viel  gegessen  und  gesungen.  Den  Höhepunkt  bildet 
das  Schaukeln  in  der  Scheune  und  das  Fahren  auf  dem  Bundschlitten. 


80  Die  Litauer. 

Je  toller,  je  besser;  besonders  wenn  einer  oder  eine  fällt.  An  diesem 
Tage  trifft  man  sich  (wie  zur  Kirmesschaukel  in  Sachsen)  in  gewissen 
Höfen,  die  seit  der  Väter  Zeit  bekannt  sind.  Am  Abend  um  5  Uhr 
beginnt  der  Tanz  und  das  Ringspiel.  Alle  im  Kreise  halten  die  Hände 
gefaltet  auf  dem  Schofs  offen.  Einer  geht  herum  und  thut,  als  gäbe 
er  jedem  den  Ring.  Ein  anderer  geht  ihm  nach  und  muls  den  erraten, 
der  ihn  wirklich  bekommen  hat.  Rät  er  falsch,  muls  er  ein  Pfand 
geben.  Das  Spiel  heilst  Ringspiel  (Schieda  graiti).  Vom  Grün- 
donnerstag bis  zum  Sonnabend  läutet  man  nicht  die  Glocken,  son- 
dern schlägt  sie.  Der  Karfreitag  ist  der  Ruhe  und  dem  Fasten 
geweiht.  Der  Freitag  überhaupt  ist  ein  Unglückstag,  man  hat  ihn 
des  Fastens  wegen  nicht  lieb.  Sonst  giebt  es  kein  Tagewählen;  vom 
Sonntag  Vormittag  erzählt  man,  dals  sich  um  die  Zeit  der  Predigt  die 
Teufel  Mützen  aus  den  Nägeln  machen,  die  man  sich  abschneidet.  Am 
Palmsonntag  lätst  man  sich  die  Wacholderbündel  weihen,  mit  denen 
man  das  Jahr  über,  um  Krankheiten  fernzuhalten,  die  Stuben  räuchert. 
Am  1.  April  ist  das  Anführen  Mode.  Zu  Ostern  holt  man  Oster- 
wasser,  das  jahrüber  heilkräftig  bleibt.  Am  23.  April,  am  Georgs- 
tag, soll  (in  der  Pillkaller  Gegend)  nichts  von  Tieren,  Vögeln,  Fischen 
herrührendes  gegessen  werden.  Am  Johannisvorabend  macht  man 
Schaukeln  und  brennt  auf  den  Bergen  grolse  Leuchtstangen  an. 
Birkenkränzchen  befestigt  man  an  die  Hörner  der  Rinder,  und  einem 
Stiere  bindet  man  einen  grolsen  Kranz  um  den  Hals.  So  geht  es  auf 
die  Weide.  Abends  schenkt  die  Wirtin  dem  Hirten  einen  Käse.  Die 
Mädchen  werfen  in  der  Nacht  Rautenkränze  in  die  Bäume,  besonders 
in  die  Linden;  fällt  der  Kranz  nieder,  so  bekommt  das  Mädchen  in 
dem  Jahre  noch  keinen  Mann.  Man  schnellt  auch  mit  Werg  umwickelte 
und  brennend  gemachte  Kartoffeln.  Früher  sollen  noch  viele  andere 
Gebräuche  ausgeübt  worden  sein.  In  der  Olsiader  Kirche  hat  aber  vor 
20  Jahren  ein  Priester  eine  solche  Strafpredigt  gegen  diese  alten  Volks- 
sitten gehalten,  dafs  sie  dort  beinahe  ausgestorben  sind.  Hingegen 
scheint  sich  das  Johannisfest  in  Preufsen  zum  litauischen  Nationalfest 
zu  entwickeln.  Hier  feiert  man  bei  leuchtenden  Ragos  den  Abend  mit 
Sang  und  Spiel  auf  dem  Rombinus.  Die  zum  erstenmale  auf  das  Feld 
Gehenden  werden  begossen,  wie  auch  die  heimkehrenden  Erntearbeiter. 
Beim  Ausdreschen  ruft  man  dem,  der  den  Letzten  hat,  die  Worte  zu: 
„Du  wirst  nächstes  Jahr  wieder  dreschen."  —  Das  zweite  Halbjahr  ist 
die  Zeit  der  Talkos.  Gegen  Ende  des  Jahres  zu  Weihnachten  oder 
Neujahr  findet  der  Abzug  und  Einzug  des  Gesindes  statt.  Der  schamei- 
tische  Knecht  empfängt  25  bis  50  Rubel,  die  Magd  20.  Aufserdem 
erhält  jedes  ein  20kg  schweres  Brot,  eine  Hammelkeule,  3  bis  4  Pfd. 
Speck.  Das  ist  ihr  „Profit"  (Pawirschis).  Schlief  such  bekommt  jedes 
noch  Wolle,  Flachs,  Hafer,  wenn  es  nicht  gleich  selbst  ein  Fleckchen 
Feld  bekommen  hatte,  um  säen  und  ernten  zu  können.  Die  Familien- 
feste, Hochzeit,  Taufe,  Begräbnis,  waren  zu  des  Nationaldichters  Zeit 


Hochzeit.  8 1 

sehr  ausgeprägt,  heute  werden  sie  bereits  ziemlich  einfach  gefeiert  und 
ähneln  denen  in  ganz  Mitteleuropa. 

Über  die  Hoch  Zeitsgebräuche  in  Kussisch  -  Litauen ,  und  zwar 
in  Wieion a,  hat  Juschkie witsch  ein  ganzes  Buch  geschrieben,  aber 
dort  verlaufen  Jetzt  die  Hochzeiten  viel  einfacher.  Auch  die  ausführ- 
lichen und  reichlichen  Schilderungen  von  Gisevius  und  anderen  passen 
kaum  mehr  auf  die  heutige  Zeit.  Hier  und  da  geht  der  Bräutigam 
schon  im  Cylinder,  und  das  Brautpaar  empfängt  Hochzeitsgeschenke, 
die  man  in  den  Bazaren  von  Königsberg,  Tilsit  und  Memel  gekauft  hat. 
Die  Tracht  des  Bräutigams  gleicht  der  jedes  Deutschen,  die  Braut 
trägt  nicht  mehr  die  eigentümliche  Kopfbedeckung  von  ehemals.  Doch 
dauert  immerhin  das  Hochzeitsfest  noch  zwei  oder  drei  Tage.  Die 
Braut  schenkt  wie  bei  den  Slowinzen  und  Sorben  jedem  nächsten  Ver- 
wandten des  Bräutigams  etwas  Linnenes,  besonders  ein  fein  gemachtes 
Handtuch,  oder  ein  Hemde,  oder  auch  wollene  Handschuhe.  Der 
Hochzeitsbitter  (sehr  oft  ein  Schneider)  sagt  die  Hochzeit  an  und 
ordnet  das  Fest.  Man  fährt  zur  Kirche,  recht  viele  Wagen  gelten  als 
besonders  fein.  Nach  der  Trauung  ist  zu  Hause  Tanz  auf  dem  Hofe 
oder  im  Hause.  Der  Tanz  wechselt  ab  mit  Schmaus  und  Gesang  bis 
früh  5  Uhr.  Mittags  geht  es  von  neuem  los.  Am  letzten  Tage  bildet 
das  Aufhängen  des  Hochzeitsbitters  „in  effigie"  (Pirschli  karti)  einen 
würdigen  Abschlufs  des  Tanzes. 

Zu  des  Donalitius  Zeit  ging,  wie  im  „Fritz"  und  im  „Herbst"  aus- 
geführt ist,  die  Hochzeit  so  von  statten:  Zu  Pferde  erscheint  der 
Hochzeitsbitter  (Kweslys)  und  lädt  die  Gäste  zum  Bauer  Christian 
ein,  dessen  jüngste  Tochter  Ilsbutte  der  Schulz  von  Tauken  heimführen 
will.  Die  Geladenen  nehmen  den  Hut  ab,  danken  und  versprechen, 
Christian  die  Ehre  zu  geben  und  zu  kommen.  In  acht  Tagen  rücken 
die  Gäste  an,  Stephan  und  Martin  in  neuen  Stiefeln,  Lauras  und 
Johann  mit  sauberen  Bastschuhen.  Enskys  hat  den  Schimmel  besonders 
gestriegelt  und  geschmückt,  sich  die  Hüften  mit  neuen  Riemen,  die 
Beine  mit  Feststiefeln  geziert.  Ein  halbes  Schock  Mütter,  „die  geladen 
waren",  folgten.  Auf  den  letzten  Punkt  wird  sehr  gehalten.  Aber 
auch  jetzt  noch  hängt  jeder  Bauer  sehr  an  dem  Brauche.  Zu  einem 
Begräbnis  im  Altenburgischen  ging  kürzlich,  der  wiederholten  Auf- 
forderung eines  Verwandten  folgend,  ein  Bekannter  den  weiten  vier- 
stündigen Weg  und  wurde  dann  schlief  such  mit  den  Worten  begrüfst: 
„Ihr  seid  zwar  nicht  gebeten,  na,  aber  setzt  euch  nur."  —  Die  Frauen 
gehen  in  ihrer  Tracht  zur  Hochzeit,  mit  der  Haube  (Kykas),  dem 
Schleier  (Nometas)  und  dem  Umschlagetuch  (Ploschte,  vgl.  Sorb.  Plachta), 
die  Mädchen  mit  dem  Kranze  und  den  geflochtenen  Zöpfen. 

„Frauen,  begehrt  mit  nichten  das  Jungfernkränzlein  zu  tragen, 

Und  ihr  Mädchen  verlangt  mir  dafür  nach  dem  Kykas  mit  nichten!" 

Mit  lautem  Geschrei  kommt  der  Zug  vor  Christians  Hause  an,  höflich 
▼erneigend  begrüfst  er  sie  alle  und  nötigt  sie  ins  Haus  und  holt  die 

Tetsner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  R 


82  Die  Litauer. 

Schnapsflasche  zum  Zutrank,  während  die  Brautmutter  Punzen  bringt, 
und  schon  derbe  Scherze  beginnen.  Da  kommt  der  Hochzeitsbitter  zu 
Kols  und  schlägt  den  dürren  Gaul.  Die  Menge  jubelt  ihm  entgegen, 
zum  Thor  herein  führt  man  das  eingesegnete  Brautpaar.  Das  begrülsen 
die  versammelten  Freunde  und  Nachbarn  und  begleiten  es  ins  Haus. 
Drei  fette  Kühe,  zwei  Ochsen,  ungezählte  Schafe  und  Schweine,  eine 
Menge  Gänse  und  Hühner  waren  geschlachtet  worden,  der  Dampf  er- 
füllte die  Gassen.  Die  Hochzeitsbitter  tragen  das  Fleisch  auf,  und  man 
ifst  nun  nicht  gerade  sehr  zimperlich  und  trinkt  ein  Fafs  Bier  dazu; 
zu  beten  hatte  man  am  Ende  des  Mahles  vergessen.  Nun  ertönen 
Lieder,  und  man  erzählt  sich  von  Pferden  und  Ochsen.  Lauras  spielt 
das  Brummeisen,  Jakob  die  Geige,  Dotschys  aber  fällt  schon  zu  Boden, 
so  unmälsig  hat  er  sich  benommen.  Die  Frauen,  die  erst  den  Schnaps 
entrüstet  zurückgewiesen  hatten,  kriechen  in  einen  Winkel  und  leeren 
schnell  eine  tüchtige  Flasche.  Dann  erzählen  sie  von  ihren  Gänsen 
und  Enten.  Da  kommen  die  Musikanten  mit  Cymbel,  Geige,  Pfeife.  In 
Stiefeln,  Schuhen,  Bastschuhen  und  barfuls,  einige  ohne  Jacke,  beginnen 
sie  zu  tanzen.  Zwei  ungebetene  Nachbarn,  Slunkius  und  Peleda, 
erscheinen.  Alles  ist  starr  über  die  unglaubliche  Formverletzung.  Da 
ergreift  Enskys  einen  Birkenknüttel,  zerschlägt  den  beiden  den  Rücken, 
reifst  sie  an  den  Haaren  und  wirft  sie  zur  Thür  hinaus. 

R.  Keusch  hat  (Neue  Preuls.  Prov.-Bl.  V,  Königsberg  1848,  S.  187  ff.) 
erforscht,  dafs  die  verschiedensten  Tage  als  Hochzeitstage  bevorzugt 
werden,  sogar  auf  einem  verhältnismäfsig  kleinen  Raum.  So  lassen 
sich  angeblich  am  Montag  Morgen  die  katholischen  Ermländer,  am 
Dienstag  die  Böhmen  und  Mährer,  und  die  reichen  Märker  und  keuschen 
Appenzeller,  am  Mittwoch  die  verunglückten  Appenzellerinnen  und 
märkischen  Verwitweten,  aber  nie  die  Pforzheim  er  trauen.  Die  Uker- 
märker  (Brodewin)  und  die  altansässigen  Deutschen  am  Drömling 
bevorzugen  den  Donnerstag,  die  Polaben,  Lauenburger,  Schleswig- 
Holsteiner  und  Litauer  den  Freitag.  Eine  litauische  Hochzeitsladung 
durch  den  Platzmeister  hat  in  der  Übersetzung  (S.  223)  folgenden 
Wortlaut:  „Guten  Tag!  guten  Tag!  meine  lieben  Freunde.  Nehmt  nicht 
übel,  dafs  ich  so  dreist  ins  Haus  geritten,  nicht  nur  ins  Haus,  sondern 
auch  in  die  Stube.  Ich  junger  Platzmeister,  mein  kleines  Pferd;  das 
Pferd  hat  vier  Füfse  und  stolpert,  und  meine  eine  Zunge  verfehlt  und 
erholt  sich  auch  wieder.  Ich  grülse  Euch  vom  Bräutigam  und  von  der 
Braut  und  lade  zur  Hochzeit  auf  den  Freitag.  Den  Martin  zum  Mar- 
schall, die  Anna  zur  Brautjungfer  und  die  übrigen  alle  zum  Abendbrote,, 
wer  einen  Löffel  und  eine  Gabel  aufheben  und  einen  Krug  Alans  aus- 
trinken kann.  Wenn  wir  werden  reisen  aus  des  Hochzeitsvaters  Hause 
ins  Haus  Gottes,  aus  dem  Gotteshause  in  des  Königs  bunten  Krag 
(Gasthaus),  dort  werden  wir  tanzen  und  froh  leben,  jeder  für  seinen 
Groschen.  Aber  beim  Zurückkehren  in  des  Hochzeitsvaters  Haus  finden 
wir  weifse  Tische,  bunte  Krüge,  umflochten,   verziert  und  mit  Alaus 


Taufe,  Begräbnis. 


83 


gefüllt.  Dort  finden  wir  Gekochtes  und  Gebratenes,  Essen  und  Trinken; 
für  unsere  Pferde  Brücken  von  Eschen,  Krippen  von  Eichen  mit  Hafer 
angefüllt.  Nicht  weit  hin  ich  gereist,  nicht  viel  hab  ich  gelernt,  wenn 
ich  werde  weiter  reisen,  werde  ich  auch  mehr  erlernen.  Für  mich 
jungen  Platzmeister  ein  Hemde ;  wenn  nicht  ein  Hemde,  dann  ein  Hand- 
tuch; wenn  nicht  ein  Handtuch,  dann  ein  Paar  Beinkleider;  wenn  nicht 
ein  Paar  Beinkleider,  dann  ein  Hosenhand;  wenn  nicht  ein  Hosenband, 
dann  ein  junges  Mädchen;  wenn  nicht  ein  junges  Mädchen,  dann  ein 
grünes  Blümchen  an  den  Hut.  —  Mit  Gott,  meine  lieben  Freunde!" 

Die  Taufe  dauert  heute  nur  einen  Tag,  ehemals  dehnte  man  sie 
als  Familienversammlung  wie  die  Begräbnisfeierlichkeiten  länger  aus. 
Auch  die  Zahl  der  Paten  ist  nicht  mehr  so  zahlreich,  wie  zu  den 
Zeiten  des  Donalitius,  der  gewöhnlich  sechs,  oft  zwölf  Paten  eintrug. 
In  der  Postille  von  1574  steht,  dals  man  bei  der  Geburt  mit  geweihtem 
Salz,  Wasser  und  mit  geweihten  Kerzen  hantierte,  die  gramniczios 
genannt  worden  wären,  einem  Worte,  das  heute  „Maria  Lichtme£stt  be- 
zeichnet. Ferner  habe  man  geweihte  Kräuter,  Hanf,  Unkraut,  Brenn- 
nesseln u.  a.  gebraucht,  die  zu  Johanni  oder  Maria  Himmelfahrt  ge- 
weiht und  kupala  geheilsen  hätten.  In  der  Gegend  von  Ponewiesch  ist 
das  Kräuterweihen  (Kupalia wimas ,  Kupoliojimas,  Russ.  Kupala)  noch 
im  Gebrauch.     Bei  den  Tschechen  begegnen  wir  ähnlichen  Sitten. 

Die  Begräbnisgebräuche  der  Litauer  sind  heutzutage  nicht 
anders  als  die  bei  anderen  bäuerlichen  Volksstämmen  Deutschlands. 
Von  den  alten  Sitten,  wie  sie  beispielsweise  Lepner  schildert,  haben 
sich  an  den  verschiedenen  Orten  verschiedene  Reste  erhalten.  Im 
Sterbezimmer  ward  Gerste,  Hafer  und  Malz  zu  Met  und  Bier  einge- 
weicht. Kam  der  Kranke  wieder  auf,  so  trank  er  sein  Begräbnisbier  aus 
Freuden  Belbst  mit.  Eine  alte  Bäuerin  zu  Lepners  Zeit  half  es  zehnmal 
austrinken.  Zu  Totkranken  wurden  die  Nachbarn  und  Verwandten  ein- 
geladen, die  beim  Abschiede  sagten:  „Bleib  Gott  befohlen.  Gott  gebe, 
dafs   du  gesund    wirst  und  wir  gesund   zusammenkommen   können." 

Abb.  10. 


Heydekrug -Werdener  Grabschmuck. 

1  bis  ll/sm  hoch.     Schrift  meist  schwarz  auf  weifsem  Untergrund.     Holzfarbe 

schwarz. 

„Gott  gebe  es",  antwortete  der  Kranke,  machte  sein  Testament  und  er- 
teilte Anordnungen ,  dals  der  Jüngste  das  Gut ,  die  anderen  bestimmte 

6* 


Spiele.  85 

Erbteile  bekämen.  Meist  ward  auch  der  Geistliche  geholt.  Der 
Tote  wurde  auf  frisches  Stroh  auf  Erden  gelegt,  gewaschen  und  mit 
weilsem  Kleide,  Frauen  mit  mehreren  weifsen  Hemden  bekleidet,  der 
Mann  bekam  auf  den  Kopf  eine  weifse  Schlafmütze,  die  Frau  ein  weilses 
Tuch.  Den  Sarg  machten  sie  aus  vier  ungehobelten  Brettern  selbst. 
Manche  lielsen  beim  Tode  läuten.  „Es  wurde  der  Seele  nachgeläutet. a 
Die  zur  Totenwache  sich  einstellten,  sangen  geistliche  Lieder.  Das 
Grab  ward  am  Begräbnistag  gegraben.  Vor  dem  Begräbnis  erschollen 
die  schluchzenden  Ilaudos,  die  Brand,  Lepner  u.  a.  von  den  Litauern, 
Waisselius,  Hartknoch  von  den  Preulsen  übereinstimmend  gleichlautend 
erwähnen.  Grabgänger  kamen  gebeten  und  ungebeten,  die  Frauen 
gingen  weils.  Die  Gatten  gingen  nicht  mit  zum  Grabe,  sondern  folgten 
nur  bis  zum  Gartenzaun.  Dem  Zuge  voran  trug  man  ein  selbst  ge- 
fertigtes Kreuz,  die  Leiche  zwischen  „zwo  mit  zwey  Handtüchern  oder 
Strängen  zusammen  gebundenen  Stangen u.  Hatte  man  die  Leiche 
ins  Grab  gesenkt,  so  öffnete  einer  den  Deckel  und  sah  nach,  ob  der 
Leichnam  noch  gerade  lag,  gab  ihm  einige  Münzen  unters  Haupt  und 
ein  Stückchen  Erde  auf  die  Schultern,  legte  Lieblingsgegenstände  bei, 
so  dem  Schulzen  seine  Peitsche,  schlofs  den  Sarg  und  das  Grab.  Dann 
folgte  ein  schwelgerisches  Leichenmahl.  —  Heute  giebt  es  Klagemänner 
statt  der  ehemaligen  Klageweiber,  die  Itaudos  ertönen  noch  in  Samo- 
gitien.  Die  ganze  Nacht  hindurch  kommen  Bekannte  und  Nachbarn, 
singen  und  beten  an  der  Leiche.  Sie  werden  bewirtet  und  zu  einem 
Erinnerungsschmaus  eingeladen,  der  neun  Tage  später  stattfindet. 

In  Preufsisch  -  Litauen  bürgern  sich  jetzt  mehr  und  mehr  Stein- 
platten und  Eisenkreuze  ein.  Die  alten  litauischen  Holzkreuze  für  die 
Männer,  Dachkreuze  für  die  Frauen  findet  man  noch  auf  allen  Kirch- 
höfen nördlich  des  Njemen  und  seiner  linken  Zuflüsse.  Daneben  giebt 
es  ganz  eigentümliche  Holzplatten,  wie  Abb.  1 1  zeigt,  die  solche  Grab- 
platten enthält,  wie  sie  in  Schwarzort,  Krottingen,  Girschunen,  Wil- 
mantinen,  Tolminkemen,  Bitenen  u.  s.  w.  vorkommen.  In  Russisch- 
Litauen  erkennt  man  diesen  Grabschmuck  nicht  für  voll  an,  sondern 
bedient  sich  in  den  Dörfern  nur  der  grofsen  Holzkreuze  ohne  Dach. 

3.  Spiele.  Kinder-  und  Jugendspiele  sind  äulserst  zahlreich. 
Juschkie witsch  zählt  in  den  Hochzeitsgebräuchen  der  Wieionischen 
Litauer  die  folgenden  auf:  1.  Iltis,  2.  Bär,  3.  Kranich,  4.  Kater, 
5.  Affe ,  6.  Hirsch ,  7.  Kohl  hauen ,  8.  Pergel  oder  Splitter  spalten, 
9.  Mützen  schlagen,  10.  den  Birkhahn  schlagen,  11.  Bürste  stechen, 
12.  Kartoffeln  trocken  kochen,  13.  den  Wolfsschwanz  recken,  14.  nach 
Born  reiten,  15.  eine  Nadel  einfädeln,  16.  einen  Habicht  rupfen, 
17.  eine  Eule  rupfen,  18.  das  Rehtanzen,  19.  auf  die  Tenne  klettern, 
20.  das  Schafböcklein,  21.  Bartholomäus,  22.  Teer  brennen,  23.  Pflüge 
schmieden,  24.  Sterne  zählen,  25.  Häcksel  fressen,  26.  Flachs  brechen, 
27.  Mohne  reiben,  28.  Flachs  weichen,  29.  die  Thür  durchbohren, 
30.  eine  Flasche   zerschlagen,    31.   eine  Flasche  in  die  Erde  hinein- 


66  Die  Litauer. 

schlagen,    32.  einen  Krug   nicht    zerschlagen,    33.   die  Kuh  melken, 

34.  hinter    der  Thür    zutrinken.      Baudoin   de   Court enay   fügt   noch 

35.  Ziege,  36.  Zigeuner  hinzu.  Juschkiewitsch  nennt  diese  Spiele 
Hochzeitsspiele  und  giebt  kurz  zuvor  noch  folgende  Gesellschaftsspiele 
an:  Himbeerchen,  das  Sechsdrähtige,  Kreis,  Fee,  das  Unterkriechen, 
zwei  Häschen,  Häschen,  das  Ausschauen,  Kuckuck,  Sperling,  Dajlilo, 
Judabru,  Dreihewelten- Leinwand,  Drohen,  Brahe,  Entlein,  Mützchen, 
Hochzeitsgast ,  gnädige  Frau,  der  Schöne,  Kopf kifschen ,  Mohn,  der 
Müller  mit  Gesang,  die  Schlafmütze,  den  Sperling  rupfen. 

Die  meisten  dieser  Spiele  waren  freilich  bereits  dem  Herausgeber 
fremd.  Die  in  jener  Gegend  eigentümlichen  seien  erwähnt.  Das 
Schweinchentreiben  (Kjaulawaris ,  Kjaulemuschte)  beginnt  mit  dem 
Graben  von  kleinen  Löchern  in  die  Erde,  etwa  3x3,  das  mittelste 

X1  Xa  X3 
ist   das  grölst e  X4  ^J:5  X6.     Das  grofse  Loch  heilst  Dwaras  (Bauern- 

X7  X8  X9 
gut),  die  kleinen  Löcher  Putra  (Mehlsuppe).  Ins  Dwaras  soll  die  grolse 
Kugel  (K jaule  =  Schwein,  Sauchen  ins  Loch)  gebracht  werden.  An 
jedem  Loche  steht  ein  Knabe  mit  einem  Stocke  mit  Naturgriff.  Außer- 
halb der  neun  Löcher  befindet  sich  ein  Mitspieler,  der  hat  die  K jaule 
und  mufs  versuchen ,  sie  ins  Mittelloch  zu  werfen.  Jeder  sucht  nun 
die  kollernde  Kugel  zurückzuschlagen.  Ist  sie  im  Dwaras,  so  mufs 
der  Hüter  des  Dwaras  ans  neunte  Loch,  und  der  erste  Knabe 
beginnt  das  Spiel  aufs  neue.  Im  Masurischen  nennt  man  das  Spiel 
„Kaulchenspiel14,  zu  Grunde  liegt  das  Wort  Kaulchen  =  Kugel,  die 
Übertragung :  Kugelsteinchen  auf  Litauisch  K jaule  (Schwein)  ist  wohl 
nachträglich  gemacht  und  das  Spiel  aus  Deutschland  eingeführt.  — 
Im  Scheibenschlagen(Tekinimuschte)  wird  ähnlich  wie  beimCroquet 
ein  Rad  von  einer  Partei  zur  andern  geworfen  und  pariert.  Dem 
Strohstrickspiel  (Suschimuschte)  ähnlich  ist  das  Sperlingrupfen. 
Einem  Knaben  werden  die  Augen  verbunden.  Die  Mitspielenden  um- 
stehen ihn  und  zupfen  ihn  aufser  der  Reihe.  Errät  der  Verbundene 
den  Thäter,  so  kommt  dieser  an  seine  Reihe.  Beim  Knopfschnellen 
(Gusikais-graiti)  schnellt  der  erste  einen  Knopf  vom  Knie,  der  zweite 
thut  das  gleiche  und  zielt  nach  dem  ersten.  Man  setzt  das  Spiel  so 
lange  fort,  bis  ein  Knopf  so  bei  dem  andern  liegt,  dals  man  mit  der 
Spanne  der  verschiedenen  Finger  messen  kann.  Die  Mittelfingerspanne 
sichert  dem  Gewinner  einen  Knopf,  die  Zeigefingerspanne  zwei  Knöpfe, 
das  Aufeinanderliegen  der  Knöpfe  drei  Stück.  Ähnlich  ist  in  Mittel- 
deutschland das  Stahlwerfen  und  das  Anschlagen  und  Kugeltetschern. 
Dals  allen  diesen  und  den  folgenden  Spielen  Abzählreime  voran- 
gehen, braucht  kaum  erwähnt  zu  werden.  Der  blinden  Kuh 
(Laumineti)  ähnlich  ist  das  Hasenfangen  (Suikinieti).  In  einer 
Schar  Knaben  werden  einem  die  Augen  verbunden,  der  mufs  dann 
einen  andern  von  den  Knaben  zu  fangen  suchen,  die  entweichen  und 


Spiele.  87 

auf  den  Ausgangspunkt  zurückkehren.  Unser  gewöhnliches  Such-  und 
Fangspiel  ist  dort  nicht  bekannt,  dahingegen  erfreuen  sich  auch  in 
Russisch  -  Litauen  das  Vogelverkaufen  (Paukschtinieti)  und  das 
Durchziehen  (Goldne  Brücke,  Wolf  und  Fuchs,  Wir  wolln  eine 
goldne  Brücke  baun)  einiger  Beliebtheit.  Das  Schaf  weiden  (Aweles- 
ganyti)  erinnert  an  „Katze  und  Maus"  oder  „Fuchs  und  Gansu. 
Häschen  in  der  Grube  haben  die  Schameiten  auch.  Das  dabei 
gesungene  Lied  ähnelt  dem  deutschen  Liede  sehr.  Es  heilst:  „Du 
mein  Häschen,  du  mein  blaues,  du  mein  liebes  blaues  Häschen,  Darfst 
noch  nicht,  darfst  noch  nicht  Im  Gärtchen  hüpfen.  Denn  wie  Eisen 
sind  die  Pförtchen,  Und  aus  Silber  sind  die  Schlüssel;  Darfst  noch 
nicht,  darfst  noch  nicht  Im  Gärtchen  hüpfen. u  Beim  Eugelspiel 
setzt  jeder  Mitspieler  in  ein  in  die  Erde  gegrabenes  Loch  eine  be- 
stimmte Zahl  Kugeln.  Reihum  wirft  man  nun  in  gewisser  Ent- 
fernung mit  einer  grofsen  Kugel  nach  den  kleinen.  Wieviel  heraus- 
springen, soviel  bekommt  der  Werfer  (Bubinamuschte  oder  Bulbina- 
muschte?  vgl.  Bubintojis  =  Dreher,  Bubininkas  =  Trommler,  Bulwis 
=  Kartoffeln).  Dem  Stöckchenspiel,  das  Koncewicz  (Lit  Lit  M.  II, 
249  f.)  erwähnt,  scheint  das  Span chen spiel  (Lischkais-graiti)  verwandt 
zu  sein.  Jeder  Mitspieler  setzt  5  Kopeken  und  nimmt  dann  der  Reihe 
nach  die  12  gleich  kleinen  und  das  gröfsere  (Karalus)  Holzspänehen 
in  die  hohle  Hand,  wirft  sie  in  die  Höhe,  fängt  sie  mit  dem  Handrücken 
auf  und  wirft  die  aufgefangenen  alsbald  wieder  hoch,  um  sie  mit 
offener  Hand  aufzufangen.  Wieviel  Spänchen  er  aufgefangen  hat,  so- 
viel erhält  er  Kopeken.    Der  König  (Karalus)  gilt  2,  der  König  allein  12. 

Dem  Sticheln  verwandt  scheint  das  Stabspiel.  Ein  kleiner  Holz- 
stab wird  mittels  eines  größeren  fortgeschleudert,  und  zwar  von  der 
Spitze  eines  in  die  Erde  gesteckten.  Fängt  der  Gegenmann  das  Stäb- 
chen auf  und  schlägt  damit  im  Stichelwurf  den  eingeschlagenen  heraus, 
so  gewinnt  er  einen  festgesetzten  Preis. 

Ähnlich  dem  Pflöckelspiel  macht  man  „Adler  oder  Zahl",  d.h. 
man  dreht  eine  Münze  kreiselartig,  schlägt  darauf  und  hat  gewonnen, 
wenn  der  Adler  nach  oben,  verloren,  wenn  er  nach  unten  liegt. 

Unsere  Mühle  ist  dem  litauischen  Hängespiel  (Karties)  gleich. 
Wer  keine  Beihe  Zahlen  fertig  bringt  (2),  hat  verloren,  ist  pakartas 

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(aufgehängt)  1 


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Das  Aussprechen  schwieriger  Wortverbindungen  mit  Pfänder- 
gabe der  Ungeschickten  ist  wie  in  Deutschland  zu  Hause,  ebenso  bei 
den  Kleinen  das  Spiel  mit  den  Puppen,  Bildern,  der  Schnarre  (Tarsch- 
kine),  Pfeifen;  das  Dämmebauen,  Wassermühle  machen  u.  a. 

Noch  häufiger  als  bei  uns  ist  das  Rätselaufgeben.  So  fragt  man: 
Was  ist  das,  es  steht  in  der  Ecke  aufgeblasen  und  fliegt  ganz  toll? 
(Flinte.)   —  Lang  und  schlank,  nach  oben  kriegt  er  und  legt  Eier 


88  Die  Litauer. 

(Hopfen);   die  schlanke  Dame  mit  langer  Nase  (Swirtis  =  Brunnen- 
Stange  mit  Haken). 

Das  Beilegen  von  Spitznamen  ist  an  der  Tagesordnung  und  die 
niedrigste  Form  ewig  junger  Volksdichtung.  Yon  jenem  Spiel  heilsen 
alle  die  Bubina,  auf  denen  man  herumschlagen  kann.  Eitlus  ist  ein 
Watschler,  Luntrus  ein  Taugenichts,  Lurbis  ein  Roher,  Lorbas  ein 
Verächtlicher,  ein  gewisser  Bubele  wird  nur  Enakies  (Stammler), 
Mika  hingegen  Nelurbis  genannt.  Alle  alten  Schriftsteller  führen  zahl- 
reiche Beispiele  von  der  Spitznamensucht  der  Litauer  an,  besonders 
Donaiitius  (Dickbauch  =  Didpilwis,  Dramblys,  Kröte  =-  Rupuische, 
Maulaffe  =  Schioplys,  Taugenichts  =  Beslepitsche!  etc.). 

VI.     Sinnen  und  Sagen. 

1.  Glaube  und  Aberglaube.  Den  Begriff  des  persönlichen 
Gottes  drückt  der  Litauer,  ähnlich  allen  Indogermanen,  mit  dem  Worte 
De  was  aus.  Ein  aufgeblasener  Emporkömmling  läuft  wie  ein  De- 
waitis,  ein  junger  Gott,  herum  (Donal.  Lenz  122).  In  vorchristlicher 
Zeit  schnitzten  sie  sich,  wenn  Donaiitius  (Sommer  536)  recht  hat,  ihre 
Götzen  oder  Dewaitsche  selbst.  —  Vom  Götterdreigestirn  Perkun, 
Pikoll,  Potrimp  hat  eich  im  Volksglauben  noch  der  erste  lebendig 
erhalten.  Ueber  sein  Äusseres  gehen  freilich  die  Berichte  auseinander, 
Bassanowitsch  kennt  ihn  als  alten  Mann,  andere  als  Jüngling,  in 
Samogitien  kommt  das  Wort  sogar  neben  der  maskulinen  Form  im 
Femininum  vor.  Er  ist  der  Donnergott.  Für  „es  donnert a  sagt  der 
Scham  eite:  Perkun  rasselt  oder  dröhnt  (Perkun ja  oder  Perkunas  oder 
Perkunalis  grauna  oder  gruraa).  Ein  Sprichwort  lautet:  „Perkun, 
plage  nicht  den  Schameiten,  sondern  den  Gudden  wie  einen  roten 
Hund.tt 

Pikoll  und  Potrimp  kommen  wohl  in  Orts-  und  Familiennamen 
vor;  was  sonst  über  sie  heutigestages  bekannt  ist,  geht  vielleicht  auf 
gelehrten  Einfluls  zurück.  Die  Vermutung,  Pikoll  hänge  mit  dem 
Worte  pekla  =  Hölle  zusammen,  ist  wohl  zurückzuweisen. 

Die  Laima  als  Glücks-  und  Liebesgöttin  kennt  man  kaum  weder 
diesseits  noch  jenseits  der  Grenze  mehr,  hingegen  erzählt  man  von 
ihren  Priesterinnen,  den  Laumen  (Druden),  vielerlei.  Sie  vertauschen 
die  Kinder,  ziehen  als  Wassernixen  die  Unvorsichtigen  ins  Wasser, 
tanzen  oder  reiten  nachts  auf  Kühen,  um  von  einem  Orte  an  den 
andern  zu  kommen.  Sie  quälen  das  Vieh  und  necken  die  Menschen. 
Belemniten  oder  Donnerkeile  werden  LaumenfLnger  (Laumes  Pirschtai) 
oder  Laumenzitzen  (Laumes  Papai)  genannt.  Von  Insekten  hervor- 
gebrachter Rindenauswuchs  mit  dürren  Reisern  heilst  Laumenbesen 
(Laumesschlota),  vertrocknete,  abgenutzte  Birkenbündel  oder  Besen- 
reste führen  den  gleichen  Namen  und  auch  das  Blindekuhspiel  trägt 
den  Namen  der  Laumen  (Laumineti). 


Mythologie.  89 

Die  Verpeja  spinnt  den  Lebensfaden  jedes  Menschen  am  Himmel 
ab.     Fällt  ein  Stern,  so  sagt  man:  „Wieder  ein  Mensch  gestorben. u 

Die  Raganos  (früher  „Priesterinnen")  sind  Hexen.  Sie  scheren 
des  Nachts  die  Schafe,  melken  die  Kühe,  so  dafs  der  Bauer  bei  der 
Schafschur  wenig  Wolle  nnd  die  Magd  beim  Melken  keine  Milch  erhält. 
Ihre  Spuren  sieht  man  im  Schneckenschleim  auf  dem  Rasen.  Sie  werden 
auch  Schawieten  genannt  (Behexerinnen).  Wenn  man  sich  bekreuzt, 
haben  sie  keine  Macht. 

Die  Gilt  ine  (von  igelti  =  stechen)  denkt  man  sich  bald  als 
Schlange,  bald  als  Weib.  Sie  ist  die  Todbringerin.  Donalitius  besingt 
den  Heuschnitt  und  braucht  dabei  u.  a.  folgende  Verse  (Passarge, 
Sommer,  S.  434  f.): 

Da  lief  man  in  Massen  zusammen, 

Und  rief  überall  laut:    Lauft,  mäht,  harkt,  bringts  in  Haufen. 

Da  beganns  auf  dem  Feld  wie  ein  Ameisenhaufen  zu  wimmeln, 

Knechte  und  Herren,  alles  bereit,  das  Heu  zu  bereiten. 

Wars  doch,  als  ob  die  Welt,  zum  heifsen  Kampfe  sich  sammelnd, 

Trüge  Schwerter  und  Säbel  hinaus  auf  die  blumigen  Wiesen. 

Bingsum  würgte  sogleich  hohnlachend  Giltine  und  brachte 

Allen  den  lieblichen  Wiesen  umher  unendliche  Klage.  — 

Doch  mit  der  scharfen  Hippe,  als  wollte  sie  alles  rasieren, 

Bäumte  Giltine  auf  den  sämtlichen  Bauern  die  Wiesen. 

In  Sprichwörtern  lebt  der  Name  des  weiblichen  Freund  Hein  noch 
fort.  „Giltine  sieht  nicht  auf  die  Zähne",  sagt  der  Schameite.  Zwei 
andere  Poltergeister  erwähnt  Donalitius  nur  den  Namen  nach:  die 
Piktschurna  und  den  Bildukas.  Er  vergleicht  den  scheltenden 
Winter  mit  der  ersteren.  Der  letztere  erscheint  dem  Fritz  um  das 
Hahnengeschrei  und  schafft  sein  Geld  aus  dem  Kasten  durch  den 
Schornstein.  Beide  kennt  man  jetzt  nicht  mehr,  ebensowenig  die  von 
Moswidius  und  Bretkunas  erwähnten  Götzen  Sehern epatschus  =  Lit. 
Szemepatis  (Erdmännchen,  weibliches  Tierlein)  und  Laukasargus 
(Feldhüter).  Die  Stelle  bei  Bretkunas  heilst:  „Die  Litauer  beteten  an 
die  Schemepatschus  Kaukus",  die  bei  Moswid:  „Vergefst  die  Eaukus 
Schemepatis  und  Laukasargus,  verlalst  alle  Teufel  (welnuwai)  und 
Götter  (deiwes)". 

Die  Wolfenbütteler  Postille  von  1573  l)  kennt  gleichfalls  Scheme- 
patis, Perkun,  Pikullai;  aulserdem  Aitwars  (Etwaras,  Eitwarius),  Kaukai 
Appidemes  (Lasicius:  Apidome),  Kalnus,  Akmonis,  Medzius  (Media), 
Gaius  (Alkus),  Ypes,  Besas,  Czertas,  Welnas. 


*)  8.  85  a:  Tikedami  ing  fzemepaezius,  Eitwarius,  kaukus,  appidemes, 
kalnus,  akmenis,  medzius,  gaius  kaip  ghe  wadinna  alkus,  vpes,  perkunu. 
Tai  wissa  ira  —  presch  pirmughi  ir  antrughi  prisakimu  etc.  —  Kaip  nesang 
welnas  ira  etwaras,  teip  besas  ira  fzemepatis,  teipag  czertas  ira  Apideme, 
teiegi  pikullai  ira  kaukai,  tai  wisa  kruwai  pati  welina  ira,  Tasiegi  welinas, 
biesas,  czertas,  a  pikulas,  kalnai,  Akmeni,  medi,  gaiui,  alkie,  vpei,  kursai  ira 
Eitwarei  fzemepatei,  kaukai  kurios  ghe  meldz.  —  Mittheilung  von  Herrn 
Dr.  Gaigalat. 


90  Die  LitAuer. 

Der  Eauks  ist  ein  litis  -  oder  katzenähnliches  Tierlein,  länglich 
wie  ein  Wiesel  oder  Hermelin,  er  wohnt  unterm  Strohdach  in  den  Eck- 
winkeln. Er  hat  einen  langen  Schwanz,  läuft  schnell,  fliegt  nie.  Er 
ist  des  Hauses  guter  Schutzgeist,  bringt  Getreide  und  Geld,  das  er  den 
Feinden  des  Besitzers  wegnimmt.  Das  Korn  schafft  er  in  die  Elete. 
Wo  ein  Eauks  im  Hause  ist,  werden  die  Vorräte  nie  alle,  man  mag 
noch  so  wenig  geerntet  haben.  Jeder  Besitzer  sucht,  einen  Eauks  zu 
erlangen.  Zu  diesem  Zwecke  vergräbt  man  ein  Ei  in  den  Pferdemist 
und  hütet  die  Stelle  sorgfältig,  bis  das  Ei  verschwunden  und  der  Eauks 
ausgekrochen  ist.  Jeder  sucht  seinem  Eauks  Wohlthaten  zu  erweisen 
und  ihn  nicht  zu  stören. 

Der  Aitwars  ist  dem  Kauks  ähnlich,  bringt  nur  Geld,  ist  aber 
behender  als  der  Eauks  und  kann  auch  dahin,  wohin  dieser  nicht  zu 
kriechen  vermag.  Der  Glaube  an  den  Eauks  und  Aitwars  herrscht  in 
Preufsen  wie  in  Russisch-Litauen.     Donalitius  erwähnt  beide  nicht. 

In  Samogitien  sagt  man  von  einem  flinken  Menschen,  „er  läuft 
wie  ein  Aitwars".  Ähnliche  Wesen,  der  Pukys  (-.Kaulbarsch*1,  Do- 
nalitius) und  derSperuks  (Schpiruks),  sind  im  eigentlichen  Samogitien 
unbekannt,  doch  kennt  man  in  Olsiady  den  Bugys.  Das  ist  ein  böser 
Geist  in  Gestalt  eines  kleinen  Mannes,  mit  dem  man  die  Kinder 
erschreckt,  sowie  man  in  Mitteldeutschland  mit  den  Worten  Furcht 
einzujagen  sucht:    „ Jetzt  kommt  das  Graumännchen. u 

Den  Wirbelwind  (Wesuls)  falst  man  wohl  nirgend  mehr 
dämonenhaft  auf. 

Die  Barsduken  (Zwerge),  die  im  Wirbelwind  erscheinen,  kennt 
man  in  Preufsisch  -  Litauen,  nicht  in  Samogitien.  Dafs  ein  Zusammen- 
hang dieses  Wortes  mit  dem  von  den  gefragten  Burschen  sofort  damit 
in  Verbindung  gebrachten  Barsiuks  (Dachs)  vorliegt,  dessen  Fett  als 
Heilmittel  verwandt  wird,  ist  wohl  nicht  anzunehmen.  Man  hält  jenes 
Wort  vielmehr  mit  Lit.  pirfstas  (spr.  pirschtas,  Finger)  verwandt  und 
meint,  es  bedeute  „Däumling".  Diese  Däumlinge  kennen  alle  slawischen 
und  germanischen  Völker. 

Gewisse  Lichterscheinungen  setzen  besonders  die  Fischer  in  Er- 
staunen und  erfüllen  sie  mit  Aberglauben.  So  sehen  die  Leute  in  ihren 
Eähnen  öfters  bei  klarem  Wetter  drüben  auf  den  hohen  Sandbergen 
der  Nehrung  riesengrolse  graue  Gestalten,  die  sich  rüstig  vorwärts 
bewegen  und  ihre  Grötse  verändern.  Es  sind  Strahlenbilder  von 
Wanderern,  die  durch  eigenartige  Strahlenbrechung  und  Spiegelung 
hervorgerufen  werden. 

Bei  Gewittersturm  bemerkt  man  an  der  Mastspitze  und  den  Leinen 
öfters  einen  Phosphorschein,  es  ist  das  St.  Elmsfeuer.  Beide  Erschei- 
nungen setzen   „nicht  gereiste"  Fischer  in  abergläubischen  Schrecken. 

Inwieweit  die  Mittagsfrau  oder  das  Roggengespenst  bekannt  ist, 
vermag  ich  nicht  zu  entscheiden.  In  Jonaten  hörte  ich,  ein  weifses 
Weib  (Obaks)  vertreibe  die  Einder  aus  dem  Getreide;   ob  das  Wort 


Geister  und  Dämonen.  91 

etwa  Ubag8,  Ubage  (Bettler,  Bettlerin)  heilsen  soll?  In  Deutsch- 
krottingen  warnt  man  die  Kinder,  nicht  ins  Getreide  zu  gehen,  der 
Pohpoh,  Kornpopel  (Baidykle,  Beidiklis)  oder  der  Jud  komme  sonst, 
letzterer  stecke  die  Kinder  in  den  Sack. 

Die  Mate  (Mutter,  auch  Gebärmutter)  ist  dem  Namen  nach  lettisch 
and  bezeichnet  ein  froschähnliches  Wesen,  das  im  Inneren  des  Menschen 
sitzt  und  ge wisser mafsen  der  Träger  seines  Lebens  und  seiner  Gesund- 
heit ist.  Durch  Überanstrengung  im  Heben  oder  Essen  schädigt  man  die 
mate,  es  entsteht  dann  Kolik  oder  Gebärmutterkrankheit.  ImTelscher, 
Rossienischen  und  Schaulener  Kreise  bezeichnet  man  mit  Maziza  mate 
eine  Gebärmutterkrankheit.  In  ähnlicher  Weise  bedeutet  daselbst  das 
Wort  Gumbs  nur  Magenbeschwer  oder  Kolik«  Bei  Donalitius  drückt 
der  Gumbs  das  Herz,  quält  beim  Erschrecken,  plagt  den  Magen  bei 
übermälsig  genossenem  Kaviar  und  wird  durch  Branntwein  vertrieben. 
Eine  litauische  Zauberformel  aus  der  Memeler  Gegend  enthält  die 
Worte:  „Ich  gehe,  dreimal  neun  Gumbs  zu  vertreiben  —  kehr  nicht 
wieder,  du  böse  Gumbele."  In  Olsiady  bezeichnet  man  mit  Gumbs  eine 
Beule,  als  Geist  in  Froschform  kennt  man  ihn  nicht. 

Die  Ausdrücke  Pikta-dwase  (böser  Geist  als  Verführer),  Schaltys 
(böser  Geist  in  Schlangenform  als  heftiger,  gefährlicher  Widersacher) 
und  Rupusche  (böser  Geist  in  Krötenform)  werden  im  Telscher 
Kreise  gebraucht,  sind  jedoch  häufiger  Schimpfwörter;  die  Ableitungen 
Rupuschokos,  Rupuschele,  Schaltuks  sind  nur  Schimpfwörter.  Über 
den  ehemaligen  Schlangenkultus  sind  wir  durch  eine  grotse  Reihe  von 
Zeugen  unterrichtet.  Äneas  SilviuB  (De  Polonia,  Lituania  et  Prussia) 
erzählt  auf  Grund  von  Nachrichten  des  litauischen  Missionars  Hiero- 
nymus  von  Prag,  jeder  litauische  Familienvater  habe  in  einem  Winkel 
des  Hauses  eine  Schlange.  Während  sie  auf  dem  Heu  lag,  wäre  sie 
angebetet  worden,  auch  habe  man  sie  mit  Speise  versorgt.  Als  Hiero- 
nymus  die  Schlangen  auf  dem  Marktplatze  zu  verbrennen  befahl,  konnte 
eine  grofse  Schlange  vom  Feuer  nicht  verzehrt  werden.  Dann  be- 
kundet Sebastian  Münster,  die  Litauer  hätten  ursprünglich  als  Numina 
das  Feuer,  die  Wälder,  die  Vipern  und  Schlangen  verehrt,  welch  letztere 
sie  in  den  einzelnen  Häusern  wie  Penaten  genährt,  mit  Opfern  bedacht 
und  verehrt  hätten.  Desgleichen  hätten  sie  ein  beständiges  heiliges 
Feuer  unterhalten.  In  Münsters  Illustration  beten  zwei  sich  den 
Kücken  kehrende  Litauer  ein  Opferfeuer  auf  dem  Altar  und  eine 
Schlange  am  Baume  an.  Münster  erzählt  auch,  dafs  sie  die  „vier- 
fülsigen  Schlangen,  so  nur  drei  Spannen  lang  sind",  für  ihre  Haus- 
götter halten  (Kosmogr.  1550,  S.  906;  1598,  S.  1413).  Dieser  Bericht 
Münsters  wurde  fleifsig  nachgedruckt,  er  findet  sich  zum  Teil  wieder 
beim  Krakauer  Kanonikus  Mathias  a  Miechow  (Descriptio  Sarmatiarum 
1521),  dann  bei  Striykowski,  der  hinzufügt,  bei  Wilna  würde  der 
Schlangenkultus  noch  von  vielen  getrieben.  Ihn  benutzten  Erasmus 
Stella  (Antiauitates  Borussiae),  Joh.  Krasinski  (Polonia  1574),  Andr. 


92  Die  Litauer. 

Cellarius  (Descriptio  Regni  Poloniae  1659),  Lasicius  (de  diis  Samagi- 
tarum  1615),  Jansson,  Atlas  1613  (vergl.  Preuls).  Sigmund  von 
Herberstein  ergänzt  Sebastian  Münsters  Angaben  in  seiner  Moscovia 
(1549,  1557).  Man  nenne  diese  Schlangen  Giowites,  Jastznka  oder 
Szmya.  Sie  seien  wie  die  Eidechsen,  aber  grötser,  vierfülsig,  schwarz, 
feist,  ungefähr  drei  Spannen  lang.  Zu  einer  bestimmten  Zeit  setze 
man  Milch  inmitten  der  Wohnung  auf  und  kniee  auf  den  Bänken, 
dann  komme  der  Wurm  hervor,  pfeife  die  Leute  wie  eine  zornige 
Gans  an  und  dann  beteten  die  Leute  den  Wurm  mit  Ehrfurcht 
an.  Wenn  ihnen  etwas  Unangenehmes  geschähe,  so  lebten  sie  des 
Glaubens,  sie  hätten  ihren  Gott  nicht  gut  gefüttert.  Noch  jetzt 
braucht  der  Litauer  das  Wort  Gymate  euphemistisch  für  Schlange, 
Gywas  bedeutet  lebendig,  Gywolis  Lebewesen,  Gywata  ein  Bauerngut 
und  zugleich  die  ewige  Hütte,  die  ewige  Seligkeit.  Ein  Gywatininkas 
ist  der  Bewohner  einer  ländlichen  Besitzung.  Kaum  genug  zu  poeti- 
schen Verbindungen  bieten  diese  beiden  Worte.  Die  Jastznka  scheint 
die  polnische  Eidechse  zu  sein,  Schmya  ist  das  noch  jetzt  bei  den  tsche- 
chischen und  lechischen  Stämmen  übliche  Wort  für  Schlange.  Nehring 
(Die  Anbetung  der  Ringelnatter  bei  den  alten  Litauern,  Samogiten  und 
Preuls en,  Globus  73,  4)  meint,  es  sei  die  Ringelnatter  gewesen,  die  man 
verehrt  hat  Ich  glaube,  man  hat  noch  andere  derartige  Tiere  ver- 
ehrt, denn  Münsters  Angabe  von  der  vierfüfsigen  Schlange,  der 
Hinweis  auf  einen  kundigen  Gewährsmann  und  das  allerdings  frag- 
liche Wort  Jastzuka,  alles  dies  scheint  auch  auf  eine  Eidechse,  einen 
Molch  oder  d ergleiche d  zu  deuten. 

Die  Weles,  die  nach  Daukantas  im  Volksglauben  der  Litauer 
die  Seelen  der  unbegrabenen  Verstorbenen  sind  und  nach  Bartsch 
diese  abholen,  kennt  man  in  Samogitien  nicht  mehr,  hingegen  ist 
der  Glaube  an  den  Weins  (Teufel)  über  das  ganze  litauische  Sprach- 
gebiet verbreitet.  Bei  Donalitius  (Lenz  214)  flucht  ein  stattlich  ge- 
kleideter Herr,  der  obersten  einer,  bei  allen  groben  und  kleinen 
Teufeln  (Welnias,  Welniuksztis),  dats  die  Hölle  aufdampft.  Der  Weins 
oder  Welnias  entspricht  dem  biblischen  Satan,  heifst  auch  Biesas, 
Schetons,  Tscharts,  Tschertas,  und  wird  gern  in  der  Duoba 
wohnend  gedacht  Alle  diese  Worte,  wie  auch  die  Ableitungen  Wel- 
nuks,  Biesuks  gebraucht  man  auch  als  Schimpfworte. 

Den  Smakas,  der  in  den  lit.  Mitteil.  I,  395,  mit  den  wenig 
verständlichen  Worten  charakterisiert  wird:  „Der  Lindwurm,  der 
aber  in  seiner  äufseren  Erscheinung  mehr  dem  Menschen  ähnelt", 
bezeichnet  in  Russisch  -  Litauen  einen  starken ,  furchtbaren  Teufel. 
Man  erzählt  sich  dort  viele  Geschichten  von  ihm.  Auf  einem  Altar- 
bilde der  Olsiader  Kirche  ist  ein  Gentaur  abgebildet,  den  das  Volk  all- 
gemein als  das  Bild  des  Smakas  deutet.  „Stark  oder  schrecklich,  wie 
ein  Smakas" ;  „er  greift  zu,  wie  Smakas",  sind  daselbst  sprichwörtliche 
Redensarten. 


Zauberei,  Schatzgräberei,  Krankheitsbesprechung.  93 

Dafs  es  trotz  der  Predigten  der  Priester,  die  derlei  Glauben  auszu- 
rotten aufs  eifrigste  bestrebt  sind,  noch  so  vielerlei  alte  Anschauungen 
giebt,  beweist  ihr  Alter  und  ihre  Kraft.  Hier  und  da  hat  man  noch 
Zauberbücher,  die  man  aber  nicht  sehen  läfst.  Zur  Wahrsagerin 
{Burtininke,  „die  Karten  benutzt  sie  nicht")  gehen,  wie  in  ganz  Deutsch- 
land, fast  nur  verliebte  Mädchen  und  Witwen.  Im  Kufe  der  Zauber- 
kunst stehen  in  Samogitien  besonders  die  Bärenführer  (Meschkininkai) 
and  die  Juden.  Die  Bärenführer  legen  Bärenhaare  unter  die  Thür- 
sch  welle,  um  das  Yieh  zu  verzaubern.  Die  Fleckchen  eines  bösen 
Fingers,  Streifen  eines  Tuches  darf  man  nicht  aufheben,  sonst  wird 
man  krank.  Man  wirft  sie  ins  flielsende  Wasser  oder  legt  sie  auf  den 
Zaun,  dafs  mit  dem  Fleckchen  auch  die  Krankheit  vertrieben  wird. 
Der  Juden  bedient  man  sich  bei  Verzauberungen  deshalb,  weil  sie  viel 
dringender,  eifriger  und  zudringlicher  beten  und  handeln  können.  Man 
giebt  ihnen  Geld,  dafs  sie  des  Feindes  Tod  oder  Unglück  durch  ihr 
Beten  bewirken,  oder,  dafs  sie  die  Auffindung  eines  Pferdediebes 
durch  Gebet  befördern  sollen.  Nicht  viel  anders  ist  es,  wenn  man  dem 
Pfarrer  einen  Eubel  für  eine  Messe  giebt  (Misches  uschpirkti),  die  den 
Pferdedieb  herbeiwünschen  und  das  Geständnis  der  Schuld  bezwecken 
soll;  oder,  wenn  die  frommen  Weiber  (Da watkos  =  „Devote?"  oder 
Polnisch  oder  zu  Litauisch  Dawadas  =■  Ordnung,  wie  Methodisten, 
Stundisten  und  die  polnischen  Gromadki)  zum  Pastor  gehen,  er  soll 
ihnen  gegen  Bezauberung  oder  Krankheit  Absolution  lesen  (Absortas 
akaititi),  cL  h.  aus  einem  lateinischen  Buche  unverständliche  Worte 
hersagen.  Auch  Schatzgräberei  treibt  man  hier  und  da.  Wo  man 
dreimal  ein  Flamm chen  aufflackern  sieht,  ist  Geld.  Dahin  legt  man 
ein  geweihtes  Kreuz  oder  den  Rosenkranz;  beides  kann  der  Teufel, 
wenn  es  geweiht  ist,  nicht  wegnehmen.  Nachts  gräbt  man,  wobei  der 
Teufel  immer  stören  will.  Das  Graben  ist  nur  von  Erfolg,  wenn  man 
„drei  Köpfe  heruntergethan"  hat.  Ob  das  Kohlköpfe,  Hühnerköpfe 
oder  Menschenköpfe  sein  müssen,  weifs  man  aber  nicht. 

Das  Geld  erscheint  dann  in  Form  eines  Kalbes  oder  Hundes  etc. 
Schlägt  man  den  Hund  mit  Holz  an,  wird  er  zu  lauter  Geld.  Das 
Loch  muls  der  Gräber  auflassen,  sonst  werden  die  Augen  krank.  — 
.Ein  böser  Bursche  hat  einst  einen  toten  Hund  gefunden,  den  warf  er 
nach  seinem  Gegner;  der  fand  ihn  am  andern  Morgen  in  Geld  ver- 
wandelt. 

Gegen  Krankheit  bedient  man  sich  zahlloser  Hausmittel,  Be- 
sprechungsformeln u.  dergl.  So  verwendet  man  gegen  das  Überbein 
Totenknochen,  mit  denen  man  die  betreffende  Stelle  reibt.  Eine  Ver- 
stauchung (Lit.  Girgszdele)  sucht  man  zu  vertreiben,  indem  man  ein 
Band  um  das  Handgelenk  wickelt.  Als  stets  heilkräftig  gelten 
neben  geweihten  Wacholderbüscheln  Abendmahlsoblaten  und  „Wolken- 
abfälle u  (Debesilai).  Erstere  kann  man,  wenn  auch  sehr  selten,  durch 
Juden  kaufen,  letztere  sind  angeblich  Sternschnuppen  und  eine  „weiche, 


94  Die  Litauer:  Tieraberglauben,  Lockrufe,  Bräuche,  Geräte. 

gallertartige  Masse",  meist  ausgekrochene ,  unverdaute  Raubtier  speise. 
(Donalitius:  Debesylas  =  Alant  nach  Nesselmann;  Gryta  will  den  bei 
einer  Prügelei  zerschlagenen  Dotschys  mit  Alant  und  anderen  Kräutern, 
Selmyke  und  Berge  mit  Salben,  Jeke  mit  einer  Abkochung  von  kräftigen 
Kräutern,  Porst  und  ßirkenteer,  Daggert,  heilen.)  Magerem  Vieh 
giebt  man  Krebse  und  zerhackte  Schlangen  zur  Kräftigung,  gegen  Toll- 
wut hilft  ein  Getränk,  aus  saurer  Milch  und  besonderem  zerriebenem 
Holz  (cica  medis)  bereitet.  Saure  Milch  löscht  auch  das  durch  Blitz 
entstandene  Feuer. 

Die  Träume  und  Vorahnungen  weisen  auf  die  rege  Beziehung- 
zur  Tierwelt  hin.  Solange  der  Hund  heult,  ist  bei  Kranken  keine 
Gefahr  im  Anzüge;  ist  aber  das  Heulen  und  Bellen  anhaltend,  so 
stirbt  in  dem  betreffenden  Gute  eins.  Träumt  man  von  einem  bellen- 
den Hunde,  so  stölst  einem  Übles  zu.  Der  Storch  wird  geschont, 
schielst  man  ihn,  so  brennt  das  Haus  an.  Läuft  eine  Katze  oder  ein 
Hase  über  den  Weg,  so  bedeutet  dies,  wie  das  Erscheinen  eines 
Kometen,  Unglück.  Wäscht  sich  die  Katze  mit  der  Pfote,  so  kommt 
Besuch;  dieser  Glaube  herrscht  in  Mitteldeutschland  auch.  Der  Ruf 
des  Kuckucks  bedeutet  Tod;  im  Herbst  wird  der  Kuckuck  zum 
Habicht.  Die  Stimme  der  Nachtigall  lautet:  „ Georg,  spann  anr 
schlag  zu,  fahr";  die  der  Wachtel:  Wachauf;  die  der  Schwalbe,  wie 
Rückert  im  deutschen  Liede  ähnlich  sagt:  Als  ich  Abschied  nahm,  waren 
Eist'  und  Kasten  schwer,  als  ich  wiederkam,  war  alles  leer.  Die  Hühner 
lockt  man:  put,  put;  die  Küchlein:  tschip,  tschip,  tik,  tik;  die  Hühner 
scheucht  man:  schtisch,  schtisch.  Die  Gänse  ruft  man:  schut,  schut; 
die  Enten:  pile,  pile;  die  Schafe  bure,  bure;  die  Fohlen:  gusche,  gusche 
oder  kusch,  kusch;  die  Kälber:  prtsch,  prtsch  oder  verschelai,  verschelai 
oder  mit  vibrierenden  Lippen:  tpwruk,  tpwruk.  Für  diesen  Laut 
hat  die  litauische  Schreibweise  ebensowenig  ein  Zeichen,  als  das  deutsch- 
lateinische Alphabet  der  deutschen  Sprache  für  die  Schnalzlaute,  mit 
denen  der  deutsche  Bauer  Schweine,  Federvieh  und  Binder  lockt.  Die 
Katzen  scheucht  man:  schkatsch,  schkatsch  und  lockt  sie:  kat,  kat. 
Die  Schweine  ruft  man:  tschuk,  tschuk  oder  kjaule,  kjaule. 

Einige  Bräuche  sind  noch  verbreitet:  Man  fährt  nie  bei  Nordwind 
Dünger.  Das  Messer  hält  man  nie  nach  oben.  Hat  man  den  Schlucken, 
so  spricht  anderes  Volk  über  einen.  Träumt  man,  man  verliere  einen 
Zahn,  so  stirbt  man. 

VII.     Geräte. 

Als  die  auffälligsten,  von  den  Deutschen  unterschiedenen,  weib- 
lichen Schmuckstücke  (Abbildungen  12  und  13)  führt  Lepner  fol- 
gende auf :  Kieka  oder  Zebszius  (Schleierhaube) ,  Marginne  (bunte 
Decke),  Paresken,  Blumensträufse  von  Raute,  Krauseminze,  Marien- 
blätter und  dergleichen,  Messingringe,  Messing-  und  Zinngürtel,  bunte 


1 1 


Litauer  am  Ende  des  19.  Jahrhundert*. 

kugeln  (Titschern),  Tanz.  Die  veralteten  Ansichten  Lepners  über  die 
litauische  Sprache  (als  Proben  giebt  er  aufser  Worten  das  Vaterunser 
in  der  Form  der  Katechismen  Simon  Grünaus  und  seiner  Zeit)  übergehe 
ich  hier,  die  Wörterbuch  schrei  her  un  gedruckter  Wörterbücher  auch, 
als  beste  GesangbuchBdichter  gelten  ihm  Klein,  Hurtelius,  Prätoriua, 
Schwabe,  als  litauische  Schriftsteller  von  Ruf  Rapagelanus,  Moswid, 
Willentue,  Sengatock,  Bretke,  Joh.  Rhesa. 

Die  Kriwule  bat  sich  bis  heute  am  Haff  erhalten.      Ein  Litauer  in 
Eydtkuhnen  erzählte,  dafe  zu  seines  Vaters  Zeiten  sehr  oft  Tom  Neben- 


Geräte.  97 

Hanse  die  Kriwule  gebracht  worden  sei.  In  fliegendem  Laufe  sei  sie  ^ 
ohne  Bemerkung  oder  mit  einfacher  Zeitangabe  abgegeben  worden  und 
mulste  sofort  zum  Nachbar  weitergeschafft  werden.  Der  letzte  im 
Dorfe  brachte  sie  zum  Schulzen  zurück.  Sofort  nach  dem  Erhalt  der 
Kriwule,  oder  auch  zur  festgesetzten  Zeit,  versammelte  man  sich  dann, 
und  wer  zu  spät  kam,  zahlte  Strafe.  Aulser  dem  vielgebogenen  Stock 
(Abb.  14)  gab  es  auch  noch  eine  Kriwule,  die  nichts  als  ein  vielgewun- 
dener Griff  in  Geweihform  war  und  mit  einer  Pfeife  und  einem  Loch 
zum  Einschrauben  des  Stockes  (Abb.  15)  versehen  war.     Ähnlich  geht 

Abb.  14. 


Gemeindestock  oder  Kriwule  (Stock).  Stockgriff. 

in  Sachsen  (Döbern,  Priestäblich,  Doberschütz,  Fremdiswalde,  Burkarts- 
hain,  Schwemmthal)  der  „Hammer",  bei  den  Easchuben  der  „Bock", 
bei  den  Tschechen  der  „Gemeindestock",  bei  den  Sorben  „Klucke"  oder 
„Heja",  bei  den  Polen  die  „Tafel"  herum.  In  manchen  litauischen  Gegen- 
den bezeichnet  man  mit  Kriwule  dann  auch  die '  Zusammenkunft  der 
Dorfjugend,  besonders  an  den  Abenden  des  zweiten  Feiertags  und  in 
den  zwölf  Nächten.  An  diesen  Bocken abenden  ist  es  natürlich  lustig 
hergegangen,  man  vermutet  sogar,  dafs  der  Name  Krawall  nichts  als 
eine  Umbildung  von  Kriwule  sei,  womit  man  jene  Versammlungen  be- 
zeichnet habe.  Es  bliebe  da  zu  untersuchen,  wo  das  mittellateinische 
Wort  charavallium  (Katzenmusik,  Lärm)  entstanden  ist  und  wie  dies  mit 
Kriwule  zusammenhängt.  Jetzt  leitet  man  meist  Krawall  von  jenem 
mittellateinischen  Worte  ab.  Neben  dem  Gemeindestock  entstand  ein 
Schulzenstab,  etwas  gröfser  als  ein  gewöhnlicher  Spazierstock,  nun  aber 
auch  aulser  Gebrauch.  Ehemals  trug  der  Schulze  den  Krumm stab  als 
Zeichen  seiner  Würde  und  sandte  ihn  als  Symbol  herum.  Jetzt  ist  die 
Kriwule  meist  nun  ein  einfaches  Schriftstück.  Im  Walddorfe  Szargillen 
ging  dieser  „Krawul"  kürzlich  herum,  und  kurz  darauf  kam  der  Gemeinde- 
diener, den  angekündigten  Steuergroschen  zu  holen.  Eine  Kätnersfrau 
wollte  nicht  bezahlen  und  der  Diener  nahm  irgend  einen  Gegenstand 
als  Pfand.  Da  griff  die  Dame  nach  der  Forke  und  schlug  auf  die 
räuberische  Hand  und  den  Rücken  des  Dieners.  Der  ging  aufs  Labiauer 
Schöffengericht,  wurde  aber  abgewiesen,  weil  der  Kätner  aussagte,  der 
Krawul  sei  gar  nicht  in  seine  Hände  gekommen.  Der  Gerichtshof 
ging  noch  weiter  und  war  der  Meinung,  jene  Sitte  sei  keine  ordnungs- 
gemäße behördliche  Benachrichtigung. 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  7 


98  Die  Litauer. 

Charakteristisches  Hausgerät  besitzen  die  Litauer  nicht  mehr. 
Tisch,  Bank,  Stuhl,  Bett,  Wiege,  Koffer,  Kommode  sind  wie  in  gans 
Deutschland;  eine  eigentümliche  Sesselform  ist  nicht  selten,  bei  der 
die  Fütse  auf  einem  Rahmen  enden.  Die  festen  Wandbänke  unter- 
scheiden sich  von  der  verrückbaren  Sitzbank  vor  dem  Tisch.  Diese 
drei  Stücke  geben  jedem  Krug  sein  Gepräge,  der  eben  nichts  weiter 
enthalt,  als  die  lange  Tafel  mit  den  Bänken.  In  Russisch  -Litauen 
i       Abb.  IS.  bietet     der     Lichtet  ander     (Schubinkschtis, 

■'  Schibintnwas)  noch  eine  Erinnerung  an  ältere 

Zeit.     Zu  Lepners  Zeit  war  er  noch  allgemein 
in   Gebrauch,  Rhesa  kennt  ihn  noch  auf  den 
Haffdörfern,  heute  ist  selbst  in  die  entlegensten 
seh  am  ei  tischen  Weiler  die  Petroleumlampe  ge- 
kommen ;    nur   selten    ist    er    noch    zu   finden. 
Eine  1  V»  m  hohe  Holzstange  mit  Fufs  ist  mit 
einer  kürzeren,  verstellbaren   zweiten  verbun- 
den, die  oben  eine  Zwicke  als  Spanhalter  trägt. 
Dieser  Kienspan  (Skala)  wird  abends  angebrannt 
und    dient    als    Licht   (Schiburys ;    Donalitiue : 
Ziburys,  Kienspan  als  Leuchte).     An  der  Seite 
des  Standers  hängt  ein  Bündel  Kienspäne   als 
Vorrat    (Abb.  16).      Der  Lichtständer   tritt    in 
mehreren   Abarten   auf;   an   Stelle  der  Zwicke 
befindet   sich   oft    eine  rostartige  Eisenpfanne. 
Diese    Lichtpfanne    enthält    brennende    Kien- 
späne   und  steht  entweder  auf  einem  Ständer 
oder    hängt    an    der   Decke.      Die    erste re   Art 
habe  ich  genau  in  derselben  Weise  beim  persi- 
schen Moharemfeste  in  Smyrna  gesehen.     Der 
Hof,  auf    dem   die    eigenen   nächtlichen   Tänze 
und  blutigen  Selbstverwundungen   der  schiiti- 
sehen  Mohammedaner  stattfanden,  ward  einzig 
durch  solche  Lichtständer  erhellt. 
Ton  anderem  Hausgerät  verdient  die  Handmühle  noch  Erwäh- 
nung.    Heute  besorgen  freilich  fast  allgemein  Dampfmühlen  oder  doch 
Wasser-    und   Windmühlen    das  Geschäft  der   Mehlbereitung.      Einst 
füllte  aber  das  Mahlen  einen  grolsen  Teil  der  täglichen  Thätigkeit  ans. 
Die  Dainos  gedenken  wiederholt  der  Mühle,  und  alte  Zeugnisse  (vergl. 
Tetzner,  Dainos,  S.  9)  erwähnen  den  Gesang  beim  Mahlen.    In  einem 
besonderen  Häuschen  besorgte  man  ehemals  die  Mehlbereitung  (Abb.  17). 
Ein  Holzgestell  von   Im  Höhe  und  Breite  und  l'.'^m  Länge  enthält 
im  Inneren  in  einem  cylinderförmigen  Loch  eine  wagerecbt  liegende 
feste  und  darüber  eine  ebensolche  drehbare  Steinscheibe.     Die  Dreh- 
scheibe ist  unten  gerieft,   hat  in  der  Mitte  ein  durchgebendes  Loch 
(Lit,  Kazuba;   man   vergleiche    den   Tolksnamen   der  Kaschuben)  zur 


Handmühle.     Kanklys.  99 

Aufnahme  des  Getreides  und  nahe  am  Bande  ein   »weites  Loch   zum 

Drehen.     Gewöhnlich  reicht  eine  über  dem  Centnun  festgemachte,  zum 

Drehen  dienende  Stange  Abb.  IT. 

ine  Drebloch  herab.  Am 

Bande  der  festen  Scheibe 

befindet    sich    ein    Ab- 

flnfsloch    für    das  Mehl 

oder    vielmehr    für    die 

Grütze.    Denn  höchstens 

dazu  benutzt  man  die 

Bandmühle  noch. 

Hölzerne   Pflüge 
(Zochen)  nnd  hölzerne 

Eggen     machen     den  , 

eisernen  Platz.      Wagen 
und  Schlitten  der  unbe- 
holfenen und  zusammen-  Handmühte. 
gestoppelten    alten    Art 

werden  immer  seltener.  Ein  schöner  hölzerner  litauischer  Renn- 
Schlitten,  der  Jetzt  im  Prussiamuseum  aufbewahrt  wird,  zeigt  aber, 
zu  welcher  Höhe  die  heimische  Kunst  gedeihen  kann.  Gleichfalle 
ersichtlich  ist  dies  aas  den  zierlichen  Giebelverzierungen,  die 
hier  nnd  da  in  Preufsisch-  und  Russisch- Litauen  zu  sehen  sind.  Sie 
begegnen  uns  in  der  Form  von  Hörnern,  gegenüberstehenden  Pferde- 
köpfen, sowie  als  Herz,  als  eine  Art  Reichsapfel,  Kelch  u.  dergl. 
Wahrend  in  Buesisch-  Litauen  die  Grabkreuze  völlig  gleich  sind,  ist 
auf  alten  preulsischen  Kirchhöfen  gröbere  Mannigfaltigkeit. 

Die  altertümlichen  litauischen  Musikinstrumente  sind  jetzt  allent- 
halben durch  Geige  und  Ziehharmonika  verdrängt,  doch  fristen  auch 
noch  Kankljs,  Cymbal,  Truba  und  Pfeife  ein  verborgenes  Dasein. 

Die  Kanklys  (Abb.  18)  ist  das  eigentümlichste  jener  Instrumente; 
es  wurde  auch  Schweinskopf  genannt.  Wahrscheinlich  soll  das  auf 
Lepuers  Bild  (Abb.  12)    am  Boden  Abtp   18_ 

befindliche  eine  Kanklys  sein.  Die 
Exemplare  im  Königsberger  Prussia- 
museum und  Tilsiter  litauischen 
Museum  sind  anders  gestaltet.  Sie 
ist  wie  eine  Guitarre  oder  auch  wie 
eine    Zither    gespielt    worden    und  Kanklys. 

konnte  auch  umgehängt  werden,  so 

dals  mau  sie  im  Freien  oder  bei  Aufzügen  benutzen  konnte.  Von  den 
litauischen  Gelehrten  des  vorigen  Jahrhunderts  haben  nur  wenige  die 
Kanklys  in  Gebrauch  gesehen;  Riesa,  Nesselmann,  der  Übersetzer  von 
Juschkiewitschs  Hochzeitsgebräuchen  von  Wielona,  beweisen  schon 
durch  ihre  falsche  Verdeutschung,   dafs  die  Kanklys  dem  litauischen 


100  Die  Litauer. 

Vülksbewufstsein  ganz  fremd  geworden  ist»  Sie  soll  aber  doch  noch 
hier  und  da  gespielt  werden,  nach  Budrius  wurde  sie  ähnlich  der  Zither 
behandelt  (vergL  Neue  preuls.  Prov.-BI.  1847  u.  1848),  Juaohkiewiteeh 
erwähnt  sie  ja  auch.  Die  Besaitung  der  neunsaitigen  Kanklys  soll 
eine  Oktave  mit  dem  Baisgrundton  umfafst  haben.  Die  grölst  e  Höhe 
der  grolsen  Königsberger  Kanklys  betragt  85,  die  Breite  35  cm;  die 
kleine  (siehe  Fig.  17)  aus  Schon  ei  hat  knapp  zwei  Drittel  der  Malse 
jener.  Die  grotse  Kanklys  ist  jetzt  mit  Darmsaiten,  die  kleine  mit 
metallenen  neu  versehen.  In  Deutschcrottingen  soll  man  noch  einzelne 
Exemplare  haben. 

Die  Truba,  die  auch  Lepner  bietet,  ist  bis  l'/jm  lang  und  be- 
steht aus  einem  ausgehöhlten  Birkenast,  den  man  zu  diesem  Zwecke  der 
Länge  nach  zerschnitt.  Man  bindet  die  ausgehöhlten  Hälften  mit 
Tannen  wurzelchen  aneinander,  biegt  das  Schallloch  breit  aus,  fugt 
aber  kein  Mundstück  ein.  Früher  spielte  die  Truba  bei  Hochzeiten, 
Kindtaufen  und  lärmenden  Umzügen  eine  Rolle,  jetzt  hat  sie  sich  zu 
den  Hirten  geflüchtet  und  wird  hier  und  da  aus  Blech  nachgebildet. 

Die  Trommel  und  die  Fiedel,  auch  von  Lepner  erwähnt, 
weichen  von  den  bekannten  Formen  nicht  ab. 

Die  Pfeifen  treten  in  mehrfacher  Gestalt,  als  Längs-  und  Quer- 
pfeifen, auch  als  künstliche  Thonpfeifen  auf.  Die  von  Lepner  ab- 
gebildete würde  litauisch  fleta  oder  klernata  (nach  dem  deutschen  Flöte, 
Klarinette)  genannt  werden.  Kurze  Längspfeifen  aus  Rohr  werden  in 
einem  Prussiakatalog  Skurduczei,  ech&meitisch  Wamzdelei  genannt 
Doch  teilte  mir  eine  Schameite  mit,  in  der  Olsiader  Gegend  nenne  man 
eine  solche  Pfeife  Birbyne,  während  der  Ausdruck  Womsdis,  Womsdelis 
für  Thonpfeifen  in  Tierform  verwendet  werde.  Nesselmann  übersetzt 
des  Donalitius  Wort  birbyne  mit  Kinderschnarre,  die  nach  meinem 
Gewährsmann  in  Schameiten  Tarszkine  genannt  wird. 

Die  Maultrommel  (Dambras,  Dambrelis)  in  Hufeisenform,  auch 

Brummeisen   oder   Brummholz  genannt,   ist   verschwunden.      Jetzt 

Abb.  1»  haben    die    Kinder    ein 

kleines  Instrument,   das 

sie      beispielsweise      in 

Leipzig        Brummeisen 

nennen.  Es  ist  5  cm  lang 

und  4  cm  breit,  besteht 

aus  Eisen  draht  und  hat 

die  Gestalt  eines  Kreises, 

Cymbel.  der  auf  der  einen  Seite 

in  zwei  Stäbchen  endet 

£^- .      Als    Kreisdurohmesser    mündet    zwischen    den    Stäbchen    eine 

elastische  Feder  mit  Haken.    Die  beiden  Stäbchen  nimmt  man  zwischen 

die  Zähne  und  lälst  die  Feder  schnappen.    Es  entsteht  ein  brummender 

Ton.     Auch  vom  Brummtopf  scheint  man   nichts  mehr  zu  wissen. 


Hausbau.  101 

Er  besteht  aas  einem  Topf,  über  den  man  eine  Schweinsblase  spannt. 
In  der  Schweinsblase  hat  man  innen  Pferdehaare  verknotet,  die  man 
durch  die  nassen  Finger  gleiten  l&fst.  Der  brummende  Ton  klingt 
unschön,  kreischend. 

Die  Cymbel  ist  noch  heute  bei  den  Zigeunern  in  Gebrauch,  in 
Litauen  ist  sie  schon  selten.  Die  nebenstehend,  nur  mit  Andeutung 
der  Besaitung,  abgebildete  (Abb.  19)  trapezartige  hat  114  Saiten  (drei 
Oktaven)  und  wird  mit  kleinen  Holzhämmerchen  geschlagen.  Ich  sah 
sie  auf  einer  Eisenbahnfahrt  von  Wilna  nach  Dünaburg  in  Gebrauch. 

VHL     Hausbau. 

1.  Das  Wohnhaus.  Das  einfachste  und  altertümlichste 
litauische  Wohnhaus  diesseits  und  jenseits  der  Grenze  ist  dreiteilig- 
Das  Rechteck  des  Grundrisses  ist  der  Länge  nach  so  geteilt,  dafs  die 
Thür  in  der  Mitte  der  Vorderseite  in  die  Hausflur  a  führt,  auf  der 
sich  der  Herd  5  befindet.  Rechts  geht  eine  Thür  in  die  Wohnstube 
(c  stuba,  istuba,  jizba),  links  eine  solche  in  die  Kammer  (d  kamare, 
kumburis).  Die  Wohnstube  hat  ein  Fenster  auf  der  Hausthürseite,  die 
Kammer  ist  finster. 

Dafs  dieser  einfachen  Form  eine  noch  einfachere  vorausging,  die 
keine  Zwischenwände  besafs,  ist  aus  natürlichen  Gründen  anzunehmen, 
zumal  die  alten  Schriftsteller,  Hennenberger,  Prätorius,  Lepner  u.  a. 
nicht  ausdrücklich  Scheidewände  hervorheben,  die  Schultz  1832  er- 
wähnt. —  Reinlichkeitssinn  und  Bequemlichkeit  geboten,  den  rauchigen 
Herd  von  der  Wohnstube  zu  trennen,  in  der  die  wertvolleren  Haus- 
geräte aufbewahrt  wurden.  Die  Vorratskammer  aber  mulste  schon 
deshalb  abgesondert  werden,  weil  sich  in  der 
Hausflur  zugleich  das  Kleinvieh  aufhielt.  Solche 
einfache  Häuser  (Abb.  20)  kommen  noch  heutiges- 
tages  vor,  im  germanisierten  Südlitauen  sowohl, 
als  in  der  rein  litauischen  Kownoer  Gegend. 

Abänderungen  dieses  Hauses  treten  früh- 
zeitig ein.     Die  dunkle  Kammer  erhielt   z.  B. 
eine  Eingangsthür  von  aufsen,  später  Fenster. 
Schielslich  wurden  durch  eine  Querteilung  die  Grundrifa  des  einfachen 
Zimmer   einzeln   nochmals   geteilt   und  Stuben  li^chen  Wohnhauses. 
und  Kammern  bekamen   mehr  Fenster,    vorn,      a  H^*;/b  He" 
seitlich,  hinten.     Schliefslich   wurde  in  vielen      *  Stube;  d' Kammer. 
Gegenden   ein  Vorflur   vor    der  Hausthür    an- 
gesetzt, und  die  Wohnseite  (c  in  Abb.  20),  die  kleiner  als  die  andere  d 
war,    erscheint   meist  in  gleicher  Grölse.      Das  so  entstandene  neue 
Haus  (Abb.  21)  mit  oder  ohne  Vorflur  a2  kann  als  heutige  Grund- 
form   des    litauischen    Hauses    gelten,    erneute  Teilungen    c  und  cl 
längs  oder  quer  sind  häufig  (z.  B.:  c2,  c8).     Von  der  Wohnstube  c  ist 


Abb.  20. 

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102 


Die  Litauer. 


eine  Kammer  abgetrennt  worden.  Die  Vorratskammer  d  ist  Jetzt 
sogenannte  kleine  Stube  oder  Altsitzerwohnnng  und  der  davon  ab- 
geschiedene Teil  dl  dient  für  die  Vorräte.  Der  hintere  Teil  der 
Hausflur  aber  ist  Küche  geworden.  Neben  dem  Herd  befindet  sich  ein 
von  der  Küche  aus  zu  heizender  Ofen  e,  der  die  Wohnstube  und  die 
Kammer  erwärmt,  und  oft  auch  noch  ein  solcher,  der  die  kleine  Stube, 

vielleicht  auch  den  davon  ab- 
getrennten Teil  heizt.  Das 
Hausgerät  der  Wohnstube  fand 


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Abb.  21. 


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ich  oft  so  verteilt,  dats  der 
Stubenthür  gegenüber  Betten 
g,  an  der  Vorderseite  aber 
feste  Bänke  i  mit  dem  Tisch  h 
und  davor  Stühle  und  beweg- 
liche Bänke  standen;  rechts 
H  befindet  sich  ein  Koffer  k.  Der 
mit  Haken  versehene  Ofen  ist 
mit  einer  Ofenbank  umgeben. 
Eine  andere  Ansicht  über 
die  Enstehung  des  litauischen 
Wohnhauses  hat  Bezzen- 
berger,  der  in  ihm  eine  Ver- 
einigung   oder    Zusammen- 


Grundrifs  des  geteilten  gröfseren  Wohn- 
hauses. 
(Donalitius:  Namas,  Namai;  Nordlit.  Butas;  Wirkung  von  den  ursprüng- 

Hochlit.  Namai,  Nama;  Scham.  Trobas.)  liehen  einzimmerigen  drei 
a  Hausflur  (Priemene,  Pryange,  Priesiednis);  Häusern:  Rauchhaus  (namas) 
al  Küche  (Kukne)-  afi  Hausvorflur  (Gonkas,  und  Wohnhaufl  (ßtuba)  md 
Prybutis,    Prynumis);     b   Ummauerter   Herd  -r  ,  ,  xn--2    i-   mL 

(Pelens);  cWohnstube  (D.:  Stuba,Sch.:  Troba,  Mahlraum  =  Wirtschaftsraum 
H.:    Grynicze,   Russ.:    Jizba;    feine   Wohnstube:  (maltuwe)  sieht. 
Pakajus);   e,  f  Ofen  (Pecziu»),  g  Bett  (Lowa),         Dieses    Wohnhaus    führte 
h  Tisch  (Stalas),  i  feste  Bank  (Suolas),  k  Koffer  in  den  vorigen  Jahrhunderten 
(Skrinale),  1  bewegliche  Bank  (Zaslanas),  m  Stuhl    i  •     r>       •  i  >T  x\ 

/tt      \    a      i  /o  j  ,u      i  ox   u     i  die  Bezeichnung  Namas,  Do- 

(Krase),    Sessel   (Sedelka);    c1  Stubenkammer         .  ö  . 

(Uzpeczkine,  Bakawoje,  Babsze);  c8  Fremden-  nalitius  gebraucht  sie  an 
z  i  rn  m  e  r (Alkerus) ;c8  Brotkammer (Czpirzarne),  erster  Stelle.  Wenn  ich  Lepner 
zugleich  mit  Backofen;  d  kleine  Stube  recht  verstehe,  der  ein  halbes 
(Pries^ioinke  A itsit^erBtube) ;  dl  Milchkarnmer  JahrhriIldert  vor  Donalitius 
(Penene)  oder  Fleischkammer  (Mesine).  . 

schrieb,  meint  auch  er  mit 
namas  das  Wohnhaus;  ebenso  Szyrwid  (f  1631)  und  die  Instruktion 
des  Kauf schulzen  1604.  Deutsch  sagt  die  letztere  dafür  Rauchhaus. 
Der  Name  ist  von  dem  offenen  Herde  hergenommen,  der  das  ganze 
Haus  erwärmte  und,  da  eine  Esse  fehlte,  —  durchräucherte.  Solche 
Rauchhäuser  als  Wohnhäuser  finden  sich  in  Preulsisch-  Litauen  heute 
selten,  doch  sind  sie  nicht  ganz  verschwunden,  besonders  in  den  Haff- 
gegenden und  bei  den  Kuren.  Die  pomm ersehen  Kaschuben  haben 
auch   daran   festgehalten.     Schon   zu   des   Donalitius   Zeiten   verband 


Wohnhaus. 


103 


man  indes  mit  dem  Namen  Namas  nicht  mehr  den  Begriff  „  Rauch - 
haus",  sondern  „Haus",  „Gebäude",  „Gemach".  Gerade  an  den  alten 
Tolminkemer  Häusern  ist  gut  zu  beobachten,  wie  zu  des  Dichters 
Zeiten  in  jener  Gegend  aus  der  Einzahl  namas  die  Mehrzahl  namai 
ward.  Die  Kultivierung  Litauens  unter  Friedrich  Wilhelm  I.  und 
seinem  grofsen  Sohne  erstreckte  sich  über  alles.  Die  herbeigerufenen, 
an  reichere  Ausstattung  gewöhnten  Deutschen,  Salzburger,  Schweizer, 
Nassauer,  Franzosen  haben  zu  ihrem  Teil  beigetragen,  die  H&user 
schmucker,  schöner,  mehrteiliger  zu  machen.  Man  ging  nicht  mehr 
in  sein  Gemach,  sondern  in  seine  Gem&cher.  Und  Donalitius 
gebraucht  für  Haus  öfters  den  Plural  als  den  Singular;  der  Plural 
wurde  herrschend.  Er  war  schon  zuvor  von  Bretkunas  u.  a.  in  diesem 
Sinne  für  Wohnhaus  angewendet  worden.  Jetzt  geschieht  dies  noch 
zuweilen  in  der  Prökulser  Gegend  und  in  derTelscher;  hier  aber  meint 
man  am  liebsten  ein  Haus  mit  allen  seinen  Anhängseln  oder  Anbauten 
and  gebraucht  das  Wort  auch  für  den  Begriff  „Häuser". 

Abb.  22.  Abb.  23. 

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Haffhaus, 
a  Hausflur;   a*  Halle  mit  Säulen;   b  Herd; 
c  Stube;  c1  Stubenkammer;  c",  c*  Kammern; 
e   Ofen;    n   Stall;    o  Vorratsraum,   Futter- 
kammer; p  Kobe;  q  Vorratsraum,  Schuppen. 


Schoner  Haus. 
a  Tenne  (klonas);  b  Ofen  in  der 
Pirte;  e  Wohnstube;  cl  Stuben- 
kammer; d  Dörrhaus  (Pirte); 
dl  Kaff-  und  Spreuraum  (peludis, 
trakine);  e  Banse  (galas);  f  Ställe. 


In  Russisch  -  Litauen  hat  man  noch  das  Wort  Namas,  und  da 
hat  es  die  alte  Bedeutung  Bauchhaus  behalten.  In  diesem  Rauch- 
hause befindet  sich  der  Herd  ohne  Esse.  Hier  wird  das  Viehfutter, 
besonders  das  Schweinefutter  bereitet.  Fässer  mit  Rüben  und  Kartoffeln 
n.  dergl.  stehen  darin.  Das  Wohnhaus  aber  führt  allgemein  in  Preufsisch- 
Litauen  den  Namen  Butas  und  in  Samogitien  Trobas;  in  Kowno  auch 
Gywene,  in  Schaulen  Gryczia.  Die  Hausflur  heilst  wie  das  ganze  Haus 
jetzt  allgemein  Namas  oder  Butas. 

Butas  gebraucht  Donalitius  im  Sinne  von  Gehöft  oder  Stadthaus. 
Heute  bedeutet  das  Wort  Butas,  Butele  in  Preufsisch  -  Litauen  einfach 
Haus  oder  Wohnhaus,  in  Samogitien  Anwesen,  Gehöft  mit  Land,  wofür 
der  Nehrunger  Gywenamoi,  der  Schameite  auch  Gywenimas,  Gywenamas, 


104  Die  Litauer. 

sagt.  Troba  wendet  Donalitius  für  Wohngebäude  an.  In  Samogitien 
bezeichnet  es  heute,  wie  schon  zu  Szyrwids  Zeit,  die  Stube,  während 
das  Wohnhaus  Trobas  (Mehrzahl  von  Troba)  heilst.  Entwickelte  sich 
nun  das  litauische  Wohnhaus  der  Begüterten  in  der  Vorzeit  schon  zum 
Gehöft,  so  verwandelte  es  sich  bei  der  ärmeren  Bevölkerung  ohne 
grolsen  Landbesitz  und  bei  den  Fischern  am  Haff  zu  einem,  oft 
unschönen,  Gebäudekomplex.  Der  armer  Bauern  (Abb.  22)  unter- 
schied sich,  gemäfs  der  verschiedenen  Beschäftigung  (Netzetrocknen, 
Dreschen)  von  dem  der  Fischer  (Abb.  23),  wie  die  beiden  Grundrisse 
darthun.  Die  Säulenhalle  tritt  zuweilen,  der  Haus  Vorbau  in  Samogitien 
sehr  oft  auf. 

2.  Das  Gehöft.  Hennenberger,  Lepner  und  andere  alte 
Schriftsteller  erwähnen  als  Absonderlichkeit  der  Litauer,  dafs  sie  auf 
ihrem  Gehöfte  eine  Unmenge  kleiner  Häuser  stehen  haben,  für  fast 
Jede  Beschäftigung  eines.  Dieser  Zustand  besteht  heute  nur  noch  in 
abgeschwächtem  Malse  in  Preulsen,  in  Rufsland  aber  hat  er  sich  bei 
den  größeren  Besitzern  erhalten.  Die  ganze  Hof  anläge  im  diesseitigen 
Litauen  hat  sich  allmählich  der  fränkischen  angeglichen.  Dals  aber 
die  Vermögenslage,  die  Intelligenz  und  andere  Verhältnisse  wesent- 
lichen Einflufs  auf  die  Ausgestaltung  des  Gehöftes  ausüben,  ist  im 
kleinsten  Dorfe  zu  beobachten.  Der  Besitzer  wird  mehr  aufwenden 
als  der  Eigentümer,  dieser  mehr  als  der  Kätner  und  der  Ar- 
beiter, die  nur  Häuschen  haben.  Im  jenseitigen  Teile  stehen  die 
Gebäude  in  bunter  Ordnung,  doch  so,  dafs  die  Klete  meist  dem  Wohn- 
hause gegenüberliegt,  der  Stall  und  das  Rauchhaus  aber  ziemlich  weit 
entfernt  sind,  mit  der  Vorderseite  aber  alle  nach  dem  Mittelpunkte  des 
Gehöftes  gerichtet  sind.  Bund  um  das  Gehöft  zieht  sich  ein  Gehöft- 
zaun, er  ist  hoch  und  weitläufig.  Mitten  durchs  Gehöft  geht  der  Hof- 
zaun, der  die  Wohnungen  von  den  Stallungen  trennt,  er  ist  niedrig 
und  dicht,  damit  die  Tiere  nicht  durch  können.  —  Man  gebrauchte  für 
das  ganze  Anwesen  mit  Land  schon  zu  Zeiten  des  Donalitius  den  Namen 
Butas,  auch  Gywenamas.  Die  Gesamtheit  der  Gebäude  heilst  Budawones. 
Die  Lage  des  Gehöftes  in  der  Nähe  eines  Baches,  Teiches  u.  dergl. 
gilt  als  bevorzugt.  In  gewissen  Teilen  Samogitiens  ist  die  Hausthür 
südwärts,  die  Wohnstube  ostwärts  gerichtet,  die  kleine  Stube  also  west- 
wärts, die  Hinterthür  nordwärts.  Der  Gehöftzaun  ist  verschiedenartig 
hergestellt,  entweder  aus  eng  aneinander  gebundenen  hohen  Fichten- 
stämmchen  oder  aus  einer  meterhohen  Stangenschranke,  auf  der  einige 
Meter  lange  Pfähle  auf  der  einen,  dann  auf  der  anderen  Seite,  60°  zur 
Erde  geneigt,  aufgelegt  sind.  Häufig  ist  auch  die  Art,  dafs  in  Ab- 
ständen von  etwa  6  m  Pfähle  eingesetzt  sind,  die  durch  etwa  drei  Brett- 
schwarten miteinander  verbunden  sind.  Besonders  in  Samogitien 
liegen  die  Gebäude  abseits  der  Fahrstrafse,  deshalb  ist  jedes  Gehöft 
durch  einen  Fahrweg  mit  der  Straf se  verbunden.  In  der  Umgebung 
des  Gehöftes  stehen  kleine  Waldungen  von  Eichen  oder  Fichten  oder 


Gehöft 


105 


Birken.     Die  Dainos  gedenken  des  Rittes  durch  das  Birkenwäldchen 
und  des  Spähens  nach  dem  Fichtenwaldchen,  woher  Besuch  kommt, 

Abb.  24. 

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Olsiader  Gehöft  (Butas,  Namai,  Gywenamas,  Budawones). 
A  Wohnhaus  (Preufs.:  Namai,  Stuba,  Trobas;  Scham.:  Trobas;  Kowno:  Gywene; 
Schaalen:  Gryczia);  darin  c  Wohnstube  (Preufs.:  Stuba;  Scham.:  Troba);  davor 
i  Kleinegarten  (Darzelis).  —  B  Speicher  (Kletis,  Swirna);  a  Getreidespeicher; 
b  Gemach  der  Wirtin;  c  Schlafzimmer  der  Mägde,  Knechte;  d  Säulenvorbau.  — 
C  Keller;  (Sklepas).  —  D  Rauchhaus  (Namas);  a  Herd;  b  Raum  für  Rüben- 
fässer etc.;  c  Gänsestall;  f  Hühnerstall;  d  Kobe;  e  Arbeitsraum  zum  Ausbessern.  — 
£  Badestube  (Pirtis).  —  F  Flachstrockengestell  (Zardine).  —  G  Scheune 
(Jauja,  Jaujis,  Reja);  a  Tenne  (Klonas,  Kluonas);  b  Banse  (Galas) ;  c  Dörrhaus  (Pirtis 
oder  Duoba  mit  Ofen  =  d) ;  e,  el  Spreuraum ;  f  Kaffraum ;  g  Strohraum  (Darzine).  — 
H  Futterraum  (Darzine,  Darzinale).  —  J  Stall  (Twartai);  a  Pferde;  b  Kühe; 
c  Futter;  d  Kleinvieh.  —  L  Teiche.  —  M  Brunnen.  —  N  Obstgarten.  — 
O  Querzaun  mit  P  Fahrweg,  Q  Gehöftzaun.  —  R  Birken-  und  Fichten- 
wald. —  S  Zaunthür. 

sehr  häufig.  Obstgärten  Besitzt  der  russische  Litauer  auch ,  pflegt  sie 
aber  nicht  wie  der  Deutsche;  ihm  ist  das  Obst  mehr  Leckerei  und 
Handelsartikel,  zur  Nahrung    dient  es    selten.     Hingegen  hält  jedes 


106  Die  Litauer. 

litauische  Gehöft  seinen  Kleinegarten,  vor  dem  Hause  oder  als  Abschnitt 
des  Obstgartens,  in  besonderer  Pflege.  Hier  gedeihen  aulser  Küchen- 
gemüsen die  zahlreichen  duftenden  Blumen  und  Kräuter  der  Dainos: 
Raute  und  Minze,  Päonie  und  Rose,  Majoran  und  Tulpe.  Litauische 
Gehöfte,  wie  Abb.  24  in  der  Olsiader  Gegend,  umfassen  etwa  2  ha, 
das  ganze  Besitztum  150  ha.  Ein  ähnlich  grofses  zeigt  der  Grundrils 
Abb.  25.  Ist  dieses  nur  2  ha  grofs,  so  ist  das  Gehöft  wie  in  Abb.  23 
gebaut. 

A.  Wohnhaus.  (Pr.  Butas,  Namai,  Hochl.  Nama,  Scham.  Trobas. 
Etwa  15  x  8  m.  Als  Kate:  Butelis,  als  Insthaus:  Inamiu  Butas.)  Von 
den  einzelnen  Gebäuden  fällt  uns  zunächst  das  Wohnhaus  ins  Auge«  Es 
ist  vornehmer  ausgestattet  als  die  übrigen  Gebäude.  Das  Baumaterial 
ist  der  leicht  behauene  Holzbalken.  Diese  werden  übereinander  gesetzt, 
die  Fugen  verstopft  man  mit  Moos  oder  Lehm.  Dies  Baumaterial  ist 
noch  in  ganz  Litauen  gebräuchlich,  früher  baute  man  in  Südlitauen 
auch  Lehmhäuser;  heute  aber  beginnt  man  schon  überall  das  Holzhaus 
durch  das  Steinhaus  zu  verdrängen.  Als  Donalitius  das  Witwenhaus 
in  Tolminkemen  baute,  war  es  ihm  keinen  Augenblick  zweifelhaft,  den 
Fortschritt  mitzumachen.  (Abb.  9.)  Die  Holzbalken  blieben  ehemals 
im  Innern  ohne  Schmuck,  heute  beklebt  man  sie  in  Samogitien  auch 
schon  mit  Tapete.  In  Preufsen  benutzt  man  behauene  (Abb.  26),  in 
Rufsland  runde  Balken  (Abb.  27).  Zur  Thür  führen  meist  eine  Anzahl 
Stufen,  so  in  der  Ragniter  Gegend.  Die  Fenster  sind  klein,  das  Dach 
ist  mit  Strohschindeln  bedeckt.  In  Preufsisch- Litauen  tritt  jetzt  dafür 
Holzschindel  und  noch  häufiger  Ziegeldeckung  ein.  In  den  Dörfern 
liegt  auf  dem  Dache,  bis  zur  Erde  reichend,  die  Feuerleiter.  Thür- 
vorbau  und  Säulenhallen  vor  oder  neben  dem  Hause  sind  nicht  selten. 
Dafs  das  Wohnhaus  eine  Vereinigung  von  mehreren  kleinen  Häusern 
wäre,  ist  schon  aus  dem  Grunde  ausgeschlossen,  weil  in  gröfseren 
Besitztümern  alle  in  den  älteren  Zeiten  erwähnten  kleinen  Häuser 
noch  gebaut  werden  und  vorhanden  sind;  und  dann,  weil  die  kleinen 
Besitztümer  armer  Bauern  aus  praktischen  Gründen  nicht  zu  vielen 
Häuserchen  Raum  gewährten.  Die  Entwickelung  des  Wohnhauses 
zum  Gehöftgebäude  (Abb.  22  und  23)  einerseits  und  zu  den  Gehöft- 
anlagen (Abb.  24  und  25)  andererseits  ist  getrennt  voneinander  zu 
betrachten. 

B.  Speicher  (Kletis,  Klet,  Swirns,  Swirna).  Der  Speicher  wird  seit 
mindestens  dem  11.  Jahrhundert  in  slawischen  und  deutschen  Quellen 
(Mhd.  glet)  häufig  Klete  genannt,  während  man  jetzt  den  Namen  lieber 
nur  für  alte  Speicher  verwendet,  solche  neuerer  Art,  besonders  Steinbauten, 
aber  Swirne  nennt.  Nördlich  von  Memel  hörte  ich  dagegen,  Klet  sei 
gebräuchlicher,  Swirne  bedeute  den  alten  Speicher,  das  ist  wohl  so  zu 
erklären,  dafs  beide  Worte  ursprünglich  verschiedene  Gebäude  bedeuten, 
von  denen  ein  anderes  bei  den  Schameiten  wie  bei  den  preußischen 
Litauern  die  Herrschaft  behielt.    Ruhig  1742,  Mielcke  1800,  Donalitius, 


(Nach 

Pre  mazul 
die  Heuspeicher  1 
bräuchlichere  tro 
troba) ;  längs  der 
(gurbais)  'del  zusi 
(c)  und  Ofen  (/*)« 
(Nach  Smilgewicz 
B  Awike,  C  Stain 
(Kurschat:  awiky 
KuhsUU  (Smilgel 
Kr.  3  Kletis:  K 
C  Grudine  su  aru< 
A  Laitas  klojimo 
A  Tenne?  B  und 
Brunnen  («),  Br 
kanapiu,  Q  kluot 
platz  für  Speiseki 


l)  Die  Eiu 
(neben  Nr.  1,  6, 

*)  Die  Mal 

Nowo  -  Alexandrot 
Rosseinischen  ist 
zimmer),  statt  ug 
8)  Die  inq 

Abb.  29  und  woj 

i 
dünne,  1  m  hoh^ 
Korn  zwischen  c. 
Korns  leert  man 
4)  Wird  i 
provinzen  Küche 


Rhesa  1825  kennen  nur  das  Wort  Kletis;  Stanewicz  1829,  Daukantas 

1846  nur  Swirne,  Budrius  18i6  braucht  beides  nebeneinander,  Nessel- 

Abb.  27. 


R  a  3S  isch  -  li  ta  uiscliea  Wohnhaus. 
Nach  einer  Skizze  des  Verfassers,  gez.  von  Hiemann. 

mann  auch,  bevorzugt  aber  Swirue,  Bartsch  dagegen  Klete,  sagt  aber 
unrichtig,  in  den  Dainos  stehe  Swirne  häufiger.  Bis  1846  hat  in 
poetischer,  gehobener  Rede  „Klete"  den  Vorzug,  jetzt  Stfirne,  in  der 
gewöhnlichen  Sprechweise  gilt  Elete.  In  ihrer  Nahe  ist  gewöhnlich 
ein  Teich  oder  Brunnen.  Die  Klete  steht  meist  in  einiger  Entfernung, 
^bb  28.  durch  ein  Gärtcben  ge- 

Kold  trennt,  dem  Wohnhause 

gegenüber  auf  höherem 
Fundament.  Sie  hat  einen 
Stock,  dessen  Oberboden 
(Bieningis)  angeteilt  ist 
und  zur  Aufbewahrung 
von  Wirtschaftsgegen- 
ständen ,  Geschirrzeug, 
Stricken ,  abgetragenen 
Kleidern,  Netzen,  Ge- 
treide dient.  Oft  ist  vor 
der  Klete  eine  meter- 
breite Säulenhalle,  zu  der 
Stufen  auf  ein  oder  zwei  Seiten  von  aufsen  in  das  Stockwerk  führen. 
Der  untere  Teil  der  Swirne  ist,  wie  das  Wohnhaus,  dreiteilig,  die 
Kletenflur  mit  Speicherräumen  trennt  die  Kammern  voneinander.  Die 
Speicherräume  bergen  in  ihren  durch  Balken  geschiedenen  Abteilungen 


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Gehöft. 


109 


die  Getreide  Vorräte,   Jene  haben  seitliche  Fenster  und  meist  vordere 
Zugänge  und  dienen  erwachsenen  Söhnen  und  Töchtern,  Knechten  und 

Abb.  29. 


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Neue  samogitische  Klete  (an  Stelle  der  1886  abgebrochenen). 

a  Brücke,  Prigrindas  (l1/,111  breit),  b  Gastzimmer,  Kleiderraum,  cKletenflur,  e  Treppe, 
r  geringes  Korn,  s  Mehl,,  t  Getreidefram,  vgl.  Abb.  25,  Anm.  8),  u  Stube  des  ältesten 
Knechtes  oder  Ökonomen  mit  Handkammer  (ul),  v  Knechtekammer,  w  Handkammer 
der  Hausfrau,  y  Mägdekammer,  z  Kammer  der  Tochter  im  Sommer.  Fundament:  Feld- 
steine. Stufen  zur  Klete:  4  bis  8.  Dach:  früher  Stroh-,  jetzt  Holzschindel.  Die  c 
zugekehrten  Wände  von  r,  s,  t  sind  nur  meterhoch.  Die  Klete  liegt  dem  Hause 
gegenüber,  etwa  55m  entfernt,  Breite  25  bis  30m,  Tiefe  12  bis  15  m,  Wandhöhe 
2%  m,  Firsthöhe  4  m,  Fenstergröfse  V,  bis  %  der  gewöhnlichen. 

Mägden  zu  Schlafgemächern.  Die  vordere  Kammer  mit  Fronteingang 
ist  das  Schlaf  gern  ach  und  der  Wohnraum  der  Wirtin  oder  des  Ökonomen. 
In  der  Swirne  feiern   Bräuti-  ^b   30 

gam  und  Braut  die  Vermäh- 
lung. Die  Dainos  gedenken 
gern  und  oft  der  „  hohen 
Klete",  „neuen  Klete u,  „hohen 
Swirne a,  „neuen  Swirne". 

C.  Keller  (Sklepas).    Der 
Keller  liegt  in  der  Nähe  der 

Klete    und    hat    einen    Ober-  *****  **  Szwiekszna. 

boden  zum  Aufbewahren  von    (Grundrift  ™  »e™  Rupschis,  durch  Herrn 
*  •     i.         jri  j  n  Wolter  erhalten.) 

a  „Kamaras  diel  Darbininku"  (Gesindekammern), 

D.  Rauchhaus  (Namas).     b  „der  Swirns  oder  das  Gastzimmer",   c  „Pati 

SchrägseitlingS     vom      Wohn-     klete"  (Hausfrauen -Klete),  d  „Priongis"  (Vor- 

hause,   mit  Thür  und  Fenster     flur)>    e    Schuppen    oder    Laube?     Vor   abd 

versehen,  Hegt  in  feuersicherer    "•*  in  jacher  Breite  der  Hof  (Kims)  und 
_  °  dann    in    etwas    geringerer  Breite    und   Lange 

Entfernung      das     Rauchhaus.     da8  dreiteilige  Wohnhaus  [Priszinke  =  Vorrats- 

Es    dient    zur    Bereitung    des     räum,    prisenez    und  Primine   (Buts)  =  Flur, 

Viehfutters.      In   der  Mitte  ist     troba     mit     Alkierius     und    Kamara    (Mazoje 

der  grolse  Herd,  zuweilen  ein     Troba)];   in  geringer  Entfernung  von  der  Vor- 

Kessel   dazu.      Auf    der    einen     ^skammer,    »**    gegenüber    e    ein    kleiner 

nams  (Sommerkuche) ,  in  weiterer  Entfernung 
Seite  stehen  Gefälse  ,  abge-  stall  und  Scheune,  getrennt  durch  die  Genetis; 
Stutzte     Fässer,      mit    Rüben,  davor  die  Viehtrift  (Ganinkla). 


11 

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110 


Die  Litauer:  Gehöft. 


Kartoffeln,  Krautstrünken  u.  dergl.;  dazu  ein  Stampf  trog  mit  Stampf- 
messern.   Auf  der  anderen  Seite  befindet  sich  (in  Abb.  24)  der  Hühner- 


Abb.  31. 


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Litauische  Klete  in  Nimmersatt. 

Länge  der  Vorderseite :  7,6  m ;  Länge  der  Giebelseite :  6,5  m;  Breite  der  Vorklete : 
Im;  Höhe  der  Vorklete:  4m;  Höhe  der  Klete:  6m;  a  Vorklete,  b  Mädchenschlaf- 
stabe oder  Gastzimmer,  c  Flur,  d  Burschenschlafstube,  e  Treppenaufgang  zum  Korn- 
räum ,  f  Stein  als  Stufe ,  h  Bett ,  i  Drechselbank  mit  Schraubstock ,  k  grofse ,  mit 
Blumen  bemalte  Lade,  1  Kleider  an  der  Wand,  m  Birkenzweige  mit  Papierbändern 
an  der  Wand,  n  Sense,  o  Spinnrad,  p  Schnitzbank,  q  sonstige  Geräte.  — 
Auf  dem  Boden  bei  0  Thür,  bei  W  Fenster.  Unterbau:  grofse  Steine,  Bauart: 
Ständer  mit  Füllholz  (gehobelt) ,  Bedachung :  Ziegel ,  Bodenraum  für  Erbsen ,  Hanf 
und  dergl.  beginnt  in  der  Art  halbstöckiger  Häuser  unterhalb  des  Daches,  Giebelzier 
und  Kamin  fehlen,  Vorklete  =  Gang  mit  drei  offenen  Bogen  und  vier  Säulen,  und 
liegt  auf  der  Ost-,  die  Hausthür  auf  der  Nordseite  des  Hofes. 


und  Gänsestall.  An  das  Rauchhaus  ist  öfter  (so  auch  in  Abb.  24)  die 
Eobe  angebaut.  Auf  der  anderen  Seite  dient  ein  offener  Anbau  als 
Arbeitsraum  zum  Ausbessern,  Schnitzen,  Flicken  des  Geschirrs  u.  s.  w. 
E.  Badestube  (Duoba,  Pirtis).  Die  Badestube  liegt  gegenüber 
dem  Rauchhause,  in  Preufsi  seh -Litauen  ist  sie  selten.  Donalitius  er- 
wähnt sie  gar  nicht,  wohl  aber  Lepner.  Ihr  alter  Name  (Pirtis)  ist 
jetzt  auf  einen  Teil  der  Scheune  (Duoba)  übertragen  worden,  in  dem 
nie  gebadet  worden  ist.  Das  Baden  war  ehedem  gegen  allerlei  Krank- 
heit in  ständigem  Gebrauch.  Leider  ist  dieser  diesseits  der  Grenze 
mehr  und  mehr  abgekommen.  In  der  Nähe  der  Badestube  liegt  ein 
Teich. 


Dörrhaus.     Futterraum.  111 

V 

F.  Flachstrockengestell  (Zardine).  Ein  leichtes  Häuschen, 
blofses  Gestell  oder  Gerüst  mit  oder  ohne  Dach  zum  Trocknen  des 
Flachses,  der  Erbsen,  des  Klees,  steht  zwischen  Bauchhaus  und 
Scheune. 

G.  Scheune  (H.  Jaujas,  S.  Jauja,  Jauje).  Die  schameitische Scheune 
unterscheidet  sich  von  der  südlitauischen  wesentlich  durch  das  Fehlen 
des  Dörrhauses  (Pirüs,  Duoba,  polnisch  hrydnia),  weshalb  der  Ausdruck 
Jauje  nur  für  solche  Dörrhausscheunen  gebraucht  wird.  Neben  der 
Tenne  (Klonas,  Kluonas)  befinden  sich  rechts  und  links  eine  Banse 
(Galas),  die  nur  durch  einen  Längsbalken  in  der  Höhe  der  Wand  ab- 
geschieden wird.  Die  Ähren  sind  nach  der  Wand  zugekehrt.  Als 
Unterlage  dient  Stroh,  nicht  das  sogenannte  „Bollwerk14,  wie  in  Mittel- 
deutschland. Zwischen  der  Tenne  und  der  einen  Banse  aber  steht, 
ein  Haus  im  Hause,  ein  eigenes  kleines  Gebäude,  das  Dörrhaus.  Das 
Dörrhaus  reicht  entweder  bis  an  die  Vorderseite  der  Scheune  und  hat 
ein  besonderes  Fensterchen,  oder  es  ist  durch  zwei  kleine  Gelasse  von 
der  Vorder-  und  Hinterwand  geschieden.  Die  beiden  Gelasse  dienen 
zur  Aufbewahrung  der  Spreu  (Spreuraum  =  Pelude,  Peludis)  und 
der  geringen  Abfallähren  (Kaffraum  =  Trakine).  Das  Dörrhaus  hat 
auf  der  Mitte  seines  Fulsbodens  eine  Vertiefung  mit  einem  grofsen 
Kachelofen  und  heilst  deshalb  duoba.  Neben  dem  Ofen,  der  keinen 
Schornstein  besitzt,  stehen  St angen schrägen ,  woselbst  man  die  Gar- 
ben aufschichtet  und  24  Stunden  von  der  Wärme  und  dem  Ofen- 
rauch dörren  lälst,  bis  sie  zum  Dreschen  brauchbar  werden.  Spielt 
in  den  Dainos  die  Klete  den  romantischen  Ort  des  Hauses,  so  in 
den  Pasakos  (Erzählungen)  und  im  Aberglauben  die  Pirte.  Die 
besten  Erzeugnisse  der  modernen  litauischen  Belletristik,  so  des 
Wileischis  „Hans  und  Ännchenu  und  des  Ketorakis  „Amerika  im 
Dörrhaus"  lassen  einen  Teil  des  häuslichen  Lebens  in  der  Duoba 
vor  sich  gehen.  Jedes  grolse  Fest  der  Knechte  und  Mägde  findet 
hier  statt,  besonders  die  Flachsbrech - Talka.  Hier  denkt  man  sich 
den  Sitz  der  Geister,  des  Teufels.  Das  Ganz-  oder  Halbdunkel  hat 
etwas  Schauerliches.  Der  heifse  brennende  Ofen  mit  seinem  Bauch 
erinnert  an  die  Hölle  (Pekla),  mit  der  man  volksetymologisch  den 
Pikoll  zusammenzubringen  sucht.  In  den  Eckbalken  der  Pirtis  wohnt 
der  Weins,  hier  kann  man  ihn  citieren,  am  Ofen  kann  man  ihn  ans 
Feuer  drücken.  Die  kleinen  Häuser  haben  die  Pirte  gleich  im  Hause 
(Abbildung  23).  Kein  Mädchen  wagt  sich  des  Nachts  in  das  Dörr- 
haus. Häufig  findet  sich  vor  dem  Scheunenthor  der  Wagenschuppen 
(Pelaga). 

H.  Futterraum  (Darzine,  Darzinale).  In  Preufsisch- Litauen  sind 
Scheune  und  Futterraum  vereint  und  bilden  die  Tenne.  In  Bussisch- 
Litauen  ist  der  Futterraum  kleiner  (Darzinale  ist  Diminutivum)  und 
dient  zur  Aufbewahrung  von  Klee,  Heu,  Stroh. 


112 


*,  Die  Litauer  :J  Stall.  ^ 


J.  Stall  (Twartai).  Ein  einzelner  kleiner  Stall  heilst  jetzt  noch 
Twartas,  welchen  Ausdruck  Donalitius  im  Sinne  einer  einfachen  Um- 
zäunung oder  Hürde,  eines  Flecht Werkes  für  Kleinvieh  gebraucht  In 
Samogitien  bezeichnet  Twartai  die  Gesamtheit  der  Stallungen,  wie 
Trobas  die  der  Gem&cher.  Der  Grundrifs  gleicht  dem  afrikanischer 
Temben,  deren  Hofraum  hier  der  Düngerraum  (La idaras)  bildet.  Die 
eine  Seite  beherbergt  die  Pferde,  die  andere  die  Kühe,  die  dritte  das 
Kleinvieh,  das  in  D  nicht  untergebracht  ward,  die  vierte  Seite  enthalt 
Futter  und  Wirtschaftsgegen  stände. 


Litauische  Sprachproben. 

1.  Das  litauische  Vaterunser  (Pfarrer  Jopp-Nidden) : 

Tewe  musü,  kurs  esi  Danguje. 

Buk  szwencziamas  Wardas  tawo. 

Ateik  tawo  Karalyste. 

Buk  tawo  Wale  kaip  Danguje,  taip  ir  ant  Zemes. 

Dftna,  musü  dieniszka,  duk  mums  ir  sze,  Dien%. 

Ir  atleiak  mums  musü  Kaltes,  kaip  ir  mes  atleidziam  sawo  Kaltiems. 

Ne  wesk  mus  i  Pagundyma,  bek  gelbek  mus  nü  wiso  Pikto. 

Nesa  tawo  yra  Karalyste  ir  Stiprybe  ir  Garbe  ant  Amziü  Amziü.    Amen. 

2.  Pawasario    Linksmybes.       (Donalitius,     Des    Lenzes 
Freuden  103  bis  108.) 

Köznas  (juk)  ir  kekwens  tawo  szaüna,  gärbmä  daina,, 
Käd  tu  mums  dywüs  linksmü  laksztingälü  czauszki, 
Tu  wargonu  bei  cimbölu  nekini  garsa,. 
Smüikai  taw  ir  känklys  tür  su  geda  nütilti, 
Kad  rykaudämä  tu  sawo  säldü  päkeli  balsa,, 
Ir  kinkyt,  papläkt,  nüwäziut  iszbüdini  Jürgi. 

(Jeder  Mensch,  o  Nachtigall,  preist  deine  süfsen  Gesänge. 
Wenn  du  die  lieblichen  Weisen  der  Nachtigalllieder  uns  vorschlägst, 
Da  verstummen  der  Orgel  Getön  und  die  Klänge  der  Zimbel, 
Geige  und  Kanklys  neigen  sich  dir  in  stummer  Beschämung, 
Wenn  du  mit  hellem  Schlage  erhebst  die  herrliche  Stimme: 
„Georg,  wach  auf,  spann  an,  fahr  zu  und  knall  mit  der  Peitsche!8) 

3.  Daina. 


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Ge  -  re        mu  -  sü  Zu   -   po    -    ne    -    le       Wie  -  na.     Mal  -  ka, 

Un  -  sre      Hausfrau       trank     ein     Schlückchen      aus  dem     Gläschen 


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Sti  -  klu  -  ze  -  le        Ge  -  re    je,       ge  -  re     je,        ge  -  re      je,      ge  -  re     je. 
nur  ein  Stückchen  schlürfte  sie    und    sie  trank    und  schlürfte,  ja,    sie  trank. 


Die  Euren  (Letten), 


Literatur. 

Berendt:  Geologie  des  Kurischen  Haffs  und  seine  Umgebung.  Königsberg 
1869.  Schrift,  d.  phys.-ökonom.  Ges.  zu  Königsberg.  IX.  Jahrg.,  S.  1S1 
bis  238.  Königsberg  1868.  Mit  6  Tafeln.  Erste  Tafel:  Nehrung  von 
Lattenwalde  bis  Süderhaken. 

Bezzenberger:    Die   Kurische   Nehrung    und   ihre   Bewohner.     Stuttgart, 
•    Engelhorn,  1889. 

Bielenstein:  Die  Grenzen  des  lettischen  Volksstammes  und  der  lettischen 
Sprache  in  der  Gegenwart  und  im  13.  Jahrhundert.  Mit  Atlas.  St.  Peters- 
burg 1893. 

-Bock:    Die  Vorgeschichte  der  Kurischen  Nehrung,  ihre  Festlegung  und  Auf- 
forstung.   Königsberg  1897. 
^Diederichs:    Die  Kurische  Nehrung  und  die  Kuren  in  Preufsen.   Magazin, 
herausgegeben  von  der  lett.-lit.  Ges.  17,  S.  1  bis  96.    Mitau  1883. 

Jachmann  auf  Nettelbeck:  Nachrichten  über  die  Kurische  Nehrung.  1825. 
Preufs.  Prov.  I,  8.  195  bis  220,  310  bis  834. 

Lindner:    Die  preufsische  Wüste  einst  und  jetzt.    Oster wieck  1898. 

Nanke:  Wanderungen  (1794)  durch  Preufsen.   Hamburg  und  Altona  1800. 

Passarge:  Die  Kurische  Nehrung.  Altpreufs.  Monatsschrift  VIII,  1.  bis 
3.  Heft. 

Prätorius:  Deliciae  Prussicae  XVI.  Acta  Borussica  IL  Erleutertes 
Preufsen IV,  1726,  S.  262  bis  272.  »Von  der  curischen  Nehrung."  Zuvor 
von  den  Predigern  der  Nehrung. 

Seraphim:  Über  Wanderungen  lettischer  Bauern  aus  Kurland  nach  Ost- 
preufsen  im  17.  Jahrhundert.  Altpreufs.  Monatsschrift  1892,  29,  S.  317 
bis  335. 

Schiefferdecker:  Bericht  über  eine  Reise  zur  Durchforschung  der  Kurischen 
Nehrung  in  archäologischer  Hinsicht.  Schrift,  d.  phys.-ökon.  Ges.  zu 
Königsberg,  14.  Jahrg.,  S.  32,  75. 

Schumann:   Geologische  Wanderungen  durch  Altpreufsen.  Königsberg  1869. 

Sommer:     Das  Kurische  Haff.     Stuttgart  1898. 

Wiedemann:  Joh.  Andr.  Sjögrens  livische  Grammatik  nebst  Sprachproben. 
St.  Petersburg  1865. 

Wutzke:  Bemerkungen  über  die  Entstehung  und  den  gegenwärtigen  Zustand 
des  Kurischen  Haffs  etc.  Preufs.  Prov.-Bl.  V,  S.  122  bis  138,  226  bis  234, 
293  bis  311,  443  bis  464.     Königsberg  1831. 


I.    Geschichtliches. 

"7  Um  853  tritt  im  Leben  des  heiligen  Ansgar  (a.  36)  zum  ersten- 
ntale  der  Name  der  von  den  Schweden  unterworfenen  Kuren  (Cori) 
auf;  sie  besitzen  fünf  Stadtkreise  (civitates).     Häufig  erwähnt  sie  zu 

Tetiner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  Q 


114  Die  Kuren:  Geschichtliches. 

/  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  der  Lettenpriester  Heinrich  unter  dem 
^Namen  Curones  und  erzählt  von  ihnen  und  ihrem  Gebiet,  das  vom 
Rigaschen  Busen  bis  zur  Nord  spitze  des  Kurischen  Haffs  reichte.  Auf 
flinken  Piratenkähnen  dehnen  sie  ihre  kühnen  Raubzüge  bis  Dänemark 
aus.  Die  Öseler  sind  ihre  Freunde  und  kaufen  ihnen  wertvolle  Beute 
ab,  kriegsgefangene  Weiber.  Die  Liven  sind  ihre  Bundesgenossen. 
An  der  Windau  machen  sie  den  Wenden  deren  Besitz  streitig  und  ver- 
treiben sie.  Um  1230  treten  sie  zum  Christentum  über.  Als  aber 
König  Mindaugas  von  Litauen  1260  das  Christentum  abschwur,  und 
aulser  seinen  litubaltischen  Völkern  auch  die  Kuren  zum  gemeinsamen 
nationalen  Kampfe  gegen  den  Orden  aufrief,  als  Dorpat  in  seine  Hände 
fiel  und  die  Ritter  1265  fliehend  dem  Durbener  Schlachtfelde  den 
Rücken  kehrten,  da  hatten  auch  die  Kuren  dem  Rigaer  Herrn  den 
Gehorsam  aufgekündigt  und  fochten  Schulter  an  Schulter  mit  den 
Ordensfeinden  und  dem  Einiger  der  baltischen  Stämme.  Wie  Heinrich 
berichtet  auch  die  „Reimchronik"  mancherlei  vom  Lande  Curonia  und 
seinen  Bewohnern.  Im  letzten  Drittel  des  13.  Jahrhunderts  aber  ver- 
schwand die  Bezeichnung  Vredecuronia  und  die  der  Bewohner.  Der 
Yolksname  der  Liven,  der  anfänglich  selbständig  neben  dem  der  ver- 
wandten Kuren  gebraucht  ward,  umschlielst  seit  dem  16.  Jahrhundert 
die  alten  Kuren  und  Liven. 

Diese  Kuren  waren,  wie  die  Liven,  ein  finnisches  Volk,  kein  bal- 
tisches (litulettisches),  wie  verschiedene  Forscher  annahmen,  bis  Sjögren 
und  Wiedemann  die  finnische  Zugehörigkeit  aulser  Frage  stellten.  Die 
drei  wichtigsten  südlichen  Finnenstämme,  die  Kuren,  Liven,  Esthen, 
haben  den  drei  südlichen  Ostseeprovinzen  die  Namen  gegeben.  Sie 
besalsen  die  baltische  Küste  von  Memel  nordwärts,  südlich  und  öst- 
lich von  ihnen  hausten  baltische  Stämme.  Von  jenen  drei  Finnen- 
stämmen ist  der  esthnische  in  Nordlivland  und  Esthland  erhalten 
geblieben.  Die  Reste  des  livischen  befinden  sich  auf  dem  sandigen, 
durch  Wälder  und  Moore  abgetrennten  Strande  beim  kurischen  Vor- 
gebirge Domesnäs  und  umfafsten  1881:  14  Dörfer  mit  3562  Köpfen; 
nur  die  Familien  spräche  ist  livisch,  die  Kirchensprache  war  immer 
lettisch.  Herr  Akademiker  F.  Schmidt- Petersburg  macht  mich  dar- 
auf aufmerksam,  dafs  die  esthnischen  Bewohner  der  benachbarten 
öselschen  Halbinsel  Sworbe  mit  den  Domesnäser  Liven  in  Verkehr 
stehen  und  sie  Kuren  nennen,  im  Unterschied  zu  den  dahinter  wohnen- 
den Letten,  dafs  also  diese  Liven  Reste  der  alten  Kuren  seien.  Das 
ist  sehr  einleuchtend.  Die  Schwarzorter  Letten  nennen  sich  Kurseniki, 
im  Unterschied  zu  den  Kurländern  (Kurseinniki)  und  kennen  die  Letten 
(Latwischi)  gar  nicht  Nach  Dr.  Bielenstein  soll  der  Name  Kuren 
lettisches  wie  esthnisches  Volk  bezeichnet  haben,  das  wäre  dann 
ein  Name  wie  der  der  Ästier.  Diese  Liven  gleichen  in  ihrer  Ab- 
geschlossenheit den  Kluckener  Slowinzen  und  den  Nehrunger  Kuren. 
Nicht  der  Sprache  nach,  auch  nicht  der  somatischen  Anlage  zufolge; 


Die  Liven.     Namen.  115 

beides  geht  durch  zufälligen,  unbewulsten  äufseren  Zwang  oft  bis  auf 
einen  Bruchteil  verloren.  Aber  die  gleiche  Beschäftigung,  der  gleiche 
Boden,  das  gleiche  Wetter,  das  durch  Wald,  Moor,  Sumpf  bedingte 
Abschließen  und  Sich-Zusammenschlielsen,  endlich  auch  die  gemein- 
same Küste:  alles  dies  hat  dazu  beigetragen,  die  ehemaligen  Unter- 
schiede zwischen  den  äufsersten  Strandbewohnern  vom  Gardersee  bis 
nach  Dom  es  n  äs  ausgleichen  zu  helfen  (vgl.  Virchows  Zeitschr.  f.  Eth- 
nolog.  IX,  S.  366  ff.,  386  ff.).  Der  letzte  jener  Finnenstämme,  die 
Kuren,  sind  im  benachbarten  Lettenvolke  vollständig  aufgegangen,  von 
ihrer  Sprache  sind  aufser  einigen  Namen  kaum  ein  Dutzend  Wörter 
erhalten  geblieben.  Die  dahinten  sitzenden  mächtigen  Stämme  der 
Litauer  und  Letten  mit  ihrem  breiten  Landbesitz  sogen  die  armselige 
kurische  Strandbevölkerung  auf.  So  ging  es  auch  den  Lebakaschuben, 
so  geht  es  jetzt  den  Resten  der  Slowinzen  am  Lebasee  und  den  kur- 
ländischen  Liven,  so  den  lettisierten  Kuren  der  Nehrung. 

Neben  den  Volks-  und  Sprachnamen  jener  drei  finnischen  Stämme 
bildeten  sich  frühzeitig  gleichklingende  Landschaftsnamen  aus.  Mit 
Esthe  bezeichnete  man  ungenauer  Weise,  was  man  heute  Esthländer 
nennt,  einen  Bewohner  Esthlands,  gleichviel  welchen  Stammes  und 
welcher  Sprache  er  ist.  Heute  bedeutet  Esthe  nur  den  bodensässigen 
Bewohner  finnischen  Stammes  und  esthnischer  Sprache  in  Liv-  und 
Esthland.  Ein  Live  war  ein  Einwohner  der  livischen  Provinz,  man 
nannte  sogar  jeden  Bewohner  der  drei  südlichen  oder  deutschen  Ostsee- 
pro vinzen  einen  Liven,  weil  Livland  die  Vorherrschaft  führte.  Heute 
bezeichnet  man  mit  Live  einen  altansässigen  Bewohner  finnischen 
Stammes  jener  14  Livendörfer  Kurlands,  mit  Livländer  jeden  Landes- 
angehörigen Livlands,  besonders  einen  deutschen  Livländer. 

Kure  aber  galt  als  das,  was  wir  heute  einen  Kurländer  nennen, 
als  ein  Bewohner  Kurlands.  Die  im  Goldinger  Amte  wohnenden 
„Kurischen  Könige u  sind  Nachkommen  der  Stammeshäupter  jener  ein- 
gangs genannten  Stadtkreise  (civitates);  sie  haben  bis  heute  eine 
gewisse  Eigenart  behalten  und  wurden  in  den  Genuls  gewisser  Vor- 
rechte gesetzt;  ihre  Sprache  ist  aber,  soweit  man  zurück  verfolgen 
kann,  die  lettische  gewesen.  Nach  der  Lettisierung  des  gesamten 
Kurenvolkes  bezeichnete  also  der  Kurenname  kein  finnisches  Volk  mehr, 
sondern  teils  lettisierte  Finnen,  teils  reines  Lettenvolk  in  Kurland. 
Noch  heute  nennt  der  schameitische  Bauer  die  nördlichen  Nachbarn 
in  Kurland  Kuren  (Kurszei);  der  gebildete  Samogitier  gebraucht  schon 
den  Namen  Letten  (Latwei),  er  steht  ihm  höher  und  bezeichnet  eine 
freie  Nation,  nicht  unterthänige  Leute.  Der  geringer  gebildete  Volks- 
genosse kennt  den  Namen  nicht  und  wendet  ihn  höchstens  auf  die 
Witebsker  oder  auf  die  livländischen  Letten  an.  Merkwürdig  ist  der 
Gebrauch  von  curisch  auch  für  Gegenden,  die  heute  rein  deutsch  sind. 
So  wird  ums  Jahr  1700  ein  slowinzischer  Eid  im  lebakaschubischen 
Gebiet  curisch  genannt.     Beide  Sprachen  haben  nichts  miteinander  zu 

8* 


116  Die  Kuren:  Finnische  Einflüsse. 

thun.  Ist  es  nun  auch  sehr  leicht  möglich,  dals  die  kurischen  Fischer 
früher  den  Strand  noch  viel  weiter  westlich,  als  bis  nach  Memel 
besiedelten,  so  könnte  hier  der  Name  wohl  blols  „fremd",  „  undeutsch  tt 
bedeuten. 

Wahrscheinlich  ist  aber  jenes  curisch  von  curia  abgeleitet  und 
bedeutet  Unterthaneneid  der  Gu t s ho f- Arbeiter. 

Den  Namen  Eurszei  (sprich  Eurschei)  gebraucht  der  Litauer  von 
den  lettisch  redenden  Nehrungern  und  Memelstrandfischern.  Weshalb 
diese  Leute  den  Eurennamen  führen,  das  hat  wiederholt  die  Eöpfe 
der  Gelehrten  beschäftigt.  Sind  die  preufsischen  Euren  bodensässig 
oder  eingewandert,  sind  sie  ursprünglich  finnischen  oder  baltischen 
Stammes?  Am  wahrscheinlichsten  ist  die  Annahme,  dafs  die  preufsi- 
schen Euren  eingewanderte  lettisierte  Finnen  der  nördlicheren  kur- 
ländischen  Küstenstriche  sind.  Den  Eurennamen  führten  sie  schon 
in  ihrer  früheren  Heimat,  als  das  Lettentum  bis  an  den  Strand 
vorgedrungen  war,  sie  brachten  ihn  mit  auf  die  Nehrung.  Dr.  Bielen- 
stein  aber  schreibt  mir,  gegen  die  ursprüngliche  finnische  Zugehörig- 
keit spreche  „die  sprachliche  Verwandtschaft  mit  den  Letten  am 
Strande  südlich  und  nördlich  von  Libau,  wo  es  niemals  viele  finnische 
Leute  gegeben  hata.  Er  fährt  fort:  „Auch  die  Euren  Beinberts  von 
Apulia  waren  nicht  finnisches,  sondern  lettisches  Yolk.  Die  Südwest- 
ecke von  Eurland  ist  gewifs  nicht  lettisiert,  sondern  von  Urzeit  lettisch 
bis  an  den  Strand.  Wann  die  Lettisierung  der  in  das  kurische  Küsten- 
gebiet eingedrungenen  Finnen  begonnen  habe,  welche  ja  an  sich  nicht 
unzweifelhaft  ist,  dürfte  nicht  mehr  festgestellt  werden  können.  Ich 
habe  versucht,  nachzuweisen,  welcher  Prozentsatz  Finnen  unter  den 
Letten  Eurlands  überhaupt  eingedrungen  sein  könnte  („Grenzen" 
S.  314  f.).  Die  Prozentziffer  ist  eine  auf  serordentlich  kleine;  an  der 
Nordspitze  ist  sie  am  höchsten  und  doch  nur  ca.  6  Proz.  und  nimmt 
nach  Südwesten  stetig  ab.  Die  wenigen  scheinen  das  Volk  und  Land 
der  Letten  beherrscht  zu  haben,  und  weil  es  so  wenige  waren,  sind  sie 
so  spurlos  lettisiert  bis  auf  die  kleine  Ausnahme  bei  Dondangen.  Ich 
glaube  nicht,  dafs  die  Letten  zum  Strande  vorgedrungen  sind,  sondern 
da£s  die  finnischen  Kolonisten  in  das  finnische  Gebiet  eingedrungen  sind. 
Das  beweisen  mir  die  uralten  lettischen  Ortsnamen  auch  unweit  des 
Strandes." 

Über  die  Urbesiedelung  der  Nehrung  weifs  man  nicht  sehr  viel; 
die  älteren  Gräberfunde  weisen  Übereinstimmung  mit  der  alten  Kultur 
der  Domesnäser  und  Goldinger  Gegend  auf.  Wie  die  Besiedelung  statt- 
fand, bleibt  unaufgeklärt;  vielleicht  dient  ein  Vergleich  mit  der  Leba- 
nehrung.  Die  Besiedelung  der  Lebadünen  fand  auf  zweierlei  Art  statt, 
teils  von  der  Landseite,  teils  von  der  Südküste  des  Sees  her.  Die 
Fischer  der  letzteren  legten  erst  Schutzhütten  auf  den  Dünen  an,  um 
bei  widrigem  Wetter  nicht  die  weite  Heimfahrt  antreten  zu  müssen, 
allmählich  erwuchsen  kleine  Dörfchen  mit  ansässigen  Bewohnern  dar- 


Sprache  im  17.  und  18.  Jahrhundert.  117 

ans.  Auf  dem  Landwege  aber  drangen  die  Meeresküstenbewohner 
weit  stetiger  und  sicherer  auf  den  doppelseitig  bespülten  Dünen  nach 
deren  Mitte  vor,  sobald  ihnen  bessere  oder  besondere  Nahrungsquellen 
winkten.  Auf  der  Kurischen  Nehrung  ist  der  Landweg  der  bevorzugtere 
gewesen.  Aus  Namen  und  Berichten  ersieht  man,  dafs  die  lettische 
Besiedelung  sich  nicht  nur  auf  die  Nehrung  erstreckte,  sondern  auch 
auf  das  Haff uf er  und  auf  die  Stranddörfer  bis  in  die  Danziger  Gegend« 

Es  ergiebt  sich  also  folgendes:  Die  alten  Euren  waren  teils 
lettisches,  teils  finnisches  Volk,  das  am  nächsten  den  Liven 
verwandt  war  und  wohnten  an  Kurlands  Küste.  Der  ethno- 
graphische Name  wurde  Volksname  für  die  Kurländer.  Die 
lettischen  Kurländer  ererbten  den  Namen  Kuren  und  führen 
ihn  noch  heute  bei  den  Schameiten.  Die  preufsischen  Kuren 
sind  die  Letten  auf  der  Nehrung  und  am  Strande  nördlich 
von  Memel.  (Die  Domesnäser  Liven  werden  von  den  benachbarten 
Esthen  auch  Kuren  genannt;  der  Livenname  ist,  um  Verwechselungen 
vorzubeugen,  beizubehalten.)  Die  preufsischen  Kuren  behandele  ich  in 
den  folgenden  Abschnitten. 

Ordensberichte  des  1 5.  Jahrhunderts  bekunden  wiederholte  Besiede- 
lung kurländischer  Fischer  auf  der  Nehrung  und  am  Strande.  Jeden- 
falls reicht  das  erste  Aufschlagen  einfacher  Fischerbuden  in  weit  frühere 
Zeit  zurück  und  ist  kaum  anders  zu  deuten  als  die  ähnliche  Besiede- 
lung der  Lebadünen.  Im  13.  Jahrhundert  wurde  die  Nehrung  schon 
als  Heerstrafse  benutzt,  und  bereits  damals  scheint  es  neben  einzel- 
nen Hütten  Dörfer  gegeben  zu  haben.  Im  16.  Jahrhundert  erscheinen 
die  Namen  fast  sämtlicher  Nehrungsdörfer,  die  Zahl  der  lettischen 
Familiennamen  war  eine  verhältnismäfsig  gröfsere,  die  Volkssprache 
wird  als  eine  besondere  „kurische"  neben  der  litauischen  bezeichnet, 
die  litauische  ist  die  Kirchensprache.  Noch  in  dem  Jahre  1648  reden 
nach  Einhorn  die  Strandbewohner  „von  der  Memel  und  ferner  bils  fast 
an  Dantzig"  die  lettische  Sprache.  Damals  standen  Kirchen  aufser 
in  Memel:  in  Sarkau,  Karwaiten  und  in  Kunzen.  Die  letzteren  wurden 
wiederholt  verlegt.  Heute  gehören  die  Kuren  des  gleichen  Landstriches 
zu  den  Kirchspielen  Sarkau,  Bossitten,  Nidden,  Schwarzort,  Memel 
(Land)  und  Deutsch-Crottingen.  Doch  ist  nur  in  den  letzten  vier 
Kirchen  der  Gottesdienst  noch  doppelsprachig.  Bei  den  Lysiusschen 
Katechismusunterschriften  fehlt  merkwürdigerweise  die  Nehrung  ganz. 
Jedenfalls  herrschte  Kurisch  zu  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  und 
früher  auf  der  ganzen  Nehrung.  In  Kunzen  und  Sarkau  war  damals 
Jacob  Naps  (1711  bis  1727)  Pfarrer,  der  zuvor  das  Präceptorat  in  dem 
noch  halb  litauischen  Muldschen  bekleidete.  Den  Karwaitener  Gottes- 
dienst versorgte  der  Memeler  litauische  Diakonus  seit  1709  mit.  Er 
hiels  Johann  Theodor  Lehmann  (1687  bis  1722)  und  unterzeichnete 
nur  als  Memelscher  litauischer  Pastor,  tadelte  am  Katechismus  die 
Orthographie,  den  Ausdruck  und  den  Stil. 


118  Die  Kuren:   Kunzen.    Ludwig  Rhesa. 

Einen  Einblick  in  das  Leben  der  Kuren  im  17.  Jahrhundert  er- 
halten wir  durch  das  Kommunikantenbuch  des  Kunzener  Pfarrers 
Burckhardt  (1664  bis  1707).  Obwohl  die  Nehrung  damals  bewaldeter 
war,  drohte  doch  schon  vielseits  den  Dörfern  Versandung,  und  laute 
Klagen  ertönten  um  Hülfe.  Den  Karwaitenern  versprach  man,  weil  ihre 
Kapelle  versandet  war,  in  Negeln  Gottesdienst.  Alle  Vierteljahr  hielt 
der  Kunzener  Pfarrer  bis  1709  einmal  in  Nidden  Kirche.  1666  kam 
er  auch  und  liels  den  Fischern  vorher  den  Tag  seiner  Ankunft  und  die 
Abhaltung  des  Abendmahls  melden,  früh  lud  er  sie  nochmals  ein.  Da 
stand  einer,  Skirbe,  vor  der  Thür  und  schnitzte  einen  „  Schweinskopf u, 
eine  Kanklys,  jenes  Instrument,  das  bei  den  Litauern  heute  so  gut  wie 
unbekannt  ist,  während  es  in  Finnland  noch  häufiger  gefunden  wird1). 
Ein  anderer,  Martin  Pipp,  sals  in  der  Stube  spielend  vor  der  Kanklys. 
Die  Frau  besserte  Strümpfe  aus.  Die  Einladung  des  Predigers  wies 
sie  mit  der  Ausrede  zurück,  sie  habe  keine  Schuhe.  Ihr  Mann  hatte 
aber  „24  Mark  für  Stindt  gelöset,  laut  der  anderen  Nachbarn  Aus- 
sage". Auch  das  Reisegeld,  zehn  Groschen,  verweigerte  sie,  da  ja  keine 
aus  ihrem  Hause  zur  Kirche  war.  Ein  anderer,  Andreas  Zimmermann, 
verweigerte  das  Beichtgeld,  er  müsse  ein  „Stof  Bier  trinken,  es  sei 
lumpig,  zu  Ostern  zur  Wasserkanne  zu  laufen. 

Kunzen  hatte  schon  1555  einen  Pfarrer,  Johann  Woysen.  Kunzens 
Pastoren  wirkten  zugleich  in  Sarkau  und  bis  1709  in  Karwaiten,  dessen 
Kapelle  schon  1569  stand.  1756  bis  1765  finden  wir  in  Kunzen  als 
Pastor  den  Freund  des  Donalitius,  Sperber;  er  vertauschte  aber  den 
Dienst  mit  der  einträglicheren  Gaweitener  Kirchstelle  bei  Goldap.  Der 
Siebenjährige  Krieg  tobte  auch  in  unserer  Gegend  und  vernichtete  bei- 
spielsweise ganz  Lattenwalde. 

Am  9.  Januar  1776  wurde  in  Karwaiten  Ludwig  Rhesa  geboren, 
der  einzige  preulsische  Kure,  der  sich  einen  berühmten  Namen  gemacht 
hat.  Sein  Vater  war  der  dortige  Gastgeber  und  Strandbediente  und 
besafs  zuvor  ein  kleines  Fischereigrundstück.  Seine  Mutter  verlor  er 
im  dritten,  den  Vater  im  fünften  Lebensjahre.  Auch  seine  Stief- 
mutter starb  bald,  nun  blieben  vier  Söhne  und  eine  Tochter  in 
dürftigstem  Zustande  zurück  und  wurden  bei  Verwandten  unter- 
gebracht. Ludwig,  der  dritte  Sohn,  kam  zum  Fischer  Radmacher 
in  Negeln,  dann  zum  Posthalter  Böhn  in  Rossitten.  Beide  waren  arm, 
und  Ludwig  mulste  die  Gänse  hüten.  Er  nahm  aber,  vom  Rossittener 
Lehrer  in  die  ersten  Gründe  der  Wissenschaft  eingeweiht,  alle 
Bücher,  die  er  erlangen  konnte,  mit  aufs  Feld  und  erhielt  öfter 
Strafe,  weil  der  sonst  so  folgsame  Knabe  dabei  das  Gänsehüten  ver- 
gafs.     Der  Lehrer  empfahl  ihn  an  den  Kantor  und  späteren  Pfarrer 

l)  Im  Leipziger  Grassimuseum  sind  zwei  jener  finnischen  Instrumente 
zu  sehen,  eine  14 saitige  und  eine  24 saitige.  Sie  gleichen  den  erhaltenen 
litauischen,  nur  sind  die  beiden  Langseiten  gleichlaufend  und  die  gröfsere 
Kanklys  ist  doppelt  so  lang  als  die  kleine. 


Rhesas  Leben.  119 

Wittich  in  Kaukehnen,  wo  er  1785  bis  1791  im  Latein  unterrichtet 
ward  und  rund  heraus  erklärte,  er  wolle  studieren.  Wittich  war  selbst 
arm  und  brachte  unsern  Ludwig  Rhesa  ins  Löbenichtsche  Pauperhaus, 
von  dem  aus  man  (bis  1810)  die  Universität  besuchen  konnte.  Khesa 
hat  also  ähnlich  wie  Moswid  und  Bretke,  wie  Donalit  und  Pogar- 
szelski  die  Armut  durchgekostet  und  hat  wie  sie  zeitlebens  ein  Herz 
für  sein  Volk  und  Dankbarkeit  gegen  sein  Geschick  bewahrt.  Im 
Herbst  1794  begann  er  zu  studieren  und  belegte  philosophische, 
theologische  und  orientalische  Vorlesungen,  besonders  bei  Kant,  Hasse, 
Kraus.  Der  Eintrag  ins  Matrikelbuch  am  25.  März  1795  bezeichnet 
Ludowicus  Rhesa  als  Theologen.  Dabei  unterdrückte  er  seine  poetische 
Ader  nicht  und  nennt  das  Jahr  1798  geradezu  sein  poetisches.  Er  hatte 
im  Kypkeanum  freie  Wohnung  und  erhielt  sich  durch  Privatunterricht* 
zuletzt  wirkte  er  bei  dem  Gutsbesitzer  a*if  Jesau  und  nahm  dann  1800 
einen  Ruf  als  Königsberger  Garnisonprediger  an.  Zugleich  bereitete  er 
8 ich  auf  sein  akademisches  Lehramt  vor  und  verkehrte  viel  mit  dem 
späteren  evangelischen  Erzbischof  Borowski.  Als  1807  der  Kriegs- 
schauplatz nach  Ostpreufsen  verlegt  ward,  hatte  er  in  seiner  doppelten 
Stellung  harte  Arbeit.  Aber  ein  rechtes  Herz  ist  gar  nicht  umzubringen. 
Gerade  damals  dichtete  er  so  manches  schöne  Lied  auf  sein  über  alles 
geliebtes  Vaterland.  Er  ward  .Dr.  theol.  und  arbeitete  an  der  Über- 
setzung der  Bibel  ins  Litauische,  sich  der  dauernden  Gunst  Wilhelm 
v.  Humboldts  erfreuend.  Als  er  1811/12  den  Feldzug  nach  Rutsland 
mitmachte  und  mit  dem  Kurator  der  Dorpater  Universität,  dem  Fürsten 
von  Liewen,  in  Briefwechsel  kam,  erhielt  er  später  einen  Ruf  an  die 
livländische  Universität.  Die  Liebe  zum  Vaterlande  hielt  ihn  zurück. 
1813  trat  er  als  Feldprediger  in  die  Reihen  der  Freiheitskämpfer,  fuhr 
über  die  Kaschubei  und  Wendei  in  die  Leipziger  Gegend,  nahm  an 
der  Schlacht  teil,  zog  in  Paris  mit  ein  und  besuchte  auch  London. 
In  seinen  Nachrichten  und  Bemerkungen  aus  dem  Tagebuche  eines 
Feldgeistlichen  (Berlin  1814,  282  S.)  hat  er  in  trefflicher  Weise 
seine  Reiseerlebnisse  geschildert;  sein  Biograph  unterschätzt  in  wenig 
liebreicher  Weise  seine  Arbeiten.  Ein  bekannter,  mit  den  Verhält- 
nissen vertrauter  Gelehrter  schreibt  über  diesen:  „Es  ist  der  ganze 
und  echte  Katheder -X.  mit  seiner  Unfehlbarkeit  und  Arroganz,  wie 
sie  früher  den  meisten  Universitätsprofessoren  eigen  war.  Und  doch 
mufste  gerade  jener  dem  Vorgänger  Rhesa  sehr  dankbar  sein,  denn 
er  leitete  den  Bau  des  Rhesianums  und  behielt  sich  bescheiden  eine 
grofsartige  Wohnung  vor,  während  die  Zellen  der  Studierenden  auf 
ein  Minimum  reduziert  wurden.  Das  Ganze  machte  und  macht  noch 
Jetzt  den  Eindruck,  dafs  es  eine  palaisartige  Behausung  für  den  Vor- 
steher sei  und  nebenbei  auch  eine  Unterkunft  für  ein  paar  Studenten. 
So  hat  sich  Rhesa  offenbar  seine  Stiftung  nicht  gedacht. a  1816  legte 
Rhesa  seine  Predigerstelle  nieder  und  ward  ausschlielslich  Universitäts- 
lehrer,  als  welcher  er  sich  ein  grofses  Verdienst  um  die  Ausbildung 


120  Die  Kuren:  Bhesas  Gedichte. 

junger  litauischer  Theologen  erwarb.  1816  ward  er  Professor  der 
Theologie  und  Direktor  des  litauischen  Seminars.  Seine  schrift- 
stellerische Thätigkeit  eröffnete  er  1809  mit  der  Herausgabe  der  Prutena 
(„oder  preufsische  Volkslieder  und  andere  vaterländische  Dichtungen"), 
Er  widmete  sie  der  Königin,  der  in  ihrem  grolsen  Leid  ja  gerade  damals 
jene  Gegend  nahe  stand: 

Die  Daina,  welche  Littas  Hirtin  singt 

Im  Rautenkranz,  am  blauen  Nemastrom, 

Des  Fischers  Klage  bei  dem  Bernsteinsee, 

Und  was  in  Tagen,  die  vorüber  sind, 

Wenn  Laimas  Fest  erschien  und  Jung  und  Alt 

Den  Lindentanz  begann,  erklungen,  wird 

Toiskons  hehre  Tochter  nicht  verschmäh'n, 

Zum  ungezierten  Dank, dafs  sie 

In  Tagen,  die  der  Enkel  Prüfung  nennt, 
Bei  ihrem  Volke  mütterlich  geweilt, 
Des  Volkes  Thränen  liebend  hier  geteilt 
Und  auch  des  Volkes  herzlichen  Gesang.  — 

Die  Gedichte  sind  von  ungleichem  Werl  Die  meisten  bewegen 
sich  in  einem  schon  damals  durch  Goethe  und  Schiller  überwundenen 
Ton  und  sind  in  Stoff  wie  in  der  Sprache  veraltet.  Aber  eine  ganze 
Reihe  von  Poesieen  werden  unvergänglich  bleiben,  besonders  die,  in 
denen  er  seine  Heimat  besingt,  und  vielleicht  ist  die  Zeit  nicht  mehr 
fern,  dals  Rhesas  ausgewählte  Gedichte  ihre  Auferstehung  feiern.  Eine 
Anzahl  der  Gedichte  sind  Bearbeitungen  oder  Umdichtungen  von  Dainos, 
andere  bewegen  sich  im  Gedankenkreis  der  Anakreontiker  und  Idyllen- 
dichter oder  sind  Ausdruck  des  Klopstockschen  Freundschaftskultus; 
die  schönsten  aber  wurzeln  im  Heimatboden,  so  das  „Samländische 
Fischerlied",  die  „Linde  bei  Rössel",  der  „Philosophengang  bei  Königs- 
berg", „Vaterlandslied",  „Die  Ruinen  von  Balgau,  „Das  versunkene 
Dorf",  „Lied  der  Bernsteinfischer",  „Der  Sturm",  „Carwitas  Gräber", 
„Das  Todten- Feuer " ,  „Der  Lindentanz",  „Der  Gang  zur  Heimat", 
„Elegie  auf  Immanuel  Kant",  „An  Hasses  Grabe",  „Baltische  Sage", 
„Epitaphisches  Wort  für  J.  C.  Kraus".     Ein  paar  Stellen  lauten: 

Carwitas  Gräber. 

„Hier  deckt  ein  Berg  von  flügem  Sande 
Der  hoher  Eichen  Wipfel  zwang, 
Der  Väter  Gruft  auf  ödem  Strande 

Wo  sonst  der  Ernte  Sichel  klang 

Wo  sind  die  Lieder,  die  hier  klangen  ? 
Wo  ist  des  Dörfchens  Beigentanz? 
Wo  sind  die  Hirten,  die  hier  sangen? 

Wo  ist  die  Braut  im  Rosenkranz? 

Hier  steh  ich  auf  dem  öden  Hügel 

Und  wein  auf  meiner  Väter  Sand, 

Wann  kommt  der  Stunde  Bosenflügel 

Und  trägt  mich  über  Meer  und  Land?"  u.  s.  w. 


Rhesas  Werke.  121 

Gang  zur  Heimat. 


—  Bald  dämmerten  die  Wipfel 
Von  Niddas  Tannenhain, 
Der  grauen  Berge  Gipfel 
Umflofs  Auroras  Schein.  — 
Da  hallte  Grabgeläute, 
Ein  Zug  im  Trauerflor 
Erschien,  im  Kranz  der  Bräute 
Folgt  ihm  ein  Mädchenchor.  — 


.    —  Allein  am  Seegestade, 
Hinpilgernd  sonder  Buh, 
Ging  ich  dem  Heimatpfade, 
Nach  Niddas  Dörfchen  zu. 

Der  Kindheit  Bosenauen, 
Der  Jugendfreunde  Blick, 
Und  die  Ersehnte  schauen, 
War  mir  ein  Götterglück. 

Und  ach,  die  mir  erschienen, 

Sie,  meiner  Sehnsucht  Bild, 

Mit  engelgleichen  Mienen, 

Lag  in  den  Sarg  gehüllt. 

Den  zweiten  Teil  der  Sammlung  lief 8  Bhesa  1825  folgen.  Er  steht 
nicht  auf  der  Höhe  des  ersten.  Von  den  Freiheitsgesängen,  deren  er 
schon  im  ersten  Teil  solche  auf  die  Schlachten  hei  Auerstädt  und 
Eylau  veröffentlicht  hatte,  kann  sich  keiner  mit  denen  Schenkendorfs 
und  Arndts  messen.     Aber  sie  beweisen  doch  Ehesas  Können. 

An  das  Vaterland  1812. 

Von  der  baltischen  See,  die  mein  Lied  erzog, 

Bauscht  mir  tröstend  ein  Laut  seliger  Vorwelt  zu. 

Wo  an  Bäumen  des  Lebens 

Einst  ein  besser  Geschlecht  gewohnt.  — 

Und  die  Götter  des  Hains  flohen  zum  Freundesvolk, 

Wo  dein  bläulicher  Strom,  Njemen,  durch  Wälder  fleufst, 

Lebt  verklungen  ihr  Name 

Noch  im  Lied,  was  die  Hirtin  singt. 

Dann  läfst  Khesa  die  Grofsen  des  Vaterlandes:  Dach,  Kopernikus, 
Herder,  Hippel,  Kant,  Hamann  vorüberziehen  und  verflucht  den  Tyrannen, 
der  die  Heimat  unterjochte.  In  einer  Ode  an  Bülow  v.  Dennewitz 
meint  er,  die  Tage  von  Marathon  seien  wiedergekommen,  Leipzigs  Felder 
seien  Platää,  Culmens  Gebirge  Thermopylä. 

Neben  umgedichteten  Dainos  bietet  die  Sammlung  Sagenstoffe,  wie 
den  Strandvogt  von  Eossitten,  Keistut  und  Mylinne,  Nimmersatts  Zer- 
störung durch  den  Dänen  Frodo.  Am  besten  trifft  Rhesa  wieder  den 
Ton,  wenn  er  auf  das  gewöhnliche  Volk  zu  reden  kommt,  auf  den 
„ Fischer,  welcher  das  Netz  von  dem  Kahn  zum  grünenden  Hügel  hinan- 
trug, Wo  aus  Nufsbaumschatten  die  Halmdachhütte  hervorblickt,  Neben 
des  friedlichen  Dorfes  abhängenden  Büschen  und  Gärten",  oder  auf  Kranz: 

„Hier  wo  ein  Kranz  von  halmbedeckten  Hütten 
Am  netzumhangnen  Strand  sich  friedlich  lehnt, 
Wo  Gnügsamkeit  bei  frommer  Väter  Bitten 
Sich  reicher,  denn  in  Goldpalästen  wähnt.  — 
(Will  ich  vergessen  schnöder  Sorgen  Kummer  etc.)" 

Mit  Unterstützung  der  britischen  Bibelgesellschaft  lief 8  er  1816 
nach  Herausgabe  der  interessanten  „Nachrichten  etc.  1812/1813",  die 
Übersetzung  der  litauischen  Bibel  mit  einer  wertvollen  literargeschicht- 


122  Die  Kuren:  Bhesas  Alter,  Testament  und  Nachruhm. 

liehen  Einleitung  und  1818  den  Donali tins  folgen,  den  er  1824  er- 
gänzte. Er  widmete  den  „Donaleitis"  dem  Edelsten,  „welcher  in 
Zungen  vielerfahren  und  Sitten  der  redenden  Menschengeschlechter, 
auch  des  Sanges  und  Volkes,  was  blüht  an  der  heiligen  Memel,  kundig ; 
Thoiskons  Weisen",  Wilhelm  v.  Humboldt.  Dieser  hatte  an  der  Be- 
arbeitung regen  Anteil  genommen  und  erhielt  das  Lob,  dafs  er  „dem 
sprachenstürmenden  Schwärme  zürnte,  der  mit  dem  redenden  Laute 
austilgen  die  Seele  des  Volks  will".  —  Diese  Ausgabe  zeigt  ihn  als 
Dichter,  aber  nicht  als  kritischen  Herausgeber.  Sie  ist,  besonders  von 
Nesselmann,  viel  gescholten  worden.  Merkwürdig  bleibt,  dals  die  Ver- 
einigung der  vier  Hauptidyllen  zu  dem  ländlichen  Epos  „DaB  Jahr" 
nach  Pisanski  schon  von  Donalitius  vorhergesehen  sein  soll,  dafs  aber 
Rhesa  darüber  keine  Rechenschaft  giebt.  Wertvoll  sind  aber  Rhesas 
biographische  und  sonstige  Notizen.  Rhesa  hat  zeitlebens  in  die  Bücher 
seiner  reichen,  3000  Bände  zählenden  Bibliothek  fleilsig  Notizen  ein- 
getragen und  jedes  seiner  Bücher  mit  solchen  versehen.  1825  Schlots 
er  seine  dichterische  Thätigkeit  mit  der  Herausgabe  der  „Dainos"  ab. 
Sie  sind,  wie  der  „Donaleitis"  mit  Übersetzung  versehen;  Melodieen 
und  Anmerkungen  folgen.  Ein  Goethe  zollte  ihnen  hohes  Lob.  (Vgl. 
Tetzner,  Dainos  32  bis  34.)  1828  ward  Rhesa  erster  Professor  der 
theologischen  Fakultät  und  später  Eonsistorialrat.  Je  älter  er  ward, 
desto  einsamer,  nervöser,  reizbarer  und  ängstlicher  soll  er  geworden 
sein.  In  der  Königsberger  Deutschen  Gesellschaft  hielt  er  anfänglich 
Öfters  Vorträge,  besonders  über  Litauen,  auch  über  deutsche  und 
französische  Literatur  (Boileau).  Zuletzt  vermied  er  jede  grössere  Ge- 
sellschaft, lebte  ganz  kärglich  und  zurückgezogen  und  verlief s  kaum 
seine  Wohnung.  Man  erzählte  sich,  dafs  ein  rüder  theologischer 
Student,  der,  nach  damaliger  allgemeiner  Sitte,  auf  der  Straf se  stets 
mit  einer  langen  Reitpeitsche  aufgetreten,  zu  dem  erschreckten  Pro- 
fessor gekommen  sei  und  ein  Gesuch  durch  Hantierung  mit  der  Peitsche 
so  unterstützt  habe,  dafs  Rhesa  es  ratsam  gefunden,  sich  in  einen 
Winkel  zurückzuziehen  und  dem  Bramarbas  alles  Verlangte  zu  be- 
willigen. Es  wurde  studentisch  fast  für  unschicklich  angesehen,  einem 
Professor  gänzlich  höflich  zu  begegnen.  Man  betrachtete  ihn  noch 
immer  als  einen,  der  die  studentische  Freiheit  beschränkte.  Kurz  vor 
seinem  Tode  machte  Rhesa  am  27.  August  1840  sein  Testament  und  be- 
stimmte hochherzig  sein  Vermögen  zu  einer  Stiftung,  die  vollkommener 
als  die  Kypkesche  sein  und  wieder  armen  Studenten  den  Weg  ins  Leben 
ebnen  sollte.  Er,  der  zeitlebens  die  Pfennige  ängstlich  zusammenhielt, 
gab  alles  das  Seine  in  dankbarer  Erinnerung  an  seine  Helfer  in  der 
Jugend,  den  unbekannten  Söhnen  aus  dem  Volk,  das  der  „ anspruchslose, 
pflichtgetreue,  friedfertige,  vaterlandstreue u  so  liebte.  Er  war  bis  auf 
die  letzten  Lebensjahre  äufserst  fleifsig.  Ich  besitze  sein  Kollegienheft 
„ Kirchengeschichte"  in  der  Kurschatschen  Nachschrift  von  1837.  Sie 
zeigt  das  rastlose  Fortarbeiten  des  Mannes;  ein  litauisches  Wörterbuch 


Nehrungsforscher.  123 

bereitete  er  vor  und  scheint  an  eine  Neuausgabe  der  Dainos  gedacht 
zu  haben.  Aber  leider  ist  nur  weniges  Handschriftliche  aus  seinem 
Nachlats  aufbewahrt  oder  doch  in  öffentlichen  Bibliotheken  einzusehen. 
Ein  tragisches  Geschick  hat  den  grofsen  Wohlthäter  halb  vergessen 
lassen.  Kein  Dichterlexikon  kennt  ihn.  Sein  Geschlecht  erlosch  mit 
ihm.  Ja,  sogar  sein  Geburtsort  ist  verschwunden.  Sein  Heimatsdorf 
war  schon  bei  setner  Geburt  halb  versandet,  1789  wollte  man  die 
Kirche  wieder  aufbauen,  1796  wurden  die  letzten  Kircheneinträge  vor- 
genommen, 1802  standen  noch  zwei  Häuser  und  die  Schule.  Rhesa 
sang  von  dem  alten,  weithin  sichtbaren  Weidenbaum  Karwaitens  (Pas- 
sarge, Aus  baltischen  Landen,  S.  288): 

„Du  alter  Baum,  du  kämpfst  noch  mit  den  Winden, 
Ein  Eremit  in  dieser  Wüste  Sand, 
Doch  bald  auch  wird  dein  müdes  Haupt  verschwinden, 
Und  nichts  sagt  mir,  wo  meine  Heimat  stand. " 

Aufser  lateinisch  geschriebenen  Werken  zur  alten  Kirchen-  und 
Philosophiegeschichte  sei  von  seinen  vaterländischen  Werken  noch  die 
Fortsetzung  und  Erweiterung  der  Arnoldtschen  Presbyterologie  Ost- 
preufsens  erwähnt,  denen  er  die  gleiche  Arbeit  für  Westpreulsen  bei- 
fügte. 

Merkwürdig  ist,  dals  der  Kure  Rhesa  nie  von  seiner  kurischen 
Abstammung  spricht,  sondern  sich  aus  litauischem  Geschlecht  ent- 
sprossen hält.  Die  sprachlichen  Unterschiede  hat  er  ganz  sicher  gekannt 
und  hat  sie  für  nebensächlich  erachtet.  Er  mochte  vielleicht  auch  an 
der  Geringschätzung  Anstofs  nehmen,  die  man  den  Kuren  bewies,  die 
sich  ja  selbst  für  niedriger  als  die  Litauer  halten. 

Schrieb  doch  damals  G.  Merkel  (Die  Letten,  vorzüglich  in  Liefland 
am  Ende  des  philosophischen  Jahrhunderts,  Leipzig  1799)  über  die 
benachbarten  kur-  und  livländischen  Stammesgenossen,  denen  er  alle 
Liebe  und  Teilnahme  zuwendet  (S.  79):  „Stupid  und  nervenlos  tappt 
der  grofse  Haufe  derselben  durchs  Leben  und  kennt  kein  höheres  Glück, 
als  eich  bei  un zerfetztem  Rücken  mit  Spreubrot  sättigen  zu  können; 
keinen  Mut  als  den,  zum  Grofsherrn  aufzusehen;  keine  Weisheit,  als 
unertappt  zu  stehlen.  Nur  Sonntags  sinnlos  berauschtes  Vieh  zu  sein, 
gilt  ihm  für  Tugend;  für  Ehre,  nicht  gepeitscht  zu  werden." 

Als  die  Königin  Luise  1806  nach  der  Schlacht  bei  Jena  auf  ihrer 
Flucht  über  die  Nehrung  nach  Memel  von  den  Franzosen  verfolgt 
wurde,  erhielten  die  Pillkoppener  Fischer  von  der  preufsischen  Regie- 
rung den  Auftrag,  die  Kähne  auszuliefern  und  nicht  den  Verfolgern 
zur  Verfügung  zu  stellen.  Aber  die  Fischer  lenkten  die  Kähne  in  die 
versteckten,  unzugänglichen  Buchten  der  Ostküste,  so  dafs  nun  doch  die 
Verfolgung  verzögert  ward  und  die  Königin  verschont  blieb.  Passarge, 
dem  ich  diese  Notiz  verdanke,  berichtet  auch  von  dem  bedeutenden 
äufseren  und  wirtschaftlichen  Aufschwung.  Kein  Ort  der  Nehrung  hat 
sein   altes  Gepräge   noch.      Allenthalben    stehen   schöne  Schulen   und 


124      Die  Kuren:  Ehemaliges  lettisches  Sprachgebiet  in  Deutschland. 

Kirchen,  die  Häuser  stammen  fast  alle  aus  der  zweiten  Hälfte  des  vorigen 
Jahrhunderts.  Als  1869  Nidden  wegbrannte,  sammelte  Passarge  in 
Königsberg  allein  über  2000  Thlr.  und  ganze  Säcke  voll  Kleider.  Heute 
wird  das  kurische  Gebiet,  besonders  die  Nehrung,  fleitsig  von  Forschern, 
Malern,  Touristen  besucht.  Die  scheinbar  reizarme  Gegend  lockt 
viele.  Eine  zahlreiche  Literatur  beschäftigt  sich  mit  der  Gegend,  doch 
hat  man  merkwürdigerweise  das  Volkskundliche  etwas  vernachlässigt. 
Die  wichtigsten  Arbeiten  über  unser  Gebiet  führe  ich  an.  —  Der  erste, 
der  mehr  als  vorübergehend  bei  den  Nehrungern  verweilte,  war  Hennen- 
berger  1595.  Hundert  Jahre  später  schrieb  Prätorius  manches  zur 
Sprach-  und  Volkskunde  der  Kuren.  Jachmann  bot  1825  zuerst  eine 
zusammenhängende  Beschreibung  der  Nehrung.  Ihm  schlössen  sich 
Wutzke,  Berendt,  Schumann,  Schiefferdecker  u.  A.  an,  bevorzugten 
aber  mehr  die  Geologie,  Archäologie  und  Dünenkunde.  Hervorragende 
Arbeiten,  die  auch  der  Volks-,  Sprach-  und  Geschichtskunde  gerecht 
werden,  lieferten  in  jüngster  Zeit  Passarge,  Diederichs,  Bezzenberger, 
Lindner.  Meine  Aufzeichnungen  gehen  auf  einen  mehrmaligen  Aufent- 
halt bei  den  Kuren  und  auf  Nachrichten  der  dortigen  Pastoren  und 
Lehrer  zurück. 

n.     Gebiet. 

Im  13.  Jahrhundert  reichte  Kurland  nach  Ostpreufsen  hinein  und 
umfafste  vom  festländischen  Gebiete  die  Umgegend  von  Memel,  alles 
Land  an  der  Dange  und  rechts  und  links  von  der  Minge,  bis  nach 
Windenburg  hin,  wo  der  Atmattarm  des  Kufsstromes  im  Haff  endet. 
Die  spärlich  bevölkerte  Gegend  war  von  Letten  bewohnt,  die  mit  Litauern 
untermischt  safsen.  Diese  Letten  hatten  in  ihrer  Sprache  noch  manches 
altkurisch-finnische  Wort  Wie  weit  aber  die  lettische  Sprache  selbst 
auf  der  Nehrung  und  weiter  südwärts  reichte,  wird  kaum  je  erhellt 
werden.  Jene  beiden  kurländischen  Landschaften,  die  auf  heutiges 
ostpreufsisches  Gebiet  hin  überreichten ,  waren  Megowe  und  südlich 
davon  Pilsaten.  Witold  überlief s  sie  im  Frieden  am  Melnosee  1422 
endgültig  dem  Orden.  Pilsaten  war  schon  1338  abgetreten  worden. 
Um  diese  Zeit  (1408  bis  1481)  zeigt  der  Komtur  zu  Memel  wiederholt 
dem  Hochmeister  an,  wie  Kuren  von  Norden  her  im  Ordensgebiete 
Boden  zu  fassen  suchten,  dafs  sie  auf  dem  Strande  ihre  leichten  Fischer- 
buden aufschlügen  und  alles  nähmen,  was  sie  auf  dem  Strande  fänden. 
Diese  Berichte  wiederholen  sich  und  finden  ihre  Entsprechungen  in 
allen  Jahrhunderten.  Sie  belehren  recht  gut  über  die  Art  und  Weise 
der  lettischen  Besiedelung.  1543  wird  über  die  zwei  Kirchspiele  Post- 
nicken und  Germau  auf  der  Südseite  des  Haffs  gesagt,  dafs  sich  die 
dortigen  kurischen  Fischerknechte  der  Kirche  fernhalten,  auch  keinen 
Dolmetscher  oder  Tolken  halten,  der  ihnen  die  deutsche  Predigt  nach- 
übersetze, und  dafs  sie  Herumschweifende  (vagi)  seien,  die  nirgendswo 


Eigenarten.  125 

lange  blieben.  Auch  die  Namen  Grofskuren,  Kleinkuren,  Kranzkuren, 
Neukuren  deuten  anscheinend  ehemalige  kurische  Bevölkerung  an. 

Um  1648  wohnen  nach  Einhorn  bis  fast  an  Danzig  (Hist.  Lettica, 
S.  1,  Dorpat  1649),  um  1680  nach  Prätorius  in  Samland  „dahin 
anlandende  Curische  Fischer".  Im  Jahre  1785  schrieb  eine  lebhafte 
Schilderung  der  kurischen  Lebensweise  und  Besiedelung  der  Kriegs  rat 
Heinz  (Passarge,  Kurische  Nehrung,  S.  29  f.).  Die  Sarkauer  waren  mit 
den  Bammelsvittern  handgemein  geworden,  weil  die  ersteren  nicht  nur 
ihr  Kahnzelt  auf  Vittener  und  Karkelbecker  Strandgebiet  gebaut,  son- 
dern auch  in  den  anliegenden  Dörfern  wie  die  Haben  stahlen,  im  Meere 
Raubfischerei  trieben  und  sich  um  die  bestehenden  Gesetze  wenig 
kümmerten. 

Der  Schakener  Erzpriester,  Johann  Friedrich  Goldbeck,  schweigt 
über  die  Art  und  Weise  der  kurischen  Lebensbethätigung  und  klagt 
in  seiner  um  1785  erschienenen  Vollständigen  Topographie  des  König- 
reichs Preulsen  auf  S.  11  nur  über  den  kärglichen  Erwerb  der  Fischer 
auf  der  Nehrung.  Lepner  spricht  von  litauischer  Bevölkerung  im 
Schakener  Kreise;  es  ist  fraglich,  ob  er  dabei  nicht  lettische  ein- 
schliefst. Dem  Augenblick  lebend,  hängen  die  Kuren  weniger  an  ihrer 
Hütte  als  andere  Völker.  Ist  ein  Ort  besser  zum  Fischen  geeignet  und 
bietet  mehr  Aussicht  auf  Erwerb,  so  wenden  sie  sich  der  neuen  Heimat 
zu.  Auch  Jachmann  berichtet  über  die  nomadisierenden  kurischen 
Fischer.  Die  spärlichen  kurzen  Berichte  voriger  Jahrhunderte  geben 
somit  niemals  recht  an  die  Hand,  wie  weit  je  das  kurische  Gebiet  in 
Ostpreufsen  reichte,  und  ob  die  jeweiligen  Schilderungen  einen  dauernden 
oder  nur  einen  augenblicklichen  Zustand  schildern.  Im  Sommer  fahren 
vorpommersche  Strandschiffer  noch  in  unserer  Zeit  mit  ihren  Kähnen 
die  baltische  Küste  entlang  bis  Granz,  ja  bis  Riga,  die  ihren  Fang  in 
den  anliegenden  Städten  verkaufen,  bei  geringem  Ertrag  immer  weiter 
nach  Osten  rudern  und  des  Nachts  im  Kahn  bleiben,  den  sie  auf  den 
Strand  ziehen.  Im  Herbst  kehren  sie  in  die  Heimat  zurück.  Ganz  ahn- 
lieh  ist  ja  Wutzkes  Bericht  (S.  307)  von  den  ostpreufsischen  Kuren: 

„Die  Bewohner  der  Nehrung,  besonders  aus  dem  Dorfe  Sarkau, 
schiffen  sich  bei  der  für  sie  zum  Fischfang  geeigneten  Jahreszeit  auf 
ihren  Fischerkähnen  nebst  ihrer  Familie  und  den  Haustieren,  nämlich 
jungen  Schweinen,  Hühnern  und  auch  Hunden,  welche  sie  teils  mit  Fischen 
füttern,  ein,  landen  an  den  für  sie  bestimmten  Ufern,  beziehen  nun  ihr 
Lager  und  betreiben  den  Aalfang  bis  Memel  hin.  Ihr  Zelt  besteht  nur 
aus  einem  Segel,  an  einigen  in  die  Erde  oder  Sand  gesteckten  Stangen 
befestigt,  zum  Schutz  und  Obdach  bei  jeder  Witterung,  wo  sie  denn 
das  Segel  jedesmal  gegen  den  Wind  stellen,  für  die  ganze  Familie,  und 
es  erregt  Aufmerksamkeit,  diese  Menschen  hier  noch  so  ganz  im  rohen 
Zustande  der  Natur  zu  sehen.  Während  dieser  Umherzüge  auf  dem 
Haff  und  dessen  Ufern  bis  zum  Eintritt  der  kalten  Herbstwitterung, 
wo  sie  mit  dem  gelösten  Gelde  oder  mit  dem  am  östlichen  Ufer  des 


1 


126  Die  Kuren:  Der  kurische  Eid. 


Haffs  eingetauschten  Korn  für  ihre  Fische  heimkehren,  werden  die  ver- 
lassenen Wohnungen  von  alten  Leuten,  welche  Brot  backen  und  Holz 
nachschicken,  bewohnt.  Bis  zur  Wiederbesitznahme  werden  die  ganz 
leeren  Wohnungen  dadurch  bezeichnet,  dats  die  Fenster  und  Thüren 
mit  einem  Brette  verschlagen  werden,  und  diese  Schutz  wehr  wird  von 
den  Einwohnern  sehr  geachtet,  indem  sie  hierin  noch  einen  unver- 
dorbenen Sinn  besitzen.  Um  diese  Menschen  einheimischer  zu  machen, 
erhalten  sie  zu  ihren  Wohnungen  freies  Bauholz  und  auch  seit  einigen 
Jahren  auf  meine  Anträge  bei  der  königl.  Regierung  Holz  zu  den 
Bewährungszäunen  und  Gärten,  welches  auch  günstig  einwirkt. tf  Wenn 
wir  freilich  das  Leben  und  Treiben  unserer  Euren  mit  dem  ihrer 
russischen  Volksgenossen  vergleichen,  wie  es  Seume  1798  aus  eigener 
Anschauung  schildert,  so  müssen  wir  die  Nehrunger  noch  glücklich 
preisen.  Seume  sagt  (vgl.  Planer  und  Reifsmann,  Seume,  S.  489): 
„Ich  bin  doch  unter  den  Huronen  gewesen,  aber  ich  erinnere  mich  in 
meinem  Leben  nie  eine  wehmütigere  Empfindung  gehabt  zu  haben,  als 
da  ich  das  erste  Mal  in  lettischen  Bauernhütten  herumkroch,  die  kein 
Fenster   und   kein  Schornstein  als  menschliche  Wohnung  bezeichnet,  t 

wo  mir  aus  einem  Behältnis,  in  welchem  Vieh  und  Mensch  zugleich 
wohnt,  erstickender  Dampf  entgegenqualmte;  wo  gleich  beim  Eintritt 
der  Rauch  die  Augen  zerbeizte,  und  wo  die  jungen,  schmutzigen,  wel- 
kenden, erbärmlichen  Menschengeschöpfe  mit  ihren  Kotlappen  sogleich 
in  den  finstersten  Winkel  flüchteten,  weil  ich  vermutlich  den  Rock  und  r 

das  Äufsere  eines  ihrer  Peiniger  hatte.  Man  wird  von  der  ganzen  Last 
des  traurigen  Mitleids  niedergedrückt,  wenn  man  sich  der  Düne 
nähert." 

Da  führen  unsere  Nehrunger  doch  ein  freudigeres  Dasein.  Mag 
der  Wind  noch  so  heftig  die  Sanddünen  von  der  flachen  Meeresküste 
der  steileren  Haffseite  zutreiben,  mag  das  Haus  noch  so  sehr  vom 
Flugsande  bedroht  werden  und  der  sandige  Boden  die  Ackerfrucht 
versagen!  — 

Über  den  kurischen  Eid  geben  Olearius,  ferner  Brand  und  sein  ' 

Herausgeber  Penin,  einzelne  Mitteilungen  und  vergleichen  ihn  mit  dem  , 

lettischen  und  esthnischen.  Der  Kure  mutete  mit  dem  linken  Fufs  auf 
untergelegten  Kieselstein  treten  und  das  rechte  Knie  auf  die  Erde  legen.  I 

Die  linke  Hand  hielt  einen  weifsen  Stab,  die  zwei  Finger  der  rechten  } 

Hand  wurden  emporgehoben.  Auf  dem  Kopfe  aber  lag  ein  Stück  Rasen. 
Diese  Äufserlichkeiten    sollten    bedeuten,    dats  der  Schwörende  beim  , 

Meineide  starr  wie  der  Stein,  steif  wie  der  Stock,  beim  richtigen  Eide 
aber  grün  wie  der  Rasen  sein  soll  Noch  schärfere  Bedingungen 
sprechen  der  kaschubische   und  der  slowinzische  Eid  aus.     Ob  diese  , 

Eide    auf   der  Nehrung   gebräuchlich  waren,   ist  nicht  nachzuweisen.  4 

Brand  erwähnt  (S.  74)  bei  den  Kurländerinnen  dasselbe  weifse  Kirchen- 
laken, das  die  Kaschuben  noch  vor  einigen  Jahrzehnten  hatten  und  die 
Sorben  noch  heute  gebrauchen.     Auf  der  Nehrung  war  es  nicht  Mode. 


I 


Die  lettische  Bevölkerung 
im  März  1897  wie  folgt: 


Orte 


Kirchspiel  Sarkau  (415  8.): 

Sarkau  (415) 

Kirchspiel  Bossitten  (600  S.): 

Pillkoppen 

Kirchspiel  Nidden  (914  S.): 

Nidden 

Preil  und  Perwelk  .... 
Kirchspiel  Schwarzort  (400  S.): 

Schwarzort 

Kirchspiel  Memelland  (12  000  S.): 

Bommelsvitte 

Meineragen 

Kirchspiel   Deutsch  -  Krottingen 
(4800  S.): 
Karkelbeck  (Seelsorgehezirk) 
Immersatt  und  Nimmersatt 


Abb. 


Das  lettische  SprachgebU 


Gebiet  mit,  kurisSur  f\ 

Litcm 


w  n-.i^  Gebiet  veneövoelter  Km 


T 


"Ehemaliges  Gebiet  Ttre 
^Stadl,  tTGrthdorf,    oDorf 

o 


Immersatt -Nimmersatts  Entstehung.  127 

Heute  ist  das  kurische  Gebiet  Ostpreufsens  auf  den  Strand  von 
Sarkau  bis  Nimmersatt  beschränkt  und  zwar  so,  dafs  in  Sarkau  und 
Pillkoppen  noch  geringe  lettische  Spuren,  in  den  folgenden  Strand- 
dörfern von  Nidden  bis  zur  kurischen  Grenze  aber  noch  ständige 
kurische  Bevölkerung  wohnt.  Die  Kurendörfer  seien  in  folgendem  auf- 
gezählt    Karte,  Abb.  32. 

Im mersatt-N immersatt.  Die  Zahl  der  Letten  dieses  Grenz- 
dorfes beträgt  nur  15  (5  Proz.),  doch  verstehen  160  (57  Proz.)  noch 
die  alte  Sprache.  Im  übrigen  herrscht  die  litauische  Sprache  vor.  In- 
folge der  Landstralse,  des  zahlreichen  Grenzverkehrs  (Memeler  Jahr- 
markt), der  Rettungsstations-  und  Grenzbeamten  und  der  Nähe  des 
Seebades  Polangen  hat  indessen  gerade  die  Gemeinde  ein  recht  zeit- 
gemäfses  und  deutsches  Gepräge  angenommen.  Sie  besitzt  eine  Schule 
mit  60  Kindern,  die  nur  in  deutscher  Sprache  Unterricht  empfangen, 
wie  fast  in  ganz  Litauen.  Es  hatte  1785  nur  12  Feuerstellen,  welche 
Zahl  sich  vervierfacht  hat.  1848  hatte  es  20  Wohngebäude  mit  228 
evangelischen,  9  katholischen  und  3  jüdischen  Bewohnern,  1885  schon 
40  Wohngebände  mit  185  Evangelischen,  3  Katholiken,  10  Juden» 
Kirchlich  gehört  es  zu  Deutsch-Crottingen,  dem  nördlichsten  preußischen 
Kirchspiele.  Dies  ward  1654  von  Memel  abgezweigt  und  erhielt  in 
Johann  Lehmann  einen  Pfarrer.  Es  zählt  heute  unter  5200  Seelen 
nur  400  Deutsche,  doch  nimmt  die  Beteiligung  am  deutschen  Gottes- 
dienste, der  allsonntäglich  neben  dem  litauischen  gehalten  wird,  stetig 
zu.     Rhesa  singt  von  Nimmersatt: 

Zu  Nimmersatt  am  Baltenstrand 

Bauscht  früh  und  spat  die  Welle, 

Da  grünt  kein  Baum  auf  ödem  Sand, 

Kein  Blümlein  an  der  Quelle, 

Und  nimmer,  nimmer  wächst  die  Saat, 

Wer  hier  auch  ackert  früh  und  spat. 

Der  Nachtigallen  Lieder 

Tönt  Busch  und  Wald  nicht  wieder.  — 

Der  Name  Immersatt  soll  unter  Friedrich  Wilhelm  III.  entstanden 
sein.  Aus  Rufsland  kommend,  kehrte  er  in  der  unfruchtbaren  Gegend 
beim  Posthalter  Mellien  ein.  Der  bat  ihn:  „Ich  bin  immer  satt,  und 
bitte  meine  Besitzung  doch  lieber  so  zu  nennen. u  Der  König  bewilligte 
den  Namen  für  die  Posthalterei;  Immersatt  ist  der  Name  der  Post  und 
des  Lembkeschen  Gartenrestaurants,  das  den  Goetheschen  Hausspruch 
trägt:  Freundlich  trete  (!)  herein  und  froh  entferne  dich  wieder  etc. 
Es  ist  an  der  Straf se  der  südliche  Teil  der  Gemeinde,  jenseit  der  Straf se 
umschlief sen  aber  die  anderen  Häuser  Immersatt. 

Karkelbeck.  Hier  wohnen  125  Letten  (14  Proz.),  bei  der 
Fischerei  sprechen  fast  772  (87  Proz.)  die  alte  Sprache.  Es  hatte  1785 
schon  44  Feuerstellen  und  schickt  heute  135  Kinder  zur  Schule,  der 
ein  Lehrer  vorsteht.     1848  hatte  es  73  Wohngebäude  mit  549  evan- 


128  Die  Kuren:  Karkelbeck.    Meineragen. 

gelischen  und  10  katholischen  Bewohnern,  1885  aber  93  Wohngebäude 
mit  794  Evangelischen  und  3  Katholiken.  Kirchlich  gehörte  es  zu 
Deutsch  -  Crottingen.  Der  Südteil  heifst  Hoppen  Michel.  Das  Dorf 
liegt  abseits  der  Strafse.  Karkelbeck  ist  seit  kurzem  ein  Seelsorge- 
bezirk. 

Meineragen.  Das  Dorf  zählt  30  (4  Proz.)  Letten,  bei  der 
Fischerei  verstehen  ziemlich  alle  548  (96  Proz.)  lettisch.  Es  hatte 
1885  schon  79  Wohnhäuser  mit  463  evangelischen  Einwohnern,  1861 
nur  26  Feuerstätten  mit  261  Evangelischen  und  2  Katholiken,  1848 
blols  23  Wohngebäude  mit  171  evangelischen  und  4  katholischen  Be- 
wohnern, und  1785  nur  7  Feuerstellen.  1846  ward  eine  Schule  ge- 
gründet, die  damals  20,  heute  90  Schüler  zählt.  Nacheinander  wirkten 
der  verwickelten  sprachlichen  Verhältnisse  wegen  18  Lehrer.  1862 
ward  eine  neue  Schule  gegründet,  das  Gehalt  bezahlt  der  Armut  der 
Gemeinde  wegen  der  Staat.  Die  sechsjährigen  Kinder  können  fast  kein 
deutsches  Wort  sprechen,  deshalb  ist  der  erste  Religionsunterricht 
litauisch.  Bei  der  Schulentlassung  sprechen  die  meisten  Kinder  fertig 
deutsch,  vergessen  es  aber  allmählich  wieder  beim  Fischerhandwerk. 
Der  Einflute  des  litauischen  Hinterlandes  ist  auf  die  Umgangssprache 
dieser  wie  der  vorhin  genannten  Gemeinde  ganz  bedeutend.  Ixi  beiden 
Orten  wird  das  besonders  von  den  Frauen  gesprochene  Litauisch  noch 
lange  herrschen  und  dem  Deutschen  nicht  Platz  machen.  Meineragen 
zerfällt  in  zwei  Teile  (in  die  erste  und  zweite  Meinerage),  der  erste 
reicht  1 1/3  km  vom  Leuchtturm  beim  Haffausflufs  nordwärts,  dann  folgt 
fast  eben  so  lang  unbebaute  Weide  und  dann  1  km  lang  der  zweite 
und  ältere  Teil.  Die  377  Morgen  Bodenbesitz  verteilen  sich  auf 
10  Feuerstellen  in  Meineragen  II  und  20  in  Meineragen  I,  eine  ist  die 
Schule.  Als  das  Dorf  angelegt  ward,  war  die  sandige  Gegend  eben. 
Als  der  Gemeinde  1838  die  erwähnte  Morgenzahl  zuerteilt  ward, 
mufste  sie  sich  verpflichten,  für  Festlegung  des  anflutenden  Seesandes 
zu  sorgen,  der  bis  ans  Holz  des  nördlich  davon  liegenden  Seebades  der 
Station  Försterei  weht.  Als  die  Memeler  Molen  erbaut  wurden  und 
der  aus  der  Haffmündung  ausgebaggerte  Sand  nun  von  Meer  und  Wind 
ans  nördliche  Ufer  wehte,  bildete  sich  infolgedessen  eine  Vordüne,  die 
festgelegt  ward,  um  die  Versandung  der  Häuser  zu  verhüten.  Erst 
besorgten  die  Fischer  die  Bepflanzung  der  Düne,  dann  nahm  die 
Regierung  die  Arbeit  in  die  Hand,  jetzt  besorgt  sie  die  Gemeinde  gegen 
eine  Entschädigung.  Durch  Wegschaffen  des  Sandes  vor  den  Häusern 
hat  man  kleine  Ackerstücke  geschaffen,  die  geringen  Ertrag  an  Kar- 
toffeln, Roggen,  Hafer,  Gerste  gewähren  und  auch  Platz  für  einige 
spärliche  Kirsch-,  Bim-  und  Äpfelbäume  gewähren.  Die  arme  Gemeinde 
ist  willig,  auch  für  die  Schule  .etwas  zu  thun,  man  hat  einen  13  X  20  m 
grolsen  Schulgarten  angelegt  und  zum  Schutze  gegen  den  Seewind  mit 
Kiefern  und  Bretterzaun  umgeben.  12  Obstbäume  stehen  darin.  — 
1897  begann  man  die  Separation  des  Gemeindelandes.   Kirchlich  gehört 


Bommelsvitte.  129 

der  grölste  Teil  zu  Memel  (Land),  wo  3  Geistliche  und  34  Lehrer  an 
24  Schulen  wirken. 

Bommelsvitte.  Memels  nördliche  Vorstadt  steht  ja  viel  zu  sehr 
unter  dem  Einflüsse  Memels  und  liegt  nicht  abseits  der  Stratse  wie 
Karkelbeck  und  Meineragen,  so  dafs  sich  hier  das  Lettentum  nicht 
hätte  halten  können.  Es  zieht  sich  nicht  am  Meeresstrande  hin,  wie 
jene  Dörfer,  sondern  am  östlichen  Haffufer,  dem  ja  die  Letten  fehlen. 
Auch  die  gegenüberliegenden  Gebäude  der  Süderspitze  und  des  Sand- 
kruges auf  der  Nehrung  mit  ihren  deutschen  Bewohnern  bröckeln  das 
Lettentum  ab.  Bommelsvitte  hat  heute  nicht  1  Proz.  (30  Köpfe) 
Letten  mehr,  bei  der  Fischerei  wenden  hingegen  noch  ein  Drittel  der  Be- 
völkerung (1000)  lettische  Ausdrücke  an.  Die  grobe  Gemeinde  hatte 
1885  in  249  Wohnhäusern  3262  Einwohner,  1785  schon  50  Feuer- 
stellen und  erfreute  sich  ziemlicher  Wohlhabenheit.  Ihre  Bewohner 
sind  nicht  nur  Fischer,  sondern  auch  Schiffer,  dienen  in  der  Marine 
und  befahren  die  Meere.  Die  litauische  Sprache  überwiegt  hier  be- 
deutend. Der  Konfession  nach  sind  92  Proz.  evangelische,  6  Proz. 
katholische,  1,5  Proz.  sonstige  Christen  und  0,5  Proz.  Juden.  Kirch- 
lich gehört  der  Ort  zur  Memeler  Landkirche,  zu  der  6000  Litauer  und 
ebensoviel  Deutsche  zählen.  Der  Gottesdienst  findet  hier  wie  in 
Crottingen,  Schwarzort  und  Nidden  sonntäglich  in  beiden  Sprachen 
statt.  Die  Schule  wird  von  sechs  Lehrern  besorgt;  in  Süderspitze 
wirkte  gleichfalls  ein  Lehrer,  der  zugleich  Feldwebel  war.  Bevor  er 
seine  Stelle  antrat,  beteiligte  er  sich  in  den  70  er  Jahren  sechs  Wochen 
am  Seminarunterrichte  zu  Karalene  bei  Insterburg.  Dann  bekleidete 
er  die  Doppel  Stellung  als  Lehrer  und  als  Feldwebel  beim  Süderspitzer 
Artilleriedepöt  und  der  Memeler  Fortifikation.  Die  Schülerzahl  der 
70  Seelen  zählenden  Gemeinde  war  natürlich  stets  eine  sehr  kleine. 
Nachdem  die  beiden  militärischen  Anlagen  eingegangen  waren,  am 
5.  Oktober  1897,  ist  der  Feldwebel  als  Lehrer  um  seine  Pensionierung 
eingekommen.  Jetzt  werden  die  wenigen  Kinder  der  Gemeinde  nach 
Bommelsvitte  oder  Memel  zur  Schule  müssen. 

Bommelsvitte  hat  jetzt  etwa  3300  Einwohner,  zu  gleichen  Teilen 
aus  Fischern,  Arbeitern,  Handwerkern  und  Kaufleuten  bestehend.  Die 
Häuser  sind  schmal,  oft  schiefwinkelig,  einstöckig,  aus  Holz,  mit  Dach- 
pfannen gedeckt  und  oft  mit  Teer  bestrichen.  Die  Strafsen  sind 
unge pflastert.  Die  lettischen  und  litauischen  Frauen  tragen  meist 
dunkelfarbene  Röcke,  die  Männer  blaue  Jacken  und  Hosen,  die  Mädchen 
die  Zöpfe  ohne  Wollband.  Die  Bewohner  sind  friedlich  und  harmlos. 
Bei  der  Fischerbevölkerung  ist  das  Schwefeläthertrinken  nichts  Seltenes. 

Der  Viehstand  weist  9  Stück  Rindvieh,  15  Pferde,  468  Schweine, 
6  Ziegen,  269  Hühner  auf,  Obstbäume  giebt  es  wenig.  50  Lachs- 
kutter betreiben  u.  a.  die  Seefischerei. 

Der  Schutzpatron  der  Schule  ist  der  Tauerlaukener  Gutsbesitzer. 
Die  Schule  ward  1830  gegründet,  eine  katholische  1865.    An  der  evan- 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  g 


130  Die  Kuren. 

gelischen  wirken  Jetzt  sechs  Lehrer  in  vier  Klassen,  in  der  katholischen 
ein  Lehrer.  In  Bommelsvitte  ereignete  sich  bei  der  letzten  Reichstags- 
wahl der  merkwürdige  Fall,  dals  bei  der  Stichwahl  die  Sozialdemokraten 
zum  grolsen  Teil  für  den  Konservativen  stimmten  und  der  litauische 
Kandidat  im  ersten  Wahlgange  (Kons.  86,  Lit.  3,  Freis.  49,  Soz.  307) 
noch  nicht  0,7Proz.,  im  zweiten  noch  nicht  32Proz.  (von  382  Stimmen) 
hatte.  Die  litauische  Landbevölkerung  aber  brachte  den  litauischen 
Kandidaten  mit  7382  gegen  6085  konservative  Stimmen  durch.  In 
Tilsit  siegte  zu  gleicher  Zeit  der  freisinnige  Kandidat  gegen  den  der 
Litauer  und  Konservativen  mit  ziemlich  4000  Stimmen  Vorsprung. 
Nichts  kann  klarer  beweisen,  wie  schwach  sich  litauische  Sondertüm- 
lichkeit  selbst  in  der  abgelegensten  Gegend  zeigt. 

Schwarzort.  Dies  Kirchdorf  der  Nehrung  entwickelt  sich  zu- 
sehends infolge  seiner  günstigen  Lage,  seiner  Bernsteinschöpferei  und 
seines  herrlichen  Waldes  zum  Modebad.  Hier  war  auch  bis  1890  ein 
Sitz  der  Bernsteinbaggereien  von  Stantien  und  Becker  und  infolge- 
dessen ein  reiches  gewerbfleilsiges  Leben.  Die  Arbeiter  sind  Deutsche 
und  Litauer.  Die  Schwarzorter  Letten  waren  und  bleiben  Fischer; 
ihnen  gehört  der  Süden  des  Dorfes,  jenen  der  Norden.  Schwarzort 
hatte  1785  nur  7,  1820  jedoch  20  Feuerstellen  mit  160  Bewohnern, 
1848  bereits  21  mit  219,  1861  noch  25  mit  222,  1867:  319  Seelen; 
1871  wohnten  in  32  Wohngebäuden  schon  512  preufsische  Staats- 
angehörige, von  denen  nur  214  in  Schwarzort  geboren  waren.  1885 
bewohnten  851  Schwarzorter  53  Wohnhäuser  und  bezahlten  mehr  Ge- 
bäudesteuer, Klassen-,  Gewerbe-  und  Einkommensteuer  als  sämtliche 
übrigen  Nehrungsdörfer.  Infolge  Einschränkung  des  Stantien-  und 
Beckerschen  Fabrikbetriebes  ist  zwar  die  Zahl  wieder  auf  400  ge- 
sunken, doch  wächst  diese  gemäfs  der  zunehmenden  Beliebtheit  des 
Seebades  stetig,  über  2000  Badegäste  besuchen  es  jährlich.  Der  Ort 
wird  im  16.  Jahrhundert  zuerst  erwähnt,  im  17.  befand  sich  ein  Krug 
daselbst.  Er  ward  nach  hoher  Vorschrift,  wie  in  ganz  Preufsen,  nicht 
mit  einem  „  Undeutschen u  besetzt,  da  gerade  der  Krüger  in  den  Strand- 
dörfern die  einflulsreichste  Person  ist.  1743  ward  die  Schule  gebaut, 
die  neue  verdankt  ihre  Errichtung  dem  Brande  von  1853.  Die  schöne 
neue  Kirche  wurde  1885  gebaut,  nachdem  die  alte  1878  weggebrannt 
war.  Diese  ward  1795  eingeweiht  und  war  von  Karweiten  hierher 
verlegt  worden.  Die  Zahl  der  Kuren  beträgt  180,  der  Litauer  20  und 
der  Deutschen  200;  sonntäglich  findet  in  beiden  Orten  Gottesdienst 
statt.  Der  Name  des  Dorfes  ist  deutsch,  dabei  ist  zu  bemerken,  data 
die  letzte  Silbe  im  ursprünglichen  Sinne  als  Spitze,  Haken,  Yorsprung 
aufzufassen  ist.  Die  lettische  Art,  Familiennamen  mit  angehängtem 
Rufnamen  als  Dorf n amen  zu  verwenden,  finden  wir  auf  der  Nehrung 
nicht;  vergl.  Paupeln  -  Peter ,  Kindschen-Bartel,  Paupeln  -  Jakob.  Im 
Litauischen  setzt  man  den  Rufnamen  vor.  Schwarzort  hat  Karweite ns 
und  Negelns  Erbschaft  angetreten,  vgl.  Rhesa  1797  (Prutena  I,  45): 


Schwarzort.    Ludwig  Bhesa:    „Das  versunkene  Dorf.  131 

Weil',  o  Wanderer,  hier  und  schaue  die  Hand  der  Zerstörung! 
Wenig  Jahre  zuvor  sah  man  hier  blühende  Gärten, 
Und  ein  friedlich  Dorf  mit  selgen  Wohnern  und  Hütten 
Lief  vom  Wald  herab  bis  zu  des  Meeres  Gestade. 
Aber  anjetzt,  was  siehst  du?    Nur  blofsen  Boden  und  Sand.    Wo 
Ist  das  friedliche  Dorf,  wo  sind  die  blühenden  Gärten? 
Ach,  dem  Aug'  entfällt  hier  eine  Thräne  der  Wehmut. 
Siehst  du  dort  die  Ficht'  und  eine  ärmliche  Hütte 
Vor  dem  Fall  gestützt,  mit  grauem  Moose  bewachsen? 
Dies  nur  ist  der  traurige  Best  von  allem  geblieben. 
Hinter  dem  Wald  empor  hob  steil  ein  Berg  sich  mit  Flugsand, 
Der  die  Tannenwipfel  und  weit  die  Flut  überschaute. 
Stürmend  trugen  die  Wind*  am  Hang  und  Gipfel  den  Sand  ab 
Und  bedeckten  den  Wald,  des  armen  Dörfchens  Umschattung. 
Ach,  kein  sperrender  Damm  hielt  jetzt  den  Vortritt  des  Berges, 
Und  allmählich  verschlang  er  Teich'  und  Gärten  und  Häuser! 
Neben  dem  Wald,  im  Dunkel  und  Graun  vieljähriger  Eichen, 
Stand  die  Kirche  des  Dorfs,  geziert  nach  älterem  Volksbrauch, 
Bings  von  Grabeshügeln  umdrängt  der  friedlichen  Toten. 
Sieh,  dort  ragt  eine  Spitz'  hervor,  gerötet  vom  Spätlicht! 
Hier  versank  die  Kapelle.    Doch  rettete  man  die  Geräte 
Und  den  heil'gen  Altar.    Die  frommen  Bewohner  des  Eilands 
Flohn  zu  anderen  Dörfern  mit  den  armseligen  Besten, 
Die  sie  dem  Berg  entzogen,  zu  bauen  dort  ihre  Hütten. 
Traurig  erzählt  der  Sohn  dem  Enkel,  was  hier  geschehen, 
Weist  die  Statt'  ihm  noch,  wo  seine  Väter  gewandelt. 
Tief  versank  ihr  Gebein  und  droben  grünet  kein  Frühling. 
Hier  ertönt  nicht  mehr  im  Busch  der  Nachtigall  Mailied, 
Keine  Herde  kommt  voll  Durst  zum  kühlenden  Quell  her, 
Und  kein  Täubchen  wohnt  im  Zweig  der  geselligen  Linde. 
Hier  umarmt  das  Weib  nicht  mehr  den  liebenden  Gatten, 
Keiner  Kinder  Schar  ersehnt  am  Ufer  den  Vater, 

Wenn  er  von  wogender  See  keimkehrt  mit  flatterndem  Wimpel. 

Wer  wird  deine  Spur  auch  nach  Jahrhunderten  kennen, 
Blühend  Vaterland,  wo  meine  Lieder  erklangen? 
Doch  du  trauriger  Ort  hier,  immer  werd'  ich  dich  lieben, 
Jeglichen  Baum,  der  schwand,  in  meiner  Seele  noch  tragen ! 
Denn  hier  war's,  hier  ging  auch  ich  als  schuldloser  Knabe 
Zwischen  Garten  und  Teich,  an  Hand  von  Vater  und  Mutter, 
Und  hier  ruhen  sie,  die  mich  wohl  lieben  noch  jenseits. 

In  diesem  Gedicht  hat  Rhesa  schon  einmal  erfüllt,  was  Passarge 
wünscht :  ein  Dichter  möge  sich  einmal  in  der  ergreifenden  Darstellung 
eines  untergehenden  Nehrungsdorfes  versuchen. 

Rhesa  hat  seinerseits  wohl  in  den  Gedichten  des  von  ihm  hoch- 
geehrten Simon  Dach  eine  Anregung  zu  solcher  Behandlung  gefunden. 
Simon  Dach  besingt  seine  Vaterstadt  Memel  1655: 


„Seht,  diesen  Weg  bin  oftmals  ich 
Das  Schlofs  hinauf  gegangen, 
Woselbst  mein  frommer  Vater  mich 
Mit  aller  Lieb'  empfangen. 


Mich  auf  dem  Wall  umhergeführt, 
Dort,  sprach  er,  schau  doch,  Lieber, 
Ward  vormals  keine  See  gespürt, 
Der  Sandberg  ging  vorüber. 

9* 


132 


Die  Kuren. 


Jetzt  kannst  du  sie  und  Segel  sehn 
In  ihren  Wellen  fahren; 
Dies  ist  bei  meiner  Zeit  geschehn 
Nur  inner  30  Jahren.  — 

Und  so  ist  aller  Ding  ein  Ziel. 
Hier,  hätt'  ich  dann  gesprochen, 
Ward  jährlich  um  das  Fastnachtsspiel 
Geritten  und  gestochen. 

Viel  Gärten  sind  zu  jener  Zeit 
Hier,  dünket  mich,  gewesen; 
Mars  hat  dies  alles  für  den  Streit 
Sich  nun  zum  Wall  erlesen. 


Wie  dort  auch,  wo  die  Pfarrgebäu 
Und  Schule  damals  stunden; 
Jetzt,  seht  ihr,  wird  nur  Wüstenei 
Und  Erde  da  gefunden. 

Die  Meinen  wohnten  letztlich  dort, 
Wie  hat  es  sich  verkehret. 
Das  Feuer,  seh1  ich,  hat  den  Ort 
Bis  auf  den  Grund  verzehret. 

G'nug,  wo  mein  Beim  das  Glück  nur 
Und  wird  nach  mir  gelesen,      [hat, 
Dafs  dennoch  meine  Vaterstadt 
Mein  Memel  ist  gewesen. 


Aufser  Negeln  und  Karweiten  sind  noch  die  Dörfer  Preden  und 
Lattenwalde  völlig  verschüttet  worden.  Ich  habe  die  Dorfstellen  auf 
der  Karte  an  den  entsprechenden  Buchten  aufgeführt.  Alle  versandeten 
Dörfer  lagen  wie  die  noch  bestehenden  an  der  Haffseite.  Die  Kuren 
bauten  sie  der  schützenden,  bis  57  m  hohen,  Dünen  und  der  heftigen 
Westwinde  wegen  an  die  steile  Ostküste,  und  weil  die  Hafffischerei 
mindestens  drei  Teile  des  Jahres,  die  Seefischerei  knapp  einen  Teil 
dauert.  Gute  Brunnen  sind  auf  beiden  Seiten  zn  finden.  Von  den 
verschütteten  Dörfern  lag  Negeln  (1726  bis  ca.  1837)  an  der  Negeln- 
schen  Bucht,  Alt -Negeln  (1486  bis  ca.  1700)  mitteninne  zwischen 
Negeln  und  Schwarzort.  Karweiten  (1519  bis  ca.  1793)  an  der  Kar- 
weiten sehen  Bucht  befand  sich  etwa  halbwegs  zwischen  Preil  und  Per- 
welk. Von  den  untergegangenen  Teilen  Pillkoppen s  lag  Neu- Pillkoppen 
(1748  bis  ca.  1839)  halbwegs  bis  zur  Kreisgrenze,  Neustadt  aber  das- 
selbe Stück  Wegs  nach  Süden ,  und  ebenso  viel  nach  Süden  war  Preden 
zu  finden.  Alt-Kunzens  (1579  bis  1825)  spärliche  Trümmerzeichen 
gewahrt  man  südlich  von  Kunzen  (1865),  wo  die  Nehrung  wieder 
schmal  wird,  und  die  Lattenwaldes  (1673  bis  1762)  und  Neu -Latten- 
waldes an  der  Lattenwalder  Bucht.  In  realistischer  Schärfe  mit  Be- 
tonung der  kriminellen  Seite  hat  Wiehert  in  seinen  „  Litauischen 
Geschichten u  Verhältnisse  im  Schwarzorter  oder  Niddener  und  den 
gegenüberliegenden  litauischen  Kirchspielen  behandelt. 

Preil  und  Per  welk  bilden  eine  Gemeinde.  Jenes  hat  25  Wohn- 
häuser mit  166  Einwohnern,  dieses  15  mit  100  Insassen.  Aufser  dem 
Lehrer  sprechen  alle  265  lettisch.  Nach  der  Versandung  Negelns 
suchten  sich  die  bedrohten  Bewohner  neue  Wohn  platze  und  gründeten 
um  1840  beide  Orte.  Diederichs  giebt  als  erste  Jahre,  in  denen  die 
Orte  erwähnt  werden,  für  Preil  1837,  für  Perwelk  1846  an.  Die 
Schule  ward  1849  gegründet  und  ist  die  Fortsetzung  der  Negelnschen. 
Damals  gingen  12  bis  15  Schüler  zum  Unterricht,  heute  40.  Von 
diesen  entfallen  26  auf  Preil  und  14  auf  Perwelk.  Letztere  müssen 
täglich  den  6  km  weiten  Weg  zur  Schule  machen.  Etwa  50  Jahre 
besteht  also  die  Schule,  und  obwohl  der  Unterricht  rein  deutsch  ist, 
haben  schon  neun  Lehrer  gewechselt,  angeblich,  weil  diese  beiden  Orte 


Kar  weiten,  Preil,  Perwelk,  Nidden.  133 

zu  den  ödesten  und  verlassensten  ganz  Deutschlands  gehören  sollen. 
Welch  Interesse  aber  gerade  diese  Orte  ausüben,  erhellt  aus  der  That- 
sache,  dals  zahlreiche  Gelehrte  sommers  über  hier  zu  finden  sind. 
Im  Sommer  1898  waren  ein  Professor,  ein  Maler,  ein  Landrat  und  noch 
andere  Herren  da.  Der  erste  Lehrer  bezog  neben  freier  Wohnung  und 
Feuerung  nur  120  Mk.  Gehalt,  jetzt  beträgt  dies  1000  Mk.,  das  der 
Staat  bezahlt,  da  die  Gemeinde  zu  mittellos  ist.  Das  hölzerne  Schul- 
gebäude hat  Strohdach  und  ist  von  einer  haushohen  Düne  umwallt,  die 
immer  mehr  nach  den  Wänden  rückt  und  die  Schule  verschütten  würde, 
wenn  nicht  beschlossen  wäre,  in  nächster  Zeit  die  Düne  festzulegen. 
Auch  die  Dorfdüne  überhaupt  soll  sehr  bald  bepflanzt  und  unter 
Zuhülfenahme  von  Arbeitern  aus  der  nächsten  Strafanstalt  zu  einer 
feststehenden  Sandmauer  umgewandelt  werden.  Der  stetig  zunehmen- 
den Versandung  des  Haffs,  infolge  Vordringens  der  Wasserdünen  und 
Verschüttung  der  Nehrungsdörfer  ist  ein  Damm  durch  die  königliche 
Regierung  entgegengesetzt  worden,  die  mit  aller  Kraft  die  Bepflanzung 
der  Nehrung  in  Angriff  genommen  hat.  So  öde  der  Boden  ist,  so  hat 
doch  auch  Preil -Perwelk  stetig  an  Zahl  wie  an  Kultur  zugenommen. 
1898  bewilligte  die  Regierung  schon  einmal  eine  Summe  von  150  Mk., 
dals  Keller  und  Hofräume  vom  vordringenden  Sande  befreit  würden. 
Die  dabei  thätigen  Strafgefangenen  aus  Wartenburg,  die  sonst  bei  der 
Dünenbefestigung  beschäftigt  waren,  waren  gleich  in  einer  Preiler 
Sommerbaracke  untergebracht.  Zwei  Schienengleise  reichten  vom  Sand- 
berge bis  zum  Haffstrande,  wo  der  Sand  aufgeschüttet  ward.  Eine 
gröfsere  Sandfläche  ward  mit  Rohr  besteckt,  um  der  Versandung  Einhalt 
zu  thun.  1848  hatte  die  Gemeinde  12  +  5  Wohnhäuser,  1861  jedoch 
16  +  8,  1871  bereits  18  -f  11,  1885  aber  23  +  14  und  1897  schon 
25  -|-  15.  Die  Bevölkerung  stieg  in  derselben  Zeit  so:  84  -|-  42, 
88  -j-  44,  123  +  59,  133  +  97,  166  +  100.  Kirchlich  gehört  es 
zu  Nidden. 

Nidden.  Dies  hat  535  (70  Proz.) Kuren,  doch  nimmt  das  deutsche 
Element  stetig  zu,  schon  weil  Nidden  Sitz  mehrerer  Beamten  ist.  Es 
wird  1403  zuerst  erwähnt,  hatte  1529  einen  Krug;  1709  wütete  die 
Pest  hier  wie  in  ganz  Ostpreufsen.  1743  ward  die  Schule  erbaut, 
1785  hatte  es  15  Feuerstellen,  1820  schon  31.  1847  erhielt  es  bei 
355  Bewohnern  einen  Pfarrer,  der  wie  der  Schwarzorter  zugleich  erster 
Lehrer  ist.  1835  ward  das  Post-  und  Kruggebäude  zur  Kirche  ver- 
wandelt, 1888  aber  eine  neue  steinerne  gebaut;  damals  hatte  es 
66  Wohnhäuser,  von  denen  47  nach  dem  Brande  von  1869  schön  auf- 
gebaut worden  waren;  seit  1879  steht  der  Leuchtturm,  der  den  Haff- 
schiffern als  Wahrzeichen  weithin  entgegen  strahlt.  Die  Schul-  und 
Umgangssprache  ist  deutsch,  in  der  Kirche  wird  noch  litauische  neben 
deutscher  Predigt  gehalten,  obwohl  kaum  ein  Dutzend  Litauer  hier 
wohnen.  Nidden  besteht  aus  drei  Teilen,  deren  zwei  südliche  Purwihn 
und  Skrusdihn  heifsen.     Nidden  ist  der  südlichste  lettische  Ort.     Die 


Pillkoppen,  Sarkau.    Brands  Nehrungsreise.  135 

1080m  lange  Dorfstralse  war  früher  nur  Sand,  jetzt  hat  man  eine 
schöne  Lehmsträlse  mit  Kiesschüttnng  hergestellt. 

Aulser  den  erwähnten  lettischen  Dörfern,  die  ein  geschlossenes 
Gebiet  am  nördlichsten  ostpreulsischen  Strande  bilden,  finden  wir  nun 
noch  südlicher  Spuren  alter  lettischer  Bevölkerung.  Im  südlich  an 
Nidden  ragenden  Kirchspiel  Rossitten  (1403  zuerst  erwähnt)  herrscht 
in  Kirche  und  Schule  vollständig  die  deutsche  Sprache,  doch  verstehen 
im  nördlichsten  Dorfe,  Pillkoppen,  noch  sechs  aus  der  Memeler 
Gegend  zugewanderte,  eine  Familie  bildende  Kuren  ihre  alte  Sprache, 
die  gleiche  Zahl  sei  fürs  Kirchdorf  Sarkau  (zuerst  1497  namhaft  ge- 
macht) anzugeben,  wo  drei  alte  und  drei  jüngere  Leute  noch  lettische 
Worte  verstehen,  ohne  die  Sprache  zu  beherrschen.  In  Rossitten  und 
Kunzen  erstarb  der  kurische  Laut,  südlich  von  Sarkau  erinnert  aulser 
Ortsnamen  nichts  an  die  frühere  lettische  Bevölkerung.  Die  Bewohner 
der  untergegangenen  Dörfer  Preden  und  Lattenwalde  siedelten  nach 
den  benachbarten  Orten  über  und  teilten  das  Los  der  Bewohner. 

Interessant  ist  der  alte  Reisebericht  Johann  Arnholds  von  Brand 
(Reysen  durch  die  Marck  Brandenburg,  Preulsen  u.s.w.,  1673,  heraus- 
gegeben von  Hennin,  Wesel,  1702,  S.  48  bis  50),  der  das  ganze  kurische 
Gebiet  von  Cranz  bis  Polangen  vom  8.  bis  13.  Oktober  1673  durchfuhr. 
Sonntag,  den  8.  Oktober,  erreichte  er  mit  seinen  Begleitern  das  Ufer 
des  Baltischen  Meeres,  wo  sie  „auf  die  200  Schritt  lang  unterschiedene 
allda  vergrabener  Fischer  entblöfste  Totenkisten  und  Knochen"  sahen. 
Sie  fuhren  drei  Meilen  immer  an  der  See  hin,  bis  sie  Sarkau  erreichten, 
wo  sie  Nachtlager  hielten.  Am  9.  Oktober  erreichten  sie  nach  je  einer 
Meile  Lattenwalde,  Kunzen,  Rossitten.  Hier  nächtigten  sie  wegen 
Ungestümigkeit  der  See.  Der  Wirt  erzählte,  data  man  unlängst  im 
nahen  Wäldchen  einen  Bären  gesehen  habe,  der  sich  wegen  der  Seeluft, 
„welche  die  Bären  gantz  nicht  vertragen  können,  ahn  einer  dicken 
umarmeten  Eich  ersticket  hatte".  Preden  und  Pillkoppen  erwähnt 
Brand  nicht,  am  10.  erreichten  sie  in  21/2  Meilen  Nidden,  wo  ein 
französisches  Kaufmannsschiff  kurz  vorher  gestrandet  war,  futterten 
and  kamen  nach  3  Vi  Meilen  nach  Negeln,  wo  sie  blieben.  Schwarzort 
nennt  er  nicht,  ebenso  wenig  Karweiten  vor  Negeln,  und  den  Sandkrug, 
sondern  nur  die  Fahrt  übers  Haff  nach  Memel,  wahrscheinlich  vom 
Sandkrug  aus.  Die  Entfernung  von  Negeln  giebt  er  auf  drei  Meilen 
an.  Am  13.  fuhren  sie  weiter  und  erreichten  nach  Zurücklegung  der- 
selben Strecke  Polangen  zu  Mittag.  Hier  futterten  sie  bei  einem  Juden, 
deren  50  im  Flecken  sein  sollten.  Die  Dörfer  am  Strande  läfst  er 
unerwähnt,  desgleichen  Näheres  über  Sitten  und  Gebräuche  der  Kuren, 
während  er  zuvor  die  Litauer  und  später  die  Letten  ausführlich 
schildert. 


136  Die  Euren. 

in.     Haus  und  Hof. 

Haus  und  Hof.  Ein  kennzeichnender  Unterschied  zwischen 
den  kurischen  Häusern  und  den  litauischen  hinsichtlich  der  Anlage  ist 
nicht  vorhanden.  Die  grölsere  Ärmlichkeit,  Einfachheit  und  räumliche 
Beschränktheit  ist  eine  Folge  des  kahlen,  kargen  Sandbodens.  Dieser 
charakterisiert  die  Nehrung  wie  den  baltischen  Strand,  ihn  haben  die 
wohlhabenderen  Litauer  den  bescheideneren  Kuren  überlassen.  Mit 
der  besseren  Bebauung  und  Pflege  des  Bodens  rückt  auch  die  deutsche 
Bevölkerung  weiter  vor.  Der  Sand  liegt  meterhoch  über  dem  Lehm 
und  Mergel,  und  wo  die  letzteren  beiden  zu  Tage  treten,  bat  man 
sofort  angepflanzt,  was  zu  pflanzen  ging.  Die  Anpflanzungen  in  den 
Sand  sind  erst  neuerdings  kräftig  in  Angriff  genommen  worden;  doch 
hat  man  es  mehr  auf  Festlegung  der  Dünen  mittels  Nadelholzkultur 
abgesehen,  als  auf  Herstellung  von  Säe-  und  Gartenland,  wie  in  den 
Klucken,  wo  man  mit  Erfolg  den  Sand  mit  Grabenaus wurf  mischte. 
Im  Jahre  1822  ward  in  Rossitten  ein  Brunnen  gegraben;  erst  hatte 
man  16m  Sand,  Geröll  und  Lehm  zu  durchstechen,  dann  folgte  eine 
10m  tiefe  Schicht  grauer  Mergel,  den  Sandadern  durchzogen,  gebettet 
auf  ein  meterhohes  Feldsteingebiet,  das  im  Brunnenwasser  stand. 

Die  alten  Holz-  und  Schilfhäuser  weichen  auch  schon  bei  den 
Kuren  den  Steinhäusern  neuer  Art.  Die  Fischerkate  ist  meist  zugleich 
mit  Stall  und  Schuppen  zusammengebaut;  es  fehlt  oft  die  Klete, 
und  grölsere  Wirtschaftsgebäude  sind  selten.  Die  Häuser  sind  mit 
dem  Giebel  nach  der  Haffseite,  auf  dem  baltischen  Strande  nach  der 
Meeresseite  zugekehrt.  Bei  einzelnen  Häusern  fehlt  sogar  die  Quer- 
wand der  Hausflur.  Die  Balken  sind  „im  Gehrsafs"  zusammengefügt; 
zuweilen  auch  „in  Ständern  mit  Füllholz". 

Die  Preiler  Häuser  stehen  10  bis  20  m  voneinander  entfernt, 
werden  bei  Hochstand  des  Haffs  oft  zerstört  und  dann  verlassen. 
Dieser  Übelstand  lälst  Buhnenlegung  wünschenswert  erscheinen.  Ein 
einziges  Haus  ist  das  ursprüngliche.  Das  Gehöft  hat  sich  z.  B.  in 
Meineragen  folgendermafsen  entwickelt:  1.  Hausbau,  2.  Wegräumen 
des  Flugsandes  und  Anlegung  eines  Hofes,  3.  Gartenanlage,  4.  Hof- 
gebäude. 

Das  Haus  ist,  wie  das  litauische  und  Kas  ch  üben  haus ,  dreiteilig. 
Zu  beiden  Seiten  des  Hausflurs  ist  ein  Doppelzimmer,  aus  Stube  und 
Kammer  bestehend.  Abgesehen  von  äufserlichem  Anbau  kleiner  Ställe 
oder  Schuppen  wird  eine  Vermehrung  der  Wohnräume  auf  dreierlei 
Art  hervorgerufen,  die  natürlich  auch  wieder  bei  Anlegung  gröfserer 
Wohngebäude  die  Anfertigung  des  Risses  bestimmt.  Man  hat  nämlich 
entweder  die  Stuben  durch  Wände  geteilt  (Abb.  34,  36,  37,  39),  oder 
man  hat  im  Hausflur  Vorzimmer  angelegt  (Abb.  40),  oder  man  hat  von 
den  Stuben  Vorstuben  abgeschieden  (Abb.  41).  Die  Wände  sind  glatt, 
selten  zieren  sie  fromme  Bilderbogen  oder  Familienbilder. 


Hans  und  Hof.    Kurische  Häuser. 


137 


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Abb.  34. 
II 


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Grundrifs  eines  Preiler  Hauses. 
(10  m  lang,  8  m  breit.) 


Abb. 

35 

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^ 

Vorderansicht  eines  Preiler  Hauses. 


Erkl  ärung. 

Haas  (Nams,  Troba,  Bute),  Wohnhaus  (Maje,  Mages,  Giwenimas). 
f>  Fenster.  —  1 1  Thür.  —  1  a  Hausflur  (Bute,  Buts,  Namu,  Nams)  mit  Hausthür.  — 
lb  Küche  (Kukne).  —  lc  Vorstube  (Priistuba,  Priangis).  —  2a  Altsitzerwohnung 
(Grieszeninke ,  Ischimtinings  =  Altsitzer).  —  2  b  Kammer  oder  Gesindestube  (Kam- 
buriß,  Kamare).  —  3  a  Wohnstube  (Istuba).  —  3  b  Kammer  (Kamburis).  —  3  c  Ge- 
sondertes Schlafzimmer.  —  3d  Speisekammer.  —  3e  Gute  Stube.  —  3f  Vermietete 
Stube.  —  4  a  Tisch  (Galds,  Stalas)  und  Stuhl  (Krasze,  Krase).  —  4  b  Feste  Bank 
(Benke);  bewegliche  Bank  (Kreslis,  Kreslas).  —  5  Bett  (Gulta,  Gülte,  Lowa).  — 
6  a  Ofen  (Krasne,  Krosne).  —  6  b  Herd  (Kamins).  —  6  c  Backofen.  —  7  Koffer 
(Szkirts,  Lade).    —    8   Kasten  (Skrine).    —    9    Uhr.    —    10   Kinderwiege  an   einer 

Schaukelstange. 


138  Die  Kuren. 

Über  den  alten  Bau  der  Häuser  der  preufsischen  Kuren  sind  wir 
nicht  unterrichtet.  Hingegen  kennen  wir  verschiedene  Berichte  über 
das  kurische  Haus  überhaupt.  So  sagt  Brand  in  seinen  „Reysen  durch 
die  Marck  Brand,  u.  s.  w.tt  von  den  Kuren  (S.  69  f.),  sie  wohnten  in 
elenden  geringen  Häuserchen,  in  denen  meist  nur  Rauchstube  und 
Speicher  vorhanden  sei.  Im  Speicher  werde  ihr  liebes  Brot  und 
schlechter  Trank,  auch  Gurken  und  Sauerkraut  aufbewahrt.  In  der 
Rauchstube  sei  ein  von  Kieselsteinen  verfertigter  Ofen,  ähnlich  einem 
Backofen,  der  mit  schwarzen  Kohlen  oder  anderem  Holz  heftig  geheizt 
werde.  In  einer  solchen  Stube  hielten  sich  Vater,  Grofsvater,  Enkel, 
Kinder,  Mutter  auf  und  schliefen  darin  auf  untergelegten  Lumpen, 
selten  in  einem  Bette  mit  alten  Tüchern  und  untergeworfenem  Stroh. 
Der  übrigbleibende  Raum  sei  für  das  spärliche  Vieh,  besonders  für 
Kühe,  deren  Milch  die  Kinder  ernähren  müsse.  Die  Häuserchen  seien 
von  dickem  Fichtenholz  artig  zusammen  geschürzt.  Auswendig  hoble 
man  die  Balken  ab,  inwendig  lasse  man  sie  rund.  Die  Fugen  verstopfe 
man  mit  Moos,  das  Dach  decke  man  mit  Stroh-  oder  Holzschindel  und 
füge  des  Haltes  wegen  Holzkreuze  auf  den  First.  Der  Wind  könne 
nicht  durch  die  Balken  wehen.  Neben  dem  Hause  stehe  die  Scheune 
oder  Ryge,  worinnen  das  Korn  getrocknet  wird.  Das  machen  sie  so, 
sie  legen  über  den  Ofen  Stangen,  dazwischen  richten  sie  Garben  auf» 
dann  lassen  sie  das  Getreide  durch  Pferde  und  Kühe  austreten. 

Merkel  sagt  1797,  die  kurischen  Häuser  seien  mit  Stroh  gedeckte 
Hütten  ohne  Schornstein  und  Fenster  und  hätten  so  niedrige  Thüren, 
dafs  man  nur  gebückt  hineintreten  könne.  „Da  wimmeln  dann  in 
einer  bis  zum  Ersticken  in  Rauch  gehüllten  Stube  der  Hauswirt  und 
seine  Familie,  die  Knechte  mit  den  ihrigen,  und  Hühner,  Schweine  und 
Hunde  um  die  in  die  Ritzen  der  Wand  gesteckten  Kienschieilsen,  die 
Erwachsenen  in  zerlumpten'  Wämsern,  die  Kinder  im  Sommer  und 
Winter  in  ebensolchen  Hemden,  alle  barfuls."  —  Sein  Titelbild  führt 
ein  solches  lettisches  Bauernhaus  vor.  Vor  der  IV2111  hohen  Thür- 
öffnung  steht  ein  alter  bärtiger  Lette,  er  hat  ein  eng  anliegendes  Ge- 
wand an,  das  bis  auf  die  Kniee  reicht  und  mit  einer  Hüftenschnur 
festgehalten  wird;  an  den  Füfsen  hat  er  pareskenartige  Sandalen.  Vor 
ihm  steht  ein  christianisierender  Priester,  der  ihm  mit  der  Rechten  den 
Kelch  vor  den  Mund  hält,  mit  der  Linken  aber  das  Dach  anbrennt. 
Hinter  dem  Priester  aber  steht  ein  Deutschritter  und  hält  das  Schwert 
vor  die  Brust  des  Letten,  dessen  Holzwaffe  zerbrochen  zu  Boden  sank. 
In  der  Linken  hält  der  Ritter  eine  Kette.  Die  Hütte  ist  im  Gehrsais 
gebaut ,  etwa  2  m  bis  zum  Dache ,  dessen  Höhe  und  Giebelbreite  auch 
ziemlich  so  viel  beträgt.  Die  Wände  bestehen  aus  runden  Baum- 
stämmen, 22  liegen  an  der  Breitseite,  34  nebst  der  Schwelle  an  der 
Giebelseite  übereinander.  Am  Hause  steht  ein  Baum,  an  dessen  Ast 
eine  kahnartige  Wiege  an  den  vier  Enden  zum  Hin-  und  Herbewegen 
aufgehängt  ist.     (Merkel,  Die  Letten,  Weimar  1897/98.) 


Hausbau.    Kurische  Hausgrundrisse. 
Abb.  36. 


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+ 


139 


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Länge  4*84  m 


Stube 


Länge  4,46  m 

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Länge  6  m 


Stube 


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Länge  4,84  m 


Stube 


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Länge  4,46  m 
Küche 


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Ofen 


Ofen 


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Hausflur 


Länge  4,46  m 


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Länge  6  m 


Stube 


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Breite 

1,60  m 


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Breite 
1,60  m 

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14,29  m  lang 


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97  cm 


97  cm 


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Vorderfront. 
Bommelsvittener  Haus. 


Abb.  37. 


Abb.  38. 


Grundrifs  zweier  Preiler  Stuben. 
(Vergl.  die  Erklärung  auf  Seite  137.) 


Aus  derselben  Zeit  stammen  die  „Kosmopolitischen  Wanderungen", 
die  (III,  117)  folgendes  berichten:  Die  kurischen  Wohnungen  seien 
am  Ende  des  18.  Jahrhunderts  wie  im  12.  gewesen:  elende,  hölzerne 
Baracken,  die  jeden  Augenblick  einzustürzen  drohen.  Man  steckt,  so 
heilst  es  ungefähr,  in  einer  gewissen  Entfernung  voneinander  abge- 
schälte Baumstämme  in  die  Erde,  füllt  den  Zwischenraum  mit  Moos 
aus,  und  so  ist  ein  kurischer  Palast  fertig.     Das  Strohdach  reicht  fast 


140  Die  Kuren. 

bis  zur  Erde.  Statt  der  Fenster  dienen  viereckige  Locher  mit  Holz- 
schiebern. Die  Löcher  führen  das  Tageslicht  zu  und,  da  man  Schorn- 
steine nicht  kennt,  den  Rauch  ab.  Oft  fehlen  auch  die  Fenster.  Nur 
die  Beamtenwohnungen  seien  besser.  Gewöhnlich  sei  das  Gebäude 
zweiteilig,  oft  nur  einteilig.  Im  grölseren  Teile,  dem  Rauchhause,  der 
zugleich  als  Wohn-,  Schlaf-,  Backraum  gelte,  hausen  Tiere  und  Menschen 
friedlich  zusammen.  Der  Gestank  sei  unerträglich.  Abends  stecke 
man  in  die  Wandritzen  statt  des  Lichtes  dünngeschnittene  Eienspäne 
(bei  den  livländischen  Bauern  auf  der  Nehrung  war  es  auch  so). 

Betrachten  wir  nun  einmal  die  heutige  Hausanlage  eines  Nehrungs- 
•hauses ! 

In  Abb.  34  ist  die  Wand  zwischen  la  und  lb  später  eingesetzt, 
2  a  diente  beim  Fehlen  des  Altsitzers  auch  als  Stall  für  Kühe  und 
Schweine.  6  b  ist  auf  drei  Seiten  mit  mannshoher  roher  Ziegelring- 
mauer versehen.  Das  Haus  selbst  ist  durchweg  aus  Holz,  der  Boden 
hat  keine  Diele.  Das  Dach  ist  von  Rohr,  Stroh  oder  Binsen.  Der 
Schornstein  fehlt  Die  Fensterläden  sind  blau  angestrichen;  die  Holz- 
wand ist  innen  und  aulsen  roh  abgehobelt,  aber  nicht  getüncht.  Es 
beträgt  die  Wandhöhe  2m,  Breite  8m,  Länge  10m.  Die  Giebelzier 
ist  pferdekopfartig.  Das  Wohnzimmer  dient  meist  zugleich  als  Schlaf- 
zimmer. Die  Anlage  (Abb.  34)  ist  vorherrschend,  besonders  auf  der 
Nehrung,  nur  dafs  beispielsweise  in  Pillkoppen  die  Zahl  der  Thüren  und 
Fenster  aufs  äufserste  beschränkt  wird. 

Abb.  39  kommt  ähnlich  in  Meineragen  auch  vor,  2a  und  2b  sind 
aber  nicht  durch  eine  Zwischenwand  getrennt,  sondern  man  hat  an  die 
äufserste  Ecke  von  2  b  zwei  Kammern  angebaut.  3  a  hat  man  wie  3  b 
geteilt  und  den  entstandenen  äufseren  Raum  zum  Stall  verwandelt. 
Dies  Melneragener  Haus  steht  etwa  50  Jahre ,  ist  20  m  lang  und  6  m 
breit.  Rechts  davon  liegt  in  Entfernung  einiger  Meter  ein  Keller  ohne 
Aufbau,  links  schliefst  sich  an  das  Haus  in  gleicher  Breite  ein  Gemüse- 
garten, vor  dem  in  der  Vorderrichtung  des  Hauses  ein  Holzschuppen 
sich  befindet.  An  Haus  und  Holzschuppen  vorbei  führt  der  Weg  zum 
Gartenthore  und  zur  Dorfgasse.  Gegenüber  der  Vorderansicht  des 
Hauses  ragt  die  Klete  mit  ihrer  Säulenhalle.  Die  Klete  ist  dreiteilig, 
ein  Teil  ist  die  Knechtekammer,  die  anderen  dienen  zur  Aufbewahrung 
von  Kleidern  und  Wirtschaftsgegenständen.  Zur  Seite  der  Klete  in 
geringer  Entfernung  liegt  gegenüber  dem  Keller  ein  Gebäude,  dessen 
nächste  Hälfte  Scheune  mit  Tenne  enthält,  während  die  zweite  einen 
Stall  bildet.  Der  Scheune  ist  noch  eine  Kammer  vorgebaut.  Dies 
Melneragener  Haus  gehört  zu  den  Grundstücken  eines  wohlhabenden 
Wirtes.  Zwischen  Scheune  und  Keller  führt  ein  zweites  Gartenthor  in 
die  Felder.     Das  Gehöft  ist  umzäunt. 

In  Abb.  40  wird  2  a  nicht  immer  als  Altsitzerwohnung  benutzt,  da 
in  Meineragen  der  Altsitzer  mit  dem  Besitzer  bis  auf  einen  Fall  in 
einer  Stube  wohnt.     Aufser  dem  Wohnhause  hat  jeder  Melneragener 


Haasanlagen.    Karische  Hausgrundrisse. 
Abb.  39.  Abb.  40. 


141 


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Grundrifs  eines  Niddener  Hauses.      Grundrifs  eines  Melneragener  Hauses. 

Abb.  41. 


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Grundrifs  eines  Bauernhauses  in  Karkelbeck. 

Abb.  42. 
— II— 


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Grundrifs  eines  kurischen  Insthauses  (Inamiu  Buts). 
(Vergl.  die  Erklärung  auf  Seite  137.) 

am  Strande  einen  Schuppen,  in  dem  er  Netze  und  Fischereigeräte  auf- 
bewahrt, um  sie  sofort  bei  der  Hand  zu  haben. 

Abb.  41  ist  8  m  breit  und  24  m  lang.  Die  Breite  jeder  Stube  be- 
trägt 4m,  nur  2b  als  Surinkimastube  hat  zu  Ungunsten  der  davor- 
liegenden  kleinen  Stube  5  m  Breite.  3  a  und  3  b  haben  6,1m  Länge, 
lb  und  lc  3,15 m.  Die  Flur  la  nimmt  von  der  Hauslänge  4m,  die 
sich  anschließende  Vorstube  und  Eüche  je  3,75  m ,  die  beiden  anderen 
Stuben  je  7  m  in  Anspruch.    Die  Speisekammer  ist  2  m  breit  und  3,5  m 


142  Die  Kuren. 

lang.  Die  linke  Haushälfte  ward  1860,  die  rechte  1896  erbaut,  jene 
hat  Strohdach,  diese  Schindelbedeckung;  beide  Hälften  sind  von  Holz. 
Vor  und  hinter  dem  Hause  ist  ein  Garten,  im  hinteren  ist  der  Zieh- 
brunnen. 40  m  hinter  dem  Hause  steht  parallel  zu  diesem  ein  Stall 
von  Lehm  mit  Strohdach,  er  ist  8  m  breit  und  23  m  lang.  Links  vom 
Hause,  vor  der  Tiefseite  von  Haus  und  Stall,  liegt  die  mit  Strohdach 
versehene  hölzerne  Scheune.  Sie  steht  10m  vom  Stalle,  30m  vom 
Wohnhause  entfernt  und  ist  von  letzterem  durch  einen  Zaun  geschie- 
den, der  Haus  und  Garten  umgiebt.  Die  Scheune  ist  38  X  6  m  grofs. 
Drei  Thore  führen  nach  der  Haus-  und  Stallseite,  eines  nach  der  gegen- 
überliegenden. Rechts  und  links  vom  Hinterthore  ist  je  ein  Spreu- 
raum. Yor  der  vorderen  Kleinseite  der  Scheune  liegt  der  8  X  5  m 
grofse  Keller. 

Die  Elete  ist  hier,  wie  überall  bei  den  preußischen  Letten,  die 
grofse  litauische  Swirne  mit  mehreren  Bäumen.  Es  ist  eigenartig,  dafs 
sich  die  einteilige  Klete  nur  bei  den  russischen  Letten  in  ihrer  alten  Art 
erhalten  hat.  Wie  die  Dichter  des  Wigalois  und  des  Helmbrecht 
schildern  auch  livländische  Urkunden  des  13.  Jahrhunderts  den  „cleyt" 
oder  „clet"  als  ein  festes  hölzernes  Vorratshäuschen.  1351  „lepen  de 
Kusen  —  to  den  cleten  (in  Nowgorod)  und  howen  de  up  und  nemen 
wat  darinne  was  neden  und  boven".  Das  unwohnliche  „  Speicherchen u 
war  zu  Brands  Zeit  aber  auch  schon  Hochzeitsraum  *)•  Hupel 
(Idiotikon  1795)  unterscheidet:  Kornkleete,  Mehlkleete,  Handkleete, 
Leihekleete  (für  Gebietsbauern).  Buddeus  2)  nennt  1847  die  in  der 
De8criptio  3)  um  1600  geschilderten  halb  unterirdischen  Vorratsräume, 


*)  Brand,  8.  77:  Nachdem  nun  die  Braut  alda  (im  kurischen  Bräu tigams- 
hause)  angelangt,  wird  der  Bräutigam  in  einem  dazu  verordnetem  stübchen, 
bey  ihnen  Klete  genant,  hin  geführet,  und  wird  die  Braut  von  erwehntem 
befreundten  alda  bey  den  Bräutigam  ins  Bett  geworffen,  umb  sich  einander 
alsdan  auf  die  probe  zu  stellen,  und  werden  also  zwey  stunde  mit  ver- 
schlossener thür  bey -einander  gelassen;  nach  verflossenen  stunden  kommen 
die  verwandten  zurück  mit  kurtzen  stecken  in  der  hand,  öffnen  die  thür  gar 
gelinde,  und  mufs  der  Bräutigam,  welcher  gemeinlich  in  dem  geräusch  an 
der  thür  sich  geschwind  ahn  dieselbe  verfüget,  mit  einem  behänden  sprunge 
der  geöffneten  thür  herauf s  zwischen  ihnen  durch  springen,  oder  im  fall  er 
zu  langsam  ist,  wird  er  mit  den  stecken  wacker  abgeschmieret :  dan  werden 
sie  beyde,  der  Bräutigam  und  die  Braut  fleifsig  examinieret,  wie  sie  sich  gegen 
einander  im  spiel  verhalten :  erfahren  sie  von  der  Braut,  dafs  der  Bräutigam 
zum  werck  untüchtig  befunden,  wird  er  auf  anhalten  der  Braut  wiederumb 
von  ihr  geschieden ,  weil  sie  die  end  -  ursach  des  heyraths ,  nemlich  Kinder- 
erziehung, worinnen  ihre  Wohlfahrt  am  meisten  bestehet,  nicht  erreichen 
können  etc. 

*)  Buddeus,  Halbrussisches  I,  256:  Der  lettische  Bauer  brennt  dem 
deutschen  Herrn  sein  Wohnhaus  zwar  nicht  über  dem  Kopf  zusammen,  aber 
er  steckt  die  Kleete  im  fernen  Wald  an,  worin  die  Ernte  eines  meilen weiten 
Heuschlages  liegt. 

*)  Preufs,  S.  6:  Alle  Polen,  Schwarzrussen,  deren  Hauptstadt  Lemberg 
ist,  Masovier,  Schlesier,  Preufsen  und  etliche  Litauer  bringen  das  Getreide  in 


Lettische  Klete.  143 

die  auch  die  Burgunder  unter  dem  Namen  screunia,  srenia  hatten, 
Klete.  Wie  Hennenberger  und  Prätorius  bei  den  Litauern,  so  hebt 
Kohl  (Die  deutsch-russischen  Ostseeprovinzen  II.  Dresden  und  Leipzig 
1841)  die  zahlreichen  Gebäudchen  oder  Kleten  auf  einem  einzigen 
Gehöft  hervor:  „Wie  alles  bei  diesem  kleinlichen  Volke,  so  zerfallen 
auch  ihre  Wohnungen  in  eine  zahllose  Menge  kleiner  Abteilungen, 
Kämmerchen  und  Winkel.  Da  ist  ein  enger  Stall  für  das  Hausvater- 
pferdchen,  ein  Ställchen,  so  grofs  wie  ein  Hühnernest,  für  die  zwei 
Pferde  des  Knechtes,  ein  Ställchen  für  die  Kühe  etc.,  ein  kleines  Häus- 
chen, Kleete  genannt,  für  die  Kleider-,  Leinwand-,  Butter-,  Flachs- 
und Kornvorräte  des  Hausherrn,  ein  anderes  Kleetchen  für  die  des 
Knechtes  etc."  Zuweilen  ist  aber  auch  die  Klete  mit  dem  Wohnhause 
vereint,  wie  Busch  ausführt  (Ergänzungen  der  Methode  zur  Geschichte 
und  Statistik  der  evangelisch  -  lutherischen  Gemeinde  in  Kufsland. 
Petersburg  und  Leipzig  1867,  I,  730):  „Der  Bauerhof  des  Letten 
besteht  aus  dem  Wohnhause,  Pferdestall,  Viehstall,  Badehaus,  der 
Riege  und  Kleete.  —  Unter  einem  und  demselben  Dache  mit  dem 
Wohngebäude  befinden  sich  bisweilen  Kleete  und  Scheune. tf  Über  die 
heutige  lettische  Klete  äufsert  sich  der  hervorragendste  lettische  For- 
scher, Dr.  Bielen stein:  „Der  Name  Swirne  für  Klete  dürfte  dem  letti- 
schen Volke  ganz  unbekannt  sein,  aufser  vielleicht  in  litauischen 
Grenzgebieten.  —  Mir  ist  dieses  Wort  niemals  in  solcher  Bedeutung 
vorgekommen.  Unsere  Klete  hat  bei  ihrer  älteren  Form  gern  einen 
Vorraum  auf  hölzernen  Pfeilern  als  Aufbewahrungsort  für  mancherlei 
Gegenstände  im  Schutz  vor  Regen  und  als  Ort  für  mancherlei  Be- 
schäftigungen und  Arbeiten.  Neuerdings  wird  diese  Vorhalle  oft  nicht 
mehr  gebaut  (palparne  =  unter  dem  Flügel,  das  sagt  man  aber  von 
jedem  Ort  unter  einem  vorspringenden  Dache).  —  Die  alten  lettischen 
Gebäude  waren  sicher  sehr  klein.  Der  abgeteilte  Raum  für  jede  der 
verschiedenen  Kornarten  im  Speicher,  aus  dünnen  Balken  oder  aus 
starken  Planken  gebaut,  heilst  lettisch  apzirknis  (für  älteres  apzirtnis) 
von  zirft,  hauen,  mit  dem  Beil  hauen.  Der  Kornkasten  iBt  also  ein 
Herumgebauter;  diese  Kornkasten  wände  sind  etwa  gegen  3  Fufs  hoch, 
an  den  Wänden  der  Klete.  Die  Klete  dient  dem  Letten  auch  als  Auf- 
bewahrungsort von  Kleidern  etc.,  und  sehr  gern  als  Sommerwohnung 
und  als  Privataufenthalt  für  die  Familie  bei  intimen  Angelegen- 
heiten/ 

Schade  verweist  bei  Klete  auf  die  niedersächsische  offene  Hille,  den 


Scheunen  oder  grofse  Haufen  unter  freiem  Himmel.  —  Aber  die  Weifsrussen, 
alle  Moskowiter  und  die  meisten  Litauer  bringen  das  abgemähte  und  aus- 
gedroschene Korn  sogleich  auf  den  Speicher;  einige  in  unterirdische  Höhlen, 
im  Walde  versteckt,  die  dazu  ausgegraben  und  innen  gut  mit  Baumrinde 
ausgelegt  sind.  Ebenda  verwahren  sie  auch  andere  Lebensmittel,  ein- 
gesalzenes Schweinefleisch,  Gemüse  und  wertvollen  Hausrat,  besonders  in 
Kriegszeiten,  vor  Feinden  —  wie  vor  eigenen  Truppen. 


144 


Die  Kuren. 


Schlaf-  und  Aufenthaltsraum  des  Gesindes  über  den  Stallen  seitlich  der 
Tenne.  Wie  die  Litauer  verlegen  auch  die  Letten  den  Schauplatz  der 
Dainos,  hier  Singes  genannt,  gern  in  die  Klete. 

Der  Besitzer  des  obengenannten  Gehöftes  besitzt  104  Morgen  und 
zahlt  6  Mk.  Einkommensteuer.  Die  schöne  Bauernwirtschaft  ist  mit 
einem  Zaun  umgeben,  wenigstens  auf  drei  Seiten.  Der  Altsitzer  macht 
sich  stets  zu  Hause  nützlich,  erhält  Freitisch  und  Kleidung  und  lebt 
mit  seinem  Sohne  friedfertig  im  Gegen  satze  zu  den  Litauern,  die  öfter 
untereinander  Prozesse  führen. 

Abb.  43  deutet  ein  Melneragener  Gehöft  eines  der  bemittelten 
Besitzer  an.     Es  ist  in  der  Anlage  nicht  erheblich  von  den  litauischen 

Abb.  43. 


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Melneragener  Gehöft. 
A  Wohnhaus  (Mages,  Gywenamoji,  Giweniraas,  Maje).  —  B  Speicher  (Klete)  mit 
Kleider-,  Vorrats-  und  Knechtekammer.  —  C  Keller  (Kelderis)  aus  Stein,  mit  darüber- 
gebauter  Vorratskammer.  —  D  Speicher  des  Altsitzers.  —  E  Holzraum  für  Bretter 
und  Nutzholz.  —  F  Brennholzhaus.  —  G  Garten  (Darsze),  dahinter  Wald  (Mesz, 
Girre).  —  H  Zaun  (Zugs,  Sete,  Twora).  —  I  Stall  (Staldis)  mit  Geschirrkammer  b 
und    Scheune  c   (Skune,   Skunesgals,    Bertainis)   mit    Tenne    (Klonas).    —    K   Weg 

(Zelsz,  Kelis).  —  L  Hof  (Kiems,  Ziems). 

verschieden.  Die  preußischen  Kuren  haben  ja  als  Fischer  gar  keine 
Gehöfte.  Die  Ent Wickelung  eines  solchen  hat  die  Lituanisierung  zur 
Voraussetzung.  Gemeinsam  ist  den  Gehöften  am  Strande  die  recht- 
eckige Anlage;  das  Wohnhaus  steht  nie  in  der  Mitte,  sondern  inmitten 
einer  Langseite,  immer  mit  der  Vorderseite  nach  dem  Hofe  (Kiems, 
Ziems)  gekehrt.    So  in  Abb.  39,  41,  43.    Merkwürdig  ist  Abb.  43  wegen 


Unterschied  zwischen  den  kurischen  und  den  ihnen  benachbarten  Höfen.  J145 

des  doppelten  Hausflures.  Abb.  43  hat  die  meisten  Einzelgebäude  in 
Meineragen.  Das  Wohnhaus  hat  eine  Gröfse  von  25  X  8  m.  Die 
angebauten  Stuben  2  a  und  2  b  sind  jüngeren  Ursprungs.  Was  diesen 
Hof  von  dem  schäm eitischen  (siehe  S.  125,  Abb.  24)  besonders  unter- 
scheidet, ist  der  Mangel  einer  selbständigen  und  grösseren  Scheune; 
der  Grund  ist  in  der  Hauptthätigkeit  der  Euren  gegenüber  den  Scha- 
ni eiten  zu  suchen.  Diese  sind  vorwiegend  Ackerbauer,  jene  Fischer. 
Dementsprechend  mangeln  Fleisch-,  Mehl-  und  Milchkammer.  Auch 
das  Fehlen  der  Badestube,  des  Flachstransportgestelles  und  des  Rauch- 
hauses  fällt  auf. 

Ähnlich  in  der  Anlage  ist  ein  anderes  gleich  grofses  Gehöft  mit 
weniger  Gebäuden,  auch  in  Meineragen.  Ist  Abb.  43  fünfmal  parallel 
der  Kleinseite  geteilt,  so  das  andere  sechsmal.  Yon  links  nach  rechts 
sind  die  ersten  zwei  Zimmer  vermietet,  zu  zweit  folgt  der  dreiteilige 
Hausflur,  dessen  Mittelteil  zur  Küche  benutzt  wird.  Zu  dritt  reihen 
sich  Mietsstube  und  Kammer,  zu  viert  ein  ungeteilter  Hausflur  an,  der 
vor  und  hinter  dem  Hause  in  einem  Vorflur  (Priangis)  endet.  Die 
fünfte  schmale  Zimmerflucht  ist  dreiteilig,  der  mittelste  Teil  ist  eine 
Küche,  die  beiden  anderen  sind  Vorstuben  zu  den  folgenden  zwei 
gröfsten  Zimmern  des  Hauses.  Vor  dem  Hause  und  Hofe  (an  Stelle 
von  D,  I,  B)  liegt  ein  Garten,  dahinter  die  Abb.  43  I  entsprechende 
Stallscheune.  An  Stelle  von  F  steht  eine  dreiteilige  Klete  mit  Knechte- 
kammer, Holzstall  und  Netzraum.  Der  Keller  steht  auf  derselben 
Stelle  wie  Abb.  43  C.  —  Die  Giebelzier  wird  immer  seltener  und  unter- 
scheidet sich  wenig  von  der  in  Litauen,  ja  in  ganz  Nord-  und  Mittel- 
deutschland gebräuchlichen;  werden  ja  nicht  selten  diese  Zieraten 
von  Handwerkern  jenseits  des  Haffs  hergestellt.  Man  verwendet 
zweierlei  Schmuckart,  ein-  und  doppelteilige.  Die  einteilige  hat  meist 
Urnen-  oder  Kreisform,  auf  der  sich  ein  Kreuz  oder  ein  Vogel  erhebt; 
sie  ist  in  Preil  vorherrschend  (Abb.  44).  In  Pillkoppen  ist  neben  dem 
Doppelhorn  (Abb.  47  g)  der  Fisch  gebräuchlich,  öfter  auch  als  Wetter- 
fahne. 

Die  zweiteiligen  sind  aus  der  noch  in  Preil  vorhandenen  einfachen 
Grundform  (Abb.  46  a),  der  Gabel  ^  hervorgegangen.  Die  frei  ge- 
wordenen Enden  hat  man  zu  allerlei  künstlichen  Formen  ausgebildet, 
so  zur  Doppelhacke  (Abb.  46  b),  zur  Katze  mit  Maus  in  Karkelbeck 
(Abb.  46  c).  Der  Doppel vogel-  oder  Doppelpferdekopf  ist  die  gewöhn- 
liche Form  und  zeigt  sich  von  der  flachsten  Gestalt  an  bis  zur  fein 
geschmückten  und  mit  Blumen,  Kreuzen  und  Herzen  gezierten. 

An  eigentümlichen  Hausgeräten  ist  nichts  Altertümliches  mehr 
vorhanden,  man  kennt  weder  die  Kanklys  und  Truba  mehr,  noch 
Kriwule,  Karine  u.  dergl.  Hingegen  ist  die  Handmühle  noch  im  Ge- 
brauch, und  der  Name  des  Schulzenstabes  hat  sich  auf  die  Gemeinde- 
versammlung übertragen.  Eigenartig  haben  sich  jedoch  die  hölzernen 
Grabkreuze  und  Grabplatten  erhalten.     Die  Grabkreuze  herrschen  im 

Tetsner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  jq 


146 


Die  Kuren. 


Abb.  44. 


Preiler  einteiliger  Giebelschmuck.  Nehrungsurne. 

(S.  Schieferdeckers  Bericht.) 
Zu  Abb.  45:  a  b  100  bis  240,   c  d  61  bis  821,  e  f  109  bis  365,   g  h  39  bis  160, 

k  1  180  bis  240  cm.  —  Wanddicke  12  cm. 


Abb.  46. 


Zweiteiliger  Giebelschmuck, 
a  aus  Preil;    b  aus  Meineragen,  1835;    c  aus  Karkelbeck. 

Abb.  47. 


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Giebelköpfe, 
a  Karkelbeck;  b  Preil;  c  Meineragen  1840;  d  Meineragen  1840;  e  Meineragen  1865; 

f  Kid  den;    g  Pillkoppen. 

Abb.  48. 

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a  b  c  d  e  f 

Grabkreuze. 

a  Festland,  Schwarzort,  Im  X   Im;    b  Schwarzort,  auch  Nimmersatt,  75  X  50cm, 

Bretter,  15  X  8  cm;    c  =  b;    d  Nimmersatt,   0,75  cm  lang,    0,50  cm  breit,  2,15  cm 

Verlängerung  des  Deckbrettes  nach  unten ;  e  Melnersgen ;  f  Preil. 


Grabplatten. 
Abb.  49. 


147 


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f  20  cm 


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g  20cm     h  40 X 20cm   i  100X30 cm     k 

Grabplatten. 
Preil  a,  k,  1,  n ;  Rossitten  m ;  Nidden  b,  c,  d,  e ;  Schwarzort  f,  g,  h,  i. 


Abb.  50. 

Grabzeichen  für  Männer 
und  Frauen. 


Abb.  51. 

Grabzeichen  für  Kinder 
in  Bommelüvitte. 


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B.  30  cm 

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1892      L.  82 

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L.  82  cm^^ 


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Grabschrift  z.  B.  Teodor  Graubschus      Grabschrift  z.  B.  A nicke  Brenzis 

t  1892.  t  1894. 

ganzen  Gebiete,  auf  dem  Festlande  ausschlielslich ,  auf  der  Nehrung 
haben  sie  zierlichere,  kleinere  Form  angenommen.  Die  Enden  sind  oft 
dreiteilig.  Die  Bedachung  ist  nicht  mehr  ausschließliches  Kennzeichen 
des  weiblichen  Toten.  Die  Grabplatten  lassen  sich  auf  zwei  Grund- 
formen zurückführen,  auf  das  Blatt  und  auf  die  Urne  (Abb.  49). 

Die  Nehrungsurne  (Abb.  45)  ist  von  Dr.  P.  Schiefferdecker  1873 
in  einem  „Bericht  über  eine  Reise  zur  Durchforschung  der  Kurischen 
Gehrung  in  archäologischer  Hinsicht"  ausführlich  behandelt,  seine  Er- 
gebnisse sind  unter  Abb.  45  angegeben.  Er  sieht  in  ihr  und  überhaupt 
in  den   Gräberfunden  auf  der  Nehrung  einen  Beweis  mehr,  dals  die 

10* 


148  Die  Kuren. 

ehemaligen  Dünaanwohner  und  die  Nehrunger  demselben  Volksstamme 
angehörten.  Diese  Urne  kommt  in  verändertem  Schattenrifs  gleichsam 
mit  aufgesetztem  Deckel  als  Grabplatte  in  Nidden  und  Schwarzort 
(Abb.  49  c,  e,  h,  i)  wiederholt  vor.  Die  einfache  Blattform  als 
Epheu  (n),  Eichblatt  oder  Löwenzahnblatt  (g,  d,  b),  andere  spaten- 
förmige  und  kreisrunde  Blätter  könnten  auch  anders  gedeutet  werden, 
so  haben  k  und  m  mit  den  Beinen  tierartige  Gestalt. 

IV.     Beschäftigung. 

Landbau.  Die  ostpreufsischen  Kuren  kennen  fast  nur  eine  Be- 
schäftigung, das  ist  der  Fischfang;  der  Landbau  tritt  als  zweite  gänz- 
lich zurück,  noch  mehr  die  Jagd  auf  Krähen.  Ein  Handwerk  lernt 
der  echte  Eure  nie.  —  Auf  dem  Strande  beut  der  Landbau  vermöge 
der  ackerbauenden  litauischen  Anwohner  schon  mancherlei  Frucht; 
die  Nehrunger  hingegen  kommen  über  den  Versuch,  Kartoffeln  anzu- 
pflanzen, nicht  hinaus.  Arbeiten,  bei  denen  man  nicht  sofort  Frucht 
sieht,  sind  ebensowenig  des  Slowinzen  wie  des  Kuren  Sache.  Künstliche 
und  saubere  Kartoffelzucht  überlälst  man  schon  um  deswillen  den 
Deutschen ,  weil  der  Sandboden  in  den  Klucken  wie  auf  der  Nehrung 
erst  durch  Mischung  mit  Moorstaub,  Land  und  Dünger  einigermalsen 
fruchtbar  wird.  Das  Festlegen  der  Wasserdünen  auf  der  ganzen  Neh- 
rung, besonders  bei  Pillkoppen  und  Schwarzort,  wird  ja  dem  Landbau 
bedeutenden  Vorschub  leisten.  Schwarzort  und  Rossitten  haben  überdies 
in  ihren  Wäldern  und  Waldwiesen  weit  eher  günstige  Vorbedingungen 
als  Nidden,  Preil  und  Perwelk.  Dies  Kirchspiel  weist  z.  B.  in  ganz 
Preil  und  Per  welk  an  Bäumen  nur  einige  Obstbäume  in  Per  welk  im 
Garten  von  Fr.  Bastickis  auf.  Auch  der  Wies  wachs  ist  hier  äufserst 
gering  und  beschränkt  sich  in  Preil  auf  drei  Besitzer.  Im  Sommer 
nehmen  die  Preiler,  um  Milch  zu  haben,  von  Windenburg  und  Kinten 
Kühe  auf  Ausfütterung.  Aber  wer  seine  Kuh  auf  die  äuEserst  magere 
fiskalische  Damm  weide  in  Preil  schickt,  wo  sie  der  Milch  wegen  im 
Sommer  „in  Pension tf  weilt,  muls  1,5  Mk.  an  die  Dünenbaukasse  im 
voraus  zahlen.  Eine  Kuh  giebt  hier  täglich  1  bis  2  Liter  Milch.  Man 
findet  an  Küchengemüsen  fast  gar  nichts  im  kurischen  Gebiet;  Weifs- 
kohl, Mohrrüben  und  Wrucken  holt  man  vom  Markte.  Auch  die  Zahl 
der  Blumen  und  Ziersträucher  ist  gering,  in  Meineragen  giebt  es  Flieder 
und  Georginen.  Auf  den  Äckern  baut  man  hier  Kartoffeln,  Roggen, 
Hafer,  Gerste;  als  Dung  benutzt  man  Seetang.  Die  Ernten  sind  spär- 
lich. Jedes  Haus  hat  sein  ärmliches  Gärtchen,  als  Obstbäume  sind 
daselbst  hervorzuheben:  Sauerkirschen,  Pflaumen,  Birnen,  Äpfel, 
Stachelbeeren.  An  Gartenpflege  fehlt  es,  doch  hat  man  der  Schule 
einen  mit  Kiefern  und  Bretterzaun  umgebenen,  13  X  20m  grofsen 
Garten  beschieden,  den  Sand  weggeschafft  und  durch  Lehm  ersetzt, 
12  Obstbäume  zieren  ihn. 


Krähenfang.  149 

Der  immer  deutscher  werdende  Badeort  Schwarzort  bietet  aber 
im  Sommer  alles,  was  das  Festland  hat.  Am  Strande  und  bei  Schwarz- 
ort treten  neben  Nadelbäumen  besonders  die  Weide  (Witulis)  auf,  die 
als  Schutz  gegen  den  Sand  überall  gepflanzt  war,  aufserdem  Birke 
(Berse),  Erle  (Alksne),  Espe  (Apse).  Getreidefelder  fehlen,  Kartoffel- 
furchen sind  selten  vorhanden.  Von  Haustieren  sehen  wir:  Pferd, 
Kuh,  Schwein,  Schaf,  Hund,  Katze,  Huhn.  Preil  besitzt  beispielsweise 
zwei  Pferde,  sechs  Kühe  und  einige  Schweine;  im  Winter  erhöht  sich 
der  Eisfischerei  wegen  die  Zahl  der  Pferde  auf  sechs.  Bommelsvitte 
besitzt  9  Rinder,  15  Pferde,  468  Schweine,  6  Ziegen,  769  Hühner.  Jede 
Gemeinde  hat  ihren  Hirten.  So  treibt  der  Preiler  den  ganzen  Sommer 
durch  frühzeitig  das  sämtliche  Gemeindevieh  auf  die  Weide  und  bringt 
es  abends  zurück.  Er  erhält  60  Mk.  Jahreslohn  und  reihum  bei  den 
Viehbesitzern  Kost  und  Schlafstelle.  Ihn  kennzeichnet  keine  Trübe, 
sondern  nur  Schäferstock  und  Brotbeutel,  Brot  und  Fisch  für  Mittag 
und  Vesper  enthaltend. 

Krähenfang.  „Wenn  Giltine  Wald  und  Gesträuch  entblätterte, 
wenn  im  Geäst  statt  Vogelgesang  das  Knarren  der  dürren  Äste  zu 
hören  ist,  wenn  das  Elch  entflohen  und  der  Habicht  seinen  Raub  ein- 
gestellt hat,  wenn  der  Herbst  begann  und  sämtliche  Freuden  erstarben, 
dann  preisen  nur  noch  die  Krähen  des  greulichen  Herbstes  Freuden. u 
So  etwa  singt  Donalitius  in  seinem  „Herbst"  von  Ostpreufsen,  dem 
Lande  der  Krähen.  Warninken,  Warninkehmen  und  zahlreiche  andere 
Orte  haben  ihren  Namen  von  den  unzähligen  Krähen  erhalten,  die  Ost- 
preutsen  bevölkern.  Schon  alte  Schriftsteller  gedenken  des  schwung- 
haft betriebenen  Krähenfanges,  von  dem  uns  Donalitius  ein  hübsches, 
auf  Tolminkemen  bezügliches  Bild  liefert.  Dotschys,  der  Erzlump, 
hatte  einem  tölpelhaften  russischen  Knechte,  Durrak,  die  Flinte  gegeben, 
damit  er  ein  Dutzend  edler  Krähenbraten  erhalte.  Durrak  schofs  so 
dumm,  dals  die  Scheune  in  Brand  geriet  und  er  sich  selbst  verwundete. 
Da  kam  der  Amtsrat  zufällig,  liels  den  Dotschys  in  Eisenketten  legen, 
auf  dem  Schlitten  ins  Gefängnis  fahren  und  in  fünf  Tagen  vor  zahl» 
reichen  Zeugen  gegen  ihn  verhandeln.  Dotschys  stellte  sich  erbärmlich 
und  seufzte;  als  aber  die  Zeugen  gegen  ihn  aussagten,  stemmte  er  die 
Hände  in  die  Hüften: 

,Was  denn  kümmert  es  euch",  so  sprach  er,  „ihr  gnädigen  Bichter, 

Dafs  ich,  wenn  mich  einmal  nach  Krähenbraten  verlanget, 

Mir  zu  dem  Mittagsmahl  ein  paar  der  Bestien  schiefse? 

Hat  der  König  nicht  seihst  sie  auszurotten  geboten? 

Unter  den  Litauern  giebt's  gar  viele  sehr  protzige  Bauern, 

Viele  der  Knechte  sogar,  die  solcherlei  Speise  verachten, 

Aber  mir  ist's  ganz  gleich,  hab'  ich  nur  Fleisch  auf  der  .Schüssel. 

Wollet  ihr  einem  Armen,  wie  mir,  solche  Bissen  nicht  gönnen? 

Ist's  nicht  genug,  dafs  ich  euch  abliefre  die  Füfse  der  Krähen 

Und,  wie  dem  Bauer  Pflicht,  von  zwölf  gefangenen  Spatzen 


150  Die  Euren. 

Jährlich  schleunigst  die  abgedrehten  Köpfe  euch  bringe?  — 
Habt  ihr  Herren  uns  ja  doch  schon  so  von  allem  entblöfset, 
Dafs  nns  hinfort  zum  Essen  nur  bleiben  noch  Hatten  und  Eulen.  * 

(Donalitius,  Winter,  342  ff.,  übersetzt  von  Passarge.) 

Zahlreiche  Kanzelermahnungen  gegen  das  Krähenschielsen  wurden 
nur  der  Feuersgefahr  wegen  erlassen,  der  Krähenfang  ward  gern  ge- 
sehen. Die  Preiler  sind  beim  Krähenfang  äulserst  fleilsig.  Sie  fangen 
im  Herbst  oft  an  einem  Tage  je  150  Stück.  Ein  viereckiges  Netz 
führt  mit  langer  Leine  zu  einer  etwa  20  m  entfernten  Strobbude,  die 
gerade  so  grols  ist,  dals  sich  ein  Mensch  darin  verbergen  kann.  Das 
äufserste  Netzende  ist  durch  einen  Pflock  festgemacht  und  an  der  Erde 
befestigt.  Am  Netze .  liegen  Stinte  als  Lockspeise ,  und  ein  lebender 
Rabe  ist  als  Lockvogel  angebunden.  Wenn  man  keinen  hat,  bedient 
man  sich  eines  schwarzen  Huhnes.  Sind  eine  oder  mehrere  Krähen 
an  den  Stinten,  so  zieht  der  Fänger  die  Leine  so  derb  an,  dafs  die 
Gefangenen  nicht  unter  dem  Netze  hervorkönnen.  Dann  beifsen  die 
Fänger  den  Krähen  den  Kopf  ab,  die  anderen  bedienen  sich  zur  Tötung 
einer  Zange  oder  eines  spitzen  Messers.  Zu  Hause  rupft  man  die 
Federn  ab,  die  zum  Stopfen  der  Betten  verwendet  werden.  Das  Fleisch 
wird  gekocht  und  gegessen,  der  Vorrat  wird  in  einem  Pökelf afs  für  den 
Winter  eingesalzen.  Die  Nehrunger  werden  von  den  Litauern  an  der 
anderen  Seite  des  Haffs  scherzhaft  Krähenbeifser,  jene  von  diesen 
Kaulbarschpelze  genannt. 

Fischfang.  Kein  Volk  ist  mit  solcher  Zähigkeit,  mit  solchem 
freudigen  Fatalismus  Fischer  als  die  Kuren;  nur  ganz  selten  geht  aus 
ihnen  ein  Strandbedienter  oder  ein  Gastwirt,  ein  Handwerker  oder  gar 
ein  Gelehrter  hervor.  Und  wenn  ihnen  die  See  die  Hütte  wegspült 
oder  der  Sand  ihr  Häuschen  zuschüttet,  wenn  der  Fischreichtum  immer 
kärger  wird  und  drückender  die  Steuern:  der  Kure  bleibt,  was  er  ist, 
mögen  sich  bessere  Stellungen  oder  lohnenderer  Verdienst  bieten.  Er 
wird,  wie  Beispiele  beweisen,  unglücklich  in  einem  anderen  Verhältnis, 
er  verliert  Ruhe  und  Sicherheit  und  kehrt  gern  zu  seinem  jahraus 
jahrein  gleich  einförmigen  Fischerhandwerke  zurück.  So  rauh  und 
derb  die  Arbeit  ist,  so  willig  thut  sie  der  Kure  gleich  dem  Slowinzen 
von  früher  Jugend  an  zu  jeder  Jahreszeit,  —  bis  in  die  fünfziger  Jahre 
hinein.  Dann  tritt  er  den  Schauplatz  seiner  Thätigkeit  seinen  Kindern 
und  Schwiegersöhnen  ab.  Er  thut  dies  nach  altem  Gebrauch  so  früh 
aus  wirtschaftlichen  Gründen;  nur  zeitige  Heirat  der  Kinder  und  zeitige 
Selbständigkeit  in  bester  Manneskraft  sichern  die  Erhaltung  des  gering- 
wertigen Eigentumes  und  die  Begründung  eines  möglichst  reichlichen 
Familienstandes,  der  sich  bei  allen  Arbeiten  nützlich  erweisen  mufs. 
Die  Alten  werden,  wie  am  Lebasee,  Altsitzer;  sie  stricken  Netze  und 
richten  mit  den  Frauen  und  Kindern  die  zerrissenen  wieder  her.  Sie 
ziehen  Leinen  und  setzen  Angeln;  alles  hat  immer  mit  den  Netzen 
zu  thun. 


Fischerei.  1 51 

Man  kann  im  allgemeinen  sechs  Arten  Fischerei  unterscheiden: 
1.  den  Stint-  und  Kaulbarschfang,  2.  die  Winterfischerei,  3.  den  Lachs- 
fang, 4.  den  Aalfang,  5.  die  Keitel-  und  6.  die  KurrenfLscherei. 

Der  Stint-  und  Eaulbarschfang.  Er  dauert  vom  Dezember 
bis  zum  Januar  und  wird  auf  dem  Haff  derartig  ausgeführt,  dafs  man 
in  eine  Wuhne  ein  15  X  lVam  haltendes  Kaulbarschnetz  (Pukinnis) 
einl&Ist;  jeder  Fischer  gleichzeitig  drei  bis  vier.  Man  fängt  Kaulbarsche 
und  messerlange  Stinte,  die  von  Menschen  gegessen  werden  und  nicht 
mit  den  kleinen  Sommerstinten  verwechselt  werden  dürfen,  aus  denen 
man  Schweinetrunk  bereitet.  Das  Schock  solcher  Stinte  verkauft  der 
Kure  mit  50  Pfennigen.  Obwohl  die  Auslagen  zu  dieser  Fischerei,  der 
billigen  Netze  und  der  Mühelosigkeit  wegen,  gering  sind  und  selbst 
von  den  Ärmsten  bestritten  werden  können,  ist  doch  des  spärlichen 
Fanges  wegen  der  Verdienst  kaum  nennenswerth  und  gewährt  nur 
knapp,  dafs  der  Fischer  mit  den  Seinen  von  der  Hand  in  den  Mund 
leben  kann.  Viele  machen  gegen  100  Mk.  Schulden  im  Winter.  Und 
der  gilt  als  der  Vornehmste,  dem  der  Kaufmann  am  meisten  borgt. 
„Ein  armer  Fischer  bin  ich  zwar" ,  gilt  von  den  Kuren  wie  von  den 
Kluckenern.  Der  Kure  spart  nie,  genau  wie  seine  Genossen  am  Leba- 
eee.  Was  soll  das?  Man  mute  ja  doch  jeden  Tag  hinaus  aufs  HaS 
oder  Meer  fahren,  das  Geld  in  der  Tasche  ist  wertlos,  wenn  es  nicht 
verwendet  wird.  Er  bringt  auch  im  Sommer  nicht  mehr  auf,  als  dafs 
er  die  alten  Schulden  bezahlt,  den  Tagesbedarf  deckt,  aber  keinen 
Heller  für  den  Winter  spart.  „Ach  was,  der  Kaufmann  wird  bei  Heller 
und  Pfennig  bezahlt,  sobald  ich's  habe",  ist  des  Fischers  ehrliche  Aus- 
rede. Da  aber  oft  zu  viel  Zeit  bis  zu  diesem  Zeitpunkte  vergeht,  rückt 
öfter  der  Gerichtsvollzieher  ein  und  ist  so  manchem  von  ihnen  bekannt. 

Die  Wintergarnfischerei  ist  ein  Vorrecht  der  bemittelten 
Fischerwirte.  Die  Netze  sind  teuer,  der  Betrieb  kostspielig,  der  Er- 
folg ungewils,  dafür  ist  ein  glücklicher  Zug  aber  auch  lohnend  genug. 
Sie  wird  genau  so  von  den  Slowinzen  betrieben  und  dauert  auf  dem 
Lebasee  wie  auf  dem  HaS  vom  Dezember  bis  März.  In  Preil  beteiligen 
sich  je  acht  Menschen  mit  zwei  bis  vier  Pferden.  Man  fängt  aufser 
Stinten  und  Kaulbarschen  noch  Barsche,  Hechte,  Zander  und  zieht  oft 
für  300  und  mehr  Mark  Fische  heraus,  die  sofort  von  Händlern  aus 
Memel  und  Kinten  gekauft  werden.  Auch  hierbei  „spendieren11  die 
Händler  reichlich  Schnaps  und  Gigarren,  um  die  Fischer  weniger 
„äulsern"  zu  stimmen  und  billige  Ware  zu  bekommen.  Die  Pferde 
müssen  aufwinden.  Das  Netz,  gestrickt  mit  Galdens  und  Saiwe,  ist 
360  X  5  m  grols.  Inmitten  der  beiden  Flügel  ist  an  der  Heftung  ein 
4  m  grofser  Sack,  dahin  müssen  die  Fische  schwimmen.  Das  Lachsnetz 
(LachBwad)  ist  in  Nidden  190,  Strömlingswad  130  m  breit.  Klippnetze 
(Nidden)  sind  oft  kleiner  und  können  von  zwei  Männern  gezogen  werden. 
Ein  Zug  dauert  einen  ganzen  Tag,  kann  aber  auch  auf  mehrere  aus- 
gedehnt werden.    Man  hackt  (s.  S.  17)  an  zwei  entfernten  Stellen  grolse 


152 


Die  Kuren. 


Löcher  ins  Eis  und  betrachtet  diese  als  die  grolse  Achse  einer  Ellipse. 
Auf  der  Peripherie  hackt  man  nun  in  der  Entfernung  der  Netzstange 
kleine  Löcher.  Bann  senkt  man  das  grolse  doppelteilige,  rechteckige 
Netz  in  das  eine  grolse  Loch.  An  der  oberen  Seite  sind  Pappelborke- 
stnckchen,  an  der  unteren  Steine  befestigt,  dals  das  Netz  im  Wasser 
senkrecht  steht.  Am  rechten  und  linken  Ende  sind  etwa  6  m  lange 
AbU  52  Netzstangen  angebracht.      Biese 

werden  mit  einer  Gaffel  ata  nge 
in  die  beiden  nächsten  kleinen 
Löcher  rechts  und  links  vom 
Achsenanfange  geschoben.  Von 
da  ab  schiebt  man  weiter,  bis 
das  Netz  an  dem  grofsen  Loche 
am  anderen  Achsenende  anlangt. 
Die  Lachsfischerei  wird 
im  April  und  Mai  auf  der  See 
betrieben,  des  zweifelhaften  Er- 
gebnisses wegen  nicht  so  allge- 
mein. In  Nimmersatt,  wo  man 
sonst  nur  Dorsche  fängt,  sowie 
Flundern  und  Strömlinge,  dort 
Heringe  genannt,  fahrt  nur  ein 
einziges  Boot  auf  den  Lachsfang, 
in  Bommelsvitte  thun's  50  Kutter. 
Bie  Netze  müssen  sehr  genau 
gearbeitet  sein  und  sind  doch  oft 
leer.  Bas  zur  See  gebräuchliche 
Lachszugnetz  heilst  Wadus  oder 
Wadnetz  und  ähnelt  dem  Klipp- 
ia nd  Winterklippnetz. 

Der  Aalfang  findet  auf  dem 
Haß  statt;  er  beginnt  nach  der 
Lachsfischerei  im  Juni.  Er  ist 
die  einträglichste  Art  and  bringt 
beispielsweise  den  Preilern  durch- 
schnittlich 1000  Mk.  ein.  Mit  ihren  Händlerkähnen  warten  dieMemeler 
und  Kintener  Fischhändler  (Kupczelis)  auf  die  heimkehrenden  Boote 
und  bezahlen  das  Kilogramm  mit  1  Mk.;  die  Fische  werfen  sie  in  den 
Fischkasten  (Potingis),  der  2m  lang.  Im  breit  und  1/,1m  hoch  ist, 
Haben  sie  eine  Last  beisammen,  so  fahren  sie  nach  Hause  und  kehren, 
nach  Ablieferung,  im  Sommer  mittels  Kahnes,  im  Winter  mittele  Schlittens 
sofort  wieder  nach  Preü  zurück.  Oft  kippt  einer  dieser  nicht  ganz 
sicheren  Kähne  unterwegs  um,  und  Weib  und  Kind,  die  zu  Hanse 
die  Aale  räuchern  und  später  in  Königsberg  verkaufen,  warten  ver- 
geblich auf  des  Vaters  Rückkehr. 


1  Stein,   etwa  1 

Ctr.   «oh  wer.   — 

2  Treib- 

leine,   kur 

(plattd.)  Driew 

line.  — 

Baum, 

liur.    Boon 

4    ßutti 

.    —    5 

Flotten, 

jilsitd.   Fl 

et,   k 

ur.    Pluk>( 

t.    —    t 

Kleine, 

faustgrofre 

Steio 

,  kur.  Akm 

enig.  — 7 

Vorder- 

teil,    kur. 

l'reka 

ai.   —    8 

Achtelga 

rti,  kur. 

Acktegarn 

9    Schitke 

,    beliehen d    aus 

centnerEcli 

werem 

Stein.  — 

10  Kehle 

Inkelis. 

Netze. 


153 


Abb.  53. 


Abb.  54. 


[aulbarschnetz,  kur.  Pukinnis,  15m  lang,  lV8m 

breit. 


1  Leiue. 


Dorschatigel  (Kappel). 
-  2  Eisenstäbe.  —  8  Schnuren.  — 
4.  Angel.  —  5  Ring. 


Abb.  55. 


1  Driewlin,  nur  kur.  —  2  Schwankten,  nur  kur.  —  3  Kur.  Schullmister,  welcher  7  m  lang  und 
Ton  starkem  Garn  ist,  damit  sich  das  Netz  beim  Herumschleudern  nicht  abnutzt.  —  Flotten,  plattd. 
Fleet,  kur.  Plukstis,  Plakate.  — -  5  FaustgroXse  Steine,  kur.  Akminig  (Preil),  Akmenis  (Mein.).  ■— 
6  Oadder,  kur.  Leeks,  ein  sehr  weitmaschiges,  zu  beiden  Seiten  des  Kurrennetzes  sich  hinziehendes 
Netz.     Die  Länge   des  ganzen   Kurrennetzes   beträgt  200  m ,   seine  Breite  3m;   in  Meineragen  hat 

man  vier  Netze  von  je  65  m  Länge  zusammengebunden. 


Abb.  56. 
^.3 


:::::::::::::::: 


":5:j:::::5" 


360  m  lang,  5  m  breit.     Winternetz,    kur.  Sziemos  Tinklas,  Siemestiklis. 
1  Buttis,  nur  kur.  —  2  Buttlien.  —  3  Span.  —  4  Kur.  Metrische. 


Abb.  57. 


Abb.  58. 


Abb.  59. 


tt 


^ 


) 


Zese, 
Zeise. 


Kescher. 
(Kesselis.) 


Bernsteinkescher. 
(Dsintarekesselis.) 


Die  Kurrenfischerei  findet  im  Sommer  und  Herbst  mit  zwei 
Kähnen  und  zwei  Menschen  statt.  Zwei  binden  ihre  Netze  zusammen, 
je  200  X  5  m  grofs.  Tag  und  Nacht  dauert  der  Fang.  Er  ist  wenig 
lohnend.  Die  grolsmaschigen  Netze  schwimmen  so  wie  das  Winter- 
netz; man  segelt  vor  dem  Winde.  Erst  zieht  man  die  Netzenden, 
dann  das  ganze  Netz  in  den  Kahn. 


154  Bie  Kuren. 

Die  Keitelfischerei  beginnt  im  September  und  ist  wenig  er- 
giebig, sie  liefert  wenig  Aale,  meist  kleine  Stinte.  Auf  einem  Kahne 
ist  ein  Fischer  mit  seinem  Gesellen.  Man  lälst  das  Netz  so  ein,  data 
es  wie  ein  umgestülpter  Zuckerhut  im  Wasser  steht.  Unten  wird  das 
Netz  immer  engmaschiger.  Das  Boot  segelt  mit  halbem  Winde  Tag 
und  Nacht. 

Ein  charakteristisches  Netz  ist  noch  die  Zese,  ein  sackartiges, 
4  X  4m  grofses,  hinten  immer  engmaschiger  werdendes  Netz  mit 
Kehle  in  der  Mitte.  Die  Dorschangel  (Kappel)  besteht  aus  einer  Leine, 
an  deren  Ende  ein  Ring  mit  zwei  Eisenstäben  hängt,  die  in  je  einer 
Schnur  mit  Angel  enden. 

Fischnamen  sind  für  Dorsch  Menzas,  Lachs  Lasis,  Flunder  Plekste, 
Hering  Silke,  Stint  Stente,  Zerte  Sebbre,  Seequappe  Wegelis,  Stör  Sture, 
Schnäpel  Siks,  Butterlachs  oder  Spezker  oder  Junglachs  Pedsekis, 
Zander  Starks,  Hecht  Lideks,  Aal  Sutis,  Brassen  Kasche,  Kaulbarsch 
Pukis;  selten  sind  Kanklys  und  Salats,  eine  kleine  Maräne.  Gemüse: 
Weilskohl  (Kapuste),  Mohrrübe  (Germule),  Wrucke  (Setene). 

In  Bommelsvitte  hat  man  ein  Strömlingstreibnetz  zu  4  cm,  ein 
Staknetz  zu  2,5  cm ,  ein  Zugnetz  zu  2,5  cm  und  einen  Kescher  zu  2  cm 
Maschenbreite.  Die  Reuse  (Wenter)  ist  7,5  m  lang  und  vorn  1  m 
breit,  der  Kescher  1  m  lang,  das  Staknetz  60  m,  das  Zugnetz  30  m,  das 
Lachsnetz  12  m,  das  Aalnetz  50  m. 

Das  Schaf  nennt  man  Awe,  das  Lamm  Gers,  die  Kuh  Guwe,  das 
Pferd  Sirge,  das  Schwein  Cuka,  den  Hund  Suns,  Szu,  die  Katze  Kake, 
den  Kater  Runcis,  das  Huhn  Wiste,  Wiszte,  den  Hahn  Gailis,  Gaidis. 
Der  Kirschbaum  heilst  Wisznis,  der  Birnbaum  Trauszis,  der  Apfelbaum 
Obulis,  Abulis,  der  Stachelbeerstrauch  Buberei,  der  Pflaumenbaum 
Plume. 

V.    Feste  und  Feierlichkeiten. 

Sonn-  und  Wochentag.  Die  sociale  Überlegenheit  des  herden- 
begüterten Berglappen  gegenüber  dem  armen  Seelappen  findet  ihre 
Entsprechung  bei  allen  Stämmen  am  Baltischen  Meere  von  Domesnäs 
bis  zum  Lebasee.  Die  Slowinzen  sind  weit  ärmer  als  ihre  germanisierten 
landsässigen  Volksgenossen  im  Süden.  Die  Strandliven  führen  ein  viel 
ärmlicheres  Dasein  als  die  hinter  ihnen  hausenden  lettisierten  Kuren, 
und  ebenso  ist  das  Verhältnis  zwischen  den  Nehrungern  und  Strand- 
kuren gegenüber  den  auf  dem  Lande  wohnenden  lettischen  und  litaui- 
schen Brüdern.  Alle  die  genannten  ärmlichen  Strandvölker  haben 
eine  Eigenart  in  ihrem  täglichen  Schiff  erleben  entwickelt,  die  eher 
unter  sich  als  mit  der  ihrer  ackerbauenden  Nachbaren  übereinstimmt. 
Liegen  ja  bei  den  Strandleuten  die  gleichen  Bedingungen  des  Bodens, 
des  Erwerbes,  der  Nahrung,  der  Witterung  vor,  die  auf  die  Dauer 
mächtiger  als  Volks-  und  Blutsbande  wirken  und  ketten. 


Wochen  tagsarbeit.  155 

Der  Wochentag  eines  kurischen  Fischers  gleicht  so  ziemlich 
dem  des  Slowinzen  and  Liven.  Während  aber  jene  in  der  Frühe  ihr 
Tagewerk  beginnen,  fängt  es  der  Kure  abends  nach  Sonnenuntergang 
an.  Da  fahren  die  Fischer  auf  ihren  Booten,  jedes  Dorf  gemeinsam, 
auf  die  Höhe  des  Haffs,  des  Meeres,  des  Lebasees.  Am  Morgen  kehren 
sie  zurück,  der  Easchube  aber  viel  früher.  Der  Kure  richtet  es  so 
ein,  dals  er  gerade  rechtzeitig  nach  Hause  kommt,  um  den  Fang  nach 
Kinten  oder  Memel  auf  den  Markt  zu  bringen,  gewöhnlich  zu  Boot. 
Ist  aber  der  Fang  gering,  so  bedienen  sich  die  kurischen  Frauen  der 
Körbe,  Karren  und  Handwagen  zur  Reise  auf  den  Markt.  Wer  ein 
Pferd  hat,  läfst  die  Frau  fahren  und  verkaufen.  Kurin  wie  Litauerin 
gehen  gleich  geschickt  mit  dem  Pferde  um;  Ostpreufsen  war  ein  Pferde- 
land, lange  bevor  die  ersten  preulsi sehen  Könige  die  weltbekannten 
Stutereien  anlegten.  Während  die  Kurin  auf  dem  Markte  handelt, 
haben  die  Brüder  und  Männer  zu  Hause  trockene  Kleider  angezogen, 
beim  schwarzen  Kaffee  ein  derbes  Frühstück  von  Fischen  und  Kartoffeln 
eingenommen  und  sich  dann  schlafen  gelegt.  Die  Kuren  schlafen 
schon,  wenn  die  Litauer  und  Ostpreufsen,  die  ja  in  ganz  Deutschland 
das  lange  Schlafen  lieben,  noch  liegen.  Nun  wird  es  allmählich 
Mittag,  die  Frauen  kehren  zurück,  ein  zweites  ähnliches  Mahl  folgt. 
Mus  mit  Weizenmehlteilchen  gilt  als  besonderer  Genuls,  doch  ver- 
schmäht man  auch  nicht  rohe  Fische  mit  Zwiebeln,  Salz  und  Pfeffer. 
Die  Fische  werden  mit  den  Kartoffeln  zusammen  gekocht,  ohne  Butter 
und  Sahne,  aber  mit  viel  Zwiebeln,  Pfeffer  und  Salz,  den  Lieblings- 
gewürzen der  Strandbewohner.  Die  Krähen  wie  die  Fische  werden 
fast  nur  gekocht,  selten  gebraten  oder  gebacken  gegessen.  Im  Sommer 
ilst  man  zuweilen  die  gekochten  Eingeweide  der  Aale.  Im  Winter 
schlachten  viele  ein  Schwein  und  bevorzugen  Sauerkraut.  Auch 
Bohnen  und  Erbsen  kocht  der  Kure  gern. 

Nachmittags  werden  die  Netze  in  Ordnung  gebracht  und  alles, 
was  man  bei  der  Fischerei  braucht.  Die  Männer  stricken,  die  Frauen 
flicken.  Dann  wird  die  nötige  Arbeit  in  Haus,  Hof  und  Kartoffelbeet 
gemacht.  Um  4  Uhr  trinkt  man  Thee  und  ifst  nochmals.  Den  Thee 
geniefst  man  mit  Zucker,  wenn  nicht  ein  Unwetter  die  Verbindung  mit 
Memel  und  seinen  Kaufläden  unterbrochen  hat.  Wenn  die  Nacht 
stürmisch  war  und  das  Fischen  nicht  zuliefe,  fährt  man  bei  Tage  auf 
die  Höhe.  Am  Abend  beginnt  der  Fischfang  aufs  neue;  einige  feiern 
am  Donnerstag  abend,  andere  am  Freitag  abend;  insbesondere  schweigt 
da  das  Surren  des  Spinnrades. 

Die  Sonntagsfeier  beginnt  am  Sonnabend  um  6  Uhr.  Man 
fährt  nicht  auf  den  Fischfang,  sondern  wäscht  den  Oberkörper  und 
legt  ein  frisches  derbes  Hemd  an.  Die  Nehrunger  setzen  sich  dann 
ruhig  vor  die  Thür  und  unterhalten  sich,  wenn  nicht  etwa  ein  Gebets- 
bruder eingetroffen  ist  und  Gebets  Versammlung  abhält.  Die  Melne- 
rsgener  Kuren  und  ihre  Nachbarn  hingegen  gehen  meist  nach  Memel 


156  Die  Kuren. 

in  die  Fischerkneipen  und  kaufen  zuvor  für  den  Haushalt  dort  Wirt- 
schaftsgegenstände ,  Küchenbedarf,  Leckereien  ein.  Früh  morgens 
gehen  die  Kirchdörfler  in  ihre  Kirche ;  die  entfernten  aber,  so  die  Preil- 
Per welker,  versagen  sich  den  8  bis  14  km  langen  Weg.  Die  Slowinzen 
wandern  bekanntlich  trotz  ebenso  grofser  Entfernung  regelmäßig  in 
die  Kirche;  die  Preil-Perwelker  kaum  einmal  im  Jahre.  Diese  Kirchen- 
besucher gehen  nach  dem  Ende  des  Gottesdienstes  nicht,  wie  die  Slo- 
winzen, in  den  Krug,  sondern  kehren  bei  Freunden  ein,  machen 
Krankenbesuche  und  gehen  dann  nach  Hause.  Die  kurischen  Nicht- 
kirchenbesucher  aber  nehmen  ihr  litauisches  Gesangbuch  zur  Hand  und 
singen  unter  Leitung  des  Hausvaters  nach  dem  Aufstehen  einige  lange 
Lieder;  die  Länge  soll  vielleicht  den  Inhalt  ersetzen  oder  von  der  un- 
entwegt ausdauernden  Frömmigkeit  Zeugnis  ablegen.  Nach  dem  Früh- 
stück nimmt  der  Vater  die  Postille  und  liest  der  aufmerksam  lauschen- 
den Familie  nach  gemeinsamem  Gesänge  eine  Predigt  vor.  Dann  folgt 
der  Gesang  mehrerer  Lieder  bis  zum  Mittagessen,  das  am  Sonntag 
öfter  KlÖfse  mit  Pflaumen  oder  Mus,  Rindfleisch  mit  Reis  und  dergL 
bietet.  Nachmittags  singt  und  betet  man  wieder,  und  gegen  Abend 
beginnt  der  Werkeltag  mit  der  Ausfahrt  der  Netze  und  Fischerkähne. 
Die  Strandkuren  besuchen  am  Sonntag  auch  zuweilen  ihre  Friedhöfe, 
die  Preiler  nie,  „man  würde  die  Toten  nur  in  ihrer  seligen  Grabesruhe 
stören  und  ihnen  Ungelegenheiten  bereiten". 

Eine  neue  Farbe  verleiht  dem  Sonntage  wie  jedem  übrigen  Tage 
das  Erscheinen  eines  Reisepredigers  oder  Sakitojis.  Die  Wirksamkeit 
der  Maldininker  oder  Surinkimininker  ist  tiefgehend.  Und  mag  auch 
hier  und  da  beabsichtigte  oder  unbeabsichtigte  Heuchelei,  selbstgerechtes 
Mucker-  und  Schwindlertum  mit  unterlaufen,  nach  meinem  Dafürhalten 
ist  bei  den  Jetzigen  Verhältnissen  der  Nutzen  der  Gebets  Versammlungen 
grölser  als  der  Schaden.  Der  Reiseprediger  kehrt  bei  einem  bestimmten 
Fischer  ein  und  wird  aufs  beste  bewirtet.  Wer  nur  kommen  kann, 
kommt  in  die  niedrige  Stube,  wo  alles  dicht  gedrängt  sitzt.  Die  An- 
dacht dauert  sehr  lange.  An  einem  Tische  sitzen  die  Laienprediger 
und  predigen  abwechselnd.  Mit  lauter  Stimme,  etwas  verworren,  reden 
sie  und  legen  das  Wort  der  Schrift  aus,  wie  sie  es  verstanden  haben, 
und  kommen  dabei  wie  in  Hebels  Kannitverstan  gewöhnlich  vom 
Irrtum  zur  Wahrheit.  Denn  überall  lassen  sie  ihren  Grundgedanken 
durchblicken:  „Ihr  seid  unbekehrt,  seid  Sünder,  mülst  besser  werden. 
Liebt  eure  Nächsten ;  schändet  den  Sonntag  nicht,  sondern  widmet  euch 
ganz  göttlichen  Dingen,  thut  Bufse!"  Die  Hörer  folgen  lauschend 
dem  mutigen  Redner,  der  ja  auch  nur  ihresgleichen  ist,  und  spenden 
ihm  reichlich  Beifall;  seine  Predigt  dünkt  ihnen  verständlicher  als 
die  des  Pastors.  Eins  behalten  sie:  sie  müssen  sich  bessern,  und  dieser 
erzieherische  Gedanke  haftet  mit  aller  Innigkeit. 

Sonntags  trägt  der  Kure  bessere  Kleider  als  Wochentags.  Der 
Fischer  in  Nidden  hat  Wochentags  wollenes  Unterhemd,  breite  blaue 


Bonntagsfeier.  157 

oder  weifse  Hosen,  blaue  Tuchweste,  graue  oder  blaue  Leinenjacke, 
lange  Wadenstiefel,  einen  Südwester,  d.h.  einen  Sturmhut  mit  Nacken- 
schutzleder oder  eine  Mütze  aus  gefirnifster  weifser  Leinwand;  in  Preil 
ist  die  Leinen weste  hinten  mit  roten  Bändern  versehen.  Sonntags 
geht  er  modisch;  Mütze,  Weste,  Hose,  Jacke  sind  aus  marineblauem 
Tuch;  die  Sommerhose  ist  weilsleinen;  man  merkt  den  Einflute  des 
Seesoldatendienstes.  Die  Euren  auf  dem  Festlande  haben  sich  schon 
mehr  der  allgemein  modischen  Kleidung  angeschlossen. 

Die  Frauen  tragen  alltags  einen  groben  (Eedelis),  sonntags  kurze 
schwarze,  zuweilen  gesprenkelte  Faltenröcke;  meist  recht  viele  über- 
einander, das  soll  die  Wohlhabenheit  andeuten.  Die  Litauerinnen 
bevorzugen  bekanntlich  die  gestreiften  Röcke  in  ihrer  vielartigen  Bunt- 
heit, schätzen  indes  grünseidene  Kleider  noch  höher.  Die  ärmellose 
Weste  oder  Miederjacke  aus  Baumwolle  oder  Sammet  ist  entweder 
ausgeschnitten  oder  bis  zum  Halse  zugehakt.  Das  Oberhemd,  oben 
fein  und  weite  (Wirschupschis) ,  ist  am  Kragen  und  den  Handenden 
faltenreich  und  schwarz  gestickt,  die  untere  Hälfte  von  der  Taille  ab 
(Sterbles)  ist  von  Sackleinwand.  Schürzen  sind  nach  der  verschiedenen 
Gegend  entweder  bunt  gestreift  oder  grünseiden;  darunter  hängt  eine 
schöne  gestickte  Tasche  mit  selbstgeflochtenem,  buntem  Taillenbande, 
das  grotse  Quasten  zieren.  Die  Tasche  dient  zur  Aufbewahrung  des 
Tuches  und  der  Börse.  Bernsteinbroschen  gelten  als  Schmuck.  Das 
Kopftuch  ist  verschiedenartig.  Bei  den  Nehrungern  haben  die  Mäd- 
chen das  Haar  frei,  die  Zöpfe  hängen  herab  oder  sind  kranzartig  auf- 
gelegt, zuweilen  mit  Moos-  oder  Rautenkränzen  geziert.  Binden  sie 
ein  Kopftuch  um,  so  müssen  hinten  ein  Schwanz,  seitlich  zwei  Zipfel  zu 
sehen  sein.  Die  Frauen  tragen  einen  richtigen  Turban  (Muturis),  den 
sie  am  Sonntag  so  winden,  date  die  beiden  Endzipfel  lang  hinten 
herunterhängen.  Sehr  selten  sieht  man  den  früher  gebräuchlichen 
weiteen  Shawl  (Raischtas);  man  wand  ihn  so  um  den  Kopf,  dafs  der 
Scheitel  frei  blieb,  der  Knoten  im  Nacken  safs  und  die  Enden  herunter- 
hingen.  Im  Sommer  gehen  die  Frauen  gewöhnlich  barfute  und  be- 
dienen sich  der  Waden wickler  (Aukles),  sonst  tragen  sie  weitee  Woll- 
oder Baumwollenstrümpfe  und  derbe  niedere  Lederschnürschuhe  mit 
Absatzstreifen,  bei  der  Fischerei  Männerstiefel.  Die  Füfse  können  sich 
der  kurzen  Röcke  wegen  sehr  frei  bewegen. 

Geburtstag.  Kurz  nach  der  Entbindung  findet  das  Geburtsfest 
statt.  Früher  nahm  man  möglichst  das  ganze  Dorf  zu  Paten;  jetzt 
nur  wenige.  Die  Gäste  werden  mit  den  übrig  bleibenden  Speisen  be- 
schenkt, wie  früher  in  ganz  Deutschland,  als  man  jedem  Gaste  ein 
Tuch  mit  Kuchen,  Wurst  u.  dergL  band.  Besondere  Gebräuche  haben 
sich  sonst  nicht  erhalten.  Man  bevorzugt  immer  noch  litauische  und 
lettische  Ruf  namensformen ,  so  in  Preil:  Mickis,  Hannis,  Fritzus, 
Mertiens,  Adam,  Willems;  Anne,  Maryke,  Jette,  Madie,  Gatte,  Else, 
Dore,  Jule.     Noch  beschränkter  ist  der  Kreis  der  Familiennamen.     In 


158  Die  Kuren. 

Preil- Perwelk  giebt  es:  Peleikis,  Engelien,  Leberen z,  Freud,  Radmacher; 
in  Karkelbeck:  Patra;  in  Meineragen  besonders  Bastickis,  Tydiks, 
Jaudzems;  in  Nimmersatt.  Koegst,  Schuischel;  inNidden  meist:  Sakuth, 
Pietsch ,  Blöde.  In  Bommelsvitte  sind  die  verbreite  taten  Rufnamen : 
John,  Martin,  Michel,  Wilhelm,  Karl,  Henry,  Franz,  Richard,  Erich, 
Albert,  Johann,  Jakob,  Haus;  Minna,  Jenny,  Marie,  Maricke,  Katryne, 
Barbe,  Friederike,  Ilse,  Eäte,  Ottilie,  Lina,  Marinke,  Gertrude,  Therese. 
Daraus  erhellt,  dals,  abgesehen  von  den  durch  den  Schiff ahrts verkehr 
eingeführten  englischen  Namen,  die  deutschen  Enabennamen  allent- 
halben gesiegt  und  nur  bei  den  Mädchennamen  die  litauischen  noch 
nicht  ganz  verdrängt  sind.  Die  Familiennamen  gewähren  natürlich 
ein  ganz  anderes  Bild.  Wohl  giebt  es  auch  hier  die  Müller  und 
Schmidt,  Vinke  und  Ewald,  Scheffler  und  Meissner,  Konstantin,  Lorenz, 
Behrendt,  Pieper  und  Hinzke,  die  litauisierten  Schedeit,  Eiste  reit  Es 
wiegen  aber  vor  die:  Dubbins,  Doblies,  Januschis,  Kubillus,  Obler, 
Fornacon  (!),  Tydeck,  Kioschus,  Broscheit,  Graetsch,  Kalkowsky,  Makweis, 
Goyra,  Radtke,  Bagschas,  Ziepa,  Sakuth,  Plennis,  Kopschnofsky,  Kawohl, 
Lilischkies,  Megallis,  Kuljurgis,  Karallus,  Kairies,  Perkams,  Gootz, 
Lunau,  Karklin,  Klaws,  Tenz,  Warna,  Broschewitz,  Kubbis,  Palleit, 
Schweistries ,  Kaminske,  Bratz,  Preukschat,  Rimkus,  Jakuscheit, 
Romeike,  Stroblies. 

Hochzeit.  Die  Kinder  bekommen,  solange  sie  zu  Hause  weilen, 
keinen  Lohn.  So  bald  als  möglich  suchen  sie  sich  selbständig  zu 
machen,  d.  h.  bei  einem  Fischer  zu  verdingen,  dessen  Tochter  sie 
heiraten  wollen,  oder  alles  zu  Hause  so  vorzubereiten,  dafs  die  Heirat 
nach  überstandener  Militärzeit  im  väterlichen  Hause  stattfinden  und 
die  Übernahme  desselben  vor  sich  gehen  kann.  Die  frühe  Heirat  der 
18  jährigen  Mädchen  und  25  jährigen  Burschen  hat  nicht  physische, 
sondern  wirtschaftliche  Gründe.  Nur  die  zeitige  selbständige  Bewirt- 
schaftung giebt  dem  Kuren  Gelegenheit,  das  ärmliche  Besitztum  in 
kräftigster  Manneszeit  zu  erhalten  und  bald  wieder  'zu  vererben x). 
Vermögen,  Schönheit  und  andere  Begriffe  der  Kulturmenschheit  kennt 
der  Kure  bei  der  Brautwahl  nicht,  Gesundheit,  Zugehörigkeit  zum 
Fischerstande  und  wirtschaftliche  Tüchtigkeit  sind  beiderseits  ausschlag- 
gebend. Vermögen  hat  ja  doch  niemand,  und  die  etwa  anfängliche 
Abgeneigtheit,  sagt  man,  wird  sich  schon  geben,  wenn  man  zusammen 
lebt.  In  der  That  führen  die  Kuren  wie  die  Slowinzen  Musterehen; 
der  Mann  ist  in  der  Regel  der  Frau  unterthan,  die  Ehefrau  ist  fleilsig, 
beider  Sinnen  und  Denken  ist  gleich,  ebenso  beider  Dienstfertigkeit 
und  eheliche  Treue.  Scheidungen  sind  ganz  selten;  beide  Teile  würden 
dabei  wirtschaftlich  zu  Grunde  gehen. 


l)  Schon  Brand  sagt  S.  76  über  die  Kuren,  sie  heirateten  sehr  jung, 
auf  dafs  sie  bei  Zeiten  viele  Kinder  bekämen,  die  ihnen  bei  der  Arbeit  helfen 
könnten. 


Hochzeit.  159 

Am  Verlobungsabend  wirft  der  Bräutigam  der  Braut  einen  Thaler 
in  den  Kaffeetopf,  die  Braut  bindet  dem  Geliebten  ein  schönes,  buntes 
Halstuch  um.  Die  Brautwerbung  besorgt  der  Pirschlies  oder  Freiwerber. 
Sind  die  Verhandlungen  zwischen  den  beiden  Familien  zu  Ende,  so 
werden  eine  Woche  vor  der  Hochzeit  die  nötigen  Waren  eingekauft: 
Bier,  Likör,  Schnaps,  Fleisch,  Mehl,  Cigarren.  Bei  keinem  Feste  geht 
es  so  hoch  her,  nie  wird  das  Geld  so  verschwendet  wie  diesmal.  Die 
Eltern  verbacken  je  1  Ctr.  Weizenmehl  zu  Piraggen  und  Rosinen- 
fiädchen.  Zwei  Tage  vor  der  Hochzeit  gehen  zwei  junge  Werber  und 
laden  ein.  Sie  tragen  einen  künstlichen  Blumenstrauls  an  der  Brust, 
daneben  seidene  Bänder  in  Grün  oder  Blau  oder  Schwarz  und  Rot. 
Mit  dem  Werberstocke  melden  sie  dem  halben  Dorfe:  „Die  Braut  und 
der  Bräutigam  (Namen)  laden  zur  Hochzeit  am  21.  Oktober  ein."  Die 
Geladenen  danken,  versprechen  zu  erscheinen  und  stecken  dem  Pirschlies 
mit  Nadeln  Tücher  an. 

Am  Hochzeitstage  setzt  die  Braut  den  Myrtenkranz  auf,  die  Gäste 
werden  mit  Kaffee  und  Fladen,  später  mit  Schnaps  und  Bier  bewirtet. 
Dann  singt  man  im  Brauthause  einige  litauische  Giesmes,  kniet  nieder 
und  hört  die  lange  christliche  Traurede  eines  Verwandten  an.  Nun 
erst  beginnt  der  Kirchgang  oder  die  Bootfahrt  oder  die  im  tollen  Trabe 
stattfindende  Wagenfuhre.  Die  Fahrmittel  sind  mit  Fahnen,  Tannen- 
reis und  Blumen  geschmückt.  Vor  Beginn  macht  der  Kutscher  mit 
der  Peitsche  vor  den  Pferden  ein  Kreuz,  dafs  kein  Unglück  passiert. 
Das  ist  sehr  nötig,  denn  die  tolle  Wettfahrt  der  möglichst  zahlreichen 
Wagen  läuft  selten  gut  ab.  Hat  man  das  Kirchdorf  erreicht,  so  zieht 
man  zuerst  zur  Stärkung  in  den  Krug,  dann  folgt  die  kirchliche  Trauung, 
und  dann  geht  es  wieder  in  den  Krug.  Den  Nachhausegehenden ,  die 
meist  zu  gleicher  Zeit  aufbrechen,  werden  Hindernisse  in  den  Weg 
gelegt,  deren  Beseitigung  erkauft  werden  mufs.  Am  Gartenthore,  an 
der  Haus-  und  Stubenthür  stehen  des  Dorfes  Frauen  und  bieten  dem 
Brautzuge  ein  Gläschen  Schnaps.  In  Preil  wird  daheim  nun  wieder 
gebetet  und  gesungen  und  dann  tüchtig  gegessen  und  getrunken.  In 
Meineragen  versteckt  sich  die  Braut  bis  zum  Abendbrot  und  wird  dann 
von  der  Pirschlene  oder  Freifrau  dem  Bräutigam  zugeführt.  Sie  nimmt 
ihr  die  Myrte  ab  und  setzt  ihr  den  Turban  auf.  Dafür  legt  ihr  die 
Braut  ein  Paar  Strümpfe  über  die  Schultern.  Mangelt  es  an  Speise 
und  Trank,  so  bekunden  die  Preiler  Unwillen  und  zerschlagen  die 
Teller;  nach  dem  Hauptessen  verschwindet  das  Brautpaar.  In  Meine- 
ragen  nimmt  der  Pirschlies  drei  Lichte,  steckt  sie  an,  trägt  sie  zwischen 
den  Fingern  und  geht  mit  der  Braut  zum  Zeichen  des  Aufbruches  um 
den  Tisch  herum.  Die  Gäste  gehen  in  ein  anderes  Zimmer  oder  in 
den  Hausflur  und  hüpfen  dort  tanzend  herum.  Bei  Beginn  des  Tanzes 
hängt  die  dann  abgehende  Braut  dem  Werber  ein  Paar  Handschuhe 
um  die  Schultern,  die  Mädchen  thun  dasselbe  bei  ihrem  Tänzer.  Wer 
zum  erstenmal  zu  einer  Hochzeit  als  Gast  kommt,  dem  bindet  man 


160  Die  Kuren. 

einen  Rischtuwas  mit  Handschuhen  um,   „der  mufs  eine  Gans  kaufen, 
das  bedeutet  Schnaps". 

Der  zweite  Hochzeitstag  wird  im  Hause  des  Bräutigams  gefeiert, 
wie  der  erste  in  dem  der  Braut.  Die  Schwiegermutter  empfängt  die 
nüssestreuende  Braut  mit  Gruls  und  Kufs,  nimmt  ihr  den  Kranz  ab 
und  bindet  ihr  das  Tuch  um.  Dann  beschenkt  die  Braut  die  Ver- 
wandten, und  wieder  beginnt  das  Essen  und  Trinken.  Danach  schliefst 
die  Hochzeit.  Früher  dauerte  sie  acht  Tage.  Der  Brautwagen  ent- 
hält gewöhnlich  nicht  viel,  nie  fehlt  eine  bunte  Lade.  Der  Segen  soll 
erst  kommen,  das  will  das  Nüssestreuen  beim  Betreten  der  Schwelle 
besagen,  wie  es  in  Nimmersatt  gebräuchlich  ist  Eigentümlich  ist  der 
kurischen  Hochzeit  das  Fehlen  vonDainasang  und  Musik,  Karten-  und 
Pfänderspiel.  Man  erzählt  Abenteuer,  singt  meist  deutsche  Lieder, 
wenn  man  überhaupt  singt,  und  leistet  sich  höchstens  eine  Zieh- 
harmonika. Wenn  bei  der  Hochzeit  oder  einem  anderen  Feste  ein 
Teller  oder  Löffel  mehr  aufliegt,  sagt  man,  es  käme  noch  ein  Gast. 

Begräbnis.  Der  Tote  wird  in  seinen  besten  Kleidern  in  einen 
dunklen  Holzsarg  gelegt,  Kerzen  brennen  in  grofser  Zahl.  Die 
Gäste  werden  eine  Stunde  vor  dem  Begräbnis  zur  Beerdigung  münd- 
lich eingeladen.  Dann  kommen  sie,  essen  und  trinken.  Am  Sarge 
aber  beginnt  erneutes  Klagegeschrei  vor  der  aufgebahrten  Leiche. 
Diese  Ilaudos  lauten  heute  genau  noch  so,  als  die  im  16.  Jahrhundert 
überlieferten.  In  den  Kirchdörfern  hält  dann  der  Pastor  eine  Leichen- 
rede; in  Preil  und  Perwelk  und  auf  dem  Strande  fehlt  er,  und  ein 
alter  Fischer  spricht  den  Nachruf,  der  von  Grabgesängen  eingerahmt 
wird.  Danach  folgt  die  Schlielsung  des  Sarges  und  das  Tragen  zum 
Gottesacker  unter  beständigem  Gesänge.  Wer  zuletzt  aus  dem  Hause 
geht,  wirft  die  Sargbank  um.  Das  hölzerne  Grabkreuz  mit  Vor-  und 
Zuname,  Geburts-  und  Todestag  wird  mitgetragen  und  sofort  ein- 
gesetzt. In  Nidden  wird  der  Sarg  vor  dem  Grabe  nochmals  geöffnet 
und  der  Kopf  des  Toten  zurechtgelegt.  Ein  langes  Gebet  schlierst  die 
Feier.  Die  Heimkehrenden  halten  einen  langen  Leichenschmaus  bei 
Kaffee,  Kuchen  und  Bier.  —  In  Preil  wird  der  Friedhof  ständig  vom 
Dünensande  verweht,  so  dafs  immer  wieder  ein  neuer  angelegt  werden 
mufs.  Die  nach  Osten  wandernden  Dünen  decken  schlielslich  wieder 
den  alten  Gottesacker  mit  Staketen  und  Särgen  auf  und  legen  die 
bleichen  Gebeine  blols.  Im  Schädel  finden  sich  noch  die  Spuren  des 
Obolus,  den  der  Verwandte  dem  Toten  zur  Reise  ins  Jenseits  in  den 
Mund  legte.  In  Meineragen  bestimmen  die  Leute  vor  ihrem  Tode  die- 
jenigen, die  das  Grab  fertig  machen,  den  Sarg  einsenken  und  eingraben 
sollen.  Keiner  darf  sich  der  Pflicht  entziehen,  auch  ältere  Leute  nicht, 
und  mülsten  sie  selbst  aus  fernen  Dörfern  herzukommen. 

Kirchen  feste.  Sämtliche  kirchliche  Feste  werden  streng  gefeiert; 
die  Talkos  haben  die  Kuren  wie  die  Litauer;  beim  Herausziehen  des 
Winternetzes  vermilst  man  aber  den  freudigen  Lärm  wie  beim  Slowinzen. 


Begräbnis.     Kirchenfeste.  161 

Zur  Weihnachtszeit.  Am  Heiligen-  und  Sylvesterabend  wird 
immerwährend  Licht  gebrannt,  die  Familien  bleiben  bis  nach  12  Uhr 
auf.  Man  singt  geistliche  Lieder,  läfst  aber  in  den  Zwölfnächten  die 
Arbeit  am  Spinnrocken  ruhen.  Zu  Weihnachten  bäckt  man  Fladen. 
Wie  die  Liven,  machen  auch  einzelne  Kuren  Kreidekreuze  an  die  Thür 
und  werfen  zu  Weihnachten  die  Schuhe  nach  der  Thür;  ist  die  Spitze 
nach  der  Thür  gerichtet,  so  mufs  der  Werfer  in  dem  Jahre  sterben. 
Die  Träume  der  Zwölf  nachte  sollen  eintreffen,  was  man  ja  auch  in  ganz 
Deutschland  glaubt.  Zu  Sylvester  macht  man  für  jedes  Familien- 
mitglied ein  Häufchen  Salz  und  stellt  es  auf  den  Ofen-,  wessen  Häufchen 
zuerst  schmilzt,  der  stirbt  zuerst.  Wenn  man  zu  Neujahr  eine  Schüssel 
mit  reinem  Wasser  und  ein  reines  Handtuch  aufstellt,  kommt  der  Ver- 
storbene und  wäscht  sich.  Wenn  man  einen  Filzpantoffel  nach  der 
Thür  wirft  und  die  Spitze  fällt  nach  aufsen,  so  stirbt  man  bald,  fällt  sie 
nach  innen,  so  lebt  man  noch  lange. 

Zur  Fastnacht  wird  meistenteils  weifser  Erbsbrei  gekocht,  zu 
Ostern  werden  Fladen  gebacken  und  Frühspaziergänge  gemacht.  Die 
Liven  stecken  dabei  Fichten  auf  die  Dünen  und  geben  beim  Gange 
nach  dem  Strande  den  Mädchen  Ruten  aus  den  Zäunen.  Dann  singt 
man,  „um  die  Vögel  zu  wecken" : 

„Gute  Vögel  in  unser  Land,  Ligo,  Ligo, 
Wölfe  und  Bären  in  fremdes  Land,  Ligo,  Ligo, 
Fette  Butten  in  unsere  See,  Ligo,  Ligo, 
Magere  Butten  in  fremde  See,  Ligo,  Ligo, 
Gute  Burschen  in  unser  Dorf,  Ligo,  Ligo, 
Schlechte  Burschen  in  fremdes  Dorf,  Ligo,  Ligo, 
Gute  Mädchen  in  unser  Dorf,  Ligo,  Ligo, 
Schlechte  Mädchen  in  fremdes  Dorf,  Ligo,  Ligo, 
Nun  ist  für  euch  Zeit,  euch  zu  erheben." 

Aus  alter  Zeit  schildert  Rhesa  den  Lindentanz  am  Laimatage  und 
meint  wahrscheinlich  das  Johannisfest  damit.    Er  singt  (Prutena  I,  97): 

„Umtanzt  die  blühende  Linde 

Ihr  Knaben  und  Mädchen  geschwinde 

Mit  Elternlieb  und  mit  Götterscheu. 

Zu  Ligos  freundlichem  Feste 

Erscheinen  oft  himmlische  Gäste, 

Zu  prüfen,  ob  Zucht  in  den  Hütten  sei." 

Es  bleibt  merkwürdig,  dafs  sich  aufser  einigen  Namen  keine  Er- 
innerung an  die  lettischen  Götter  bei  den  ostpreufsischen  Kuren  er- 
halten hat.  Jenes  Ligo,  das  Rhesa  für  den  Namen  eines  Gottes  hält, 
hat  man  jetzt  als  einen  Freudenruf  erklärt,  der  nichts  als  das  Hin-  und 
Herschwanken  des  Lichtes,  der  Fackeln,  der  Schaukeln,  der  Wiege 
(linginelis)  bedeutet  (vgl.  Ed.  Wolter,  „Was  ist  ligo?"  Archiv  f.  slav. 
Phil.  VII,  S.  629  bis  639). 

Tetzner,   Die  Slawen  in  Deutschland.  u 


162  Die  Kuren. 

Zu  Pfingsten  ziert  man  auch  bei  den  Kuren  die  Stuben  mit 
grünen  Zweigen,  am  liebsten  mit  Birken. 

Zu  Jobanni  thut  man  dasselbe,  schmückt  aber  die  Böte  ebenso; 
aufserdem  sammelt  man  Johanniskräuter.  Das  Mädchen  nimmt  dem 
Burschen  das  Johann issträulschen  weg,  dann  bekommt  sie  ihn  zum 
Mann.  In  Nidden  werden  des  Nachts  leere  Teertonnen  angebrannt, 
man  lätst  sie  wohl  auch  aufs  Haff  schwimmen.  Auch  die  Litauer 
zünden  Feuerbrände  an,  besonders  leuchtet  über  den  Njemen  des 
Rombinus  Feuerbaum.  Genau  wie  die  Kuren  feiern  die  Liven  den 
Johannistag,  statt  der  Teertonnen  verwenden  sie  richtige  Kähne.  Am 
Johannisfeuer  aber  singt  das  junge  Volk: 

„Johannia  kommt,  Johann i 8  kommt,  wie  nehmen  wir  ihn  auf? 

Wir  backen  Kuchen,  wärmen  Milch,  Ligo,  Ligo. 

So  nehmen  wir  Johannia  auf,  Ligo,  Ligo. 

Johannis  ging  Heu  mähen  mit  drei  Pelzen  auf  dem  Bücken,  Ligo,  Ligo, 

Er  mähte  nicht  eines  Halmes  Last,   nicht  einen  Bissen  für  den  Schöps, 

Ligo,  Ligo. 
Wer  in  der  Johannisnacht  schläft,  bekommt  nie  einen  Mann,  Ligo,  Ligo, 
Junge  Burschen,  junge  Mädchen,  die  schlafen  nie  in  der  Johannisnacht, 

Ligo,  Ligo. 
Wer  in  der  Johannisnacht  schläft,  dem  mifsglückt  der  Boggen. " 


VI.    Aberglaube. 

Weise  Frauen  und  kluge  Männer  kennt  der  Kure  so  gut,  wie  alle 
Völker.  Und  beide  sind  mit  ihren  Sprüchen  ebenso  unbestimmt  und 
ebenso  trügerisch.  Als  einem  Preiler  einst  50  Mk.  abhanden  gekommen 
waren,  ging  er  zur  Dorfpythia.  „Hinterm  Walde  wohnt  der  Dieb." 
Hinterm  Preiler  Holze  wohnte  nun  gerade  ein  schlichter  Tagelöhner. 
Mifstraui8ch  bewacht  man  ihn  allerseits,  zischelt  und  tuschelt,  bis  sich 
das  Geld  in  der  zerrissenen  Westentasche  des  abergläubischen  Verlierers 
zwischen  Tuch  und  Futter  fand.  Im  übrigen  dreht  sich  fast  aller 
Aberglaube  um  Heilung,  Fischglück  und  Feldglück.  Da  hat  der 
Kure  eine  Zahl  Vorbeugungsmittel,  Verhütungsmatsregeln ,  Zauber- 
formeln; sie  sind  fast  alle  auch  bei  den  Liven  zu  finden:  das  Tage- 
wählen,  der  Glaube  an  Anzeichen,  an  den  bösen  Blick,  an  die  Ursachen 
des  Fischerglückes,  die  Heilkraft  des  Schlangen  wassers ,  die  Heiligkeit 
des  Freitagabends.  Gern  läuft  man  zu  den  Pröplerinnen  anderer 
Dörfer,  nicht  des  eigenen.  So  gehen  die  Melneragener  nach  Karkelbeck 
und  Bommelsvitte. 

Heilung.  Den  fatalistischen  Grundzug  im  Denken  der  Natur- 
völker teilt  der  Kure  völlig.  Wird  jemand  krank,  so  hat  Gott  die 
Krankheit  geschickt.  Er  ist  auch  der  Arzt.  Erst  thut  man  gar  nichts 
zur  Heilung.  Aber  die  Nachbarn  und  Nachbarinnen  kommen,  singen 
und  beten  viel  und  lange.     Hilft  das  Beten  nichts,  dann  werden  die 


Aberglaube,  Heilung.  163 

Krankheiten  besprochen.  Neben  dem  Besprechen  (Apskaityti)  ist  das 
Hölzchenwerfen  (Medukus  mesti)  und  Kohlen  werfen  (Anglis  mesti)  im 
Schwünge,  Heilmoden,  die  teilweise  in  ähnlicher  Weise  bei  der  länd- 
lichen Bevölkerung  ganz  Deutschlands  und  wohl  aller  anderen  Staaten 
gebräuchlich  sind,  unter  dem  Gespött  des  Jungen  Nachwuchses  meist 
von  alten  Frauen  gepflegt  und  mit  den  Worten  „Hilft's  nicht,  so 
schadet's  nicht",  und  „ Spott'  nicht,  vielen  hat's  geholten",  empfohlen 
und  auf  die  folgenden  Geschlechter  vererbt  werden.  Die  kurischen 
Pro  pierinnen  murmeln  wie  die  deutschen  ihre  Sprüche  und  fahren 
dabei  mit  dem  rechten  Daumen  im  Kreise  von  links  nach  rechts 
leicht  über  die  kranke  Stelle,  zum  Schlufs  drei  Kreuze  machend 
„im  Namen  Gottes  des  Vaters  und  des  Sohnes  und  des  heiligen 
Geistes u.  Beim  Kohlen-  und  Hölzchenwerfen  nimmt  der  Kranke  ein 
weilses  Laken  um,  wird  mit  Kohlenwasser  besprengt,  und  Kohlen 
werden  über  ihn  geworfen,  oder  er  schleudert  ein  Hölzchen  selbst 
rückwärts  über  sich.  In  Mitteldeutschland  glaubt  man  sich  ähn- 
lich schwieriger  Krankheiten  dadurch  zu  entledigen,  dafs  man  am 
Karfreitag  mitternachts  allein  und  ohne  ein  Wort  zu  sprechen  an 
einen  Baum  (Birke)  geht  und  entkleidet  dreimal  den  Baum  um- 
schreitet. Einige  fordern  noch,  es  solle  rückwärts  geschehen  und  müsse 
unter  Anrufung  Gottes  oder  mit  einer  Zauberformel  geschehen.  Die 
Kuren  setzen  nebenbei  das  Singen  und  Beten  fort,  und  bald  bringen 
die  Nachbarinnen  Hausmittel  herbei.  So  giebt  man  trotz  aller  ver- 
nünftigen Warnungen  Krähenaugen,  nimmt  erst  ein  halbes,  dann 
anderthalb,  zuletzt  fünf  Stück.  Das  darin  enthaltene  Gift  verschlimmert 
natürlich  die  Krankheit.  Unschädlich  ist  der  Thee  des  wilden  Thymians, 
den  man  am  Johannistage  nach  Sonnenuntergang  einträgt  und  Johannis- 
thee  nennt.  Gleich  ungefährlich  und^  allgemein  verbreitet  ist  das  Hasen- 
fett,  das  auch  Löwen-,  Katzen-,  Bären-  und  Schlangenfett  genannt 
wird.  Im  Schwünge  ist  der  Aderlafs  und  das  Räuchern.  Letzteres 
dient  gegen  Hundebifs,  wenn  man  „sich  dabei  erschrocken  hat".  Da 
werden  Haare  vom  Genick  und  Schwanz  des  Hundes  abgeschnitten, 
und  damit  räuchert  man  den  Betroffenen.  Das  Räuchern  ist  überhaupt 
eine  Lieblingsbeschäftigung  in  den  kurischen  wie  den  slowinzischen 
Rauchkaten.  An  gewissen  Tagen  räuchert  man  die  ganze  Stube  und 
den  Stall  mit  Wacholder  aus,  den  Kehricht  verbrennt  man,  die  Netze 
werden  geräuchert,  sogar  das  Hochzeitsbrot.  Beliebte  Krankheiten  sind, 
aulser  dem  „Verschrecken",  wenn  einer  mit  bösem  Blick  angesehen 
und  gebannt  worden  ist  (Apscheweti) ,  oder  einen  der  Teufel  höhnt 
(Weins  pajuk),  d.  b.  jemanden  hörbar  an  furchtsamen  Orten  erschreckt. 
Der  Teufel  läfst  sich  schaukeln,  wenn  man  mit  den  Füfsen  schaukelt. 
Warzen  soll  man  beim  Glockenläuten  mit  Speichel  bestreichen  und 
sagen:  „Sie  läuten  den  Toten  zu  Grab,  und  ich  mache  mir  meine 
Warzen  ab.u  Auch  bedrückt  man  sie  mit  Fleisch  und  vergräbts  dann. 
Bei  Zahnschmerzen  muls  man  sich  mit  einem  Totenfinger  bestreichen, 

11* 


164  Die  Kuren. 

oder  eines  Verstorbenen  Mütze  an  die  Backe  legen.  „Wenn  ein  kleines 
Kind  sich  erschreckt  hat,  so  mufs  man  glühende  Holzkohlen  nehmen 
und  Eadeck  darauf  streuen  und  das  Kind  über  dem  Rauch  lassen." 
Kann  einer  nicht  essen,  so  soll  er  in  einen  Topf  mit  Wasser  glühende 
Holzkohlen  werfen;  gehen  sie  unter,  so  hilfts.  Hat  jemand  einen 
schlimmen  Hals,  so  soll  man  das  Geschwür  mit  einer  Gräte  bewischen 
oder  dreimal  mit  Brot  bedrücken  und  das  dem  Hund  geben.  Schmer- 
zende Glieder  wäscht  man  mit  Osterwasser,  das  holt  man  schweigend 
am  Ost  er  morgen  von  der  Quelle  oder  aus  der  katholischen  Kirche, 
wenn  es  gesegnet  worden  ist.  Das  Osterwasser  trägt  man  zurück,  das 
Weihwasser  hebt  man  auf  und  kann  es  das  ganze  Jahr  gegen  Krank- 
heit trinken.  Unters  Kopfkissen  legt  man  gern  einen  Straufs  von 
neun  Sorten  Blumen,  die  man  am  Johannistage  auf  dem  Felde  gepflückt 
hat.  Gegen  Krämpfe  verwendet  man  Asche  von  der  linken  Seite  des 
Hemdes  und  trinkt  sie  in  Wasser. 

Sind  alle  Hausmittel  und  Zaubereien  vergeblich,  so  entschliefst 
man  sich  auch  wohl  zu  einem  Arzte,  setzt  aber  heimlich  alle  alten 
Mittel  fort  und  singt,  betet  und  pröpelt  weiter.  Nur  betet  man  jetzt 
nicht  mehr  um  Gesundung,  sondern  dafs  Gott  den  Kranken,  falls  er 
stürbe,  in  den  Himmel  nehme. 

Feldglück.  1.  Am  ersten  Tage  des  Düngerfahrens  dürfen  sich 
die  Arbeiter  die  Hände  vor  dem  Essen  nicht  waschen,  sonst  geht  die 
Wirkung  des  Hegen s  verloren. 

2.  Beim  Säen  der  Frühjahrssaat  nimmt  der  Wirt  die  Axt  mit  aufs 
Feld  und  hackt  damit  in  die  Erde,  dafs  die  Saat  so  stark  wird,  eine 
Axt  zum  Abhauen  zu  erfordern. 

3.  Das  Zug-  und  Nutzvieh  darf  man  weder  mit  dem  bösen  Blick 
beladen  lassen,  noch  darf  man  versäumen,  Vorbeugungsmittel  gegen 
den  Alpdruck  (Laumes  Spaudimas)  der  Pferde  und  Kühe  zu  ergreifen, 
welch  letztere  oft  morgens  matt  und  in  Schweifs  gebadet  aus  dem 
Stalle  geführt  werden  müssen. 

4.  Hat  ein  Tier  einen  Fehler,  so  verschwindet  er  sofort,  wenn 
man  ihn  beim  Verkauf  dem  Käufer  frei  heraussagt. 

5.  In  Träumen  bedeuten  Holz,  Brot  und  grünes  Gras:  Glück  und 
Verdienst.     Hunde  sind  böse  Menschen. 

6.  Das  Begegnen  einer  alten  Frau,  ein  über  den  Weg  laufender 
Hase,  eine  krächzende  Krähe  auf  dem  First  oder  am  Boot  bedeuten 
Unglück. 

Fischglück.  1.  Vom  Schiff  tau  eines  glücklichen  Fischers  oder 
von  einem  Glockenstrang  wird  ein  Stück  abgeschnitten  und  ans  Netz 
gebunden,  um  Fischglück  zu  haben.  Oder  man  schneidet  aus  dem 
Netz  eines  glücklichen  Fischers  ein  Stück  in  der  Nacht,  verbrennt  es 
und  streut  die  Asche  aufs  eigene  Netz.  Guter  Fang  sicher!  —  wenn 
der  Geschädigte  nicht  ebenso  klug  ist  und  die  beschädigten  Stellen  mit 
der  linken  Hand  flickt. 


Feldglück.    Fischglück.     Charakter.  165 

2.  Kann  man  nichts  derartiges  vom  glücklichen  Fischer  erwischen, 
so  nimmt  man  Rohr  oder  Stroh  von  dessen  Dach  und  räuchert  die 
eigenen  Netze  damit. 

3.  Wird  das  Netz  zum  Fischen  fertig  gemacht  oder  „ eingestellt u, 
so  darf  nichts  aus  dem  Hause  geborgt  werden.  Kommt  trotzdem  einer 
borgen  oder  gar  stehlen,  so  entwendet  man  ihm  etwas  Ähnliches.  An 
dem  Tage  müssen  die  Thüren  verschlossen  und  verriegelt  bleiben;  man 
darf  nicht  fegen  und  soll  den  Kehricht,  wenn  man  trotzdem  gefegt  hat, 
bis  Sonnenaufgang  im  Hause  liegen  lassen. 

4.  Netze  müssen  bei  Neulicht  (zunehmendem  Mond)  eingerichtet 
werden,  und  zwar  wenn  Fische,  Zwillinge,  Jungfrau,  Wassermann 
regieren.  Am  strengsten  muls  man  dies  bei  der  Lachsfischerei  hand- 
haben und  ja  an  Krebstagen  vermeiden,  die  Fischerei  zu  beginnen. 

5.  Die  fertigen  Netze  werden  mit  Salz  bestreut,  dals  allen  Bösen 
und  Hexen  die  Augen  versalzen  werden.  Auch  räuchert  man  sie  mit 
allerlei  Kräutern  und  bespritzt  sie  mit  Schlangenwasser  (!).  Dann  erst 
trägt  man  sie  ins  Haff. 

6.  Beim  Netzaustragen  vermeide  man,  an  Brunnen  oder  Wasser- 
schöpfern vorbeizuwandern. 

7.  Beim  Absegeln  vom  Lande  wird  vor  dem  Segelbespritzen  zwei- 
mal landwärts  Wasser  gegossen. 

8.  Kommen  beim  Winternetz,  beim  Einlassen  in  die  Wuhne, 
Fischhändler  mit  Schnaps  vorbei  und  kredenzen  solchen,  so  wird  erst 
etwas  aufs  Netz  gegossen,  dann  wirds  bekreuzt,  dann  erst  trinkt  man. 

9.  Der  Vorbeigehende  bringt  Glück  oder  Unglück,  und  bekommt 
etwas  vom  Fischsegen,  wenn  er  Glück  gebracht  hat. 

10.  Vor  dem  Gebrauch  bekreuze  man  stets  das  Netz! 

11.  Man  fische  nur  bei  Nacht,  um  dem  bösen  Blick  zu  entgehen. 
(Man  hat  freilich  längst  angefangen,  auch  bei  Tage  zu  fischen,  im 
Stillen  will  aber  jeder  dem  bösen  Blick  ausweichen.) 

VII.     Charakter. 

Der  Kure  hatte  früher  kein  Bildungsbedürfnis.  Er  ist  aber- 
gläubisch religiös,  hülfsbereit,  sittlich.  Die  Strafe  ändert  ihn  nicht. 
Er  feiert  die  Sonntage  streng  und  ist  Gott  ergeben.  Sein  „Gott  geleite 
dich"  („Diews  palieds"),  kann  man  immer  und  immer  hören;  er  thut 
alles  „mit  Gott"  (su  Diewu).  Die  Arbeit  des  Lehrers  gilt  ihm  als 
etwas  Unnützes,  der  Unterricht  als  thöricht,  soweit  er  über  Religion, 
Lesen,  Schreiben  und  Rechnen  hinausgeht.  Verwerflich  ist  ihm  das 
Lesen  von  Märchen  und  das  Singen  deutscher  Volkslieder,  die  ganze 
Schule  ist  zwecklos.  Die  Kuren  sind  Fischer  und  wollen  Fischer 
bleiben;  die  Fischerei  erfüllt  ihr  ganzes  Leben,  etwas  Anderes  zu 
werden,  wäre  sinnlos.  Man  kann  sich  denken,  welch  schweren  Stand 
der    Lehrer    früher    hatte.      Mit    zunehmender    Germanisier ung    und 


166  Die  Kuren. 

Durchführung  der  Wehrpflicht  wird  hierin  Wandel  geschaffen,  und 
allmählich  unterläßt  man,  der  Schule  nachzusagen,  in  ihr  würden 
auf eer  Plunder  nur  Schlechtigkeiten  gelernt.  Alle  Neuerungen  be- 
gegnen Milstrauen.  Einst  wollte  der  Preiler  Lehrer,  als  das  Alters- 
und Invalidengesetz  in  Kraft  trat,  den  Leuten  einen  kurzen  Vortrag 
über  die  nützliche  Neuerung  in  der  Schule  halten.  Keiner  kam,  „wir 
lassen  uns  nicht  beschwindeln u ;  genau  wie  die  Kluckener.  Belehrung 
und  Überzeugung  ist  ihnen  Wind,  Autorität  alles.  Wie  die  Masuren 
und  Kaschuben  haben  sie  einen  heillosen  Respekt  vor  aller  Obrigkeit 
und  suchen  ihr  ebenso  freudig  ein  Schnippchen  zu  schlagen,  wenn  sie 
nicht  erwischt  zu  werden  glauben.  In  ihren  Augen  ist  alles  Gesetz 
Willkür,  aber  unabänderliche  Vorschrift.  Hält  man  es  nicht  für  gut, 
so  erkennt  man  es  trotzdem  äufserlich  willig  an,  macht  aber,  was  man 
will,  und  umgeht,  was  einem  Schaden  bringt.  Wird  man  erwischt,  so 
verteidigt  man  sich  nicht,  sondern  steckt  die  arme  Sündermiene  auf. 
Wird  einer  bestraft,  so  geht  er  willig  ins  Gefängnis  und  wird  nach 
seiner  Entlassung  von  allen  Dörflern  jubelnd  abgeholt  und  empfangen. 
Man  unterscheidet  das  Ungewöhnliche  nicht,  kommt  höchster  Besuch 
oder  ein  bestrafter  Meineidiger;  man  will  Einzug  feiern,  komme  Na- 
poleon I.  oder  Ludwig  XVHI.  Im  geschmückten  Wagen  hat  man  schon 
den  Dorfgenossen  geholt  und  hält  ihn  für  interessanter  und  wichtiger 
als  den  Unbestraften.  Die  Preiler  haben  sich  nicht  der  Landgemeinde- 
ordnung und  ihrer  Steuerregulierung  untergeordnet,  sie  sind  bei  der 
alten  geblieben:  der  Wirt  oder  Besitzer  zahlt  das  doppelte  des  Kätners 
und  dieser  das  doppelte  des  Losmanns. 

Mit  Fremden  machen  sie  nicht  viel  Federlesens,  nehmen  nie  die 
Mütze  ab  und  beugen  sich  nicht  der  Schnoddrigkeit  und  Grofsmanns- 
sucht;  natürliche  Autorität  gilt.  Im  Gegensatz  zu  den  Klucknern 
avancieren  die  Kuren  nie  beim  Militär  und  der  Marine.  So  anstellig 
sie  sind,  lieben  sie  doch  zu  sehr  die  Freiheit  und  hassen  jede  Stellung 
als  herbe  Pflicht 

Die  Augen  sind  meist  grau  oder  blau,  die  Haare  dunkelblond,  die 
Gesichtsfarbe  bräunlich,  die  Züge  verwittert;  Kartenspiel  meiden  sie, 
Bier  und  Cigarren,  wie  Fusel  schmecken  ihnen.  Gebräuchlich  ist  die 
Prozelssucht  um  die  nichtigsten  Dinge  und  aus  geringfügigsten  An- 
lässen. Der  Staatsanwalt  läfst  oft  die  Anklage  fallen,  weil  der  Gegen- 
stand der  Anzeige  nicht  der  Rede  wert  ist.  Und  weshalb  werden  sie 
angezeigt?  Da  verrät  einer  den  anderen,  weil  er  mit  verbotenen 
Netzen  gefischt  hat,  trotzdem  der  Kläger  selbst  mit  verbotenen  aus- 
zieht. Ein  anderer  bietet  sich  dem  Gericht  grundlos  als  Belastungs- 
zeuge an  —  um  der  Reisekosten  willen.  Diebstahl  am  Eigentum  des 
Nachbars  ist  fast  unbekannt,  ebenso  Ehebruch.  In  Preil  giebt  es  seit 
Menschengedenken  kein  uneheliches  Band.  Aber  um  Kleinigkeiten 
bringt  man  sich  vors  Gericht  und  giebt  sich  anderen  Tags  wieder 
freundlich  die  Hand,  um  sich  am  dritten  wieder  anzuzeigen  und  am 


Charakter.    Sagen.  167 

vierten  zu  vertragen.  Körperliche  Züchtigung  kommt  wohl  vor,  doch 
schlägt  der  Eure  wie  der  Esthe  seine  Frau  nicht  mit  der  Hand,  sondern 
mit  dem  Strick« 

Die  Jungfrau  zeigt  eine  Anmut  und  Keuschheit,  die  ebenso  naiv 
als  schön  ist.  Selbst  im  Scherz  spricht  sie  kein  irgendwie  anstößiges 
Wort  und  entflieht  errötend,  wenn  sie  eins  hört.  Arme  und  Brust 
entblölst  sie  vor  Fremden  nie.  Die  jungen  Burschen  sind  nüchtern, 
zurückgezogen,  still ;  sie  meiden  den  Krug  und  zeigen  zeitlebens  grofse 
Anhänglichkeit  an  ihre  Eltern  und  Geschwister.  Wer  bei  der  Marine 
oder  dem  Militär  ist,  bekommt  so  viel  Lebensmittel  geschickt,  dals  er 
wieder  die  Schenker  beschenken  könnte. 

Die  Eltern  verhätscheln  gern  die  Kinder  mit  Honig,  Zucker  und 
anderem,  was  bei  jedem  Stadtbesuch  mitgebracht  wird.  Den  Diebstahl 
der  Kinder  entschuldigen  sie  mit  den  Worten:  „Das  Kind  hat  noch 
keinen  Verstand.41 

Wenn  die  Kinder  das  Haus  übernehmen,  müssen  sie  neben  der 
Schuldenlast  auch  noch  Altenteil  und  „  Geschwisterliches a  eintragen 
lassen,  wiewohl  die  Hütte  ein  Fremder  nicht  geschenkt  haben  möchte. 
Auf  den  unvorteilhaften  Handel  aufmerksam  gemacht,  sagen  sie:  „Es 
sind  die  Eltern  und  Geschwister/  Altenteil  wird  allerdings  fast  nie 
geliefert,  aber  die  Alten  können  doch  etwas  für  sich  kochen,  wenn 
ihnen  das  Zubereitete  nicht  schmeckt.  —  Aber  sie  arbeiten  auch.  Die 
Leute  unter  sich  sind  hülfsbereit.  Fährt  jemand  in  Preil  nach  dem 
Markt,  so  kommt  das  halbe  Dorf.  Der  will  ein  paar  Pfund  Mehl,  jener 
Kaffee,  dieser  Kartoffeln,  Butter,  Salz.  Da  entzieht  sich  nun  keiner 
der  Aufgabe,  alle  die  Aufträge  anzunehmen,  redlich  einzukaufen  und 
ohne  Vorteil,  bei  Heller  und  Pfennig  abzuliefern.  Ein  andermal  muls 
der  Nachbar  dasselbe  thun. 

Wer  beim  Eisgang  in  Lebensgefahr  kommt,  wird  mit  Hintansetzung 
des  eigenen  Lebens  gerettet  und  gepflegt,  Einheimische  wie  Fremde. 
Werden  die  grofsen  Braddekähne  geteert,  so  müssen  sie  zuvor  aufs 
Land  gezogen  werden,  mindestens  von  15  Mann.  Der 'Schiffer  ruft 
blofs  im  Dorfe  aus,  dafs  er  seinen  Kahn  heraufziehen  will.  Er  lädt 
niemand  ein,  aber  alle  kommen  und  helfen. 

viii.  Sagen,  Lieder  und  Sprüche  aus  dem  preufsischen  Lettlande. 

A.     Sagen. 

Sie  sind  arm  an  Sagen  und  Märchen.  Wohl  deuten  sie  an,  dafs 
bei  Pillkoppen  ein  altes  Schlofs  gestanden,  hier  und  da  ein  Dorf  ver- 
schüttet, ein  Postwagen  mit  Geld  im  Sande  versunken  sein  soll,  den 
der  und  jener  aufgefunden  und  daher  seinen  Reichtum  genommen  habe, 
aber  näheres  und  genaueres  wissen  sie  nicht,  auch  die  esthnische  Sage 
vom  Thunder  und  vom  Teufel,  der  als  Ratte  im  Heuhaufen  war,  ent- 
behrt der  epischen  Ausmalung,  wie  auch  der  Gedanke,  dafs  jede  Stunde 
vorher  bestimmt  sei. 


168 


Die  .Kuren. 


B.     Sprachliches. 

(Vergi.  auch  S.  177  bis  178.) 

Gering  auch  ist  die  Zahl  der  Lieder.  Aulser  ein  paar  deutschen 
und  litauischen  singt  man  einige  lettische.]  Im  Inhalt  weichen  sie 
nicht  von  den  litauischen  ab.  In  ihnen  hallt  der  Gedanke  wieder,  data 
das  Schiffer-  und  Seemannsleben  schön  sei,  dals  die  schönste  Zeit  des 
Mädchens  im  Vaterhause  war,  dals  der  schlaueste  Bursche  nicht  schlau 
genug  sei,  ein  Mädchen  zu  überlisten.  Merkwürdigerweise  wird  ein 
lettisches  Lied  (Nr.  20)  viel  gesungen,  das  auch  in  anderen  Literaturen 
wiederkehrt  und  die  betrogene  Geliebte  zum  Gegenstand  hat,  die  ins 
Kloster  geht.  Die  Melodien  je  eines  lettischen,  litauischen  und  deut- 
schen Liedes  mögen  den  Gesang  der  Kuren  veranschaulichen. 

Die  lettischen  Lieder  selbst  muten  wie  Übersetzungen  aus  dem 
Deutschen  oder  Litauischen  an;  sie  weichen  ganz  von  den  kurzen 
eigenartigen  Gesängen  der  Letten  in  Kurland  ab.  Das  18.  und  19.  sind 
Varianten  und  kommen  in  allen  slavischen  Literaturen  wieder,  dasselbe 
gilt  von  den  übrigen,  die  der  Weltliteratur  angehören. 

Den  Unterschied  zwischen  litauischer  und  lettischer  Sprache  auf 
der  kurischen  Kehrung  möge  der  Anfang  einer  Daina  lehren,  deren 
erste  Strophe  deutsch  so  heifst:  Ich  fliege,  flieg'  ins  Gärtelein,  Pflücke 
weifse  Rosen,  Pflücke,  pflücke  weifse  Rosen,  Flechte  mir  ein  Kränzel. 

Lettisch: 


Letschu,  letschu  Darsinnä 
Fluhtschu  baltas  Rohses 
Pluhtschu,  pluhtschu  baltas  Rohses 
Pinnu  Wainizinnu. 


Litauisch: 
Leku,  leku,  Darzuna 
Skinu  baltas  Roz'es 
Skinu  skinu  baltas  Rozes 
Pinu  Wainikeli. 


C.     Deutsche   Lieder.- 
1.    Marlboroughlied. 


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Ein      Fähnrich    zog  zum    Krie-ge    wi-di-bom  ja  ja  juch-hei-ras-sa,   ein 


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Fähnrich  zog  zum       Krie  -  ge,  wer       weifs,  kommt  er     zu  -  rück,  wer 


weifs,  kommt  er        zu  -  rück. 

Er  liebt  ein  wunderschönes  Mädelein,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Er  liebt  ein  wunderschönes  Mädelein,  die  war  so  wunderschön. 


Deutsche  Lieder. 


169 


Ach  Fähnrich,  liehster  Fähnrich,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Ach  Fähnrich,  liebster  Fähnrich,  was  bringst  du  neues  mir? 

Die  Neuheit,  die  ich  dir  bringe,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Die  Neuheit,  die  ich  dir  bringe,  macht  dir  die  Äuglein  rot. 

Dein  Fähnrich  ist  erschossen,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Dein  Fähnrich  ist  erschossen,  ist  tot  und  lebt  nicht  mehr. 

Ich  hab  ihn  schon  begraben,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Ich  hab  ihn  schon  begraben,  mit  vielen  Offiziern. 

Der  erste  trug  seinen  Degen,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Der  erste  trug  seinen  Degen,  der  zweite  sein  Pistol. 

Der  dritte  trug  seinen  Kürafs,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Der  dritte  trug  seinen  Kürafs,  der  vierte  seine  Krön. 

Ueber  sein  Grab  ward  geschossen,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Ueber  sein  Grab  ward  geschossen,  mit  Pulver  ohne  Blei. 

Da  droben  auf  jenem  Berge,  widibom  ja  ja  juchheirassa, 
Da  droben  auf  jenem  Berge,  da  singt  die  Nachtigall. 

2.    Der  Soldat. 


Ich  war  "ein  junger  Bursche, 
Kaum  18  Jahre  alt: 

Ich  liebte  die  Soldaten, 
Und  dachte,  das  wäre  fein. 
Ich  kam  einst  zum  Gestelle, 
Da  zog  man  mich  gleich  ein. 

Bekam  ich  Exerzieren, 

So  einst  sechs  Wochen  lang, 

Da  könnt  ich  auch  schon  spüren, 

Die  Zeit  war  mir  zu  lang. 

Bekam  ich  auch  schon  Strafe, 
Weil  ich  über  Urlaub  blieb, 
Da  könnt  ich  mich  ausschlafen, 
Das  war  mir  eben  lieb. 

Da  bekam  ich  mehr  kein  Urlaub, 
So  einst  sechs  Wochen  lang, 
Da  stand  mein  Liebchen  lauernd, 
Die  Zeit  war  mir  zu  lang. 

Ich  stand  bei  Sturm  und  Hegen, 
Bei  finstrer  Mitternacht, 


Bei  Blitz  und  Donnerschlägen, 
Ganz  einsam  auf  der  Wacht. 

Da  kam  zu  mir  mein  Liebchen, 
Und  führte  mich  nach  Haus: 

Ich  liefs  mich  überreden, 
Und  blieb  bei  ihr  die  Nacht, 
Da  wurd  ich  arretieret, 
Und  auf  die  Wach  gebracht. 

Der  Leutnant  sprach:  Sie  Schlingel, 
Was  bilden  Sie  sich  ein, 
Ich  werd  Sie  tüchtig  zwiebeln, 
Sie  kommen  drei  Tage  rein. 

So  ging  mirs  alle  drei  Jahre, 
Bis  ich  entlassen  war, 
Arrest  hatt'  ich  wie  Haare, 
Bin  dennoch  ein  strammer  Soldat. 

Denn  wer  nicht  Soldat  gewesen, 
Und  wer  nicht  das  Leben  kennt, 
Der  kann  sich  gar  nicht  denken, 
Was  man  Matrosen  (?)  nennt 


3.     Die  Bettung. 


Ach  Schiffsmann,  du  f einslieblicher 

Mann, 
Halt  du  das  Schiff,  so  lang  wie  du 

kannst. 
Ich  hab  einen  Vater,  der  liebet  mich ; 
Erretten  wird  er  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 


Und  als  der  Vater  gegangen  kam, 
Da  sah  er  ihn  so  traurig  an. 
Ach  Vater,  versetz  dein  schwarzes 

Bofs! 
Erretten  kannst  du  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 


170 


Die  Kuren. 


Mein    schwarzes   Bofs    versetz    ich 

nicht, 
Dein  junges  Leben  errett  ich  nicht. 
Ach  Schifflein  fahr  zu  Grund! 
Es  soll  und  mufs  zugrund. 

Ach  Schiffsmann,  du  f einslieblicher 

Mann, 
Halt  du  das  Schiff,  so  lang  wie  du 

kannst. 
Ich  hab  eine  Mutter,  die  liebet  mich; 
Erretten  wird  sie  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 
Und    als    die    Mutter    gegangen 

kam, 
Da  sah  sie  ihn  so  traurig  an. 
Ach  Mutter,  versetz  dein  schwarzes 

Kleid! 
Erretten  kannst  du  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 
Mein   schwarzes  Kleid   versetz   ich 

nicht, 
Bein  junges  Leben  errett  ich  nicht. 
Ach  Schifflein  fahr  zu  Grund ! 
Es  soll  und  mufs  zugrund. 

Ach  Schiffsmann,  du  feinslieblicher 

Mann, 
Halt  du  das  Schiff,  so  lang  wie  du 

kannst. 
Ich  hab  einen  Bruder,  der  liebet  mich ; 
Erretten  wird  er  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 
Und  als  der  Bruder  gegangen  kam, 
Da  sah  er  ihn  so  traurig  an. 
Ach  Bruder,  versetz  dein  goldnes 

Schwert! 
Erretten  kannst  du  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 


Mein   goldnes   Schwert   versetz   ich 

nicht, 
Dein  junges  Leben  errett  ich  nicht. 
Ach  Schifflein  fahre  zu  Grund! 
Es  soll  und  mufs  zugrund. 

Ach  Schiffsmann,  du  feinslieblicher 

Mann, 
Halt  du  das  Schiff,  so  lang  wie  du 

kannst. 
Ich  hab  eine  Schwester,  die  liebet 
Erretten  wird  sie  mich        [mich; 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 
Und   als  die  Schwester  gegangen 

kam, 
Da  sah  sie  ihn  so  traurig  an. 
Ach    Schwester,    versetz    deinen 

grünen  Kranz! 
Erretten  kannst  du  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 
Meinen   grünen   Kranz   versetz   ich 

nicht, 
Dein  junges  Leben  errett  ich  nicht. 
Ach  Schifflein  fahr  zu  Grund! 
Es  soll  und  mufs  zugrund. 

Ach  Schiffsmann,  du  feinslieblicher 

Mann, 
Halt  du  das  Schiff,  so  lang  wie  du 

kannst. 
Ich   hab   einen    Schatz,    der   liebet 
Erretten  wird  sie  mich        [mich; 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 
Und  als  der  Schatz  gegangen  kam, 
Da  sah  sie  ihn  so  traurig  an. 
Ach  Schatz,  versetz  deinen  gold- 

nen  Bing! 
Erretten  kannst  du  mich 
Hier  von  dem  schönen  Schiff. 


Meinen  goldnen  Bing  versetz  ich  ja, 
Dein  junges  Leben  errett  ich  ja. 
Ach  Schifflein  fahr  zu  Grund! 
Es  soll  und  mufs  zugrund. 


4.    Köln. 


Köln  am  Bhein,  du  schönes  Städt- 
chen, 
Köln  am  Bhein,  du  schöne  Stadt. 
Und  darinnen  mufs  ich  lassen 
Dich,  herzallerliebster  Schatz. 


Schatz,  ach  Schatz,  du  thust  mich 

kränken, 
Yieltausendmal  in  einer  Nacht, 
Könntest  du  mir  Freiheit  schenken, 
Bei  dir  zu  bleiben  eine  halbe  Stund. 


Deutsche  Lieder.    Litauische  Lieder. 


171 


Diese  Freiheit  sollst  du  haben, 
Bei    mir    zu    bleiben    eine    halbe 

Stund, 
Wenn  du  versprichst,   mir  treu  zu 

bleiben 
Bis  an  die  allerletzte  Stund. 

Droben    am    Himmel    stehn    zwei 

Sternlein, 
Die  leuchten  heller  als  der  Mond, 


Der  eine  leucht'  nach  meinem  Schatz 

Liebchen, 
Der  andere  leucht1   meinem  Schatz 

nach  Haus. 

Pulver  und  Blei,  das  mufs  man  haben, 
Wenn  man  Franzosen  schiefsen  will; 
Hübsche  junge  Mädchen  mufs  man 

lieben, 
Wenn  man  sie  einst  heiraten  will. 


5.    Der  Seemann* 


Der  Seemann  auf  dem  wilden  Meer, 
Er  reist  die  ganze  Welt  umher. 
Was  nützt  dem  Seemann  eine  Braut, 
Wenn  er  sie  niemals  wiederschaut? 

Was  nützt  dem  Seemann  auch  sein 

Geld, 
Wenn  er  damit  zu  Grunde  fällt? 
Die  stürmisch  wild  bewegte  See, 
Sie  hebt  wohl  Schiffe  in  die  Höh. 


Ihr  unermeßlich  tiefer  Schlund, 
Zieht  sie  hinab  in  tiefen  Grund, 
Die  Menschen  mit  vom  Erdenrund. 

Der    Seemann    läuft    ja    wie    der 

Wind, 
Er  steiget  auf  den  Mast  geschwind. 
Der  ruft  um  Hülfe  auch  fürwahr, 
Befindet  er  sich  in  Gefahr. 


Das  Schifflein  leis  und  leiser  sinkt, 
Mit  ihm  der  Seemann  auch  ertrinkt. 
Versunken  ist  nun  Mann  und  Maus, 
Und  jetzt  ist  auch  mein  Liedlein  aus. 


D.     Litauische  Lieder. 


6.     Der  Soldat. 


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Sol   -   dat    nur    bin     und    bleib  ich,  Sol  -  dat    nur    bin  und  bleib  ich,  und 


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wei  -  le 

nie 

zu  Haua, 

und     wei 

-    le 

nie 

zu 

Haus. 

Soldat  nur  bin  und  bleib  ich 
Und  weile  nie  zu  Haus. 
Der  Sohn  hat  den  Vater  verlassen, 
Die  Eich'  im  Garten  draufs. 
Die  Eiche  blüht  im  Garten, 
Der  Vater  weint  um  ihn. 
Er  wird  vergeblich  weinen, 
Ich  mufs  ja  weiter  ziehn. 


Soldat  nur  bin  und  bleib  ich, 
Und  weile  nie  zu  Haus. 
Der  Sohn  hat  die  Mutter  verlassen, 
Den  Birnbaum  im  Garten  draufs. 
Der  Birnbaum  blüht  im  Garten, 
Die  Mutter  weint  um  den  Sohn. 
Sie  wird  vergeblich  weinen, 
Ich  mufs  ja  weiter  schon. 


172 


Die  Kuren. 


Soldat  nur  bin  und  bleib  ich 
Und  weile  nie  zu  Haus.         [lassen, 
Der  Bruder  hat  die  Schwester  ver- 
Die  Nelke  im  Garten  draufs. 
Die  Nelke  blüht  im  Garten, 
Die  Schwester  weint  um  ihn. 
Sie  wird  vergeblich  weinen, 
Ich  mufs  ja  weiter  ziehn. 


Soldat  nur  bin  und  bleib  ich 

Und  weile  nie  zu  Haus. 

Der  Bruder  hat  den  Bruder  verlassen, 

Die  Bjone  im  Garten  draufs. 

Die  Bjone  blüht  im  Garten, 

Der  Bruder  weint  um  ihn. 

Er  wird  vergeblich  weinen, 

Ich  mufs  ja  weiter  ziehn. 


Soldat  nur  bin  und  bleib  ich 
Und  weile  nie  zu  Haus. 
Ich  hab  die  Braut  verlassen, 
Die  Böse  im  Garten  draufs. 
Die  Böse  blüht  im  Garten, 
Die  Braut  weint  immer  fort. 
Du  wirst  vergeblich  weinen, 
Ich  mufs  von  Ort  zu  Ort. 


7.     Der  Besuch. 


Zwischen  Johanni 

Und  Michaeli 

Sprachen  zwei  Schwestern, 

Zwei  junge  Mädchen: 

Wo  werden  wir  beide, 

Bleiben  am  Abend? 

Wir  wollen  wandern  des  Gutes  Steg, 

Steigen  dann  über  den  Zaun  hinweg. 


Dafs  Hunde  nicht  bellen 
Und  Menschen  erschrecken, 
Wollen  wir  klopfen. 
Vielleicht,  dafs  Peter, 
Lauscht  und  öffnet, 
Die  Gäste  begrüfsend. 
Sitzen  wir  auf  dem  Stuhle  dann, 
Fangen  wir  zu  erzählen  an. 


8.     Die   Waise. 

Es  flog  die  Amsel,  es  flog  die  Amsel, 
Es  flog  die  Amsel  wohl  über  die  Berge. 

(In  dieser  gedehnten  Weise  werden  16  Strophen  gesungen,  die  mit  Ver- 
meidung der  Wiederholungen  also  lauten): 

Es  flog  die  Amsel  wohl  über  die  Berge, 

Am  Fufs  des  Berges  wand  sich  ein  Bächlein, 

Mitten  im  Bächlein  wirbelt  ein  Strudel, 

Mittel  im  Strudel  ein  schwarzes  Bötlein 

Und  in  dem  Schiff  lein  zwei  junge  Mädel, 

Das  eine  Mädel  kämmte  die  Haare, 

Weniger  kämmend,  als  bitter  weinend. 

Das  andere  Mädel  flocht  sich  die  Zöpfe, 

Weniger  flechtend,  als  bitter  weinend. 

Hab  keinen  Vater,  Erbteil  zu  zahlen, 

Hab  keine  Mutter,  Aussteuer  schaffend, 

Hab  keinen  Bruder,  die  Bosse  zu  satteln, 

Hab  keine  Schwester,  das  Kränzlein  zu  flechten. 

Ein  Wolf  der  Vater,  Erbteil  zu  zahlen, 

Ein  Bär  die  Mutter,  Aussteuer  schaffend, 

Ein  Hase  der  Bruder,  die  Bosse  zu  satteln, 

Ein  Fuchs  die  Schwester,  das  Kränzlein  zu  flechten. 


Litauische  Lieder. 


173 


9.     Kind  und  Eltern. 


Lied. 

O  Ahornsträuchlein, 
Du  junges  Bäumchen, 
So  lang  du  grünest, 
So  lang  du  schimmerst, 
So  lang  du  blühest 
Und  Sprossen  treibst, 
Hab  ich  entlassen 
Mein  liebes  Söhnlein, 
Den  jungen  Pflüger. 
Komm  nun  wieder, 
Mein  junges  Söhnlein, 
Komm  zum  Pfluge, 
Kehre  zurück! 
Nimmermehr,  Vater, 
Komme  ich  wieder, 
Nimmer  als  Pflüger 
Kehr  ich  zurück. 
Hier  ist  für  mich  ja 
Nimmermehr  Eisen 
Und  Egge  fürwahr. 
Selber  nun  hab  ich 
Egge  und  Ochsen 
Und  stählernes  Schar. 


Gegenlied. 

0  Ahornsträuchlein, 
Du  junges  Bäumchen, 
So  lang  du  grünest, 
So  lang  du  schimmerst, 
So  lang  du  blühest 
Und  Sprossen  treibst, 
Hab  ich  entlassen 
Die  liebe  Tochter, 
Die  junge  Weberin. 
Komm  nun  wieder, 
Du  liebe  Tochter, 
Komm  zum  Webstuhl, 
Kehre  zurück  1 
Nimmermehr,  Mutter, 
Komme  ich  wieder, 
Nimmer  als  Weberin 
Kehr  ich  zurück. 
Hier  ist  für  mich  ja 
Zum  Weben  am  Webstuhl 
Nimmermehr  Zeit. 
Selber  nun  hab  ich 
Webstuhl  und  Webschiff, 
Den  Webkamm  von  Seid'. 


10.    Zurückgewiesen. 


Auf  der  grünen  Feldflur  mähen 
Junge  Burschen  weifsen  Klee. 
Stecken  an  die  Mütze  Blumen, 
Blütenweifs,  wie  Schnee. 

Locke  nur,  du  lieber  Knabe, 
Lächeln  im  Gesicht. 
Locke,  macht  es  dir  Vergnügen, 
Doch  ich  mag  dich  nicht! 

Merkst  du  nicht,  du  Schelmenbursche, 
Dafs  ich  dich  nicht  will. 
Setz  dich  auf  dein  Gockelhähnchen, 
Beit  zum  Galgen  still! 


„Weifs  ich  doch,  du  liebes  Mädchen 
Wo  du  schläfst  zur  Nacht. 
Wo  man  dir  dein  weifses  Bettlein, 
In  der  Swirne  macht  la 


Mutter  in  der  hohen  Klete, 
Hört  und  sieht  wohl  klar. 
Zahlt  für  jedes  deiner  Worte 
Mit  der  Birke  bar! 


11.    Kein  Brautschatz. 


Drunten  im  Thale 
Bauscht  im  Flusse 
Der  Strudel  am  Biff, 
Am  Bande  segelt 
Mit  Seidensegeln 
Ein  schwarzes  Schiff. 


Und  drinnen  sitzen 
Und  strählen  die  Haare 
Zwei  Mädchen  voll  Leid. 
Flechten  die  Zöpfe, 
Winden  sich  Kränzlein, 
Schmücken  sich  beid'. 


174 


Die  Kuren. 


Hab  keinen  Yater 
Und  keine  Mutter, 
Kein  Brautschatz  ist  mein. 
Kein  Bruder  zäumt  mir 
s'  Röfalein,  nicht  hilft  mir 
Ein  Schwesterlein. 


Wer  giebt  als  Vater, 
Wer  wohl  als  Mutter 
Den  Brautschatz  mir, 
Wer  schirrt  das  RöTslein, 
Wer  steht  zur  Seite 
Mir  wohl  und  dir? 


12.    Abgeblitzt 

Aus  dem  Hörnchen  trinkend,   hab 

ich  nachgedacht, 
Wo   doch    soll    ich    bleiben    diese 

lange  Nacht? 
Vallerivallera,  vallerallala, 
Bleiben  diese  lange  Nacht? 

Wo    doch    soll    ich    weiden    wohl 

mein  Rösselein? 
Auf    dem    Bain?     Ich    geh    zum 

Mädchen  mein? 
Vallerivallera,  vallerallala, 
Ich  geh  zum  Mädchen  mein. 

„Öffne  liebes  Mädchen,  der  Geliebte 

harrt  lu 
Nein,  die  Schlüssel  klirren,  und  die 

Thüre  knarrt. 
Vallerivallera,  vallerallala, 
Schlüssel  klirren,  Thüre  knarrt. 


„Halte  fest  den  Schlüssel,  dafs  er 

stille  wird, 
Heb  die  Thür,  dafs  die  Angel  nicht 

mehr  klirrt. 
Vallerivallera,  vallerallala, 
Dafs  die  Angel  nicht  mehr  klirrt.11 

„Mich  zu  lehren,   Bürschlein,   bist 

du  viel  zu  jung, 
Doch  dein  Kofs  zu  zügeln,   bist  du 

alt  genung. 
Vallerivallera,  vallerallala, 
Bofs  zu  zügeln,  alt  genung.  * 

„Lafs   es   trinken,    an    der  Krippe 

stehn, 
In  die  Schwemme  reiten,  aber  von 

mir  gehn. 
Vallerivallera,  vallerallala, 
Schwemme  reiten,  von  mir  gehn.* 


13.    Befreiung. 

Ich  will  die  Magd  zum  Vater  senden, 
Er  soll  mich  befreien  aus  fremden  Händen. 
Er  kommt  mit  100  Joch  Ochsen  daher, 
Und  kann  mich  erlösen  doch  nimmermehr. 

Ich  will  die  Magd  zur  Mutter  senden, 

Sie  soll  mich  befreien  aus  fremden  Händen. 

Sie  brachte  100  Ballen  Lein, 

Und  kann  mich  doch  nimmermehr  befrein. 

Ich  will  die  Magd  zum  Bruder  senden, 

Er  soll  mich  befreien  aus  fremden  Händen. 

Er  kam  mit  100  Bossen  daher, 

Und  kann  mich  befreien  doch  nimmermehr. 

Ich  will  die  Magd  zur  Liebsten  senden, 
Sie  soll  mich  befreien  aus  fremden  Händen. 
Kam  sie  mit  ihrem  Kränzelein, 
Sie  könnte  gewifslich  mich  befrein. 

14.     Nicht  zurück. 

Lied. 

Durch  den  Garten  ging  ich  einst  übers  Rosenbeet, 
Schrieb  aufs  schwarze  Stieflein  dort,  wo  die  Baute  steht. 

Als  ich  auf  das  Böfslein  sprang,  fiel  mein  Mützchen  nieder, 
Komm,  mein  Vater,  reich  mir  zu  meine  Mütze  wieder. 


Litauische  Lieder. 


175 


Als  er  reichte,  konnte  er  nicht  den  Thränen  wehren. 
Still,  mein  Vater,  weine  nicht,  will  zurück  ja  kehren. 

Aber  kehr  ich  auch  zurück,  wirst  mich  doch  verlieren, 
Denn  mit  meinem  trauten  Schatz  geh'  ich  dann  spazieren« 

Gegenlied. 

Durch  den  Garten  ging  ich  einst  übers  Bautenbeet, 
Schrieb  aufs  bunte  Schühlein  dort,  wo  die  Baute  steht. 

Als  ich  auf  den  Wagen  sprang,  fiel  mein  Kränzel  nieder, 
Liebe  Mutter,  reiche  mir  doch  mein  Kränzel  wieder. 

Als  sie's  reichte,  konnte  sie  nicht  den  Thränen  wehren. 
Still,  o  Mutter,  weine  nicht,  will  zurück  ja  kehren. 

Aber  kehr  ich  auch  zurück,  wirst  mich  doch  verlieren, 
Denn  mit  meinem  Liebsten  traut  geh'  ich  dann  spazieren. 


15.    Der  irdene  Krug. 


Sprach  die  Mutter:  Geh  zum  Strande, 
Wasser  hoP  im  Krug  herbei.  — 
Bitt  ein  Beiter  durch  die  Wiese, 
Schlug  den  irdnen  Krug  entzwei.  — 
Beiter,  Beiter!    Warum  schlug 
Er  entzwei  den  irdnen  Krug? 

Weine  dir,  du  schmucke  Nelke, 
Nicht  die  Äuglein   aus  dem  Kopf! 
Einen  halben  Groschen  geb'  ich 
Dir  für  deinen  irdnen  Topf.  — 
Beiter,  Beiter  1    Ei,  der  Tropf, 
Was  zerschlug  er  mir  den  Topf? 


Zarte  Nelke,  weine  nimmer, 
Dieses  Gütlein  geb'  ich  dir. 
Ach  behalte  du  dein  Gütlein, 
Was  soll  denn  das  Gütlein  mir?  — 
Beiter,  Beiter!    Warum  schlug 
Er  entzwei  den  irdnen  Krug? 

Liebe,  schmucke,  zarte  Nelke, 
Weine  nicht,  hier  hast  du  mich. 
Ach,  ich  will  ein  ganzes  Krüglein, 
Niemals  will  ich  dich.  — 
Beiter,  Beiter!    Ei,  der  Tropf, 
Was  zerschlug  er  mir  den  Topf? 


16.     Die  Schützerin. 

Hohe  Berge,  ebne  Wiesen,  Blüten,  weifs  wie  Schnee, 

Auf  den  Blumen  geht  ein  Mädchen  durch  den  grünen  Klee. 

Und  sie  wandelt  und  sie  windet  wohl  ein  Kränzel  sich. 
Flicht  ihn  oder  lafs  das  Flechten,  flichtst  ihn  nicht  für  dich! 

Werd'  ich  auch  den  Kranz  nicht  tragen,  soll's  nicht  leid  mir  sein. 
Will  ihn  meiner  Schwester  geben.     Trag  ihn,  Schwesterlein ! 

Schmück  das  Haupt  dir,  wenn  der  Liebste,  Schwester,  kommt  zu  dir. 

Will  er  dir  den  Kranz  zerreifsen,  komm'  er  nur  zu  mir.   Bösen,  Silber,  daidaila. 

17.     Glücklich. 


Ich  armer  Bursche 
Im  fremden  Lande, 
Kind  guter  Leut',  ja, 
Hopsa  valera, 
Im  fremden  Lande. 


Geh  ich  des  Weges, 
Sing  ich  ein  Lied  mir, 
Sitze  im  Krug,  ja, 
Hopsa  valera, 
Am  Tischesende. 


176 


Die  Kuren. 


Am  Tische  sitz  ich 
Beim  vollen  Glase, 
Beim  Aluskrug,  ja, 
Hopsa  valera, 
Hab  keinen  Heller. 


An  Gold  ein  Bettler, 
Beim  Mädchen  lustig, 
Habe  kein  Heim,  ja, 
Hopsa  valera, 
Schlaf  unterm  Bänklein. 


E.     Lettische  Lieder. 


18.     Die  Nonne. 


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Es      staw  ufs  aukstiem    Kalniem      un        skatus       ju-rin-ga 
Ich     st  and  auf   hohem     Ber  -  ge     und      sah  zum     Meere    hin, 


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reds     wieno       Laiwing     nakot, 
Schiff  lein  sah  ich  fahren, 

Ach  Mädchen,  schmuckes  Mädchen, 
So  zierlich  und  so  fein, 
Ach  dafs  du  reich  doch  wärest, 
Mein  eigen  solltst  du  sein. 

„Und  willst  du  mich  nicht  nehmen, 
Weil  ich  so  arm  nun  bin, 
So  werd  ich  eine  Nonne, 
Und  geh  ins  Kloster  hin." 


nakot,   tur  bus  mans   brutgamins. 
fahren,  mein  Liebster  safs  darin. 

Ach  geh  doch  nicht  ins  Kloster, 
Wo'8  keine  Liebe  giebt, 
Ach  denk  doch,  liebes  Mädchen, 
Wie  wir  uns  einst  geliebt. 

„Ich  denk  an  keine  Liebe, 
Ich  denk  an  keinen  Mann, 
Ich  denk  an  Gott  alleine, 
Der  mich  ernähren  kann." 


19.     Das  kurische  Mädchen. 


Hei,  ich  flieg  ins  Gärtchen  klein, 
Zupf  mir  weifse  Blumen  aus, 
Pflücke  frische  Böselein, 
Mache  mir  ein  Kränzel  draus. 

Hab  geflochten  mir  den  Kranz, 
Wind  ihn  in  den  blonden  Zopf, 
Geh  entlang  des  Meeresstrands, 
Grünes  Kränzel  auf  dem  Kopf. 


Fliegen  her  zwei  Täublein  grau, 
Graue  Täublein  sprechen  klar, 
Eine  listig,  klug  und  schlau, 
Doch  die  andre,  die  spricht  wahr. 

Ach,  es  kam  der  böse  Wind, 
Warf  den  Kranz  hinein  ins  Meer, 
Wellen,  werft  mir  doch  geschwind 
Werft  mir  wieder  's  Kränzel  her! 


20.     Der  Kranz. 


Werd  ich  in  dem  Gärtlein  wohl 
Weifse  Bösen  finden? 
Möchte  einen  Blütenkranz, 
Einen  duftgen  Blumenkranz, 
Mir  am  Strauche  winden. 

Hei,  wie  steht  das  Kränzlein  mir? 
Nun  hinab  zum  Strande  1 
Ach,  da  fährt  der  Ostwind  jach, 
Über  Wald  und  Feld  und  Bach, 
Her  vom  fernen  Lande. 


Kränzlein   schwimmt   schon   in  der 
Weinend  mufs  ich  stehen,         [Flut, 
Und  ich  schaue  auf  und  ab, 
Und  ich  wandre  auf  und  ab, 
Kränzlein  suchen  gehen. 

Strömt  ihr  Wellen,  strömt  herzu, 
Strömt  von  Land  zu  Lande  1 
Winde,  werft  mir's  Kränzlein  zu, 
Strömt  ihr  Wellen,  strömt  mir  zu, 
Tragt's  zum  trocknen  Strande. 


Lettische  Lieder  und  Sprichwörter. 


177 


21.    Der  Dienst. 


Ich  diente  meinem  Herrn  ein  Jahr, 
Da  bracht  er  mir  ein  Küchlein  dar, 
Das  Küchlein  legte  Eierlein, 
Zart  und  fein,  fein  und  zart,  zart 

und  fein. 

Ich  diente  ihm  ein  zweites  Jahr, 
Da  bracht  er  einen  Hahn  mir  dar, 
Der  lief  den  Hennen  hinterdrein, 
Die  Hennen  legten  Eierlein, 
Zart  und  fein,  fein  und  zart,   zart 

und  fein. 

Ich  diente  ihm  das  dritte  Jahr, 
Da  bracht  er  mir  ein  Entlein  dar. 
Die  Ente  schrie  pliru,  plaru  darein, 
Der  Hahn  lief  den  Hennen  hinter- 
Die  Hennen  legten  Eierlein,      [drein, 
Zart  und  fein,  fein  und  zart,  zart 

und  fein. 


Ich  diente  dem  Herrn  ein  viertes  Jahr 
Da  bracht  er  eine  Gans  mir  dar. 
Die  Gans  schrie  gicku,  gacku  drein, 
Und  pliru,  plaru  da»  Entelein. 
Der  Hahn  lief  den  Hennen  hinter- 
Die  legten  weifse  Eierlein,  [drein, 
Zart  und  fein,  fein  und  zart,   zart 

und  fein. 

Ich  diente   dem  Herrn   das   fünfte 

Jahr, 
Da  bracht  er  mir  ein  Schweinchen 

dar. 
Krunku,  ruku  grunzte  das  Schwein, 
Die  Gans  schrie  gicku,  gacku  drein, 
Und  pliru,  plaru  das  Entelein. 
Der  Hahn  Lief  den  Hennen  hinter- 
drein, 
Die  legten  weifse  Eierlein, 
Zart  und  fein,   fein  und  zart,  zart 

und  fein. 


F.     Kurische  Sprichwörter. 

1.  Schulden  sind  keine  Wanden,  sie  heilen  nicht. 

2.  Eine  reiche  Krankheit,  eine  arme  Gesundheit. 

3.  Lafs  nicht  den  Wolf  die  Schafe  hüten  t 

4.  Bevor  du  nicht  wie  ein  Kalb  geschrieen  hast,  wirst  du  nicht  wie  ein 
Ochse  schrein  1 

5.  Wer  hinter  der  Thür  horcht,  macht  sich  selbst  Schande. 

6.  Der  Gleiche  ist  des  Gleichen  Freund. 

7.  Wie  der  Vater,  so  der  Sohn;  wie  die  Mutter,  so  die  Tochter. 

8.  Das  Schweigen  ist  teuer;  wer  viel  spricht,  schadet  sich  selbst. 

9.  Eignes  behalt,  Fremdes  begehr  nicht  1 

10.  Besser  einen  Sperling  in  der  Hand,  als  zehn  auf  dem  Dach. 

11.  Wer  einem  andern  eine  Grube  gräbt,  fällt  selbst  in  diese. 

12.  Enthalt  dich  zu  sprechen,  und  du  weifst  viel! 


G.     Bas  lettische  Vaterunser. 

Das  älteste  Vaterunser  in  der  rechten  „Lyffländischen  (Lettischen) 
Sprache"  bietet,  nach  dem  „erfahrnen  Johann  Hasentödter,  so  manch  jar  in 
Lyfflandt  an  den  Herren  Höfen  und  Cantzleyen  gewesen  und  viel  erfahren 
hata,  1541,  S.  Münster  (Texte  abweichend  in  Ausgaben  von  1550,  1559,  1598). 

Die  von  alten  Historikern  gern  gebrauchte  Gleichstellung  der  in  Ost- 
preufsens  Gegend  ehemals  erwähnten  Hirri  mit  den  Herulern,  die  ferner 
beliebte  Gleichstellung  der  Heruler  mit  den  Letten  und  die  u.  a.  von  Lazius 
(De  gentium  aliquot  migrationibus  etc.  Basel  1557)  beliebte  Gleichstellung 
der  Heruler  mit  den  Werlern,  hat  diesen  veranlagst  (S.  628),  das  lettische 
Vaterunser  mit  einigen  Fehlern  als  herulisches  auszugeben.  Vgl.  auch  Bur- 
meister,  Sprache  der  O bo tri ten -Wenden,  8.  16. 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  22 


178  Die  Kuren. 

1,  Lettischer  Text  nach  Sebastian  Münster  (Basel  1598,  S.  1154). 

Tabes  xnus  kas  tu  es   eckschkan  debbessis.     Schwetitz  tows  waartz, 
Vater  unser  der  du  bist  in  Himmeln.     Geheiligt  werde  dein  Name. 

enack  mums  tows  walstibe,  tows  praats  bus  ka  eckschkann  Debbes, 
Zukomme   uns   dein   Reich,    dein   Wille   geschehe  wie  in  Himmeln 

ta  wursan  semmes.     Müsse  denische  Mftyse   duth   mums    schodeen, 
also      auf      Erden.        Unser      täglich      Brot      gieb      uns      heut, 

pammate  mums  müsse  grake  ka  mes  pammat  müsse  parradueken. 
vergieb    uns    unsre    Schuld   als   wir   vergeben   unsern   Schuldigern. 

Ne  wedde  mums  louna  badeckle,  pett  passarga  mums  nu  wusse  loune. 
Nicht  einführe  uns  bösen  Versucher,  sonder  behüt  uns  vor  allem  bösen. 

2.    Angebliches  „herulisches"  Vaterunser. 

Tabes  mvs  kas  tv  es  eckschan  debbessis.  Schwetitz  tows  vvaartoz.  Enak 
mvms  tows  walstibe.  Tows  praatz  bvska  eckschan  debbes  ta  vwrsan 
symmes.  Mvsse  denische  mayse  dvth  mvms  schoden.  Fammate  mvms  mvsse 
grake  ka  mess  pammat  mvsse  patra  dveken,  ne  weddemvms  lovna  badeckle. 
Pett  passarza  mvms  nv  vvvysse  lovne.    Amen. 

3.     Das  heutige  lettische  Vaterunser. 
(Mitgeteilt  von  Dr.  Bi elenstein- Doblen.) 

A 

Müfu  Tews  debefis,  fwetits  laj  top  taws  wärds,  laj  näk  pee  mums  tawa 
walfbiba,  taws  präts  laj  nöteek,  ka  debefis,  tä  aridfan  wirs  fernes.  Müfu 
deenifchku  maifi  dödi  mums  fchödeen.  Peedödi  mums  müfu  greku  paradus, 
ka  mes  peedödam  faweem  parädneekeem ,  ne-eewed  müs  kärdinäfchana  bet 
atpefti  müs  no  wifa  launa,  jo  tew  peeder  walftiba,  fpeks  un  gods  müfchigi 
müfcham. 

4.    Das  lettische  Vaterunser  im  Niddener  Dialekt. 

(Mitgeteilt  von  Pfarrer  Jopp.   Die  ostpreuftischen  Letten  beten  übrigens 

litauisch.) 

Taite  musu,  kui*s  esi  Danguj.  Buk  swetiz  tawo  wards.  Lai  nak  tawo 
karalyste.  Lainusi  düd  tawo  wale  ka  danguj  ta  ir  uz  zeme.  Maise  musu 
dieniszka  düd  mums  ir  szüdien.  Ir  atlaid  mums  musu  kaltes,  ka  ir  mes 
atlaidzam  sawo  kaltamjam.  Ne  wed  mums  is  pagundima,.  Bet  ledze  mums 
nü  wiso  pikto.  Nes  tawo  ir  karalyste  ir  syla  ir  slawe  nü  amziü  lidz  amziü. 
Amen. 

5.    Das  lettische  Vaterunser  im  Melneragener  Dialekt. 

(Nach  Fr.  Blöde.) 

Anrede.     Tehws   musu   debesis,    1.  B.   Lai   swetits   top   tawe   wards, 

2.  B.  Lai  nak  pee  mus  tawa  walstiba,  3.  B.  Taws  prats  lai  noteek  ta  debesis 
ka  wirs  seines,  4.  B.  musu  deenisku  maisi  dod  mums  ir  scho  deen,  5.  B.  un 
atlaid  mums  musu  Skalas,  ka  mes  atlaischam  musu  skalaneekams ,  6.  B.  ir 
newed  mus  eeksch  pagundima,  7.  B.  bet  isglab  mus  no  launa. 

Schlufs.  Jo  tew  peeder  ta  walstiba,  taws  spehks  un  taws  gods 
muBchu  mus cham.    Amen. 


DIE 


WESTSLAWISCHEN  VOLKSSTÄMHE 


IN 


DEUTSCHLAND. 


(Masuren,  Philipponen,  Tschechen,  Mährer,  Sorben,  Polaben, 

Slowiiizen,  Kaschuben,  Polen.) 


Die  Masuren. 

Literatur. 

Braun:   Alte  und  neue  Bilder  von  Masuren.    Bastenburg  1888. 

Hensel:   Masuren.    Königsberg  1896. 

Lucanus:   Preufsens  uralter  und  beutiger  Zustand  (1748).    Lötzen  1901. 

Schmidt:     Mitteilungen    der    literarischen    Gesellschaft   Masovia.     Lötzen 

1895  ff.    Bis  1900:  6  Hefte  (1.  Heft  herausgegeben  von  Gerfs). 
Toeppen:    Geschichte  Masurens.    Danzig  1870.  —  Aberglaube  aus  Masuren, 

2.  Aufl.     Danzig  1867. 
Zweck:   Masuren.    Stuttgart  1900. 


I*    Das  masurische  Sprachgebiet  in  Deutschland« 

Der  Ausdruck  „Masuren u  wird  so  verschieden  faltig  gebraucht, 
dals  eine  genaue  Begriffsabgrenzung  zur  Beseitigung  mancher  Irrtümer 
unerläßlich  ist.  Beispielsweise  bezeichnen  die  einen  alle  Bewohner  des 
südlichen  Ostpreulsens ,  gleichviel  ob  polnischer  Herkunft  und  Sprache 
oder  germanisierter  Abstammung,  mit  dem  Namen  und  trennen  die 
angrenzende  polnische  Bevölkerung  gleicher  Mundart  streng  davon. 
Diese  gehen  die  Zahl  der  Masuren  mit  einer  halben  Million  an.  Andere 
wieder  berücksichtigen  nur  die  Mundart,  schliefsen  mitunter  die 
slawische  Bevölkerung  des  Osteroder  und  Neidenburger,  wohl  auch  des 
Ortelsburger  Kreises  aus  und  unterscheiden  zwischen  polnischen  und 
ostpreufsischen  Masuren,  letztere  auf  200  000  bis  300  000  schätzend. 
Eine  dritte  Ansicht  stützt  sich  auf  die  eigenen  Angaben  der  Bevölke- 
rung in  den  Volkszählungslisten.  Da  haben  nun  willkürlich  die  näch- 
sten Verwandten  sich  bald  Polen,  bald  Masuren  genannt,  und  nur  so 
war  es  möglich,  dafs  beispielsweise  A.  v.  Fircks  in  seiner  wertvollen 
Arbeit  im  Johannisburger  Kreise  36,96  Proz.  Masuren  und  39,59  Proz. 
Polen  namhaft  macht,  im  Lycker  29,44  Proz.  Masuren  und  34,61  Proz. 
Polen,  im  Ortelsburger  27,75  Proz.  Masuren  und  47,93  Proz.  Polen, 
im  Neidenburger  19,8  Proz.  Masuren  und  54,37  Proz.  Polen,  im  Sens- 
burger  25,76  Proz.  Masuren  und  34,54  Proz.  Polen,  im  Osteroder 
3,98  Proz.  Masuren  und  48,44  Proz.  Polen,  im  Lötzener  25,56  Proz. 
Masuren  und  22,37  Proz.  Polen,  im  Oletzkoer  24,27  Proz.  Masuren  und 
21,49  Proz.  Polen,  im  Angerburger  3,12  Proz.  Masuren  und  4,03  Proz. 
Polen,  im  Goldaper  0,83  Proz.  Masuren  und  1,35  Proz.  Polen.     Nach 


182  Die  Masuren. 

A.  y.  Fircks  leben  in  Preufsen  102  941  (48  623  männliche  und  54  318 
weibliche)  Masaren  und  5627  (2919  männliche  und  2708  weibliche) 
Personen  masurischer  und  deutscher  Nationalität.  Diese  Zahlen  sind 
denn  auch  in  unsere  Konversationslexika  übergegangen,  die  überein- 
stimmend etwa  105  000  Masuren  zählen.  Masurische  Agitatoren  da- 
gegen reden  von  einer  halben  Million  Masuren ;  ja  eine  Zeitung  rechnet 
auf  Ostpreufsen  eine  Million  evangelische  Masuren  und  216  000  katho- 
lische Polen. 

Die  Zahl  der  Polen,  Masuren  und  der  wenigen  Easchuben  in  Ost- 
preufsen zusammen  giebt  Neumann,  wohl  nach  A.  v.  Fircks,  mit 
327  696  an.  Von  den  ostpreulsischen  Masuren  fallen  bei  der  Angabe 
y.  Fircks  34160  auf  den  Königsberger,  68  596  auf  den  Gumbinner 
Begierungsbezirk.  Unter  diesen  sind  neben  101 792  Evangelischen 
(96,25  Proz.)  2749  Katholiken  (2,6  Proz.),  918  Baptisten  (0,87  Proz.) 
und  191  jüdische  und  Andersgläubige.  Aulser  32  Bussen  und  11 
Österreichern  und  Ungarn  waren  alle  Deutsche.  102  656  wohnten  in 
Ostpreufsen,  1800  in  Westfalen,  236  in  Westpreulsen,  207  in  Berlin, 
die  Übrigen  waren  zerstreut.  Auf  den  Königsberger  Begierungsbezirk 
entfielen  31375  evangelische  und  1989  katholische,  auf  den  Gumbinner 
67  784  evangelische  und  944  katholische  Masuren. 

Dafs  jene  willkürliche  Nation  alitätsangabe  zur  Feststellung  der 
Volkszahl  ungeeignet  ist,  liegt  auf  der  Hand  und  hat  darum  einzelne 
Statistiker  veranlalst,  mit  dem  Namen  Masuren  die  seit  Errichtung  des 
Herzogtums  im  südlichen  Ostpreufsen  ansässigen  evangelischen  Slawen 
polnischer  und  masurischer  Zunge  zu  bezeichnen.  Ihr  Wohnsitz  sind 
die  oben  angegebenen  Kreise;  die  wieder  katholisch  gewordenen  oder 
neu  dazu  gekommenen  Masuren  sind  an  Zahl  gering.  In  diesem  Sinne 
ist  hier  von  Masuren  die  Bede.  Der  Landschaftsname  Masuren  mag 
daneben  immer  bestehen,  wie  der  Preufsisch  -  Litauens.  Zur  Zeit  des 
Grofsen  Kurfürsten  bildete  folgende  Linie  in  Ostpreufsen  die  Grenze 
zwischen  der  litauisch  und  polnisch  sprechenden  Bevölkerung:  Königs- 
berg, Preulsisch-Eylau,  Bartenstein,  Dombrowken,  Angerburg,  Buddern, 
Benkheim,  Szabienen,  Goldap,  Dubeningken. 

Die  fortgesetzte  Germanisierung  hat  nicht  nur  die  geschlossenen 
Sprachgebiete  mit  deutschen  Inseln  durchsetzt,  sondern  auch  einen 
breiten  Keil  deutscher  und  germanischer  Bevölkerung  eingeschoben. 
Die  nördliche  Linie  dieses  Keils  bildet  die  litauische  Sprachgrenze,  die 
südliche  die  masurische. 

Die  oben  angegebenen  Kirchspiele  bedienten  sich  früher  aller  drei 
Sprachen  beim  Gottesdienst,  jetzt  wird  nur  noch  in  Dubeningken  jähr- 
lich einigemale  polnisch  und  litauisch  gepredigt.  Masurische  Mundart 
spricht  nur  das  Volk;  die  Schrift-  und  Kanzelsprache  ist  polnisch.  In 
Bartenstein  wurde  beim  Gottesdienst  1562  polnisch,  preufsisch  und 
deutsch  gesprochen,  in  Dombrowken  erlosch  1824  die  polnische,  1844 
die  litauische  Sprache,  in  Szabienen  1849. 


Volkszahl.  183 

Folgende  Nordgrenze  schliefst  jetzt  das  rein  deutsche  Gebiet  von 
der  Landschaft  ab,  die  ihren  evangelischen  Einwohnern  neben  der 
deutschen  auch  polnische  Predigt  gewährt.  Von  Dubeningken  zieht 
sich  die  Linie  westwärts  über  Gurnen,  Grabowen,  Benkheim,  Buddern, 
Angerburg  und  Engelstein  bis  an  die  Grenze  des  Gumbinner  Regierungs- 
bezirks. Im  Königsberger  Regierungsbezirk  setzt  sich  die  Linie  in  den 
ziemlich  reindeutschen  Grenz kirch spielen  Drengfurt  und  Rastenburg 
fort  und  umfalst  dann  den  gesamten  Ortelsburger ,  Neidenburger  und 
Osteroder  Kreis,  nämlich  nördlich  bis  Bischofsburg,  Wartenburg,  Locken, 
Liebemühl,  Provinzgrenze.  In  diesem  masurischen  Gebiete  liegen  (auf 
Grund  von  Harnochs  Aufzeichnungen)  etwa  100  doppelsprachige 
evangelische  Kirchspiele  mit  cirka  455  000  Bewohnern,  von  denen  etwa 
40Proz.  =  176  000  deutsch  sind.  Die  Zahl  dieser  evangelischen 
Masuren  würde  also  279000  betragen  und  60  Proz.  der  Be- 
völkerung ausmachen.  Der  nördliche  Teil  dieses  Gebietes  ist  über- 
wiegend deutsch  und  umfalst  die  acht  Angerburger,  die  vier  Heils- 
berger,  die  drei  Rastenburger,  die  drei  Goldaper,  sowie  drei  Osteroder, 
fünf  Lötzener  und  vier  Oletzkower,  zusammen  dreifsig  Kirchspiele  mit 
135  000  Seelen,  von  denen  29  000  (cirka  21  Proz.)  polnisch  sprechen. 

Der  südliche  Teil  des  Gebietes  ist  überwiegend  masurisch.  Er 
umfalst  vollständig  die  Diözesen  Neidenburg  (zwölf  Kirchspiele),  Ortels- 
burg  (elf),  Sensburg  (zehn),  Johannisburg  (neun),  Lyck  (neun);  aufser- 
dem  von  Osterode  zwölf,  von  Lötzen  vier,  von  Oletzko  drei  Kirchspiele 
mit  zusammen  320  000  Bewohnern,  von  denen  250  000  (über  78  Proz.) 
Masuren  sind.  Die  Nordgrenze  dieses  Gebietes  beginnt  drei  Stunden 
südlich  von  Dubeningken  beim  Dorfe  Mierunsken,  läuft  südlich  bis 
Wielitzken,  westlich  über  Schwentainen  nach  Orlowen,  südlich  über 
Jucha  nachGrabnik,  südwestlich  über  Arys  nach  Eckersberg,  nordwest- 
lich über  Schimonken  nach  Rhein,  südwestlich  über  Sensburg,  War- 
puhnen,  Sorquitten  nach  Kobulten  im  Königsberger  Regierungsbezirk. 
Die  Linie  bleibt  bis  Rheinswein  an  der  Grenze  und  wendet  sich  dann 
südwestlich  nach  Mensguth,  Passenheim,  Kurken,  Seelesen,  nordwest- 
lich nach  Hohenstein,  Manchenguth,  Osterode  und  verläuft  dann  süd- 
wärts an  der  Grenze. 

In  beiden  Teilen  wird  regelmäfsig  in  beiden  Sprachen  gepredigt, 
im  nördlichen  Teile  aber  findet  infolge  der  Germanisierung  der  pol- 
nische Gottesdienst  immer  seltener  statt.  Die  Sprache  weicht  von  der 
polnischen  nicht  unbeträchtlich  ab,  besonders  die  Mundart  östlich  von 
Kurken,  Linden walde  und  Seelesen  an  der  Osteroder  Ostgrenze.  Die 
Bewohner  sprechen  fast  sämtlich  beide  Sprachen,  dort  erhält  sich  das 
Masurische  weit  zäher  als  das  Litauische.  In  der  Schule  lernen  die 
Kinder  ziemlich  gut  Deutsch;  sobald  sie  der  Schule  entwachsen  sind, 
vergessen  sie  es  alimählich  mehr  und  mehr.  Das  liegt  nicht  etwa  an 
einer  Abneigung  gegenüber  dem  Deutschen.  Der  evangelische  Masure 
ist  Deutscher  und  Preufse  mit  Leib  und  Seele  und  scheidet  sich  streng 


184  Die  Masuren. 

von  den  katholischen  Polen  ab.  Das  liegt  vielmehr  an  der  Ab- 
geschlossenheit der  Gegend.  Jetzt  erst,  seitdem  Bahnen  das  Land 
durchziehen  und  Masuren  seiner  landschaftlichen  Schönheit  wegen, 
immer  mehr  von  Deutschen  besucht  wird,  nimmt  unsere  Sprache  über- 
hand. Sprachen  doch  beispielsweise  im  Kirchdorf  Weilsuhnen  1897/98 
von  197  schulpflichtigen  Kindern  bei  der  Aufnahme  173  nur  polnisch 
und  24  deutsch  und  polnisch.  In  Opalenietz  standen  2000  Masuren 
nur  50  Deutsche  entgegen.  Aulser  der  evangelischen  Lehre  ist  der 
Baptismus  hier  und  da  verbreitet,  so  in  Neidenburg  und  Muschaken, 
in  Orteisburg  und  Schöndamerau,  Theerwisch,  Willenberg;  in  Osterode, 
Borzymmen  bei  Lyck,  Sorquitten,  Dubeningken,  Benkheim.  In  Monethen 
(Oletzko)  ist  eine  kleine  Swedenborgische  Gemeinde,  in  Sensburg  eine 
apostolische,  in  Johannisburg  eine  sozinianische.  Als  Insel  mitten  im 
masurischen  Sprachgebiet  ist  die  russisch  -  sprechende  philipponische 
Kolonie  zu  betrachten. 

Etwas  anders  gestaltet  sich  die  masurische  Sprachkarte,  wenn  wir 
die  Nachweise  von  Schiermann  und  Hirsch  (1897)  und  neuere  Nach- 
richten zu  Grunde  legen,  aus  denen  sich  gleichzeitig  ergiebt,  wie  schnell 
trotz  allen  zähen  Festhaltens  am  masurischen  Volkstum  deutsches 
Wesen  und  damit  deutsche  Sprache  überhand  nimmt.  Die  alte  Sprach- 
grenze ist  zwar  im  grolsen  und  ganzen  geblieben,  aber  es  hat  sich  zu- 
nächst ein  Streifen  abgesondert,  in  dem  die  slawische  Kirchensprache 
erloschen  ist.  Danach  würde  die  Sprachgrenze  der  gemischtsprachigen 
Gemeinden  den  Verlauf  haben,  wie  ihn  unsere  Karte  (Abb.  60)  andeutet: 
Dubeningken,  Grabowen,  Kutten,  Angerburg,  Lötzen,  Stürlack,  Rhein, 
Sensburg,  Warpuhnen,  Sorquitten,  Kobulten,  Grofsbartelsdorf,  Allen  stein, 
Altschöneberg,  Locken,  Liebem ühl.  Viel  weiter  zurückgedrängt  worden 
ist  die  Grenze  des  überwiegenden  Masuren tums.  Sie  beginnt  bei 
Wielitzken,  südöstlich  von  Marggrabowa,  geht  über  Gonsken,  Jucha, 
Stradaunen,  Ostrokollen,  Baitkowen  und  Grabnick  um  Lyck  herum, 
dann  über  Arys,  Eckersberg,  Schimonken,  Nikolaiken  nach  Sensburg. 
Ein  Stück  deckt  sich  jetzt  die  Grenze  des  überwiegenden  Masurentums 
mit  der  Sprachgrenze  überhaupt,  in  der  Gegend  Sensburg,  Warpuhnen, 
Sorquitten,  Kobulten.  Dann  aber  schneidet  unsere  Grenze  weit  nach 
Süden  über  Rheinswein,  Mensguth,  Passenheim,  Bartelsdorf,  Kurken, 
Seelesen,  Mühlen,  um  Hohenstein  herum  nach  Manchengut,  Reichenau, 
um  Osterode  herum,  nach  Kraplau,  Schmückewalde,  Leip,  Geierswalde, 
Marwalde,  Gilgenburg,  um  Rausch ken  und  Neidenburg  herum,  über 
Skottau,  Muschaken,  Saberau,  Grofs-  und  Klein  -  Koslau ,  Schornau, 
Soldau,  Usdau,  Grofs  -Koschlau  und  Heinrichsdorf  an  der  Landes-  und 
Provinzialgrenze.  Unter  etwa  443  507  Seelen  des  gemischt- 
sprachigen Gebietes  evangelischer  Kirchspiele  befinden  sich  260  300 
Masuren,  knapp  59  Proz. 

So  gut  wie  erloschen  ist  das  Masurentum  im  Kreise  Rastenburg, 
wo  in  den  Kirchspielen  Rastenburg,  Bäslack  und  Schwarzstein  unter 


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186  Die  Masuren. 

17  071  evangelischen  Bewohnern  nur  92  Masuren,  im  Kreise  Goldap, 
wo  unter  10450  Grabowenern  und  Dubeningkenern  270  Masuren  und 
im  Kreise  Alienstein,  wo  unter  6867  Allensteinern  und  Bartelsdorfern 
500  Masuren  wohnten.  Nicht  gezählt  sind  dabei  40  Masuren  in  Bischofs- 
burg und  Wartenberg  und  30  in  Gurnen.  Ähnlich  liegen  die  Verhält- 
nisse im  Kreise  Angerburg,  soweit  er  überhaupt  gemischt  ist;  in  diesem 
Teile  leben  unter  19  170  Evangelischen  1060  Masuren,  besonders  in 
Possessern  (600),  Kruglauken  (250),  Kutten  (120)  und  Angerburg  (90). 
In  den  wirklich  masurischen  Kreisen  leben  in  Orteisburg  53  082  (über 
82  Proz.)  Masuren,  in  Johannisburg  42  220  (über  81  Proz.),  in  Neiden- 
burg 40138  (über  77  Proz.),  in  Lyck  34  750  (über  69  Proz.),  in  Sens- 
burg 28  870  (über  63  Proz.).  In  der  Minderheit  sind  die  Masuren  in 
Osterode  bei  31830  Masuren  (über  49  Proz.),  in  Marggrabowa  bei 
14  080  (36  Proz.)  und  inLötzen  13  500  (über  32  Proz.).  Im  sprachlich 
gemichten  Teile  Goldaps  (drei  Kirchspiele)  sind  etwas  über  2  Proz.,  in 
dem  Allensteins  (vier  Kirchspiele)  und  in  dem  Angerburgs  (vier  Kirch- 
spiele) etwas  über  5  Proz.  und  in  dem  Rastenburgs  (drei  Kirchspiele) 
über  Va  Proz.  Masuren.  Nach  menschlicher  Voraussicht  werden  also 
in  kurzer  Zeit  Rastenburg,  Goldap,  Angerburg  und  Alienstein  rein- 
deutsch,  Lötzen,  Marggrabowa,  Osterode  und  Sensburg  aber  dem  vom 
Norden  her  vordringenden  Deutschtum  unterlegen  sein.  Orteisburg, 
Johannisburg  und  Neidenburg  könnten  wegen  des  polnischen  Hinter- 
landes, der  wenigen  Eisenbahnen  und  grolsen  Wälder  länger  Hoch- 
burgen des  Masuren tums  bleiben,  wenn  auch  die  Kreisstädte  bald  über- 
wiegend deutsch  sein  werden.  Die  Stadt  Lyck,  als  Sitz  eines  Gymna- 
siums und  einer  Garnison,  ist  jetzt  schon  eine  rein  deutsche  Stadt  zu 
nennen;  das  Grenzkirchspiel  Ostrokollen  hat  in  kurzer  Zeit,  besonders 
seit  Ausbau  der  Bahnlinien,  deutsches  Gepräge  bekommen,  so  dals  das 
von  Nordwesten  kommende  Deutschtum  an  der  Bahnlinie  Lötzen- 
Prostken,  also  bis  zur  russischen  Grenze,  bereits  überwiegt.  Es  ver- 
bleibt somit  in  Zukunft  eine  kleine  Masuren -Insel  östlich  von  Lyck 
und  eine  grofse  westlich  an  der  Landesgrenze. 

n.    Zur  Geschichte  der  Masuren. 

Zur  Zeit  der  Kriege  zwischen  den  Preutsen  und  dem  Orden  lag 
in  der  Gegend  des  heutigen  Masuren s  hauptsächlich  die  Landschaft 
Galindien  und  Sudauen.  Schon  Ptolemäus  erwähnt  die  Galinder.  Wir 
finden  sie  im  ersten  christlichen  Jahrtausend  im  Kampfe  mit  Russen 
und  Polen.  Ebenso  rätselhaft  wie  die  Verödung  eines  westpreufsisch- 
polnischen  Teiles  vor  der  ersten  polnischen  Teilung  ist  die  Zerstörung 
des  angeblich  so  volkreichen  Galindien.  Die  Galinder  waren  zweifellos 
preufsischen  Stammes,  doch  scheinen  frühzeitig  aus  dem  südlicher  ge- 
legenen Masovien,  der  „Masau",  Polen  nach  Norden  gedrungen  zu  sein. 
Die  Galinder   blieben   wie    ihre    stammverwandten  Nachbarn  Heiden, 


Besiedelung  Masurens.  187 

und  es  war  genügender  Grund  zu  steten  Kriegen  mit  den  christlich 
gewordenen  benachbarten  Masoviern  geboten.  Der  Herzog  Konrad 
von  Masovien  schenkte  1222  einen  grolsen  Teil  des  den  Preulsen  ab- 
genommenen Landes  dem  Bischof  Christian,  und  1226  bestätigte  Kaiser 
Friedrich  IL  dem  deutschen  Orden  dies  Land  und  das  noch  zu  erobernde 
als  Besitztum.  Die  aufreibenden  Kämpfe  schlössen  mit  der  Unter- 
werfung der  Preulsen  und  der  völligen  Verwüstung  der  Landschaften 
Schalauen,  Nadrauen,  Sudauen  und  Galindien.  Dusburg  sagt  1325: 
„Und  es  ist  jene  Gegend  bis  auf  den  heutigen  Tag  eine  Wüstenei  ge- 
blieben." Der  Wald  wuchs  über  den  zerstörten  Hütten  und  wucherte 
weiter  und  weiter,  jahrhundertelang.  Nur  selten  war  hier  und  da 
eine  vom  Orden  gelittene  oder  angelegte  Niederlassung,  aber  die  alten 
Erinnerungen  erhielten  sich  doch.  Und  als  die  Philipponen  nach 
Jahrhunderten  in  die  Johannisburger  Wildnis  einwanderten  und  auch 
das  Dörfchen  „Schlöf  sehen"  anlegten,  behielten  sie  den  alten  Wald- 
namen bei;  früher  hatte  hier  eine  befestigte  Anlage  zur  Zeit  des 
preußischen  Besitzes  bestanden. 

Wenn  die  Wege  durch  die  Wildnis  auch  nicht  völlig  menschenleer 
waren,  so  konnte  doch  von  einer  wirklichen  Bevölkerung  nicht  die 
Rede  sein.  Nun  baute  der  Orden  seine  befestigten  Anlagen,  aber  die 
Siedelungen  lagen  vereinzelt.  Inzwischen  suchten  Masovier  in  der 
Waldwüste  Fuls  zu  fassen,  und  es  kam  deshalb  zwischen  den  masovi- 
schen  Herzögen  und  dem  Orden  wiederholt  zum  Streit.  Der  Herzog 
Johann  von  Masovien  klagt  von  1409  bis  1413  wiederholt,  wie  gewalt- 
thätig  seit  1370  der  Orden  mit  Masoviern  in  unserer  Masurei  um- 
gegangen sei.  Der  Orden  berief  sich  zwar  darauf,  dafs  das  angegebene 
Gebiet  durchaus  ihm  gehöre,  aber  es  ist  doch  aus  den  Verhandlungen 
zu  ersehen,  dafs  eine  sichere  Grenze  zwischen  den  beiden  Mächten 
nicht  bestand.  Sie  ward  erst  1422  im  Friedensschlufs  am  Melnosee 
festgelegt  und  blieb  seitdem  im  allgemeinen  unverändert.  Deutsche, 
Preufsen  und  Masovier  safsen  hier  meist  bei  kulmischem  Recht;  aber 
die  Slawen  waren,  wie  aus  allen  Handfesten  hervorgeht,  in  der  Mehr- 
heit. 1450  wird  dem  Hochmeister  in  polnischer  Sprache  gehuldigt, 
1506  bis  1507  hat  der  Orden  in  Ostpreufsen  „fast  eitel  Polen  zuUnter- 
thanenu.  Man  braucht  seit  dem  16.  Jahrhundert  die  Ausdrücke  Polen 
und  Masuren  für  die  evangelischen  Slawen  des  südlichen  Ostpreufsens 
nebeneinander,  ohne  an  grofse  Unterschiede  zu  denken.  Das  Polnische 
gilt  nur  für  das  feinere,  edlere,  das  Masurische  für  das  gewöhnliche. 
Herzog  Albrecht  läfst  an  „etzlichen  Masuren u  wegen  Wilddieberei  ein 
Strafgericht  ergehen.  Die  Lycker  Fürstenschule  ward  nach  Hennen- 
berger  „für  die  Polen  und  Masuren"  angelegt,  ihre  Visitatoren  be- 
schlief sen  an  ihr  „die  verderbte  masurische  Sprache  abzustellen  und 
dafür  die  reine  polnische  zu  introduzieren".  Dann  kamen  amtlich  die 
„polnischen  Ämter"  auf.  Und  erst  zu  Anfang  des  19.  Jahrhunderts 
wurde  der  Ausdruck  Masuren   allgemeiner.      Toeppen  meint,    er  sei 


188  Die  Masuren. 

wohl  zum  Unterschiede  von  dem  durch  die  polnischen  Tetlungen  neu- 
erworbenen katholischen  Polen  gebraucht  worden.  Er  trifft,  wie  das 
Beispiel  der  Slowinzen  und  Lebakaschuben  beweist,  sicher  das  Richtige. 

III.    Masurische  Wanderungen. 

Bei  der  Bahnstation  Gurnen,  zwischen  Insterburg  und  Lyck,  be- 
ginnen die  polnisch  -  deutschen  evangelischen  Kirchspiele.  Das  land- 
schaftliche Gepräge,  Eeichtum  an  Seen,  Wäldern  und  Hügeln,  tritt 
sofort  scharf  hervor. 

Es  ist  im  Hochsommer,  der  Kornschnitt  ist  vorüber,  die  Gerste 
wurde  eingefahren,  mit  dem  Kranz  zogen  die  Mäher  vor  das  Haus  des 
Bauern.  Das  gegenseitige  Wasserbegietsen  endete  mit  Lärm  und  Lust. 
Aus  den  Kirchen  ertönt  das  mit  Hochgefühl  gesungene  Leiblied  der 
Masuren:  „Die  Felder  sind  schon  weilsu  (Pola  juz  biale).  Üppig 
stehen  Kraut  und  Kartoffeln,  auf  den  Äckern  tummeln  sich  Schweine- 
herden. An  den  kleinen  grünblauen  Waldseen  erheben  sich  Torf- 
Bodenschichten.  Dort  bracht  man  eine  Wiese,  hier  errichtet  man  ein 
schönes  steinernes  Wohngebäude;  neben  der  Stofsner  holländischen 
Windmühle  steht  eines  jener  im  ganzen  Osten  heimischen  Holzhäuser. 
Im  Gersafs  gebaut,  auf  der  einen  Seite  der  Thür  6  m,  auf  der  anderen 
noch  2  m  breit,  hüben  und  drüben  mit  je  einem  Fenster  versehen,  liegt 
es  inmitten  eines  Gärtchens.  Die  Feuerleiter  lehnt  auf  dem  Schindel- 
dach. Im  Inneren  ist  links  neben  dem  Hausflur  die  Wohnstube,  rechts 
hat  man  einen  Wirtschaftsraum  oder  eine  Altsitzerstube  abgegrenzt. 
Selten  schmückt  eine  Holzzier  den  Giebel,  wie  in  Westmasuren.  Spärlicher 
mit  Kiefern  bestandener  Sandboden  wechselt  mit  üppigen  Lupinen- 
feldern. Wo  die  litauische  mit  der  polnischen  Sprache  kämpfte,  hatte 
die  deutsche  den  Vorteil.  Überall  herrscht  sie  hier,  an  allen  Orten  ist 
der  Segen  der  Germanisierung  zu  merken.  Und  radebrecht  man  in 
diesen  Gegenden  alle  drei  Sprachen,  so  ist  doch  unzweifelhaft,  data  aus 
dem  geradebrechten  Deutsch  noch  ein  wohlklingendes,  richtiges  wird, 
östlich  von  Ko wählen  liegt  der  Marktflecken  Mierunsken,  der  in  regem 
Verkehr  mit  dem  litauisch-polnischen  Grenzorte  Filipowo  im  Gouverne- 
ment Suwalki  steht.  Hier  ist  schon  mancherlei  von  den  alten,  immer 
mehr  absterbenden  Gebräuchen  der  Masuren  zu  sehen.  Freilich,  das 
Hauptkennzeichen,  die  masurische  Frauenkleidung  mit  dem  eigentüm- 
lichen Kopfputz  (vgl.  Abb.  61),  ist  selten  noch  anzutreffen.  Das  Familien- 
leben aber  hat  manches  Eigene.  Kirmes  und  Düngerfuhrschmaus  giebt 
es  nicht,  aber  ein  Fest  nach  dem  .Roggenschnitt,  wenn  der  Schnitter,  der 
„den  Letzten tf  bekommen  hat,  Kranz  oder  Krone  zum  Herrn  schafft. 
Das  Wasserbegietsen  findet  in  einigen  Orten  nach  dem  Schnitt,  in 
anderen  nach  der  Einfahrt  statt.  Der  den  Letzten  hat,  wird  begossen; 
aber  in  manchen  Gegenden  begiefsen  sich  Mäher  und  Rafferinnen,  ohne 
an  den  Letzten  zu  denken,  und  wieder  in  anderen  Orten  giefsen  die 


Erntegebräuche.  189 

Kinder  des  Gutsherrn  mit  einem  Wassertöpfchen  nach  den  Kran zbrin gern. 
Die  Herrschaft  giebt  dann  ein  einfaches  Mahl,  aulserdem  Schnaps 
und  Bier,  tanzt  wohl  auch  bei  dem  folgenden  Feste  mit.  Es  ereignet 
sich  aber  auch,  dals  die  Feldarbeiter  das  harmlose  Begiefsen  von  selten 
eines  Pastorensohnes  mit  Geschimpf  nnd  Schlägen  vergalten,  den  alten 
Brauch  als  nicht  vorhanden  kennzeichnen,  aber  ihren  Endschnapa  in 


Katurin  mit  altem  Kopfschmuck.     (Nach  Photographie  von  Echler - Lötzen.) 

Empfang  nehmen  wollten.  In  Eckertsdorf  wiederum  ist  es  vorgekommen, 
data  die  Mäher  ihren  Genossen,  der  den  Letzten  hatte,  so  lange  in  dem 
Dulssee  untertauchten,  bis  er  im  Wasser  erstickte.  Die  Eckertsdorfer 
Russensitte  begnügt  sich  nicht  mit  Besprengen  und  Begiefsen,  sondern 
fordert  Untertauchung.     Der  Taufgebrauch  ist  hier  inafsgebend. 


190 


Die  Masuren« 


Kornblumenkränze  bindet  man  auch  zu  Johanni,  schmückt  damit 
die  Stuben,  sowie  die  Hörner  der  Rinder.  An  demselben  Tage  oder 
vielmehr  Abend  brennt  man  wie  in  Litauen  Ragos,  umwundene  Stangen, 
an,  oder  errichtet  Freudenfeuer  mit  Stroh  und  Teertonnen,  man 
sammelt  Zauberkrauter,  wirft  Orakelkränze  in  die  Bäume  und  singt  die 
eigentümlichen  weichen  Lieder,  deren  Gepräge  die  Mitte  zwischen  den 
litauischen  und  polnischen  hält. 

1.     Rockenlied. 


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dziemy  wi  -  co-rem  zkq-dze-lö,  gdy  kotka  zawarco,  niech  sie,   spiewy 


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wznoso.    Nid  tniejsa  nad  iedwabb',   to       nasza      ro  -  zko  -  sa. 

Wenn  der  Schnee  diese  grünen  Fluren  bleicht,  dann  versammeln  wir 
uns  zu  Rocken.  Wenn  die  Bädchen  schnurren,  lafst  unsre  Gesänge  sich 
erheben.    Der  Faden  sei  feiner  als  Seide,  das  sei  unser  Vergnügen. 


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2.     „Ich  ging  im  Walde.' 


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A      kwia-tu-sek,    wcieniu    stal, 
Blümelein  im     Schatten  stand, 


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spojrzal,        jakoj  o-cki      inial,     o  -  cki    miat,    o-cki   miaJ. 

Sah,  als         ob  es        Äuglein    hätt',    Äuglein  hätt',  Äuglein  hätt'. 


2.  Ghce  go  urwac,  prosi  sie.  2.  Will  es  brechen,  bittet  sehr: 

Ja  ci  zwiednje,  nie  rwij  mie.  „Ich  verwelk  dir,  brich  mich  nicht." 

3.  Wiecem  go  zkorz§kiem  wziöl.      3.  Grub  es  jetzt  mit  Wurzeln  aus, 


Wsadzil,  polal,  az  si§  'joL 


Pflanzt  es,  netzt  es,  bis  es  wuchs. 


4.   DziÄ  w  ogrodku,  prosto  drzwi     4.  Heut  im  Garten  vor  der  Thür, 


Bosnie,  kwitnie,  pachnie  mi. 


Wächst  es,  blüht  es,  duftet  mir. 


(Mitgeteilt  von  B.  Börne r-Jerutten.) 


Volkslieder.  191 

3.    Die  Jungfrau. 

Mägdlein  hütet  im  Thal  die  Herde, 
Bis  der  Abend  sinkt  zur  Erde. 

Treibt  in  der  Ferne  und  kann  nicht  sehn, 
Wie  ihr  die  Stiere  verloren  gehn. 

„Wer  mir  die  Stiere  bringt  zur  Stund, 
Ich  würde  ihn  küssen  aus  Herzensgrund!" 

Hanschen  hört's  und  eilt  zu  Thal, 
Bringt  ihr  die  Stiere  allzumal. 

„„Gieb  mir  zum  Kufs  dein  Mündchen  herluu  — 
„Ach,  ich  fürchte  die  Mutter  so  sehr!" 

„„"Wie  kannst  du  fürchten  die  Mutter  dein? 
Ewig  werd  ich  treu  dir  sein!""  — 

„Ach  meinem  Glauben  ward  schlimmer  Lohn, 
Meine  Wangen  erbleichen  schon!" 

„„Trink  du  Wasser,  dafs  wieder  erglühn, 
Deine  Wangen  in  rosigem  Blühn!a" 

„Und  färb  ich  mit  Bösen  selbst  mein  Gesicht, 
Was  einst  ich  gewesen,  das  werde  ich  nicht!" 

4.    Untreue. 

„HänBchen,  wohin  auf  dem  hellbraunen  Pferd? 
Komm  und  kehre  doch  bei  mir  ein!" 

„Am  Fenster  vorüber,  ich  weile  nicht, 

Es  fangen  mich  sonst  deine  Äugelein!" 

„Du  hieltest  sicherlich  bei  mir  Bast, 
War  deine  Liebe  erloschen  nicht!" 

„Ich  habe  dich  ja  nie  geliebt, 

Das  sag  ich  dir  ins  Angesicht." 

„Du  sagtest  nur  Lügen worte  zu  mir, 
Und  hast  mich  bethört  die  ganze  Zeit. 
Nun  mufs  ich  sterben,  es  bricht  mein  Herz 
Vor  Weh  und  Gram  und  bittrem  Leid." 

5.    Fundgeld. 

„Tier  der  Jahre  dient  ich  treulich  einem  Ackerwirt, 
Selber  weifs  er,  wie  schon  früh  das  Häckselmesser  klirrt.  — 
Alles  that  ich,  weil  fürs  Liebchen  ich  in  Lieb  gelebt. 
Und  wie  Harz  war  mir  mein  Herzlein  fest  an  sie  geklebt. 
Nimmer  wagt  ich  sie  zu  fragen,  ob  sie  gut  mir  sei. 
Ihre  Mitgift  war  zu  stattlich:  Küh  und  Oohsen  zwei, 
Ein  mit  Gold  gezierter  Becher,  auch  ein  Bingelein, 
Eine  Schürze,  silberfädig,  buntgewoben  fein.  — 
Sieh,  da  trag  sich  auf  der  Wiese  einst  ein  Unfall  zu, 
Als  mit  Jakob  ich  geweidet  draufsen  Ochs  und  Kuh. 
Außer  Atem  kam  gesprungen,  sie,  mein  süfses  Lieb: 
„Stachus,  hilf,  die  Herden  sprengte  mir  der  Wolf,  der  Dieb. 
Stachus,  ach,  ich  sterb  vor  Ängsten."     Und  da  fragte  ich: 
„Welches  Fundgeld  willst  du  geben?"  „Ich,  ich  geb  dir  mich! 
Willst  du,  nimm  mich  und  den  frischen  Kranz  von  Bosmarein, 
Oder  willst  du  mehr  von  einem  armen  Mägdelein?" 


192  Die  Masaren. 

Dies  Lied  kommt  in  allen  Sprachen  und  Dialekten  des  slawisch- 
deutschen  Westens  vor,  es  entstammt  der  Zeit,  da  der  Wolf  noch  ein 
vielgesehener  Gast  der  masurischen  Wälder  war.  Die  schalkhafte 
Frage  nach  dem  Fundgeld  ist  für  die  dortigen  Verhältnisse  nicht  un- 
zart gemeint  und  kehrt  in  Dainos  und  deutschen  Volksliedern  öfter 
wieder.  Eine  andere  Fassung  des  Liedes  endet  mit  der  Untreue  des 
Geliebten  und  der  Klage  des  verlassenen  Mädchens.  An  solchen 
Tönen  ist  die  masurische  Liederdichtung  reich,  wie  auch  das  folgende 
zeigen  mag. 

Mägdelein  klagte  sehr,  wo  doch  ihr  Häuschen  war, 
Stand  drin  im  Gärtelein:   „Kam  doch  das  Hänschen  mein!* 
Ach,  da  bemerkt  sie  ihn  zu  einer  andern  ziehn, 
.  Weinte  das  Mägdelein,  ward  ihr  das  Herz  zu  Stein. 
Kummer  erfüllt  den  Sinn,  stirbt  voller  Sehnsucht  hin. 
Wo  sich  die  Birke  wiegt,  drüben  das  Mägdlein  liegt. 
Trauer  und  Klaglaut  klingt,  dort,  wo  das  Vöglein  singt. 

An  Gesang  sind  auch  die  übrigen  Festtage  reich.  —  Zu  Pfingsten 
setzt  man  Birken  ins  oder  vors  Haus,  zu  Ostern  färbt  man  Eier.  Das 
Flachsbrechen  findet  gemeinsam  statt,  und  zwar  nimmt  es  die  erwach- 
sene Dorf jugend  erst  einen  oder  zwei  Tage  bei  dem  ersten,  dann  bei 
dem  zweiten  Bauer  vor,  bis  alle  durch  sind.  Der  Masur  hat  ein  mehr- 
deutiges Sprichwort  vom  Flachs,  das  lautet:  „Je  länger  man  fährt, 
desto  länger  wächst  der  Flachs. u  Hier  seien  noch  einige  andere  Sprich- 
wörter erwähnt:  Wie  der  Verstand,  so  die  Seligkeit.  Verheilsung 
tröstet,  den  Dummen  erfreut  sie.  Nicht  immer  ist  St.  Johannis 
(24.  Juni,  Festtag).  Bartholomäus  (24.  August)  habe  den  Samen. 
(Man  säe  um  diese  Zeit.)  Michael  (29.  September)  stöfst  die  Leute 
hinaus  (Wohnungswechsel).  St.  Adalbert  (24.  April)  des  Ochsen  Freude 
(Ruhetag).  Zu  St.  Matthäi  (24.  Februar)  legen  die  Gänse  Eier.  Zu 
St.  Gregor  (12.  März)  geht  der  Winter  zum  Meer.  Mit  der  Grütze 
ängstigt  man  die  Kinder.  Sag  nicht  hopp,  wenn  du  nicht  über- 
gesprungen bist.  —  Der  Glaube  an  den  Kobold  (Kolbuk)  *)  ,  an  die 
kleinen,  weilsen  Leutchen  (Graumännchen),  an  den  schwarzen  Mann, 
an  Wassernixen,  an  Mar,  Alp  und  Roggengespenst,  an  Herzwurm  (Macica) 
und  Werwolf,  an  das  Todankündigen,  an  Vampire  und  bösen  Blick, 
an  die  Versprecher,  Behexer  und  Verzauberer  ist  noch  allgemein,  und 
mittels  der  Bibel  und  des  Erbschlüssels  will  man  auch  hier  Diebe  ent- 
decken, mit  Zauberformeln  Krankheiten  vertreiben  und  Bösewichter 
festmachen.  —  Hinterm  Wirbelwind  steckt  der  wilde  Jäger  und  die 
Windsbraut,  hinterm  Irrlicht  und  Flammenschein  luttert  Geld.  Der 
Glaube  an  geheimnisvolle  Mächte,  die  das  menschliche  Leben  in  allen 
Einzelheiten  beeinflussen,  herrscht  weit  und  breit.     Das  Tagewählen» 


l)  Vergl.  auch  Sembrzycki:  Über  masurische  Sagen.  Altpr.  Hon. 
23,  601  bis  612.  —  Sitten  und  Gebräuche,  ges.  in  Burdungen.  Altpr.  Mon. 
21,   662  bis  673.  —  Heyer:  Masurische  Volkslieder.     Altpr.  Mon.  1877,  1879. 


Aberglauben.    Baudos.  193 

das  Beseitigen  unheilbedeutender  Zeichen  beim  Beginn  eines  Werkes, 
das  Ausdeuten  gleichzeitiger  Zufälligkeiten  und  noch  andere  ähnliche 
Arten  des  Aberglaubens  fehlen  in  Masuren  ebensowenig  als  anderwärts. 
Auch  Sonne  und  Mond  üben  im  Glauben  des  Volkes  bedeutenden  Ein- 
flute auf  die  Menschen  ein.  Eine  Sache,  die  gefördert  werden  soll, 
wird  man  immer  bei  zunehmendem  Mond  vornehmen,  eine  allmählich 
zu  endende  bei  abnehmendem  Lichte.  —  In  den  Geschichten  und  Er- 
zählungen, die  in  den  Spinnstuben  heimisch  sind,  spielt  der  dumme 
Hans,  der  sich  schlief slich  „schlauer  als  der  Teufel u  entpuppt,  eine 
grofse  Rolle,  List  und  Schlauheit  sind  gepriesene  Eigenschaften.  Von 
harmloseren  Erzählungen  sind  die  verschiedenen  Tiergeschichten,  voran 
die  Vogel  hoch  zeit,  zu  erwähnen. 

Ähnliche  Freuden  wie  das  Flachsbrechen  und  Spinnen  gewährt 
die  Fastnacht,  nur  ruht  an  dieser  jede  Arbeit.  Am  Fastnachtsdienstag, 
das  ist  der  Feiertag  der  Herrschaft,  bäckt  man  Krapfen,  am  Mittwoch, 
dem  Feiertag  der  Bauern,  Puffer.  Da  besuchen  sich  die  Bauern  gegen- 
seitig und  schmausen.  In  den  Zwölf  nachten  herrschen,  wie  überall, 
eigentümliche  Gebräuche.  Der  Spinnrocken  mufs  ruhen,  es  darf  nichts 
gedreht  werden,  die  Bäume  werden  mit  Strohseilen  umwunden,  Kreuze 
werden  an  die  Thürsch wellen  gemacht;  es  wird  Blei  gegossen,  und  in 
eine  Wasserschüssel  wirft  man  Holzkohlenstückchen  und  dreht  die 
Schüssel.  Kommen  die  Stückchen  zusammen,  so  verheiratet  sich  der 
Orakelfrager  in  dem  Jahre.  —  Nach  dem  6.  Januar  beginnt  die  Spinn- 
stube. —  Die  Taufe,  zu  der  in  der  Regel  vier  Paten  gezogen  werden, 
dauert  zwei  Tage,  ebenso  die  Hochzeit.  Der  Hochzeitsbitter  erscheint 
hoch  zu  Rofs  und  ladet  den  einen  Tag  zur  Braut,  den  anderen  zum 
Bräutigam  ein.  Der  Totenschmaus  findet  noch  so  ausgeprägt  wie 
möglich  statt.  Man  glaubt  der  Ehre  des  Toten  ein  ganz  besonderes 
Fest  schuldig  zu  sein.  Das  Gejammer  und  Geklage  am  Todestage  und 
vor  der  Beerdigung  steht  im  lebhaften  Gegensatze  zum  darauf  folgenden 
Schmaus.  Während  der  Totenschau  brennen  beständig  Lichter,  und 
alle  Verwandten,  Freunde  und  Nachbarn  kommen,  klagen,  weinen  und 
sehen,  wie  schön  die  Leiche  ist.  Die  im  frühen  Mittelalter  aus  jener 
Gegend  gemeldete  Rauda  der  Angehörigen  lautet:  „Ach,  warum  bist 
du  nur  gestorben  und  von  uns  gegangen,  du  hattest  es  doch  so  gut,  es 
fehlte  dir  an  nichts,  du  hattest  eine  so  gute  Frau  und  einen  Stall 
voller  Rinder  u.  s.  w.tf ;  diese  und  ähnliche  Raudos  durchhallen  jeden 
Trauerraum. 

Beim  Tode  einer  Mierunskener  Bauerntochter  schlachtete  man 
kürzlich  ein  Rind,  zwei  Schafe  und  zwei  Schweine;  Bier,  Schnaps  und 
Brot  waren  in  Fülle  vorhanden.  Man  meinte,  das  Mädchen  müsse 
sein  Erbteil  bekommen. 

Die  erste  Stadt  im  masurischen  Grenzgebiet  ist  Oletzko  oder  Marg- 
grabowa,  eine  Gründung  des  Herzogs  Albrecht,  der  der  Stadt  1560 
den  Namen  gab.     Wie  das  Litauische  aus  Goldap,  so  ist v das  Masuren* 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  J3 


194  Die  Masuren. 

tum  aus  Oletzko  fast  vollständig  verschwunden.  Marggrabowa  liegt 
an  dem  langen  Oletzkoer  See  und  ist  eine  alte  Ordensburg,  in  der  An- 
lage wie  Allenstein,  Gnesen,  R.  Crottingen.  Auf  dem  Burgberge  erhebt 
sich  die  Kirche.  Rund  um  den  Berg  herum  zieht  sich  ein  breiter  Ring* 
jenseits  dessen  die  eigentliche  Stadt  mit  einem  Häuserkreis  und  strahlen- 
förmig vom  Marktring  ausgehenden  Strafsen  liegt.  Auf  dem  Ring 
finden  die  grolsen  Wochenmärkte  statt,  zu  denen  die  Bauern  der 
ganzen  Umgegend  erscheinen.  Die  kleinen  zierlichen  Häuser  in  den 
Gassen  stehen  meist  mit  dem  Giebel  nach  vorn,  haben  Seiteneingang 
und  Hausstufen.  Die  weilsgetünchten  starken  Mauern  sind  mit  welligen 
Dachziegeln  gedeckt.  Die  Treppe  im  Erdgeschols,  unweit  des  Bausflurs, 
führt  auf  einen  kleinen  Dachkammerraum. 

Marggrabowa  mit  seinen  eingepfarrten  Dörfern  hat  etwa  10  000 
Einwohner,  darunter  drei  Fünftel  Deutsche.  Aulser  der  evangelischen 
Kirche  hat  es  eine  katholische.  Die  kleine  Gemeinde  ist  aber  doch  noch 
stärker  als  die  100  Seelen  zählende  des  Kirchspiels  Mierunsken,  das 
im  übrigen  dieselben  Verhältnisse  bei  halber  Einwohnerzahl  aufweist. 
Die  kleinen  Landstädte  und  Marktflecken  sind  trotz  ihrer  geringen 
Bewohnerzahl  des  regen  Marktverkehrs  wegen  weit  wichtiger  als 
gleich  grolse  Städte  im  Industriegebiete  Mitteldeutschlands.  Marg- 
grabowa hatte,  wie  fast  ganz  Masuren,  1656  unter  den  einfallenden 
Tataren  sehr  zu  leiden,  auch  der  Beginn  des  Siebenjährigen  Krieges 
war  hier  blutiger  und  schrecklicher  als  im  übrigen  Ostpreufsen.  Später 
blieb  die  Gegend  von  gröfseren  Drangsalen  verschont. 

Ein  wichtiges  Kennzeichen,  wie  weit  sich  eigentümliches  Volkstum 
gegenüber  der  von  Bazaren  und  Fabriken  begünstigten  Gleichmacherei 
erhalten  hat,  bieten  die  Kirchhöfe  mit  ihren  Grabplatten  und  Inschriften. 
Mögen  die  letzteren  auch  deutsch  sein;  wie  kehrt  sich  aber  in  Glowitz, 
Schwarzort,  Bitehnen,  D.  Crottingen,  Eckertsdorf  Eigenartiges  hervor 
gegenüber  den  städtischen  Fabrikserzeugnissen  auf  den  Gräbern  aller 
deutschen  Städte  und  der  meisten  Dörfer.  Auch  Oletzko,  Lyck  und 
andere  masurische  Orte  bieten  keine  Ausnahmen;  dieselben  steinernen 
Grabplatten  und  schwarzen  Eieenkreuze  wie  überall.  Einige  Grab- 
inschriften aus  Oletzko  lauten:  „Der  Glaube,  den  mich  Gott  gelehrt, 
die  Hoffnung,  die  mein  Herz  verehrt,  und  Liebe,  welche  ewig  währt, 
die  leiten  mich  an  treuer  Hand,  durch  Welt  und  Zeit  ins  Vaterland. "  — 
„Das  Höchste,  was  ein  Mensch  auf  Erden  sich  erwirbt,  das  ist  ein  Grab, 
betaut  mit  Liebesthränen."  —  „Dir  ist  das  beste  Los  beschieden, 
drum  ruhe  sanft  in  Gottes  Frieden."  In  Lyck  las  ich  folgende:  „Dort 
auf  jenen  lichten  Höhen  giebt  es  ein  frohes  Wiedersehen."  —  „Zu  früh 
für  uns  entschliefest  du,  Gott  geb  uns  Trost,  dir  süfse  Ruh." 

Vier  Stunden  südöstlich  von  Marggrabowa,  ebensoweit  nordöstlich 
von  Lyck,  liegt  Kalinowen,  der  Wirkungskreis  Pogarzelskis. 

Lyck,  die  Hauptstadt  Masurens,  spiegelt  sich  in  einem  lang- 
gestreckten See.  in  den  sich  der  Vogelsche  Garten  herrlich  halbinselartig 


Lyck.  195 

vorschiebt.  Lyck  ist  eine  Ordensanlage,  ward  1398  gegründet,  hat 
10  000  Einwohner  und  besitzt  Garnison,  verschiedene  höhere  Lehr- 
anstalten, Behördensitze  und  einen  reichen  Marktverkehr.  Das  Kirchspiel 
hat  14  000  Einwohner,  von  denen  ziemlich  die  Hälfte  deutsch  ist.  — 
Als  der  Komtur  von  Balga,  Ulrich  von  Jungingen,  das  Schlots  Lyck 
inmitten  der  Waldwüste  baute,  war  noch  lange  nicht  an  eine  Stadt  zu 
denken.  Aus  einzelnen  Ansiedelungen  entstand  schlielslich  ein  Dorf 
und  später  die  Stadt.  1472  finden  wir  eine  Pfarre  hier.  Paul  Speratus 
sorgte  mit  Beginn  der  Reformation  für  eine  neue,  schönere  Kirche;  in 
ihr  ward  1551  das  erste  Mal  gepredigt.  Der  Gottesdienst  war  damals 
der  rein  masurischen  Bevölkerung  wegen  rein  masurisch,  erst  33  Jahre 
später  verstand  man  sich  auch  zu  deutschen  Predigten.  Als  1656 
nach  der  Schlacht  bei  Prostken  die  Tataren  einfielen,  wurde  die  Stadt 
niedergebrannt  und  die  Bewohnerschaft  gefangen  fortgeführt.  1710 
wütete  die  Pest,  1757  der  Krieg,  Ende  des  Jahrhunderts  aber  blühte 
die  Stadt  unter  dem  trefflichen  General  Günther  in  jeder  Weise  auf. 
Um  jene  Zeit  lebte  Lycks  bedeutendster  Sohn,  der  Geschichtschreiber 
Baczko. 

Lyck  hat  viel  Verkehr,  aber  es  mangelt  die  Industrie.  Als  ich 
abends  10  Uhr  die  Stadt  betrat,  brannte  nirgends  eine  Straßenlaterne; 
still  und  ruhig  lagen  die  Gassen,  nur  zuweilen  tönte  ein  Trompetensignal 
aus  der  Kaserne.  Mit  Interesse  verfolgte  ich  anderen  Tages  das  Leben 
und  Treiben  auf  dem  Marktplatze  und  auf  der  Hauptstralse.  Kleine, 
gurtgeschirrte,  braune  Rosse  an  unschönen  Wagen  mit  niedrigem,  oben 
sehr  breitem,  vierseitigem  Korbe  kamen  von  allen  Landstraßen  daher- 
getrabt.  Die  Landleute  stellten  die  Wagen  auf  der  Hauptstrafse  dicht 
nebeneinander  auf,  und  zwar  auf  beiden  Seiten  so,  dafs  die  unaus- 
geschirrten  Pferde  nach  der  Häuserseite,  die  Wagen  nach  der  Straf sen- 
mitte  zu  standen.  Die  Bauern  verblieben  als  Verkäufer  auf  dem  Wagen, 
der  Käufer  tritt  von  der  Hinterseite  hervor.  Von  dem,  einem  Kälberwagen 
ähnlichen  Gefährt  nimmt  der  Besitzer  einen  Ständerkasten  mit  einem 
Gemengsei  von  Heu,  Gras,  Klee,  Stroh,  Spreu  und  stellte  ihn  vor  das 
Pferd.  Die  weifse,  grofsdachige  Mütze  auf  dem  Kopf,  den  langen, 
grauen  Feldrock  oder  die  kurze  Joppe  zugeknöpft,  lange  Stiefel  an 
den  Fülsen,  wartet  er  eine  Weile  und  geht  dann  in  den  Krug  oder  in 
den  Geschäftsladen.  Währenddessen  verkauft  die  Ehehälfte  die  Ladung: 
Sauerkirschen,  das  Liter  zu  10  Pfennigen,  Butter,  Eier,  Geflügel, 
Küchengemüse. 

Mit  ihren  weifsen  Kopftüchern,  langen,  dunkelfarbigen  Röcken, 
dunkelbunten  Leibchen,  buntkantigen  Schürzen  unterscheiden  sie  sich 
wenig  von  den  deutschen  Bauernfrauen  überhaupt;  viel  mehr  von  den 
modisch  gekleideten  feinen  Stadtdamen. 

Auch  Schweine  und  Hühner,  Torf  und  Holz,  Heu  und  Kartoffeln, 
Fleisch  und  Obst  wird  feilgeboten.  Haben  die  Bäuerinnen  ihren  Vorrat 
verkauft,  so  gehen  auch  sie  in  die  Bazare  und  Verkaufsläden,  Gegen- 

13* 


196  Die  Masaren. 

stände  einhandeln.  Da  giebt  es  gleich  auf  dem  Markte:  Muschelkörbe 
und  Besen,  Kleider  und  Hüte,  Küchengeschirr  und  Möbel,  Zierat  und 
Schmuck.  Und  an  den  Handwerkerhäusern  bekundet  ein  Schild  mit 
Brezeln  den  Bäcker,  mit  Fleischstücken  den  Fleischer,  mit  Sarg  den 
Tischler,  mit  Schuhen  den  Schuhmacher,  mit  Mütze  den  Mützenhändler. 
Ein  Bad  auf  einer  Stange,  mit  Gläsern  behangen,  kündet  den  fleilsig 
besuchten  Reihausschank,  ein  paar  hebräische  Zeichen  den  Treffpunkt 
der  Juden  an.  Neben  dem  zuweilen  angebrachten  „Schritt fahren"  steht 
po  woli,  wie  auf  manchen  Grabplatten  die  Bezeichnungen  für  geboren 
und  gestorben  in  polnischer  Sprache  zu  lesen  sind;  sonst  sieht  man 
deutsche  Strafsenschilder,  deutsche  Anschläge.  Die  masurische  Sprache 
selbst  ist  mehr  Familiensprache.  Sie  tritt  auf  dem  Markte  zurück  und 
macht  dem  neugelernten  Hochdeutsch  Platz.  Dies  klingt  mild  und 
einschmeichelnd,  fast  unterwürfig,  und  ganz  anders  wie  die  rauhe  un- 
metallische südwestlichere  Mundart.  Sie  tönt  singend,  der  letzte  und 
vorletzte  Ton  sind  eine  Sexte  voneinander  entfernt.  Die  dumpfe  ost- 
preulsische  Aussprache  (a  für  e):  Barg,  meine  Harren,  hat  etwas 
Patriarchalisches  angenommen.  —  Durch  die  Stadt  ziehen  die  Ulanen 
mit  Gesang  zum  Feldmarsch;  hier  sehen  wir  Kinder  in  die  Beeren 
gehen,  dort  fahren  Bauernwagen  aufs  Dorf  zurück;  an  die  Pumpbrunnen 
klebt  man  Ankündigungen.  —  In  den  Buchläden  sieht  es  wie  in  allen 
mittleren  Städten  aus.  Ein  paar  Gymnasiastenschulbücher,  einige  Probe- 
nummern,  Geschäfts-  und  Gesangbücher,  Patenbriefe  und  Ansichts- 
postkarten decken  das  Bedürfnis  der  Leute,  selbst  provinzielle  Literatur 
fehlt  fast  ganz. 

Von  Lyck  geht  der  Weg  durch  fruchtbare  Felder  nach  Johannis- 
burg.  Diese  am  Pissekflusse  liegende,  1345  angelegte  Burg  ist  erst 
im  16.  Jahrhundert  Stadt  geworden  und  ist  die  einzige,  die  dem 
Tatareneinfall  erfolgreich  begegnete.  Heute  sind  die  Festungswerke 
nicht  mehr  sichtbar.  Seit  der  Aufgabe  der  Garnison,  deren  Befehls- 
haber 1797  bis  1799  York  war,  hat  die  Stadt  ihre  Bedeutung  verloren. 

Sie  zählt  heute  etwa  3000  Einwohner,  das  Kirchspiel  12  000,  von 
denen  ein  Drittel  Deutsche  sind.  Als  die  Philipponen  im  Johannis- 
burger  Forst  Fufs  fafsten,  bestand  für  deren  geistige  Bedürfnisse  eine 
russische  Druckerei  in  der  Stadt;  jetzt  ist  sie  eingegangen. 

Unsere  westliche  Fahrt  führt  uns  nun  durch  die  grofse  Johannis- 
burger  Heide,  die  ziemlich  1000 qkm  grols  ist  und  14  Oberförstereien 
umfatst.  In  Rudczany  verlassen  wir  die  Eisenbahn,  um  diesen  merk- 
würdigen Ort  zu  betrachten,  der  uns  mitten  im  Urwalde  wie  ein  Stück 
„im  wilden  Westen  Nordamerikas"  anmutet.  Der  Ort  ist  herrlich 
zwischen  dem  Nieder-  und  dem  Guszinsee  gelegen.  Wie  es  hier  vor 
Regulierung  der  Seen  und  vor  Einführung  der  Bahn  ausgesehen  haben 
mag,  davon  zeugen  noch  einige  der  ärmsten  masurischen  Holzhäuschen. 
Auch  der  Bahnhof  ist  noch  einfach  und  nicht  vom  Puppener  oder 
Schwentainer  unterschieden,  in  welch  letzterem  Orte  er  den  Glanzpunkt 


Kudczany.     Nieden. 


197 


Abb.  62. 


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bildet.  In  Rudczany  aber  liegt  gegenüber  dem  Bahnhof  schon  ein 
richtiges  Touristenhotel  mit  allen  Bequemlichkeiten.  Daneben  baut 
man  steinerne  Häuser,  und  unweit  der  Holzschneidemühlen  und  Bretter- 
schrägen  glänzen  inmitten  zierlicher  Gärten  die  schönsten  Villen.  Ein 
Ausflug  in  den  Forst  führt  uns  in  die  echte  Masurei.  Wir  wandern 
auf  sandigem  Wege  durch  den  Wald  nach  Nieden.  Kiefern  und  Laub- 
bäume stehen  durcheinander,  Wacholdersträuche,  wie  kleine  Cypressen 
aussehend,  machen  das  niedere  Holz 
aus.  Die  Menge  der  lockenden  Erd- 
und  Schwarzbeeren  wird  von  den 
Dörflern  wenig  beachtet.  Stein-  und 
Holzfahrer  begegnen  uns,  bald  wird 
der  Wald  lichter,  wir  sehen  Felder 
mit  jenen  eigentümlichen  Stroh- 
feimen (Abb.  62),  wie  sie  in  ganz 
Ostdeutschland  heimisch  sind.  In 
die  vier  Winkelpunkte  eines  etwa 
8  m  langen  Quadrates  sind  8  m  hohe 
Holzstämme  eingerammt.  Ein  Holz- 
oder Schindeldach  ist  so  befestigt, 
dafs  es  auf  und  nieder  geschoben 
werden  kann  und  immer  auf  dem 
Stroh  aufliegt.  Das  auf  Berg  und 
Hügel,  im  Thal  und  am  See  ge- 
legene Dorf  Nieden  breitet  sich  vor 
unseren  Augen  aus.  Alle  Häuser 
sind  von  Holz,  denn  das  ist  hier  das 
billigste  Baumaterial;  meist  sind 
acht  bis  zehn  glattgehobelte  Stämme 

im     Gersats     übereinander     gelegt  Giebelfenster  in  Munnm. 

Am  Schindeldach  prangt  als  Giebel- 
zier ein  Kreuz,  Stern,  Gesicht,  Reichsapfel,  Eichen blatt,  eine  Krone 
oder  ein  einfaches  Brett  (vergl.  die  Abbildungen  63,  64  und  70), 
Vor  den  gedielten,  reinlichen  Häusern,  denen  die  Wolkenvorhänge 
selten  mangeln,  ist  ein  Gärtchen  mit  Kartoffeln,  Bohnen,  Mohn 
(zu  Mohnstriezeln),  Blumen  gelegen,  ein  Bretterzaun  umgiebt  es.  — 
Das  Gerüst  der  Heufeime  besteht  aus  drei  pyramidenartig  zu- 
sammengestellten Stangen.  Die  Feldeinfassung  ist  einfach;  in  Ent- 
fernung von  etwa  8  m  sind  ll/2  m  hohe  Pfähle  eingesetzt,  die 
mit  zwei  Latten  oder  Schwarten  untereinander  verbunden  sind.  Bei 
den  Zugängen  stehen  Zwieselpfähle  enger,  und  man  kann  aus  den 
Gaffeln  die  Latten  herausnehmen.  Auf  den  Wiesen  grünt  üppiger 
Klee,  die  Sommersonne  liegt  über  der  Flur;  Königskerzen  und  Pech- 
nelken, Glockenblumen  und  Fingerhut,  Katzenpfötchen  und  Löwenzahn, 
Klee  und  Schafgarbe,  Gänseblume  und  Rainfarn  färben  den  Wiesen- 


Masurischer  Strohspeicher. 

a  b  steinerner  Unterbau ,  4  ra  lang 
und  breit.  —  a  Raum  für  Wagen 
und  Gerät.  —  b  Kuhstall.  —  c  an- 
gebauter hölzerner  Schuppen.  — 
d  6  m  hohe  Holzstämme  mit  auf- 
schiebbarem ,  pyramidenförmigem 
Dach. 

Abb.  63. 


198 


Die  Masuren. 


teppich.  An  Kartoffelfeldern  vorbei  gelangen  wir  an  den  idyllischen 
Niedersee.  Inmitten  prächtiger  Laub-  und  Nadelwaldungen  gelegen, 
zieht  sich  dieser  sichelförmig  mehrere  Kilometer  lang  durch  den  Forst. 
Die  gewaltige,  ungestörte  Ruhe,  die  grüne,  blühende  Umgebung,  die 
malerischen  Wald  in  sein  machen  den  fischreichen  See  zu  einem  beliebten 
Ausflugsorte.  Im  Sommer  befährt  ein  Dampfer  allwöchentlich  den  See. 
Die  Fischerei,  die  sich  besonders  auf  Maränen  erstreckt,  ruht  in  den 
Händen  eines  reichen  philipponi sehen  Pächters,  der  den  gewonnenen 
Segen  in  die  Umgegend  und  nach  Polen  verkauft.  Nach  Norden  steht 
der  Niedersee  durch  eine  Schleuse  mit  dem  Guszinsee  in  Verbindung, 
an  dem  das  freundliche  Guszianka  mit  seinen  Schneidemühlen  liegt. 
Unter  jenen  Königseichen  weilte  einst  Friedrich  Wilhelm  IV.  und  er- 

Abb.  64. 


Masuriflche  Giebelzier  in  der  Sensburger  Gegend. 

freute  sich  der  lieblichen  Gegend.  Ein  Ausflug  in  die  Philipponen- 
dörfer,  jene  eigentümlichen  russischen  Kolonieen,  die  vor  60  Jahren  wie 
ein  Paradies  aus  der  Waldöde  entstanden,  bringt  viele  Merkwürdig- 
keiten. Ein  Holzfahrer  nimmt  mich  mit  auf  sein  schütterndes  Gefährt 
und  erzählt  mir,  wie  dereinst  hier  alles  undurchdringlicher  Wald  ge- 
wesen sei,  wie  dann  unter  Friedrich  Wilhelm  IV.  jene  russischen  Siedler 
kamen,  denen  Ausübung  ihres  vom  griechisch-katholischen  nur  wenig 
abweichenden  Glaubens  zugestanden  ward.  Sie  legten  auf  die  Adiaphora 
aber  einen  solchen  Wert,  dafs  Streitigkeiten  unvermeidlich  waren.  In 
der  Nähe  sah  ich  ein  seltenes  Naturschauspiel.  Ein  3  bis-  4  m  hoher 
und  breiter  Stein  ist  in  der  Mitte  durchsprengt;  eine  Linde  hat  sich, 
die  Spalte  erweiternd,  ihren  Weg  gebahnt,  hat  das  Licht  erreicht  und 
den  Stein  durchwachsen.  Der  Stein  ist  ein  erratischer  Block,  den  die 
skandinavischen  Gletscher  in  der  Eiszeit  nach  Masuren  beförderten. 

In  der  Umgegend  von  Weifsuhnen   und  von  Lyck  spielen  auch 
die  Novellen  Skowronneks.    Wie  Wiehert  die  Litauer,  so  hat  Skowronnek 


Charakter.  199 

die  Masuren  mit  Meisterschaft  gezeichnet.  Sie  haben  beide  mehr 
die  Schattenseiten  ihrer  Völker  gesehen,  aber  sie  sind  doch  Künstler 
genug,  den  Hintergrund  getreulich  abzumalen.  Und  Skowronnek  hat 
ja  Beine  Jugend  im  Masurenlande  zugebracht  (Fritz  Skowronnek, 
Masurenblut,  1899.  —  Polska  Maria,  1888  etc.).  Da  sehen  wir, 
wenn  wir  seine  Novellen  lesen,  den  alten  wackeligen  Wegweiser  an  der 
Stratsengabelung.  Die  Kinder  machen  daselbst  Kreise  oder  Kaulchen 
und  spielen  Klippe  oder  schlagen  an,  —  um  Knöpfe.  Wer  kleine 
Hände  und  kleine  Spannen  hat,  verliert  natürlich  leichter,  und  alle 
feinen  vergoldeten  Glücksknöpfe,  die  das  30 fache  der  gewöhnlichen 
gelten ,  gehen  flöten.  Der  Knabe  bekommt ,  da  er  die  Knöpfe  von  den 
Kleidern  abgeschnitten  hat,  zu  Hause  noch  den  Strick  zu  kosten. 
Dann  macht  man  Räuber  und  Soldaten  oder  Indianerkampf  in  den  be- 
nachbarten Wäldern,  fischt  auch  und  legt  Reusen.  Mit  zärtlicher 
Liebe  hängen  die  erwachsenen  Kinder  an  den  Eltern,  selbst  wenn  sie 
Geld  zu  Schnaps  von  den  Kindern  beanspruchen  und  von  ihnen  ernährt 
sein  wollen.  Die  Alten  suchen  die  Arbeit  gern  zu  meiden,  gehen  lieber 
als  Schäfer  mit  Schalmei  und  Klingerstock  oder  sitzen  am  Rande  und 
singen  geistliche  Bettellieder  um  Geld,  Speck,  Schnaps,  Brot.  Der 
Schnaps  ist  natürlich  eine  Hauptlabe;  jung  und  alt,  Mann  und  Weib 
trinken  ihn  in  Masse,  denn  „Gott  hat  ihn  geschaffen,  und  weshalb  ist 
der  Winter  so  kalt  und  der  Weg  so  weit?**  Holz-  und  Felddiebstahl 
ist  keine  Sünde  und  ein  paar  Wochen  im  „ roten  Haus"  keine  Schande. 
Die  Subalternbeamten  sind  kleine  Götter  und  dünken  sich  gleich  den 
alten  Panen  wie  Herren  über  Leben  und  Tod,  weniger  die  „Herren  Wohl- 
thäter".  Aber  der  Masur  weifs  sich  zu  helfen.  Mit  einer  slawischen 
Unterwürfigkeit  küfst  er  die  Hand  des  Herrn  Wohlthäters  und  thut 
ganz  zerknickt  und  bittet  schliefslich  doch  um  eine  Wohlthat  und  dreht 
dann  hinterm  Rücken  dem  Herrn  Wohlthäter  eine  Nase,  maust  ihm 
seinen  Hund,  verkauft  das  dem  Herrn  gestohlene  Holz  und  kommt  den 
anderen  Tag  mit  genau  derselben  Unterwürfigkeit  zum  Herrn  Wohl- 
thäter, und  auch  vier  Wochen  danach  wieder,  nachdem  er  gesessen  hat. 
In  seiner  bilderreichen  Sprache  häuft  der  Masur  Sprichwort  auf  Sprich- 
wort und  dichtet  Redensart  auf  Redensart  mit  den  anheimelnden  Ver- 
kleinerungssilben, mein  Gottchen,  mein  Pferdchen.  Sein  ganzes  dürftiges 
Wissen  ist  eigentlich  nur  eine  ziemliche  Menge  Schlauheit  und  Unver- 
frorenheit, aber  er  hält  sich  für  hoch  erhaben  gegenüber  dem  Polen  von 
drüben  her;  er  flieht  niemals  hinüber,  wohl  aber  kommt  mancher  von 
drüben  zu  ihm.  Das  junge  Mädchen  wird  wie  die  Blume  verehrt,  das 
alte  Weib  gescholten,  geschlagen,  scheufslich  behandelt  und  mit  Arbeit 
belastet.  Aber  das  alte  Weib  ist  schlau  und  witzig  genug,  mit  dieser 
Thatsache  zu  rechnen,  sie  weifs  ihren  Vorteil  trotzdem  zu  ziehen,  ein 
Kleid  zu  erangeln,  unbeobachtet  zu  faulenzen,  die  Kohlen  für  sich  aus 
dem  Feuer  holen  zu  lassen  und  —  Schnaps  zu  trinken.  Für  eine 
Beleidigung  würde  es  die   alte  Jungfer  ansehen,    kein  Kind  in   der 


200  Die  Masuren. 

Jagend  gehabt  zu  haben,  im  Gegenteil,  „einen  Jungen  Edelmann"  und 
„ich  bin  doch  nicht  etwa  so  hälslich  gewesen,  dals  mich  keiner  gemocht 
hatte".  Da  ziehen  sie  vor  uns  vorüber:  das  Nähmädchen,  die  allmäh- 
lich in  allen  Familienklatsch  und  in  alle  Familiengeheimnisse  der  klein- 
städtischen Gesellschaft  eingeweiht  wird  und  dem  geistigen  Hochmut 
und  der  Cliquenwirtschaft  ihrer  Brotgeber  ebenso  gewachsen  ist  wie 
deren  Prüderie;  die  alte  Bettelfrau  mit  der  Schnapsflasche  im  Brotkorb, 
die  sofort  zu  singen  aufhört,  wenn  der  Vorübergehende  keinen  geber- 
haften Eindruck  erweckt;  der  tödlich  beleidigte  Vater,  der  nur  im  Mord 
des  Todfeindes  die  rechte  Rache  sieht;  die  Sekte  des  Gromadki  und 
der  Wassertrinker,  die  mit  ihren  guten  Grundsätzen  mehr  Schaden  als 
Nutzen  anrichten  und  den  alten  Adam  nicht  einmal  in  ihrer  eigenen 
Haut  mit  allen  Sünden  und  bösen  Lüsten  ersäufen  können;  der  ver- 
bummelte Akademiker,  der  hülfbereite  Oberförster,  die  kulturbringenden 
Chausseebauer,  der  milde  Herr  Pastor,  der  nie  die  Hoffnung  aufgiebt» 
Wir  sehen  die  undurchdringlichen  Wälder,  durchheult  von  der  Winds- 
braut („der  Eilung"),  die  fischreichen  Seen,  wir  sind  zugegen  beim 
Erntefest.  „Es  war  doch  von  alters  her  Brauch.  Einige  Schüsseln 
mit  geschmortem  Fleisch,  ein  Berg  Kartoffeln  dazu.  Dann  kam  das 
Hauptgericht:  Fisch.  Es  gehörte  aber  eine  gewaltige  Menge  Fische 
(die  „Erntefische")  aller  Art  dazu,  um  diesen  Gang  zu  bestreiten,  denn 
es  waren  immerhin  10  bis  12  Familien,  natürlich  einschlief slich  sämt- 
licher Sprossen,  die  satt  gemacht  werden  mufsteu.  Zum  Scblufs  gab 
es  noch  ein  paar  mächtige  Schüsseln  Reis  mit  Zimt  und  brauner 
Butter.  Brot,  Kuchen  und  Schnaps  vervollständigten  das  Menü.  — 
Und  dann  wurde  auf  dem  glatten  Boden  des  Hofes  nach  dem  Klange 
einer  Fiedel  oder  Handharmonika  getanzt. tt  —  Wir  sehen  die  Weiber  vor 
einer  eben  vom  Blitz  erschlagenen  Frau.  „Strafe  Gottes,  Frau  Wohl- 
thäterin,  Strafe  Gottes!  Haben  Sie  nicht  gesagt:  Geht  nicht  voraus, 
wartet  das  Gewitter  ab?  Aber  Frau  Wohlthäterin ,  das  war  ihr  be- 
stimmt, sie  mufste  gehen,  der  Schwarze  wartete  schon  auf  sie.  Der 
liebe  Gott  hat  sie  gestraft,  alle  drei!  Der  Pietsch  sitzt,  der  Burdeyko 
fault  in  Frankreich"  (1870  gefallen),  „und  sie  hat  der  Blitz  erschlagen." 
Nun  war  der  Strom  entfesselt:  Die  eine  hatte  gesehen,  wie  eine  grofse 
schwarze  Kugel  von  dem  Munde  der  Toten  blitzschnell,  als  der  Wagen 
hielt,  über  die  Straf se  rollte  und  in  der  Schonung  auf  der  anderen 
Seite  verschwand;  eine  andere  behauptete  steif  und  fest,  das  wäre  ein 
Tier  gewesen,  wie  ein  Eichkater  so  grofs,  aber  von  der  Gestalt  einer 
Eidechse;  die  dritte  versicherte,  deutlich  gesehen  zu  haben,  wie  die 
Tote  sich  kurz  vor  den  Pferden  ganz  umgedreht  hatte.  Wir  sehen 
den  Masuren  bei  der  Sonntagstoilette.  „Jan  Gerlitzki  hatte  sein 
Rasiermesser  auf  dem  Leibriemen  geschärft  und  ging  gegen  die  14  Tage 
alten  Bartstoppeln  so  energisch  vor,  dals  er  sich  das  Gesicht  mit 
Schwammstückchen  bekleben  mufste.  Dann  schmierte  er  die  langen 
Stiefel  mit  Thran,   dafs    sie  glänzten,  band  sich  ein  schwarzes  Tuch 


Skowronneks  Masurenblut.  201 

um  den  Hals  and  zog  sich  den  langen,  grauen  Wandrock  an.  —  Sie 
warf  das  schmutzige  Kopftuch  ab,  salbte  die  grauen  Haarsträhne  mit 
Fett  und  zog  sich  einen  Scheitel.  In  düsterem  Schweigen  wanderte 
das  Paar  zur  Försterei.  —  Das  wäre  so  eine  Schonung  für  dich,  wenn 
du  mit  einem  Stof  Schnaps  schlafen  gehen  willst  (sprach  er).  —  (Sie:) 
Du  kannst  recht  haben. tf 

Wir  sehen  auch  den  verkommenen  Reichen,  den  Tagedieb,  sterben, 
wie  er  erat  Männerchen  tanzen  sieht  und,  bevor  sie  ihn  nach  der  An- 
stalt bringen,  sich  am  Halstuch  an  den  Nagel  hängt. 

Und  dann  steht  der  Schweinedieb  wieder  vor  uns,  der  eben  ab- 
geführt werden  soll.  „Onkelchen  (sagt  Jan),  wohin  führen  sie  den 
Vater?"  —  Das  ist  ja  nicht  dein  Vater  ...  der  ...  —  Da  ging's  los: 
„Lieber  Herr  Wohlthäter,  weshalb  schlagen  sie  den  Jan?  Der  Jan, 
das  ist  ein  dummer  Junge  ...  nicht  wahr,  Frau  Bobrowska?  Das  hab 
ich  ja  immer  gesagt,  der  Jan,  der  wird  noch  einmal  mit  dem  Kopf 
gegen  die  Wand  rennen.  Aber  Herr  Wohlthäter,  ein  blindes  Huhn 
findet  manchmal  auch  ein  Korn,  und  der  dümmste  Ochse  giebt  auch 
einen  Braten  ab.  Und,  Herr  Wohlthäter,  ich  bitte  viel  tausendmal  um 
Entschuldigung ,  weshalb  soll  der  Junge  nicht  sagen,  was  alle  sagen? 
Jan,  küls  dem  Herrn  Wohlthäter  die  Hand,  er  wird  dich  das  nächste 
Mal  nicht  aufschreiben,  wenn  du  Holz  geholt  hast  ohne  Zettel."  Es 
ist  zwar  kein  erfreuliches  Bild,  was  Skowronnek  in  seinem  „Masuren- 
blut" und  in  anderen  Novellen  von  seinen  Landsleuten  entwirft,  aber 
ein  farbreiches  und  durchaus  kein  abscheuliches,  wenn  man  bedenkt, 
dals  er  im  allgemeinen  die  untersten  Schichten  zeichnet. 

Das  Kirchspiel  Altukta  ward  erst  1846  gegründet,  ist  also 
jünger  als  die  Philipponenkirchen,  und  die  häfslichen  Streitigkeiten,  die 
der  so  wackere  Pfarrer  Kandziora  mit  den  fremden  Glaubensgenossen 
über  den  Dezem  führte,  wären  gewifs  nie  zu  solcher  Höhe  gediehen, 
wenn  die  Ansiedelungsbedingungen  sicherer  festgelegt  worden  wären. 
Wenn  auch  das  Endurteil  gesetzlich  gegen  die  Philipponen  entschied, 
so  konnte  es  ihnen  doch  nicht  einleuchtend  sein.  Sie  hatten  keine 
Ahnung  von  einer  Klausel,  die  ihr  selbst  gegründetes  Kirchspiel  einem 
später  gegründeten  evangelischen  unterordnen  würde. 

Unser  Dampfer  aber  trage  uns  weiter  über  den  Beldabnsee  zu  den 
Örtchen  Wigrinnen  und  Schwignainen.  Gegenüber  liegen  die  ersten 
philipponischen  Gründungen  Piasken  und  Onufrigowen.  Den  ganzen 
Süden  der  benachbarten  Kreise  füllen  grolse  Waldungen  aus;  einzelne 
Kirchspiele  zählen  aulser  den  paar  Beamten  fast  nur  Masuren,  so  an 
der  Grenz«  Opalenietz  bei  Willenberg.  Unter  2045  Seelen  sind  1993 
Masuren.  Das  Kirchspiel  hat  fünf  Schulen  mit  sieben  Lehrern.  Einige 
Gebräuche,  wie  sie  gerade  hier  herrschen,  seien  erwähnt.  Hier  gehen 
noch  überall  ein  oder  zwei  Hochzeitsbitter,  oder  sie  reiten,  die  Mütze 
mit  Bändern  geschmückt,  um  ihre  Einladungsverse  herzusagen.  Bei 
der  Braut  fahrt  sitzt  der  Bitter  auf  dem  letzten   Wagen  und  knallt 


202  Die  Masaren. 

mächtig  mit  seiner  Bänderpeitsche.  Beim  Hochzeitsmahle  sorgt  er 
dafür,  dals  jeder  gut  bewirtet  wird. 

Bei  Begräbnissen  legt  man  eine  Axt  vor  die  Schwelle  der  Haus- 
flur. Das  Leichenwaschwasser  wirft  man  mit  dem  Gefäls  gegen  das 
Rad  des  Leichenwagens  oder  läfst  es  überfahren.  Beim  Leichenf ort- 
fahren läfst  man  des  Verstorbenen  Haustiere  aus  den  Ställen. 

In  der  Adventszeit  gehen  die  Dorfbewohner  auch  hier  mit  dem 
Stern.  Eine  bewegliche  Papierlampe  in  Sternform,  mit  rotem  oder 
buntem  Papier  beklebt  und  durch  eine  Schnur  zum  Bewegen  geeignet 
gemacht,  wird  an  einem  Stängchen  getragen.  Zwei  bis  sechs  Personen 
ziehen  mit  einem  solchen  Stern  vor  das  Schulhaus,  begleitet  von  einer 
Menge  Menschen.  Auf  dem  Zuge  singt  man  geistliche  Lieder  und 
ebenso  vor  der  Schule.  Dort  hält  wohl  der  Lehrer  noch  eine  Ansprache; 
dann  werden  die  Lämpchen  ausgelöscht  und  es  geht  nach  Hause. 

Vom  Beldahnsee  gelangen  wir  in  den  grofsen  Spirdingsee  und  nach 
dem  malerischen  Nikolaiken,  das  die  besten  Maränen  in  den  Handel 
bringt.  Es  hat  2500  Einwohner,  das  Kirchspiel  8000,  die  Hälfte  ist 
deutsch.  Hoch  sind  die  Ufer  des  Sees,  an  den  sich  die  kleinen  Häus- 
chen anschmiegen. 

Vom  Taltersee  erreichen  wir,  durch  den  Löwentinsee  fahrend, 
Lötzen.  Dies  kann  als  Mittelpunkt  des  Seengebietes  gelten.  Von  hier 
aus  gehen  die  Veranstaltungen,  Masuren  dem  Fremdenverkehr  zu  er- 
schlief8en. 

1337  wurde  in  dieser  Gegend  eine  Ordensburg  gegründet,  nach 
anderen  wurde  das  Schlots  schon  1285  erbaut.  1361  brannte  Grols- 
fürst  Keistutt  von  Litauen  die  Stadt  nieder,  1573  erhielt  sie  Stadtrecht. 
Von  den  Tataren  und  der  Pest  blieb  sie  ebensowenig  verschont  wie 
die  anderen  Städte,  dann  aber  blühte  Lötzen  auf  und  hat  gegenwärtig 
7000  Einwohner,  das  Kirchspiel  11  000,  davon  sind  zwei  Drittel  Deut- 
sche. Progymnasium,  Präparandenanstalt  und  Militär  heben  die  an- 
genehm gelegene  Stadt  noch  mehr.  —  Bei  einer  Fahrt  durch  den 
Mauersee  mit  seinen  lieblichen  Inseln  erblicken  wir  die  Angerburger 
Türme.  Hier  sind  nur  noch  Reste  des  Masurentums  zu  finden.  Auch 
das  Litauische  ist  vollständig  verschwunden,  der  Gottesdienst  wird 
nur  noch  selten  in  polnischer  Sprache  abgehalten.  Die  Stadt  hat 
etwa  5000  Einwohner,  ist  gleichfalls  eine  alte  Ordensburg  und  nennt 
den  Gelehrten  Georg  Andreas  Helwing  unter  seinen  berühmten 
Söhnen. 

Ein  Ausflug  nach  der  masurischen  Schweiz  und  dem  Tannen- 
berger  Schlachtfelde  führt  uns  über  Kutten,  wo  Pogarzelski  als 
Rektor  wirkte,  und  über  Pillacken  nach  dem  200m  hohen  Turmberge. 
Hier  überblickt  man  das  schöne,  seenreiche  Land. 

Pogarzelski  geniefst  nicht  den  literarischen  Ruhm  eines  Dona- 
li tius  oder  Rhesa,  aber  er  ist  bei  seinen  Landsleuten  noch  heute 
volkstümlich.     Deshalb  sei  einiges  über  ihn  mitgeteilt 


Pogarzelskis  Jugend.  203 

Michael  Pogarzelski  wurde  am  4.  September  1737  zuLepaken, 
eine  Meile  westlich  von  Lyck,  zwei  Meilen  östlich  von  seinem  späteren 
Wirkungskreise  Kalinowen,  geboren.  Das  Geschlecht  der  Pogarzelski 
oder  Pogarselius  hatte  dem  Lande  schon  mehrere  Priester  gegeben. 
So  unterschrieb  einer,  Hieron ymns,  1579  die  Eonkordienf  ormel ,  ein 
anderer,  Nicol,  starb  1602  als  Angerburger  Diakonus,  ein  dritter, 
Johannes,  war  1625  Pfarrer  in  Wielitzki.  Nach  der  Sitte  jener  Zeit 
hatte  er  viele  Taufzeugen,  nämlich  sechs,  darunter  war  der  Landschöffe 
Roggon,  der  Student  Wengoborski  und  andere  Bekannte  und  Ver- 
wandte, die  am  8.  September,  am  12.  Trinitatissonntage,  der  Taufrede 
des  Pfarrers  Andreas  Wedeke  in  der  Grabniker  Kirche  lauschten.  Die 
Mutter  hiefs  Maria  Dolenga ;  der  Vater,  von  dessen  Nachkommen  noch 
kürzlich  einer  in  Lepaken  lebte,  führte  den  Namen  Albert  und  war 
ein  Eölmer  oder  Freibauer.  Freilich  war  er  ein  armer  Eölmer,  wie  des 
Donalitius  Vater.  Wenn  auch  frei  von  drückenden  Abgaben  und  dem 
lästigen  Scharwerk,  bewirtschaftete  er  doch  mit  eigener  Hand  sein  Gut 
und  pflegte  wie  die  unbemittelten  kaschübiscben  Pane  und  litauischen 
Bojaren  seine  Scholle,  um  dem  ärmlichen  Boden  mit  jedem  neuen  Jahre 
kärglichen  Ertrag  zur  Fristung  des  Lebens  abzugewinnen.  Die  Einder 
wuchsen  in  der  Wirtschaft  und  beim  Vieh  ohne  Schulunterricht  auf, 
und  nur  ein  höheres  Streben  hat  den  oder  jenen  Eölmersohn  vermocht, 
die  Schranken  kleinlicher  Verhältnisse  zu  durchbrechen  und  die  ge- 
bildete Welt  um  ein  brauchbares,  kräftiges  Glied  zu  vermehren.  Wie 
schwer  damals  diese  Schranke  zu  überwinden  war,  lehrt  ein  Hinblick 
auf  die  gesamten  wirtschaftlichen  und  geistigen  Verhältnisse  Masurens. 
Das  südliche  Ostpreufsen,  Masuren,  war  im  allgemeinen  immer  noch, 
was  es  zur  Ritterzeit  war,  eine  grofse  Wald  wüste.  Als  Friedrich 
Wilhelm  L  1723  hier  Posten  einrichten  wollte,  stellte  das  Generalfinanz- 
direktorium vor,  dies  sei  kaum  möglich:  „In  den  öden  von  Raubtieren 
durchstreiften  Heiden  sei  oft  auf  10  bis  12  Meilen  Weges  kein  Haus 
anzutreffen,  an  ordentlichen  Straf sen,  Brücken  und  Dämmen  gebräche 
es  fast  gänzlich,  Raubgesindel  mache  namentlich  in  der  Nähe  der  polni- 
schen Grenze  die  Gegenden  unsicher,  und  die  Posten  in  den  pfadlosen 
Dickichten  und  Sümpfen  bei  Nacht  gehen  zu  lassen,  daran  sei  gar 
nicht  zu  denken. "  Aufser  wenigen  Strafsen  führten  durch  die  Wildnis 
nur  Wege,  die  wenig  betreten  und  schwer  zu  finden  waren.  Wenn 
sich  auch  nicht  mehr  ganze  Heere,  wie  zur  Ordenszeit,  in  den  Wäldern 
verirren  und  nach  mehrtägigem  ziellosen  Wandern  mit  Feinden,  Wege- 
lagerern, Strutern  zusammengeraten  konnten,  so  vermochte  doch  auch 
jetzt  der  einzelne  nur  schwer  fortzukommen,  Lebensmittel  mufste  man 
für  Tage  mitnehmen  und  war  immer  dem  Überfall  von  Räubern  und 
Raubtieren  ausgesetzt.  Nachdem  man  in  den  Waldlichtungen  Stubben 
gerodet,  Teer  geschwelt,  Eohlen  gebrannt  und  das  Land  geebnet  hatte, 
gab  es  wohl  Feldgrundstücke;  aber  noch  1817  berichtet  Rosen  wall,  der 
Boden   sei   doch   durchaus  schlecht,    bringe  nur  Roggen,    Hafer  und 


204  Die  Masuren. 

Heidekorn  hervor,  Vieh  und  Pferde  seien  sehr  klein.  Die  Dörfchen 
selbst  lagen  meilenweit  auseinander,  und  ein  Kirchspiel  war  mehrere 
Quadratmeilen  grofs. 

So  unwirtlich  der  dichte  Wald  für  den  Menschen  war,  so  wohl 
fühlte  sich  die  Tierwelt  darin.  Und  wie  reich  war  diese.  Wilde  Pferde 
werden  ein  Jahrhundert  vorher  noch  erwähnt,  die  letzten  sollen  erst 
vor  100  Jahren  gefangen  worden  sein.  1883  ward  noch  ein  Aueroch s 
an  der  Szeszuppe,  1804  ein  Bär  im  Puppener  Forst,  1869  ein  Luchs 
bei  Jakunowken  erlegt.  1819  wurden  noch  viele  Wölfe  in  Ostpreulsen 
geschossen,  und  auch  heute  verirrt  sich  wohl  einmal  noch  Freund 
Isegrim  von  den  polnischen  in  die  masurischen  Wälder.  Die  Elche 
sind  zwar  nicht  mehr  Jagdtiere,  werden  jedoch  noch  in  einer  Stärke 
von  400  Stück  in  ostpreufsischen  Wäldern  gehegt.  Im  achtzehnten 
Jahrhundert  aber  waren  alle  diese  Tiere  noch  in  Hülle  und  Fülle 
vorhanden. 

Unter  Friedrich  Wilhelm  I.  war  nun  allerdings  viel  für  die  Kultur 
Masurens  und  ganz  Ostpreufsens  geschehen.  Wie  er  trotz  des  oben 
erwähnten  ungünstigen  Berichtes  Posten  in  Ostpreulsen  einführte,  so 
war  er  auch  unermüdlich  darauf  bedacht,  neue  Ansiedler  zur  Kultivie- 
rung des  Landes  herbeizuziehen,  sie  durch  Steuererlafs ,  Zuwendung 
von  Ackergeräten,  Samen,  Freiholz  im  Lande  festzuhalten  und  ihnen 
Teilnahme  an  den  Segnungen  der  Kultur  zu  erleichtern.  Der  Schaden, 
den  die  Tatareneinfälle  1656  brachten,  war  schon  teilweise  überwunden, 
die  Verluste  im  Pestjahre  1709/10  wurden  durch  Herbeirufung  der 
Salzburger  wett  gemacht;  für  den  Unterricht  des  masurischen  Volkes 
und  zur  Gewinnung  von  Predigern  und  Lehrern  hatte  er  1728  das 
polnische  Seminar  in  Königsberg  gestiftet;  Friedrich  der  Grofse  weilte 
als  Kronprinz  oft  mit  seinem  Vater  in  Ostpreulsen. 

Pogarzelski  wuchs  nun  im  väterlichen  Hause  auf.  Noch  erinnerte 
ein  Tatarenpfeil  in  der  Kirchenfahne  an  jene  trostlose  Zeit,  wo  die 
wilden  Horden  Tausende  um  Hab  und  Gut,  Eltern  und  Heimat  brachten. 
Michael  selbst  sollte  bald  ähnliche  traurige  Zeiten  sehen;  vorläufig 
ging  es  ihm  ja  gut.  Der  Pfarrer  Drigalski  in  Stradaunen,  der  seine 
musikalische  Begabung  und  seinen  Lerneifer  erkannte,  setzte  es  durch, 
dafs  der  Knabe  in  die  Lycker  Schule  gehen  konnte.  Diese  Schule, 
1546  gegründet,  1707  neu  aufgebaut,  bereitete  zur  Universität  vor 
und  pflegte  neben  klassischen  besonders  die  polnische  Sprache.  Ljck 
war  schon  damals  der  Mittelpunkt  Masurens.  Bei  Einführung  der 
Reformation  durch  Paul  Speratus  war  die  Bewohnerschaft  noch  ganz 
polnisch,  erst  1584  wurde  deutsche  Predigt  neben  polnischer  eingeführt. 
„Es  ist  ein  offener  und  schlecht  gebauter,  aber  doch  nahrhafter  Ort", 
sagt  Hartknoch  1684.  Nach  der  Pest  1710  hatte  es  von  2000  Ein- 
wohnern nur  noch  700,  aber  trotz  mehrerer  Feuersbrünste  hob  sich 
die  Stadt,  die  einen  reichen  Marktverkehr  hat,  bald  wieder.  Pogar- 
zelski selbst  hat  über  seinen  Lycker  Aufenthalt  nichts  erwähnt.     Er 


Pogarzelski  in  Königsberg.  205 

wird  wohl  freudvoller  gewesen  sein  als  der  Königsberger,  von  dem  er 
erzählt:  „Nach  dem  Tode  meines  Yaters  begab  ich  mich  aus  inner- 
lichem Triebe  nach  Königsberg.  Zuerst  war  ich  bei  den  Studenten 
auf  dem  Collegio  Albertino,  all  wo  ich  viel  Not  ausstehen  mulste,  her- 
nach kam  ich  in  das  Altstädtische  Pauperhaus  und  im  Jahre  1761  qua 
civis  Academ.  inscribiret  h.  t.  Rector  Acad.  fuit  Prof.  Roescias  Bock  u. 
Theol.  Decanus  Herr  Consistorialrath  Bock."  Dem  Lepakener  Kölmer- 
sohn  ging  es  wie  dem  Lasdinehlener.  Die  geistige  Metropole  Ostpreulsens 
übt  einen  unwiderstehlichen  Zauber  aus.  Das  Collegium  Albertinum 
und  das  Pauperhaus  bietet  beiden  so  wenig  körperliche  und  so  viel 
geistige  Nahrung;  wahrscheinlich  gaben  beide  Privatstunden ,  denn  es 
bleibt  doch  eigentümlich,  dafs  sie  die  Universität  so  spät  bezogen. 
Pogarzelski  hat  sich  übrigens  in  seinen  Aufzeichnungen  geirrt,  der 
Immatrikulationsvermerk  lautet  wörtlich:  „25.  Aug.  1762.  Michael 
Pogarzelski  Lycca  Bor."  Die  Studienzeit  unseres  jungen  Theologen 
fällt  also  in  jene  Jahre,  die  Hasenkamp  in  seinem  Werke,  „Ostpreufsen 
unter  dem  Doppelaar"  so  trefflich  geschildert  hat.  Der  russische 
Doppeladler  prangte  an  den  öffentlichen  Gebäuden,  das  Volk  feierte 
auf  Befehl  des  Petersburger  Hofes  die  russischen  Siegesfeste  und 
Familientage  der  kaiserlichen  Familie,  die  Königsberger  Gesellschaft 
fühlte  sich  im  Umgang  mit  den  russischen  Offizieren  geschmeichelt  und 
ertrug  das  milde  Regiment  des  Eroberers,  wie  Friedrich  derGrofse  meint, 
lieber,  als  dafs  es  zu  seinem  angestammten  Königshause  gern  zurück- 
gekehrt wäre.  So  vorteilhaft  auch  die  Lage  des  im  Frieden  befind- 
lichen Landes  gegenüber  den  anderen,  den  Kriegsunfällen  ausgesetzten 
Provinzen  war,  so  fanden  sich  aber  doch  auch  in  Preufsen  und  in 
Königsberg  genug  Leute,  die  im  Herzen  und  auch  öffentlich  ihrem 
Könige  die  Treue  wahrten.  Das  Beispiel  von  Donalitius  ward  bereits  S. 53 
erwähnt.  In  Königsberg  selbst  predigte  am  22.  August  1759,  den  die 
Russen  als  Sieg  von  Kunersdorf  feierten  und  der  in  Königsberg  durch 
Gottesdienst  begangen  werden  mulste,  der  Hofprediger  Arnold  über 
die  Pflicht  der  Sieger  und  Besiegten,  warnte  jene  vor  Trotz,  letztere 
vor  Verzagtheit  und  rief  aus:  „Freue  dich  nicht,  meine  Feindin,  dafs 
ich  daniederliege."  Als  er  widerrufen  sollte,  schrieen  die  Studenten 
bei  Beginn  des  Widerrufs  in  der  Kirche  „Feuer!"  und  alles  flüchtete 
aus  der  Kirche,  so  dafs  der  Widerruf  unterblieb.  Drigalski  rottete  sich 
sogar  mit  seinen  Stradauner  Bauern  zusammen,  um  die  Plünderer  zu 
vertreiben. 

So  fleifsig  Pogarzelski  studierte,  die  deutsche  Sprache  erlernte  er 
nie  richtig,  er  radebreche  fort  und  fort  und  erhielt  trotz  vollendeten 
Studiums,  da  er  nur  polnisch  verstand,  keirife  Pfarre.  Da  nahm  er 
1769  die  Ragniter  Organistenstelle  an.  Weil  er  besser  Orgel  spielte 
als  der  Kantor  und  ein  geschätzter  Unterhalter  war,  konnte  er  die 
brotlose  Stelle  leicht  ertragen.  Drigalskis  Schwager,  der  Erzpriester 
Fiedler  in  Ragnit,  der  selbst  eine  Masurin  zur  Frau  hatte,  verschaffte 


206  Die  Masuren. 

ihm  Freitische.  Mit  der  Frau  Erzpriester  konnte  er  nach  Herzenslust 
masurisch  sprechen,  und  die  deutsch- litauischen  Ragniter  ergötzten  sich 
über  seine  Schnurren.  Er  äufserte  einmal,  saurer  Kumst,  die  masurisch e 
Nationalkost,  sei  seine  Lieblingsspeise.  Überall,  wohin  er  nun  kam, 
setzte  man  ihm  Sauerkraut  und  Schweinefleisch  vor,  und  der  Organist 
langte  wacker  zu.  „Anno  1769  im  Januar  erhielt  ich  die  Vokation 
als  Schulcollega  und  Organist  nach  Ragnit,  von  da  wiederum  1772  qua 
Rector  wider  meinen  Willen  durch  falsche  Briefe  nach  Kutten  bei 
Anger  bürg  versetzt." 

Es  ist  merkwürdig,  dafs  er  die  Kuttener  Berufung  durchaus  nicht 
freudig  erwähnt.  Hier  gerade  entfaltete  er  sein  Masurentum  ganz, 
hier  sprach  man  noch  durchaus  seine  Muttersprache.  Hat  ihm  vielleicht 
die  höhere  deutsche  und  städtische  Kultur  in  Königsberg  und  Ragnit 
nicht  doch  besser  gefallen? 

Als  Pastor  hatte  hier  B.  Drigalski,  wohl  ein  Verwandter  des 
Stradauner  Pf arrers,  seines  Gönners,  gelebt.  Noch  erinnerte  ein  Epitaph 
an  ihn,  das  er  seinen  drei  Frauen  hatte  setzen  lassen,  noch  war  im 
Chor  jenes  eigentümliche  Bild  zu  sehen,  das  Drigalski  zum  Andenken 
an  seine  während  der  Pest  verstorbene  Frau  hatte  malen  lassen.  In- 
mitten frisch  gegrabener  Gräber  und  zahlloser  Leichen  reitet  der  Tod 
mit  der  Sense  auf  hohem  Rots;  ein  Leichenzug  daneben  erhöht  den 
grausigen  Eindruck. 

Neben  seiner  Schulthätigkeit  predigte  Pogarzelski  vielfach  und 
versah  auch  die  Wirtschaft.  Im  Winter,  Spätherbst  und  Frühling  war 
der  Verkehr  mit  der  Auf sen weit  so  ziemlich  abgeschnitten.  Man  darf 
selbst  jetzt  bei  schlechtem  Wetter  nur  einen  masurischen  Dorfweg  im 
Herbst  sehen,  und  man  wird  die  Verse  des  Dichters  Wort  für  Wort 
nachempfinden,  der  um  jene  Zeit  von  den  Dörfern  an  der  Rominter 
Heide  sang: 

Seht,  wie  die  Sonne,  von  uns  sich  wieder  entfernend,  dahinrollt, 

Und  sich  weiter  und  weiter  von  uns  zum  Abend  hinabsenkt. 

Seht,  mit  jedem  Tage  verbirgt  ihre  Strahlen  sie  mehr  uns, 

Und  es  strecken  die  Schatten  mit  jedem  Tage  sich  länger. 

Schon  beginnen  die  Winde  allmählich  die  Flügel  zu  rühren, 

Fegen  das  letzte  von  Wärme  hinweg,  hohl  sausend  und  brausend, 

Also  dafs  auch  die  Milde  der  Luft  gar  schnell  sich  verlieret, 

Und  es  das  Alter  mahnt,  hervor  die  Pelze  zu  suchen. 

Mütterchen  schickt's  mit  dem  zitternden  Greis  an  den  wärmenden  Ofen. 

Andre  auch  treibt  die  Kälte  hinein  in  die  trauliche  Stube, 

Um  sich  an  warmer  Suppe  und  anderem  Heifsen  zu  laben. 

Überall  ist  die  Erde  durchweicht,  und  Thränen  vergiefst  sie, 

Reifsen  ihr  unsere  Räder  entzwei  den  wäfsrigen  Rücken. 

Wo  vorher  zwei  Klepper  bequem  fortzogen  die  Lastfuhr, 

Ist  es  zur  Zeit  nicht  eben  leicht  zu  fahren  mit  Vierspann. 

Knarrend  dreht  sich  das  Rad  auf  der  Achse  schwer  und  mühsam, 

Reifst  zähflüssige  Stücke  heraus  und  läfst  sie  dann  fallen. 

Sehet,  die  Ackerrücken  sind  ganz  im  Wasser  verschwunden. 

Schwere  Tropfen  des  Regens  zerklopfen  den  Leuten  den  Rücken; 


Pogarzelskis  Dichtweise.  207 

Bastschuh  und  alte  Stiefel  saugen  von  Wasser  sich  voll  ganz 
Und  durchkneten  den  Kot  wie  Teig  beim  mühsamen  Schreiten. 

(Donalitius,  Gaben  des  Herbstes,  V.  1  ff.  —  Passarge,  8.  83  f.) 

So  sah  es  auch  1778  in  Kutten  aus,  als  der  vierspännige  Wagen 
eines  inspizierenden  hohen  Beamten  im  ellentiefen  Morast  des  dortigen 
Dorfweges  stecken  blieb  und  zerbrach.  Pogarzelski  sprang  herzu, 
besserte  das  Bad  aus,  bewirtete  den  Herrn,  unterhielt  ihn  in  seiner 
originellen  Derbheit  und  bekam  dann  Anwartschaft  auf  eine  Pfarre. 
Schon  als  Rektor  predigte  er  und  dichtete  für  sein  Volk.  Die  masurische 
Volksliederdichtung  ist  nicht  umfangreich,  weist  aber  dennoch  eine 
Anzahl  hübscher  Lieder  auf.  In  ihrer  weichen  Art  stehen  diese  mitten 
inne  zwischen  den  litauischen  und  polnischen.  Die  zahlreichen  Ver- 
kleinerungssilben, die  Bilder  aus  dem  Tierleben  und  den  einfachen 
Vorgängen  in  Haus  und  Hof  verleihen  diesen  Liedern  einen  natürlichen 
Reiz.  Wenn  der  Masure  die  Vogelhochzeit  oder  die  zurückgewiesene 
oder  angenommene  Werbung  schildert,  wenn  er  eine  Entführung,  die 
Untreue  oder  den  Verlust  der  Geliebten  besingt,  klingt  überall  das 
weiche  zurückhaltende  Gemüt  durch  die  bilderreiche  Sprache.  Im 
Gegensatz  zur  Volkslieddichtung  ist  die  poesiereiche  deutsche  Dichtung 
des  masurischen  Präzentors  unbeholfen.  Man  vergleiche  die  folgenden 
Dichtungen!  Im  richtigen  Gebrauche  der  deutschen  Grammatik  sind 
diese  zweisprachigen  Grenzbewohner  sehr  schwankend,  und  selbst 
studierten  Leuten  ist  bei  langem  Leben  inmitten  der  masurischen  Land« 
bevölkerung  das  gute  Deutsch  verloren  gegangen.  Zum  Sprachen- 
gemisch gesellt  sich  eine  eigene  Verquickung  der  Konfessionen.  Pogar- 
zelski läfst  ruhig  den  heiligen  Xaverius,  den  Genossen  Loyolas,  eine 
Rolle  bei  der  Auferstehung  spielen.  Der  Gottesdienst  ist  ceremonieller, 
das  Einhalten  der  Heiligentage  war  früher  an  der  Tagesordnung,  und 
1834  benutzten  beispielsweise  Evangelische  und  Katholische  in  Orteis- 
bürg  dieselbe  Kirche.  —  Es  folgen  nach  zwei  Volksliedern  Dichtungen 
Pogarzelskis. 

Verlangen. 

„Schönes  Mädchen,  ich  liebe  dich, 
Bleib  bei  mir,  erhöre  mich." 

„Als  goldne  Ente  entflieg  ich  dir, 

Und  such  ein  Nest  im  Walde  mir.u 

„Ich  folg  dir  als  goldner  Enterich  bald, 
Zum  fernen  Nest  im  düstern  \Vald.u 

„Ich  fahre  als  Fisch  in  den  See  hinein, 

Ich  kann  ja  nimmer  die  Deine  sein.** 

„In  einen  Fischer  verwandle  ich  mich, 
Mit  Netzen  und  Angeln  fang  ich  dich ! M 

„Ich  springe  als  Hase  im  schnellen  Lauf, 

Das  Thal  hinab,  den  Berg  hinauf." 

„Ich  folg  dir  als  Windhund  hinterdrein, 
Denn  mein,  o  Mädchen,  mufst  du  doch  sein!" 


208  Die  Masuren. 

Hans  und  Käte. 

Aus  fremdem  Lande  kam  er  herein, 
Bethörte  so  schnell  ein  Mägdelein. 

Sie  spannt  die  Rosse  dem  Wagen  vor, 
Die  aber  wollen  nicht  durchs  Thor. 

„Und  nimm  des  Silbers  in  Fälle,  o  Maid!"  — 
Sie  zogen  wohl  30  Meilen  weit. 

Sie  zogen  wohl  30  Meilen  fort 

Und  sprachen  nicht  ein  einziges  Wort. 

»Ist  denn  dein  liebes  Ländchen  noch  weit?« 
Sprach  Kätchen  zu  Hänschen  voller  Leid. 

„Was  fragst  du  nach  dem  Ländchen  mein? 
Bald  wirst  du  im  Röhricht  der  Donau  sein!" 

Da  kamen  sie  an  im  neuen  Haus, 

„Nun  zieh  den  fränkischen  Putz  mir  aus!" 

Und  er  nimmt  ihr  den  Ring  vom  Fingerlein, 
Und  wirft  sie  in  die  Donau  hinein. 

»Hilf,  Hänschen«,  so  ruft  sie  mit  jammerndem  Mund. 
„Ich  warf  dich  ins  Wasser,  nun  mifs  mir  den  Grund!"  — 

Das  hört  auf  dem  Schlofs  ihr  Bruder  nur, 
Der  läfst  sich  herab  an  seidener  Schnur. 

„Was  hast  du  gethan,  o  Schwesterlein, 
Entflohest  dem  Yater,  der  Mutter  dein?" 

»Ach,  bricht  die  ganze  Welt  nicht  ein, 
So  kehr  ich  noch  heute  zum  Mütterlein.« 

Leichenpredigt  Pogarzelskis  1). 


O  weh  dir,  Ortelsburgs  Gemein! 
Du  hast  verloren  den  Pfarrer  dein! 
Maul  zu,  was  hat  gelehret  Gott, 
Geschlossen  ist  das  Auge,  tott. 
So  blüht  im  Garten  Rosenstock, 


Springt  zu,  frifst  ab  der  Ziegenbock : 
So  frafs  auch  mittn  im  Lebenslauf, 
Der  Tott  den  seeigen  Pfarrer  auf. 
Nun  liegt  er  da  auf  Gottesacker, 
Pfui,  Tott  —  du  Rackjer! 

Kreuz  Jammer  und  Hellend  sind  die  drei  Windhund  menschlichen 
Lebens,  mit  was  wird  Mensch  geätzet  und  gejaget,  wie  Äsen  auf 
Bartolomäus  Jagd.  Sobald  uns  Feuermörser  mutterlichen  Leibes  an 
das  Welt  schmeifst,  so  lassen  wir  vor  uns  hergehen  Klagen  und  Angst- 
trillers; da  laufen  die  Thränen  von  Dachrinnen  unserer  Augen,  wie 
Buttermilch  aus  zerplatzt  Butterfals,  und  wenn  wir  sich  haben  lang 
genug  wie  kleines  Maulskätzchen  gewärmt  an  Feuerherd  dieser  Erde, 
kommt  zuletzt  Koch  Tott,  schmeifst  uns  in  Kessel  des  Grabes,  wie 
polnische  Krebse,  da  wir  müssen  so  lange  verkuliren,  bis  nicks  mehr 
is  von  uns  wie  And  voll  Dreck. 

Quid  est  vita  humana?  Was  ist  menschlich  Lebben?  Menschlich 
Lebben  is  Wind zu,  Pur !  consummatum  (!)  est.  —  Quid  est  vita 


l)  Leichenpredigt  für  Pfarrer  Ragowski  in  Orteisburg  (f  9.  April  1780). 
Vgl.  Neue  preufs.  Prov.  Bl.  V,  185.     Königsberg  1848. 


Leichenpredigt  Pogarzelski*.  209 

humana?  Was  ist  mentschlich  Lebben?  Menschlich  Lebben  is  Theer- 
pudel  am  Wagen:  schlicker  an  schlacker,  schlicker  an  schlacker:  Bums! 
liegt  auf  Erde.  Item  quid  est  vita  humana?  Was  is  menschlich 
Lebben?  Menschlich  Lebben  ist  baufällig  Strohdach,  kommt  Wind, 
berdaucks  fällts  um. 

Lenken  wir  unsere  Gedanken  zu  selig  verstorbenen»  was  Wunder 
wenn  wir  lassen  halb  Battaljon  Seufzer  aufmarschieren  aus  Corps  de 
Garde  unseres  Herzens.  War  er  gleichsam  Wegweiser  auf  Kreuzweg 
des  Lebens  schmalen  Weg  zeigend,  und  sein  purpurfarbiges  Antlitz 
glänzte  wie  Pamuchelskopf  im  Mondschein.  War  er  gleichsam  Last- 
haus von  unsere  Gemein,  darinn  wir  sich  kannten  nach  herzenslust 
verlustieren.  War  er  gleichsam  Brotpfanne,  darein  das  feine  Mehl 
wahren  Glaubens  wurde  gebacken;  er  erhob  seine  Stimme  wie  alter 
Garnisons  Drummel,  und  seine  Worte  durchdrangen  alle  Ohren,  wie 
schön  ausgespieltes  Brummtopf.  Nun  lassen  wir  unsern  selig  Ver- 
storbenen in  seinem  hölzernen  Schlafrock,  wie  ein  Eatz  im  Windel- 
hemde, so  lange  ruhn,  bis  heiliger  Xaverius  ihn  reilsen  wird  mit  den 
Zangen  des  Verdienstes  aus  seinem  düsteren  Grabe.     Amen.  — 

Humorvoll  zeigte  er  sich  auch  beim  Bewerbungsgesuch  und 
Examen. 

Im  Todesjahre  des  Donalitius,  am  5.  September  1780,  wurde 
Pogarzelski,  nach  seinen  eigenen  Aufzeichnungen,  als  Pfarrer  in  Kali- 
nowen  vom  Erzpriester  Gisevius  im  Beisein  verschiedener  Pfarrer  der 
Umgegend  und  des  Deputierten  vom  Justizkollegium  eingeführt.  Mit 
einem  kurzen  Gebet  bittet  er  in  der  Kirchenchronik,  Gott  möge  ihn  in 
seiner  Güte  erhalten  und  schreibt  ins  Trauregister  die  Verse: 

Zuvor  gethan,  hernach  bedacht, 
Hat  mancher  viel  davon  geklagt. 
Drum  eile  nicht,  erwäge  doch,- 
"Wenn  du  schon  gehst,  so  sinne  noch: 
Ist  auch  die  reine  Liebe  da? 
Ist  das?     Bo  sag  mit  Freuden  ja. 

Das  Sterberegister  1781  beginnt  er  mit  den  Worten: 

„Kein  Kraut  vorm  Tod  gewachsen  ist, 
Bedenk  dies,  o  mein  treuer  Christ, 
Und  schicke  dich  zum  Sterben  an, 
Bo  hast  du  gut  und  wohl  gethan." 

Diese  wenigen  Zeilen  beweisen,  dafs  Pogarzelski  auch  gut  deutsch 
schreiben  konnte,  und  dafs  bei  den  angeführten  Stücken  die  Aussprache 
und  die  mündliche,  fortgesetzte  Überlieferung  ihr  Teil  beigetragen 
haben,  den  Worten  des  Pfarrers  eine  neue  Schattierung  zu  geben. 

Kalinowen  war  damals  fast  rein  masurisch,  es  werden  noch  heute, 
da  doch  der  Ort  nahe  an  die  Sprachgrenze  gerückt  erscheint,  unter 
13  890  Bewohnern  7200  Polen  gezählt.  Aufser  dem  Kirchendienst 
hatte  er  auch  der  Oberaufsicht  über  die  Schulen  zu  genügen,  deren 

Tetzner,  Die  81awen  in  Deutschland.  14 


210 


Die  Masuren. 


Zahl  jetzt  auf  22  gestiegen  ist.  Die  Einnahme  bestand  in  den  Ertrag- 
nissen des  grolsen  Pfarrgutes,  das  69ha  und  20a  umfafst,  so  dafs 
leicht  ersichtlich  ist,  wie  eifrig  der  neue  Pfarrer  nicht  nur  geistlich, 
sondern  auch  in  platter  Wirklichkeit  Säemann  sein  mulste. 

Die  Ealinowener  Kirche  hatte  ihre  Geschichte.  Sie  stammte  aus 
der  katholischen  Zeit,  Markgraf  Albrecht  dotierte  sie  1561  reichlich, 
1656  brennen  sie  die  Tataren  nieder  und  führen  den  Pfarrer  Bara- 
novius  mit  Familie  fort.  Sie  sollen  ihm  die  Kopfhaut  herunter- 
geschnitten, eine  Schafbockskopfhaut  mit  Hörnern  aufgenäht  und  ihn 
zum  Schafhirten  bestimmt  haben. 

Fürst  Radziwill  soll  ihn  auf  einer  Reise  nach  Konstantinopel  ge- 
troffen und  in  seine  Dienste  genommen  haben ,  die  Hörner  aber  habe 
Baranovius  zeitlebens  behalten.  Nach  anderen  ist  Baranovius  auf 
Kreta  als  Sklave  gestorben.  Der  damalige  Lehrer  Zaborovius  entkam 
der  Gefangenschaft  der  Tataren  und  wurde  Pfarrer  in  Kalinowen.  Ein 
spaterer  Amtsgenosse,  Bernhard  Rostock  (1730  bis  1759),  ist  als  polni- 
scher Liederdichter  bekannt.  Welcher  Art  die  Gedichte  unseres  Pogar- 
zelski  waren,  möge  das  folgende  zeigen.  (Neue  Preufs.  Prov.-Bl.  V,  184 
bis  186.     Königsberg  1848.) 


Ich  saus  in  Dunkelheiten 
Und  dacht  an  Ewigkeiten, 
Da  kam  ein  Wanzker  bunter, 
Ganz  kühn  an  Wand  herunter; 
Kam  nah  mir  vors  Gesicht, 
Da  macht1  ich  dies  Gedicht. 

Wir  Menschen  sind,  wie  Wanzker, 
Oft  keck,  oft  kein  Courage, 
8ind  oft  recht  dumme  Hansker, 
Und  doch  von  hoch  Etage: 
Sich  gerne  mögen  zeigen, 
Als  wärens  Wunder  was; 
Und  ist  doch  still  zu  schweigen 
Von   solchem  Hoheits  (Hochmuts?) 

Spafs. 


Heifst  mancher  groß  und  edel, 
Gar  stolz  herumspaziert 
Und  hat  doch  nichts  im  Schädel, 
Von  Tugend  nicks  passiert; 
Denn  wenn  man  recht  drauf  achtet: 
Igt  kein  Johann'swurm  nicht! 
Vielmehr  nahbei  betrachtet, 
Kommt  Wanzker  vors  Gesicht. 

Drum  lafstEuch  gar  nicht  blenden 

Von  solcher  Gloria; 

Merkt  ab,  bis  sich  wird  enden, 

Die  ganz'  Historia. 

In  kurzem  gehts  bergunter, 

Denn  Menschenleben  rennt, 

Oft  ist  man  fix  und  munter: 

Und  wie  siehts  aus  am  End? 


Moral. 


Einst  kommen  Ewigkeiten! 
Wohl  dem,  der,  wenn  Tod  winkt, 


Hat  gut  Geruch  bei  Leuten 
Und  nicht  wie  Wanzker  stinkt. 


Von  der  Predigtart  Pogarzelskis  legt  auch  der  Anfang  einer  Predigt 
Zeugnis  ab,  der  erhalten  geblieben  ist:  „ Liebe  Gemeind!  Ich  will 
euch  heute  predigen  von  Nuts,  nicht  von  Haselnuts,  auch  nicht  von 
Wallnuls,  auch  nicht  von  Betrübnuls  und  Ärgern ufs  und  Kümmernufs, 
sondern  vom  heiligen  Johannus." 

Über  18  Jahre  wirkte  Pogarzelski  in  seiner  Gemeinde.  Er  wurde 
von  seinen  Bauern  über  alles  geliebt  und  geehrt,  denn  er  verstand, 
ihre  Herzen  auszuforschen   und  ihnen  die  rechte  geistige  Nahrung  zu 


Pogarzelski.    Vaterunser.  211 

reichen.  In  einem  Alter  von  60  Jahren  und  7  Monaten  starb  er,  nach 
halbjährigem,  schwerem  Krankenlager,  am  29.  April  1798.  Der  Schlag 
hatte  ihn  gerührt,  darauf  folgte  Wassersucht.  Er  hat  es  noch  erlebt, 
dafs  die  Grenzen  seines  Vaterlandes  weit  über  Polen  hin  ausgedehnt 
wurden.  Es  gab  überhaupt  kein  Polen  mehr,  und  preußischer  Krieger- 
schritt erhallte  am  Mittellauf  der  Weichsel  und  des  Njemen.  —  Die 
darauf  folgende  vaterländische  Schmach  erlebte  Pogarzelski  nicht  mehr. 
An  einem  Bettage,  am  5.  Mai,  bei  herrlichem  Wetter,  bei  Lerchen- 
geschmetter und  Blütenduft  unter  dem  Zulauf  einer  grofsen  Menschen- 
menge wurde  er  bei  der  Sakristei  begraben.  Noch  heute,  nach 
100  Jahren,  lebt  er  im  Herzen  seiner  Volksgenossen,  und  wer  seine 
Schritte  einst  nach  den  herrlichen  Wäldern  und  Seen  Masurens  lenkt 
und  abseits  der  Gasthöfe  sich  mit  der  Eigenart  der  Bevölkerung  ver- 
traut machen  will,  wer  in  Kutten  und  Kalinowen,  Grabnich  und  Anger- 
burg von  alten  Sitten  und  Begebenheiten  hören  will,  der  wird  bald 
auch  den  Namen  des  Mannes  vernehmen,  den  seine  Gemeinde  einst  so 
liebte. 

IV.     Das  masurisehe  Vaterunser. 

1.    (Mitgeteilt  vom  Superintendenten  Schulz-Lyck.) 

„Das  masurisehe  Vaterunser  wird  im  allgemeinen  genau  nach  Matth.  6, 
9 — 10  gebetet.  Soweit  kleine  Varianten  (aufser  der  abweichenden  Aussprache 
der  Zischlaute)  gebräuchlich  sind,  beschranken  sie  sich  auf  folgende  unwesent- 
liche Veränderungen: 

Oycze  nasz,  ktorys  jest  w  niebiesiech,  6wi§6  sie.  imie,  twoie;  przyidz 
(Panie)  krolestwo  twoie;  bqdz  wola  twoia  (swieta),  jako  w  niebie,  tak  i  na 
ziemi;  chleba  naszego  powszedniego  day  nam  dzisiay;  i  odpuÄd  nam  nasze 
winy,  jako  i  my  odpuszczamy,  winowaycom  naszym;  i  nie  w  wodz'  nas  na 
pokuszenie,  ale  nas  wybaw  ode  (wszego)  zlego.  Albowiem  twoia  jest  krolestwo 
i  moc  (i  czesl)  i  chwata  (od  wilkow)  az  na  wieki.    Amen." 

2.    (Mitgeteilt  vom  Pfarrer  Rogalsky-Alt-Ukta.) 

Oycz  nasz»  ktorys"  jest  w  niebiesiech.  Swiec  sie  imie  Twoje.  Przyidz 
Panie  krolestwo  Twoje.  Badz  wola  Twoja,  swieta,  jako  w  niebie,  tak  i  na 
ziemL  Chleba  naszego  powszedniego  daj  nam  dzisjaj.  I  odpus6  nam  nasze 
winy,  jako  i  my  odpuszczamy  naszym  winowojcom.  I  nie  w  wodz  nas  na 
pokuszenie,  ale  nas  zbaw  ode  zlego.  Albowiem  Twoje  jest  krolestwo  i  moc 
i  czesc  i  chwala  odtad  az  na  wieki.    Amen. 


14* 


Die  Philipponen. 


Schulz:  Einiges  über  die  Philipponen  und  deren  Ansiedelung  in  der 
Nikolaiker  und  Crutinner  Forst.  PreuTs.  Prov.-Bl.  1883,  661  bis  668. 

Gerfs:  Mitteilungen  über  die  Philipponen  im  Kreise  Sensburg.  Neue  preuls. 
Prov.-Bl.  1849  H,  50  bis  68;  1850  I,  376. 

Titius:  Die  Philipponen  im  Kreise  Sensburg.  Neue  preufs.  Prov.-Bl.  186*, 
192  bis  215;   1865,  1  bis  50,  281  bis  320,  385  bis  421;    1866,  449  bis  484. 


Umfänglichere  eigene  Notizen  bieten  ferner;  Beheim-Schwarzbach, 
Hohenzollernsche  Kolonisationen.    Leipzig  1874,  S.  463  bis  475. 

v.  Saltzwedell:  Statistische  Barstellung  der  Kreise  Sensburg;  gefertigt  im 
Jahre  1865.    Königberg  1866,  S.  6  bis  16. 

Toeppen:   Geschichte  Masurens.     1870. 

Gerfs:  Etwas  über  die  sogenannten  Philipponen  in  Masuren.  Von  der  Ver- 
heiratung und  der  Ehe.  In  „Beiträge  zur  Kunde  von  Masuren".  1895, 
S.  35  bis  46.     (Ist  für  die  Zeit  der  Einwanderung  zutreffend.) 

Hensel:    Masuren.    Königsberg  1896,  S.  32,  101,  102,  104  (Aburteilend). 

Weif s :   Preufsisch-Litauen  und  Masuren  1878/79.     S.  180  ff. 

Zweck:   Masuren  1900.    B.  180  bis  189. 


"Wertvolle  handschriftliche  Arbeiten  von  Gerfs,  in  meinem  Besitz,  sind: 

Die  Philipponen  1836.    X  u.  400  u.  19  Seiten,  28  Kapitel. 

Die  Philipponen  1839.  XVI  u.  424  Seiten  u.  5  Blatt  Abbildungen  der 
Trachten,  38  Kapitel.  Daraus  gedruckt:  die  obigen  Arbeiten  und  eine 
solche  im  „Boten  aus  Preufsen  1838". 

Die  Philipponen  1849.  34  Kapitel.  Ohne  Seitenzahlen,  aber  stärker  als 
die  vorigen;  das  Konzept  dazu  weicht  hier  und  da  ab.  Diese  drei  Be- 
arbeitungen desselben  Stoffes  sind  von  einem  gründlichen  Kenner  und 
Beobachter.  Die  letzte  Umarbeitung  geht  besonders  auf  die  Dogmatik 
und  Liturgie  auf  Grund  der  heiligen  philipponischen  Bücher  ein.  Die 
ethnographischen  Ausführungen  sind  deshalb  so  wertvoll,  weil  sie  für 
die  heutige  Zeit  in  den  meisten  Punkten  nicht  mehr  zutreffen.  —  Außer- 
dem hat  Gerfs  folgende  Arbeiten  geschrieben,  abgesehen  von  Auszügen 
aus  historischen  Werken  und  Akten  über  die  Philipponen: 

^Auszüge  und  Übersetzungen  aus  dem  Buche  des  Cyrillus." 

„Übersetzungen  aus  dem  Potrebnik." 

„Auszüge  und  Übersetzungen  aus  der  slawonischen  Bibel." 

I.     Geschichte. 

Die  Philipponen  haben  ihren  Namen  von  dem  Zellenaufwärter 
Philipp  Pustolwiät,  der  um  1700  aus  dem  grolsen  Pomorianer- 
kloster  am  Wygfluls,  unweit  des  Weifsen  Meeres,  mit  50  Mönchen  aus- 
wanderte und  ein  neues  Kloster  in  der  Nähe  gründete.     Jenes  Porno- 


Geschichte  der  Fhilipponen  in  Bufsland.  213 

rianerkloster  war  von  einem  Teile  der  Starowierczen  erbaut  worden, 
die  1666  gegen  die  Nikonischen  Verbesserungen  der  altslawischen 
Liturgie  und  Bibel  auf  der  Moskauer  Kirchen  Versammlung  protestierten 
und  dann  in  Gegenden  auswanderten,  die  den  Behörden  die  Nach- 
stellung erschwerten. 

Wie  die  nach  Polen  geflohenen  Raskolniken,  von  denen  die  meisten 
unserer  ostpreulsischen  abstammen,  zu  dem  Namen  der  Philipponen 
kommen,  ist  nicht  völlig  aufgeklärt.  Einige  derselben  meinen,  Philipp 
sei  ein  erfolgreicher  Gegner  Nikons  gewesen  und  verwechseln  ihn  wohl 
mit  Nikita  Pustolwiät,  den  bedeutenden  Wortführer  der  Opposition. 
Er  ist  als  starowierczische  Autorität  neben  Bischof  Paul  von  Eolomna, 
Erzpriester  Neronow  von  Moskau  und  Priester  Awakum  von  Tobolsk 
der  am  meisten  genannte  Glaubensheld.  Andere  sagen,  Philipp  sei  ein 
gewöhnlicher  Bauer  gewesen  und  habe  die  Auswanderung  von  Bufs- 
land nach  Polen  geleitet.  Von  jenem  Philipp  Pustolwiät  aber,  den 
man  nicht  für  würdig  hielt,  Nachfolger  des  gelehrten-  pomorianischen 
Klostervorstehers  Andrei  Denisow  zu  werden,  wissen  sie  nichts.  Es 
steht  fest,  dafs  die  strengen  Altgläubigen,  infolge  Annahme  der  fanati- 
schen Forderungen  Philipps,  von  den  Umwohnern  den  Namen  Philip- 
ponen erhielten. 

Philipp  war  ein  Feind  der  Popen  und  der  Priesterweihe,  er  trat 
für  die  freie  Predigerwahl  ein,  verwarf  Eid,  Ehe,  Kriegsdienst,  Gebet 
für  den  Czaren,  Theater,  Kaffee,  Thee,  Tabak,  Medizin,  Verkehr  mit 
Andersgläubigen,  die  Führung  von  Geburts-  und  Totenregistern,  —  alles 
auf  Grund  der  Bibel  und  Kirchenväter.  Er  empfahl  Fasten  und  Beten 
und  pries  den  Märtyrertod,  den  er  dann  selbst  im  Feuer  wählte.  So 
fanatisch  anfänglich  seine  Anhänger  an  allen  diesen  Forderungen  fest- 
hielten, so  gaben  sie  dieselben  in  der  nun  einmal  bestehenden  „Welt 
des  Antichrists",  die  trotz,  aller  Hoffnung  auf  Untergang  ruhig  fort- 
bestand, allmählich  bis  auf  Fasten-  und  Betgebräuche  auf.  Sie  unter- 
scheiden sich  also  bis  auf  einige  Äufserlichkeiten ,  wie  die  Kreuz- 
inschrift, nicht  von  den  Altgläubigen,  deren  Glaubensgenossen  sie  sich 
nennen. 

In  Ostpreufsen  führen  sie  den  Namen  Philipponen,  in  der  Bukowina 
Lippowaner,  in  Polen  Kaczagy.  Als  ein  Glied  im  ostpreutsischen 
Völkerreigen  haben  sie  ihre  Eigenart  gehabt  und  eine  neue  entwickelt. 
Ihr  Gebiet  liegt  inmitten  des  masurischen  Teiles  von  Ostpreutsen.  Die 
Philipponeninsel  reicht  nicht  in  das  Gebiet  hinein,  wo  die  Deutschen 
überwiegen. 

Nach  Einführung  der  Nikonischen  Verbesserungen  und  Unter- 
drückung des  Strelizenaufstandes  flohen  1676  in  den  niko manischen 
Verfolgungen  zu  Moskau  viele  Starowierczen  in  das  Witebsker  Gou- 
vernement, besonders  in  die  Gegend  von  Rzeczyca  und  Lojewo,  wo  sie 
als  fleilsige  Arbeiter  sehr  geschätzt  wurden.  Später  kamen  auch  solche 
hierher,  die  sich  erst  nach  der  Insel  Wjetka  und  in  die  Gegend  von 


214  Di©  Philipponen. 

Olonez  und  vom  Wygfluls  gewandt  hatten.  Andere  waren  nach  Sibirien, 
nach  der  Bukowina  und  nach  Polen,  in  die  Gegend  von  Lomza,  Suwalki, 
Augustowo,  Sieny  gezogen.  1733  bezeichnet  Kulczynski,  der  Philipp 
Pustotwiät  mit  Nikita  Pustolwiät  Ter  wechselt,  die  Starowierczen  mit 
dem  Namen  Philipponen.  Nach  und  nach  entstanden  bedeutendere 
Gemeinden  und  Klöster  in  Moskau,  Petersburg,  Kiew,  Wilna,  Minsk, 
Riga,  Jakobstadt  und  in  vielen  Orten  Polens,  die  alle  untereinander 
in  Verbindung  stehen.  Als  ein  Teil  Polens  neuostpreufsisch  wurde, 
fühlten  sich  die  neuostpreufsischen  Philipponen,  die  ihre  alten  fanati- 
schen Sitten  längst  aufgegeben  hatten,  besonders  glücklich.  1798 
waren  955  philipponische  Familien  unter  preufsischer  Herrschaft,  wie 
Jackstein  in  der  Neuesten  Berliner  Monatsschrift  1799  (S.  408)  in 
einer  Arbeit  über  sie  hervorhebt.  Ihre  Hauptsitze  waren  die  Kirch- 
spiele Pogorzelice  und  Glebokirow  bei  Suwalki.  Da  sie  nach  dem 
Tilsiter  Frieden  polnische  Unterthanen  wurden  und  nun  Personal- 
register führen  und  1821  Kriegsdienst  leisten  sollten,  hielten  sie  ihre 
Religion  für  gefährdet  und  gedachten  mit  Sehnsucht  der  glücklichen 
Zustände  vor  1807,  wo  man  sie  vorläufig  unbehelligt  gelassen  hatte. 
Als  dazu  der  Pogorzelicer  Geistliche  sich  auf  Seite  der  Regierung  stellte 
und  von  ihr  Sold  bekam,  der  Glebokirower  aber,  Jafim  Borissow,  der 
Bruder  des  späteren  Eckertsdorfer  Schulzen,  Druck  und  Verfolgung 
Über  sich  ergehen  liels  und  in  keine  Neuerung  willigte,  stellten  sich 
die  meisten  Philipponen  auf  Seiten  des  glaubensstarken  Fanatikers 
Jafim  Borissow,  der  sich  einen  Freund  des  preufsischen  Königs  nannte. 
Man  knüpfte  1824  Unterhandlungen  mit  der  preufsischen  Regierung 
behufs  Einwanderung  in  Ostpreufseh  an.  1825  genehmigte  der 
preulsische  König  dieselbe,  und  zwar  „auf  unkultivierten  Grund  und 
Boden u  in  Litauen  oder  Ostpreutsen  unter  Erlats  des  Kriegsdienstes 
für  die  erste  Generation  und  gegen  Beibringung  der  Pässe.  Infolge 
Schwierigkeiten  der  polnisch  -  russischen  Behörden  zog  sich  aber  die 
Einwanderung  in  die  Länge.  Das  zuerst  ins  Auge  genommene  Gut 
Schnittken  wurde  anderweit  verpachtet.  Der  erste  Pals  wurde  im 
August  1827  für  Onufri,  die  meisten  anderen  von  1829  bis  1832  aus- 
gestellt. Von  1828  bis  1832  wanderten  nach  abgeschlossenen  Kon- 
trakten 38  Familienoberhäupter  mit  den  ihrigen  (213  Köpfe)  ein,  er- 
hielten aulser  den  oben  erwähnten  Zusagen  die  Gewährung  von  sechs 
Freijahren,  von  freier  Religionsausübung  und  mancherlei  Erleichterung 
und  bekamen  Landstrecken  im  Nikolaiker  und  Crutinner  Forst  zu- 
gemessen, auf  denen  sie  die  ersten  Dörfer  Onufrigowen,  Piasken, 
Kadzidlowen,  bis  1832  noch  Eckertsdorf,  Schönfeld,  Schlölscben,  Gal- 
kowen,  Nikolaihorst,  1833  Fedorwalde,  Peterhain,  in  den  1840  er  Jahren 
Iwanowen  gründeten.     Vgl.  Abb.  65  und  statistische  Tabelle  S.  217. 

Die  Einwanderer  stammten  aus  dem  Witebsker  und  den  an  Ost- 
preufsen  angrenzenden  Gouvernements.  1832  kamen  die  meisten 
Kolonisten,  1833  entwirft  Schulz  ein  lebhaftes  Bild  ihres  Fleifses,  und 


Geschichte  in  Preufsen.  215 

1836  schrieb  Gerts  sein  erstes  Werk  über  ihre  bürgerlichen,  religiösen 
und  volkstümlichen  Verhältnisse.  1837  ward  der  Zengeneid  eingeführt. 
1838  am  16.  Juni  besuchte  Kronprinz  Friedrich  Wilhelm  Eckertsdorf, 
wurde  mit  „Vivat,  es  lebe  der  König"  und  Gesang  und  unter  Dar- 
reichung von  Brot  und  Salz  begrüfst  und  besichtigte  dann  unter 
Glockengeläut  die  Betstube  mit  den  Heiligenbildern.  Er  hinterliefs 
den  freudigsten  Eindruck  und  wurde  von  den  berittenen  Philipponen 
bis  zum Wigrinner Wäldchen  begleitet..  Der  Starik  aber  sagte  heimlich 
zu  Gerfs:  „Ich  dachte,  er  würde  mir  ein  Sümmchen  zum  Bau  der 
Kirche  geben. tt  Die  Eckertsdorf  er  Kirche  wurde  erst  später  gebaut; 
Jedoch  galt  Eckertsdorf  als  das  Kirchspiel,  obwohl  Schönfeld  sich  schon 

1837  ein  Gotteshaus  errichtet  hatte.    1839  wurden  die  Registranden  ein- 
geführt, trotzdem  verbargen  sich  noch  immer  polnische  Militärflüchtige 
und  mehr  oder  minder  zweifelhafte  Elemente  von  drüben  bei  den  An- 
siedlern; ein  fortwährendes  Wandern  herüber  und  hinüber  fand  statt, 
bis  1842  in  Altukta  ein  besonderer  Polizeikommissar,  Schmidt,  der 
Philipponenkönig ,    angestellt    ward.      Der    unerschrockene,    tüchtige 
Mann  brachte  mit  liebenswürdiger  Strenge  Ordnung  in  die  Kolonie; 
es  wurden  die  Verhältnisse  betreffs  Ehescheidung,  Volljährigkeit,  Vor- 
mundschaft, Kuratel,  Erbteilung  geregelt,  in  die  früher  die  Philipponen 
keinen  Fremden  sehen  lassen  wollten,  bis  sie  sich  selbst  vom  Werte 
strenger   Gesetze   überzeugt   hatten.      1843    fand    die    erste   Militär- 
aushebung statt,   1847  wurde  der  Schulbesuch  der  Mädchen  durch- 
gesetzt, in  demselben  Jahre  ward  das  Eckertsdorf  er  Kloster  gegründet 
und  die  evangelische  Kirche  in  Altukta  gebaut,  die  jenen  erbitternden 
Streit  hervorrief.   Die  Ansiedelungskontrakte,  die  von  den  des  Schreibens 
unkundigen  Philipponen  mit  drei  Kreuzen  unterzeichnet  waren,  be- 
sagten u.  a.,  dafs  sie  ihre  Kirchen,  Pastoren,  Lehrer  selbst  zu  bezahlen 
hätten  und  redeten  von  einem  Kirchspiel  Eckertsdorf.    Bei  Umgrenzung 
des  Altuktaer  Kirchspiels  lagen  nun  auch  die  meisten  Philipponendörfer 
darin,  und  der  Uktaer  Pfarrer  verlangte  von  ihnen  den  Zehnten.     Sie 
protestierten:    18  aus  Eckertsdorf,  5  aus  Schlöfschen,  1  aus  Iwanowen, 
5  aus  Nikolaihorst,  4  aus  Galkowen,  1  aus  Kadzidlowen,  9  aus  Schön- 
feld, 5  aus  Fedorwalde,  5  aus  Peterhain.    Onufri,  der  überall  Vertrauen 
genofs,  entgegnete,  sie  hätten  die  Wälder  für  sich,  nicht  für  fremde 
Kirchspiele  gerodet,  sie  bildeten  ein  eigenes  Kirchspiel,  hätten  nicht 
für  fremde  Priester  zu  sorgen;  als  der  König  bei  ihnen  gewesen  sei, 
habe  er  keine  Verpflichtungen  gegen  benachbarte,  zu  errichtende  Kirch- 
spiele gekannt.     Darum  ersuchte  die  Behörde  den  Pastor,  die  Klage 
zurückzuziehen,    und    die    Philipponen,    die   Entscheidungskosten    zu 
tragen.     Hierauf  ging  keine  Partei  ein,  der  Streit  dauerte  fort,  am 
2.  Juli  1849  ward  er  zu  Ungunsten  der  Philipponen  entschieden;  das 
allgemeine  Landrecht  setze   „ Realzehnte,  grofse  und  kleine  Kaiende 
ohne  Rücksicht  auf  die  Verschiedenheit  des  Glaubens u  fest  und  „Kirch- 
spiel Eokertsdorf"  sei  nur  lokal,  nicht  gesetzlich,  am  wenigsten  gleich- 


216 


Die  Philippontra. 


berechtigt  gemeint.  Dumpfer  Groll  erfüllte  die  Gemüter,  man  glaubte, 
betrogen  worden  zu  sein;  aber  allmählich  legte  sich  die  Unlust.  Man 
lernte  einsehen,  dafs  die  Staatsgesetze  doch  grofsen  Schutz  gewährten, 
besonders  als  im  Reyolutionsjahre  1848  auf  ständische  Begehrliche  nach 
den  Gütern  der  reichen  Philipponen  blickten  und  ernten  wollten,  wo 
die  fleifsigen  Hände  Jener  gesäet  hatten.  Waren  ja  auch  mit  Über* 
nähme  des  Klostergrundstücke?  durch  den  gelehrten  Krakauer  Geist- 

Abb.  65. 


t  Kirchs.,  *PhJlipponuc. 
klarster 

&£  Kantigen.  Phi- 
UpponmdSrttr  sütdß 
twmünsl.dit  früheren, 
eüuwtl  untsrttrükcit* . 


Die  ostpreufsischen  Philipponendörfer. 

liehen  Chowronin,  der  später  zugleich  Starik  von  Eckertsdorf  wurde, 
und  mit  der  Auswanderung  der  fanatischen  und  reichen,  angesehenen 
Unruhestifter  Sidor  Borissow  und  Fama  Iwanow  die  Häupter  des  Wider- 
standes gewichen.  Denn  wenn  diese  auch  bitter  enttäuscht  zurück- 
kehrten, so  war  doch  ihre  Autorität  geschwunden. 

1853  wurde  die  Impfung,   1857  das  Aufgebot  eingeführt.     1864 


Statistischen  über  die  Plüipponendörfer. 


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218  ™e  Philipponen. 

bis  1866  geben  der  Rektor  Titius  und  der  Landrat  v.  Saltzwedell 
umfassende  Nachrichten  von  den  Philipponen.  Seit  1878  besuchen 
die  Kinder  die  Staatsschule,  den  Religionsunterricht  erteilt  das  Haus. 
1884  verlassen  die  Mönche  das  Kloster,  das  von  den  Maudanner  Nonnen 
erworben  und  noch  jetzt  bewirtschaftet  wird.  1887  findet  die  Aus- 
weisung nichtdeutscher  Staatsangehöriger  aus  den  Kolonien  statt.  Im 
folgenden  Jahre  schildert  Skowronnek  in  seinen  masurischen  Dorf- 
geschichten wiederholt  unsere  Kolonien.  1895  trennt  sich  ein  Teil 
der  Peterhain-Fedorwalder  Philipponen  von  den  Eckertsdorfern,  indem 
sie  eine  eigene  Betstube  errichten  und  alljährlich  ein-  oder  zweimal 
das  Abendmahl  aus  der  Hand  des  kaiserlich  russischen  Gesandtschafts- 
propstes  A.  v.  Maltzew  mit  Gottesdienst  nach  vornikonischem  Ritus 
geniefsen.  Nach  Angabe  desselben  sind  die  Eckertsdorfer  „richtige 
Philipponen,  bezw.  Bespopowzi"  (Priesterlose),  die  Fedorwalder  aber 
„ Altgläubige a  schlechthin.  Der  Eckertsdorfer  Geistliche  nennt  seine 
Pfarrkinder  „griechisch  -  katholische tf  ,  die  Fedorwalder  „ russisch- 
katholische  u. 

Ich  war  im  Juli  1897  in  den  Philipponer  Kolonien  und  schildere 
in  den  folgenden  Abschnitten  auf  Grund  von  eigener  Anschauung,  von 
Mitteilungen  der  dortigen  evangelischen  und  philipponischen  Beamten 
und  Privatleute,  insbesondere  des  Eckertsdorfer  Popen. 

Der  letzte  Philipponenforscher,  Martin  Gerfs,  veröffentlichte  leider, 
der  ungünstigen  Verhältnisse  halber,  nur  wenig  von  seinen  Studien. 
Gerfs  wurde  am  23.  Oktober  1808  in  Kowalken  im  Goldaper  Kreise 
geboren,  sein  Yater  war  Hirt ;  der  Knabe  wurde,  wie  Rhesa,  beim  Lesen 
angetroffen,  als  er  sein  Vieh  hütete,  und  erhielt  vom  Pfarrer  und  vom 
Schulrevisor  Mittel  und  Wege  gewiesen,  das  Lehrerseminar  in  Karalene 
besuchen  zu  dürfen.  Er  war  dann  Kantor  in  Nikolaiken  (1828  bis 
1835)  und  machte  hier  seine  umfassenden  Philipponenstudien ,  dann 
war  er  in  Seehesten  und  1838  bis  1848  Rektor  in  Grofs  -  Stuerlack. 
Politische  Gründe  veranlassten  die  Aufgabe  seines  Amts;  er  lebte  nun 
in  Lötzen  seinen  Studien  und  seiner  Arbeit.  Er  war  langjähriger 
Stadtverordnetenvorsteher,  Gründer  des  Vereins  für  Kunde  Masurens 
und  starb,  allseits  geehrt,  am  25.  März  1895.  Autser  polnischen 
Schriften  und  einem  deutsch  -  polnischen  Lexikon  schrieb  er  noch 
chronikalische  Arbeiten  und  Gedichte. 

n.    Besiedelung. 

1.  Anbau.  Die  Philipponen  durften  ihre  Geräte  zollfrei  ein- 
führen. Sie  brachten  gute  Wirtschaftsgegenstände  mit,  errichteten 
sich  Hütten  in  einfachster  Form,  nachdem  ihnen  ihr  Land  zugemessen 
war  und  gingen  dann  sofort  an  die  Urbarmachung.  In  lebhaften 
Farben  schildert  diese  Schulz.  Man  hatte  ihnen  bis  zum  Frühjahre 
1833  5047  Morgen  Land  zugewiesen;  die  Wege  und  Strafsen  waren 


Feldgeräte.  219 

Öffentlich;  die  Zahl  der  Mitglieder  betrug  274.  „Sobald  den  Philip- 
ponon  das  Land  vermessen  ist,  so  beginnt  die  Urbarmachung  den 
Bodens  mit  einer  Thatigkeit  und  Schnelligkeit,  die  fast  ans  Unglaub- 
liche grenzt.  Mit  ihrem  einfachen,  mit  einem  Pferde  bespannten  Pfluge 
(vgL  Abb.  66)  stürzen  sie  zwischen  vielen  noch  vorhandenen  Stabben 
Abb.  66. 


Alter  Philipponenpflng  (1833),  Saiten-  und  Oberanaicht.     Gabel. 
(Nach  Zeichnungen  von  Gerls.) 

den  wild  durchwurzelten  Boden,  machen  ihn  durch  einfache,  von 
Tannenzweigen  verfertigte  Eggen  mürbe  und  besäen  den  Acker  mit 
Sommergetreide,  so  dafs  nach  vier  bis  fünf  Wochen  mehrere  hundert 
Morgen  mit  grünen  Saaten  bedeckt  sind.  Nach  diesen  für  den  Lebens- 
unterhalt getroffeneu  Torrichtungen  schreiten  sie  zur  Bearbeitung  des 
Holzes  behufs  Erbauung  der  Wohnungen,  die  sie  tüchtig  zu  erbauen 
verstehen."  Heute  bietet  der  Feldbau  nichts  charakteristisches ,  die 
alte  Ergiebigkeit  hat  abgenommen,  da  nicht  gedüngt  ward. 

2.  Beschäftigung.  Sie  kamen  alle  als  Landbauer  her,  und 
erzielten  anfangs  reichen  Ertrag.  Dieser  verminderte  sich  aber,  da  sie 
den  Boden  nicht  düngten.  Jetzt  hat  der  Eifer  in  der  Feldwirtschaft 
nachgelassen.  Sie  lenkten  übrigens  gleich  anfangs  ihre  Aufmerksamkeit 
auf  Obstbau,  Fischerei ,  Waldwirtschaft,  Gärtnerei,  Badmacherei,  Brett- 


220  Die  Philipponen. 

Schneiderei,  Teerschwelen,  Strafsenbau.  Da  sie  gleich  auf  freiem  Felde 
aus  den  Stubben  Teer  brannten,  hatten  sie  zunächst  mancherlei  Klagen 
von  den  Umwohnern  zu  hören.  Beim  Eunststrafsenbau  waren  sie 
äufserst  tüchtig.  Ein  gewisser  Malowany  beschäftigte  als  Leiter  bei 
einem  solchen  Bau  in  den  ersten  Jahren  300  Arbeiter,  teils  in  Polen, 
teils  in  Preufsen.  Mäfsigkeit  und  Verabscheuung  des  Genusses  machte 
alle  wohlhabend.  Aber  sie  waren  fortwährend  auf  der  Wanderschaft. 
Noch  jetzt  findet  man  im  Sommer  in  Eckertsdorf  mehrere  Häuser  mit 
zugenagelten  Fenstern  und  Thüren.  Die  Insassen  sind  mit  Kind  und 
Kegel  nach  Osten,  wohin  sich  jedes  Philipponen  Blick  lenkt.  In  der 
Lycker  Gegend  haben  sie  Obstgärten  und  Alleen  gepachtet.  Im  Herbst 
kehren  sie  zurück,  oft  bringt  eine  einzige  Familie  1500  Mk.  Gewinn 
mit.  Die  Vorliebe  für  Obstbau  und  Gärtnerei  ist  ja  auch  an  jedem 
Garten  zu  sehen,  der  freundlich  in  Blüten-  und  Fruchtschmuck  prangt; 
Bienenstöcke  besitzen  die  meisten  Häuser. 

Die  Liebe  zum  Walde  und  zum  Forstwesen  zeigen  schon  ihre 
Spaziergänge.  Und  den  See  wissen  sie  sich  nutzbringend  zu  machen. 
Die  gesamte  Fischerei  ist  in  den  Händen  der  Philipponen,  die  sie  von 
den  besitzenden  Ständen  als  Höchstbietende  gepachtet  haben.  Krebse 
und  Maränen  sendet  der  Philippone  nicht  nur  in  die  Umgegend,  son- 
dern auch  nach  Polen,  wo  sie  willkommene  Fastenspeise  für  die  Katho- 
liken sind. 

III«     Haus  und  Hof« 

1.  Haus  und  Hof.  Die  ersten  Hütten  ragten  nur  wenig  über  den 
Boden  hervor;  man  hatte  durch  Ausschachten  reine  Kellerwohnungen 
geschaffen.  Sobald  die  Felder  in  Ordnung  waren,  begann  man  mit 
dem  wirklichen  Hausbau.  Man  baute  auf  Stubben  oder  Steinen  im 
Gersats.  Während  der  gröfste  Teil  der  litauischen  Häuser  südlich 
vom  Njemen  in  Ständern  mit  Füllholz  errichtet  ist,  bevorzugt  das  süd- 
liche Ostpreufsen  die  gegenseitige  Verschränkung  der  Balken  an  den 
Eckseiten  (Abb.  67).     Die  Balken  sind  meist  vierkantig  behauen,  doch 

Abb.  67.  Abb.  68. 


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Gersafs-  Firsthalter  (ll/am  lang), 

balkenende.  a  mit  Nagelung;  b  mit  Kehle. 

bieten  ältere  Häuser  auch  noch  Rundholz.  Sechs  bis  zehn  Balken 
liegen  übereinander.  Das  Schilfschindeldach  ist  ebenso  hoch  als  die 
etwa  3  m  hohe  Wand.  Die  Schindeln  werden  mit  eigentümlichen  Holz- 
winkeln festgehalten,  die  dem  First  aufgedrückt  sind  und  Im  lang  zu 


Haus  und  Hof.    Giebelzier. 


221 


beiden  Seiten  des  Daches  herunterliegen  (Abb.  68).  Eine  ähnliche 
Stroh  Verflechtung,  wie  sie  beispielsweise  in  Litauen  und  in  der  Kaschubei 
den  First  festklammert,  sieht  man  hier  nicht.  Eine  Feuerleiter,  eine 
Wetterfahne  in  Fisch-  oder  Pfeilgestalt,  eine  Giebelzier  in  Kreuz-, 
Reichsapfel-,    Kopf-   und   Horngestalt   fehlen    selten  (Abb.  69).      Die 

Abb.  69. 


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Giebelzier  im  philipponischen  Gebiete  bei  Philipponen  und  Masraren. 

Giebelzier  hält  die  beiden  Dachgiebelbretter   (Abb.  70),   die   mit  ver- 
schiedenen  Schmucklinien  (Abb.  71)   ausgeschnitten   sind.     Das  Holz 

Abb.  70. 


'Giebelzier  (a)  mit  Giebelbrett  (b). 

ist  naturfarben,  die  Balken   sind  oft  mit  Moos  verstopft  und  innen 
weifs  getüncht.     Vor  der  Thür  ist  meist  ein  Laube nvorbau  mit  Stufen 

Abb.  71.  Abb.  72. 


Abb.  73. 


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Drei  Zierschnitte  der  Fischerhütte. 

Giebelbretter.  a  Schilfdach;  b  offene  Seite. 


Keller. 


und  Bänken;  diese  Laube  ist,  wie  das  Haus,  mit  Blumen  oder  Schling- 
pflanzen umrankt.  Das  einfachste  Wohnhaus  ist  zweiteilig  (Abb.  74, 
S.  223).  Man  tritt  zur  einteiligen  Hausthür  in  den  geräumigen  Haus- 
flur ein,  von  diesem  führt  links  eine  Seitenthür  in  die  Stube,  nach 
hinten  eine  in  den  Hof,  nach  oben  die  Treppe.  Daneben  ist  der  Herd 
zum  grofsen  Ofen  in  der  Stube. 


222  Die  Fhilipponen. 

Diesem  Zustande  des  Hauses  ging,  abgesehen  von  Hütte  und 
Keller  (Abb.  72  und  73  a.  v.  S.),  ein  anderer  vorher,  wo  Hausflur 
und  Stube  ungetrennt  waren,  ihm  folgte  der  jetzt  am  meisten  ver- 
breitete, nämlich  die  Dreiteilung  des  Hauses,  in  der  Art,  dafs  der 
lichtlose  Flur  nochmals  in  der  Richtung  der  beiden  Thüren  geteilt  und 
so  Raum  für  den  Altsitzer  oder  den  Stall  geschaffen  ward.  Die  hoch- 
malige  Teilung  der  Stube  in  Stube  und  Kammer  (Abb.  75  bis  79)  ist  wohl 
Regel,  doch  wird  die  Stube  als  Wohn-  und  Schlafraum,  die  Kammer  als 
Web-  und  Arbeitsraum  benutzt.  Die  Hausthür  und  das  Fenster  sind 
der  Strafse  zugekehrt  Die  Stube  (Abb.  80,  81,  S.  224)  ist  gedielt  und 
sehr  reinlich  gehalten.  An  den  Deckbalken  ist  das  Ende  einer  langen 
Stange  befestigt,  die  von  einer  Strickschlinge  in  einiger  Entfernung 
so  gehalten  wird,  dafs  sie  federn  kann.  Am  dünnen  Stangenende  ist 
an  einem  vierteiligen  Seile  ein  Wiegenkorb  angehängt,  in  dem  die  Kinder 
geschaukelt  werden.  Zur  linken  Seite  (Abb.  80)  steht  ein  riesiger  Koffer 
zur  Aufbewahrung  der  Kleider,  darüber  ein  Bücherbrett  mit  russischen 
Gebetbüchern,  deutsche  sieht  man  nicht.  Der  Wandsohmuck  ist  eigen- 
artig, aufser  Familienbildern  trifft  man  die  Bilder  unseres  und  des 
russischen  Kaiserpaares,  daneben  heilige  Bilderbogen,  die  meist  die 
Hölle  mit  den  Höllenqualen,  Teufeln,  Verdammten  und  allem  Beiwerk 
in  grellen  Farben  darstellen  und  aus  Rufsland  bezogen  werden.  Es 
berührt  eigentümlich,  gerade  Fürsten-  und  Soldatenbilder  zu  finden, 
zumal  die  Philipponen  abgesagte  Feinde  der  Herrscher  und  des  Militärs 
waren.  Zuweilen  führt  eine  Bank  an  der  Wand  hin,  jetzt  sind  ver- 
setzbare Stühle  und  Tische,  sowie  daneben  ein  schmuckes  Himmelbett 
mit  schneeweifsem  Linnen  und  bunten  russischen  Decken  der  schönste 
Schmuck  des  Hauses.  An  irgend  einer  Wand,  nicht  gerade  der  Ost- 
wand,  ist  ein  Heiligenschrank  mit  einem  Heiligentisch  angebracht.  In 
jenem  hängen  Marien-  und  Heiligenbilder,  von  Papierblumen  umkränzt, 
ferner  Messingkreuze,  Öllämpchen  etc.;  ein  Weihrauchkessel  fehlt  nie, 
sein  Duft  giebt  dem  ganzen  Philipponenhause  ein  stockiges  Aroma. 
Auf  dem  Heiligentische  aber  steht  neben  einer  prächtigen  gold-  oder 
messingbeschlagenen  Bibel  noch  ein  Evangelien-  oder  Perikopenbuch, 
daneben  liegt  ein  Rosenkranz  (Bet- Rechen;  Lesinka.  Abb.  82).  Eine 
Menge  grofser  und  kleiner  Wachslichter  befindet  sich  an  den  Wänden 
und  wird  bei  Gebeten  und  Festlichkeiten  in  grötserer  oder  geringerer 
Anzahl  angebrannt.  Am  Heiligenschranke  erscheint  der  gläubige 
Philippone  mindestens  dreimal,  beim  Aufstehen,  Schlafengehen  und  zu 
Mittag  und  hält  seine  Andacht.  Ich  habe  beobachtet,  wie  einer  früh- 
morgens etwa  zwei  Stunden  lang  Gebete  sagte,  Rosenkränze  abbetete, 
aus  den  Büchern  las,  niederfiel,  sich  unter  Verneigung  bekreuzte 
(Abb.  83),  wieder  aufstand,  die  Kleider  wechselte  und  wieder  aufs  neue 
las;  abends  dauerte  seine  Andacht  nur  eine  halbe  Stunde.  Die  gelben 
Lichter  fertigt  der  Starik  und  verkauft  sie  für  je  einen  Groschen. 
Die  Rosenkränze  (vgL  auch  Abb.  86,  S.  227)  werden  wie  die  Heiligen- 


Hausgrundrisse. 


223 


bilder  jetzt  aus  Rufsland  bezogen,  sie  bestehen  aus  109  kleinen  Leder- 
rippen oder  Lederstiften,  Ledas,  auf  einem  breiten  Lederbande  und 
enden  herzförmig  oder  in  einem  Dreieck.  Die  2.,  16.,  55.,  89.  und 
108.  Rippe  ist  stärker.     Sie  haben  auch  selbstgemachte,  aus  Perlen 

Abb.  74.  Abb.  75. 


Schaluppe. 


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Wohnhaus. 


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Abb.  76. 


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Wohnhaus  mit  niedrigem  Anbau. 


Abb.  77. 


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Wohnhaus  mit  hohem  Anbau. 


Abb.  78. 


Abb.  79. 


Kleines  Gehöft. 


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0 

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b 

A 

b 

A 

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1    i    1 

Gröfseres  Gehöft. 


Abb.  74  bis   79.     Philipponenhäuser.     &  Hausflur;    b  Stabe;    c  Kammer;    d  Stall; 

e  Abort;   f  Wirtschaftsraum;    g  Treppe;   h  Vorbank;  i   Hausstufen;  k  Mohngarten; 

1  Lindengarten ;  m  Bienenstöcke ;  n  Keller ;  o  BrunneD. 

zierlich  geflochtene  Rosenkränze,  die  gleichfalls  morgens,  mittags, 
abends,  nachts  gebraucht  werden.  Rechts  von  der  Stubenthür  stehen 
meist  die  geräumigen  Öfen,  schöne  Kachelöfen  mit  einer  grofsen 
oberen  Fläche,  auf  der  Holz  getrocknet  wird  und  die  Kinder  und 
Alten  schlafen.     Neben    dem   Ofen   fehlt   nie    der  Samowar  und  ein 


224 


Die  Philipponen. 


Schrank  oder  Brett  mit  Tischgerät.  Ein  eigentümlicher,  messingener 
Handwaschapparat  (Rukomojka  =  Handwäsche)  vervollständigt  das 
Hausgerät.     Dieser  kleine  praktische  Kessel  ist  etwa  y4  m  hoch  und 


Abb. 

80 

• 

f 

d 

b 

0 

gD 

e 

C 

a 

Hh 

b 

Abb.  81. 


Abb.  82. 


Abb.  83. 


Hand  beim  Kreuz- 
schlagen 1). 


Philipponenstuben. 

a  Ofen;  b  Bett;  c  Tisch;  d  Topfbrett;  e  Heiligenschrank;   f  Koffer  oder  Schrank; 

g  Stuhl ;   h  Spinnrad ;    i  Nähmaschine. 

knapp  so  breit,   er   ist   an   einem   Messinghaken   an    der  Wand  be- 
festigt, welcher  das  Seifennäpfchen  trägt.     Unten  endigt  er  in  einem 

Stifte,  den  man  so  in 
die  Höhe  schiebt,  dafs 
man  Wasser  in  die  Hand 
bekommen  kann.  —  Dort 
steht  friedlich  die  Näh- 
maschine neben  dem 
Spinnrade.  Im  Hausflur 
ist  noch  manches  eigen- 
tümliche Gerät  zu  finden,  beispielsweise  die  auch 
bei  Litauern  und  Easchuben  verbreitete  Schrot- 
mühle, auf  der  Schrot  und  Brotmehl  hergestellt 
werden,  ferner  eine  2  m  lange  Ofengabel  (Uchwat, 
ähnlich  Abb.  66,  S.  219)  zum  Herausholen  der 
Töpfe,  sodann  eine  eigentümliche  Kartoffelstampfe 
(Lewetjof).  Ein  Baumstamm  in  1  m  Höhe  und 
1/4m  Dicke  wird  nach  unten  abgeschrägt  und 
mit  einem  Fufse  versehen,  oben  wird  er  bis  zu 
0,5  m  Tiefe  ausgehöhlt.  Mit  einem  Stempel 
werden  die  gekochten  Kartoffeln  zermalmt,  zur 
Herstellung  von  Piraggen.  Ein  Deckel  ver- 
schliefst die  Öffnung.  Merkwürdig  ist,  dafs  im 
Yogtlande  die  Piraggen  als  Paroggen-Hans  (vgL 
Oldenburgisch  Bokweetenjanhinerk  =  Buchweizenhansheinrich  =  Pfann- 
kuchen) wiederzufinden  sind.    Daneben  steht  die  Flachsbreche,  auf  einem 


Bosenkranz 
der  Philipponen. 


l)  So  aus  einem  philipponischen  Buche  mitgeteilt  von  Iwan  Borischewitz. 
Es  folgen  von  unten  nach  oben :  Daumen,  fünfter,  vierter,  dritter,  zweiter  Finger. 


Gehöft.    Gerät    Hausbau.  225 

Kreuzbein  liegt  ein  starker  Klotz,  der  oben  mit  einer  Kante  zwischen 
zwei  Fugen  versehen  ist.  Wo  der  Klotz  auf  der  Erde  auf  trifft,  ist  ein 
in  die  Fugen  kommendes  Brett  befestigt.  Mit  dem  Griffe  auf  Seiten  der 
Kreuzbeine  kann  das  Brett  auf  und  nieder  gehoben  und  der  darunter 
gelegte  Flachs  gebrochen  werden. 

Zum  Wasserholen  dient  ein  Vs  m  hohes,  kegelstumpfförmiges 
Bügelgefäfs  aus  Holzdauben.  Ein  geflochtener  Kober  wird  als  Brot- 
korb von  den  Leuten  benutzt,  die  im  Freien  arbeiten.  Er  ähnelt  der 
kaschubischen  Lischke,  ist  aber  höher  und  schmäler.  Alte  hölzerne 
Salzgefäfschen  in  Gestalt  unserer  Pfeffermühlen  zieren  jeden  Tisch. 

Vor  dem  Hause  lehnt  wohl  auch  ein  auf  Kufen  befestigtes  1  m 
hohes  Fafs,  das  bei  ausbrechender  Feuersgefahr  zu  Händen  sein  mufs. 
Im  Hofe  aber  steht  der  hochrädrige,  mit  niedrigem  Sitzkorb  versehene 
Wagen.  Der  Hinterseite  des  Hauses  gegenüber  liegen  die  Wirtschafts- 
gebäude und  die  Stallungen,  das  Gehöft  wird  teilweise  mit  Planken 
umgeben,  die  Planken  sind  meist  oben  zugespitzt.  Sonst  dient  zur  Ab- 
grenzung gröfserer  Stücke  ein  einfacher  Bretterzaun,  bestehend  aus 
Schranken,  die  aus  je  zwei  Pfählen  mit  je  zwei  angenagelten  Quer- 
brettern zusammengesetzt  sind.  Der  Eingang  erfolgt,  indem  man  die 
zwei  Latten  aushebt. 

Der  Hausbau  blieb  nicht  auf  derselben  Stufe  stehen.  Zunächst 
war  ja  schon  ein  Unterschied  zwischen  Reichen  und  Armen  geboten. 
Die  Grölse  und  Vielteiligkeit  der  Wohnung  gründete  sich  darauf,  an- 
fänglich; nicht  das  Baumaterial.  Holz  war  und  ist  in  diesem  Waldlande 
billig  und  leicht  zu  bekommen,  das  Herbeischaffen  der  Feldsteine 
kostete  gröbere  Schwierigkeiten.  Heute  giebt  es  schon  hier  und  da 
schöne  philipponische  Steinhäuser.  Ich  habe  die  Anordnung  einiger 
älterer  Philipponenhäuser  aufgezeichnet.  Abb.  74  hat  rechts  Hausflur, 
links  Stube;  dies  ist  eine  einfache  Schaluppe,  Abb.  75  hat  in  der  Mitte 
Hausflur,  rechts  Stube  mit  Kammer,  links  Stall.  Abt)  84 
Abb.  76,  rechts  Hausflur,  links  Stube  mit  Kammer. 
Rechts  vom  Hausflur  ist  Stall  mit  Abort  angebaut. 
Ähnlich  ist  Abb.  77.  —  Abb.  78  hat  rechts  Hausflur, 
links  Stube  mit  Kammer,  gesondert  findet  sich  hinten 
gegenüber  der  Stall,  zur  rechten  Seite  des  Hofes  der 
Wirtschafsraum.  Abb.  79  hat  hinten  gegenüber  die 
Wirtschaftsräume,  links  vom  Hofe  den  Stall,  in  der 

Mitte  des  Hofes  Ziehbrunnen  mit  Kette,  daneben  den      TT       ___ 

_^.  Heuschutzer. 

unentbehrlichen  Mohngarten,   der  sich    als  Blumen- 

und  Gemüsegarten     ums    ganze    Haus     herumzieht,     b  Verschiebba' 
rechts  vom  Wirtschaftsgebäude  stehen  Linden.    Vor      Schindeldächer. 
den   Fenstern    sind   Bänke    angebracht.      Eigenartig 
ist,  wie  bei  so  vielen  Philipponenhäusern ,  der  seitliche  Eingang,  der 
sogar  hier  Laubenvorbau  aufweist.    Hinter  den  Linden  sah  ich  Bienen- 
körbe, puppenförmig  aus  Stroh   gebaut.     In  einiger  Entfernung  steht 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  J5 


226  Die  Philipponen. 

der  eigentümliche  dachförmige  Keller  (Abb.  73,  79  n);  dahinter  der 
Garten  mit  dem  hölzernen  Badehaus  (Banja),  im  Felde  hinten  das  in 
ganz  Ostdeutschland  gebräuchliche  Feimgestell :  bestehend  ans  vier 
Holzsftulen  auf  quadratischem  Grundrifa,  ungefähr  3  m  entfernt,  6  m 
hoch,  darauf  ein  ab-  und  aufschiebbare*  Dach  (Abb.  84  a.  v.  S.)- 

2.  Klöster.  Klöster  gab  es  drei.  Das  Onufrigowener  Mönchs- 
kloster brannte  nieder.  Das  Maudanner  Nonnenkloster  wurde  von 
den  Nonnen  verlassen,  weil  diese  das  schönere  Eckertsdorfer  Mönchs- 
kloster, dessen  Mönche  nach  Rufsland  gingen,  inzwischen  erworben 
hatten.  Das  Eckertsdorfer  besteht  noch  and  hat  seine  Geschichte,  es 
ist  das  erste  und  letzte  I'hilipponenkloster  in  Deutschland.  Kurz  nach 
der  Einwanderung  ward  am  malerischen  Dulssee  eine  Einsiedelei  auf 
einem  Hügel  erbaut;  echtes  Mönchskloster  wurde  es  erst,  als  1847 
Chowronin  mit  seinen  Genossen  kam.  Aber  der  Zuwachs  blieb  aas. 
Schließlich  vermachten  es  die' Mönche  einem  ihrer  Wohlthäter,  der  es 
für  40000  Mk.  an  die  Maudanner  Nonnen  verkaufte  und  nach  Kulinowen 
Abb.  Bö.  zoS-     Der  früher  bei  den  Nonnen  thätige 

Pope  ward  später  entlassen  und  wohnt 
jetzt  in  Fedorwalde.  Kürzlich  erhielt 
ich  das  Bild  eines  neuen  (Abb.  85). 

Das  Kloster  liegt  abseits  des  Weges 
Eckertsdorf-Maudannen.  Wir  gehen  bei 
ein  paar  Pbilipponenhäusern  rechts  ab 
und  sehen  inmitten  des  Obstgartens  ein 
Steinkirchlein  mit  zwei  Glocken.  Rechts 
davon  befindet  sich  das  von  einer  Mauer 
umgebene  Klostergehöft.  Über  dem  Thore 
ragt  ein  Muttergottesbild.  Man  öffnet 
die  Pforte  und  befindet  sieb  in  einem 
Vorhofe.  Wütend  bellen  uns  zwei  Hunde 
als  Wächter  entgegen ;  einige  Schritte 
vorwärts,  und  wir  gelangen  auf  einen 
gr olsen  Hof  mit  elenden  Holzhäusern, 
Ställen  und  Wirtschaftsgebäuden,  links 
ragt  ein  ärmliches  Holzhaus  hervor.  Auf 
einer  Seitenstiege  gelangt  man  an  die 
Thür.  Eine  60  Jahre  alte  Nonne  empfängt 
uns  freundlich,  da  sie  aber  nur  russisch 
spricht,  ruft  sie  die  jüngere  Irina.  Ein 
(Nach  *\nn  Photographie  von  paar  „j^  Nonnen  liegen  —  es  ist  nach- 
Oebhardi-Sensuurg.)  mittags    3   Uhr    —    im    Bett.      Vor    der 

Hausthür  sonnt  sich  ein  lehensmüder  Greis  auf  einer  Matte;  ein  anderer 
Klosterinsasse,  dem  die  Nonnen  Aufnahme  gewährten,  hütet  draufsen 
auf  dem  Felde  die  Kühe.  Die  Nonne  fühlt  uns  in  das  schmuck  aue- 
sehende Kirchlein,    das,    wie  jede   Pbilipponenkirche ,  mit  zahlreichen 


Kloster,  Kirchhöfe.  227 

Heiligenbildern  geziert  ist.  Drinnen  predigt  zuweilen  eine  rassische 
Nonne ;  mit  einem  männlichen  Priester  hatte  man  schlechte  Erfahrungen 
gemacht  nnd  ihn  abgesetzt.  Die  Zahl  der  Nonnen  soll  8,  die  oller  zum 
Kloster  gehörigen  Personen  etwa  25  betragen.  Die  Nonnen  (Abb.  86) 
legen  nicht  immer  ihre  Trachten  an ;  sie  arbeiten  in  der  Wirtschaft, 
in  den  Ställen,  auf  dem  Felde,  meist  barfufs.     Zum  Eintritt  in   das 


PhilipjKrait),  philipponisnhe  Nonnen  mit  Rosenkranz. 

Bekreuzigung  des  Philippinen. 

(Nach'  einer  Photographie  voo  Gebharni-Sennburg.) 

Kloster  gehört  nur  der  gute  Wille;  wer  nicht  bleiben  will,  kann  wieder 
aastreten.  Gelübde  und  bindende  Ceremonieen  giebt  es  nicht  Der 
Andrang  ist  nicht  grofs,  der  Philippone  liebt  doch  zu  sehr  die  Freiheit. 
Die  Nonnen  bauen  wenig  Getreide  und  suchen  einen  Käufer  für  ihr 
Grundstück.     Jetzt  sollen  sie  wieder  einen  Popen  haben  (Abb.  85). 

3.  Kirchhöfe.  Meist  besitzen  die  Philipponendörfer  zwei  Gottes- 
äcker, einen  evangelischen  und  einen  philipponischen.  Die  evangelischen 
sind  besser  gepflegt  (Abb.  87  a.  f.  S.).  Der  Eckertsdorfer  philipponische 
Friedhof  befindet  eich  rechts  vom  Klostereingang  und  ist  notdürftig 
in  der  Weise  eingefriedigt,  dafs  Pfähle  in  größerer  Entfernung 
rundum  eingeschlagen  sind,  die  durch  zwei  schwache  Querlatten  ver- 
bunden werden.  Ähnlich  ist  es  auch  in  Schönfeld  und  Onufrigowen. 
Diese  Kirchhöfe  liegen  auf  Hügeln ,  sind  von  hohen  Birken ,  Föhren, 
Kirschbäumen  und  zahlreichen  Sträuchern  bewachsen,  so  dals  sie  ziem- 

15* 


228 


Die  Philipponen. 


lieh  verwildert  erscheinen.  Die  Reihen  sind  schwer  zu  erkennen, 
dichtes  Gestrüpp  wuchert.  Auf  den  meisten  Gräbern  liegen  Granit- 
steine, die  in  Masuren  nicht  mangeln.     Hier  und  da  erhebt  sich  ein 

Abb.  87. 
a  b  c  d 


SZ 


«C=^ 


JL-Ä 


C=X=3 


Evangelischer  Grabschmuck  in  Philipponendörfern. 

a,  b,  c  von  Holz ,    ähnliche   auch  von   Eisen.    —     d  (%  m  hoch)   Seitenschliff  eines 
schwarzgefärbten  weifsrandigen  Feldsteins;  g  Name  und    Lebenszeit. 

Philipponenkreuz ,  einigemale  ist  es  bedacht  wie  in  Litauen.  Kleine 
Kreuze  von  0,5  m  und  0,10  m  Breite  und  Stärke  wechseln  mit  solchen 
von  2  m  Länge.  Sie  sind  naturfarben  oder  blau  angestrichen  und 
tragen  weifse,  russische  Inschriften,  wie  „Jesus  Christus,  König  der 
Ehren u ,  „Der  König  der  Könige  ist  Gottes  Sohn.  —  Iwan  Bobagai", 
„Herr  der  Welt,  Jesus  Christ,  der  Sohn  Gottes.  —  Iwan,  ein  Kind,  1897". 
Ein  weifses  Kreuz  mit  brauner  Inschrift  giebt  auch  Geburts-  und 
Todestag  an  (Abb.  88  a  bis  c).  Ein  vorn  abgeschliffener  Feldstein  weist 
ein  eingemeißeltes  Kreuz  auf  (Abb.  88  d).     Blumen  und  Immergrün 

Abb.  88. 
a  b  c  d 


Philipponischer  Grabschmuck. 

a  2  m  hoch  von  Holz.  —  b  %  m  hoch  von  Holz,  1cm  breit  und  dick.,  — 
c  2  m  hoch  von  Holz  (a  Gottes  Sohn,  König  der  Ehren;  b  Name,  Geburts- 
und Sterbetag).    —    d   Seitlich   geschliffener  Stein    mit   eingraviertem  Kreuz.  — 

a,  d  Eckertsdorf;   b  Schönfeld;   c  Onufrigowen. 

ist  nur  auf  wenigen  Gräbern  zu  sehen.  Die  Kirchhöfe  sind  alle  sehr 
schön  gelegen,  der  prächtige  Dufssee  und  der  liebliche  Crutinnenflufs 
rauschen  am  Fulse  des  Eckertsdorf  er,  ein  herrlicher  Wald  am  Bande 
des  Onufrigowener,  eine  belebte  Landschaft  liegt  am  Fulse  des  Schön- 
felder Gottesackers. 

Reicheren    Schmuck    an    Gold-    und    Marmorkreuzen    sollen    die 
russischen  Philipponenfriedhöfe  aufweisen. 


Grabuchmuck,  Kirchen. 


230  jDi«  Philipponen. 

Das  philipponische  Kreuz  hat  Aber  dem  Querbalken    noch  einen 
kleineren ,  und  einen  eben  Bolchen ,    nur   meist  von  links  nach  rechts 
aufsteigenden,  auch  noch  am   unteren  Ende.     Die   Philipponen  legen 
Abb.  80. 


yL, 


»  *MrxfaMiMMif*Mn.'*isiitm 


Vorderseite  der  rlckertadorfer  Philipponenkivetae. 
(Nach  einer  Zeichnung  des  Popensohne*  lw»D  BoH.chewiti.) 

auf  diese  Kreuzform,  wie  alle  Altgläubigen,  einen  grofsen  Wert.  Auch 
die  Inschrift  haben  sie  zum  kennzeichnenden  Merkmal  gemacht;  sie 
lautet  niemals  „Jesus  von  Nazareth,  König  der  Juden",  sondern,  wenn 
sie  Aberhaupt  vorhanden  ist,  etwa:   „Isbus  Christus,  König  der  Ehren". 


Kirchen. 


231 


Abb.  91. 


Dabei  wird  noch  besonderes  Gewicht  darauf  gelegt,  dafa  Schrift  und 
Aussprache  von  Jesus  nicht  die  allgemein  gültige  ist,  sondern  Issus 
lautet  Auch  hierüber,  wie  über  die  drei  Holzarten,  aus  denen  eigent- 
lich die  Kreuze  bestehen 
müfsten,  haben  sie  be- 
sondere Lehrsätze  in 
ihren  Glaubensbüchern 
aufgestellt.  Die  bei  den 
ostpreufsischen  Philip- 
ponen  gebräuchlichen 
Kreuze  sind  meist  von 
Holz,  selten  vergoldet; 
die  gewissermafsen  als 
Amulette  geltenden  sind 
von  Messing.  In  Rufs- 
land soll  man  auch  Gold- 
kreuze haben. 

4.  Kirchen.  Die 
Philipponen  haben  fünf 
Kirchen.  Erwähnt  ward 
schon  die  Klosterkirche. 
Die  Fedorwalder  Kirche 
ist  ein  einfacher  Betsaal 
im  massiven  Hause  eines 
reichen  Philipponen  und 
den  eigentlichen  Kirchen 
nicht  zuzuzählen.  Da- 
gegen sind  die  anderen 
Holzkirchen  zu  Eckerts- 
dorf, Schönfeld  (Abb.  89) 
und  Onufrigowen  wirk- 
liche Philipponenkirchen. 
Sie  ähneln  sich  sehr,  nur 
fehlt  der  Onufrigowener 
der  Glockenturm,  auch 
dient  die  rechte  Hälfte 
derselben  einer  Familie 
als  Wohnung.  Regel- 
mäfsig  benutzt  wird  nur 
die  Eckertsdorf  er  Kirche, 
die  beiden  anderen  halb- 
verfallenen     ausnahms- 


Grundrifs  der  Eckertsdorfer  Fhilipponenkirche. 

a  Holzstufen ;  b  Glockenturm ;  c  Vorhof;  d  Heiliges 
(für  die  Gemeinde);  e  Allerheiligstes  (für  den  Prediger); 
f  Sitzbänke;  g  Polsterbänke  für  Bücher;  h  Ofen; 
i  Altartisch;  k  Bilderwand;  1  Lesepult  für  den  Kniznik; 
m  Leuchter ;  n  Gartenraum  vor  der  Kirche ;  o  Fenster ; 
p  Thür;  q  Schlüsselschrank;  r  Aufgang  zum  Turm; 
s  Kleiderwand ;  t  alte  Glocke. 


weise  in  der  Not  oder  bei  grofsen  Festen.  Die  Philipponen  machen 
gern  den  weiten  Weg  nach  ihrem  Mekka.  Die  Eckertsdorfer  Kirohe 
(Abb.  90,  91),  von  einem  verschlossenen  Garten  umgrenzt,  ist  ein  Holz- 


232  Die  Philipponen. 

haus  im  Gersafsstil  mit  Ziegeldach,  die  anderen  Kirchen  haben  Schindel- 
dach. Sie  ist  6m  breit»  10m  lang,  Dach  und  Wand  sind  je  5m,  der 
Glockenturm  12  m  hoch.  Er  wird  von  einem  Kreuz  gekrönt;  ein  solches 
findet  sich  atrdr  auf  dem  Dachfirst  in  der  Gegend  des  Altartisches.  Der 
Glockenturm  besteht  aus  vier  senkrechten  Balken,  zur  Thur  führt  eine 
dreistufige  Holztreppe.  Auf  dem  Glockenstuhl  des  Turmes  hängen  drei 
kleine,  schön  klingende  Glocken,  eine  grofse  liegt  zerbrochen  im  Vorhof. 
Jede  Kirche  hat  einen  kleinen  Vorhof  mit  Treppe  zum  Glockenstuhl. 
Im  Vorhof  hängen  Kleider,  Geräte  und  ein  Schlusselschr&nkchen.  Die 
eigentliche  Kirche  ist  noch  8m  lang.  Das  Heilige,  für  die  Kirchen- 
besucher, ist  vom  3  m  langen  „ Allerheiligen u  durch  eine  meterhohe 
Planke  getrennt,  eine  Stufe  führt  hinan.  Hier  walten  die  Priester  und 
Lektoren  ihres  Amtes;  im  Laienraum  aber  versammeln  sich  an  der 
Thür  die  Verheirateten,  an  der  Stufe  die  Jugendlichen.  Das  Heilige 
hat  drei  feste  Bänke  an  den  weifsgetünchten  Wänden,  und  in  der  Nähe 
des  Einganges  einen  schönen  Kachelofen.  Im  Allerheiligen  steht  in 
der  Mitte  ein  Altartisch.  Drei  1,5  m  hohe  Leuchter,  zwei  aus  Kupfer- 
blech, einer  aus  Holz  stehen  davor.  An  die  starken  Wachskerzen  sind 
dünnere  geklebt,  die  an  gewöhnlichen  Sonntagen  brennen.  Hinter  dem 
Altartische  ragt  ein  2,5  m  hohes  Kreuz  mit  einem  Lämpchen  davor. 
Auf  dem  Tische  steht  eine  Bibel  mit  metallverziertem  Deckel;  sie 
ward  bei  der  Einwanderung  aus  Rufsland  mitgebracht.  Der  Tisch  ist 
mit  bunten  Decken  bedeckt,  ihm  zur  Seite  sind  Marienbilder,  reich 
mit  Gold  und  Glasmalerei  verziert.  An  der  Hinter  wand  zieht  sich  ein 
Sims  mit  Lichtern  hin,  über  denen  etwa  24  grofse  und  15  kleinere 
Heiligenbilder  hängen.  Diese  Heiligenbilder  stellen  zum  gröfsten  Teil 
biblische  Scenen  vor;  auf  den  meisten  sind  Christus  und  Maria  mit  dar- 
gestellt; einige  wenige  beziehen  sich  auch  aufs  alte  Testament,  so  der 
Besuch  der  drei  Männer  bei  Abraham.  Aus  dem  Heiligenleben  ist  nur 
selten  ein  Vorwurf  genommen.  Der  heilige  Georg  und  Nikolaus,  der 
Schutzheilige  der  Philipponen,  werden  gern  dargestellt;  niemals  aber 
Philipp,  nach  dem  sie  sich  nennen.  Diese  Bilder  sind  sämtlich  von 
Philipponen  gemalt,  durften  ehemals  von  keinem  Andersgläubigen 
berührt  werden  und  stehen  noch  jetzt  in  hohem  Werte.  Jede  Familie 
besitzt  in  ihrem  Heiligenschranke  solche  Bilder,  verwehrt  aber  keinem 
Freunde  die  genaue  Betrachtung.  Die  Lichter  und  ölgläser  vor  den 
Bildern  werden  in  ihrer  Gesamtheit  nur  an  grofsen  Festen  angebrannt, 
desgleichen  der  grofse  zwölf  armige  vergoldete  Deckenleuchter,  dessen 
Preis  mit  Stolz  auf  75  Mk.  angegeben  ward. 

Auf  den  Seiten bänken  des  Allerheiligen  liegen  Kniekissen  für  die 
Beter,  Weihrauchkessel  und  zahlreiche  Bücher.  Die  meisten  dieser  Bücher 
sind  sehr  wertvoll,  ihres  Alters,  ihrer  Ausstattung  und  ihrer  Seltenheit 
wegen.  Aufser  den  Büchern,  die  man  aus  Rufsland  mitbrachte  und 
noch  jetzt  dort  hält,  hat  man  solche  aus  der  früheren  russischen 
Buchdruckerei    zu   Johannisburg    und    aufserdem    feine,    in  Mönchs- 


Inneres  der  Kirchen,  Pope.  233 

weise  von  Philipponen  geschriebene  Bücher.  Aufser  vornikonischen 
giebt  es  nachgedruckte  vornikonische  und  einige  wenige  nach- 
nikonische  von  Altgläubigen  abgefafate,  den  Glauben  und  die 
Glaubensgeschichte  der  Starowierczen  darstellende  Werke  Jene  sind 
sämtlich  in  kirchenslawischer  Sprache  geschrieben.  Sie  sind  aus  sehr 
starkem  Papier  hergestellt  und  dauerhaft  gebunden ,  die  Blätter  haben 
seitlich  kleine  Streifen  zum  Umblättern.  Die  wichtigsten  Bücher  sind 
die  Ostrogsche  Bibel  (1581),  daraus  die  Evangelien  (1596),  der  Psalter 
und  die  Apostel  ( 1596);  besonders  die  Evangelienerklärung  des  Johannes 
Chrysostomus  oder  Zlotoust  (1629);  das  einem  Katechismus  gleichende, 
aber  von  Schmähungen  gegen  Andersgläubige  erfüllte  Buch  des  Kyrill 
(1644);  der  Poirebnik  oder  die  Ordnung  für  Taufe,  Beichte  und  Be- 
gräbnis; das  Stundengebetbuch,  Lobgesangbuch,  Fasten-  und  Verbeug- 
gesetzbuch;  die  Geschichte  von  den  Vätern  und  Märtyrern  vonSolowick. 
Es  mögen  40  heilige  Bücher  sein.  Jedes  Haus  hat  eine  Anzahl  selbst; 
weltliche  Bücher  hielt  man  früher  für  ketzerisch;  jetzt  sind  polnische 
und  deutsche  Schul-  und  Lehrbücher,  Unterhaltungswerke  und  Zeit- 
schriften nichts  Seltenes. 

Meist  kommen  nur  Erwachsene  zur  Kirche,  doch  fehlt  auch  die 
Jugend  nicht  ganz.  An  gewöhnlichen  Tagen  erscheinen  20  bis  30,  an 
Festtagen  die  zehnfache  Zahl.  Das  Innere  der  Kirche  ist  sehr  sauber, 
die  Diele  ist  schön  gescheuert,  im  Allerheiligen  sind  zu  beiden  Seiten 
Fenster,  denen  nie  Wolkenvorhänge  fehlen.  Der  Vorraum  hat  eben- 
falls zwei  kleine  Fenster.  Die  Schönfelder  Kirche  mit  ihrem  morschen 
durchlöcherten  Strohdache  ist,  wie  die  Onuf rigowener ,  ganz  ähnlich 
eingerichtet.  Aber  die  viereckigen  Balken  dieser  ältesten,  schon  1837 
gebauten  Kirche  sind  noch  echt  russisch,  an  den  Kanten  hervorragend. 
Das  Haus  ruht  auf  vier  Ecksteinen,  der  Giebelschmuck  ist  kelchförmig, 
das  Giebelbrett  mit  hübschen  buchtigen  Ornamenten  ausgeschnitten. 
Ich  zählte  darin  sechs  Altartische  und  14  Heiligenbilder,  die,  wie 
überall,  mit  Papierblumen  umkränzt  sind.  Das' Innere  war  mit  Kalk 
beworfen.  Die  Onuf  rigowener  hat  die  gleiche  Zahl  Heiligenbilder. 
Findet  in  den  letzteren  Kirchen  Gottesdienst  statt,  so  kann  er  als 
privater  gelten.  Anders  in  Eckertsdorf,  das  noch  seine  Staryks  und 
Knizniks  hat. 

Früher  nannte  man  den  Geistlichen  Staryk,  jetzt  nennt  man  ihn 
Pope.  Die  Popen  waren  immer  Laien,  doch  fängt  man  schon  an,  den 
Vorzug  gelehrter  Priester  einzusehen.  Damit  verläfst  man  aber  auch 
die  alte  Forderung  Philipps.  Die  Fedorwalder,  deren  Oberleitung  einem 
orthodoxen  Propst  zuerkannt  worden  ist,  nennen  sich  aber  doch  noch 
Philipponen,  der  alten  Bücher  und  Riten  wegen.  Aber  auch  die  eigent- 
lichen Philipponen  sehen  es  gern,  wenn  ihr  Pope  reich  an  Wissen  ist. 
Er  wird  von  seiner  Gemeinde  gewählt,  meist  aus  ihrer  Mitte.  In 
älterer  Zeit  liefs  man  ihn  auch  aus  Rufsland  kommen.  Er  mufs  un- 
bescholten, in  der  Schrift  bewandert  und  von  vorbildlichem  Lebens- 


234  Die  Philipponen. 

wandel  sein.  Ehemals  durfte  er  kein  Fleisch  genossen,  kein  be- 
rauschendes Getränk  getrunken,  keinen  Tabak  geraucht,  kein  Weib 
berührt  haben.  Der  jetzige,  Mikifer  Borischewitz,  1833  in  Eckertsdorf 
geboren,  ist  verheiratet.  Er  ist  trotz  aller  Religiosität  nicht  gegen 
gute  Neuerungen,  meidet  aber  wie  alle  alten  Philipponen  Tabak  und 
Spirituosen.  Eine  besondere  Tracht  hat  er  nicht,  bezieht  auch  kein 
festes  Gehalt,  sondern  bekommt  für  seine* Diensthandlungen  freiwillige 
Gaben,  die  aber  nicht  karg  bemessen  werden.  Predigten  im  evangeli- 
schen Sinne  giebt  es  nicht.  Den  Hauptteil  des  Gottesdienstes  bilden 
die  Vorlesungen  aus  einigen  der  oben  erwähnten  Bücher.  Ehemals 
erteilte  er  den  religiösen  Unterricht,  jetzt  liegt  er  in  Händen  der  Familie. 
Er  hält  Gottesdienst  Sonnabends  von  4  bis  6  Uhr,  Sonntags  von  7  bis  9 
und  5  bis  6  Uhr.  An  allen  gröberen  Festtagen  ist  nachts  Gottesdienst 
von  12  bis  4  Uhr,  zu  Ostern  die  ganze  Nacht.  Er  leitet  die  Taufe, 
das  Begräbnis  und  nimmt  die  Beichte  ab. 

Der  philipponische  Schulze  in  Eckertsdorf  hat  jetzt  dieselben 
Obliegenheiten  wie  jeder  ostpreufsische  Dorfschulze. 

Der  Kniznik  oder  Beter  übernimmt  beim  Gottesdienst  einen 
Teil  der  Vorlesungen;  bei  den  langen  Gottesdiensten  wechseln  sich 
mehrere  ab.     In  Eckertsdorf  sind  sechs  Kniznik s. 

Philipponische  Lehrer  giebt  es  seit  Einführung  der  Staatsschulen 
nicht  mehr.  Der  letzte  war  der  jetzige  Pope.  Die  früheren  Lehrer 
zogen  von  einem  Gehöft  zum  anderen,  unterrichteten  die  freiwillig 
kommenden  Kinder  und  erhielten  jährlich  für  jedes  Kind  drei  bis  vier 
Thaler,  und  Kleidung,  Nahrung,  Wohnung  in  der  Familie.  1835  legte 
einer  sein  Amt  nieder  und  handelte  mit  Teer,  weil  das  einträglicher 
war.  Als  die  Schule  in  Eckertsdorf  gebaut  ward,  wurde  Unterricht 
in  Religion,  Lesen,  Russisch,  Polnisch  erteilt. 

5.  Dörfer.  Der  Mittelpunkt  der  philipponischen  Kolonieen  war 
von  Anfang  an  Eckertsdorf.  1832  zog  hier  Isidor  Borissow,  der  Bruder 
des  fanatischen  Glebokirower  Stariks  Jafim  Borissow,  an  der  Spitze 
mehrerer  Glaubensgenossen  ein.  Dieser  thatkräftige  Führer  ward 
Schulze  im  neuen  Ort  und  hat  neben  Fama  Iwanow  nachmals  meist 
die  Forderungen  der  Behörden  als  nicht  im  Einklänge  mit  dem  philip- 
ponischen Glauben  bezeichnet,  so  dafs  Eckertsdorf  immer  als  Sitz  der 
Unzufriedenheit  galt.  Borissow  nannte  den  Ort  Weynowo  nach  seinem 
im  Gouvernement  Witebsk  bei  Rzeczyca  gelegenen  Geburtsorte,  die 
Kolonisten  hielten  an  dem  Namen  fest,  obgleich  der  die  Einwände* 
rung  beaufsichtigende  Forstmeister  Eckert  das  Dorf  Eckertsdorf 
(Eckertowo)  taufte.  Heute  ist  der  letztere  Name  durchgedrungen. 
Die  Ansiedler  waren  wohlhabend,  Famas  Haus  war  gleich  damals 
mit  Dachziegeln  gedeckt  worden.  Dieser  Fama  war  auch  der  einzige, 
der  deutsch  verstand,  er  war  nicht  wenig  stolz  und  sagte  zu  dem 
reichsten  Masuren  ruhig:  „Wenn  der  König  uns  beide  trifft,  wird 
er  dich  kaum  ansehen,  mit  mir  aber  ein  längeres  Gespräch  führen. u 


Eckertsdorf,  Onufrigowen.  235 

Dem  Dorfe  waren  1504  Morgen  für  3072  Thaler  zugemessen  worden, 
und  es  hatte  1837  schon  12  Grundbesitzer,  23  Familien,  zusammen  126 
Einwohner,  70  männlichen  und  56  weiblichen  Geschlechts.  Man  zählte 
36  Pferde,  51  Rinder,  121  Schweine,  30  Schafe.  Die  Gebäude  waren 
recht  hübsch  gebaut  und  setzten  sich  aus  20  Wohnhäusern,  15  Scheunen, 
8  Ställen  und  mehreren  Badehäusern  zusammen.  Da  eine  Kirche  noch 
nicht  gebaut  war,  wurde  in  eines  Besitzers  Sommerstube  der  Gottes- 
dienst abgehalten.  Ein  Geistlicher  und  ein  Lehrer  wirkten  gleich  von 
Anfang  an. 

Die  Einsiedelei  ward  1836  angelegt,  die  Kirche  in  den  vierziger 
Jahren  gebaut.  In  dieser  Zeit  fanden  die  Prozesse  mit  dem  Staate 
wegen  Entschädigung  statt,  weil  die  Behörde  das  Holz  nicht  weg- 
geschafft und  so  den  Verdienst  der  Philipponen  geschmälert  hatte. 
Dazu  kamen  die  Klagen  wegen  Aufnahme  von  Verbrechern  und  militär- 
pflichtigen Polen,  so  dafs  1847  halb  Eckertsdorf  auswanderte.  Der 
ruhigen  Entwickelung,  die  im  behaglichen  Sichausleben  des  Philipponen  - 
tums  in  den  folgenden  Jahrzehnten  sichtbar  ward,  folgte  die  Zeit  der 
zunehmenden  Verdeutschung.  1895  zählte  es  481  Einwohner  in  90 
Haushaltungen,  von  denen  die  grölsere  Hälfte  deutsch  ist.  Die  Vieh- 
zählung wies  1897:  64  Pferde,  109  Rinder,  14  Schafe,  119  Schweine, 
2  Ziegen,  29  Gänse,  30  Enten,  400  Hühner  auf. 

Den  Mittelpunkt  bildet,  abgesehen  von  der  deutschen  Schule,  die 
Kirche,  zu  der  sich  nach  Angabe  des  Popen  aus  Eckertsdorf  etwa  25 
Familien  halten,  fünf  gehen  nach  Fedorwalde.  Aulserdem  kamen  aus 
Fedorwalde  2  (2  nach  F.),  aus  Schönfeld  8  (7  F.),  Nikolaihorst  15  (1  F.), 
Galkowen  20  (3  F.),  Kadzidlowen  3  (1  F.),  Iwanowen  4,  Kulinowen  2, 
Piasken  und  Onufrigowen  17,  Peterhain  0  (3).  Die  Philipponen  von 
Schlöfschen  haben  vor  15  Jahren  ihre  Güter  verkauft  und  sind  nach 
Polen  zurückgewandert. 

Von  Äufserlichkeiten,  wie  der  Kreuzinschrift,  abgesehen,  giebt  es 
keine  Unterschiede  zwischen  den  Philipponen  und  übrigen  Altgläubigen. 

Onufrigowen,  das  Skowronnek  in  seinen  masurischen  Dorf- 
geschichten wiederholt  erwähnt,  liegt  idyllisch  neben  dem  Walde 
zwischen  Piasken  und  Weilsuhnen.  Charakteristisch  ragt  besonders 
das  mit  einem  Postkasten  versehene  Haus  auf.  Schule  und  Wirtshaus 
fehlen,  eine  breite  moorige  Strafse  führt  nach  dem  Kirchdorfe  Weils- 
uhnen. Die  Holzschaluppen  liegen  zu  beiden  Seiten  der  Stralse,  von 
kleinen  Gärtchen  umgeben,  in  denen  Mohn  und  Blumen  blühen.  Die 
Onufrigowener  und  Piaskener  Philipponen  schicken  18  Kinder  in  die 
Weifsuhner  Schule,  fünf  erhalten  zu  Haus  Religionsunterricht.  Ins- 
gesamt verstanden  bei  der  Aufnahme  173  nur  polnisch,  24  deutsch 
und  polnisch.  Eine  Mutter,  die  einen  Philipponen  heiratete,  hat  es 
durchgesetzt,  dals  die  Kinder  evangelisch  getauft  worden  sind. 

Einer  der  dortigen  Philipponen  erzählte  mir,  wie  1830  sein  Vater 
3/4  Meilen  von  jenseits  der  Grenze  eingewandert  sei,  nicht  des  Glaubens 


236  Die  Philipponen. 

wegen,  sondern  weil  Platz  hier  war.  Früher  sei  auch  eine  philippo- 
nische  Schule  gewesen,  da  habe  man  russisch  und  polnisch  gelernt, 
seit  Einführung  der  deutschen  Schulen  radebreche  jeder  alle  drei 
Sprachen,  aber  keiner  spreche  eine  richtig.  Singen  und  tanzen  könne 
jeder,  aber  der  alte  Glaube  zerbröckele. 

Daneben  wohnt  der  reichste  Philippone,    „der  hat  Jeld  jenugu. 
Ein  rittergutähnliches  Landhaus  mit  Samtmöbeln  und  Zierat,  Pracht- 
gärten und  Glaskugeln,    Steingebäuden    und    Zäunen  wird    sichtbar. 
360  Morgen  Land  gehören  dazu.     Des  Besitzers  Vermögen  schätzten 
die  einen  auf  l/ß  Million,  die  anderen  auf  eine  ganze.     Er  fuhr  gerade 
in  einem  einfachen  Kälberwagen  an.     Ein  wohlbeleibter  graubärtiger, 
rüstiger  Mann   hielt  vor  mir.      Er  kam  von  den  masurischen   Seen, 
deren  Fischereipacht  er  übernommen  hat.     Er  wulste  ganz  genau  zu 
erzählen,  wie  sich  die  Geschichte  der  Philipponen  abspielte,  wie  Nikon 
die  Spaltung  veranlagt  und  im  Jahre  1829  Onufri  als  erster  Siedler 
hier  Onufrigowen   angelegt   habe;    wie  dieser  in   hoher  Achtung  bei 
seinen  Glaubensgenossen  und  auch  bei  den  Behörden  gestanden«  viel 
Herzeleid  an  einem  seiner  Kinder  erfahren  und  endlich  nach  Eckerta- 
dorf übergesiedelt  sei.     Nach  ihm  hat  der  Ort  seinen  Namen,  nach 
seinen  Aussagen  regelte  die  Behörde  ihre  gesetzlichen  Maisnahmen 
im  Verhalten  gegen  die  Philipponen.     Er  ist  auch  der  Mitbegründer 
Piaskens.     Er  konnte  weder  schreiben  noch  lesen  und  hatte  über  die 
Bildung  dieselben  Ansichten  wie  unser  Erzähler,  der  im  Offizierburechen 
sein  Bildungsideal,  in  der  Kenntnis  des  Deutschen  neben  dem  Russi- 
schen und  Polnischen  genug  Wissen  sah.    Wer  militärischen  Gehorsam 
und  Schnitt  gelernt  hat  und   Eingaben   selbst  schreiben  kann,   dem 
steht  die  Welt  offen.     Unweit  seines  herrliehen  Obstgartens  mit  dem 
Badehause  erhebt  sich  die  verfallene  Kirche.     Onufrigowen  hat  heute 
rund  150  Einwohner. 

Piasken  besitzt  neben  einigen  Schaluppen  auch  ein  schönes 
Steingebäude  unweit  des  Beldahnsees.  Es  gehört  dem  Philipponen 
Schlachziz,  dem  angesehensten  unter  den  200  Bewohnern.  Er  ist  1822 
bei  Sieny  geboren,  wanderte  1832  als  zehnjähriger  Knabe  mit  nach 
Eckertsdorf,  wurde  Lehrer,  1891  bis  1896  Prediger  in  Jakobstadt 
bei  Riga  und  kehrte  dann  ins  preufsische  Philipponenland  zurück,  wo 
er  noch  jetzt  in  Onufrigowen  zuweilen  Gottesdienst  hält.  Eine  mar- 
kante Gestalt  (Abb.  92)  in  alter  Philipponenart,  mit  langem  Haar  and 
Bart,  beweglich  und  stolz,  fromm  und  gastfrei  Gewöhnlich  ist  er  mit 
dem  langen  schwarzen  Mantel  bekleidet.  Seine  Wohnung  ist  auf  dem 
linken  Teile  seines  Gebäudes;  den  rechten  bewohnt  sein  Sohn,  der 
auch  schon  wieder  grofse  Kinder  hat,  und,  wie  alle  besseren  Philip* 
ponen,  einmal  Rutsland  besucht  hat.  Seine  Wohnung  ist  ein  kleiner 
Tempel,  rein  und  schön,  mit  drei  Heiligenbildern  und  einigen  Bücher- 
brettern verziert.  Die  30  Bücher  rühren  zum  guten  Teil  von  der 
Hand  des  Besitzers  her.      Einige   sind  in   der  Art   der   Mönchshand- 


Gastfreundschaft.  237 

Schriften  auf  Pergament  ausgeführte,  mit  Initialen  verzierte,  schön  ge- 
bundene Codices,  deren  geringsten  er  nicht  unter  30  Mk.  verkaufen 
wollte.  So  andauernd,  inbrünstig  und  fromm  habe  ich  selten  Rosen- 
kranz beten  sehen.  Er  legte  bei  der  Andacht  ein  Kissen  (Patruschnik) 
auf  den  Boden,  dals  er  nicht  die  Erde  berühre,  dann  bekreuzte  er  mit 
drei  Fingern  Stirn,  Mund,  rechte  und  linke  Brust,  fiel  auf  die  Knie 
und  berührte  mit  den  Händen  das  Kissen,  den  Kopf  bis  zur  Erde 
beugend. 

Am  Abend  wollte  man  mich  des  Windes  wegen  nicht  über  den 
See  setzen,  sondern  lud  mich  zu  bleiben  ein;  ich  blieb.  Freilioh  be- 
deutete man  mir,  es  sei  Fasten.  Aber  ich  bekam  Brot,  Schwarzbeeren, 
Milch,'  zwei  gekochte  Eier,  Thee  mit  Rum,  Zucker  und  Erdbeersaft. 
Er  selbst  genofs  nur  Thee  und  Brot  Milch,  Butter,  Fische,  Fleisch 
sind  beim  vierzigtägigen  Fasten  verboten,  nur  öl  ist  am  Dienstag, 
Donnerstag,  Sonnabend,  Sonntag  gestattet.  An  den  übrigen  Tagen 
werden  Kartoffeln ,  Brot ,  Salz  genossen ,  Bier  und  Schnaps  eigentlich 
nicht.  Mittwoch  und  Freitag  sind  stets  Fasttage.  An  gewöhnlichen 
Tagen  gelten  als  Hauptspeisen:  Kartoffeln  und  Brot,  ebenso  derb,  fest 
und  schwarz,  als  kräftig;  Hafermus  und  Milchgrütze;  Hering  und  See- 
fisch; mit  Weizen  abgequirlte  Milch  und  frischer  Quas,  der  aus  gegoh- 
renem  Brot  gewonnen  wird;  Piraggen,  kleine  Röhrenkuchen  aus  Kar- 
toffeln oder  Mehl,  gefüllt  mit  Quark  oder  geriebenen  Möhren,  Sauerkraut 
oder  Fruchtmus. 

Als  ich  mit  Lächeln  meinen  Thee  mit  Rum  trank,  den  mir  die 
liebenswürdige  Wirtin  in  Toleranz  gereicht  hatte,  und  dem  Staryk, 
mit  dem  Finger  fächelnd,  bedeutete,  dafs  ich  Ja  vollständig  am  philip- 
ponischen  Leben  und  Fasten  teilnehmen  wolle,  lächelte  er  selbst;  das 
nächste  Glas  Thee  aber  war  ohne  Rum.  Er  erzählte  mir,  wie  er 
wiederholt  von  Forschern  aufgesucht,  befragt  und  mit  den  Seinen 
photographiert  worden  sei.  Er  wollte  jedem  seinen  Glauben  lassen  und 
bedauerte  nur,  dats  die  philipponischen  Kinder  ohne  Religionsunterricht 
aufwachsen. 

Jeden  Morgen,  Mittag  und  Abend  betete  er  wiederholt  den  Rosen- 
kranz ab :  Gott,  Vater,  Sohn  und  heiliger  Geist  möge  ihn  nicht  strafen. 
Vor  dem  Essen  bekreuzte  er  sich  vor  dem  Marienbilde. 

Als  Nachtlager  bezog  ich  ein  Himmelbett,  er  den  Ofen.  Schönes 
Hausgerät,  russische  Decken  und  Gefälse,  ein  eichener  Naturspazier- 
stock,  reinliche  Dielen  zierten  die  Stube. 

Beim  Bekreuzen  legte  er  nach  philipponischer  Sitte  die  Finger- 
spitzen des  ersten,  vierten  und  fünften  Fingers  der  rechten  Hand  zu- 
sammen, der  zweite  und  dritte  Finger  bleiben  leicht  gebogen.  Bei  der 
Ansiedelung  wurde  nach  staatlicher  Regelung  in  Preulsen  dieselbe  Art 
des  Handhebens  bei  den  Philipponen  eingeführt,  wobei  „Ja,  ja"  einzig 
und  allein  zu  sagen  war;  jetzt  ist  nach  Angabe  des  Alt uktaer  Gemeinde- 
vorstandes der  Eid  genau  wie  von  Deutschen  zu  leisten.     Die  Finger- 


238  Die  Philipponen. 

haltung  gilt  als  philipponisches  Kennzeichen;  sie  ähnelt  der  armeni- 
schen, nur  gilt  bei  dieser  der  zweite  und  dritte  Finger. 

Wie  Onufrigowen  (poln.  Onufriewo)  haben  noch  andere  Philipponen- 
orte  ihren  Namen  nach  dem  ersten  Besiedler,  so  Fedorwalde  (poln. 
Fedorowo;  315  Einwohner),  Peterhain  (poln.  Pietrowo;  131  Einw.), 
Iwanowen  (poln.  Iwanowo),  ein  erst  in  den  vierziger  Jahren  ent- 
standener Ausbau,  der  wie  Maudannen,  Kulinowen  und  Eadzidlowen 
nur  wenige  Wohngebäude  und  mit  diesen  zusammen  nur  etwa  100  Be- 
wohner zählt.  Wie  Piasken  (poln.  Piaski  =  Sandort),  das  ein  alter 
Forstname  ist,  hat  man  auch  für  einige  andere  Philipponenorte  diesen 
beibehalten,  so  für  Schlöfschen  (poln.  Zamczysko),  Galkowen  (poln. 
Galkowo;  289 Einw.),  Kadzidlowen  (poln. Kadzidlowo  =  Weihrauch- 
ort), Kulinowen  (poln.  Kulinowo);  Nikolaihorst  (poln.  Nikolaiewo; 
133  Einw.)  hiets  ursprünglich  Moszczysko  nach  dem  Forstort,  dann 
Ignaszewo  nach  dem  ersten  Besiedler.  Nach  dem  die  Einwanderung' 
leitenden  Forstmeister  Eckert  ist  Eckertsdorf,  nach  dem  Forstrat 
Schönfeld  das  Dorf  Schönfeld  (poln.  Ladnepole;  403  Einw.)  genannt. 
Letzteres  Dorf  ist  von  der  breiten  Landstrafse  seitwärts  gelegen  und 
zeichnet  sich  durch  schöne  Steinwohnungen  aus.  Alle  diese  Dörfer  sind 
Längsdörfer  und  sind  so  angelegt,  dafs  die  Häuser  mit  der  Vorderseite 
nach  der  Straf se  gerichtet  sind. 

Bei  Wanderungen  durch  die  philipponischen  Orte  ist  man  der 
Gnade  der  Dorfbewohner  ausgeliefert,  da  manche  Orte  überhaupt  gar 
kein  Gasthaus  besitzen.  In  Eckertsdorf,  Schönfeld  und  Fedorwalde 
giebt  es  solche.  Wie  alle  slawischen  Krüge  im  Deutschen  Reiche, 
zeichnen  sich  auch  die  philipponischen  durch  Wohlhabenheit  aus.  Die 
Besitzer  sind  reiche  Leute,  verhandeln  aufser  Spirituosen  auch  Material- 
waren und  hunderterlei  Bedürfnisse  des  täglichen  Lebens.  Treten 
wir  in  einen  ein.  Äulserlich  durch  das  Wort  Gastwirtschaft  oder  durch 
ein  paar  roh  angepinselte  Gläser  und  Flaschen  kenntlich  gemacht,  er- 
hebt sich  das  Haus  unauffällig  neben  den  anderen.  Wir  steigen  die 
drei  Stufen  des  Lauben  Vorbaues  hinauf,  lassen  links  die  Wohnstube 
liegen  und  treten  vom  kleinen  Hausflur  rechts  in  die  Gaststube  ein. 
Zur  Linken  steht  die  bekannte  lange  Tafel,  davor  eine  Bank,  auf  der 
die  Zecher,  der  Tafel  abgekehrt,  sitzen.  Früher  besuchten  nur  die 
Masuren  die  Krüge,  jetzt  fangen  auch  einzelne  Philipponen  an,  den 
Spirituosen  Geschmack  abzugewinnen.  Wenn  aber  ein  Reiseführer 
sagt,  jene  seien  arge  Trunkenbolde,  so  hat  er  ebenso  unrecht  wie  die, 
die  sich  leider  auf  ihn  berufen.  Zur  Rechten  läfst  sich  ein  quadrati- 
sches Dielenstück  ausheben;  in  der  Tiefe  des  kleinen  Kellers  können 
Bierflaschen  und  der  Kühlung  bedürftige  Nahrungsmittel  aufbewahrt 
werden.  Der  Thür  gegenüber  prangt  die  Ladentafel,  dahinter  sind 
Schränke  mit  Kolonialwaren.  Eine  Thür  führt  seitwärts  in  eine 
Nebenstube.  An  den  Wänden  hängen  die  mit  Papierblumen  umwun- 
denen Bilder  des  Kaiserpaares  und  eine  Geige.     Da  tritt  ein  Jude  ein 


Gasthaus.    Kleidung.  239 

and  verzehrt  auf  einer  abseits  stehenden  Bank,  was  er  in  seinem 
Doppeltopfe  mitgebracht  hat:  Kartoffeln  und  Fisch.  Er  kommt  von 
Polen  herüber,  um.  Wolle  und  Federn  zu  verhandeln.  Der  Wirtin 
wendet  er  nicht  viel  zu.  Den  Unterschied  zwischen  Masuren  und 
Deutschen  kennt  er  nicht,  die  Philipponen  nur  sind  ihm  Russen. 

Im  Gärtchen  nebenan  hängt  an  einer  4  m  hohen  Stange  eine  auf- 
gehängte Krähe. 

Gegen  Abend  kommen  Gasthausbesucher,  um  bei  Lärm  und  Ge- 
spräch des  Tages  Mühe  zu  vergessen.  Als  ich  abends  l/29  Uhr  im 
Fedorwalder  Kruge  anlangte,  verweigerte  man  mir,  wie  einst  in  den 
abgelegensten  litauischen  und  slowinzischen  Winkeln,  Unterkunft.  Man 
rief  mich  zwar  voller  Entschuldigungen  zurück,  ich  aber  war  schon 
auf  dem  Wege  nach  Ukta.  In  einem  solchen  Kirch dorfe  ist  natürlich 
ein  anderes  Unterkommen  zu  finden.  Da  giebt  es  eine  oder  mehrere 
gute  Stuben,  der  vornehme  Fremde  wird  ins  Herren  stubchen  geführt, 
wo  Pastor,  Lehrer,  Apotheker,  Schneidemühlenbesitzer  und  Forst- 
beamte zusammenkommen.  Da  giebt  es  schöne  Gastzimmer,  reinliche 
und  gute  Speisen,  Kultur  und  erhöhte  Preise. 

In  einer  Gegend,  wo  vor  200  Jahren  nur  schmale  Pfade  Beutnern, 
Jägern  und  Händlern  durch  den  Urwald  sich  boten,  ragen  in  fried- 
lichen Dörfern  neben  Villen  und  Schneidemühlen  schon  Modehotels 
und  Bahnhöfe.  Die  Einsamkeit  des  Waldes  durchhaut  das  Signal  des 
Salondampfers  und  der  Pfiff  der  Lokomotive. 

Die  ganze  philipponische  Gegend  bietet  in  ihrer  Abwechselung 
von  Berg  und  Thal,  Föhren  und  Laubwald,  Garten  und  Feld,  See  und 
Flufs  so  viele  Naturreize,  dafs  ihr  Besuch  in  trockener  Jahreszeit  jeden 
belohnt.  Herbst  und  Frühjahr  freilich  machen  mit  den  masurischen 
Sümpfen  vertraut. 

IV.     Gebräuche. 

1.  Kleidung.  Heute  unterscheidet  sich  der  Philippone  vom 
Deutschen  und  Masuren  nicht  mehr  hinsichtlich  der  Kleidung,  bis  auf 
wenige  alte  Leute.  Ehemals  hielt  man  sehr  streng  an  der  Tracht  fest, 
Abweichung  galt  für  Abfall  vom  Glauben.  Gerfs  hat  im  Jahre  1839 
nicht  weniger  als  16  Typen  philipponischer  Tracht  gezeichnet  An 
keinem  Gewandstück  war  ein  Knopf,  Knöpfe  hielt  man  für  Teufels- 
augen. Man  band,  da  alles  Mäntel  trug,  die  Kleider  über  der  Hüfte 
mit  einem  Gurt.  Pope,  Kniznik,  Einsiedler,  Mönch  und  Nonne  trugen 
keinen  Gürtel,  sondern  Heftel;  ihr  Mantel  reichte  bis  an  die  Knöchel. 
Mönch  und  Nonne  hatten  aulserdem  eine  Art  Kaputze  oder  Skapulier. 
Auch  der  Winterpelz  reichte  bis  beinahe  zur  Erde.  Die  Kopfbedeckung 
der  Männer  war  barettartig,  die  Frauen  trugen  Kopftücher.  Heute  ist 
der  Rock  der  Frauen  lang  und  schlicht,  nicht  vielfarbig.  Ich  sah  blau- 
und  weifsgestreifte ,  aber  auch  einfarbige.     Sie  gleichen  offenen  breiten 


240  Die  Pbüipponen. 

Säcken  mit  zwei  Ach  Salbändern.  Ein  Leinengürtel  wird  am  die  Hüfte 
geschlungen,  so  data  die  Hemdärmel  frei  sind;  um  den  Kopf  ist  ein 
russisches  Tuch  geschlungen.  Farbige  Bauschröcke  sieht  man  nie, 
ebensowenig  die  breiten,  fast  rockähnlichen  Schurzen,  wie  sie  in  Litauen 
und  der  Wendei  Mode  sind.  Die  bunte  schmale  Schürze  und  das 
bunte  Kopftuch  herrschen  vor.  Der  Mann  hat  kurze  Leinen-  oder 
Tuchhosen  an ,  die  beim  Marsch  in  langen  weichen  Stiefeln  stecken. 
Das  weifse  Hemd  reicht  offen  über  die  Hosen  weg  und  ist  entweder 
Abb.  92. 


Phi lipponen haua.     Philipponen  in  jetziger  Tracht. 
(Nach  einer  Photographie  von  Professor  Dr.  Schmid t- Lätzen.) 

mit  einem  Gürtel  an  den  Hüften  befestigt,  oder  es  wird  die  Hose  allein 
festgeschnallt  und  eine  Weste  über  das  Hemd  gezogen  (Abb.  92),  Die 
Zipfel  des  Shawls  gucken  dann  kreuzweise  unter  dem  unteren  Westen- 
Baume  hervor.  Ein  guter  langer  schwarzer  Rock  wird  bei  festlichen 
Angelegenheiten  gebraucht.  Haar  und  Bart  tragen  nur  noch  die 
Alten  lang. 

Die  Gestalt  ist  grofs  und  kräftig,  die  Haarfarbe  blond,  die  Augen 
sind  blau,  die  Haut  ist  zartrot.  Die  Kinder  und  Madchen  sehen  aus 
wie  Milch  und  Blut  Die  Masuren  dagegen  sind  klein ,  braun ,  von 
kräftiger  Hautfarbe. 

2.  Taufe.  Die  Taufe  ist  das  wichtigste  Sakrament.  Sie  weicht 
in  ihren  Formeln  etwas  von  der  russischen  ab  und  wird  in  der  Regel 
40  Tage  nach  der  Geburt  vollzogen,  bei  schlechtem  Wetter  in  der 
Kirche  unter  Gebrauch  eines  Holzgefafsea ,  bei  schönem  Wetter  in  den 


Taute,  Hochzeit.  241 

Fluten  des  Crntinnenfluasea,  des  Beldahn-  oder  Datssees.  Das  Wasser 
wird  dreimal  mit  Weihrauch  gesegnet.  Der  Pope,  die  Eltern  und 
Taufzeugen  begeben  sich  an  den  Taufplatz.  Nach  Gebeten  und  Be- 
kreuzigungen, Gesangen  und  Vorlesungen,  bei  denen  der  Taufpate  den 
Knaben ,  die  Patin  das  Mädchen  auf  dem  Arme  hält,  stellt  der  Pope 
dreimal  die  Frage:  „Entsagst  du  dem  Teufel  und  allen  seinen  Werken, 
seinem  Dienst,  seinen  Engeln  und  allem  Bösen?"  Die  Paten  oder  der 
erwachsene  Täufling  bejahen  dies  und  spucken  den  Teufel  dreimal  an. 
Dabei  hat  der  Täufling  die  Hände  gehoben  und  das  Gesicht  nach  Osten 
gewendet;  das  Haar  der  Madchen  darf  nicht  geflochten  sein.  Dann 
dreht  der  Pope  den  Täufling  nach  Osten,  spricht  —  oder  die  Paten 
sprechen  für  ihn  —  dreimal  das  Glaubensbekenntnis  und  der  Pope 
ruft  dann  aus:  „Der  Knecht  (die  Magd)  Gottes  N.  N.  wird  getauft  im 
Namen  des  Taters,  des  Sohnes  nnd  des  heiligen  Geistes. "  Dabei  hält 
der  Priester  den  Täufling  nach  Osten,  sich  zugekehrt,  und  taucht  ihn 
dreimal  unter  das  Wasser,  ihm  den  Mnnd  zuhaltend.  Dann  heftet  er 
ein  neues  Messingkreoz  (Abb.  93)  an  schwarzem  Äbb   93 

Bande  auf  das  neue  Tanfhemd.  Beides  sind 
Fatenge schenke,  das  Kreuz  trägt  der  Philippone 
zeitlebens.  Es  folgeu  wiederum  Spruche,  Gebete 
(32.  Psalm;  Bdm.  6,  3  bis  11;  Matth.  28,  16 
bis  20),  kurze  Gesinge  und  ein  Schluls Spruch. 
Dann  beginnt  ein  kleines  Gastmahl.  Wieder- 
taufe  giebt  es  nicht,  wie  Skowronnek  in  seinen 
masurischen  Dorfgeschichten  glaubt  Wer  Phi- 
lippone werden  will,  mufs  aber  aufs  neue  ge- 
tauft werden.  Das  kommt  jetzt  sehr  selten  vor. 
Auch  die  evangelischen  Mädchen,  die  einen 
Philipponen  heiraten,  bleiben  meist  ihrem  alten 
Glauben  treu.  Patenkreuz 

Die  genaue  Tauf  handlung  ist  im  Potrebnik        d«  Pniüpponen. 
aufgezeichnet,    das  Glaubensbekenntnis    unterscheidet    sich  nicht  viel 
vom  nicäi sehen. 

Taufnamen  sind:  Onufri,  Iwan,  Mikifer,  Gregor,  Fedor,  Piotr, 
Fama. 

Die  Namengebung  weicht  jetzt  nicht  von  der  deutschen  ab.  Ehe- 
mals wechselten  bekanntlich  die  Philipponen  ihre  Namen  nach  Bedarf, 
die  Frauen  trugen  des  Mannes  Namen  und  hängten  die  Endung  a,  die 
Knaben  die  Endung  wiez  an. 

3.  Hochzeit.  Tor  der  Hochzeit  setzt  man  die  Brant  auf  einen 
Stuhl,  dann  teilt  man  ihr  die  Zöpfe,  und  legt  unter  Gebet  ein  Brot 
auf  ihren  Schots.  Das  soll  bedeuten,  in  der  Wirtschaft  soll  nie 
Mangel  sein.  Beim  Einzüge  werden  die  Neuvermählten  nach  russischer 
Sitte  mit  Brot  und  Salz  empfangen.  Die  standesamtliche  Vermählung 
erfolgt  einige  Tage  vor  der  kirchlichen  Einsegnung.      Wagenfahrten 


242  Die  Philipponen. 

und  Gastmahle,  Brautgeschenk  und  Beglückwünschung  sind  auch  hier 
Kennzeichen.  Dagegen  ist  die  Zeit  des  Brautraubes  vorüber.  In  den 
ersten  Jahren  kam  er  noch  hier  und  da  vor.  Auf  Jahrmärkten  trafen 
die  Burschen  die  jungen  Mädchen.  Einigemal  fuhr  der  Jüngling  im 
Einverständnis  mit  der  Braut  ins  väterliche  Haus,  die  Eltern  des 
Mädchens  erhoben  zwar  bei  der  Behörde  Widerspruch;  es  stellte  sich 
aber  heraus,  dafs  alles  abgekartet  war  und  die  Eltern  des  Mädchens 
gern  nachgaben. 

4.  Begräbnis.  Wenn  ein  Erwachsener  stirbt,  so  wird  ein 
Kniznik  ins  Haus  geholt.  Er  betet  nicht  frei,  sondern  liest  Gebete 
vor  dem  Heiligen  schranke  ab.  An  Festtagen  brennen  Olivenöllampen 
samt  Kerzen.  Das  Beten  geschieht  Tag  und  Nacht  ununterbrochen. 
Alle  zwei  Stunden  erfolgt  Ablösung.  Die  Nachbarn  der  Umgegend 
kommen  alle  ins  Sterbezimmer  und  beten  halb  singend  aus  Buchern. 
Häufig  hört  man  „Im  Namen  Gottes  des  Vaters  und  des  Sohnes  und 
des  heiligen  Geistes u,  „Gott  sei  mir  Sünder  gnädig",  „Herr,  erbarme 
dich".  Am  dritten  Tage  vormittags  ist  das  Begräbnis.  Da  kommt 
der  Pope  mit  dem  Myrrhen weihgef als ,  betet  kurz,  bekreuzt  mit  dem 
Weihrauch  die  Leiche,  die  dann  in  weifses  Linnen  gehüllt  und  in  einen 
einfachen  rohen  Brettersarg  gelegt  wird.  Alles  ist  schlicht,  auch  die 
Kleidung  der  Leidtragenden  und  des  Predigers,  die  Nichtigkeit  des 
Irdischen  soll  auf  serlich  veranschaulicht  und  bekundet  werden.  Dann 
giebt  der  Pope  ein  Zeichen  mit  dem  Rauchgefäfs;  da  nehmen  die  An- 
gehörigen klagend  Abschied,  küssen  den  Toten,  schliefsen  den  Sarg, 
und  unter  kurz  abgerissenen  Gesängen  tragen  die  Frauen  den  Sarg 
einer  Frau,  die  Männer  den  eines  Mannes.  Auf  dem  Friedhofe  segnet 
der  Pope  die  Gruft  mit  Weihrauch.  Der  Sarg  wird  eingesenkt;  drei 
Hände  voll  Erde  darauf;  Zuschüttung.  Gesungen  wird  dabei  nicht; 
die  Angehörigen  verteilen  Geld  an  die  ärmeren  Glaubensgenossen  vor 
ihrer  Thür;  die  Verwandten  und  Freunde  werden  zu  einem  einfachen 
Mahle  eingeladen.  Die  Philipponen  sitzen  an  einem  besonderen  Tische. 
Spirituosen  meidet  man. 

5.  Beichte.  Die  Beichte  geschieht  wie  die  Taufe  und  das  Be- 
gräbnis genau  nach  dem  Potrebnik.  Das  Formular  ist  so  raffiniert 
ausgedacht  und  bezieht  sich  auf  eine  solche  Menge  der  Hauptsache 
nach  geschlechtliche  Verirrungen,  dal s  die  Philipponen  selbst  behaupten, 
sie  kennten  viele  der  daselbst  angeführten  Sünden  gar  nicht.  Die 
Ohrenbeichte  ist  jedenfalls,  selbst  im  Dienste  eines  einwandfreien  Popen, 
eine  heikle  Angelegenheit,  und  die  Fragen  müssen  jedem  ernst  Denken- 
den ein  Kopf  schütteln ,  jeder  nicht  völlig  verdorbenen  Frau  Schamröte 
erwecken.  Gewöhnlich  hält  man  die  Beichte  in  der  Kirche,  bei  Kranken 
auch  zu  Hause  ab.  Eine  Sündenvergebung  hat  nicht  statt,  sondern 
die  Zuerteilung  einer  Strafe,  bestehend  in  Fasten  und  Beten.  Mit  der 
Abbüfsung  der  Strafe  glauben  die  Philipponen  Sündenvergebung  erlangt 
zu  haben. 


Feste,  Feiertag.  243 

6.  Feste.  Dreimaliger  Gottesdienst  und  Sonntagsruhe  kenn- 
zeichnen alle  philipponischen  Feste:  Maria  Geburt  8.  September,  Kreuz- 
erhöhung 14.  September,  Johannes  Ev.  26.  September,  Maria  Weihung 
1.  Oktober,  Demetrius  26.  Oktober,  Michael  8.  November,  Chrysostomus- 
Zlotoust  13.  November,  Maria  Opferfest  31.  November,  Maria  Erschei- 
nung in  Nowgorod  27.  November,  Nikolaus  6.  Dezember,  Weihnacht 
25.  und  26.  Dezember,  Neujahr  1.  Januar,  Hohes  Neujahr  6.  und  7.  Januar, 
Basilius  Gregorius  und  Chrysostomus  30.  Januar,  Bettag  2.  Februar, 
Maria  Verkündigung  25.  März,  Georg  23.  April,  Johannes  Ev.  8.  Mai, 
Nikolaus  Wunderwerk  9.  Mai,  Johannes  der  Täufer  24.  Juni,  Peter 
Paul  29.  Juni,  Elias  20.  Juli,  Allerheiligster  Festtag  1.  August,  Ver- 
klärung 6.  August,  Verehrung  Maria  15.  August,  Von  keiner  Menschen- 
hand ist  Jesu  Bild  gemacht  16.  August,  Enthauptung  Johannes 
29.  August,  Ostern  (6  Tage),  Himmelfahrt  und  Sonntage. 

Gegenüber  dieser  Feststellung  von  Saltzwedell  werden  in  Eckerts- 
dorf  folgende  Feste  gefeiert  aufser  den  Sonntagen,  dem  sechstägigen 
Oster-,  Pfingst-,  Weihnachts-  und  zweitägigen  Hohen  Neujahrsfest:  13. 
und  18.  Januar,  6.  April,  20.  und  21.  Mai,  16.  Juli,  18.  August,  20. 
und  26.  September,  13.  Oktober,  25.  November;  Himmelfahrt. 

Zu  Weihnachten  beten  sie  8  Tage  lang.  Konfirmation  und  Abend- 
mahl giebt  es  nicht.  Gefastet  wird  sechs  Wochen  vor  Ostern  und 
Weihnachten  und  jeden  Mittwoch  und  Freitag.  Die  alten  strengen 
Fastgebräuche,  nach  denen  an  einzelnen  Tagen  überhaupt  nichts  ge- 
nossen ward,  sind  milder  geworden.  Gottesdienst  ist  am  Vorabend 
von  4  bis  6,  am  Festtage  von  7  bis  9  und  von  5  bis  6,  an  den  grofsen 
Festtagen  von  12  bis  4  Uhr.  Das  Osterfest  wird  ganz  in  russischer 
Weise  gefeiert,  der  Gottesdienst  dauert  die  ganze  Nacht,  früh  ruft  man 
sich  zu:  „Christus  ist  auferstanden !a  „Ja,  er  ist  wahrhaftig  auf- 
erstanden 1" 

Während  der  freien  Zeit  besichtigen  sie  ihre  Fluren,  gehen  in  den 
Wald  oder  versammeln  sich  vor  ihren  Thüren.  Sie  ziehen  auch  auf 
die  nächsten  Dörfer  bei  Gesang  deutscher  und  russischer  Lieder,  wie: 
„Es  schwankt  eine  Blume  im  Winde u ,  „Es  flogen  drei  Tauben  wohl 
über  ein  Thal".  Wie  andernorts,  sind  auch  hier  die  Mädchen  Träger 
des  Gesanges.  Ihre  zu  grolse  Schüchternheit  erschwert  die  Aufzeich- 
nung ihrer  Lieder.  Solche  gemeinschaftlichen  Ausflüge  werden  be- 
sonders zu  Jahrmarktstagen  unternommen.  Am  24.  Juni  bindet  man 
den  Kühen  Kornblumenkränze  aufs  Haupt,  hängt  auch  solche  in  die 
Stube.  Am  Schlüsse  des  Roggenschnittes  bringt  der  letzte  Schnitter 
der  Herrschaft  den  Kranz  und  wird  mit  Wasser  begossen.  Das  geschieht 
mit  solcher  Ausgelassenheit,  daEs  man  einst  ein  Bürschchen  gleich  in  den 
Dufssee  führte  und  so  lange  untertauchte,  bis  es  ertrunken  war.  Am 
Andreasabend  wird  Blei  gegossen.  Zur  Fastnacht  wird  allerlei  Scherz 
getrieben.  Im  Sommer  macht  sich  die  Jugend  Schaukeln  im  Walde, 
an  den  Bäumen  oder  auf  Stämmen,  auf  die  man  quer  ein  Brett  legt. 

16* 


244  Die  Philipponen. 

Die  Kinder  aber  spielen  Sachen  and  Verstecken.  Auch  stellen  sie 
einen  hölzernen  Rehbock  auf,  und  einer,  der  auf  den  Schultern  eines 
anderen  sitzt,  mufs  ihn  zu  treffen  suchen.  Oder  man  schlägt  sieben 
oder  neun  Pfähle  ein  und  wirft  aus  der  Ferne  danaoh.  Wer  die  meisten 
herausschlägt,  hat  gewonnen. 

Man  grüfst:  „Gott  gebe  dir  guten  Abend!"  „Seid  gesund!" 
„Gott  gebe  dir  Glück!"  und  erwidert:  „Danke!"  „Gott  vergelts!" 
Freunde  begrülst  man  deutsch  „Gun  Abend"  mit  Betonung  auf  der 
letzten  Silbe.     Dieser  Grufs  wird  zu  jeder  Tageszeit  gebraucht. 

In  der  Spinnstube  aber  erzählt  man  aufser  den  täglichen  Ereig- 
nissen auch  alte  Fabeln  und  Geschichten. 

7.  Unterschiede  von  der  russischen  Kirche.  Man  verwirft 
die  Priesterweihe,  weil  Nikon  nicht  von  einem  lebenden,  mit  Bewußt- 
sein begabten  Patriarchen  geweiht  und  damit  fürderhin  die  Fähigkeit, 
zu  weihen  und  als  wirklicher  Priester  zu  walten,  verwirkt  worden  war. 
Von  den  Sakramenten  erkennt  man  nur  Taufe  und  Beichte  an,  weil 
aus  eben  jenem  Grunde  nur  diese  beiden  von  Laien  verwaltet  werden 
dürfen.  Kreuz  und  Kreuzesaufschrift,  Art  der  Bekreuzung  und  Eid 
wurden  schon  früher  erwähnt.  Beim  Kreuzmachen  sagt  man  nicht: 
„Jesu  Ghriste,  unser  Gott,  erbarme  dich  unser!"  sondern  „Issus 
Christus,  du  Sohn  Gottes,  erbarme  dich  unser."  Die  alten  Riten,  so 
der  Gesang  des  doppelten  Halleluja  statt  des  dreifachen,  der  Mangel 
der  Predigt,  der  Sängerchöre,  Feierkleider,  Prozessionen,  Segnungen, 
die  Benutzung  der  alten  Agende  und  Kirchenbücher  gestalten  den 
philipponischen  Gottesdienst  einfacher.  Einzelne  Festtage,  wie  der  6. 
und  18.  Oktober,  der  30.  November  u.  s.  w.  fehlen. 

V.    Geistiges  Leben. 

1.  Charakter.  Die  alten  Philipponen  waren  stolz,  besitzfroh, 
mäfsig,  arbeitsam,  intelligent,  religiös,  glaubenstreu.  Lebenskraft  und 
strotzende  Gesundheit  zeichnet  alle  noch  heutigen  Tages  aus.  Ihrem. 
Glauben  bleiben  sie  mit  wenigen  Ausnahmen  treu.  Das  altgermanische 
blühende  Äulsere  ist  auch  den  Jungen  geblieben,  aber  diese  schneiden 
den  Bart  und  das  Haar,  wollen  Soldaten  sein,  bezeichnen  die  polnischen 
Überläufer  als  Verbrecher  und  befördern  die  widerspenstigen  einfach 
über  die  Grenze.  Sie  gehen  zum  Arzt  und  glauben  nicht  mehr,  dals 
dies  Sünde  sei.  Und  obwohl  sie  noch  fasten  und  beten  und  Tabak 
und  Spirituosen  verschmähen,  halten  sie  diese  Adiaphora  doch  nicht 
für  Glaubenssätze,  wie  die  Alten.  Sie  wissen  den  Wert  der  Bildung 
in  forstlichen  und  öffentlichen  Angelegenheiten  zu  schätzen  und  kehren 
nicht  den  fanatischen  Pharisäer  heraus,  der  jeden  Fremden  für  unrein 
hielt,  und  mit  dem  zu  essen  Schande  war.  Sie  wollen  im  Gegenteil 
nicht  Anstofs  erregen  und  essen  mit,  wenn  man  sie  bittet.  Sauberkeit 
und  Kunstliebe  zeichnet  sie  aus.     Gern  gehen  sie  einmal  nach  Rufs- 


Vermögen.    Geschichten.  245 

land  und  suchen  sich  Stellen,  die  etwas  einbringen.  Ein  Gelehrter 
oder  Künstler  ist  aber  noch  nie  aus  ihrer  Mitte  hervorgegangen. 

Die  alte  Gewalttätigkeit  ist  ganz  gewichen.  Als  sich  mancherlei 
Gesindel  in  den  vierziger  Jahren  in  die  Kolonie  hineindrängte,  muteten 
die  Behörden  natürlich  die  Besitzer  verantwortlich  machen.  In  den 
gegenseitigen  Reibereien  nun  hatten  die  Philipponen  oft  Strafe  zu  er- 
leiden. Es  mag  dabei  ihr  Rechtsgefühl  manchmal  gekränkt  worden 
sein;  sie  mögen  geglaubt  haben,  nun  auch  ihrerseits  nach  Belieben 
handeln  zu  können.  Jedenfalls  sind  heutzutage  geordnete  Zustände 
eingezogen.  Wenn  es  in  einem  Buche  heilst,  sie  seien  die  gröfsten 
Diebe,  so  ist  die  Behauptung  für  die  Allgemeinheit  unwahr.  Der 
Philippone  würde  nie  mit  dem  Diebe,  der  aus  dem  Hause  des  Nachbars 
Eigentum  stiehlt,  etwas  zu  thun  haben  wollen.  Holz-  und  Wilddieb- 
stahl aber  herrscht  überall,  wo  Holz  und  Wild  ist.  Wenn  einmal  ein 
philipponischer  Bursche  einer  Mutter  einen  Topf  ins  Gesicht  warf,  oder 
der  Schwiegersohn  den  Schwiegervater  zum  Schlachtfest  einlud,  nach- 
dem er  ihm  zuvor  das  Schwein  dazu  gestohlen  hatte,  so  sind  das  wohl 
schlimme  Einzelfälle,  aber  die  Allgemeinheit  kann  dafür  nicht  ver- 
antwortlich gemacht  werden.  Ehemals  liefs  man  keinen  Fremden  in 
der  eigenen  Pirte  baden,  liefs  ihn  kein  Buch  berühren,  sah  ohne  Mit- 
hülfe sein  Haus  verbrennen,  verbat  sich  die  Schlichtung  der  Nachlafs- 
streitigkeiten  und  Beaufsichtigung  durch  die  Behörden,  heute  aber  hat 
man  sich  willig  den  deutschen  Gesetzen  gefügt.  In  einem  Reisehand» 
buch  sind  sie  der  Lässigkeit  in  der  Bewirtschaftung  ihres  Eigentums 
geziehen,  „die  sie  auf  keinen  grünen  Zweig  kommen  läfstu.  Die  reichen 
philipponischen  Besitzer,  die  angesehenen  Bauern,  fleitsigen  Pächter 
und  Wirte  bekommen  das  freilich  nicht  zu  lesen.  Ich  weils  nicht,  ob 
der  Beurteiler  die  Besitztümer  der  Krymof,  Malenka,  Kolasznik, 
Slowikof,  Kraszowski,  Jakobowski,  Danowski,  Borische witz,  Philipp- 
kowski,  Szirpalkowski,  Jaroch  u.  s.  w.  gesehen  hat. 

2.  Geschichten.  An  erster  Stelle  seien  hier  die  Geschichten 
erwähnt,  die  nicht  von  den  Philipponen  herrühren,  sondern  über  sie 
geschrieben  worden  sind,  ich  meine  Skowronneks  masurische  Dorf- 
geschichten. Skowronnek  schildert  die  Philipponen  vom  Standpunkte 
des  herabblickenden  Deutschen  aus.  Wie  der  fremde  Stolz  lieber  die 
eigenen  Tugenden  überschätzt  und  die  Fehler  der  Nachbarn  im  schlech- 
teren Lichte  sieht,  so  hat  auch  der  Dichter  geschildert.  Es  seien 
einige  charakteristische  Stücke  angeführt,  die  nach  Berücksichtigung 
des  obigen  wohl  beachtenswert  sind:  „Ulas  Jawor  war  sozusagen 
aus  der  Art  geschlagen.  Früh  verwaist,  war  er  vater-  und  mutterlos 
in  der  Philipponengemeinde  aufgewachsen,  hatte  bei  den  Bauern  die 
Schweine  gehütet  und  in  dem  königlichen  Forst  Holz  gestohlen,  just 
wie  die  anderen  auch.  Eines  Tages  war  er  jedoch  dem  Schulmeister 
des  Nachbardorfes  W.  in  die  Hände  gefallen,  und  dieser  hatte  an  dem 
aufgeweckten  und  hübschen  Burschen  Gefallen  gefunden.     Er  nahm 


246  Die  Philipponen. 

ihn  zu  sich  und  lehrte  ihn  — ;  es  genügte,  um  Dias  die  Anschauung 
beizubringen,  dafs  der  Mensch  nicht  erst  beim  Philipponen  anfange, 
wie  er  es  zu  Hause  vom  Patriarchen  in  der  Kirche  gehört  hatte,  der 
alle  Andersgläubigen  kurzerhand  für  unreine  Schweine  erklärte.  So 
war  er  denn  nach  dem  Tode  seines  Wohlthäters  nicht  wieder  nach 
Onufrigowen,  der  Siedelstätte  seiner  Glaubensgenossen,  zurückgekehrt, 
sondern  hatte  in  der  weiten  Welt  sein  Glück  versucht,  erst  als  Brett- 
schneider und  schliefslich  als  Arbeiter  an  der  neuen  Eisenbahn,  der 
ersten,  die  in  Masuren  gebaut  wurde.  Schliefslich  kam  es,  dafs  er  sich 
als  Flöfser  verdingte  und  nun  von  einem  Ende  des  grofsen  Spirding- 
sees  zum  anderen  fuhr  (um  seiner  Jugendgespielin  näher  zu  sein). 
Eines  Tages  hatte  er  von  dem  Patriarchen  die  Weisung  erhalten,  sich 
für  den  ersten  Osterf eiertag  in  der  Gemeinde  zu  stellen  u.  s.  w.a  „Die 
Leute  erzählten,  dafs  der  oberste  von  den  Philipponen,  der  eigentliche 
Pächter  in  0.,  ein  grofses  Hofgut  haben  sollte,  aber  der  Mensch  war 
schmutziger  in  Beinern  Geiz  als  ein  Gewürzkrämer.  Er  zählte  beim 
Zuge  förmlich  die  Stinte  und  scharrte  aus  den  Flügen  jeden  Fisch,  der 
doch  eigentlich  den  Netzschleppern  gehört,  mit  dem  Kescher  zurück, 
und  im  Sommer  und  Herbst,  da  zog  er  im  Lande  umher  und  verhökerte 
die  Äpfel  und  Birnen  metzen weise."  „Es  half  auch  nichts,  dafs  das 
ganze  Philipponendorf  vor  Gericht  geladen  wurde.  Die  Leute  hängen 
zusammen  wie  die  Kletten,  und  es  war  aus  ihnen  nichts  herauszu- 
bringen. Schliefslich,  nachdem  fast  ein  halbes  Jahr  vergangen  war, 
kam  der  Russe  vor  die  Geschworenen.  Sie  sprachen  ihn  aber  frei,  da 
ihm  nichts  bewiesen  werden  konnte." 

Die  von  den  Philipponen  erzählten  Geschichten  entstammen  meist 
ihren  Religionsbüchern,  so  folgende: 

Vom  Bart.  Früher  trugen  auch  die  Katholiken  Barte.  Da 
verliebte  sich  ein  Papst  in  ein  schönes  junges  Mädchen,  die  aber  wies 
ihn  zurück  und  sprach:  „Wie  kann  ich  dich  lieben,  du  mit  deinem 
langen  Barte. u  Da  schnitt  sich  der  Papst  den  Bart  ab.  Das  Mädchen 
aber  sprach:  „Nun  kann  ich  dich  ja  erst  recht  nicht  lieben,  da  du  das 
Gesetz  übertreten  hast"  (Dabei  belachen  sie  die  Schlauheit  des  Mäd- 
chens und  rechtfertigen  das  Barttragen.)  „Der  Papst  aber  überredete 
nun  alle,  die  Barte  abzulegen. tf     (Cyrill.) 

Vom  Hopfen  und  Tabak.  Als  Gott  die  Welt  schaffen  wollte, 
sprach  er  zu  dem  obersten  Engel:  „Hol  mir  die  Erde  aus  der  Tiefe 
des  Wassers."  Nach  drei  Tagen  brachte  dieser  eine  Handvoll  und  hatte 
auch  ein  wenig  in  den  Mund  genommen,  denn  er  wollte  sehen,  was 
Gott  thäte.  Gott  streute  sie  aus  und  sprach:  „Es  werde!"  Da  wuchs 
die  Erde  im  Munde  des  Engels.  Er  schrie,  bat  Gott  um  Hülfe  und 
spie  auf  Gottes  Wunsch  die  Erde  aus.  Daraus  aber  erwuchs  Tabak 
und  Hopfen. 

An  legendarischen  Stoffen  ist  der  philipponische  Yolksmund 
reich. 


Lieder,  Sprache. 


247 


3.  Lieder.  Die  Philipponen  singen  meist  rassische  Lieder,  in 
der  Schule  lernen  sie  die  deutschen  Volkslieder,  hier  und  da  wird  auch 
ein  masurisches  gesungen.  Sie  singen  im  allgemeinen  nicht  häufig, 
nur  in  der  Spinnstube  und  bei  Ausflügen  kann  man  ihre  weichen 
Gesänge  hören.  Auch  eigene  geistliche  Gesänge  haben  sie.  In  der 
Kirche  brauohen  sie  kein  Musikinstrument,  zu  Hause  vereinzelt  eine 
Ziehharmonika  oder  eine  Geige;  ältere  Instrumente  habe  ich  nicht 
gesehen. 

I. 
Trauergesänge. 

1.  / 

Des  Propheten  Wort  gedachte  ich :  Sieh,  ich  bin  Staub  und  Asche. 
Das  Grab  habe  ich  betrachtet  und  sah  die  Gebeine  des  Fleisches  bar. 
Und  ich  sprach:  Ist  das  ein  König  oder  Bettler,  ein  Armer  oder 
Reicher,  ein  Frommer  oder  ein  Bösewicht?  Herr!  gieb  deinem  Diener 
Buhe  unter  den  Gerechten. 

2. 

Es  beut  des  Lebens  kurze  Zeit 

Zur  Freude  Zwist  und  Traurigkeit. 

Und  aller  Erde  Ruhm  und  Glanz 

Ist  Traum,  welkt  gleich  dem  Blumenkranz. 

Das  Grab  ist  aller  Welt  Gewinn, 
Es  kommt  der  Tod  und  mäht  uns  hin. 
Mit  den  Erwählten,  Herr  mein  Licht, 
Führ  du  mich  vor  dein  Angesicht! 


3. 


Mufs  klagen  und  mufs  weinen, 
Gedenk  ich  an  den  TodI 
Du  warst  vor  wenig  Tagen 
Noch  morgenfrisch  und  rot. 
Da  liegst  du  nun  im  Sarge, 
Und  Ruhm  und  Schönheit  schwand, 
Du  Ebenbild  der  Gottheit 
Aus  seiner  Schöpferhand. 


Es  ist  ein  wunderbares 
Geheimnis,  riesengrofs: 
Des  Schöpfers  Werk  vermodert 
Im  dunkeln  Erdenschofs. 
Das  macht,  er  hat  verkündet, 
Dafs  nach  des  Lebens  Zwist 
Noch  eine  Buh  vorhanden 
Dem  Volke  Gottes  ist. 


n. 


Der  Kosak  und  sein  Mädchen. 


„War  zur  trüben  Donau  Wogen 
Ein  Kosak  zu  Rofs  gezogen, 
Reitet  noch  einmal  zum  Liebchen, 
Sagt  ihr  Lebewohl." 

„Ach,  Kosak,  reit  nicht  von  hinnen, 
Deines  Mädchens  Thränen  rinnen. 
Wenn  ich  hier  verlassen  bleibe, 
So  gedenke  mein." 


„Ringe  nicht  die  weifsen  Hände, 
Mach  dem  Weinen  nun  ein  Ende, 
Ruhmbeladen  kehr  ich  wieder 
Aus  dem  Kampf  zu  dir." 

„Keinen Ruhm  darfst  du  mir  bringen, 
Kann  ich,  Trauter,  dich  umschlingen, 
Möge  alles  rings  vergehn, 
Bleibst  du  mir  nur  treu." 


248 


Die  Philipponen. 


„Kriegespflicht,  der  Dienst  des  Czaren, 
Ruft  zur  Weichsel  unsere  Scharen, 
Um  zu  schützen  unsere  Grenzen 
Vor  dem  wilden  Feind." 

„Bleib,  es  werden  unsere  Feinde 
Leicht  besiegt  durch  deine  Freunde, 
Ziehe,  Liebster,  nicht  zum  Streite, 
Ach,  verlafs  mich  nicht." 

„Darf  ich  solchen  Frevel  wagen? 
Würden  die  Kosaken  sagen, 
Dafs  ich  schändlich  meinen  Kaiser 
Und  mich  selbst  verriet." 


„Zieh,  Geliebter,  wenn  der  Himmel 
Es  gebietet,  ins  Getümmel, 
Schlage  wacker  unsere  Feinde, 
Doch  vergifs  mich  nicht!" 

„Dein  vergessen  werd  ich  nimmer, 
Denke  dein  beim  Sternenschimmer, 
Doch,  wenn  ich  im  Kampfe  falle, 
Dann  beweine  michl" 

„Thränen  werd  ich  dir  nicht  weihen. 
Fällst  du  in  der  Krieger  Reihen; 
Denn  der  Stahl,  der  dich  einst  tötet, 
Trifft  zugleich  mein  Herz.'' 

(Von  Gerfs  mitgeteilt.) 


VI.     Philipponißches  Vaterunser. 

1.    (Mitgeteilt  von  Dr.  Lggowski.) 

Otcze  nasz,  ize  jesji  na  njebjesjech,  daswjatcji  sja  imja  twoje,  daprydjet 
cantwije  twoje ,  dabudjet  wolja  twoja  jako  na  njebjesji  i  na  zjemli.  Chljeb 
nasz  nasuszczny  dazdz  nam  dnjes  i  ostawi  nam  dotgi  nasza,  jakoze  i  my 
ostawlajem  dolznikom  naszym  i  nie  wjedzi  nas  wojskuszenije,  no  izbawi  nas 
ot  lukawago. 

2.    (Mitgeteilt  von  einem  Philipponen  aus  Eckertsdorf.) 

Otcze  nasz,  jze  iesi  nanebesiech,  daswiacitsia  imia  twoie,  daprydet 
carstwiie  twoie,  dabudet  wola  twoia  jako  nanebesi  j  nazemli,  chlieb  nasz 
nasuszczny  dazdz  nam  dnes,  j  ostawi  nam  dotgi  nasza,  jakoze  j  my  ostawlaiem 
dolznikom  naszym,  j  newwedzi  nas  wojskuszeniie,  nojzbawi  nas  otlukawago. 

S.    (Mitgeteilt  vom  Propst  A.  v.  Maltzew.) 

Ottsche  nasch,  ige*)  jessi  na  nebessjech,  da  swjatitsja  imja  twoje,  da 
priidjet  zarstwije  twoje,  da  budjet  wola  twoja,  jako  na  nebessi  i  na  semli. 
Hieb  nasch  nassustschnij  daschd  nam  dnjess,  i  ostawi  nam  dolgi  nascha, 
jakoge*)  i  my  ostawlajem  dolschnikom  naschim,  i  nje  wwjedi  nass  wo  isku- 
schenije,  no  isbawi  nas  ot  lukawaho.  —  Jako  twoje  jest  zarstwo  i  sila  i 
slawa  otza  i  syna  i  sswjatoho  ducha,  nynje  i  prisono  i  wo  wjeki  wjekow. 
Amin. 


*)  In  den  Worten  ige  und  jakoge  mufs  man  g  als  das  französische  g 
aussprechen.  Zwischen  der  orthodoxen  und  der  philipponischen  Form  des 
Vaterunsers  giebt  es  keinen  Unterschied.    A.  v.  Maltzew. 


Die  Tschechen. 

Literatur. 

Lutsch:  Beschreibendes  Verzeichnis  der  Kunstdenkmäler  Schlesiens.  I.  bis 
IV.  Breslau  1886—94.  —  Das  Wohnhaus  der  Grafschaft  Glatz.  Central- 
blatt  für  Bauverw.     1887,  S.  358  bis  376. 

Maetschke:    Geschichte  des  Glatzer  Landes.    Breslauer  Dissertation  1888. 

Part  seh:    Schlesien.    Breslau  1895  ff. 

Schematismus  des  Bistums  Breslau.    Breslau  1895. 

Schlesische  Provinzialblätter.    Neue  Folge. 

Schroller:   Schlesien.    Glogau  (ohne  Jahr). 

V 

Die  Cechen  in  Preufsisch-Oberschlesien.  Stimme  eines  Buf enden  aus  Preufsisch* 
Oberschlesien.    Von  einem  Slauen.    Prag  1875. 

Volk  mar  und  Höh  aus:  Vierteljahrsschrift  für  Geschichte  und  Heimat- 
kunde der  Grafschaft  Glatz.     1888. 

v.  Ze schau:  Die  Germanisierung  des  vormals  tschechischen  Glatzer  Landes 
im  13.  und  14.  Jahrhundert.    Vierteljahrsschrift  VII.    1887/88. 


I.    Zur  Geschichte  der  Tschechen  und  ihrer  Siedelungen« 

1.  Die  oberschlesischen  Slawen  geben  ihren  böhmischen  und  den 
ans  Böhmen  eingewanderten  Stammesgenossen  den  Namen  Tschechen; 
sie  belegen  die  verwandten  Slawen  im  Süden  der  Kreise  Leobschütz 
und  Ratibor  nach  deren  ehemaliger  Landeszugehörigkeit  mit  dem  Namen 
Mährer  und  nennen  die  gleichfalls  nahe  verwandten  nordungarischen, 
meist  evangelischen  Slawen  Slowaken.  Die  sprachlichen  Unter- 
schiede der  drei  Stämme  sind  nicht  bedeutend,  nur  das  Tschechische 
hat  sich  in  seiner  Entwickelung  zur  Literatursprache  von  den  Volks- 
sprachen entfernt.  Bedeutender  sind  die  durch  dio  Geschichte  und  die 
geographische  Lage  bedingten  Sondertümlichkeiten.  In  Schlesien  — 
und  damit  in  ganz  Deutschland  —  wohnen  nur  Bruchteile  von  tsche- 
chischer und  mährischer  Bevölkerung  in  Gemeinden.  Die  tschechischen 
Sitze  liegen  verstreut,  höchstens  ein  katholisches  Stück  der  alten 
Hummelsherrschaft  kann  als  alter  Tschechensitz  gelten;  der  üauptteil, 
die  evangelischen  Eolonieen,  sind  im  grofsen  und  ganzen  Schöpfungen 
Friedrichs  des  Grofsen.  Die  mährischen  Gebiete  grenzen  nicht  an  die 
tschechischen,  sie  bilden  im  Südwesten  Schlesiens  eine  Insel,  die  mit 
Mähren  zusammenhängt.  —  Die  Literatur  über  diese  Tschechen  und 
Mährer  ist  nicht  grofs  und  geht  kaum  über  gelegentliche  Äußerungen 
in  größeren  Werken  hinaus. 


250  Die  Tschechen. 

Die  tschechische  Bevölkerung  Deutschlands  zerfällt  in  drei  Teile. 
Die  gröfste  Zahl  lebt  vereinzelt  und  im  Reiche  zerstreut;  sie  kamen 
als  Sachsengänger,  machten  sich  nach  einem  oder  mehreren  Gängen 
sefshaft  und  bilden  in  manchen  Klein-  und  Grofsstädten  ansehnliche 
Bruchteile  der  Bevölkerung.  Noch  jetzt  wandern  im  Frühjahr  aus 
Böhmen  Maurer  und  auch  Landarbeiter  in  Scharen  nach  Deutschland, 
viele  kehren  im  Herbst  zurück  und  bringen  im  folgenden  Lenze  neue 
Bekannte  mit.  Die  Menge  dieser  zäh  an  der  Sprache  haltenden 
Tschechen  ist  unbekannt.  Langhans  schätzt  1890  die  Zahl  der  Tsche- 
chen und  Mährer  zusammen  auf  0,06  Millionen;  die  Schätzung  ist  zu 
niedrig.  A.  v.  Fircks  giebt  für  Preufsen  allein  76  078  Tschechen  und 
Mährer  an,  von  denen  er  17  670  zu  den  Tschechen  zählt.  »Leider 
fehlen  die  Angaben  für  die  einzelnen  Kreise.  Etwa  4300  davon  wohnen 
aulserhalb  Schlesiens,  in  Berlin  allein  719,  in  Westfalen  538,  in  Sachsen 
568,  in  Brandenburg  665.  Von  den  13  369  Tschechen  Schlesiens  ent- 
fällt immer  noch  ein  ziemlicher  Teil  auf  die  zerstreut  lebenden,  kürz- 
lich eingewanderten  Tschechen,  so  die  1246  des  Liegnitzer  Regierungs- 
bezirkes und  die  in  Breslau  lebenden. 

2.  Den  zweiten  Teil  der  Tschechen  bilden  die  alten,  bodensässigen 
slawischen  Bewohner  der  Hummelsherrschaft  in  der  Grafschaft  Glatz. 
Sie  sind  wie  der  erste  Teil  katholisch  und  besitzen  heute  noch  ein 
Kirchspiel,  Tscherbeney,  mit  dem  abgezweigten  Brzesowie.  Die  Zahl 
dieser  katholischen  Tschechen  der  Hummelsherrschaft  beträgt  5000. 
Ihr  Gottesdienst  in  Tscherbeney  ist  deutsch  und  tschechisch. 

3.  Der  dritte  Teil  der  Tschechen  setzt  sich  aus  einer  Anzahl  alter 
„hussitischer"  Kolonieen  zusammen,  die  inmitten  deutscher,  polnischer 
und  tschechisch-katholischer  Umflutung  ihre  Sprache  und  ihren  Glauben 
bis  heute  bewahrt  haben.  Ihre  Anfänge  gehen  auf  die  husBitische  Be- 
wegung zurück.  Die  Einwohner  jener  Kolonieen  sind  meist  Nach- 
kommen böhmisch-mährischer  Brüder  oder  doch  vertriebener  Evangeli- 
scher aus  Österreich- Ungarn,  die  unter  Friedrich  dem  Grotsen  Aufnahme 
in  Schlesien  fanden.  Die  alten  evangelischen  Kolonieen  liegen  weit 
voneinander  entfernt.  Die  älteste  Gemeinde,  Straulseney,  grenzt  im 
Süden  an  Tscherbeney.  Sie  ist  hussitischen  Ursprungs  und  war  schon 
1465  vorhanden  (Anders,  Kirchliche  Statistik  von  Schlesien,  S.  195), 
wie  Herr  Pastor  W.  Poppe  von  dort  mitteilt.  Merkwürdigerweise 
scheint  sie  bald  überflügelt  worden  zu  sein,  da  nach  Beheim- Schwarz- 
bach zur  Zeit  der  fridericianischen  Besiedelung  der  böhmische  Prediger 
aus  Hußsinetz  jährlich  nur  zweimal  daselbst  predigte.  Die  anderen 
fünf  Kirchspiele  sind  Grofsfriedrichstabor  im  Grofswartenberger  Kreise, 
Friedrichsgrätz  mit  der  Filiale  Sacken  bei  Poppelau  im  Oppelner  und 
Hussinetz  im  Strehlener,  Petersgrätz  im  Grotsstrehlitzer  Kreise.  Die 
tschechische  Bevölkerung  dieser  fünf  Kirchspiele  mag  reichlich  7000 
betragen.     Vgl.  Abb.  94. 

4.  Ich  habe  mir  nicht  die  Aufgabe  gestellt,  die  zerstreut  und 


I 


Sachsen  ganger,      Hummalherrschaft.  251 

als  Sachsengänger  im  Deutschen  Reiche  lebenden  Tschechen  mit 
zu  schildern.  Es  verlohnt  sich  nur,  im  allgemeinen  darauf  hinzu- 
weisen, data  die  Zahl  der 
evangelischen  Tschechen 
in  Preulsen  nach  A.  von 
Fircks  7932  (44,89 
Proz.),  die  der  katholi- 
schen 9593  (54,28  Pros.), 
die  der  jüdischen  123 
(0,69  Proz.)  betragt, 
and  dafs  zwei  Drittel 
deutscher ,  ein  Drittel 
österreichisch  -  ungari- 
scher Staatsangehörig- 
keit sind,  die  mit  den 
Mährern  im  Grofs war- 
ten berger  Kreise  2,57, 
im  Strehlener  8,09,  im 
Glatzer  5,55,  im  Oppel- 
ner  1,66  Proz.  der  Be- 
völkerung ausmachen, 
auch  dafa  in  diesen 
Kreisen  dieselbe  Zahl 
für  die  Muttersprache 
der  Schulkinder  gilt. 
Ton  diesen  konnten  im 

Grofs  warte  nberger 
Kreise  alle  deutsch,  im 
Strehlener  von  536  nur 
100  auch  deutsch,  im 
Glatzer  von  665  tsche- 
chischen Schulkindern 
234,  im  Oppelner  von 
94 keines;  imGrofsatreh- 
litzer,  der  keine  ein- 
zige Gemeinde  mit  über- 
wiegend tschechischer 
Bevölkerung  besafs, 

sprach  von  157  tsche- 
chisch -  mäbri  sehen  Kin- 
dern ,  wohl  der  Peters- 
grat zer  Gemeinde,  keines 
deutsch. 

5.  Die  Frage:    „W: 
Tschechentum  so  lange 


'"). 


1/ 


kommt  es,  dafs   sich   das  katholische 
l  der  Hummel sherrschaft  erhalten  hat?"  ist 


252  Die  Tschechen. 

leicht  durch  einen  Blick  auf  eine  historische  und  physikalische  Karte 
zu  beantworten.  Auf  der  böhmischen  Seite  des  trennenden  Heuscheuer- 
gebirges gelegen,  ein  Anhängsel  des  grofsen  tschechischen  Hinterlandes, 
geschäftlichen  und  familiären  Verkehr  und  immer  neue  Zuflutung  der 
slawischen  Grenznachbarn  vermittelnd,  bot  dies  Gebiet  keine  Gelegen- 
heit, dafs  die  deutsche  Sprache  gunstigen  Boden  fassen  konnte.  Ge- 
schichtlich aber  war  ja  gerade  dio  Hummelsherrschaft  Sitz  tschechisch 
gesinnten  Adels,  Sitz  hussi tischer  Gesinnung.  Vom  10.  Jahrhundert 
bis  1742  war  das  Land  meist  böhmisch  und  in  kirchlicher  wie  politi- 
scher Hinsicht  mehr  oder  weniger  von  Prag  abhängig.  Ob  jenes  grolse 
Waldgebiet  ursprünglich  germanische  Bevölkerung  besals,  wird  kaum 
zu  entscheiden  sein.  Glatz  wird  erst  981,  Lewin  um  1200  erwähnt, 
und  das  Licht  der  Geschichte  fällt  auf  die  Gegend  erst  im  13.  Jahr- 
hundert. Schlesien  hatte  eigene  Fürsten  bekommen,  die  bald  auf 
böhmischer,  bald  auf  polnischer  Seite  standen,  der  Germanisierung  aber 
kräftig  Vorschub  leisteten.  Auch  die  Böhmenkönige  Wenzel  I.  (1230 
bis  1253)  und  namentlich  Ottokar  IL  (1253  bis  1278)  waren  deutsch 
gesinnt.  Sie  führten  deutsche  Gerichts-  und  Umgangssprache  ein  und 
öffneten  Siedlern  aus  Meifsen  und  der  Lausitz,  Minoriten  und  Johannitern, 
Rittern  und  Bürgern  freudig  Thür  und  Thor.  Sie  besetzten  namentlich 
die  wichtige  Stratse  von  Polen  nach  Böhmen  über  Glatz  mit  ergebenen 
deutschen  Rittern  und  machten  so  die  Pässe  im  Glatzer,  wie  im  Trau- 
tenauer  und  Elbogener,  Gebirgslande  deutsch.  Berthold  v.  Regensburg 
predigte  1262  auf  freiem  Felde  bei  Glatz  deutsch,  ein  böhmischer 
Minorit,  Peter  Odranez,  machte  den  Tolken  für  die  slawischen  Zuhörer» 
Schon  der  erste  Besitzer  von  Glatz,  der  mächtige  Gallus  von  Lemberg, 
scheint  die  deutsche  Einwanderung  begünstigt  zu  haben.  Nachdem 
Ottokar  das  Gebiet  aus  der  Hand  des  slawischen  Edelings  zurück- 
erlangt hatte,  safs  1278  zu  Glatz  sogar  ein  deutscher  Burggraf;  es 
waltete  ein  deutscher  Landrichter;  drei  deutsche  Pfarrdörfer  werden 
schon  1269  aufgeführt.  Die  Germanisierung  und  Kultivierung  dauerte 
unter  den  Premysliden  fort;  für  die  Grafschaft  Glatz  gilt  die  folgende 
Zeit  bis  mit  Karl  IV.  geradezu  als  goldene.  Weniger  Fortschritte 
machte  das  Germanentum  im  südwestlichen  Teile  der  heutigen  Graf- 
schaft, jenseits  des  Gebirges,  in  der  Nordhummelsherrschaft.  Ihre  von 
Glatz  ziemlich  unabhängigen  Besitzer,  die  v.  Pannwitz  (seit  1322)  und 
v.  Janowitz  (seit  etwa  1400),  waren  eifrige  Tschechen. 

Zwar  lief sen  auch  sie  roden  und  siedeln.  Die  Bauern  von  Lomnitz 
sollten  beispielsweise  in  eine  mit  Gestrüpp  bedeckte  Wiese  so  weit 
hineinroden,  bis  ihre  Hufen  so  lang  als  die  der  anderen  wären;  auch 
suchte  die  fränkische  Haus-  und  Dorf  anläge  siegreich  Raum  neben 
der  slawischen.  Aber  Johann,  der  1346  bei  Crecy  fiel,  und  Karl  IV. 
hatten  in  ihrem  Bestreben,  deutsche  Bürger,  Ritter  und  Bauern  gegen 
den  slawischen  Adel  zu  schützen,  nicht  so  viel  Gewalt,  zwingenden 
Einflufs  auf  die  Hummelsherren  auszuüben.    Diese  suchten  im  Gegenteil 


Tscherbeney,  Straufseney.  253 

die  Bauern  in  völlige  Unterthänigkeit  zu  bringen.  Titzko  v.  Pannwitz 
setzte  1350  bei  den  deutschen  Priestern  durch,  dals  die  Tschechen 
bedeutende  kirchliche  Rechte  erlangten.  Aus  dem  deutschen  Reinerz 
(Reinharcz  1324)  wurde  1366  ein  tschechisches  Dussnik,  Tscherbeney 
(1354  Zrmney)  wurde  tschechisch  benannt,  Schlots  Landfriede  (Land- 
frede 1366)  wurde  zur  Ilomole  der  Hummelsherrschaft.  Einer  von 
den  Reinerzer  Geistlichen  mufste  des  Tschechischen  kundig  sein, 
Dittrich  von  Janowitz  machte  zu  diesem  Ziele  im  Jahre  1406  eine 
Stiftung. 

Dietrich  von  Haugwitz  setzte  die  Tschechisierung  mit  aller  Kraft 
fort.  Jobst  von  Mähren  begünstigte  sie  aufs  neue.  Wohl  schufen  die 
Glatzer  Bürger  durch  ihr  deutsches  Schöffengericht,  dem  sich  auch  die 
Bewohner  der  Hummel  zuweilen  unterwarfen,  ein  Gegengewicht.  Aber 
die  Abgeschiedenheit  des  Landes,  das  fremdsprachige  böhmische  Hinter- 
land, der  tschechische  Adel  lielsen  das  Deutschtum  nicht  aufkommen. 
In  das  dichtbewaldete  Gebiet  riefen  sie  von  Böhmen  Siedler.  Diese 
gründeten  eng  zusammengebaute,  selten  von  grösseren  Höfen  und 
Gärten  umgebene  Gehöfte,  die  an  schmalen,  gewundenen  Strafsen  zu 
beiden  Seiten  des  Dorfbaches  lagen.  Vom  Dorfplatze  aus  gehen 
mehrere  Straf sen  und  verzweigen  sich,  meist  die  Gehöfte  umklammernd. 
Die  handtuchartige  Waldhufenflur  kannten  die  slawischen  Ankömmlinge 
nicht,  ihre  Äcker  lagen  in  Gewannen. 

Im  Hussitenkriege  hausten  die  kriegerischen  Scharen  auch  in 
unserer  Gegend.  Hynko  Erussina  von  Lichtenberg  wurde  sogar  Herr 
von  Glatz,  das  1453  der  neue  hussitische  Besitzer,  König  Georg  Podie- 
brad,  zur  Grafschaft  erhob.  Die  Gründung  der  Hussitengemeinde 
Straufseney  fällt  in  seine  Zeit.  —  Nun  teilte  die  Hummel  die  Geschicke 
des  Glatzer  Landes,  das  1471  wieder  katholisch,  1526  durch  Graf 
Johann  von  Bernstein  lutherisch  und  1630  nochmals  katholisch  ward. 
Die  Hummelsburg  war  ein  altes  Raubnest  gewesen  und  diente  zur 
Beunruhigung  Schlesiens,  bis  am  Ende  des  15.  Jahrhunderts  mit  dem 
Sachsen  Hildebrand  von  Kauffung,  dem  Lehnsmanne  König  Georgs, 
ruhige  Zeiten  eintraten.     Seit  1595  liegt  die  Burg  wüst. 

1742  am  20.  Februar  leisteten  die  Stände  Friedrich  dem  Grofsen 
den  Eid  der  Treue,  1763  kam  das  Land  endgültig  in  seine  Hand.  Ein 
neuer  Aufschwung  begann,  besonders  für  die  Evangelischen.  Aber  die 
Tscherbeneyer  Gemeinde  erhielt  sich  auch.  Zu  ihr  gehören  Jacobowitz 
und  Bad  Gudowa.  Sie  zählt  etwa  5300  Seelen.  Jetzt  ist  ein  deutscher 
Kaplan  thätig,  der  indes  auch  tschechische  Beichte  abnimmt,  so  dals 
das  Verlangen  nach  einem  Tschechen  unnötig  war.  Die  Schulsprache 
ist  deutsch.  Es  gehören  zur  Kirche  2748  Katholiken  aus  dem  Kirch- 
dorf e,  aus  Jacobowitz  und  aus  Bad  Cudowa,  347  aus  Straufseney  mit 
Bukowine,  812  ausSchlaney,  476  aus  dem  nun  abgezweigten  Brzesowie 
mit  deutschem  Gottesdienste.  Aber  aufser  den  Beamten  und  Geschäfts- 
leuten spricht  der  gewöhnliche  Mann  zu  Hause  noch  tschechisch;  dies 


254  Die  Tschechen. 

wird  durch  die  Heiraten  über  die  Grenze  noch  mehr  begünstigt.  Das 
Deutschtum  gilt  eben  überall  als  das  Höhere  und  Erstrebenswerte.  Es 
wurzelt  fest,  trotz  der  kirchlichen  Zugehörigkeit  zu  Prag.  Die  Zeit 
scheint  nicht  mehr  fern,  dals  die  ganze  Hummel  wieder  deutsch  ist, 
und  dafs  die  letzten  Trümmer  der  Ruine  Landfried  den  fremden  Namen 
überleben  und  das  alte  deutsche  Wesen  völlig  hergestellt  sehen. 

6.  Die  Geschichte  der  evangelischen  Tschechen  beginnt  da,  wo 
die  der  katholischen  aufhört.  Die  hussitische  Gründung  Straulseney, 
zu  der  426  Evangelische  aus  Straulseney  mit  Bukowine,  157  aus 
Tscherbeney,  Jacobowitz  und  Cudowa,  16  aus  Schlaney,  6  aus  Brzeso- 
wie,  insgesamt  aber  über  600  Seelen  gehören,  ist  heute  rein  evangelisch, 
auch  die  alte  Gemeinde  Mehltheuer  hat  sich  der  evangelischen  in 
Podiebrad-Hussinetz  untergeordnet. 

a)  In  Straulseney  wird  alle  14  Tage  tschechischer  Gottesdienst 
abgehalten.  Die  neue  Kirche  ward  1848,  Schule  und  Pfarre  1876 
erbaut,  das  evangelische  Pfarramt  1830  eingerichtet.  Die  evangelische 
Schule  zählt  85,  die  in  Cudowa  19  Kinder.  Zuerst  siedelten  nur  vier 
hussitische  Ankömmlinge,  deren  Name  noch  heute  vorherrscht,  später 
kamen  vier  böhmische  Familien  hinzu,  schliesslich  wurde  die  Gemeinde 
stärker.  Der  jetzige  Pfarrer  ist  deutsch,  sein  Vorgänger  war  Tscheche 
und  arbeitete  angeblich  dem  Deutschtume  entgegen.  Die  Namen  sind 
größtenteils  tschechisch,  so  die  Ortsnamen  Straufseney  von  strouzinka 
=  Bächlein,  Bukowine  von  buk  =  Buche,  Cudowa  von  chudoba  = 
Armut,  Tscherbeney  von  cerveny  =  rot,  Schlaney  von  slany  =  salzig, 
Brzesowie  von  breza  =  Birke,  Jacobowitz  von  Jacob,  Nauseney  von 
nouze  =  Not. 

Die  übrigen  Kolonieen  sind  Schöpfungen  Friedrichs  des  Grofsen. 
Dieser  nahm  zunächst  bedrängte  Evangelische  aus  den  Landen  der 
Maria  Theresia  einzeln  auf;  in  Rixdorf  bestand  unter  dem  Prediger 
Liberda  eine  blühende  Kolonie.  Der  grofse  König  hatte  den  Wunsch, 
solche  Kolonieen  auch  in  Schlesien  zu  gründen  und  betraute  jenen 
Prediger  mit  den  ersten  Aufgaben.  Ihm  gelang  es,  dals  1742  gegen 
1200  evangelische  Böhmen  und  Mährer  nach  Münsterberg  kamen. 
Dieselben  Unzuträglichkeiten,  die  zwischen  Salzburgern  und  Litauern 
erwuchsen,  begegnen  uns  auch  hier.  Dazu  kam,  dafs  Friedrich  zwar 
den  guten  Willen  seines  Vaters,  aber  nicht  dessen  reiche  Mittel  besafs. 
Im  August  1742  wurden  190  Familien  mit  6 14  Köpfen  über  30  Dörfer 
des  Münsterberger  und  6  des  Strehlener  Kreises  verteilt.  Von  den 
Zurückbleibenden  wurde  ein  Teil  in  den  Grolswartenberger,  ein  anderer 
in  den  Tarnowitzer  Kreis  berufen. 

Der  schlechte  Boden  aber  sagte  niemandem  zu,  und  viele  entflohen 
vom  lästigen  Geschenke.  Durch  Sammlungen  in  Holland  und  der 
Schweiz  kam  eine  Summe  zusammen,  von  der  man  zwei  Strehlener 
Vorwerke  am  2.  Juli  1749  kaufte.  Das  ward  die  lebensvollste  An- 
siedelung.     Im  ganzen   haben   sich  fünf  solche  deutsch  -  tschechische 


Hussinetz,  Neupodiebrad.  255 

Kirchspiele  erhalten  und  entwickelt,  die  auf  Friedrich  den  Grolsen 
zurückgehen.  Im  „Schematismus  des  Breslauer  Fürstbischofs  1895" 
werden  die  Strehlener  „ Protestanten a  genannt,  die  von  Grofsfriedrichs- 
tabor  „Taboriten",  die  Friedrichsgrätzer  „Hussiten".  In  Wirklichkeit 
sind  die  Taboriten  Reformierte  und  die  Friedrichsgrätzer  Lutheraner; 
alle  aber  erzählen  ihre  Geschichte  mit  leuchtenden  Augen,  wie  die 
Salzburger  in  Litauen.  Man  habe  ihren  hussitischen  und  evangelischen 
Glauben  mit  Füfsen  getreten,  Arnos  Comenius  sei  ihr  letzter  und 
tüchtigster  Bischof  gewesen,  unter  der  Kaiserin  Maria  Theresia  sei  ihr 
Los  immer  härter  geworden,  und  der  grolse  Friedrich  habe  ihnen  eine 
neue  Heimat  gewährt. 

b)  Die  wichtigste  und  stärkste  Kolonie  ist  das  Kirchspiel  Hussi- 
netz, deren  Pastor  Cblumsky  heilst.  Sie  liegt  im  Presbyterat  Strehlen, 
das  neben  14193  Protestanten  2981  Katholiken  zählt.  Die  Umgebung 
ist  also  stark  evangelisch.  Die  Seelenzahl  beträgt  4000  und  setzt  sich 
aus  den  deutschen  und  tschechischen  Evangelischen  der  Orte  Hussinetz, 
Ober-,  Mittel-  und  Niederpodiebrad,  Mehltheuer,  sowie  den  Tschechen 
aus  Strehlen  und  Umgegend  zusammen.  Auf  Hussinetz  entfallen  1502, 
auf  Mehltheuer,  das  schon  vor  der  neuen  Einwanderung  als  tschechische 
Kolonie  bestand,  121,  auf  Podiebrad  928  Evangelische.  Mehltheuer 
liegt  mit  dem  Schulorte  Mittelpodiebrad  im  Gemenge.  Die  Bewohner 
entstammen  mit  Ausnahme  der  alten  Mehltheuerer  dem  Czaslauer  und 
Braunauer  Bezirke.  Sie  flohen  im  fünften  Jahrzehnt  des  18.  Jahr- 
hunderts ohne  obrigkeitliche  Genehmigung  und  kamen  ganz  arm  in 
Schlesien  an.  Wo  ihre  hussitischen  Ahnen  1429  als  Feinde  vor 
Strehlen  lagerten,  bauten  sie  1749  ihren  Herd  in  der  neuen  Heimat, 
sie  nach  ihrem  ersten  Reformator  benennend.  Am  8.  Juni  1749 
predigte  ihr  Pastor  Blanitzky  das  erstemal  in  ihrer  Sprache  zu  Strehlen 
in  der  uralten  Altstädter  Marienkirche.  Die  Gemeinde  gedieh,  der 
Zuwachs  ward  stärker,  so  dals  das  Vorwerk  Mehltheuer  1764  die  An- 
kömmlinge aufnehmen  mulste.  Dies  geschah  so.  Die  Hofgärtner 
wurden  abgelöst  und  bildeten  eine  Gemeinde,  der  Wald  blieb  königlich 
und  machte  einen  neuen  Forstgutsbezirk  unter  dem  alten  Namen  aus. 
Das  übrige  Land  bekamen  die  Böhmen  in  Erbpacht.  Die  wichtigsten 
Punkte  des  Vertrages  vom  7.  April  1766  bestimmten:  „Die  Königl. 
Kriegs-  und  Domänenkammer  giebt  den  70  böhmischen  Familien,  die 
sich  bittweise  an  dieselbe  gewandt  haben,  das  Königl.  Vorwerk  Mehl- 
theuer mit  sämtlichem  Inventar  in  Erbpacht.  Das  Vorwerk  ist  1014 
Morgen  grofs.  Der  Acker  ist  vollständig  bestellt,  und  es  wird  sowohl 
für  die  Bestellung,  als  auch  für  den  vorhandenen  Viehbestand  keine 
Entschädigung  gefordert.  Jede  Familie  erhält  zum  Bau  der  nötigen 
Gebäude  20  Stämme  Bauholz  aus  dem  Königl.  Walde.  Bausteine 
können  dem  auf  dem  Vorwerke  vorhandenen  Bruche  entnommen 
werden. u  Das  neue  Dorf  sollte  Neupodiebrad  heifsen,  aber  man  legte 
der  Ausdehnung  wegen  drei  Dörfer  an. 


256  Die  Tschechen. 

Für  die  Realitäten  waren  1315  Thaler  8  Groschen  an  das  Streh- 
lener  Amt  zu  zahlen,  sonst  waren  die  Ansiedler  frei  von  Steuern  und 
Frondiensten.  Bei  der  Wahl  der  Schulmeister  sollte  auf  eine  Person 
gesehen  werden,  die  das  Spinnen  und  Wirken  kannte  und  alle  Tage 
darin  unterrichten  mufste.  Die  Richter  und  Ältesten  muteten  die  Be- 
wohner zum  fleilsigen  Spinnen  anhalten  und  mit  gutem  Beispiele 
vorangehen.  Bis  zur  Einführung  der  allgemeinen  Wehrpflicht  waren 
sie  vom  Militärdienste  befreit,  doch  sollen  sie  sehr  wenig  von  diesem 
Vorrechte  Gebrauch  gemacht  haben,  da  alle  gern,  eingedenk  hussitischer 
Tapferkeit,  Soldaten  und  —  preulsische  Patrioten  waren.  Die  Mutter- 
sprache aber  erhielt  sich,  weil  Heiraten  nach  autsen  selten  stattfanden. 
Erst  in  neuer  Zeit,  da  sich  auch  Deutsche  bei  ihnen  einbürgern,  die 
Schul-  und  Geschäftssprache  deutsch,  die  Kirchensprache  wenigstens 
an  jedem  dritten  Sonntage  deutsch  ist  und  die  wirtschaftliche  Ab- 
hängigkeit von  der  Kreisstadt  deutsche  Umgangssprache  bedingt,  ist 
die  völlige  Germanisierung  nur  eine  Frage  der  Zeit.  Schon  nimmt 
die  Familiensprache  Worte  wie  „spazirowat"  auf,  und  mengt  deutsche 
Worte  mit  slawischen  Endungen  ein,  schon  versteht  jeder  Erwachsene 
beide  Sprachen.  Als  der  jetzige  Hauptlehrer  in  Mittelpodiebrad  vor 
17  Jahren  sein  Amt  antrat,  wurde  wöchentlich  noch  zwei  Stunden  im 
böhmischen  Gesangbuch  gelesen.  Früher  war  der  ganze  Religions- 
unterricht tschechisch,  seit  16  Jahren  ist  aber  die  deutsche  Schul- 
sprache völlig  durchgeführt.  Ein  deutscher  Gesang-  und  Unterhaltungs- 
verein, ein  Darlehnskassen verein  nach  dem  Muster  RaiSeisen,  deutsche 
Vorträge  des  Lehrers  sind  Zeichen  zunehmender  deutscher  Kultur.  Die 
Beschäftigung  ist  neben  Ackerbau  Ziechen-,  Leinwand-,  Kattun-,  Inlett-, 
Schürzen-  und  Roishaar weberel 

Ihre  ehemalige  Leidensgeschichte  muls  sie  natürlich  von  den  alten 
Sprachgenossen  trennen.  Und  selbst  die  unverständige,  grundlose  Auf- 
reizung, wie  sie   „von  einem  Slauen"   1875  in  Prag  unter  dem  Titel 

„Die  Cechen  in  Preufsisch  -  Oberschlesien"  ins  Werk  gesetzt  ward, 
machte  an  diesen  braven  Leuten  Halt  und  fand  überhaupt  keine  Narren. 
Der  „Rufende  aus  Oberschlesien u  meint,  mit  Anstrengung  und  allen 
Mitteln  habe  die  Regierung  die  schlesischen  Tschechen  und  Mährer 
vergewaltigt;  das  Gegenteil  ist  wahr,  sonst  wären  ja  die  zerstreuten  Ge- 
meinden längst  germanisiert.  Aus  „bekannten  Tendenzen"  trenne  man 
Mährer  und  Tschechen.  Schade,  data  der  „Slaue"  nicht  die  bekannten 
Tendenzen  angegeben  hat.  Die  Mährer  im  Ratiborer  und  Leobschützer 
Kreise  haben  sich  1900,  da  die  tschechische  Agitation  ja  überall  an- 
gepocht hatte,  immer  als  mährisch,  nie  als  tschechisch  bezeichnet, 
soweit  ich  hören  konnte.  Der  „Slaue"  verlangt  tschechische  Ortho- 
graphie der  südschlesischen  Ortsnamen  und  verweist  au!  die  redlichen, 
nüchternen  slowakischen  Drahtbinder;  er  scheint  nicht  zu  wissen,  dals 
die  Orte  ihren  Ursprung  und  Wohlstand  zum  gröfsten  Teile  deutscher 
Thatkraft,  deutschen  Fürsten,  deutschen  Bauern,  deutschen  Verhält- 


Tschechische  Kirchspiele.  257 

hissen  verdanken.  Die  „wohldenkenden  oberschlesischen"  Slawen  aber 
haben  den  „Slauenu  weder  vor-,  noch  nachher  zu  ihrem  Vertreter  ge- 
macht. Er  sagt  auch:  „Die  Bildung  macht  nicht  nur  keinen  Fort- 
schritt, im  Gegenteil,  sie  sinkt  immer  tiefer  herab ;  die  oberschlesischen 
Tschechen  sind  so  beschränkt,  dafs  sie  bei  den  politischen  Wahlen  stets 
mit  den  Feinden  gegen  ihr  eigenes  Wohl  stimmen."  Nun  läfst  sich 
zwar  immer  über  politische  Reife  streiten,  dafs  aber  die  Tschechen 
besser  wufsten,  woher  ihnen  Wohlstand  und  Vorteil  kam,  brauchte 
jenen  nicht  zu  der  Klage  zu  stimmen:  „Sie  vegetieren  ohne  Leben. u 
Aus  eigener  Anschauung  kann  ich  mit  Freude  bekunden,  dats  ich  von 
einer  Beschränktheit  nichts  gemerkt  habe,  dafs  aber  mit  zunehmendem 
Deutschtume  die  Dörfer  immer  freundlicher,  reinlicher,  sauberer,  licht- 
voller werden.  Übrigens  scheint  unser  Oberschlesier,  „der  Slauea,  die 
Tschechen  seiner  Heimatsprovinz  gar  nicht  gekannt  zu  haben.  Sein 
ganzes  Buch  bezieht  sich  trotz  des  Titels  auf  die  Mährer. 

c)  Grofsfriedrichstabor  ward  von  Friedrich  demGrofsen  1749 
angelegt  unter  ähnlichen  Umständen.  Ein  Graf  Wrtba  war  1770  bis 
1777  Kantor,  er  soll  von  der  Kaiserin  Maria  Theresia  seines  Glaubens 
wegen  der  Güter  verlustig  erklärt  worden  sein.  Da  sich  der  Boden 
als  ungenügend  erwies,  fand  vor  einigen  Jahren  eine  Verlegung  des 
Dorfes  %  Meilen  weiter  südöstlich  hinter  den  Wald  statt.  Das  ist 
noch  nicht  auf  allen  Karten  vermerkt.  Zu  beiden  Seiten  der  sehr 
breiten  Dorf  wiese  stehen  nun  die  Häuser,  am  Ende  die  schöne  neue 
Kirche  mit  der  Pfarre  und  dem  Schulhause.  Der  Pfarrer,  dessen  Vater 
schon  im  Dienste  dieser  versprengten  Glaubensgenossen  stand  und  aus 
der  Königgrätzer  Gegend  stammt,  wufste  durch  Bitten  die  Unter- 
stützung der  Evangelischen  für  eine  würdige  Kirche  zu  erhalten.  Denn 
die  arme  Gemeinde  hatte  ein  Drittel  der  Kosten  zu  zahlen,  der  Patron 
der  Kirche,  Biron  von  Kurland,  zwei  Drittel.  Wenn  der  Boden  auch 
besser  ist,  so  sind  doch  die  meisten  Einwohner  Sachsengänger. 

Zur  Zeit  meiner  Anwesenheit,  Palmsonntag  1900,  war  die  Kirche 
mit  Blumengewinden  seit  der  letzten  Kircheninspektion  geschmückt 
und  der  Boden  mit  Tannenzweigen,  des  Palmsonntages  und  Einsegnungs- 
tages wegen,  bestreut.  An  Stelle  des  Giebelschmuckes  befindet  sich 
ein  Stern.  Ein  Kelch  durfte  vielleicht  im  Gedenken  an  die  Hussiten- 
kriege, ein  Kreuz  in  Hinsicht  auf  den  gleichen  Schmuck  der  dortigen 
katholischen  Kirchen  nicht  gewählt  werden.  Denn  die  Leute  halten 
fest  an  ihrem  reformierten  Glauben.  Das  Kirchspiel  zählt  1500  Seelen, 
etwa  800  aus  Grofs-  und  Kleintabor,  über  500  aus  Tschermin,  die 
anderen  aus  Veronikenthal  und  der  übrigen  Umgegend.  Monatlich 
wird  einmal  deutsch  gepredigt,  die  Schule  ist  ganz  deutsch.  Die  Nähe 
der  Städte  Bralin,  Wartenberg,  Kempen  wird  sicher  auch  hier  bald  die 
fremdsprachige  Insel  überfluten. 

d)  Das  Friedrichsgrätzer  Kirchspiel  im  Kreise  Oppeln  ist  1752 
von  Friedrich  dem  Grofsen  angelegt  worden  und  zählt  1700  Seelen. 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  yj 


258  Die  Tschechen. 

Die  Dorf  anläge  ist  wie  in  Grolsfriedrichstabor:  eine  sehr  breite  Wiesen- 
strafse  wird  yon  einer  schmäleren  durchquert.  Die  Gehöfte  liegen  eng 
aneinander  und  haben  eine  Art  Vorhaupt.  Der  Friedrichsgrätzer  Pastor 
Matthias  Kmet,  ein  evangelischer  Slawe  aus  Ungarn,  hält  abwechselnd 
in  beiden  Sprachen  Gottesdienst.  Als  Filiale  ist  Sacken  bei  Poppelan, 
zu  betrachten,  wo  der  Friedrichsgrätzer  Pastor  bei  400  Kirchengenossen 
bis  zu  diesem  Jahre  noch  dreimal  tschechischen  Gottesdienst  jährlich 
hielt. 

e)  Petersgfätz  im  Kreise  Grotsstrehlitz  aber  hat  sich  unter  dem 
Pastor  Peter  Schikora  schon  länger  selbständig  gemacht.  Er  wanderte 
1830  aus  Friedrichsgrätz  ein.  Jährlich  wird  hier  achtmal  in  der  Mutter- 
sprache gepredigt. 

f)  Auf  der  Sprachenkarte  von  A.  v.  Fircks  befindet  sich  rechts 
yon  der  Oder  am  Nordende  der  Stadt  Ratibor  eine  mährische  oder 
tschechische  Sprachinsel.  Ich  habe  bis  jetzt  nicht  erfahren  können,  ob 
sie  noch  besteht. 

IL    Sitten  und  Gebräuche. 

Die  Tschechen  bilden  sämtlich  nur  Inseln  im  Deutschtume,  die 
allmählich  überschwemmt  werden.  Damit  gehen  auch  die  alten  Ge- 
bräuche verloren.  Am  ehesten  halten  sie  sich  bei  den  Katholiken,  über 
deren  Sitten  ich  besonders  in  Schlaney  mancherlei  erfahren  konnte. 
Die  Leute  sind  alle  kleine  Bauern  und  Weber. 

1.  Hochzeit  Die  Tschechen  führen,  wie  es  im  „Führer  durch 
die  Grafschaft  Glatzu  heilst,  ein  einfaches,  treuherziges,  fleilsiges, 
frommes,  bescheidenes,  ärmliches  Dasein.  Dementsprechend  sind  ihre 
Sitten. 

Haben  sich  Bursche  und  Mädchen  über  die  Heirat  geeinigt,  so 
wird  eine  Verlobung  gefeiert,  bei  der  auch  ein  Druschba  des  Bräutigams 
als  Redner  thätig  ist.  Am  ersten  Sonntag  oder  Donnerstag  des  Auf- 
gebotes, meist  14  Tage  vor  der  Hochzeit,  laden  Bräutigam  und  Druschba 
die  Junggesellen  und  Jungfrauen,  dann  den  letzten  Sonntag  vor  der 
Hochzeit  die  gewöhnlichen  Gäste  ein.  Die  Braut  wählt  sich  eine 
Hochzeitsfrau  (Starosvatka).  Am  Hochzeitstage  holen  nochmals  die 
Junggesellen  die  Gäste,  die  schon  vorher  Kaffee,  Butter,  Gänse,  Eier, 
Fleisch  zur  Bereitung  des  Hochzeitsmahles  geschickt  haben.  Bei  der 
Bereitung  der  Hochzeit  sspeisen  helfen  Braut  und  Bräutigam  nicht  mit. 
Früh  sammeln  sich  nun  die  Hochzeitsgäste  im  Brauthause  zum  Kaffee; 
vermögende  Bauern  haben  10  bis  15  Paare  eingeladen.  Nach  der 
Trauung  kehren  sie  zurück  in  das  Brauthaus  zu  einem  Frühstück,  zu 
dem  auch  die  Nachbarn  kommen.  Auf  dem  Nachhausewege  aber  hat 
der  Brautzug  erst  die  Schnurzieher  zu  überwinden.  Ein  oder  zwei  als 
Narren  angezogene  Vermummte  mit  verschiedenfarbigen  Rockärmeln 
und  Hosenteilen,  mit  Haarschweif  und  Bänderschmuck  halten  die  Schnur 


Hochzeit.    Taufe.    Begräbnis.  259 

oder  stehen  vor  einem  Ehrenthore  und  suchen  mit  scherzhaften  Abweis- 
gründen den  Zug  zurückzuhalten.  Der  Druschba  mufs  schlagfertig  auf 
die  Reden  erwidern.  Nach  Zahlung  einer  Summe  wird  der  Zug  durch- 
gelassen. 

Die  Burschen  setzen  sich  nun  in  den  Brautwinkel,  und  der 
Druschba,  der  wie  bei  den  Sorben  mit  Bänderstock,  Rockschleifen  und 
Rosmarinzweig  geschmückt  ist,  mufs  allen  seinen  Witz  aufwenden,  um 
den  Platz  für  das  Paar  freizukaufen.  Die  Braut  hat  beim  Essen  zwei 
Teller  aufeinander  stehen;  „was  das  bedeuten  soll,  verstehe  ich  nicht, 
aber  alle  machen  es  so".  Es  wird  vom  Essen  etwas  für  die  Armen 
geschickt,  auch  geht  eine  Büchse  für  die  armen  Schulkinder,  ferner 
für  die  Köchin  und  endlich  für  das  Paar  herum. 

Nach  dem  Essen  kommen  die  Musikanten,  spielen  erst  draufsen, 
dann  drinnen,  nun  dem  Brautzuge  nach,  hin  zum  Tanzsaale.  Bis  nach 
Mitternacht  dauert  der  Tanz,  bei  dem  getrunken  und  gegessen  wird. 
Auch  die  Zuschauer  bekommen  ihren  Teil.  Schlief slich  bezahlt  der 
Druschba  die  Kosten,  zu  denen  der  Bräutigam  die  Hälfte,  die  Jung- 
gesellen und  Jungfrauen  ein  Drittel  und  die  Gäste  den  Rest  bezahlen. 
Zur  Mitternacht  geht  die  Hochzeitsfrau  mit  ein  paar  Jungfrauen  und 
dem  nötigen  Branntwein  in  eine  Stube,  sie  nehmen  der  Braut  den 
Kranz  ab  und  setzen  ihr  die  Haube  auf.  Dann  tanzt  sie  drei  Stücke, 
und  das  Paar  verläfst  den  Saal,  während  für  die  anderen  der  Tanz 
fortdauert,  auch  nachdem  die  lange  Schleife  des  Druschba  verschwunden 
ist.     Die  Hochzeit  ist  meist  Dienstags,  nie  Freitags. 

Nach  der  Hochzeit  erst  wird  die  Brautausstattung  gemacht.  Und 
es  soll  oft  vorkommen,  aber  doch  meist  jenseits  der  Grenze,  dafs  von 
den  versprochenen  schönen  Ausstattungssachen  der  Bräutigam  nicht 
viel  zu  sehen  bekommt.  Auf  einen  bekränzten  Leiter-  oder  Rollwagen 
wird  die  Gerätschaft  gepackt;  Jungfrauen  und  Gäste  gehen  mit  dem 
Hausrat,  Töpfen,  Äschen,  Geräten  nebenher.  Die  Braut  wird  im  neuen 
Hause  willkommen  geheifsen,  und  nun  erst  ist  das  Paar  dauernd 
vereint. 

2.  Taufe.  Man  wählt  gewöhnlich  vier  Paten,  zwei  Männer  und 
zwei  Frauen.  Aufser  dem  Patenbriefe  legt  man  etwas  Geweihtes  in 
die  Täuflingshülle,  einen  Rosenkranz,  geweihten  Zweig  u.  dergl.  Die 
Mutter  mufs  den  ersten  Schritt  über  die  Gasse  nach  der  Kirche  thun 
und  darf  nach  Sonnenuntergang  nicht  ausgehen,  sonst  laufen  ihr  die 
bösen  Geister  nach,  und  das  Band  stirbt.  Geweihte  Kräuter  sind  immer 
im  Bettchen;  sie  halten  Krankheiten  zurück.  Diese  Kräuter  hat  man 
am  Johannisvorabend  gesammelt,  unter  den  Tisch  gelegt,  einen  Tag 
darauf  getrocknet  und  dann  zum  Teil  aufbewahrt,  zum  Teil  dem  Vieh 
zu  fressen  gegeben.  Oder  man  hat  am  Fronleichnamsfeste  Rosen  und 
andere  Pflanzen  in  der  Kirche  weihen  lassen,  oder  man  bedient  sich 
geweihter  Osterzweige. 

3.  Begräbnis.    Wer  sein  Ende  nahen  fühlt,  begehrt  neues  Stroh 

17* 


£50  Die  Tschechen. 

und  lätst  die  Unterbetten  entfernen.  Die  Leiche  legt  man  auf  ein 
Brett,  besprengt  alles  mit  geweihtem  Wasser,  macht  mit  dem  Brette 
auf  der  Schwelle  dreimal  das  Zeichen  des  Kreuzes  und  sagt  dem  Vieh: 
„Der  Wirt  ist  euch  gestorben."  Ledige  begräbt  man  mit  der  Bahre, 
Verheiratete  mit  Wagen.  Die  Leichenbank  wird  umgeworfen,  „dafs 
man  ihn  eher  vergifst,  und  dafs  die  Trauer  nachläfstu.  Drei  Hände 
voll  Erde  und  einmalige  Bekreuzigung  gelten  als  letztes  Lebewohl.  Ein. 
grofses  Totenmahl  und  sofortige  Nachlafsteilung  folgen. 

4.  Weihnachten.  Die  Niklasumgänge  am  5./6.  Dezember  sind 
verboten  worden.  Doch  erscheint  zuweilen  der  alte  Weihnachtsmann 
in  Stroh  oder  in  einen  umgekehrten  Pelz  gehüllt  und  maskiert.  Auch 
den  Schimmelreiter  und  Bärenführer  sieht  man.  Echte  Volksmusik 
folgt  ihnen,  erzeugt  auf  Blechstürzen,  Blechtöpfen,  Giefskannen,  Kämmen 
mit  Papierblatt,  Rumpelhölzern,  Bch malen,  brummbafsartigen  Instru- 
menten, Pfeifen  und  Tuten.  Die  Nacht  vom  23.  zum  24.  Dezember 
heilst  die  lange  Nacht,  da  bäckt  man  Mohnstriezel ,  schmückt  den 
Christbaum,  und  junge  Leute  werfen  mit  Jauche  gefüllte  Töpfe,  etwa 
wie  beim  Polterabend,  in  die  Gehöfte.  Am  24.  früh  gehen  die  Kinder 
mit  Holzscheiten  von  Haus  zu  Haus  an  die  Obstbäume  und  singen  in 
ihrer  Muttersprache: 

Bäumchen,  steh  auf! 
Gieb  Obst,  gieb  Frucht! 
Wasch  dich  ab,  zieh  dich  an, 
Christabend  ist  da. 

Am  heiligen  Abend  werden  viele  Speisen  gekocht  und,  was  das 
ganze  Jahr  nicht  vorkommt,  der  Tisch  gedeckt.  Die  Menge  der  Speisen 
soll  vorbedeutend  für  den  Überfluls  des  folgenden  Jahres  sein :  es  muls 
viel  übrig  bleiben.  Vom  24.  bis  26.  Dezember  früh  wird  nicht  ab- 
geräumt, die  Brocken  bleiben  liegen  und  werden  am  letzten  Tage  für 
die  Vögel  zu  den  Bäumen  mit  den  Worten  getragen: 

Bäumchen,  hier  hast  du  vom  Christfest  ein  Stück, 
Gieb  es  uns  wieder,  und  bring  uns  Glück! 

Wie  fast  in  ganz  Deutschland,  beschert  man  jetzt  auch  beim 
Lichterbaume;  ältere  Leute  halten  die  Gebräuche  der  Zwölf  nachte, 
nicht  zu  dreschen,  drehen,  waschen,  ringen,  und  glauben  an  die  Zwölften 
als  Wetter-  und  Glücksboten.  Zu  Sylvester  wird  viel  getrunken.  Am 
2.  Januar,  dem  Umzugs-  oder  Stürztage,  ist  das  Fest  der  Dienstboten. 
Am  Dreikönigstage  kommen  die  drei  vermummten  Könige,  „wenn  es 
der  Gendarm  nicht  sieht",  und  singen  in  ihrer  Sprache: 

Wir  heiligen  drei  Könige  kommen  zu  euch, 
Glück  und  Gesundheit  wünschen  wir  euch, 
Glück  und  Gesundheit  in  langen  Jahren. 
Wir  kommen  aus  weiter  Ferne  gefahren, 
Und  weit  ist  noch  unser  Weg  von  hier, 
Nach  Bethlehem  weiter  wollen  wir, 
Und  wenig  Pfennige  haben  wir.  — 


Kirchenfeste.  26  X 

Du  Schwarzer  hinten,  was  kommt  dir  in'  Sinn? 
Stöfst  auf  uns  dein  kohlschwarzes  Kinn? 
Wärst  du  nicht  über  die  Sonne  gerannt, 
Hättst  du  die  Backen  dir  nicht  verbrannt. 

Hier  bin  ich,  Schwarzer,  und  trete  zu  euch, 

Ein  glückliches  neues  Jahr  wünsch  ich  euch. 

Die  Sonne  ist  ein  teurer  Stein, 

Es  ward  geboren  das  Christkindlein. 

Borgt  doch  Windeln  der  Mutter  Marie, 

Wir  wollen  das  Kleine  einbinden  für  sie, 

Wir  haben  es  oft  schon  gebunden  und  gepflegt 

Und  haben  es  in  die  Krippe  gelegt. 

Jesulein,  schlaf  in  Gottes  Namen, 

Von  heut  bis  in  alle  Ewigkeit!    Amen. 

5.  Ostern.  Der  Mummenschanz  der  Fastnacht  mit  dem  „An- 
führen" und  den  verkleideten  Fastnachtsnarren,  mit  Musik  und  Gesang 
besteht  wie  bei  den  Sorben.  Am  Palmsonntag  findet  die  Palmenweihe 
statt.  Man  bindet  aus  20  bis  30  meterlangen  Weidenkätzchenruten 
ein  Bündel,  und  grols  und  klein  lälst  dies  weihen,  steckt  einzelne 
Ruten  auf  das  Feld,  andere  an  den  Spiegel  und  in  die  Stube.  Die 
Ruten  sollen  vor  dem  Blitz  schützen,  wie  auch  die  mit  Kreuzchen 
versehenen  Hölzer.  Am  Palmsonntag  oder  zu  Lätare  gehen  auch  die 
Mädchen  singend  von  Haus  zu  Haus  mit  geputzten  Bäumchen  und 
singen  deutsch: 

Sommer,  Sommer,  Sommer 
(oder:   Ich  komm'  und  bring1  den  Sommer) 
Ich  bin  ein  kleiner  Pommer, 
Ich  bin  ein  kleiner  König, 
Gebt  mir  nicht  zu  wenig! 
Lafst  mich  nicht  zu  lange  stehn, 
Ich  mufs  ein  Häusel  weitergehn. 

Die  Mädchen  bekommen  dann  Zuckergebäck.  Am  Montag  gehen 
die  Knaben  mit  Weidenruten  schmackostern  und  bekommen  gefärbte 
Eier. 

Am  Gründonnerstag  hat  früher  in  Lewin  und  Tscherbeney  der 
Pfarrer  dem  Kaplan  vor  allem  Volk  die  Füfse  gewaschen.  Jenseits  der 
Grenze,  so  in  Nachod,  besteht  natürlich  die  Sitte  noch.  Die  Scharen 
der  Klapperer  und  Schnarrer  ziehen  auch  hier  zwischen  Gründonnerstag 
und  Karfreitag  durch  die  Stratsen.  Am  Sonnabend  legt  ^b.  95 
jeder  ein  schönes,  geweihtes  Scheit  bei  der  Kirche  auf  die 
vorhandenen  im  Viereck,  in  der  Mitte  brennt  ein  Feuer 
(Abb.  95).  Der  Scheiterhaufen  verbrennt  und  soll  die 
Strafe  für  den  Verräter  Judas  bezeichnen.  Am  letzten 
April  macht  man  Kreidekreuze  gegen  die  Hexen  mit  ge- 
weihter Kreide  an  Thür  und  Fenster. 

6.  Pfingsten  und  andere  Feste.  Man  schmückt  zu  Pfingsten 
Thüren  und  Fenster  mit  Lindenästen  und  setzt  am  1.  Mai  den  Mai- 


262  Die  Tschechen. 

bäum  auf  den  Düngerhaufen  oder  das  Bach.  Ben  Maibaum  hütet  man, 
da  er  scherzweise  zu  stehlen  gesucht  wird.  Am  Johannisvorabend  ist 
aulßer  dem  Kräuterholen  noch  das  Ausziehen  mit  feurigem  Besen  be- 
liebt, das  Schmücken  der  Gräber  hingegen  findet  nur  am  Allerseelen- 
tage statt.  Erntefeste  und  Erntebrauche  haben  sich  nicht  entwickelt, 
da  die  Feldmarken  sehr  klein  sind.  Bie  Kirmes  wird  zwei  Tage  lang 
gefeiert.  Bie  Kuchensinger  mit  ihren  schönen  Gesängen  über  die  Be- 
standteile des  guten  Kuchens  kommen  in  Mengen. 

7.  Spiele.  Beliebt  sind  bei  den  Kindern:  Klippe,  Suchen,  Fangen, 
Vogel  verkauf en ,  Anschlagen  mit  Knöpfen,  Lochkugeln,  Knopf  werfen, 
Bohnenauskugeln.  „Es  regnet  auf  der  Brücke u ,  „Seht  euch  nicht  um, 
der  „Brummsack"  geht  um,  er  geht  um  den  Kreis,  dafs  niemand  was 
weif s u ,  Herstellen  von  Farzen  (Frgatschki)  und  Dudelsack  (Budi)  aus 
Weidenrinde,  Backen  yon  Hörnchen  und  kleinen  Kuchen,  Titschkerle. 
Man  spielt  dabei  bis  zu  einer  gewissen  Zahl;  wer  einen  Wurfgegen- 
stand  mit  beiden  Händen  auffängt,  hat  10  gut,  wer  mit  der  rechten: 
20,  mit  der  linken:  30,  mit  der  Mütze:  5  u.  8.  w.  Wer  die  Zahl  500 
oder  1000  zuerst  erreicht,  hat  gewonnen.  Rädchen  wirft  eine  Partei 
der  anderen,  die  in  drei  oder  vier  Paaren  in  Abständen  hintereinander 
steht,  zum  Parieren  entgegen.  In  Grofsfriedrichstabor  spielte  man  dies 
gerade  am  Palmsonntag-Nachmittag  auf  der  Dorfstrafse. 

8.  „Hussitische"  Abweichungen.  Bie  Festgebräuche  sind 
bis  auf  die  hochzeitlichen  meist  geschwunden.  In  Podiebrad  wird  um 
Mitternacht  bei  der  Hochzeitsfeier  der  Bräutigam  unter  irgend  einem 
Yorwande  vom  Hochzeitsdiener  herausgerufen.  Inzwischen  wird  der 
Braut  Kranz  und  Schleier  abgenommen  und  ein  Häubchen  aufgesetzt. 
Sie  setzt  sich  nun  unter  die  Frauen,  und  an  den  Brautplatz  geht  ein 
altes  Weib.  Wenn  der  Bräutigam  kommt,  muls  er  die  Braut  unter 
allgemeinem  Ergötzen  suchen.  Am  zweiten  Tage  gehen  die  Jung- 
gesellen und  Jungfern  mit  dem  zuletzt  folgenden  Brautpaar  im  Borfe 
spazieren,  möglichst  in  Hemdärmeln  und  ohne  Jacke.  Bie  Mädchen 
haben  ein  grofsblumiges  Shawltuch  um.  Biese  blumigen  Tücher  sind 
bei  den  Tschechen  allerwärts  verbreitet.  Man  singt  beim  Umzug 
religiöse  Lieder.  Am  Nachmittag  hilft  die  ganze  Hochzeitsgesellschaft 
räumen,  jeder  trägt  etwas,  zuletzt  kommt  die  bekränzte  Kuh.  An 
Winterabenden  finden  Federbälle  statt.  Auf  Einladung  einer  Hausfrau 
versammeln  sich  bei  ihr  befreundete  Jungfern.  Sie  setzen  sich  an  den 
Tisch  mit  blofsen  Armen  und  bunten  Shawltüchern  um  die  Achseln. 
Bie  Hausfrau  bringt  Federn  zum  Schleusen.  Dabei  wird  gesungen. 
Zu  Mitternacht  wird  Kaffee  getrunken.  Dazu  giebt  es  Dolky,  eine  Art 
Pfannkuchen.  Wenn  noch  junge  Burschen  kommen,  werden  Pfänder- 
spiele gemacht. 


Hausbau. 


263 


HI.    Haus. 

1.  Hausbau.  Rechts  und  links  des  Dorfbaches  liegen  in  zwei 
Teilen  die  Gehöfte,  vor  denen  sich  ein  Pfad  befindet  Zwischen  den 
Gehöften  durch  führen  schmale  Zugänge  zu  der  abseits  liegenden  Land- 
strafse.  Die  Gehöfte  sind  den  fränkischen  Anlagen  nachgebildet,  hier 
und  da  mit  Bretterzaun  umgeben.  Häufig  aber  sind  auch  unter  einem 
Dache  nebeneinander  Wohnung,  Stall  und  Scheune  vereinigt  (Tabor, 
Schlaney,  Abb.  96).    Oftmals  ist,  besonders  in  der  Strehlener  Gegend, 

Abb.  96. 


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Haus  in  Schlaney. 

a  Tenne,  b  Schuppen,  c  Stall,  d  Stube,  e  Abort,  f  Bank,  g  Scheite,  h  Dorfweg, 

i  Hausflur,  k  Kettenziehbrunnen. 

wo  Steinbau  vorherrscht,   auch  die  Wohnung  seitlich  an  Stall-  und 
Scheuerraum  vorgebaut  (Abb.  97).     Auch  hier  walten  Gersafs-  und 

Abb.  97. 


b        . 

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e        ' 

a        1 

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1     A 

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Podiebrader  Häuser, 
a  Stube,  b  Kammer,  c  Flur,  d  Stall,  e  Scheune. 

Ständerbau  mit  Füllholz  vor.  Brett-  und  Strohschindel  werden  von 
den  Ziegeln  überall  verdrängt.  Ein  kletenartiger  Schuppen  steht  hinter 
dem  Hause.  Das  Dach  hängt  ohne  Zier  meist  an  allen  Seiten  etwas 
herüber,  so  dafs  ein  regenfreier  Umgang  vor  dem  Hause  entsteht.  Ist 
das  Giebelende  abgeschrägt,  so  fehlt  natürlich  die  seitliche  Decke.  Mehr 
als  ein  Dachfenster  einzufügen,  ist  nicht  beliebt.  Unter  den  hinteren 
Wohnfenstern  (Schlaney)  sind  Holzscheite  aufgeschichtet,  darüber  ist 
unterm  Dach  ein  Taubenschlag.  Zwischen  Haus-  und  Stallthür  steht  eine 
Bank  mit  Stötzen  und  Eimern.  Zwischen  Stallthür  und  Scheunenthor 
blinkt  ein  Fensterchen.  Ans  Scheunenthor  ist  gewöhnlich  ein  Holz- 
kreuz angenagelt.  Gegenüber  der  hinteren  Stallthür  liegt  der  Dünger- 
platz, daneben  stehen  Kirschbäume  und  eine  Reihe  grüner  Reisigbündel 
neben  dem  Gartenzaun.    Die  Stuben  haben  den  Eingang  von  der  Haus- 


264 


Die  Tschechen. 


Abb.  98. 


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bQ    kD 

— TJ — T" 


Schlaneyer  Wohnstube. 

a  Glasschrank,  b  Stahl,  c  Bank, 
d  Wiege,  e  Webstuhl,  f  Bett, 
g  Kachelofen  mit  Bank,  h  Haus- 
flur, i  Dorfseite,  k  Tisch. 


flur  aus,  und  die  Geräte  sind  so  angeordnet,  dals  rechts  von  der  Thür 
der  Glasschrank,  links  der  Kachelofen  mit  Ofenbank  und  Gerät brett 

und    das    Bett    stehen.      Dem    Glasschrank 

gegenüber  befindet  sich  der  Tisch,  dem  Ofen 

fTl  rif         |     |e        gegenüber  der  Webstuhl,  zwischen  Webstuhl 

L-J  U  und  Tisch:    Wiege  und  Spulrad  (Abb,  98). 

Die  Wandbänke  sind  fest  oder  beweglich; 
in  dem    einen   Falle   hatte    die  Vorderseite 

^  ,_,,-,  zwei,  die  hintere  ein,    die  Giebelseite  drei 

T  b  D    k  □  . 

I »  I  <=     Fenster.     Spiegel  und  Bilder  waren  in  der 

Nähe  von  Glasschrank  und  Tisch.  Die 
Häuser  mit  ihrer  Umgebung  sind  im  all- 
gemeinen reinlich  und  sauber  gehalten  und 
stechen  vorteilhaft  von  denen  über  der 
Grenze  ab. 

2.    Gerät    und   Zierat.      Das  Haus- 
gerät  zeigt   nichts    Abweichendes.      Wand- 
bänke, Holzstische  und  Holzstühle,  Wiege  und  Bett,  Handmangel  und 
der   unentbehrliche   Webstuhl    sind    wie   in    ganz    Ost-    und   Mittel- 
Abb.  99.  deutschland.      Neben    dem    Kachelofen  hängen 

__  ^     ^       an  einem  Eisenstabe  die  Trichter,  Nöfsel,  lleib- 

K  y$     f  \     eisen,  Löffelgestecke.     Ein  Brett  trägt  Tisch- 

<Jk      /Gem.  SACaiujj  \   gerät.      Heiligenbilder    und    geweihte    Zweige 

zieren  die  Wand.     Der  Schulze  ist  im  Besitze 

zweier  Stöcke.  Der  Schulzenstock  (Richtaro wa 

hui)   ist   ein    1,5  m    langer   brauner  Rohrstock 

Knopfinschrift    mit   einem  Messingknopfe,   der  eine  Inschrift 

des  Schlaneyer  trägt    Auf  dem  Schlaneyer  steht  Gem.  Schlaney. 

Schulzenstocks.    Qr.-Glatz  (Abb.  99). 

Der  Schulze  trägt  ihn  als  Abzeichen  bei  Feierlich- 
keiten, so  der  Einführung  von  Lehrern  und  Pastoren.  Der 
Gemeinde  stock  (Obecni  hui)  ist  verschieden  gestaltet. 
In  Schlaney  hatte  man  nach  Abschaffung  des  mehrfordern- 
den Gemeindedieners  einen  neuen  aus  Buchenholz  für 
1  Mark  machen  lassen,  es  folgt  hier  seine  Abbildung 
(Abb.  100).  Der  in  Sackisch  hat  dieselbe  Form. 
Giebelzier  verwendet  man  nicht,  da  der  Giebel  meist  zurücktritt 
oder  das  Dach  über  den  Giebel  hervorragt. 

Auf  den  Kirchhöfen  herrscht  das  Kreuz  (Abb.  101).  Auf  einem 
Grabe  standen  zwei  naturf arbene ,  zwei  blaue  und  zwei  grüne  25  cm 
hohe  Holzkreuzehen,  die  am  Ende  wieder  kreuzförmig  gestaltet  waren, 
daneben  ragte  noch  ein  75  cm  hohes  schwarzes  Zierbrett  mit  Porzellan- 
scheibe und  der  Inschrift :  Hier  ruht  in  Gott  unser  lieber  Sohn  Paul  R.y 
geb.  d.  26.  Juni  1885,  gest.  d.  31.  Juli  1897. 


Schulzen 
stock. 


Gerät  und  Zierat.  265 

Als  ich  kam  im  zwölfte  Jahr 
Und  der  Eltern  Freude  war, 
Legt  mir  Gott  ein  Kreuzlein  auf 
Und  nahm  mich  in  den  Bimmel  auf. 
Sechs  solcher  Kreuzlein  stehen  zuweilen  auf  einem  Grabe,  auch 
ähnliche  Zierplatten;  doch  machen  sich  allenthalben  modische  Marmor- 
Abb.  100. 


platten  und  -kreuze  Platz.  In  Podiebrad  überwiegen  die  schrägen 
Marmorplatten,  in  Tabor  Holzkreuze  und  -säulen.  Hier  herrschen  die 
tschechischen  Inschriften  vor.  Ein  paar  deutsche  lauten:  „Hier  ruhen 
in  Jesu  Christo  unsere  lieben  drei  Kinder  Wilhelm,  geb.  18.  Mai  1892, 
gest.  18.  Febr.  1898,  Erich,  geb.  7.  Febr.  1895,  gest.  22.  Febr.  1898, 
und  Toni  Hetmanek,  geb.  30.  Jan.  1897,  gesb  5.  März  1898.  Ich 
weils,  data  mein  Erlöser  (u.  e.  w.  bis)  auferwecken.     Hiob  19,  25." 


266 


Die  Tschechen. 


„Hier  ruht  in  Gott  Sehna  Kortinek,  geb.  1.  Novbr.  1890,  gest. 
23.  März  1898. 

Ein  Mensch  ist  in  seinem  Lehen  (u.  s.  w.  bis)  Felde.    Ps.  103,  15. 

Bückseite : 
Dn  Blume  Gottes,  wie  so  früh  brach  dich  des  Schöpfers  Hand, 
Er  brach  sie  nicht,  er  pflanzte  sie  in  besseres  Land." 


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Abb.  101. 


118 


A6 


a  Ein  l/4m  hohes,  naturfarbenes ,  blaues  oder  graues  Grabkreuz;  b  schwarze  Holz- 
platte mit  Porzellanschild  (c)  und  Inschrift,  Sackisch.  (lY9m  hoch);  d  Grabnummer 
an  Grofsfriedrichstaborer  Gräbern  (l/4m  hoch);  e  Grabplatte  mit  Halter  (f)  und 
Nummer  (g)  in  Grofsfriedrichstabor;  Anstrich  schwarz,  Schrift  weifs.  Bei  e  steht: 
Marie  Taube  narozena  20.  Dez.  1828,  zemrela  15.  Jan.  1898;  muejestziwu  byti 
Kristosa  umriti  z.  Filipenskym  1,21;  h  l/2m  hohe  schwarze  Holzplatte  mit  Inschrift: 
„Hier  ruht  unser  Vater  Friedrich  Tesars,  geb.  11.  Dez.  1831,  gest.  31.  Juli  1890. 
Grofsfriedrichstabor";    i    halbmeterhohe,    quadratische    und    elliptische   Blecbplatten; 

k  vgl.  h;  1  Giebelzier  daselbst. 


IV.     Volksdichtung. 

1.  Einige  Volkslieder  in  Übersetzung  mögen  die  poetische 
Befähigung  des  Völkchens  darthun.  Zuvor  seien  die  wichtigsten  Namen 
der  183  Steuerpflichtigen  Schlaneys  erwähnt:  Skoda,  Soutschek, 
Kopatschek,  Sammeck,  Eutschek,  Wieteck,  Schrutek,  Hrudik,  Jedeck, 
Lelleck,  Watzeck,  Flouseck,  Tschap,  Tschöpe,  Tluk,  Micksch,  Posch, 
Wieth,  Tautz,  Welzel,  Eatscher,  Kurschatke,  Staara,  Eudelka,  Baudisch, 
Janda,  Lanta,  Prause,  Pitschinetz,  Bartack. 


Auf  der  Schlaneyer  Brücke. 


Auf  der  Schlaneyer  Brücke 
Wächst  wohl  Bosmarein, 
Es  braucht  ihn  keins  zu  begiefsen, 
Er  wächst  und  blüht  allein. 


Auf  die  Schlaneyer  Brücke 

Geh  ich,  es  kommt  die  Zeit, 

Da  will  ich  begiefsen  und  pflücken, 

Wenn  der  Bursch  sein  Mädchen  freit. 


Hänschen. 

Hänschen,  welch  ein  Narr  du  bist, 
Der  mit  Anna  gangen  ist, 
Jagst  mit  ihr  zum  Scheunenthor, 
Nahmst  noch  Zuckerzeug  hervor. 


Volkslieder.  267 


Musiki 


Ihr  Herren  Musikanten  da! 

Nun  spielt  mir  hochl    Hurra. 

Wie  war  mein  Herz  mir  doch  so  schwer, 

Ich  mußte  fort  zum  Militär. 

Mein  Lieb  liefs  ich  zurück  in  Schmerz, 

Und  niemand  tröstete  mein  Herz. 

Das  kann  ja  nur  das  Liebchen  mein 

Mit  ihren  blauen  Äugelein. 

Ihr  Herren  Musikanten  da, 

Nun  spielt  mir  hochl    Hurra  1 

Volkstümlich  ist  das  folgende  Lied: 

Die  Waise. 


,Wo  ist  meine  Mutter,  o  Vater  mein? 


« 


Die  Mutter  liegt  im  Grabesschrein. Ba 


» 

Da  eilt  das  Kind  mit  Hacke  und  Stab 
Und  will  zu  seiner  Mutter  ins  Grab. 


Es  gräbt  und  weint  am  traurigen  Ort, 
„0  liebe  Mutter,  o  sprich  ein  Wort!8 

„„Mein  Kind,  mich  deckt  die  Erde  zu, 
Störe  nicht  meine  Grabesruh! 

Auf  meinem  Herzen  brennt  ein  Stein, 
Hast  ja  ein  neues  Mütterlein. BB 

„0  Mutter,  du  gabst  mir  Butterbrot, 
Jetzt  mufs  ich  leiden  bittre  Not. 

Du  strichst  mir  die  Haare  und  warst  mir  gut, 
Jetzt  flief8t  vom  Kamm  herab  mein  Blut." 


»» 


uu 


O  geh  nach  Haus  und  bete  zu  Gott, 
Er  wird  nicht  leiden  Sund  und  Spott. 

Und  will  er  erfüllen  dir  deine  Bitt\ 

Dann  schickt  er  mich,  und  ich  nehme  dich  mit. 

Das  Kind,  es  stöhnte  den  ganzen  Tag, 
Bis  dafs  es  am  Abend  ruhig  lag. 

„0  Vater,  gieb  mir  das  Festkleid  mein, 
Ich  will  zu  meinem  Mütterlein  !a 

Es  glühte  das  lichte  Morgenrot, 

Das  Kind  lag  verklärt  und  bleich  und  tot. 

Am  meisten  singt  man  bei  den  Evangelischen  folgende  bekannten 
Lieder  tschechisch:  „Wo  findet  die  Seele  die  Heimat,  die  Ruh' a,  „Harre 
meine  Seele tf.  Ältere  Leute  singen  gern  das  goldene  ABC.  Die  Buch- 
staben B  (Bedline-)  und  T  (To-)  lauten:  „Beschütz  fleilsig  deine 
Ehrbarkeit,  thu  keine  Sünde,  sei  Gottes  Tempel ;  wer  einmal  seine  Ehr- 
barkeit verliert,  der  wird  sie  nie  zurückgewinnen",  „Thu  immer,  was 
recht  ist,  wenn  du  auch  nicht  dafür  gelobt  wirst,  niemand  kann  alles 
so  thun,  dals  es  jedermann  gefällt". 

Beliebt  ist  auch: 


268 


Die  Tschechen. 


„Die  Böse  von  Saron.1 


Vimt     je   -   dnu      rü  -  zi    spa  -  ni  -  lou,  kras  -  nej  -  äi  ne  •  ma 
Ich     weifo      ein  herrliches    Bö -se- lein,  wie  sonst   auf  Er- den 


ffl  U  i- 1  jg  ji^^^=? 


3^3 


svet,    v-pokor-nych  srdcich     pu-ci-va    li    -    he  -  zny     je-ji 
nicht!   Den  keuschen  Herzen  erschließt' s  allein  sein    herrliches  Blüten- 


fefca^i^^^E^ 


i 


£*33 


kvet.  Bü  -  zi  -  cko    ctna,       rü  -  zi  -  cko   ctna,      sa-ron-ska  ruze, 

licht.  Wärest  du    mein,       o     Bö  -  se  -  lein,      Bo-se  von  Saron, 


kez  jsi  ty  ma,  sa-ron-ska  ruze,     kez  jsi  ty  mal 

o  wärst  du  mein,        Bo  -  se  von  Saron,    o  wärst  du  mein  1 

Der  Inhalt  der  anderen  Strophen  lautet  etwa:  Die  Rose  verwelkt 
und  vertrocknet  nicht  und  sticht  auch  nicht  den  Sucher.  —  Engel 
freuen  sich  ihres  Duftes,  Menschen  sehnen  sich  nach  keiner  anderen, 
wenn  sie  die  Böse  kennen.  —  Sie  blüht  in  allen  Ländern  der  Welt 
herrlich,  denn  Christus  selbst  ist  die  Rose  von  Saron. 

2.  Tschechische  Sprichwörter  und  Redensarten  aus 
dem  Kirchspiel  Tscherbeney.  Mit  Gott  fang  jede  Arbeit  an,  sie 
bringt  dir  reichen  Segen.  —  Gott  gab  das  Leben,  Gott  giebt  auch 
Gesundheit.  —  Wo  sich  der  Mensch  befleifsigt,  hilft  ihm  Gott.  — 
Wenn  sich  zwei  Brüder  ein  Jahr  nicht  gesehen  haben,  sind  sie  doch  in 
fünf  Minuten  mit  reden  fertig.  Wenn  zwei  Frauen  zusammenkommen, 
die  sich  täglich  treffen,  können  sie  einen  Tag  lang  reden.  —  Der  Hecht 
ist  tot,  die  Zähne  aber  sind  geblieben.  —  Selbst  das  Pferd  springt 
nicht  über  die  Kraft.  —  Das  Pferd  hat  vier  Füfse  und  stürzt  doch.  — 
Das  mutige  Pferd  ermüdet  bald.  —  Den  Löwen  und  den  Bären  erkennt 
man  an  den  Tatzen.  —  Das  durstige  Pferd  ist  im  Wasser  nicht 
wählerisch.  —  Schutt  dem  Pferde  Körner,  so  geht's  mit  dir  ferner!  — 
Jedes  Lebewesen  hat  seine  Weide.  —  Der  kleine  Wurm  verzehrt  die 
grofae  Eiche  nicht  deshalb,  weil  er  sehr  beifst,  sondern  weil  er  oft 
bohrt.  —  Nicht  einmal  das  Huhn  scharrt  umsonst.  —  Am  Singen  er- 
kennt man  den  Vogel.  —  Selbst  die  Fliege  wehrt  sich.  —  Niemand 
kann  der  ganzen  Welt  Kuchen  backen.  —  Schlechter  Lohn,  wenig 
Arbeit.  —  Nach  dem  Gefäfs  erkennt  man  den  Handwerker.  —  Wohl 
dem  Schmied,  der  mit  beiden  Händen  schmiedet.  —  Mahle,  solange  da 


.  Sprichwörter.  269 

Wasser  hast.  —  Selbst  der  Meister  Zimmermann  hackt  sich.  —  Führt 
der  Blinde  den  Blinden,  so  fallen  beide  in  die  Grube.  —  Wer  dem 
Feld  nehmen  will,  muls  dem  Feld  geben.  —  Gäb's  keinen  Acker,  gab's 
keinen  Reichen.  —  Wo  die  Sonne  nicht  hingeht,  geht  der  Arzt  hin.  — 
Begieb  dich  nicht  ohne  Ruder  aufs  Meer!  —  Rasche  Arbeit  fällt  aus 
der  Hand.  —  Selbst  der  alte  Weber  verwirrt  manchmal  den  Faden.  — 
Reifes  Korn  fällt  selbst  aus  der  Ähre.  —  Nach  welcher  Seite  sich  der 
Stamm  neigt,  nach  der  Seite  fällt  er.  —  Dem  Hungernden  schmeckt 
selbst  das  Haferbrot.  —  Am  Dornstrauch  wachsen  keine  Feigen.  — 
Lösche  das  Feuer  nicht  mit  Öl!  —  Schönes  Wort  öffnet  eisernes  Thor. 

—  Wo  du  nicht  geladen  bist,  da  dränge  dich  nicht  ein!  —  Der  Diener 
ist  seiner  Speise  wert.  —  Weiches  Brot  ifst  die  Tasche  aus.  —  Früher 
Sprung  aus  dem  Bett  führt  zum  Reichtum.  —  Wo  viel  Gastmähler,  ist 
der  Hunger  nicht  weit.  —  Wenn  auch  das  Häuschen  hölzern,  wenn 
nur  das  Herz  gesund.  —  Was  zu  Hause  gekocht  wird,  soll  auch  zu 
Hause  gegessen  werden.  —  Die  hälsliche  Wange  liebt  den  Spiegel 
nicht.  —  Kleines  Feuer  verbrennt  den  grofsen  Wald.  —  Die  Wahrheit 
bedarf  keiner  Überlegung.  —  Rost  frifst  Eisen,  und  der  Neider  stirbt 
vom  Neid.  —  Gewöhn  dich  ans  Gute,  so  kommt  dir  nichts  Böses  in 
den  Sinn!  —  Gutes  Betragen  ist  Reichtum  wert.  —  Thue  gut,  und  es 
wird  gut!  —  Schwindel  und  Betrug  verraten  sich  selbst.  —  Tugend 
und  Glück  hängen  an  einem  schwachen  Faden.  —  Ehre,  Gesetz  und 
Auge  dulden  keine  Spälse.  —  Die  Wahrheit  ertrinkt  nicht  im  Wasser 
und  verbrennt  nicht  im  Feuer.  —  Für  die  Wahrheit  ärgern  sich  oft 
die  Menschen.  —  Die  Wahrheit  lobt  jeder,  aber  nicht  jeder  verteidigt 
sie.  —  Wer  das  Fremde  begehrt,  kommt  um  das  Seinige.  —  Die 
Tugend  überwältigt  die  .Kraft.  Die  Tugend  lobt  sich  selbst.  — 
Armut  ist  die  Erbin  der  Verschwendung.  —  Halt  den  Groschen, 
damit  der  Gulden  nicht  fortläuft!  —  Rühre  die  Hände,  von  selbst  wird 
nichts!  —  Spare  nicht  den  Nagel,  dals  du  das  Hufeisen  nicht  verlierst! 

—  Je  höher  du  steigst,  desto  breiter  die  Aussicht!  —  Das  Elend  findet 
den  Menschen  selbst  nach  Sonnenuntergang.  —  Wer  gestern  gelogen  hat, 
dem  glaubt  man  auch  morgen  nicht.  —  Die  Schuld  ist  kein  Bruder.  — 
Wem  Gott  gönnt,  dem  kommt's  im  Traume,  wem  Gott  m  iisgönnt,  dem 
fällt's  vom  Löffel.  —  Im  Traum  gekommen,  im  Traum  verschwunden. 

—  Das  Unglück  kommt  zu  Pferde  und  geht  zu  Fufse.  —  Der  Tod 
schont  weder  den  Bettler  noch  den  Kaiser.  —  Wer  für  weniges  nicht 
dankt,  dankt  auch  für  vieles  nicht  —  Pflege  die  Arbeit,  solange  du 
Kraft  hast,  damit  ein  Andenken  bleibt!  —  Der  Narr  sätse  unter  den 
Weisen,  wenn  er  schweigen  könnte.  —  Öftere  Übung,  sicherer  Fort- 
schritt. —  Verkaufe  nicht  eher  das  Leder,  als  du  den  Löwen  getötet 
hast.  —  Was  liegt  dem  am  Monde,  dem  die  Sonne  scheint.  —  Das 
Glück  ist  wankend.  —  Die  Hand  wäscht  die  andere.  —  Die  Fremde 
schärft  den  Verstand.  —  Die  Gewohnheit  hat  ein  eisernes  Hemd.  — 
Der  Sparsame  fürchtet  nicht  die  Not.  —  Wenn  das  Spiel  am  schönsten 


\ 


270  Die  Tschechen. 

ist,  hör  auf !  —  Verrater  des  Geheimnisses  verdirbt  das  Vertrauen.  — 
Wen  der  Verstand  nicht  führt,  den  führt  der  Schaden.  —  Schlimm  ist, 
wenn  die  Zunge  yor  dem  Verstände  flieht.  —  Stilles  Wasser  ist  ge- 
wöhnlich tief.  —  Die  Augen  sind  unersättlich.  —  Das  Gesicht  ist  des 
Menschen  Verräter.  —  Wer  sich  seiner  Zunge  schämt,  verdient  von 
allen  verachtet  zu  werden.  —  Aus  dem  Kot  kann  man  kein  reines 
Wasser  schöpfen.  —  Wie  man  sich  bettet,  so  liegt  man.  —  Wie  man 
milst,  so  wird  einem  wieder  gemessen.  —  Wer  uns  nützlich  ist,  dem 
kommen  wir  aus  dem  Gedächtnis.  —  Salze  nicht  die  fremde  Speise!  — 
Es  ziemt  sich,  bei  gutem  Mals  zu  bleiben.  —  Herr  ist  jeder  in  seinem 
Hause.  —  Die  Nadel  im  Sack  kann  sich  nicht  verheimlichen  —  Eisen 
schärft  Eisen.  —  Den  Verstand  schärft  die  Übung.  —  Verschwiegenheit 
macht  der  Zunge  keine  Schmerzen.  —  Das  Darlehn  kommt  mit  Thränen 
ins  Haus.  —  Je  mehr  man  hat,  desto  mehr  will  man  haben.  —  Nie- 
mand sieht  seine  eigenen  Fehler.  —  Lafs  aus  dem  Lied  kein  einziges 
Wort  aus.  —  Sprechen  ist  Silber,  Schweigen  Gold.  —  Bei  gutem  Wetter 
denke  an  den  Sturm!  —  Am  heiligen  Tage  soll  die  Arbeit  schlafen.  — 
Was  du  nicht  hast,  damit  prahle  nicht!  —  Grofser  Streit  schadet  der 
Wahrheit.  —  Verlasse  nicht  die  Strafse  einem  unsicheren  Fufspfad 
zuliebe!  —  Nicht  jedem  dient  das  Glück.  —  Das  Vermögen  kommt 
fädchenweise.  —  Ehrlichkeit  währt  bis  in  alle  Ewigkeit.  —  Ob  das 
Feuer  dem  Wasser  widerwärtig  ist.  —  Rühre  nicht  mit  fremden  Sparren! 

—  Prahle  nicht  mit  fremden  Federn!  —  Hinterm  Glück  gehen  die 
Freunde.  —  Fremdes  Gut  macht  nicht  reich.  —  Jede  Wissenschaft 
kommt  jederzeit  zu  statten.  —  Wie  der  Wind  weht,  so  weht  der  Mantel. 

—  Das  Recht  bleibt  Recht  —  Der  Gesunde  glaubt  dem  Kranken 
nicht.  —  Jeder  zahlt  dem  Tod  seinen  Tribut. 

3.  Geister.  Das  Volk  nennt  und  kennt  in  seinen  Geschichten 
und  Sagen  den  Tschert  (Teufel),  Djas  (dämonisches  Tier),  Trak  (Drache, 
wildes  Tier),  Plynik  (feuriger  Luftdrache),  Hastermann  (Wassernix), 
Palitschek  (Däumling),  Matthäus  (er  kommt,  wenn  ein  Verschlafener 
oder  Hühnerblinz  einnicken  will),  die  Melusine  (Windsbraut,  ein  ver- 
wünschtes Mädchen),  Mura  (Alp),  Morawa  rana  (Pest),  Smertnitza 
(Tod  als  Gerippe  mit  der  Hippe,  oder  graue  Frauengestalt,  die  sich 
drei  Tage  vorher  anmeldet). 

V.     Tschechisches  Vaterunser« 

Mitgeteilt  vom  Pastor  Ohlumsky  in  Husainetz. 

Otce  näs  kteryz  jsi  v  nebesich;  Posvet  se  jmeno  tv6;  Prijd'  kralostvi 
tv4;  ßud'  vüle  tvä  jako  v  nebi  tak  i  na  zemi;  Chleb  näs  vezdejsi  dej  näm 
dnes;  A  odpust'  näm  nase  viny,  jakoz'  i  my  odpoustime  nasim  vinniküm; 
J  neuvod'  näs  v  pokuseni,  ale  zbav  näs  od  zlelio.  Nebo  tv£  jest  krälovstvi 
i  moc  i  släva  (az)  na  veky  (vekäv).    Amen. 


Die  Mährer. 

Literatur. 

Drzardzynski:    Die  slawischen  Ortsnamen  des  Kreises  Leobschütz.    Gym- 
nasialprogramm 1896. 
Kleiber:   Geschichte  der  Stadt  Leobschütz.    Gymnasialprogramm  1864. 

I«    Zur  Geschichte  des  Volkes  und  seiner  Siedelungen. 

A.  t.  Fircks  giebt  die  Zahl  der  Mährer  in  Preutsen  mit  58408 
an,  von  denen  56  964  auf  Schlesien  und  davon  56  318  auf  den  Regie- 
rungsbezirk Oppeln  kommen.  Von  den  letzteren  sind  25  637  Männer 
und  30  689  Frauen.  Von  den  preulsischen  Mährern  überhaupt  be- 
zeichneten 26  343  männliche  und  30  859  weibliche  Personen  ihre 
Muttersprache  als  mährisch,  1327  männliche  und  1085  weibliche  als 
mährisch  und  deutsch.  In  Wirklichkeit  sind  wohl  alle  zweisprachig. 
Der  römisch-katholischen  Kirche  gehörten  57  487,  der  evangelischen 
nur  863  an,  autserdem  zählte  man  53  mährische  Jaden.  Die  deutsche 
Staatsangehörigkeit  besalsen  56  895,  die  österreichisch-ungarische  1510. 
Die  meisten  sind  im  Gegensatz  zu  den  Tschechen  setshaft  und  be- 
wohnen den  Süden  des  Ratiborer  und  Südosten  des  Leobschützer 
Kreises,  woselbst  sie  34,68  bezw.  10,48  Proz.  der  Bevölkerung  aus- 
machen. Von  den  Schulkindern  gaben  am  25.  Mai  1891  im  Ratiborer 
und  Leobschützer  Kreise  9668  ihre  Familiensprache  als  mährisch  oder 
tschechisch  und  971  als  zweisprachig  an.  Der  Leobschützer  Kreis 
weist  eine  zunehmende  Germanisierung  auf,  der  Ratiborer  eine  lang- 
samere. Im  Ratiborer  Kreise  hatten  noch  76  Gutsbezirke,  Land- 
gemeinden und  die  Stadt  Hultschin,  im  Leobschützer  noch  14  Gemein- 
den über  50  Proz.  mährische  Bevölkerung.  Die  lange  Dauer  der 
mährischen  Sprache  in  Deutschland  hat  ihren  Grund  in  geschichtlichen 
Verhältnissen.  Das  Sprachgebiet  umfatst  den  nördlichen  Teil  des  alten 
Oppalandes  und  des  Olmützer  Erzbistumes  seit  1063.  Die  Kreisgrenzen 
decken  sich  nicht  mit  den  historischen  oder  sprachlichen. 

Der  nördlichste  Teil  des  Ratiborer  Kreises  ist  noch  heute  polnisch, 
die  Grenze  bildet  im  allgemeinen  die  Zinna  und  dann  die  Oder.  Der 
Oberlauf  bis  Bauerwitz  liegt  im  Oppaland  selbst,  die  kirchliche  Grenze 
scheidet  Wernersdorf  von  dem  zu  Breslau  gehörigen  Ditmerau.     Die 


272  Die  Mährer. 

älteste  Zeit  des  Landes  gehört  der  mährischen  Geschichte  an.  1107 
machte  Herzog  Otto  von  Olmütz  am  Flusse  Hotzenplotz  im  Bezirke 
„nach  Glubcicich  hin"  eine  Schenkung  zur  Erbauung  der  Kirche  des 
heiligen  Wenzel  in  derOlmützer  Burg.  '1131  gehörte  unser  Leobschütz 
schon  unter  die  Prerauer  Kirche  im  Olmützer  Bistum.  1233  bildete 
die  Gegend  von  Hotzenplotz  die  Grenze  zwischen  Mähren  und  Schlesien. 
Mährische  und  böhmische  Fürsten  gaben  Gesetze,  niemals  polnische. 
Leobschütz,  das  den  böhmischen  Löwen  im  Wappen  führt,  gehörte  zur 
Provinz  Holaschice,  dem  späteren  Troppauer  Lande  (Ende  des  1 3.  Jahr- 
hunderts), auch  Opa  via  geheilsen.  Boleslaus  Chrobry,  der  um  1000 
die  Krakauer  und  Breslauer  Diözese  bildete,  von  denen  sich  1088 
(1063)  die  Olmützer  abzweigte,  machte  sich  1003  zum  Herrn  von 
Böhmen  und  Mähren.  Während  sich  die  Böhmen  mit  Hülfe  der  Deut- 
schen wieder  frei  machten,  blieb  Mähren  bis  1029  polnisch. 

Dann  eroberte  es  Brzetislaw  zurück.  Der  Sohn  des  Böhmenherzogs 
Ulrich  nannte  sich  1037  Herzog  von  Mähren,  und  nun  war  das  Land 
ein  Teilfürstentum  für  die  jüngeren  Söhne  des  böhmischen  Herrscher- 
hauses, 1197  ward  es  zur  Markgrafschaft.  König  Ottokar  IL  besals 
sie  als  Markgraf  Premysl  und  gab  der  Stadt  Leobschütz  am  28.  August 
1270  in  einer  deutschen  Urkunde  deutsches,  mit  den  flandrischen 
Stadtrechten  nahe  verwandtes  Recht.  Die  Germanisierung  und  Siedel- 
arbeiten des  Königs  sind  bekannt.  Ihnen  ist  nur  aus  der  späteren 
Geschichte  dieser  Gegend  die  Thätigkeit  des  hohenzollernschen  Mark- 
grafen Georg  von  Brandenburg  -  Ansbach  an  die  Seite  zu  setzen,  der 
seit  1323  die  bedrückten  Bauern  gegen  den  Adel  schützte,  vertriebene 
Zipser  Protestanten  zur  Rodung  herbeirief  und  die  deutschen  Städte 
begünstigte.  Als  Ottokar  am  26.  August  1278  im  Kampfe  gegen  Rudolf 
fiel,  kam  Mähren  nach  längeren  Thronstreitigkeiten  in  die  Hände  eines 
natürlichen  Sohnes  Ottokars,  Nikolaus.  Dessen  Sohn,  Herzog  Nikolaus  IL 
(1318  bis  1365)  fand  Anerkennung  von  Seiten  des  Böhmenkönigs. 
Durch  Heirat  mit  einer  Ratiborer  Herzogstochter  war  Ratibor  mit  dem 
Oppaland  verbunden  worden  und  ist  seitdem  schlesisch  geblieben.  Die 
Trennung  des  Oppalandes  von  Mähren  fällt  ins  Jahr  1348.  Als  im 
16.  Jahrhundert  die  Ansbacher  Hohenzollern  über  das  Fürstentum 
Jägerndorf  mit  Leobschütz  herrschten,  wurde  die  ehemalige  mährische 
Zugehörigkeit  völlig  verwischt.  Bei  Schlesien  blieb  das  Oppaland  auch 
nach  Friedrichs  des  Grofsen  Erwerbung. 

Über  die  sprachlichen  Verhältnisse  urteilt  Hans  Lutsch  (IV,  149) 
etwa  so:  Dieser  Umstand  (die  Zugehörigkeit  zum  Olmützer  Bistume) 
erklärt  sich  aus  der  früheren  Zugehörigkeit  des  Gebietes  zu  Mähren 
und  aus  dem  ihr  zu  Grunde  liegenden  Stammesverhältnisse  der  Ein- 
wohner, die  namentlich  im  südlichen  Teile  und  in  der  Richtung  auf 
Ratibor,  nach  einer  etwa  von  Branitz  bis  Katscher  und  von  da  ab 
nordwärts  verlaufenden  Linie  ihrer  mehr  und  mehr  verschwindenden 
Sprache  sich  bedienen.     Im  übrigen  Teile  des  Kreises  wird  neben  dem 


Sprachgrenze.  278 

überwiegenden  Deutsch  ein  mit  deutschen  Ausdrücken  stark  durch- 
setztes Polnisch  gesprochen,  sogenanntes  Wasserpolnisch.  Schon  am 
Ausgange  des  18.  Jahrhunderts  war  das  südlich  der  (nach  Triests  An- 
gaben) festgesetzten  Grenze  gelegene  Gelände  auch  von  Polen  und 
Deutschen  bewohnt  Kleiber  h&lt  die  Zinna  für  die  Sprachgrenze, 
Idzikowski  gar  die  Oder.  Im  16.  Jahrhundert  fühlte  sich,  wie  u.  a. 
auch  Grabsteininschriften  darthun,  der  Adel  noch  nördlich  der  Sprach- 
grenze im  Gegensatze  zu  den  Städten  tschechisch,  dort  wurde  die 
Standes willkür  begünstigt.  Das  geschah  im  Gegensatze  zu  dem  deut- 
schen Markgrafen  Georg.  „Machte  doch  auch  manchmal  der  tolle, 
durch  SchweinichenB  Tagebuch  bekannte  Herzog  Heinrich  von  Liegnitz 
von  seiner  sonderlichen  Zuneigung  zu  den  Polen  kein  Hehl,  weil  ihre 
fürstlichen  Gnaden  aus  dem  löblichen  Stamme  der  Polen  wären. u  Die 
Stände  des  Fürstentumes  weisen  denn  auch  1564  das  Begehren  des 
Herzogs  Georg  von  Brieg,  des  Vormundes  des  Markgrafen  Georg 
Friedrich  (1543  bis  1603),  in  ihren  Verhandlungen  sich  der  deutschen 
Sprache  zu  bedienen,  zurück,  denn  das  Fürstentum  gebrauche  die 
mährische  Sprache,  auch  wäre  ihrer  eine  grofse  Zahl,  die  entweder  gar 
nicht,  oder  nur  wenig  deutsch  könnten  und  verständen ;  und  so  setzten 
sie  denn  auch  durch,  dafs  weiter  in  beiden  Sprachen  verhandelt  werden 
durfte.  .Und  an  Markgraf  Georg  Friedrich  selbst  berichten  sie,  dafs 
unter  den  Landsassen  keine  zwei  Personen  der  deutschen  Sprache,  be- 
sonders wie  sie  von  den  Rechtsgelehrten  gesprochen  würde,  kundig 
wären.  Erst  im  Jahre  1662  erklären  sie,  dafs  die  mährische  Sprache 
im  Fürstentume  immer  mehr  und  mehr  abnehme,  weshalb  sie  bei  ihrem 
derzeitigen  Landesherrn,  dem  Fürsten  von  Liechtenstein,  um  Einführung 
der  deutschen  Sprache  als  Verkehrssprache  einkommen;  ihre  Verdrän- 
gung aus  den  Kanzleien  zu  Gunsten  des  Tschechischen  hatte  sich  im 
1 5.  Jahrhundert  in  Ratibor,  Troppau  und  sogar  in  Oppeln  vollzogen.  — 
Die  Städte  waren  zwar  Horte  deutscher  Kultur,  ragten  aber  „noch 
lange  wie  Inseln  aus  unkultiviertem  Gelände"  heraus.  Der  Holzbau 
der  Bauernhäuser  war  auf  die  Kirche  übertragen  worden.  Für  die 
Germanisierung  sorgten  um  1 204  besonders  die  Johanniter  bei  Gröbnig, 
sie  erwirkten  ihren  Siedlern  Befreiung  von  dem  slawischen  Recht-e. 
Grofse  kulturelle  Thätigkeit  entfalteten  auch  die  Augustiner  des  Bres- 
lauer Sandstiftes  und  die  Cisterzienser  im  13.  Jahrhundert.  Vorher 
gab  es  im  grofsen  Waldgebiete  nur  wenig  vom  hölzernen  Hakenpfluge 
der  Slawen  durchfurchtes  Ackerland.  Als  in  dem  15.  Jahrhundert  das 
Tschechentum  immer  anmafsender  wurde,  verschwanden  sogar  aus  den 
deutschen  Städten  die  deutschen  Urkunden.  Ja,  im  Gebiete  der  pol- 
nischen Sprache  (Kloster  Räuden)  wurde  in  tschechischer  Sprache  ge- 
schrieben, nicht  in  polnischer.  Die  Oppelnsche  Landesverordnung  1565 
bestimmte,  dafs  die  Dokumente  in  beiden  Sprachen  abgefatst  würden. 
Herzog  Nikolaus  von  Oppeln,  der  1497  enthauptet  wurde,  „war  des 
Deutschen  nicht  mächtig ".      „Die   alten  oberschlesischen  Häuser  aus 

Tetsner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  jg 


274 


Die  Mährer. 


Schrotbolz,  oft  nur  aus  Stube,  Kammer  und  schornsteinloser  Küche 
bestehend,  machen  erst  seit  kurzem  Steinhäusern  völlig  Platz." 

Das  mährische  Sprachgebiet  gehört  drei  Dekanaten  des  Olmützer 
Erzbistums  an.  Im  Dekanat  Leobschütz  ist  die  mährische  Kirchen- 
sprache völlig  erloschen,  auch  in  den  Dekanaten  Hultschin  und  Katscher 
fristet  sie  ihr  Dasein  nur  als  Familien  spräche ,  weil  sie  noch  durch  die 

Abb.  102. 


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Mährisches  Sprachgebiet. 

Mafsstab  1 :  500  000. 


Odtrsoi        *JSI*rmt*. 


Die  mährischen  evangelischen  (  )  and  katholischen  ( )  Gemeinden 

Oberschlesiens. 

Kirche  gehalten  wird.  Überall  predigt  man  aber  auch  deutsch;  in 
einzelnen  Gemeinden  herrscht  die  deutsche  Sprache  ganz  allein.  Im 
Hult8chiner  Dekanat  wird  noch  in  folgenden  Orten  mährisch  gepredigt: 
Hultschin,  Haatsch,  Piszc,  Kranowitz,  Beneschau,  Bolatitz,  Köber- 
witz,  Deutschkrawarn,  Grofshoschütz,  Odersch,  Zauditz,  Grofspeterwitz; 
aufserdem  im  evangelischen  Kirchspiele  Steuberwitz,  dessen  Filialen 
schon  rein  deutsch  sind.  Im  Dekanat  Katscher  beschränkt  sich  die 
mährische  Predigt  auf  Katscher,  Putsch,  Nassiedel  mit  Hochkretscham, 
Liptin,  Jakubowitz,  Branitz,  Bauerwitz,  Posnitz  (Abb.  102). 

Seit  28  Jahren  ist  die  Beichte  überall  deutsch.  Der  Unterschied 
zwischen  tschechischer  und  mährischer  Sprache  ist  im  allgemeinen  so 
anzugeben,  dato  die  mährische  altertümlich  und  einfach  geblieben  ist. 


Kirchdorf- Namen.    Sitten  und  Gebräuche.  275 

wohl  aber  deutsche  Worte  aufgenommen  hat,  während  die  tschechische 
sich  durch  Aufnahme  neuer  Abstrakta  und  Fachausdrücke  weiter 
entwickelt  und  die  kleine  Kluft  gegenüber  dem  Mährischen  vergrößert 
hat.  Die  Namen  der  Gemeinden  sind  zum  grölsten  Teile  nach  den 
ersten  Bewohnern  benannt  und  haben  die  Verwandtschaftsendung 
der  Sippe,  so  Leobschütz  (von  einem  Namen  mit  klup  =  stultus), 
Bauerwitz  (1296  Baurwitz  von  Bawor  =  Bayer),  Jakubowitz  (1377 
von  Jakob),  Peterwitz  (1267  Petrowitz  von  Peter),  Bratsch  (1377 
Bratisch,  zu  Bruder),  Posnitz  (1377  Posenticz,  von  sut  =  zerstreut), 
Branitz  (1278  Branicz,  von  einem  Namen  mit  bran  =  Kampf  oder 
brana  =  Thor),  Luptin  (1262  Luptyn,  von  einem  Namen  mit  ljub  = 
geliebt),  Eatscher  (1266  Ketscher  zu  kaozer  =  Enterich).  Andere 
sind  Flurbezeichnungen,  so  Putsch  (1185  Belchiz  =  kleines  Feld), 
Nassiedel  (1253  Nasile  =  bei  der  Siedelung),  Mocker  (1377  Mocre  = 
feucht),  Hochkretscham  (hohes  Gasthaus)  hiels  1223  Vduboue  =  Dom- 
bowa  (Eichwasser). 

II.    Sitten  und  Gebräuche. 

Die  Leute  sind  höflich  und  zuvorkommend.  Gern  sprechen  sie 
den  Fremden  wie  zum  Grufse  im  Vorübergehen  auf  der  Landstralse 
an.  „Wenn  die  Finken  schlagen,  wird's  nun  doch  mal  hübsch  werden. tt 
„Das  Wetter  will  sich  doch  gar  nicht  ändern."     „Falb  behält  Recht." 

Das  kurze,  glattrasierte  Gesicht  der  Männer  hat  einen  Zug  von 
Unterordnung.  Neben  der  Weberei  wird  viel  Ackerbau  getrieben. 
Einzelne  Dörfer  halten  sich  ihre  Dreschmaschinen. 

Die  Feste  unterscheiden  sich  kaum  von  den  in  ganz  Schlesien 
eigentümlichen.     Einige  hervorstechende  Züge  will  ich  schildern. 

1.  In  der  Fastenzeit  ziehen  Schimmelreiter  und  Bärenführer 
herum,  als  Vermummung  nimmt  man  Erbsenstroh,  ein  Schwärm  folgt 
hinterher.  Die  Rockenstuben  haben  mit  dem  Eingehen  des  Flachs- 
baues aufgehört.  Zu  Judica  ist  das  Oster-  oder  Frühlingssingen  ge- 
bräuchlich. Ärmere  Kinder  haben  Tannenbäumchen  mit  bunten  Bän- 
dern und  bemalten  ganzen  Eierschalen  behängt,  gehen  von  Haus  zu 
Haus,  singen  Frühlings-  und  Osterlieder  und  empfangen  Eier  und 
Zuckergebäck.  Dieser  Feier  geht  selbigen  Sonntags  oder  zu  Lätare 
hier  und  da  das  Todaustreiben  voran.  Die  Mädchen  tragen  zwei 
menschengrotse  Puppen,  die  eine  ist  wie  eine  Braut,  die  andere  wie 
eine  Kränzel Jungfer  geschmückt.  Von  den  Gewändern  und  dem  Haupt- 
schmucke wallen  bunte  Bänder;  die  Knaben  tragen  eine  Mannspuppe. 
Eine  solche  Puppe  heifst  Mafenka.  Nun  bewegt  sich  der  Zug  die 
Dorfstrafse  entlang  und  singt:  „Wir  danken  dir,  o  Jesus  Christ,  und 
erweisen  dir  Lob  und  Ehre  u.  s.  w.u  Früher  zerrifs  man  die  Puppen 
am  Bache,  jetzt  trägt  man  sie  wieder  nach  Hause. 

18* 


276  Die  Mährer. 

2.  In  der  Karwoche  ist  alles  ruhig.  Am  Gründonnerstag  um- 
wickelt man  die  Bäume  mit  Strohseilen  und  schüttelt  sie  am  Karfreitag, 
„das  soll  eine  gute  Obsternte  versprechen".  Am  Karfreitag  gehen  die 
Anwohner  früh  in  die  Zinna  und  waschen  sich  daselbst.  Früher  trieb 
man  die  Pferde  und  alle  Haustiere  auch  in  den  Flufs.  Wenn  die 
Kinder  in  die  Kirche  gehen,  das  Kreuz  Christi  zu  küssen,  finden  sie  ein 
kleines  Geldstück  darunter,  das  von  den  Eltern  natürlich  erst  dahin 
gelegt  ward.  Da  die  Glocken  nicht  tönen,  ziehen  die  Knaben  mit 
Schnarren  (Cerkotka)  und  Klappern  (Klapotki)  (vgL  Abb.  147,  S.  342) 
durch  das  Dorf,  um  die  Stunden  zu  verkündigen. 

3.  Am  Ostersonntage  ging  man  früher  mit  acht-  bis  zehnfältig 
geflochtenen  Ruten,  an  deren  Spitze  eine  bunte  Seidenschleife  war,  um 
zu  schmackostern.  Kinder  und  Geliebte  suchten  sich  im  Bette  zu 
überraschen  und  mit  der  frischen  Grünen  zu  berühren.  Später  zeigte 
man  nur  noch  die  Rute  vor  und  beschränkte  die  Sitte  auf  Paten  und 
Familienangehörige.  Dann  wurde  die  Sache  ein  Vorrecht  bettelnder 
Knaben,  endlich  legte  sich  die  Polizei  ins  Mittel,  und  dann  verschwand 
die  Sitte. 

4.  Am  Ostermontage  macht  jeder  einen  kleinen  Spaziergang  zum 
Andenken  an  die  Reise  der  beiden  Jünger  nach  Emaus.  Die  Besitzer 
aber  reiten  mit  Kreuz  und  Kirchenfahne  unter  frommen  Gesängen  und 
Gebeten  um  die  Gemeindefeldmark.  Früher  stand  in  Grofspeterwitz 
der  Kaplan,  später  ein  Ratiborer  Religionslehrer,  an  der  Spitze  der 
Osterreiter,  jetzt  keiner  von  beiden.  Am  Ostermontage  begiefst  die 
männliche  Jugend  die  weibliche.  Dabei  bedienen  sich  die  Knechte 
gegenüber  den  Mägden  der  Wasserkannen,  die  gewöhnlichen  Knaben 
der  blechernen  Spritzen,  die  während  der  Zeit  überall  —  wie  die 
Schnarren  und  Klappern  —  zu  kaufen  sind.  Knaben  aus  besseren 
Familien  benutzen  Flaschchen  mit  wohlriechendem  Wasser. 

5.  Am  Dienstage  spritzen  die  Mädchen  auf  die  Burschen.  Wäh- 
rend der  Osterzeit  ifst  man  gern  in  Brot  eingebackenen  Schinken  (Pleco). 

6.  Am  Vorabend  des  l.Mai  pflanzen  die  Burschen  nachts  vor  dem 
Hause  der  Geliebten  auf  dem  Düngerhaufen  ein  Tannenbäumchen,  ge- 
schmückt mit  Bändern  und  Papierblumen.  Die  einen  binden  das 
Tannenbäumchen  an  eine  hohe  Stange  fest,  die  anderen  begnügen  sich 
mit  dem  Bäumchen  selbst,  wieder  andere  bevorzugen  grüne  Weiden- 
ruten. Die  bevorzugten  Dorf  schönen  finden  oft  mehrere  Bäumchen  auf 
ihrem  Hofe,  dann  ist  die  Eifersucht  der  Freundinnen  grofs. 

7.  Zu  Pfingsten  schmückt  man  neuerdings  das  Haus  mitPfingBt- 
maien.  Im  Dorfe  Ellgoth  findet  das  Königsjagen  (Kralahonic)  statt. 
Auf  einer  grolsen  Wiese  wird  eine  Stange  aufgestellt  und  ein  Tuch 
daran  befestigt.  Hoch  zu  Rofs  jagen  die  Bauernsöhne  an  der  Stange 
vorbei  und  suchen  das  Tuch  im  Fluge  zu  erfassen  und  dann  in  die 
nahe  Oder  zu  tauchen.  Wem  das  gelingt,  der  wird  zum  König  aus- 
gerufen. 


Feste.    Hochzeit.  277 

8.  Zu  Johanni  sammelt  man  Löwenzahn,  Spitzwegerich,  Linden- 
blüten and  andere  heilbringende  Kräuter.  Die  Jugend  zieht  am  Abend 
mit  brennenden  Pechbesen  und  langen,  am  Ende  brennenden  Stroh- 
stangen herum.  In  Eatscher  errichtet  man  einen  grolsen  Haufen  von 
Holz,  Stroh,  Pechbesen  und  brennt  ihn  an. 

9.  Neben  der  jungen  oder  kleinen  Kirmes,  die  einen  Sonntag 
dauert,  feiert  man  eine  dreitägige  grofse  zu  Martini.  „Da  kommt  viel 
Bettel volk."     Das  Erntefest  ist  ein  reines  Familienfest. 

10.  Am  5.  Dezember  abends  geht  der  Niklas  herum,  eine  schön 
angezogene  Frauens-  oder  Mannsperson,  die  sich  vermummt  hat  und 
Geschenke  oder  die  Rute,  je  nachdem  die  Kinder  gefolgt  haben,  verab- 
folgt. Zu  Weihnachten  aber  bürgern  sich  allmählich  die  deutschen 
Sitten  mit  Lichterbaum  und  Geschenken  ein.  Am  heiligen  Abend  wird 
geschossen,  sobald  es  dunkel  geworden  ist.  Man  itst  gern  am  heiligen 
Abend  Fische  und  Mohngebäck,  steckt  auch  eine  Kruste  Semmel  und 
Brot  an  ein  Messer  und  läfst  dies,  in  ein  Tuch  gehüllt,  eine  Nacht 
liegen.  Wenn  die  Semmel  einen  gröfseren  Rostfleck  verursacht  hat, 
gedeiht  der  Weizen  weniger  gut,  wenn  das  Brot  mehr  Rost  bewirkt, 
soll  das  Korn  nicht  geraten.  —  In  besonderer  Tracht  ziehen  drei  12- 
bis  16  jährige  Knaben  als  Hirten  aus  Bethlehem  in  der  Weihnachts- 
woche von  Haus  zu  Haus,  singen  Weihnachtslieder  und  empfangen 
eine  kleine  Gabe. 

11.  Am  Epiphaniasfeste  kommen,  wie  bei  den  Tschechen,  „die 
drei  Könige  aus  dem  Morgenlande tt,  einer  trägt  den  bunten  erleuchteten 
Stern,  eine  Art  Papierlampe,  voraus. 

12.  Die  Hochzeiten  finden  meist  zu  Fasching  und  nach  Ostern, 
vor  der  Ernte  und  im  Herbste  statt,  fast  nie  in  der  Advents-  und  Fasten- 
zeit. Auch  bei  den  Mährern  waltet  der  Hochzeitsbitter  und  Druschba 
seines  Amtes,  oft  zu  Pferde.  Sind  die  Einladungen  ergangen,  Kränzel- 
herren, Brautbeistand  (Starosta)  und  Brautfrau  (Starosvatka)  gewählt 
—  die  letzteren  beiden  gewöhnlich  die  Paten  — ,  so  schicken  die  Ge- 
ladenen Brot,  Fleisch,  Milch,  Butter,  Wild,  Eier  ins  Hochzeitshaus, 
Mehl  nicht.  Im  Braut-  wie  im  Bräutigamshause  wird  gebacken,  meist 
zwei  Tage  vor  der  Hochzeit.  Da  fahren  dann  die  Bäckerinnen  auf 
geschmücktem  Wagen  mit  Fahne  vom  Braut-  zum  Bräutigamshause 
und  umgekehrt,  zu  kosten.  Die  Verwandten  beteiligen  sich,  um  zu 
sehen,  ob  alles  wohl  geraten  ist.  Hochzeiten  zu  100  Gästen  mit  Musik 
und  Gesang  sind  nicht  selten. 

Am  Vormittage  des  Hochzeitstages  wird  der  Bräutigam  mit  Musik 
von  den  Druschben  abgeholt  und  ins  Brauthaus  gebracht  Aber  die 
Thür  ist  verschlossen,  und  drinnen  fragt  der  Starosta,  was  denn  los 
sei.  Der  Bräutigam  sagt  in  herkömmlichen  Versen:  „Ich  suche  eine 
weifse  Taube. u  Der  Starosta  geht  zurück  und  holt  irgend  ein  Mädchen 
oder  eine  alte  Frau,  die  zur  Hochzeit  eingeladen  ist.  Der  Bräutigam 
sagt:     „Das  ist  die  Taube  nicht. tt     Nach  scherzhaften  Verhandlungen 


278  Die  Mährer. 

holt  der  Starosta  die  Braut  gegen  ein  Trinkgeld.  Wer  vom  künftigen 
Ehepaare  nun  das  andere  zuerst  erblickt,  hat  die  Herrschaft  in  der 
Ehe.  Unter  den  Klängen  der  Dorfmusikanten  zieht  der  Hochzeitszug 
in  die  Kirche.  Da  erschallen  auf  dem  Wege  langgezogene  Juchzer, 
und  unter  bekannte  Zuschauer  verteilt  man  Kuchen  und  Backwerk. 
Vermummte  Individuen  verlegen  den  Weg  mit  einer  Querschnur,  die 
nur  gegen  ein  Trinkgeld  weggenommen  wird.  Gewöhnlich  werden 
Bettler  und  Vagabunden  dazu  angestiftet.  Starosta  und  Starosvatka 
sind  die  Trauzeugen,  letztere  legt  die  an  Stelle  der  Trauringe  üblichen 
Myrtenkränzchen  den  Brautleuten  aufs  Haupt.  Nach  der  Trauung 
geht  es  sofort  ins  Wirtshaus  zum  Tanze,  der  zwischen  3  und  5  Uhr 
zum  Hochzeitsmahle  unterbrochen  wird  und  bis  Mitternacht  dauert. 
Das  Paar  sitzt  beim  Mahle  in  der  Hochzeitsecke ;  auch  bei  den  Mährern 
gilt  es  als  besonderes  Kunststück,  der  Braut  den  Schuh  zu  stehlen,  den 
sie  dann  auslösen  mufs.  Den  Dorf  genossen  wird  vom  Hochzeitsmahle 
geschickt,  wie  auch  die  Gäste  Hochzeitstorte  mitnehmen  müssen.  Um 
Mitternacht  wird  der  Schleier  zerrissen,  durch  die  Starosvatka  der 
Kranz  abgenommen  und  die  Haube  aufgesetzt.  Am  anderen  Tage 
kehren  die  Gäste  nach  Hause  zurück,  die  Jungen  Leute  aber  feiern 
auch  noch  einen  dritten  Tag.  Da  gehen  sie  verkleidet  im  Dorfe  herum 
bei  denen,  die  mit  eingeladen  waren,  und  fangen  Hühner  und  Kaninchen 
weg,  um  sich  selbst  noch  eine  Nachfeier  mit  Festmahl  zu  gewähren. 
Die  Deutschen  machen  dies  übrigens  auch  und  nennen  den  zweiten 
Tag  den  des  Hühnererschlagens. 

13.  Bei  Kindtaufen  wird  immer  ein  Paar  zu  Paten  genommen. 
Vor  dem  Tauf  gange  sagen  die  Paten:  „Einen  Heiden  nehmen  wir  mit  und 
bringen  einen  Christen  wieder. tt  In  den  Patenbrief  legt  man  Geld  und 
steckt  ihn  ins  Taufbettchen,  legt  auch  Zuckerzeug  für  die  Geschwister 
bei.  Die  Wöchnerin  soll  den  ersten  Gang  aus  dem  Hause  in  die  Kirche 
thun  und  das  Kind  sechs  Wochen  lang  nicht  ohne  eigene  Aufsicht 
lassen,  sonst  kommt  die  Hexe  (Tscharotenitza) ,  nimmt  das  Kind  und 
legt  einen  Wechselbalg  (Podhodek)  dafür  hin.  Und  man  zeigt  auf 
verkrüppelte,  wasserköpf ige ,  triefäugige  Menschen  mit  den  Worten: 
„Den  hat  die  Tscharotenitza  vertauscht. u  Den  Kindern  giebt  man 
allerwärts  gute  Regeln:  „Wisch  dir  nicht  die  Nase  mit  der  Hand, 
sonst  wird  sie  krumm",  „setze  dich  nicht  auf  den  Tisch,  sonst  be- 
kommst du  Schwären a. 

14.  Bei  Todesfällen  sagt  man  wie  vielerorts  den  Bienen  und 
dem  Vieh,  dafs  der  Besitzer  gestorben  sei,  „sonst  stirbt  es".  Abends 
singen  die  Nachbarn  Sterbelieder  und  beten  den  Rosenkranz.  Die 
Plachta  ist  seit  30  Jahren  nicht  mehr  vorhanden.  Die  Altersgenossen 
tragen  den  Verstorbenen  zu  Grabe,  an  manchen  Orten  sogar  die  Jung- 
frauen eine  gleichalterige  Abgeschiedene.  Nach  dem  Begräbnis  geht 
es  sofort  ins  Wirtshaus,  die  Begräbnisschmäuse  sind  sehr  wenig  im 
Schwang.     Stirbt  eine  junge  Frau,  so  setzen  sich  die  jungen  Mädchen 


Kinderspiele.    Häuser. 


279 


auf  die  Mohnstampfe;  „wer  es  zuerst  macht,  bekommt  den  jungen 
Witwer u.  Bei  Eltern  trauert  man  ein  Jahr,  sonst  Je  nach  Umständen. 
15.  Von  Einderspielen  habe  ich  am  häufigsten  die  Klippe 
gesehen,  ferner  Anschlagen,  Lochkugel  werfen  auf  eine  andere  Kugel, 
Abschlagen  des  dritten,  Plumpsack,  Hirsestampfen  („wird  auch  gegen 
Hexenschufs  angewendet ")•  Bei  letzterem  henkeln  zwei  Knaben  Rücken 
gegen  Rücken  die  Arme  ein  und  heben  sich  gegenseitig. 


m.     Wohnung,  Kleidung,  Kunst,  Volksglauben. 

1.    Die  Häuser  sind  meist  aus  Stein.     Auch  hier  hat  man  alles 
gern  unter  einem  Dache  (Abb.  103).     In  einzelnen  Gegenden,  so  in 

Abb.  103.  Abb.  104. 

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Haus  bei  Peterwitz. 

a  Wohnstube,  b  Stall,  c  Tenne,   d  Scheun- 
thor,  e  Gärtchen,   f  Hundehütte,   g  Abort, 
h  Kammer,  i  Flur. 


Saal  in  Grofspeterwitz. 

a    Eingang     aus    der    Hausflur, 
b  Ausgang   zur  Küche,    c  Bier- 
ausgabe, d  runder  Tisch,  e  Eck- 
tisch, f  Musikantenecke. 


Dirschkowitz,  herrschen  bei  Schieferdächern  am  Ziegelgiebel  eigenartige 
kreisförmige  Öffnungen  und  Abschrägungen  (Abb.  105  A). 


Abb.  105. 


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Schlafer 


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A  Giebelansicht. 


Hofraum 

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B  Grundrifs. 


Dirschko witzer  Haus. 

(Wände  massiv,  Bedachung  Schiefer;  eine  bis    zwei  Kammern  benutzen  die 

Dienstboten.) 

a  Wohnzimmer,  b  Nebenzimmer,  c  Kammern,  d  Küche,  e  Stallungen,  f  Flur. 


280  Die  Mährer. 

2.  Die  Kleidung  weicht  von  der  bäuerlichen  deutschen  wie  der 
tschechischen  kaum  ab.  Die  Frauen  tragen  gern  mützenartig  ein 
schwarzes  Tuch  eng  am  Kopfe  anliegend.  Die  Kleider  sind  blumig, 
und  um  den  Nacken  werden  lange  Shawltücher  geschlagen.  Blumige 
Kopftücher  werden  so  um  den  Kopf  gewunden  und  zusammengebunden, 
dals  hinten  die  Zipfel  herunter  hängen.  Die  Lein  wand  verkauf  er  mit 
ihrer  Rückenlast  sind  in  ganz  Oberschlesien  in  ihrer  Eigenart  zu  sehen. 
Gesang  und  Tanz  sucht  man  gern  auf  im  grotsen  Dorf  gasthause,  dessen 
eine  Ecke  den  Verkauf sstand,  die  andere  die  erhöhte  Musikerbank  zeigt 
(Abb.  104). 

3.  Die  Volkskunst  zeigt  sich,  wo  die  Töpferei  fehlt,  neben  dem 
Grabschmuck  am  ehesten  bei  der  Giebelzier,  in  Musikinstrumenten  und 
Hausgeräten.  Giebelzier  findet  man  bei  den  Mährern  nicht  häufig, 
auch  das  Hausgerät  bietet  nichts  Eigenartiges,  ebensowenig  die  aller- 
wärts  volkstümlichen  Musikinstrumente  und  Kinderpfeifen  aus  Weiden- 
schale. Das  Hirtenhorn  erklingt  überall  noch,  wo  es  eine  gemeinsame 
Viehweide  giebt.  So  durchzieht  der  Ellgother  Gemeindehirt  das  Dorf 
und  läfst  sein  Hörn  ertönen.  Wie  in  den  Klucken  vertatst  das  Weide- 
vieh sogleich  das  Gehöft  beim  ersten  Klange  des  Hornes  und  stellt  ßich 
in  den  immer  mehr  anwachsenden  Zug.  Aber  die  Weide  liegt  drüben 
auf  dem  rechten  Oderufer,  und  eine  Brücke  giebt  es  nicht.  Der  Hirt 
setzt  auf  einem  Nachen  über,  und  das  Vieh  weifs  ganz  genau  die  Furt 
und  thut  auch  bei  hohem  Wasserstande  keinen  Fehltritt  Und  klingt 
abends  das  Hirtenhorn  zur  Heimkehr,  so  geht  es  genau  auf  dem  Wege 
wieder  zurück,  und  drüben  zweigt  jedes  Stück  an  seinem  Gehöfte  ab. 
Es  braucht  niemanden,  der  Bescheid  geben  müfste. 

Wo  die  Gemeindeangelegenheiten  nicht  mit  der  Glocke  ausgerufen 
werden,  bedient  man  sich  des  Krummholzes  oder  der  Klucka  wie  bei 
den  Tschechen.  Ein  beliebiges  Stück  Holz,  ein  Zeitungshalter,  ein 
Griffbrett  wie  eine  Schiefertafel,  ein  Stock  enthalten  angeheftet  oder 
aufgeklebt  das  amtliche  Schriftstück.  „Das  Krummholz  ist  dau,  ertönt 
es  vor  der  Thür.  Der  Wirt  kommt  heraus,  denn  in  die  Stube  darf 
das  Krummholz  nicht.     Er  liest  es  und  trägt  es  weiter. 

Abb.  106.  ^'     ^er  Grabschmuck    weicht  schon 

allmählich    dem    überall    vorhandenen    der 

Kreuze    und    Platten;    doch    haben    einige 

i-| —      ^.  y     ~  .    -        Gottesäcker  noch  heimische  dörfliche  Kunst. 

□  U  U       U     Schrägstehende,   0,5  m   hohe    Hölzer   tragen 

(Abb.  106)  ziemlich  aufrecht  stehende  oder 

Grabzier  in  Katecher..       g^ef    liegende ,    ovale    oder    rechtwinklige 

a  Vorder-  und   Seitenansicht    schwarze  Holzplatten  mit  weifser  deutscher 

einer  %  m^hohen^  Grabplatte.    Inschrifti  etwa:  „Hier  ruht  in  Frieden  unsere 

vielgeliebte  Mutter  Johanna  Schatka,  geb. 
Berg.  Ruhe  sanft. u  Manche  haben  noch  Lebensdaten.  Schöne  schmiede- 
eiserne schwarze  Zierkreuze  mit  goldener  Inschrift  sind  seltener  zu  sehen. 


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Volksglaube.    Vaterunser.  281 

5.  Volksglaube.  Volkstümlich  sind  eine  Reihe  Dämonen,  so 
die  Mittagsgöttin  (Polednitza) ,  die  das  Getreide  verwüstet,  von  den 
einen  als  Wirbelwind,  von  den  anderen  als  Hexe  angesehen.  Ein  Weib, 
das  auf  dem  Felde  stiehlt,  „geht  um  wie  Polednitza u.  Der  Teufel  spielt 
als  Satan  (Tschert),  Schwarzer  (Tscherny),  Dämon  (Djasek)  noch  eine 
Rolle,  ein  Schreckgespenst  für  Kinder  heilst  Bobak,  der  Drache  Smij, 
der  Alb  Mora,  der  Wassernix  Hassermann,  der  Tod  Smertnitza.  In 
Branitz  kennt  man  dafür  eine  Mädchengestalt:  Dsefdscha.  Wer  ein- 
nickt, den  hat  der  Lorenz  (Wawfin)  im  Nacken. 


Nachträglich  sei  noch  darauf  hingewiesen,  wie  schwankend  man  schon 
früher  in  Schätzung  der  mährischen  und  tschechischen  Volkszahl  war.  Das 
zeigt  am  besten  Hundrich  (Übersicht  der  Arbeiten  und  V.  der  schlesischen 
Ges.  1843  bis  1846),  der  1834  für  den  Oppelner  Regierungsbezirk  11  754  Mährer 
und  1366  Tschechen,  1846  für  Schlesien  38  824  Mährer  und  10  218  Böhmen 
angiebt. 

IV.    Mährisches  Vaterunser. 

Das  mährische  Vaterunser  weicht  nur  unwesentlich  vom 
tschechischen  ab. 

(Mitgeteilt  vom  Pfarrer  £.  Alk  er  in  Nassiedel.) 


Otce  nai,  jenz  jsi  na  nebesich.  Posvet'  se  jmeno  tve\  Pfijd  kralowstvi 
tve\  Bud'  väle  tvä,  jako  v'  nebi  tak  i  na  zeml.  Chleb  nas  wezdejii  dej  nam 
dnes.  A  odpust'  nam  nase  viny,  jakoz  i  my  odpustime  nasim  winnikum. 
A  neuvod*  nas  v*  pokuseni.    Ale  zbav  nas  od  zläho.    Amen. 

In  der  oberschlesisch-mährischen  Gegend  lautet  die  Aussprache 
f olgendermafsen ,  wobei  die  fettgedruckten  soh  milder  auszusprechen  und  in 
Nassiedel  für  das  erste  Wort  der  zweiten  Bitte  die  Worte  „prijd  k'nam"  zu 
setzen  sind: 

Otsche  nasch,  jensoh  si  na  nebesich.  Poswiet'  se  meno  tve\  Prschidseh 
kralowstvi  tve\  Budeoh  vule  tva,  jako  v*  nebi  tak  i  na  semi.  Chleb  nasch 
vesdejschi  dej  nam  dnes.  A  odpustseh  nam  nasche  viny,  jakosoh  y  my 
odpust80hime  naschim  vinnikum.  A  neuodsch,  nas  v'  pokuscheni.  Ale  zbav 
nas  ode  släho.    Amen. 


Die  Sorben. 

Literatur. 

Andree:  Wendische  Wanderstudien.  Stuttgart,  J.  Maier,  1874.  (Mit  Ab- 
bildungen und  Karte.)  —  Das  Sprachgebiet  der  Lausitzer  Wenden. 
Prag  1873. 

Anton:  Ente  Linien  eines  Versuches  über  der  alten  Slawen  Ursprung, 
Sitten,  Gebräuche,  Meinungen  und  Kenntnisse.  Leipzig,  Böhme,  1783/89. 
(Mit  einem  wendischen  Trachtenbilde.) 

Orüger:     Origines  Lusatiae.    Leipzig  1726. 

Fahlisch:    Der  Spreewald.    Berlin,  Goldschmidt,  1877. 

Frenz el:  Von  der  alten  und  heutigen  Wenden  Heyraths-,  Hochzeit*  -  und 
etlichen  häufslichen  Gebräuchen.  In  den  Arbeiten  der  verein.  Ges.  in 
der  Oberlausitz  zu  den  Geschichten  und  der  Gelahrtheit  überhaupt  geh. 
Leipzig  und  Bautzen  1754  V,  49 — 70.  —  Histor.  Schauplatz  oder  Chronika 
und  Beschreibung  der  Stadt  und  Herrschaft  Hoyerswerda.  Leipzig  und 
Bautzen  1744. 

Haupt  und  Schmaler:  Volkslieder  der  Wenden,  2  Bde.  (mit  Karte  und 
Abbildungen).     Grimma  1842/43. 

Hoffmann:  Die  Sprache  und  Literatur  der  Wenden.  Hamburg,  Verlags- 
anstalt und  Druckerei  A.-G.,  1899. 

Hortzschansky:  Von  den  Sitten  und  Gebräuchen  der  heutigen  Wenden. 
Provinzialblätter,  herausgegeben  von  der  Oberlausizischen  Geselschaft  der 
Wissenschaften.  Leipzig  und  Dessau  1782  I,  1—16,  125 — 142,  249—263, 
373 — 387.  (Mit  Koten.)  Dazu  Ergänzungen  von  M.  Conrad,  Beitrag  zu 
den  Abhandlungen  von  den  Sitten  und  Gebräuchen  der  heutigen  Wenden. 
(Ebenda,  2.  Bd.  =  5.  Stück  60—73.)  Vgl.  auch  I,  482—484  (Sorbische 
Worte  im  Deutschen). 

Gräfe:    Tracht  der  Sorbenwenden.    N.  Laus.  Mag.  XI,  342—347. 

Gr osser:    Lausitzische  Merckwürdigkeiten.    Budissin  1714. 

Haupt:     Sagenbuch  der  Lausitz.     2  Bde.    Leipzig  1862/63. 

Hundrich:  Nachrichten  über  die  polnischen  und  die  anderen  aufser- 
deutschen  Sprachverhältnisse  in  der  Provinz  Schlesien.  Übersicht  der 
Arbeiten  der  Schlesischen  Gesellschaft.     1843  bis  1846. 

Knauth:  Derer  Oberlausitzer  Sorbenwenden  umst.  Kirchengeschichte.  Görlitz, 
Fickelscherer  1767. 

Knothe:  Zur  Geschichte  der  Germanisierung  in  der  Oberlausitz.  Archiv 
für  sächs.  Geschichte  N.  F.  II.     1876. 

Kolbe:  Handbuch  der  Kirchenstatistik  für  das  Königreich  Sachsen.  N.  F., 
16.  Ausg.    Dresden,  Wulff en,  1894. 

Kofsyk:     Sserbska  szwazba  v.  Blotach.    Werben,  Wenzel  (ohne  Jahr),  58  S. 

Kreufsler:  Altsächsische  und  sorbenwendische  Altertümer  für  die  Jugend, 
360  S.  und  15  Taf.-Abb.     Leipzig  1823. 

Leske:  Reise  durch  Sachsen.  Leipzig  1785.  (Darin  bunte  wendische 
Trachten.) 


Sprachgebiet.  283 

Liebusch:    Sagen  und  Bilder  aus  Muskau.    Muskau  1860. 

Lutsch:  Verzeichnis  der  Kunstdenkmäler  der  Provinz  Schlesien,  4  Bde. 
Breslau  (III,  585.  —  1891). 

Mogk  und  Stumme:  Mitteilungen  des  Yereins  für  sächsische  Volkskunde. 
Seit  1897. 

Mucke:  Historische  und  vergleichende  Laut-  und  Formenl.  der  nieder- 
sorbischen Sprache.  Leipzig  1891.  —  Statistika  luziskich  Serbow.  Bautzen 
1884/86. 

Müller:  Das  Wendentum  in  der  Niederlausitz.  Kottbus,  H.  Differt,  1894. 
(Mit  Karte  und  Bildern.) 

Pech  und  Pypin:  Das  sorbisch  -  wendische  Schrifttum  in  der  Ober-  und 
Niederlausitz  von  A.  N.  Pypin.  Aus  dem  Bussischen  übertragen,  sowie 
mit  Berichten  und  Ergänzungen  versehen  von  Traug.  Pech.  Separat- 
abdruck aus  „Geschichte  der  slawischen  Literaturen"  von  A.  N.  Pypin 
und  V.  D.  Spasovic.    Leipzig,  Brockhaus,  1884. 

Pestalozziverein  der  Provinz  Brandenburg:  Brandenburg  in  Wort 
und  Bild.     Berlin,  Klinkhardt,  1900. 

Posse:  Die  Markgrafschaft  von  Meifsen  und  das  Haus  Wettin  bis  Konrad. 
Leipzig  1881. 

Preusker:  Blicke  in  die  vaterländische  Vorzeit.  Leipzig,  Hinrichs,  3  Bde., 
1841/44.     (Mit  530  Abbildungen.) 

Schle  Bischer  Pestalozzi  verein:  Bunte  Bilder  aus  dem  Schlesierlande« 
Breslau  1898. 

Schmidt,  Seyffert,  Sponsel:  Sächsische  Volkstrachten  und  Bauernhäuser. 
(Bilder  mit  Text.)    Dresden  1897. 

v.  Schulenburg:  Wendische  Volkssagen  und  Gebräuche  aus  dem  Spree- 
wald. Leipzig,  Brockhaus,  1880.  —  Wendisches  Volkstum  in  Sage, 
Brauch  und  Sitte.    Berlin,  Nicolai,  1882. 

Veckenstedt:  Wendische  Sagen,  Märchen  und  abergläubische  Gebräuche. 
Graz  1880. 

Weinhold:    Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde. 

Wuttke:    Sächsische  Volkskunde.    Dresden,  Schönfeld,  1900. 


I.     Sprachgebiet, 

Wir  bezeichnen  unsere  Sorben  meist  mit  dem  Namen  Wenden. 
Das  hat  Mifsverständnisse  und  Irrtümer  seltener  Art  veranlagt. 
Ursprünglich  hat  alles  slawische  Volk  an  der  deutschen  Sprachgrenze 
den  Wendennamen  geführt.  Den  Namen  der  Winden  oder  Slowenen 
hat  man  jetzt  auf  serlich  abgetrennt;  aber  noch  unlängst  veröffentlichte 
H.  y.  Schulheim  in  der  Steiermärkischen  Zeitschrift  (4.  Jahrg.)  „Volks- 
lieder der  steiermärkischen  Wenden a.  Der  Name  der  germanisierten 
hannoverschen  „  Wenden a  hat  noch  kürzlich  einen  Statistiker  zu  dem 
falschen  Schlüsse  bewogen,  in  Lüneburg  lebte  ein  abgetrennter  Bruchteil 
slawisch  sprechenden  Volkes.  Polaben  und  Slowinzen  werden  in  der 
Literatur  gleichfalls  als  Wenden  bezeichnet ;  nannte  ja  Pontanus  seinen 
Katechismus  wendisch-deutsch.  Man  wird  darum  gut  thun,  den  Namen 
als  Volksnamen  überhaupt  fallen  zu  lassen.  Er  wurde  in  den  ältesten 
Zeiten  von  den  Deutschen  für  die  benachbarten  Slawen  angewendet. 

Das  alte  Gebiet  unserer  Sorben  kann  im  grolsen  und  ganzen  durch 
die  Grenzen  Saale,  Erzgebirge,  Bober,  untere  Spree  und  Havel  bezeichnet 


284  Die  Borben. 

werden  (Abb.  107).  Mit  der  Besiedelang  und  Germ anisierung  unter  den 
Sachsen  and  Saliern  schmolz  das  Gebiet  sehr  zusammen.  Noch  1387 
salsen  aber  bei  Köpenick,  uuweit  Berlin,  „wende  vf  dem  Kitze".  Nach 
Kn&uth  hatten  die  Oberlausitzer  Sorben  im  Jahrhundert  der  Befor- 
Abb.  107. 


Das  sorbische  Sprachgebiet. 
Mafsstab   1 :  2  750  000. 


mation  etwa  folgendes  Land  inne:  Zwischen  Ruhland  und  Mücken- 
berg zog  sich  die  Grenzscheide  südlich  über  die  Kirchdörfer  Lindenan, 
Kroppen,  Schmorkau,  Schwepnitz,  Bischheim  bei  Kamenz,  Pulsnitz, 
Burkaa,  Pobla,  Schmölln,  Gautsig,  Wilthen,  Postwitz,  Wendisch  SobJand, 


Sprachgrenzen  1750  und  1872.  285 

Krosta,  Cunnewalde,  Löbau,  dann  nördlich  nach  Tetta,  Petershain, 
Daubitz,  Pechern  bei  Priebus,  Zibelle.  Nach  Norden  setzte  sich  das 
Niederlausitzer  Sprachgebiet,  wie  R.  Andree  erforscht  hat,  über  Triebel, 
Pforten,  Guben  zur  Neilsemündung  fort  und  von  Fürstenberg  über 
Beeskow  nach  Storkow  und  dann  südlich  über  Buchholz,  Ludkau, 
Sonnenwalde,  Finsterwalde,  Mückenberg. 

200  Jahre  später,  etwa  um  1750,  war  das  Niederlausitzer 
.Sorbenland,  nach  den  Ermittelungen  Andrees,  bedeutend  zusammen- 
geschrumpft. Es  hatte  noch  folgende  Grenzen:  Kuhland,  Kalau, 
Lübben,  Lieberose,  Forst,  die  Neilse  aufwärts  bis  ziemlich  zur  Grenze 
des  Ober-  und  Niederlausitzer  Sprachgebietes.  Vom  Oberlausitzer  kann 
man  auf  Grund  von  Enauths  Angaben  die  Fortsetzung  nach  Süden  so 
angeben:  Kirchspiel  Zibelle  bei  Muskau,  Pechern,  Daubitz,  Petershain, 
Kollm,  Krischa,  Tetta,  Löbau,  Kosel,  Postwitz  bei  Schirgiswalde,  Schmölln, 
Eamenz,  Sprachgrenze  im  Ofslinger  Kirchspiel.  Andree  hat  mit  grofser 
Genauigkeit  die  Grenze  nicht  blofs  nach  den  Kirchdörfern,  sondern 
auch  nach  den  eingepfarrten  Grenzdörfern  gezogen.  Aus  seiner  Karte 
ergiebt  sich,  dals  das  Niederlausitzer  Sorbengebiet  in  200  Jahren 
über  die  Hälfte,  das  Oberlausitzer  hingegen  an  der  Nordost-  und 
Nordwestgrenze  beträchtliche  Einbulse  erlitten  hatte,  die  Südgrenze 
aber  nur  einen  schmalen  Streifen  oder  teilweise  gar  nichts  nach  innen 
geschoben  war. 

Für  1872  hat  Andree  das  Niederlausitzer  Sorbenland  auf  Grund 
genauer  Nachrichten  folgendermalsen  umzirkt:  Senftenberg  an  der 
schwarzen  Elster,  Drebkau,  Ve tscbau,  die  Spree  oberhalb  Leipe,  Schön- 
höhe bei  Peitz,  dann  die  südlich  laufende  Grenzlinie  bis  Schleife  im 
Oberlausitzer  Gebiet  und  Kirchspiel  Gablenz.  Das  Oberlausitzer  reichte 
von  dieser  Gegend,  dem  Muskauer  Landkreis,  in  ziemlich  meridionaler 
Richtung  bis  Löbau,  dann  scharf  westwärts  biegend  nach  Schmölln  und 
ziemlich  geradlinig  nach  Olsiing  und  Tätschwitz.  Die  Niederlausitzer 
hatten  also  wieder  die  grofse  Hälfte  eingebülst,  die  Oberlausitzer  des- 
gleichen an  der  Nordost-  und  Nordwestgrenze  kleinere  Stücken,  im 
Süden  nur  wenig. 

Einen  noch  viel  grötseren  Verlust  erlitt  aber  das  Niederlausitzer 
Sorbengebiet  seit  dieser  Zeit,  denn  heute  hat  es  nur  noch  folgende 
Grenzen  (Abb.  108  a.  f.  S.) :  Burg  im  Spreewald,  Briesen,  Dissen,  Fehrow, 
Drachhausen  (in  Fehrow -Drachhausen -Briesen  liegen  die  Verhältnisse 
eigentümlich :  Fehrow  ist  Filiale  von  Drachhausen.  Der  Parochus  predigt 
deutsch,  und  zwar  in  Fehrow  dreizehnmal.  Seit  1793  benutzen  aber 
die  Dörfer  Schmogrow  und  Sakkasne,  die  eigentlich  zu  Briesen  gehören, 
die  Fehrower  Kirche.  Dafür  predigt  der  Briesener  Pastor  die  übrigen 
Sonn-  und  Festtage  in  der  Fehrower  Kirche  wendisch,  und  alle  vier 
Wochen  deutsch),  Tauer,  Peitz,  Lieskow,  Kahren,  Komptendorf,  Hornow, 
Kottbus,  Papitz,  Krieschow,  Werben,  Vetschau,  Burg.  Ich  habe  immer 
nur  die  Kirchspiele  genannt.   Eine  Anzahl  von  Kirchspielen,  wie  Jaensch- 


286 


Die  Sorben. 


walde,  El.  Döbbern,  Gr.  Glagow,  wird  noch  von  zahlreichen  Wenden 
bewohnt,  und  im  Spreewald  unterhalb  Burg  hat  sich  noch  bis  heute, 
und  wohl  für  lange,  wendisches  Wesen  erhalten.  Andererseits  aber 
darf  nicht  vergessen  werden,  dafs  die  Mittelpunkte,  Eottbus,  Vetechau 
und  Peitz,  trotz  wendischen  Gottesdienstes  neben  deutschen  doch  völlig 
deutsche  Städte  sind  und  dafs  selbst  die  Landbevölkerung  beider 
Sprachen  mächtig  ist. 

Viel  widerstandsfähiger  hat  sich  das  Sorbentum  der  Oberlausitz 
erwiesen,  das  ja  nun  vom  Niederlausitzer  durch  einen  Wall  deutscher 

Kirchspiele  getrennt  ist. 
Es  beginnt,  wie  vor 
150  Jahren,  bei  Muskau 
und  die  Grenze  zieht 
sich  (Abb.  109)  nach 
Schleife  und  südlich 
über  Tschelln,  Merzdorf, 
Nochten ,  Reichwalde, 
Creba ,  Weigersdorf , 
Gebeizig,  Gröditz,  Kolitz, 
Nostiz,  Eittlitz,  Löbau, 
Hochkirch ,  Postwitz, 
Bautzen,  Göda,  Schmölln, 
Pohla,  Uhyst,  Elatra, 
Krostwitz,  Nebelschütz, 
Kamenz ,  Marienstern, 
Bosenthal,  Balbitz,  OIs- 
ling ,  Wittichenau, 
Hoyerswerda ,  die 
schwarze  Elster  abwärts 
bis  Tätschwitz,  Geyers- 
walde und  die  schle- 
8isch  -  brandenburgische 
Grenze.  Verloren  ging 
also  nur  ein  Stück  süd- 
lich der  Muskauer  Heide 
und  ein  schmaler  Grenz- 


Die  niedersorbischen  Kirchspiele  1900. 
Mafsstab  1  :  500  000. 


saum.  Gerade  die  vier  auf sersten  Ecksäulen  stehen  am  standhaftesten. 
Die  Muskauer,  Löbauer  und  Schmöllner  Landbevölkerung  hat  350  Jahre 
der  Germanisierung  getrotzt,  trotzdem  sie  unmittelbar  neben  Deutschen 
wohnte;  die  in  der  Gegend  von  Hoyerswerda  und  Tätschwitz  150  Jahre. 
Nur  der  Keil  Mückenberg,  Tätschwitz,  Schmölln  ging  verloren.  Bei 
Muskau  ist  der  Grund  in  der  abgelegenen  Heidegegend,  südlich  von 
Bautzen  zum  Teil  in  der  Wirksamkeit  des  Pfarrers  Immisch  zu  suchen, 
auf  der  Linie  Löbau,  Bautzen,  Radibor,  Ostro,  Krostwitz  -  Storch a, 
Nebelschütz,  Marienstern,  Bosenthal,   Ralbitz,  Wittichenau,    also   im 


Heutige  Sprachgrenzen. 


287 


grofsen  und  ganzen  auf  dem  südlichen  und  westlichen  Grenzgebiet,  in 
der  katholischen  Bevölkerung  und  den  katholischen  Kirchen-  und 
Schuldienern. 

Abb.  109. 


H30'0. 


Brandenburg 


M»yo- 


Die  obersorbischen   evangelischen  (==),   katholischen  ( ),   gemischten 

(       ")  und  altlutherischen  ( )  Kirchspiele  1900. 

Maßstab  1 :  500  000. 

Die  Zahl  der  Sorben  betrug  nach  Andree  1849:  141649,  1869: 
137  416,  1871:  128  040.  Nach  anderen  Angaben  kann  man  für  1864: 
139  460,  für  1867:  134895,  1875:  136  000  (Pech,  S.  13:  40000 Nieder- 
sorben, 40  000  preufsische  Obersorben,  52  000  sächsische  Obersorben), 
1880:  160  000  (ebenda),  für  1890:  118  000,  für  1900:  110  000  fest- 
stellen.    Mucke  gab  1884:  173  469  an. 

Der  Streit  über  diese  Zahlen  ist  müfsig.  Die  einen  wollen,  da 
alle  auch  deutsch  sprechen,  am  liebsten  gar  keine  Sorben  anerkennen. 
Die  zweiten  meinen,  es  komme  auf  die  Abstammung  an,  die  Sprache 


288  I>ie  Sorben. 

der  Mutter;  da  wird  die  Zahl  unverhältnismäfsig  grofs  und  besitzt 
keinen  praktischen  Wert;  man  könnte  ja  fast  mit  demselben  Rechte 
noch  eine  Generation  zurückgehen.  Die  dritten  verlassen  sich  auf  die 
Zähllisten  und  bekommen  da  eine  Musterkarte  von  gut  deutschen 
„ hannoverschen  Wenden44,  die  von  sorbischer  Sprache  vielleicht  noch 
nie  gehört  haben,  ferner  von  völlig  germanisierten  deutsch  sprechenden 
Sorben,  die  nur  dem  Zähler  zuliebe  sich  als  wendisch  einzeichneten, 
endlich  von  Sorben,  die  nur  nebenbei  deutsch  reden.  Statistiker  helfen 
sich  damit,  dafs  sie  die  auf  den  Zähllisten  als  „wendisch  und  deutsch" 
sprechend  angegebenen  je  zur  Hälfte  den  beiden  Völkern  zuzählen. 
Die  Angabe  „wendisch  und  deutsch"  oder  wendisch  oder  deutsch  ist 
ja  aber  ganz  in  der  Luft  schwebend  bei  Leuten,  die  beider  Sprachen 
mächtig  sind. 

Es  ist  am  richtigsten,  bei  Völkersplittern,  wie  beispielsweise  den 
Slowinzen  oder  ostpreulsi sehen  Euren,  alle  der  Sprache  noch  leidlich 
mächtigen  zusammenzuzählen,  denn  eine  solche  Statistik  gilt  ja  sprach- 
wissenschaftlichen oder  kulturgeschichtlich  -  volkskundlichen  Zwecken. 
Bei  wirklichen  Völkern  aber,  z.  B.  den  Sorben,  mülste  man  drei  Zahlen 
angeben;  eine  für  die  ausschliefslich  sorbisch  sprechenden,  eine  zweite 
für  die  des  Sorbischen  noch  mächtigen  und  eine  dritte  für  die  sich 
zum  wendischen  Gottesdienst  haltenden.  Dafs  auch  diese  Zahlen  nur 
ein  annähernd  richtiges  Bild  geben,  liegt  in  der  Sache  selbst;  man 
kann  für  einen  so  schwankenden  Begriff  keine  Zahl  einsetzen,  die 
allen  Leuten  recht  wäre.  Dann  würde  auch  die  leise  Anklage  ver- 
stummen, die  in  den  Worten  eines  guten  deutschen,  jetzt  für  die 
Wenden  thätigen  Seelsorgers,  lag  und  dem  ich  bedeutete,  man  hätte 
doch  die  wissenschaftlichen  Forschungen  und  Statistiken  nicht  blols  in 
wendischen  Zeitschriften  und  Büchern  niederlegen  sollen.  Er  erwiderte 
nämlich:  „Die  Deutschen  nehmen  ja  doch  unsere  Statistik  nicht  an." 
Wenn  gewisse  Kreise  den  Sorben  gegenüber  Sprachausrottungssucht 
an  den  Tag  legen,  dem  Volke  gegenüber,  das  sich  in  seiner  Treue  er- 
probt hat,  so  ist  das  gewifs  auf  ein  ganz  falsches  Vaterlandsgefühl 
zurückzuführen,  und  über  diese  Kreise  kann  ruhig  zur  Tagesordnung 
übergegangen  werden.  Aber  die  Zahl  der  Wendenfeinde  ist  wohl  eine 
ganz  geringe.  Der  beste  Beweis,  dünkt  mich,  ist  die  seit  der  Refor- 
mation fast  unveränderte  Sprachgrenze  in  Sachsen.  Dem  Staate  aber 
zumuten  wollen,  ein  paar  Agitatoren  zuliebe  absterbende  fremde  Sprach- 
reste an  den  Grenzen  künstlich  zu  beleben  und  mit  Kostenaufwand, 
wohl  gar  gegen  den  Willen  der  meisten  Kirchspielangehörigen,  zu  er- 
halten, das  wäre  doch  wohl  die  Ansicht  eines  nicht  ernst  zu  nehmenden 
Menschen.  Kein  ehrlich  denkender  Deutscher  wird  grundlos  einem 
wendischen  Kirchspiel  seine  Muttersprache  verbieten  wollen.  Es  wäre 
aber  auch  zu  viel  verlangt,  wenn  er  gegen  die  sich  ganz  von  selbst 
vollziehende  Verdeutschung  Mafs regeln  anwenden  sollte.  Da  bildet 
sich  ein  wendischer  Burschenverein,   der  ganz  gut  den  Vorzug   der 


Sprach  Verhältnisse.  289 

deutschen  Kultur  erkannt  hat,  „um  kein  Wort  wendisch  mehr  zu 
sprechen*.  Ein  Pastor,  ein  Wendenfreund  und  einsichtiger  Mann,  hat 
geglaubt,  es  hiefse  „deutsch"  statt  wendisch  und  sagte  mir:  „Die 
Thoren,  da  können  sie  nur  in  ihrem  Dorfe  sitzen  bleiben,  in  Bautzen 
werden  sie  keinen  Narren  finden,  der  auf  solche  Thorheit  einginge." 
Das  sagt  derselbe  Mann,  der  mir  erzählt:  „Wenn  ein  Wende  zu  mir 
kommt  und  radebrecht  deutsch,  so  sprech  ich  zu  ihm,  kannnitver- 
stan,  dann  weifs  er,  dafs  er  wendisch  zu  reden  hat."  In  der  Nieder- 
lausitz fuhr  ich  mit  einem  Bauer  durch  die  Kottbuser  Gegend.  „Hier 
wird  wendisch  bis  in  alle  Ewigkeit  gesprochen,  aber  mit  dem  Wendi- 
schen kommt  man  gerade  bis  Kottbus,  und  das  hiesige  Volk  ist  viel  zu 
aufgeklart,  etwa  gar  wendisch  zu  bleiben,  wir  sind  doch  alle  Deutsche, 
und  die  Welt  schreitet  immer  weiter  vorwärts/  Ich  fuhr  auf  einem 
Spreewaldkahn  und  fragte  meinem  Fergen  einzelne  Worte  ab.  Viele 
wulste  er  gar  nicht  mehr,  auf  manche  brachte  ich  ihn  erst  wieder,  da 
rief  er:  „Hierher  kommt  auch  immer  einer,  der  kann  bös  werden,  und 
der  zankt,  wenn  wir  deutsch  reden;  aber  das  Wendische  hört  doch  auf. 
Soll  denn  das  gar  wieder  eingeführt  werden,  das  hat  doch  gar  keinen 
Sinn,  das  war  für  die  Alten,  die  Jungen  lassen  sich  nicht  verdummen." 
In  den  verschiedensten  Gegenden  des  sächsischen,  schlesischen  und 
brandenburgischen  Sorbenlandes  fand  ich  bei  den  gewöhnlichen  Leuten 
immer  dieselbe  Ansicht  über  das  fortschreitende  Verschwinden  der 
sorbischen  Sprache.  Fast  scheint  es,  als  ob  sich  im  Spreewalde 
das  Sorbentum,  wenigstens  die  Tracht,  als  Schaustück  für  die  zahl- 
reichen Sommergäste  erhielte.  Ein  Mädchen  aus  dem  benachbarten 
Werben  gab  in  diesem  Sinne  ein  ungünstiges  Urteil  über  die  Burger 
Tracht  ab.  Im  Reiseführer  las  ich,  man  müsse  die  Versammlung  der 
wendischen  Mädchen  vor  der  Burger  Kirche  vor  Kirchenanfang  als 
etwas  Eigenartiges  ansehen.  Ich  ging  hin,  die  Dorf  schönen  waren 
nicht  da,  wohl  aber  einige  Hundert  Berliner,  die  „den  Rummel  auch 
mal  sehen"  wollten.  In  Burg,  der  Hochburg  des  Sorbentums  oder  viel- 
mehr der  wendischen  Tracht,  habe  ich  in  allen  Schenken  auch  nicht 
ein  wendisches  Wort  gehört,  da  klang  es  vielmehr  so:  „Ein  Kerl  wie 
ich  furcht9  sich  vorm  Teufel  nicht  und  soll  sich  vor  einem  Geheimrat 
fürchten,  Quatsch  mit  Sose.  Ich  will  ein  Spitzbub  heifsen,  wenn  ich 
nachgebe.  Du  denkst  auch,  wes  Brot  ich  schling,  des  Lied  ich  sing. 
Aber  ein  Vater  kann  eher  sechs  Kinder  ernähren  als  umgekehrt,  und 
wer  Nesseln  pflanzt,  brennt  sich.  Wenn  du  mich  dumm  machen  willst, 
mulst  du  dich  erst  gescheit  machen,  wer  mich  für  dumm  kauft,  hat  sein 
Geld  umsonst  nausgeschmissen.  Ich  sag:  viel  bedenken,  wenig  sagen, 
keinem  Menschen  sein  Leiden  klagen.  Auf  meinem  Hof  bin  ich  Herr, 
weh  dem,  der  mir  da  was  sagen  wilL  Was  so  e  Geheimrat  weis,  das 
weis  ich  a  noch.  Noch  fürn  Fünfer  Kümmel!"  Nach  dieser  Flut  von 
Sprichwörtern  sperrte  er  sich  entschieden  dagegen,  dafs  die,  nun  gebaute, 
Kottbuser  Bahn  durch  seine  Fluren  gehen  sollte,  weil  man  ihm  nur 

Tetzner,   Die  Slawen  in  Deutschland.  ]g 


290  Die  Sorben. 

einen  Streifen  und  nicht  das  Ganze  abkaufen  wollte.  „Solang  ich 
noch  ein  paar  Pf  enge  habe,  werd  ich  mei  Recht  suchn  bis  ich  sieg. 
Sie  habn  alle  nnterschriebn?  Ja  mit  drei  Kreuzen,  damit  unterschreibt 
man  gegen  den  Teufel."  Ich  fragte  die  Wirtin:  „Das  ist  doch  kein 
Wende,  der  redet  doch  deutsch?"  „0  ja,  aber  das  Wendische  lernen  Ja 
nur  noch  die  Eottbuser  Kaufleute,  dals  sie  bessere  Geschäfte  machen." 

In  Weilswasser  bei  Muskau  hat  beim  Antritt  des  neuen  Pastors 
vor  etwa  einem  Dutzend  Jahren  überhaupt  niemand  nach  sorbischer 
Predigt  verlangt.  Als  Immisch  so  gern  das  Sorbentum  dort  beleben 
wollte,  konnte  er  selbst  zum  Abendmahl  nur  einige  wenige  alte  Frauen 
und  Männer  bekommen.  In  Muskau,  das  deutsch  ist,  haben  die  Heide- 
bewohner allein  noch  Interesse  an  sorbischer  Predigt.  Schleife  mit  echt 
sorbischem  Gepräge  suchte  ich  Sonntag  abends  auf.  Im  reich  besuchten 
Gasthaus  safs  alt  und  jung,  trank  und  scherzte,  aber  kein  Wort  sorbisch 
war  zu  hören.  Und  gerade  in  dieser  Gegend  haben  sich  die  eigen- 
tümlichsten Sitten  erhalten.  Die  einzige  sorbische  Stadt  Königswartha 
mit  1200  Einwohnern  zeigt  ein  ganz  deutsches  Gesicht  Da  giebt  es 
15  Vereine  für  die  3000  Sorben  und  400  Deutschen  des  Kirchspiels. 
Wer  in  eine  Familie  kommt,  kann  wohl  noch  etwas  Sorbisch  hören. 
Wer  aber  auf  der  Straf se  hört  und  fragt,  wer  im  Gasthof  sich  erkundigt 
oder  Schilder  ansieht,  wird  überall  deutschen  Laut  finden,  nur  auf 
dem  Kirchhof  kann  er  vereinzelte  sorbische  Inschriften  lesen.  Und 
geht  man  von  Löbau  über  Kittlitz  und  Hochkirch  und  Weifsenberg, 
so  bietet  sich  nur  dem  Sorbisch,  der  es  sucht.  „In  Hornow",  klagte 
eine  alte  Sorbin,  „kommen  nur  noch  ein  paar  alte  Frauen,  und  der 
Pfarrer  predigt  geduldig,  auch  wenn  nur  zwei  bis  drei  zum  sorbischen 
Gottesdienst  kommen/  In  Lübbenau  (1867)  und  Spremberg  (1873) 
erlosch  nach  dem  Absterben  der  letzten  sorbenfreundlich  gesinnten 
Pastoren  nicht  nur  das  Interesse  am  Wendentum,  sondern  auch  dieses 
selbst  vor  einigen  Jahrzehnten. 

In  den  sorbisch  -  deutschen  Gemeinden  Sachsens  wohnten  1890 
55  277  Evangelische  in  25  und  14004  Katholiken  in  9  Kirchspielen. 
Die  katholischen  ländlichen  Kirchspiele  sind  rein  sorbisch  und  haben 
gar  keinen  deutschen  Gottesdienst,  die  evangelischen  haben  abwech- 
selnd sorbischen  und  deutschen,  die  meisten  öfter  sorbischen  als 
deutschen.  Gab  es  ja  auch  49  916  Oberlausitzer  Sorben  hier. 
Die  schlesischen  Oberlausitzer  Sorben  wohnen  hauptsächlich  in  den 
Kreisen  Hoyerswerda  und  Rotenburg,  es  waren  1890  über  27  320. 
1891  sprachen  daselbst  8380  Schulkinder  deutsch,  1140  sorbisch 
und  deutsch,  4018  wendisch,  im  Kreise  Rotenburg  23,02  Proz.9 
im  Hoyerswerdaer  37,69  Proz.  Im  Hoyerswerdaer  waren  43,62  Proz. 
Sorben.  1886  aber  sprachen  noch  im  Görlitzer  Landkreise  57  Bänder 
sorbisch  und  deutsch,  im  Rotenburger  847,  im  Hoyerswerdaer  852, 
aulserdem  im  letzteren  2109  nur  sorbisch,  im  Rotenburger  1751. 
Auf  welche  Umstände  die  Zahlenverschiedenheit  zurückgeht,  weite  ich 


Verbreitung,  Beschäftigung,  sprachlicher  Einflufa.  291 

nicht.  Die  brandenburgischen  Niederlausitzer  Sorben  zählten  38  245 
Köpfe.  Im  Eottbuser  Landkreise  gab  es  1891  2700  deutsche,  744 
sorbisch  -  deutsche  und  5465  sorbische  Kinder,  in  der  ganzen  Mark, 
in  den  sorbisch  -  deutschen  Kreisen  Guben  -  Land ,  Lübben ,  Kottbus- 
Land,  Sorau,  Spremberg:  33  465  deutsche,  1630  Borbisch-deutsche  und 
6224  sorbische  Schulkinder.  Berlin  zählte  239  Wenden.  Der  Land- 
kreis Kottbus  hat  57,67  Proz.  Sorben.  Von  den  preulsischen  Sorben 
rechnet  man  65  092  der  evangelischen  und  2789  der  katholischen 
Kirche  (Wittichenau)  zu,  sonst  waren  noch  3  bei  der  Brüdergemeinde, 
63  bei  den  Apostolischen  und  9  bei  den  Juden.  Der  Staatsangehörig- 
keit nach  gehörten  67  430  dem  Deutschen  Reiche,  509  Österreich, 
13  Ungarn,  10  Schweden  und  2  Belgien  an,  eine  Sorbin  hatte  russische, 
zwei  rumänische  Staatsangehörigkeit.  Aulser  Landwirtschaft  und  Vieh- 
zucht wird  noch  Fischerei,  Töpferei,  Leinweberei  getrieben;  auch 
Maurer,  Zimmerer,  Tischler  werden  die  Sorben  gern. 

1890  hatte  die  Mark  zwei  und  Schlesien  vier  evangelische  Pfarrer 
von  sorbischer  Muttersprache,  in  Schlesien  lebten  zwei  und  im 
Regierungsbezirk  Aachen  drei  römisch-katholische  Ordensschwestern 
sorbischer  Zunge,  die  Zahl  der  sorbischen  Pastoren  und  Lehrer  in 
Sachsen  ist  weit  grölser.  Doch  gilt  noch  Knauths  Klage,  wenn  auch 
abgeschwächt,  dafs  die  Nachfrage  nach  sorbischen  Pastoren,  die  zum 
grölsten  Teil  doch  sorbische  Muttersprache  ererbten,  gröfser  als  das 
Angebot  ist.  Die  sogenannte  katholische,  besonders  die  Klostergegend, 
stellt  wohl  die  meisten.  Nicht  unerwähnt  will  ich  lassen,  dafs  auch  in 
Dresden,  Berlin  und  Leipzig  jährlich  ein  oder  einigemal  sorbischer 
Gottesdienst  abgehalten  wird.  Im  ganzen  alten  Sorbengebiet  aber 
finden  wir  noch  alte  slawische  Worte,  so  Saupe  =  Supan  (Dorfhäupt- 
ling, Schöppe),  Weithas  oder  Withas  (Rittermälsiger) ,  Pristabel  oder 
Pritzstabel  =  Gewässeraufseher,  Kretschmar  =  Gastwirt,  pomale 
(langsam),  Kleinegarten  (Klanzei),  Marunke  (grofse  Pflaume),  Plauze 
(Lunge),  Nusche  (Messer),  Boie  (Wiege),  Berl  (Hammer),  Grenze, 
Karete,  Potschek  (Spiel,  auch  „Klippe"  genannt),  pietschen  (trinken) 
und  hatechen,  Namen  wie  Karausche,  Plötze,  Husl  (Gans),  Bile  (Ente), 
Hantscher  (Schwein),  Husla,  Buberzge  (Wandbrett,  schlechtes  Lager, 
Gerümpelbrett),  Schaluppe  (schlechte  Hütte),  Parockenhans  (Piraggen, 
Gebäck),  Kütschel  (schlechtes  Obst),  pritsch  (rutsch,  von  precz  =  weg). 

Die  Geschichte  der  Sorben  ist  anfänglich  die  Geschichte  ihrer 
Unterwerfung.  In  den  früher  von  Germanen  und  später  von  ihnen 
selbst  angelegten  Rundwällen,  die  dem  Kultus  und  der  Verteidigung 
galten,  findet  man  noch  Spuren  ihrer  ältesten  Zeit,  Topf  Scherben  und 
Gerätbruchstücke.  Um  630  ist  der  Sorbe  Derwan  Bundesgenosse  des 
Tschechenherrschers  Samo.  Karl  scheint  in  Güte  mit  ihnen  aus- 
gekommen zu  sein,  die  letzten  Karolinger  aber  hatten  von  ihren  An- 
stürmen zu  leiden.  Da  züchtigte  Heinrich  I.  die  Magyaren  und  dann 
die  verbündeten  Sorben,  und  sein  Markgraf  Gero  überzog  mit  fester 

19* 


292  Die  Sorben. 

Hand,  wie  dieOttonen  im  ganzen  eroberten  Lande,  seine  Mark  spinnen- 
netzartig  mit  Militär  und  Militärstationen.  Es  ist  wohl  eine  Sage, 
dafs  der  strenge,  unnachsichtige  Mann  30  eingeladene  Wendenfürsten 
auf  einem  Gastmahle  habe  töten  lassen.  965  wurde  die  Lausitz  dem 
Bistum  Meilsen  einverleibt,  früher  gehörte  sie  zu  Brandenburg.  1002 
mutete  Heinrich  IL  die  Lausitzen  dem  Boleslaw  Chrobry  abtreten, 
dessen  Nachfolger  sie  mit  wechselndem  Glück  bis  1032  hielten.  Dann 
hatten  die  Wettiner  und  die  Groitzscher  die  Lausitzen.  Trotz  des  durch 
Heinrich  den  Löwen  1180  angezettelten  Aufstandes  der  Sorben  konnte 
an  ihrem  Geschick  nichts  mehr  zu  ändern  sein.  Langsam  fand  das 
Christentum  Eingang.  Bis  1304  waren  die  Wettiner,  als  böhmische 
Lehnsleute,  Herren  über  sie;  auch  Markgraf  Otto  von  Brandenburg 
war  unter  Wenzel  IL  1250  Lehnsmann  eines  Teiles. 

Ein  Blick  in  diese  alten  Zeiten  der  Lausitzen  gewährt  uns  inter- 
essante Aufschlüsse  über  das  Leben  und  Treiben  und  die  reichen 
Handelsbeziehungen.  Die  Museen  zu  Görlitz  und  Bautzen  bergen 
wertvolle  Belegstücke,  dort  die  zierlichen  Kleinteile  eines  grofsen 
arabischen  Hacksilberfundes  aus  Neschwitz  bei  Bautzen,  Münzen  des 
Sumaniden  Ahmed  ibn  Ismael  (907  bis  913),  und  einen  Dirhem  von 
Mansur  L  (961  bis  976),  dazu  Ringe,  Häkchen,  Ketten  und  Zierstücke, 
aber  auch  Münzen  Eberharts  von  Bayern  (937/38),  Eadgars  von  Eng- 
land (959  bis  975),  Denare  oder  Wendenpfennige;  ebenso  Münzen 
Ottos  I.  (936  bis  972)  und  die  herrlichen  Goldzierstücke  des  Vetters- 
f  eider  Goldfundes  aus  der  Nähe  von  Guben.  Die  zierlichen,  verschieden- 
artigen Urnen  aus  dem  grofsen  Wendengebiete  sind  krug-,  napf-, 
Schüssel-  oder  topfförmig  und  bieten  selbst  in  ihrer  einfachen  Orna- 
mentik eine  Fülle  von  Verzierungen.  Die  Beigaben  der  Urnen  an 
Kämmen,  Waffen,  Hausgerät  u.  dergl.  bis  zum  Wirtelstein  des  einfachen 
Webstuhls  wären  auch  heute  noch  zum  Teil  verwendbar.  Ja,  eine  Art 
Schere  in  einer  solchen  Urne  fand  ich  noch  heute  in  derselben  Form 


in  Gebrauch 


Nach  den  Askaniern  war  König  Johann  von  Böhmen  1346  Herr 
der  Oberlausitz  und  Karl  IV.  auch  Besitzer  der  Niederlausitz.  Bei 
Böhmen  und  Österreich  verblieben  nun  die  Lausitzen,  bis  sie 
Ferdinand  ü.  an  Johann  Georg  1621  verpfändete  und  bis  zum  Prager 
Frieden  1635.  Da  ward  der  Kurfürst  von  Sachsen  wieder  Herr  des 
Landes.  Ja  beim  Tilsiter  Frieden  erhielt  der  sächsische  König  sogar 
noch  den  fehlenden  Kottbuser  Teil.  1815  mulste  Sachsen  die  Nieder- 
lausitz und  den  schlesischen  Teil  der  Oberlausitz  an  Preufsen  abtreten. 
Hat  man  auf  der  einen  Seite  eine  Abnahme  der  sorbischen  Sprache  und 
Selbständigkeit  ins  Feld  zu  führen,  so  darf  auf  der  anderen  Seite  nicht 
die  Zunahme  des  Wohlstandes  übersehen  werden.  Die  Siedelarbeit  der 
Deutschen  in  der  Zeit  der  Salier  und  ihrer  Nachfolger  kam  zwar  zu- 
nächst nur  dem  Lande  zu  gute,  nicht  in  dem  Malse  den  sorbischen  Be- 


Germanisierung.  293 

wohnern.  Wohl  wurden  die  alten  Snpane  und  Withasen,  sobald  sie 
sich  eines  deutschen  Amtes  würdig  zeigten,  zu  allen  Ehren  aufgenom- 
men, aber  der  gewöhnliche  Mann  hatte  nicht  das  gleiche  Los.  Man 
suchte  ihn  von  Zünften  und  Städten  auszuschliefsen  und  seine  Sprache 
zu  unterdrücken.  In  Lehrbriefe  nahm  man  die  Formel' auf,  der  Lehr- 
ling sei  aus  gutem  deutschen  Blute  und  nicht  wendischer  Nation. 
Darüber  werden  sich  die  Sorben  kaum  gekränkt  haben;  sie  sind  und 
waren  treffliche  Töpfer  seit  alter  Zeit,  auch  Schneider  und  Schuhmacher, 
und  fanden  bei  den  Ihren  Abnahme.  Sie  wollten  auch  kaum  mehr 
sein  als  Dorf hand werker  und  Bauern,  wie  ja  noch  heute  kein  Slowinze, 
kein  Eure  etwas  anderes  als  Fischer  sein  will.  Übrigens  glich  1Ö00 
Joachim  I.  die  ungleichen  Rechte  aus,  und  1550  verordnete  der  Land- 
vogt von  Schlick,  in  Luckau  dürfe  der  Wende  so  gut  wie  der  Deutsche 
sein  Handwerk  ausüben.  Schlimmer  war  es  schon  mit  der  Sprache 
beim  Gottesdienst  und  bei  Gericht.  1246  sollten  die  Diesdorfer  Sorben 
verjagt  werden,  wenn  sie  dem  heidnischen  Glauben  nicht  entsagten, 
1293  verbot  Bernhard  IL  von  Anhalt  die .  sorbische  Sprache  vor  Gericht, 
1327  Landgraf  Friedrich  bei  Todesstrafe  in  Leipzig,  Zwickau,  Alten- 
burg. In  Meifsen  geschah  das  Verbot  1424,  in  Lübbenau  1430,  so 
schnell  schritt  die  Zeit.  Unter  Wiprecht  von  Groitzsch  gab  es  be- 
kanntlich östlich  der  Elbe  nur  selten  einen  Deutschen,  wie  der  Pegauer 
Mönch  berichtet.  An  dem  jetzigen  langsamen  Aufhören  der  wendischen 
Sprache  aber  lasse  man  sich  genügen,  die  Germanisierung  hatte  schon 
im  13.  Jahrhundert  durch  die  grofse  Siedelarbeit  der  Thüringer,  Flamen, 
Franken,  Bayern  und  Sachsen  den  Sieg  auf  den  Fahnen. 

Die  Bevölkerung  der  wendischen  Dörfer  zerfällt  in  drei  Teile:  in 
die  deutschen  Rittergutsbesitzer,  Gastwirte,  Handwerker,  in  die  Beamten 
und  die  Bauern.  Der  erste  Teil  ist  der  Stamm  des  Deutschtums;  vom 
Gastwirt  gilt  dies  besonders.  Im  Kruge  spielt  sich  das  öffentliche 
Leben  ab;  vom  Kruge,  mit  dem  oft  ein  Kaufmannsladen  verbunden 
ist,  dringen  neue  deutsche  Erzeugnisse  ins  Sorben dorf.  Hier  giebt  es 
Zeitungen,  Bilder,  Angebote.  Vom  deutschen  Beamtentum  dringt  noch 
mehr  Deutschtum  in  die  Gehöfte  ein.  Gehen  auch  Pfarrer  und  Kantor 
meist  liebevoll  auf  die  fremde  Sprache  und  Sitte  ein  und  pflegen  sie 
wohl  auch  hier  und  da,  so  sehen  doch  die  Sorben  bald  den  hohen  Wert 
deutscher  Sprachkenntnis.  Der  junge  Bursche  erhält  in  der  benach- 
barten Stadt  besseren  Lohn;  das  Mädchen  heiratet  einen  deutschen 
Handwerker  oder  Beamten.  Sie  geht  sorbisch  ins  Pensionat  und  kommt 
deutsch  wieder.  Der  Bursche  bringt  die  deutsche  Sprache  mit  und 
behält  sie  auf  dem  Dorfe  bei.  Ganz  abgesehen  von  der  deutschen 
Schule,  bringen  die  Militärdien  st  jähre  und  die  Einrichtung  der  Krieger- 
vereine Deutschtum  und  deutsche  Sprache  mit  Macht  von  selbst  überall 
hin.  Aber  noch  mehr  die  Einrichtung  der  Posten  und  Bahnstationen. 
Wie  die  unzähligen  Spreearme  den  Spreewald,  so  umklammern  die 
Fufswege  der  Postboten  und  die  Schienenstränge  von  allen  Seiten  die 


294  Die  Sorben. 

einzelnen  Teile  des  Sorbenlandes,  kein  Häuschen  kann  sich  der  Ver- 
deutschung entziehen.  Man  sieht  das  so  recht  deutlich  an  den  Grenzen. 
In  Leipe,  Lehde,  Vetschau,  Hornow,  in  Byleguhre  und  Peitz  hält  sich 
wohl  die  Tracht  noch  einige  Zeit,  die  Sprache  aber  ist  bis  auf  Reste 
erloschen.  Denn  die  beiden  Sprachen  haben  wie  überall  getrennten 
Gedankeninhalt,  oder  der  betreffende  Mensch  ist  nicht  fähig,  sofort  den 
einen  Gedanken,  etwa  einen  Liedervers  oder  ein  Gebet,  in  der  anderen 
Sprache  wiederzugeben.  Selbst  gebildete  Leute,  die  beider  Sprachen 
mächtig  sind,  haben  mir  nicht  eine  sorbische  Gedichtstrophe  sofort 
deutsch  wiedergeben  können.  Sie  können  aber  ganz  verständnisvoll 
und  andächtig  die  sorbische  und  die  gleichbedeutende  deutsche  Gedicht- 
strophe hersagen« 

Der  dritte  Teil,  die  sorbischen  Bauern,  ordnen  sich  den  Besitz- 
tümern nach.  In  Werben  hatte  ein  Grofsbauer  ungefähr  80  Hufen, 
ein  Halbbauer  40,  ein  Kossät  20,  ein  Büdner  10,  ein  Häusler  1.  Jetzt 
sind  diese  Besitzverhältnisse  durch  Ver-  und  Zukauf  verschoben.  An 
der  Spitze  der  Bauernschaft,  dem  Landrat  unterstehend,  tritt  der 
Schulze  oder  Gemeindevorstand  hervor,  meist  ein  intelligenter,  vor- 
urteilsloser Bauer.  Er  ruft  seine  Bauern  zur  Gromada,  Gemeindever- 
sammlung, zusammen.  Ehemals  gingen  Hammer  oder  Tafel  von  Haus 
zu  Haus,  später  ward  die  Ankündigung  unter  Trommelschlag  und 
Glockengeklingel  ausgerufen ;  jetzt  wird  in  den  verschiedenen  Dorfteilen 
ein  Zettel  von  Haus  zu  Haus  geschickt,  die  der  Gemeindediener  und 
Nachtwächter  austrägt.  —  Der  Gemeindehirt  ist  seit  der  Separation 
nur  noch  in  wenig  Dörfern  anzutreffen. 

n.    Dorf  und  Gehöft. 

Das  sorbische  Dorf  ist  meist  eine  Art  Angerdorf.  Eine  anger- 
artige breite  Dorfstrafse  führt  geradlinig  von  Feldmark  zu  Feldmark. 
DieStrafse  ist  so  breit,  dafs  zwischen  ihr  und  der  Häuserreihe  oft  noch 
eine  breite  Flur  mit  Graben  und  Fahrweg  vor  dem  Hause  liegt,  so  dafs 
die  Reihenfolge  Dorfstrafse,  Graben  mit  Teich,  breiter  Weg,  Gehöft, 
nach  beiden  Seiten  zu  sehen  ist.  Auf  dem  breiten  Anger  stehen  wohl 
auch  Kirche,  Schule,  Spritzenhaus,  wenn  sie  mit  dem  Herrengut  nicht 
in  die  Zeile  eingereiht  sind.  Am  Ende  des  Dorfes  laufen  die  beiden 
Fahrwege  mit  der  Dorfstrafse  wieder  zusammen,  und  hier  wird  nun 
an  beiden  Enden  die  Dorfstrafse  von  anderen  Landstrafsen  oft  recht- 
winklig geschnitten.  Auch  hier  sind  wenigstens  in  der  Nähe  des 
Dorf  es  die  Strafsenseiten  mit  Häusern  bestanden,  wie  beispielsweise  in 
Gurhow  (Abb.  110)  und  vielfach  in  der  Niederlausitz.  Der  Dorfplatz 
gleicht  einem  Band  (=  Brahno,  Byleguhre)  oder  einer  abgestumpften 
Lanzenspitze  (=<^^x=:  Gurhow,  Kuben),  und  wenn  die  Orte  sich  ver- 
größern, einem  Kreuz  =0=i=,  wie  in  Kahnsdorf,  Grolslübbenau. 
Eine  zweite  Dorfform  ist  die  des  Rundlings,  wie  er  in  vollkommener 


Dorfanlagen. 


295 


Schönheit  im  hannoverschen  Wendlande  auftritt  und  auch  in  den  längst 
germanisierten  westelbischen  Gegenden,  so  bei  Leipzig,  nicht  selten  ist. 
In  den  Lausitzen  ist  mir  diese  Form  nicht  häufig  begegnet  =0  •  Bei 
diesen  beiden  Dorfformen  führen  nur  ganz  schmale  Privatwege  zwischen 
den  Gehöften  oder  durch  die  Gehöfte  rechtwinklig  zur  Dorfstralse  hinter 
das  Gehöft  aufs  Feld.  —  Der  Dorfteich,  meist  ein  hälslicher  Sumpf,  ist 
fast  allenthalben  zugeschüttet  worden.  Anders  ist  dies  bei  einer  dritten 
Dorfform,  einem  echten  Gaasendctrf.  Die  Dorfstralse  ist  dabei  entweder 
ein  Teil  der  Landstrafse  oder  sie  mündet  in  selbige  ein.  Die  Dorf- 
strafse  selbst  teilt  sich  und  verzweigt  sich  dann  mannigfaltig  und  um- 
klammert die  einzelnen  Gehöfte.     Fast  scheint  es,  als  ob  der  Anger 

Abb.  110. 


« 


Schematicher  Plan  des  Dorfes  Gurhow. 

A  Schulzenhaue,  B  Schule,  C  Gasthof,  D  Spritzenhaus,  E  Gehöfte,  F  Briesener 
Gottesacker,  G  Stralse  nach  Bliesen,  H  Strafse  nach  Werben,  J  hohe  Dorfstrafse, 
mit  Bäumen  bepflanzt,  K  Weg  nach  Schmogrow,  L  Strafse  vor  den  Gehöften, 
M  Graben,  N  seichte  Teiche,  0  Grasplatz,  P  Friedenseiche.  —  Typische  Lage  des 
Gehöftes  Tgl.  Ex ;  a  Wohnhaus ,  b  Scheune ,  c  Stall ,  d  Wirtschaftskammern ,  e  Holz, 
f  Ziehbrunnen,  g  Arbeitsraum,  h  Blumengärtchen,  i  Garten  mit  Holzstaket,  k  Thor. 

der  ersten  Dorfform  bebaut  und  zwischen  den  Gehöften  Wege  liegen 
geblieben  wären,  so  dafs  die  Dorfstralse  ganz  verschwunden  und  die 
Fahrwege  vor  den  Häusern  an  deren  Stelle  getreten  sind.  Diese  Dorf- 
form ist  wohl  die  häufigste  im  germanisierten  wie  im  slawisch  geblie- 
benen Gebiete.  Vermischung  der  drei  Dorfformen  hat  durch  Anbau 
an  den  Landstralsen  stattgefunden.  Am  eigenartigsten  vielleicht  in 
Werben.  Es  scheint  ursprünglich  ein  Angerdorf  gewesen  zu  sein,  das 
sich  in  nördlicher  Richtung  erstreckte.  Die  Querstraf se  Kottbus-Burg 
aber  war  gleichfalls  angerförmig  und  bildet  ein  langes  N 

Bundstück,  dessen  Hauptteil  Paulicks  Gasthof  ist. 
Der  eigentliche  Anger  ist  Jetzt  mit  der  Kirche  an 
der  Straf senkreuzung ,  mit  Schule,  Spritzenhaus  und 
anderen  Gebäuden  besetzt.  Wir  hätten  also  eine 
richtige  Kreuzform  vor  uns.  Aber  am  Nordende  des  Angers  steht  das 
gröfste  Bittergut  wie  der  Dorfplatz  eines  Rundlings,  und  nach  allen 
Seiten  erstrecken  sich  gehöftumklammernde  Stralsen.  Das  Kreuz  hat 
am  Südende  das  breite  Grolsbauern viertel ,  im  Westen  das  anfangs 
breite  Burger,  an  der  Ostseite  das  Kottbuser  Viertel.     Die  Nordseite 


w?J£bo 

s 


296  Die  Sorben. 

mit  dem  Kockolviertel  ist  vielteilig.  Nach  Angabe  des  Schulzen  sind 
das  Grolsbauernviertel  und  das  Dominium  am  Ende  die  ältesten  Dorf- 
teile. Danach  wäre  das  Gassendorf  zwischen  Kirche  und  Dominium 
später  durch  Abstückelung  entstanden. 

Die  Lage  der  eigentlichen  Spreewalddörfer  bedingt  natürlich  ganz 
andere  Dorf  anlagen.  Die  über  eine  Quadratmeile  grofse  Gemeinde 
Burg  hat  mit  Ausnahme  des  Dorf  Stückes  nur  zerstreut  liegende  Gehöfte, 
Leipe  bildet  zwei,  Lehde  vier  grofse  und  mehrere  kleine  Inselstücken. 

Die  Lage  der  alten  Gehöfte  ist  in  den  Lausitzen  völlig  gleich. 
Das'  Gehöft  ist  mit  dem  Thore  und  der  Giebelseite  des  Wohnhauses 
nach  der  Dorfstrafse  gerichtet  Ein  Gehöft  besteht  aus  zwei  Haupt- 
teilen, dem  Hof  räum  und  dem  Grofsgarten.  Der  Grofsgarten  liegt 
hinterm  Hofraum  und  grenzt  an  einen  Dorf  weg,  so  dais  das  ganze 
Gehöft  umgangen  werden  kann.  Jedes  Gehöft  ist  somit  für  sich  ab- 
geschlossen und  bietet  alle  Vorteile  und  Nachteile  seiner  Eigenart. 
Der  Hauptvorteil  ist  die  völlige  Unabhängigkeit  vom  Nachbar,  der 
Hauptnachteil  die  Begünstigung  der  unangenehmen  Winkel  und  engen 
Gänge,  wo  aller  Unrat  abgelagert  wird.  Im  Grofsgarten  baut  man 
Gemüse,  Kartoffeln,  Gras,  ein  wenig  Obst.  Der  Hof  räum  ist  zumeist 
vierteilig,  wie  der  fränkische.  Aber  der  vordere  Raum  ist  nur  selten 
mit  einem  Gebäude  besetzt,  sondern  wird  durch  das  Thor  ausgefüllt. 
In  der  Regel  bildet  die  ganze  vordere  Seite,  wenn  sie,  wie  bei  ärmeren 
Leuten,  nicht  ganz  offen  ist,  ein  Staket.  Der  erste  Teil  bietet  ein  Vor- 
haupt vor  dem  Giebel;  es  folgt  eine  Gatterthür  für  den  gewöhnlichen 
Eingang,  dann  die  breite  doppelteilige  Thorthür  und  dann  wieder 
Planke  oder  Staket;  der  letzte  Teil  ist  öfter  zu  einem  Schuppen  oder 
vierten  Haus  entwickelt  worden.  Statt  des  Vorderzauns,  der  übrigens 
um  das  ganze  Gehöft  geht,  haben  wohlhabendere  Wirte  einen  hohen 
Bretterzaun  mit  breitem  Thor  oder  eine  feste  Thormauer  errichtet. 

Treten  wir  durch  das  Thor  auf  den  meist  recht  freundlichen  Hof- 
platz, so  sehen  wir  drei  Hauptgebäude  (Abb.  111,  112),  zu  beiden 
Seiten  Wohnhaus  und  Stall,  vor  uns  die  Scheune. 

Das  Baumaterial  all  dieser  Gebäude  ist  bei  den  ältesten  Gebäuden 
Holz,  das  man  rund  oder  behauen  im  Gersafs-  oder  Füllholzstil  auf- 
einander fügte,  und  dessen  Fugen  man  mit  Lehm  und  Moos  band.  Beim 
Gersafsstil  ragen  die  Endschranken  in  russischer  Art  hervor,  die  feine 
Kunst  der  masurischen  Fügung  kennt  man  nicht.  Die  einstöckigen 
Gebäude  sind  mit  Schilf-  und  Strohschindel,  in  der  Oberlausitz  auch 
mit  Holzschindel  bedeckt.  Auf  dem  Bodenräume  mit  seinen  augen- 
förmigen  Fenstern  bewahrt  man  abgelegte  alte  Sachen.  Solche  Holz- 
häuser sind  keineswegs  selten.  Nach  dem  Holz  bediente  man  sich  des 
Lehms  und  der  Fachwerkfügung  als  Baumaterial.  Nicht  selten  sind 
ans  Holzhaus  noch  unter  Dach  Anbauten  aus  Fachwerk  gesetzt,  und 
man  hat  das  ganze  Haus  beworfen  und  getüncht,  die  Scheune  aber 
unbeworfen  gelassen.     Dem  Fachwerkbau  folgte  der  jetzt  allenthalben 


Hausbau. 


297 


gebräuchliche  Ziegelbau.  Es  kommt  häufig  vor,  data  auf  einem  Hof- 
raum eine  Lehmscheune,  ein  Wohnhaus,  halb  Gersais,  halb  Fachwerk, 
und  ein  steinerner  Stall  stehen.  So  verdrängt  auch  die  steinerne  Be- 
dachung die  Schindel,  aber  noch  heute  kann  man  im  Spreewald  Schilf- 
schindeldecker  in  Thätigkeit  sehen.  Bas  Schindeldach  ragt  meist  auf 
allen  Seiten  über  1/2m  vor,  so  dats  regenfreie  Gänge  ums  Haus  herum 


Abb.  111. 


+      K 

a  a  ad 


Abb.  112. 


Werbener  Hof  räume. 

A  Wohnhaus  (6  X  9  m),  B  Scheune,  C  Stall  mit  Speicher  darüber,  D  Schweine- 
stall, E  Werkstatt,  F  Schuppen,  G  Pumpe  (sonst  gewöhnlich  Ziehbrunnen),  H  Hof- 
raum (ohne  Düngergrube),  J  Arbeitsraum,  K  Vorgärtchen,  L  Hauptstrafse,  M  Seiten- 
strafse,  N  Abort,  0  Futterraum,  P  Schuppen.  —  a  Steinsäulen,  b  Holzsäulen  mit 
Dach  über  FJ,  c  Thore,  d  Holzthür  oder  Lattenthür,  e  Hausflur»  f  Wohnstube 
(f1  Ausgedinger),  g  Kammer,  h  Laube,  i  Holzstofs,  k  Reben,  1  Ulme. 

entstehen.  Auf  dem  First  ist  die  Strohschindel  mit  Holzwinkeln  oder 
ähnlichen  Strohbändern  oder  auch  mit  zwei  Latten  in  der  Länge  des 
Firstes  befestigt,  seitlich  schliefst  meist  ein  Giebelbrett  mit  Schindelzier 
ab.  Als  solche  herrschen  in  Sachsen  Stern,  Lindenblatt,  Reichsapfel, 
im  Spree wald  gekrönte  Pferde-  oder  Schlangenköpfe,  Hundeköpfe,  Quer- 
kreuze, bei  den  Katholiken  einfache  Kreuze  (Abb.  113  a.  f.  S.).  Bei 
seitlicher  Abschrägung  des  Daches  fehlt  die  Zier.  Die  Vorderenden  des 
Daches  werden  in  der  Niederlausitz  gern  durch  Weinstockgestelle  mit 
dem  Boden  verbunden.  Im  Zwischenräume  lagert  Holz,  auch  halten 
sich  hier  die  Hühner  auf. 

Die  Dreiteiligkeit  des  Wohngebäudes  ist  Regel.  Rechts  und  links 
vom  Hausflur  sind  Stuben,  die  häufig  in  Stube  und  Kammer  geteilt 
sind  (Abb.  114).  Merkwürdig  ist  der  seitliche  Anbau  von  kurzen, 
kleinen  Vorrats stuben ,  die  nur  bis  zur  Hälfte  des  Giebels  reichen.  In 
einigen  Fällen  bewohnte  diese  kleine  Stube  die  Mutter  der  jungen  Frau, 
die  entgegengesetzte  grofse  aber  das  Eltern  paar  des  jungen  Mannes.  — 
Weit  häufiger  aber  hatten  die  Ausgedinger  ihr  eigenes  Heim  auf  dem 
Hofraum,    entweder  im   Stallgebäude   oder  im   vierten  Hause   an   der 


298 


Die  Sorben. 
Abb.  113. 


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Giebelschmuck. 
1,  2,  6,  7  Zescha;    3,  8  Ralbitz;  4,  5,  13  Rotten;   9  Barg;   10  Rüben; 
11,  14,  15  Müschen;  12,  16,  17,  18  Werben. 

Abb.  114. 
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Werbener  Wohngebäude  (siehe  auch  Fig.  123,  8.  304). 
a  Hausflur,  ß  alte  Küche,  y  Stampfraum  mit  Küche,  d  Wohnstube  (Gersais)  des 
Besitzers  mit  o*'  Kammer,  6  Ausgedingerwohnung  mit  s1  Stampfkammer  und  i\  guter 
Stube  (Fach  werk).  £  Wohnstube  der  Mutter  der  jungen  Frau,  9-  Akazie,  x  Wein  stock 
und  Gang,  X  Holzscheitschicht,  (J.  Hofraum,  v  Nachbargehöft,  o  Weg,  £  Gemüse- 
gärtchen.  —  ab  3,4m;  bc  2,5m;  cd  6m;  dn  2m;  no  0,9m;  oe  0,65m;  ef  4,3m; 
am  4,2m;  fg  4m;  hg  3,7m;  mh  17,25m;  dk  6,7m.  —  A  Ofen,  B  Ofenbank, 
C  Glasschrank,  D  Kleiderlade,  E  Bett,  F  Kommode,  G  Tisch,  H  Stuhl,  I  Uhr,  K  Bilder 
(Kaiser,  Mato  Kofsyk),  L  Kleiderschrank,  M  Kamin  (jetzt  eingemauerter  Schrank), 
N  Sofa,  0  Wiege,  P  Topf  brettschrank,  Q  Köfferchen,  R  Topfbrett,  S  Stampftrog, 
T  Sommerofen,  ü  Brettständer,  V  Herd,  W  Schrank  mit  Topfbrett,  X  Bank,  Y  Korb, 

Stotz,  Z  Treppe. 


Hausinschriften.  299 

Giebelseite.  Dieser  letzte  Fall  tritt  z.  B.  beim  Geburtshause  des  Werbener 
Dichters  Mato  Kotsyk  ein,  das  vierte  Haus  bewohnen  hier  die  jungen 
Leute,  das  eigentliche  Wohnhaus  die  betagte  Mutter  des  sorbischen 
Dichters.  Den  Eingang  zu  wohlhabenden  Häusern  bildet  eine  Laube  mit 
Sitzbänken.     Über  der  Thür  stehen  fromme  Sprüche,  so  die  folgenden: 

Haussprüche. 

Den  3.  August  1848. 
Dies  ist  der  Tag,  der  eine  Nacht, 
Der  grofse  Not  für  uns  gebracht. 
Da  schlugen  um  uns  Feuerflammen, 
Die  unser  Hab  und  Gut  uns  nahmen. 
Doch  half  uns  Gott  aus  aller  Not 
Und  giebt  uns  unser  täglich  Brot. 

Werben,  Matys  Kosik. 

An  Gottes  Segen  ist  alles  gelegen. 
Durch  den  Brand  bin  ich  vernichtet 

am  19.  August  1890. 
Durch  Gottes  Hülfe  wieder  aufgerichtet 
den  15.  Juni  1891. 

von  W.  Neumann  durch  G.  Just  (Scheune  in  Werben). 

Gott  allein  die  Ehre. 
Gebaut  im  Jahre  1868. 

(Werben.) 

Allein  auf  Gott  setz  das  Vertrauen, 

Auf  Menschen  Hülf  sollst  du  nicht  bauen. 

(Schmogrow.) 

Gott  segne  deinen  Ein-  und  Ausgang. 

(Werben.) 

Gott  segne  unseren  Ein-  und  Ausgang. 

(Buben,  Thor.) 

Soli  Deo  Gloria.     Gott  allein  die  Ehr. 

(Buben,  Thor. 

Ich  habe  nicht  aus  Lust  gebaut, 
Die  Not  hat  mich  gezwungen. 
Auf  meinen  Gott  hab  ich  vertraut, 
Mir  ist  mein  Werk  gelungen. 
Das  Feuer  rifs  mich  nieder, 
Mit  Gott  erbaut  ich's  wieder. 

Im  Laubenvorbau  sitzen  vielleicht  plaudernd  die  Bewohner.  Wir 
bemerken  ein  festgenageltes  Hufeisen,  das  Glück  bringen  soll,  auf  der 
Schwelle.  Die  Hausthür  ist  noch  hier  und  da  doppelteilig,  das  Schlols 
nur  bei  ganz  alten  Häusern  ein  einfacher  Holzhebel.  Der  Hausflur  ist 
geräumig.  Vom  vorderen  Teile  führt  eine  Holztreppe  auf  den  wenig 
benutzten  Bodenraum.  Der  hintere  Teil  fafst  den  alten  breiten  Herd, 
der  aber  jetzt  meist  durch  moderne  Öfen  ersetzt  ist,  so  data  diese  Küche 


300  Die  Sorben. 

kaum  als  Trocken-  oder  Räucherkammer  dient  und  vielleicht  in  einer 
hinteren  Abteilung  als  Stampfraum  mit  Sommerofen  gebraucht  'wird. 
Zur  Linken  des  Flurs  wohnen  die  jungen  Leute.  Der  Thür  gegenüber 
führt  eine  zweite  zur  Stube  der  Mutter  der  jungen  Frau.  Neben  dieser 
Thür  sieht  man  Glasschrank,  Kleiderlade,  Uhr,  Bett,  an  der  Vorderseite 
aufaer  Glasschrank  noch  Kleiderschrank  und  Kommode,  vor  dieser  den 


Bemalte  Thonteller 

(Nach  Schmidt,  Sejffi 


dem  Museum  für  sächsische  Volkskunde. 
DOiel:    Sächsische   VolkatnchlCD  nnii  Bsueruhäu 
Taf.  27,  111.     W.  Hoffmssn,  Dresden  1897.) 


festen  Tisch  mit  Stühlen,  an  der  Flurseite  steht  rechts  nur  der  grofse 
Kachelofen  mit  Ofenbank,  der  zugleich  für  die  alte  Küche  und  die  an- 
stofsende  Kammer  berechnet  ist.  Der  Kamin  mit  seinem  Kessel  und 
Kesselbaken  ist  in  einen  eingemauerten  Schrank  verwandelt  worden. 
Abb.  117. 


Die  Kammer  birgt  u.  a.  Bett,  Wiege,  Topfschrank,  Tisch  mit  Stuhlen, 
Topfbrett  (vgl.  Abb.  115  und  116).  Die  an  der  Decke  befindliche,  bei 
Letten  und  Philipponen  gebräuchliche  Hangewiege,  an  deren  Stelle  bei 
der  Feldarbeit  draufsen  ein  grofses  Tuch  tritt,  soll  auch  wohl  hier  und 
da  vorkommen.  Sonst  sieht  man  noch  das  Gestänge  vor  dem  Ofen  zum 
Trocknen,  Spinnrad  und  Lischke  oder  Kober,  Tragkorb  oder  Kiepe,  in 


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Za  Seite  »00. 


Abb.   115. 


Hansgerftte  aus  dein  wanäfsohen  Volkonuaeuin  in  Bautaan. 

(Nach  Schmidt,  Seyffert,  Sponsel:    Sächsische  Volkstrachten  und  Bauernhäuser, 

Taf.  27  I.     W.  Hoffmann,  Dresden   1897.) 

a  Wandschränkchen  mit  wendischer  Volksornamentik  vom  Jahre  1668  ans  dftr  Parochie 
Krottwita  hei  Kloster  Marienstern.  b  Bild,  aus  Papierstoffen  snaaminengeseist. 
c  Kinderspinnrad,  d  Stuhl,  geschnitxl  ho  Jahre  1835  romvauer  Nepila  in  Rohoe 
hei  Schleife;  darauf  Rock,  e  Feststoek  mit  Schleife,  f  ßorleostock.  g  Thöneroe 
Banernfeldfl  stehe  mit  Ösen  »am  Traggurt,    h  Hejka  xnr  Verkündigung  von  Sfcerbefalien. 


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ütjc  Jit  Muttor  ilpr  jungen  Frau.  Neben  itle^r 
rank,  Kleiderlade,  Uhr.  Bett,  an  der  Vorderseite 
■   KU-i'lei'Eü'lu'n.iik  und  Kommode-,  vor  dieser  dt-:: 


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soll  auch  wohl  hier 

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Gemeindestock.  301 

Schulzenhäusern  den  halbvergessenen  Schulzenstock,  der  sich  nicht  von 
dem  bei  den  Tschechen  erwähnten  unterscheidet,  un<J.  den  Gemeinde- 
stock, der  gleichfalls  meist  nur  noch  vom  Hörensagen  her  bekannt  ist. 
In  fünffacher  Form  ist  er  zu  finden,  als  Hammer  (Elapatz),  Hammer- 
keule (Hejka),  Haken  (Kokula),  Kegel  und  Tafel.  Diese  Stücke  werden 
mit  einem  Schreiben  des  Schulzen  versehen  und  von  Nachbar  zu 
Nachbar  weitergegeben.  Jetzt  freilich  geht  meist  ein  Bote  mit  dem 
Schreiben  allein  herum,  oder  es  wird  vor  jedem  grösseren  Gebäude  mit 
einem  Glöckchen  geläutet  und  dann  die  Bekanntmachung  vorgelesen. 

Der  Hammer  (Klapatz)  tritt  in  mehrfacher  Form  auf.  Statt  des 
vierseitigen  Hammerstücks  kann  auch  ein  eiförmiges  verwendet  werden. 
In  Schmogrow  waren  bis  etwa  1890  vier  der  letzteren  Hämmer  ge- 
bräuchlich. Das  Ei  war  10  cm  lang  und  halb  so  breit  und  dick;  es 
war  in  der  Längsachse  so  geteilt,  dals  auf  die  gestielte  untere  Hälfte 
die  obere  aufgeschraubt  werden  konnte.  Zwischen  Band  und  Stiel 
wurde  das  Schriftstück  eingelegt  (vgL  Abb.  117  a,  b). 

Die  Hammerkeule  (Heja,  Hejka)  weist  in  ursprünglicher  Form 
nur  einen  grofsen  Hammer  auf.  Man  zeigte  mir  in  Schmogrow  einen 
Holzhammer,  dessen  Schlagstück  ein  V4m  langes  Klotzstück  und  dessen 
Griff  über  1  m  lang  war,  als  Hejka.  Im  Klittener  Kirchspiele  wird  als 
Hejka  ein  kurzer  Stock  mit  kugelartigem  Ende  benutzt.  Ist  die  Kugel- 
endung umgebogen,  so  ähnelt  der  Stock  einer  Pistole  (vgl.  Abb.  115  h 
und  117  c). 

Als  Haken  (Kokula)  zeigte  man  mir  einen  grofsen  Feuerhaken, 
der  bei  Feuersbrünsten  in  Thätigkeit  war.  Er  würde  als  Gemeindestab 
am  ehesten  der  litauischen  Kriwule  zu  vergleichen  sein  (Abb.  117  d). 

Der  Kegel  (Pupa)  ist  in  einzelnen  Dörfern  des  Klittener  Kirch- 
spiels an  Stelle  der  vorigen  drei  Gemeindestäbe  getreten.  Es  ist  ein 
flacher  Kegel  vom  Kegelschub  (Abb.  117  e). 

Die  gestielte  Holztafel  (Tafla),  auf  die  Bekanntmachungen  auf- 
geklebt werden,  gleicht  einer  einfachen  Schiefertafel  (Abb.  117  f). 

Neben  den  Gemeindestäben  sah  ich  die  l1/*111  langen  Schulzen- 
stäbe meist  nur  in  der  Bumpelkammer.  Gelbe  oder  braune  Bohr- 
stöcke mit  Messing-  oder  Neusilberknöpfen  tragen  die  Gravur:  „ Ge- 
meinde (Gurhow).a     (Vgl.  Abb.  99,  S.  264.) 

Als  besondere  Teile  des  Wohnzimmers  sind  in  manchen  Gegenden 
eine  durch  ein  Trittbrett  erhöhte  Zimmerecke  und  die  Hölle  zu  betrachten. 
In  kleinen  Häusern  hausen  in  der  Hölle  vielleicht  die  Altsitzer,  deren 
Los  sich  seit  jenen  Zeiten,  da  man  sich  ihrer  auf  gewaltsame  Weise 
entledigte,  denn  doch  etwas  verbessert  hat;  im  allgemeinen  ist  der 
Bauer  aber  der  Anschauung:  „Wer  nicht  mehr  arbeiten  kann,  ist  unnütz 
für  die  Welt."  In  Max  Bittrichs  Spreewaldgeschichten  ist  denn  auch 
dieser  Gedanke,  wie  der  der  „berechnenden  Ehen",  wiederholt  zum 
Ausdruck  gebracht  worden.  —  (Gehöfte,  siehe  Abb.  118  bis  121.) 

Das  zweite  Hauptgebäude,  der  Stall,  liegt  dem  Wohngebäude  in 


den    meisten    Fällen    gegenüber    (vgl.  Abb.  123).      Der  gebräuchliche 

Name  „Stall"  ist  nicht  ganz  zutreffend.    Weit  eher  könnte  er  Speicher 

genannt  werden,    und  mir  acheint  sicher,    data  der  Stall  erat  später 

Abb.  119. 


Haus  in  Burg  mit  gebrochener  Ecke  und  mit  „Gang*. 
(Nach  Photographie  »011  Steffen-Burg.) 

mit  dem  Speicher  vereint  worden  ist,  wie  in  Litauen.  Die  alten 
hölzernen  Stallspeicher  werden  rar  (Abb.  122  a.  f.  S.).  Sie  bestehen 
ans  einer  ganzen  Kammerflucht ,  wie  der  litauische  Speicher.  Da 
finden  sich  Gelasse  in  folgender  Reihe:  Waschraum  mit  Kessel,  Back- 
raum mit  hinten  angebautem  Backofen,  Schlafraum  und  Kammer  der 
Magd,    Futterraum    für  Gras   und    Klee,    Raum   für    ein    paar   Kühe, 


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Stall  Speicher.  303 

Milchraum,  Wirtschaftsr  au  in.  Jedes  Geists  besitzt  eine  Thür,  der  Wohn- 
raum auch  ein  ordentliches  Fenster,  die  anderen  haben  manchmal 
kleine  Gucklöcher.  Eine  offene  Treppe  führt  von  aufsen  nach  dem 
Stockwerk,  dessen  Zierde  der  vorragende  Lauben gang  ist.  Die  schön 
geschwungenen  Kreuze  zwischen  den  beiden  Querbalken  stechen  dem 
Beobachter  besonders  in  die  Augen.  Auf  dem  Gange  ist  eine  Stange 
zum   Aufhingen   und  Trocknen  nasser   Sachen  befestigt      Durch  die 


Stall  und  Speicher  mit  „Gang"  in  Burg.    (Such  Pbotogr.  v.  Steffen-Borg.) 

Kranze  steckt  man  im  Sommer  Heu  und  Stroh,  denn  der  obere  Boden 
dient  zur  Aufbewahrung  von  beiden,  sowie  zum  Trocknen  und  Auf- 
bewahren des  Getreides.  An  der  Giebels eite  ist  wohl  noch  eine 
Hühnerstiege  nnd  ein  Taubenschlag  angebracht,  sonst  bevorzugt  man 
als  Taubenschlag  die  Dachvorsprünge.  Das  Dach  hängt  auf  der 
hinteren  Seite,  die  keinen  Stock  bat,  natürlich  viel  weiter  herunter. 
Der  obere  Giebel  erhält  ein  hobsches  Aussehen  durch  die  diagonal  ge- 
legten Bretter. 

Die  neuen  steinernen  Stallspeicher  unterscheiden  sich  nur  insofern 
von  den  alten,  als  sie  ein  geräumigeres  Erdgeschols,  keinen  Lauben- 
gang nnd  nur  einen  halben  aufgebauten  Stock  haben.  Dieser  dient 
demselben  Zwecke:  der  Aufnahme  von  Heu,  Stroh  und  Getreide.  Ganz 
schmucke  Wohnstuben,  sogar  mit  Laubenvorbau,  für  den  Altsitzer  auf 
der  einen  Seite,  für  Knecht  oder  Magd  in  der  Mitte,  sehr  reinliche 
Stall-  und  Wirtschaf  tarauine  machen  das  Gebäude  zu  einem  zweiten 
Wohnhause.  An  den  Stallspeichern  wohlhabender  Bauern  fehlt  auch 
die  Hausinschrift  nicht,  wie  z.  B.  in  Werben: 


304 


Die  Sorben. 


Wir  sind  hier  fremde  Gäste, 
Und  bauen  alle  feste 
Durch  Gottes  Hülf  und  Schutz 
Preisen  wir  mit  Herz  und  Mund. 

Gebaut  im  Jahre  1892 


Die  Düngergrube  fehlt, 
den  Dünger  sofort  aufs  Feld. 

Abb.  123. 


M.  H. 
Man  schafft  in  Werben  und  Umgegend 


Abb.  124. 


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Werbener  Gehöfte. 
Abb.  123.  Zum  Wohngebäude,  Abb.  114.  —  Abb.  124.  Aus  dem  Großbauern  viertel. 

a  Nachbargehöft ,  b  Dorfstrafse ,  c  Hofraum ,  d  Wohngebäude ,  e  Schweinestall, 
f  Stallspeicher  (Räume  zum:  1.  Waschen,  2.  Backen;  3.  Aufenthalt  der  Magd, 
4.  Futterraum,  5.  Kühe,  6.  Milchraum,  7.  Pferde,  Bodenspeicher),  g  Scheune  (Lehm- 
fach mit  Schindel  und  Feuerleiter)  mit  Häckselkammer  und  g'  Schuppen,  h  Abort, 
daneben  Holzstofs,  i  niedere  Räume  für  Holz  und  Kohle  und  Käsebereitung,  k  Gemüse- 
gärtchen,  1  Ziehbrunnen  mit  Tränke,  m  grofser  Gemüsegarten  mit  Kartoffelbeeten, 
Wiese  und  Bäumen,  so  lang  und  breit  als  der  Hofraum  (viermal  so  lang  als  das  Haus 
und  zwei-  bis  dreimal  so  breit),  n  Bank,  o  Akazie,  p  Ausgedingerhaus ,  q  Einfahrt, 
r  Backofen  (Lehmfach,  Ziegeldach),  s  Dengelstock,   +  +  +  Zaun. 

Das  dritte  Hauptgebäude  liegt  oft  parallel  zur  Stratse  und  schliefst 
den  Hof  räum  ab:  die  Scheune.  Häufig  ist  noch  die  alte  breite  Lehm- 
scheune, an  deren  Seite  ein  Wagenschuppen  mit  Häckselkammer  angebaut 
ist.     Skelette  von   Habichten   sind   am  Thore   zu  sehen.      Der  Bauer 


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Gehöft.    Kleidung.  305 

will  der  Vogelwelt  verkünden,  welch  Gericht  er  über  Übelthäter  an 
seinem  Hab  und  Gut  hält.  Angenagelte  Scheiben  verkünden  ein  Lieb- 
lingsspiel der  jungen  Sorben.  Seitlich  angebaut  an  die  drei  Haupt- 
gebäude, oder  auch  einzeln  auf  dem  Gehöft  stehend,  finden  sich  nun 
meist  noch  eine  Menge  kleiner  Räume,  so  die  Schweineställe.  Schräge 
oder  aufrechtstehende  Kreide-  oder  Teerkreuze  sollen  den  Bösen  fern- 
halten. Dann  finden  sich  auf  dem  Hofraume  noch  der  Ziehbrunnen, 
der  Hundestall,  der  Abort,  ein  Holz-  und  Eohlengelafs ,  ein  Gemüse- 
gärtchen  u.  a.  Da  Dünger  selten  seitlich  oder  hinter  dem  Stalle  liegt, 
macht  der  grüne  Hofraum,  wenigstens  in  der  Niederlausitz,  meist  einen 
recht  freundlichen  Eindruck,  der  noch  erhöht  wird  durch  die  reinen 
und  schönen  Wirtschaftsgegenstände  an  Haken,  auf  Bänken,  Holz- 
schichten, Zaunstangen. 

Aufser  dem  Werbener  Gehöftgrundstück  (Abb.  114,  123)  aus  dem 
Kockol viertel  will  ich  ein  zweites  rechteckiges  Gehöft  aus  dem  Grofs- 
bauernviertel  beschreiben  (Abb.  124).  Es  reicht  vom  Dorfanger  zu 
einem  Dorf  weg,  hat  also,  wie  fast  alle,  zwei  Zugänge  und  grenzt  an 
beiden  Seiten  ohne  Zwischenraum  an  andere  Güter.  Die  Angerseite  ist 
etwa  35  m,  die  anstofsende  über  doppelt  so  lang.  Es  folgen  an  der 
Angerseite  7,5m  Planke,  3m  Thor-  und  Im  Pforteneingang,  5,5m 
Ausgedingerhausbreite ,  4,5  m  Gatter,  3  m  Gatterthor  und  10,5  m 
Gartengatterthor.  Thoreingang,  Pforte  und  Ausgedingerhaus  bilden 
ein  Gebäude,  wir  haben  hier  einen  jener  stattlichen  Thoreingänge  vor 
uns,  die  der  Strafse  zugekehrt  sind.  Vom  Altsitzerhause  lugt  nur 
ein  Fensterchen  nach  dem  Anger.  Thür  und  Hauptfenster  gucken 
nach  dem  Hofe.  Das  Auszüglerhaus  ist  5,5 . 4  m  grols  und  bildet 
den  Eingang  zu  einem  16  m  tiefen  Gemüsegarten.  Eine  Gartenthür 
führt  in  den  eigentlichen  Hof;  zu  dessen  linker  Seite  befindet  sich 
das  Wohnhaus ,  an  das  sich  ein  langer  Holzraum  mit  vorliegenden 
Rartoffelbeeten  anschliefst.  Gegenüber  sieht  man  den  Stall  mit 
Abteilungen  für  die  Pferde,  Kühe,  den  Häcksel,  die  Wagen,  die 
Schweine;  ein  halber  aufgebauter  Stock  dient  als  Speicher.  Den 
Abschlufs  bildet  die  Scheune,  die  gleichlaufend  zum  Altsitzerhaus, 
nur  am  anderen  Ende  der  Besitzung  liegt.  Zwischen  dem  Ende  des 
Holzraumes  und  des  Stalles  liegt  inmitten  des  Hofes  der  Backofen. 
Vor  dem  Wohnhause  blühen  Nuls-,  Apfel-,  Birn-,  Kirsch-,  Pflaumen- 
bäume. Unter  einem  Birnbäume  liegt  ein  mit  Dengeleisen  versehener 
Stein.  Gegenüber  der  kleinen  Halbstube  sieht  man  einen  Schleifstein 
und  den  Ziehbrunnen.  Das  Wohnhaus  im  Gersafs  ist  beworfen  und 
hat,  wie  die  Lehmscheune,  Schindeldach.  Der  Stall  ist  steinern,  das 
Backofendach  gleichfalls. 

m.     Kleidung. 

Die  Männer  tragen,  soweit  sie  nicht  die  wechselnde  Volksmode 
mitmachen,  zum  Kirchgang  einen  schwarzen,  bis  zu  denKnieen  reichen- 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  20 


306  Die  Sorben. 

den  Scbolerook,  dessen  Schölse  faltig  angereiht  sind.  Ältere  Leute 
haben  einen  langen  blanen  Feldrock  mit  Schoteen,  die  weit  übers  Knie 
herunterreichen.  Der  zur  Feldarbeit  benutzte  Rock  ist  etwas  kürzer 
und  sieht  grau,  schwarz  oder  blau  ans;  die  kurze  Joppe  ist  aber  ebenso 
häufig.  Die  Hosen  zur  Arbeit  sehen  weils,  die  zum  Kirchgang  schwarz 
aus.  Die  hohen,  dachlosen,  verbrämten  Mützen  der  älteren  Zeit,  die 
Sack-  oder  Pudelmützen,  sind  schwarzen  Dachmützen  und  runden, 
weichen  Hütchen  gewichen,  der  Cylinderhnt  findet  bei  Kirchgängen  und 
Festlichkeiten  Verwendung.  Bei  Feldgängen  geht  man  barfufs,  neuer- 
dings bevorzugt  man  Holzpantoffeln  und  bei  schlechtem  Wege  tüchtige 
FeldstiefeL  Das  Gesiebt  ist  glattrasiert  Ein  dunkles  Halstuch,  am 
Sonntag  über  einem  weilseu  Vorhemd,  vorvollständigen  den  Kleider* 
schmück.  Unten  zugebundene  Lederhosen,  Pumphosen,  Kniestrümpfe, 
Schnallenschuhe  trifft  mau  kaum  mehr  (Trachten  siebe  Abb.  125). 
Abb.  126. 


Sorbische  Tracht  am  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  (Nach  Anton  r/83.) 
Die  Frauentracht  ist  so  mannigfaltig,  dafs  der  Plan  unseres 
Werkes  eine  ausführliche  Betrachtung  nicht  gestattet.  Die  Unter- 
schiede sind  zunächst  historischer  Art.  Was  Parum-Schulze  von  den 
Polabeu  getreulich  berichtet,  nämlich  die  Modenänderung  in  gewisses 
Zeiträumen,  würde  auch  bei  den  Sorben  aufzuführen  sein.  Ehemals 
trug  man  wollene  Obergewänder  und  linnene  Unterkleider  und  bezog 
im  nennten  Jahrhundert  die  besseren  Wollstoffe  aus  Sachsen,  webte 
aber  die  Leinwand  selbst.     Vor  der  Zeit  Augusts  des  Starken  rügte 


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Tracht.    Plachta.  307 

man  schon  den  Luxus,  den  die  Sorben  mit  kostbaren  Hutbändern  und 
Hutfedern,  Halsbändern  und  Korallen,  Kopfbändern  und  verbrämten 
Stulpenstiefeln  trieben.  Zur  Zeit  Jenes  Königs  war  die  Frauentracht 
im  groben  und  ganzen  der  heutigen  ähnlich,  nur  die  schmalere  Schürze 
nicht;  sie  trat  oft  in  der  Form  der  Latzschürze  auf.  Die  Strumpfe 
sahen  rot  aus.  Unterm  Arm  trug  die  Kirchengängerin  ein  grofses 
weifses  Tuch,  oder  sie  nahm  es  um.     Vgl.  auch  Abb.  125  bis  128. 

Die  heutige  Tracht  ist  nach  den  Lebensaltern  verschieden.  Das 
Kind  trägt  bunt-,  die  Jungfrau  mehr-  und  hellfarbig,  die  Frau  etwas 
dunkler,  die  alte  Frau  braun  und  schwarz.  Niemand  übt  Aufsicht, 
keiner  verwehrt  die  Abweichung;  aber  es  wäre  jede  gerichtet,  die  sich 
der  stillschweigenden  Ordnung  nicht  fügen  wollte.  Wie  die  Sperlinge 
den  mit  einem  Hütchen  geschmückten  Genossen,  wie  die  Rehe  den 
weifsfarbenen  Kameraden,  so  würden  die  Sorbinnen  die  behandeln, 
„die  anderB  sein  wollte".  Für  Individualitäten  hat  ja  ein  Bauern volk 
nur  in  beschränktem  Malse  Raum. 

Das  Linnenhemd  ist  kurzärmelig,  bei  Festhemden  mit  Spitzen 
verziert.  Ein  oder  mehrere  dicke  Unterröcke  bewirken,  wenigstens 
bei  den  Jungfrauen,  dafs  der  untere  Teil  einer  Glocke  gleicht.  Der 
oberste  Rock  ist  vielfaltig  und  reicht  nicht  ganz  bis  an  die  Knöchel. 
Zu  hohen  Festen  wird  als  Oberrock  ein  Staatsrock  von  einfarbiger 
heller  Seide  verwendet,  grau,  rot,  blau,  gelb.  Unten  aber  ist  der  Rock 
mit  einem  farbigen  breiten  Muster  von  ziemlicher  Schönheit  geziert. 
Die  Frau  trägt  dunklere  Stoffe  mit  schmaleren  Mustern,  die  Aus- 
gedingerin  einen  einfachen  schwarzen,  nichtbauschigen  Rock.  An 
Sonntagen  sind  wollene  Röcke  gebräuchlich,  die  Farben  sind  gedämpfter, 
an  gewöhnlichen  Tagen  fehlt  die  Bauschung.  Den  Rock  umschlierst 
fast  ganz  eine  anders-  aber  einfarbige  Seiden  schürze ,  an  Sonntagen 
haben  die  Mädchen  weifte,  mit  Spitzen  verzierte  Leinenschürzen,  die 
Frauen  schwarze.  An  Wochentagen  sieht  man  nur  blaue  oder  schwarze 
Schürzen. 

Ein  ärmelloses  schwarzes  Sammetmieder  tragen  Frauen  und 
Mädchen,  darüber  ein  hellfarbiges,  mit  Stickereien  verziertes  Busen- 
tuch, dessen  Farbe  mit  der  Schürze  meist  übereinstimmt,  an  Wochen- 
tagen ist  das  hellfarbige  Tuch  schmuckloser.  In  kühleren  Tagen  ziehen 
sie  ein  Jäckchen  an. 

Die  Farbe  der  Strümpfe  ist  jetzt  die  schwarze,  nur  beim  Tanz 
herrscht  die  weifse. 

An  Stelle  der  weit  ausgeschnittenen  Sonntagsschuhe  tritt  an 
Wochtentagen  der  Pantoffel,  am  liebsten  aber  gar  nichts. 

Das  Umhängetuch,  die  grofse  weifse  Plachta  (Abb.  125a,  128, 
134),  ist,  wie  bei  den  Slowinzinnen ,  in  den  letzten  Jahrzehnten  fast 
überall  verschwunden.  Nur  die  katholischen  Obersorbinnen  haben 
noch  bei  gewöhnlichen  Festen  die  kleine,  tischtuchgrofse  und  bei  be- 
sonderen Festen  die  an  den  Rändern  mit  Mustern  oder  Spitzen  ver- 

20* 


Eierte   groCse    Plnchta.      Beim   Kirchgang   hat   die   Sorbin   aulser   dem 

Gesangbuch  ein  paar  stark  riechende  Blüten  und  Blätter  in  der  Hand. 

Abb.  128. 


Sorbische  Trauertracbt,  am  12.  Juni  1782,rin  Muskau. 
(Nach  Lenke  1785.) 
Leske  138:  Nichts  ist  einfacher  and  auch  wohl  nichts  der  Natur  der 
Sache  gemälser  als  die  Trauer  der  Wendinnen.  Sie  hüllen  sich  ganz  und 
gar  in  ein  weiTses  leinenes  Tuch,  oft  verhüllen  sie  das_  ganze  Gesicht,  dali 
man  nichts  als  Augen  und  Nase  gewahr  wird;  der  übrige  Anzug  bleibt  unter 
diesem  Tuche  der  gewöhnliche. 

In  den  Händen  älterer  Frauen  befindet  sich  der  grobe  halbkugel- 
förmige Familien  regen  schirm.  Der[Mann  wird  an  gewöhnlichen  Tagen 
kaum  ohne  aeine  Tabakspfeife  gesehen. 


Kopfschmuck.  309 

Am  eigenartigsten  ist  die  Kopfbedeckung  (Abb.  125  bis  133), 
deren  Faltung  so  verschiedenartig  ist,  dafs  Kenner  nicht  nur  das  Dorf 
oder  Kirchspiel,  sondern  auch  die  Lage  erkennen  wollen,  in  der  eich 
die  Trägerin  befindet,  ob  sie  Traner,  Halbtrauer,  Patenschaft,  Kirchgang, 
Abendmahl,  Konfirmation  etc.  vorhat  Das  Kopftuch  wird  um  einen 
Abb.  129. 


Pappstreifen  gewunden,  der  dem  Kopfe  angepafst  ist,  und  durch  unter- 
gelegtes Papier  versteift.  In  der  Niederlausitz  wird  dag  Tuch  meist 
so  gefaltet,  dafs  ein  Zipfel  des  glatten  Fünfecks  auf  den  Racken  fällt, 
während  die  gegenüberliegende  obere  Seite  rechts  und  links  Schmetter- 
lings Bügelähnlich  endet.  (Vgl.  besonders  Abb.  144,  145,  S.  336  f.)  Ein 
Dutzend  Nadeln  halten  das  Gebäude  am  Haar.  Man  erzählt,  dafs  manche 
Burger  Bräute  243  Nadeln  zur  Befestigung  des  zusammengesetzteren 
Brautschmuckes  brauchten.  „Die  Affen!"  sagte  eine  Werbenerin.  Das 
Staatstuch  der  Jungfrauen  und  der  Kinder  ist  aus  Seide,  prachtvoll 


310  Die  Sorben. 

gestickt  oder  gemustert,  mit  feinen  Spitzen  versehen  und  —  bis 
50  Mk.  teuer.  An  gewöhnlichen  Festtagen  herrscht  das  weifse  Kopf- 
tuch allenthalben,  nur  die  Spitzenbesätze  erhöhen  oder  vermindern  den 
Wert.  Der  breite  Hupatz  (Abb.  132,  133)  der  Taufpatinnen  und 
Kirchengängerinnen  hat  sich  in  der  Burger  Gegend  besonders  erhalten. 
Zur  Feldarbeit  wird  ein  beliebiges  farbiges  Tuch  gefaltet.  Aber  bei 
jeder  Angelegenheit  hat  Kind,  Jungfrau,  Frau,  Greisin  in  Schule  und 
Kirche,  in  Haus  und  Feld  das  Tuch  auf  dem  Kopfe.  Einen  eigen- 
artigen Eindruck  ruft  ein  Kirchenschiff  am  Sonntag  hervor,  wenn  die 
weilsen  Fünfecke  monoton  auf  den  unbeweglichen  Gestalten  in  langen 
Reihen  angeschichtet  sind. 

Im  Verschwinden  ist  eine  ältere  Kopftuchfaltung.  Es  gesellten  sich 
nämlich  zum  Fünfeck  noch  besonders  eine  breite,  enggefältelte  Hals- 
krause und  zwei  weifse  lange  Tuten  am  Hinterkopf  in  der  Richtung 
der  Arme.  —  Die  Braut  trägt  noch  grünen  Rautenschmuck,  die  Braut- 
jungfer bunten  (Abb.  125  2,10,11,  130,  132,  133).  —  Das  ist  in  der 
Hauptsache  der  Kleiderschmuck  in  der  Gegend  von  Burg  und  Werben. 

In  der  Hoyerswerdaer  Gegend  herrscht  eine  Art  Fes  (Abb.  129) 
als  Kopfschmuck,  in  der  katholischen  —  wie  im  hannoverschen  Wend- 
lande —  eine  übers  Gesicht  vorstehende  weifse  Haube.  Auch  weifse 
Kopfbänder  sind  in  Teilen  der  Oberlausitz  Mode.  Pelzbesatz  bevorzugt 
die  Sorbin  von  Schleife;  daselbst  haben  auch  die  Ostersängerinnen 
einen  eigenen  Kopfputz  (Abb.  125  u  bis  19). 

IV.     Götter  und  Geister. 

Die  früheren  Geschichtschreiber  geben  den  slawischen  Völkern 
eine  grofse  Reihe  von  Göttern,  den  Sorben  den  schwarzen  Gott  oder 
Tscjiernebog,  den  weilsen  Gott  oder  Bielebog,  den  Swantowit, 
Triglaf  und  Radegast,  den  donnernden  Perkun  und  den  frag- 
würdigen Flins,  welchen  Karl  Haupt  mit  dem  Pilwitz,  dem  Korndämon, 
gleichstellt.  Schiwa  und  Liuba,  von  der  die  Stadt  Lübben  den 
Namen  haben  soll,  waren  Liebesgöttinnen,  Propilaga  das  männliche 
Abbild  der  Schiwa.  Die  Weisheitsgöttin  Pro we,  der  mit  Schwertern  aus- 
gerüstete Ragowiz,  der  Herdengott  Honidlo  und  Jutra,  die  sorbische 
Aurora,  die  löwenähnliche  Todesgöttin  Pya  und  Morzana,  deren  Bild 
die  Strohpuppe  zu  Lätare  sein  soll,  der  fünfköpfige  Pierowiz,  das 
Erbsengespenst  Traschadlo  und  andere  Gottheiten  sind  dem  Volks- 
glauben der  Sorben  entschwunden,  wenn  sie  überhaupt  zum  Götter- 
himmel gehörten.  Die  von  Schmaler  erwähnten,  Wreginy,  Serenje, 
Bambor,  Mera,  Lado,  waren  überall,  wo  ich  fragte,  unbekannt. 
Bludzisch,  Bud  oder  Bludnik  (Irrwisch),  Hober  (Riese),  Wichor 
(Wirbelwind),  Paltschik  (Däumling),  Plön  (Drache),  Khodojta 
(Hexe),  Raws  (Unhold)  und  den  Wechselbalg  genannten  Idioten 
entkleidete  man  überall  ihres  gespenstigen  Wesens,  doch  meinte  man,  der 


Götter  und  Geister.  311 

Bad  sei  imstande,  ein  Fuhrwerk  des  Nachts  aufzuhalten.  Wenn  man 
nach  ihm  schlage,  sterbe  ein  Pferd;  der  Plön  aber  bringe  als  feuriger 
Luftdrache  Geld.  Smij  sei  jedoch  nur  eine  gewöhnliche  Schlange.  Ob 
ein  Schlangenkultus  stattfand,  wie  bei  den  Litauern,  ist  nicht  zu  er- 
mitteln gewesen.  Plön  und  Trach  aber  haben  wohl  in  den  feurigen 
Naturerscheinungen,  wie  Blitz  und  Meteor,  einen  Rückhalt;  und 
Djas,  der  Böse  (Tsart,  Dunder),  geht  wohl  auf  den  biblischen 
Diabolos  zurück.  Wie  bei  den  Deutschen  lebt  jedoch  fest  der  Glaube 
an  eine  Reihe  geiBtartiger  oder  koboldischer  Wesen.  Der  schwarze 
Mann,  das  Gespenst  schlechthin,  heifst  Bubak  oder  Mumak  (Papitz). 
Wenn  man  die  Kinder  erschrecken  will,  sagt  man  „der  Mumak 
kommt tt.  Das  scheint  wie  in  Sachsen  mit  dem  Graumännchen  zu 
sein,  wo  man  beim  Spaziergang  mit  einem  Kinde,  das  man  mit  ver- 
schränkten Händen  führt,  so  singt:  „Wir  wolln  ein  Stück  spazieren 
gehn,  ob  wir  das  graue  Männel  sehn;  hat  eins  geschlagen,  kommt 
immer  noch  nicht,  hat  zwei  geschlagen,  kommt  immer  noch 
nicht  (u.  s.  w.),  hat  zwölf  geschlagen,  jetzt  kommt's/  Dann  dreht 
man  sich  um  und  flieht.  Wie  sich  dem  Deutschen  der  Alp  auf 
die  Brust  legt,  so  dem  Sorben  die  Murawa.  Auf  den  Rücken  setzt 
sich  der  Aufhocker.  In  Papitz  ging  in  der  Nacht  ein  Mann  mit 
seiner  zweiten  Frau  beim  Gottesacker  vorbei  und  dachte:  „Wenn 
doch  die  erste  noch  einmal  käme!"  Da  setzte  sich's  ihm  auf  den 
Rücken,  dafs  er  nur  mit  Mühe  nach  Hause  kommen  konnte.  —  Nacht- 
jäger, Nachtfuhrmann  und  wilde  Jagd  schrecken  den  Sorben  in  der 
Nacht  mit  Hallo  und  Hussaschrei,  „man  soll  sich  nicht  hinlegen,  wo 
sie  ihren  Strich  haben a.  Die  Jagdgöttin  Dziwica  (vgl.  die  slowinzische 
Bjeledsevdscha)  und  die  weilegekleidete  Bozalosc  (boze  sedlesko)  zeigen 
sich ,  „  wenn's  in  der  Luft  heult  und  klagt u ,  die  letztere  wimmert  an 
Gräbern  Ermordeter,  wenn  Unglück  naht.  Es  lebt  auch  der  Glaube 
an  den  Kobold,  den  Basilisk,  die  Krankheitsgöttin  Mara,  den 
Tschary  („wo's  scheucht"),  die  Smjerkawa  (Dämmerungsgespenst), 
den  Krautpopel  Serponitza  (Serpobaba,  Scherpaschia) ,  den  ein- 
schläfernden Herrn  an  und  dessen  weibliches  Gegenstück  Drjanotka, 
an  den  Wassernix  und  den  Kornmann,  der  die  Kinder  aus  dem 
Getreide  scheucht,  sowie  an  die  Smertnitza,  die  sich  drei  Tage  vor 
dem  Tode  anmeldet.  Am  meisten  erzählt  man  von  den  Leutchen 
(Ludki).  Das  sind  die  in  den  Ecken  und  Ritzen  hausenden  hilfsbereiten 
Heinzelmännchen.  Sie  sind  gutmütig,  nur  nicht  gegen  die  Geizigen. 
Verschiedene  beschreiben  sie  verschieden.  Rote  Mützchen  sollen  die 
flinken  Leutchen  besitzen  und  in  Schlupfwinkeln  wohnen.  Nach  des 
Albinus  Meilsnischer  Bergchronika  1589  glaubten  die  Sorben  beiLübben, 
die  Grabesurnen,  die  man  damals  noch  weit  häufiger  ausgraben  konnte, 
wären  Erzeugnisse  dieser  Zwerge.  Sie  lebten  noch  und  bedienten  sich 
wohl  auch  dieser  Thongeschirre  als  Tischgerät.  Die  Sorben  wollten 
sich  nicht  die  Gunst  der  Leutchen  verscherzen   und   gruben  deshalb 


312  Die  Sorben. 

nicht  nach  den  Urnen,  leisteten  auch  den  Suchern  keine  Unterstützung. 
Man  zerschlug  aber  die  Urnen,  wenn  man  beim  zufälligen  Graben  nichts 
darin  fand.  Der  Ansicht,  man  habe  in  den  „Leutchen"  die  früheren 
Landesbewohner  oder  den  von  der  Scholle  vertriebenen  „kleinen  Mann u 
gesehen,  kann  ich  mich  nicht  anschlielsen.  Wie  im  Traume  Phantasie- 
gebilde entstehen  und  der  Geist  unwillkürliche  oder  veranlagte  Be- 
wegungen unbelebter  kleiner  Gegenstände  oft  als  willkürliche  Hand- 
lungen von  Lebewesen  deutet,  wie  der  Mensch  hinter  einem  Haschein 
oder  einem  Ton  an  einsamer  Gegend  einen  Veranlasser  sucht,  so  be- 
völkerte er  auch  selbst  die  Wüste  mit  Gestalten. 

Die  „Mittagsgöttin"  ist,  wie  Hermann,  beinahe  zum  Sagen- 
gespenst geworden  und  hat's  als  Eindervertauscherin  namentlich  auf 
die  Kinder  abgesehen.  Die  Mittagsfrau  geht,  wenn  der  Tag  am  heilse- 
sten  ist,  über  die  Fluren  und  steht  plötzlich  mit  ihrer  Sichel  vor  den 
Schnittern,  die  mittags  nicht  von  der  Feldarbeit  ruhen.  Sie  fragt, 
warum.  Sie  fragt  noch  mehr,  und  gewöhnlich  stehen  die  Gefragten 
starr  und  können  nicht  antworten,  denen  soll  sie  dann  mit  der  Sichel 
den  Kopf  abschneiden.  —  Als  der  wendische  Forscher  Hornig  einst  in 
einer  Prüfung  aus  Gebieten  prüfte,  die  den  Prüflingen  ziemlich  unbekannt 
waren,  flüsterte  einer  von  diesen  dem  anderen  zu:  «Der  fragt  ja  wie 
die  Mittagsfrau. u 

Der  Mittagsfrau  wird,  wie  der  Khodojta,  der  polnischen  Tscha- 
rotenitza  und  den  litauischen  Laumen,  das  Eindervertauschen  mit 
Wechselbälgen  zugeschrieben.  Oft  lälst  sie  das  Kind  mit  dem  Wechsel- 
balg zurück.  Man  muls  ein  Gesangbuch  unter  das  Kissen  des  Kindes 
legen  und  den  Wechselbalg  mit  Birkenzacken  schlagen,  um  das  rechte 
Kind  zurückzubekommen. 

Nicht  gerade  zu  den  Dämonen  ist  wohl  auch  „  der  Alte u  zu  zählen. 
Wer  beim  Ausdreschen  den  letzten  Schlag  thut,  hat  den  „  Letzten u 
oder  bekommt  den  „Alten".  Das  ist  eine  kleine  Strohpuppe,  die  der 
Betreffende  dann  ins  nächste  Gehöft  tragen  muls,  wo  auch  noch  nicht 
ausgedroschen  ist  Erwischt  der  Nachbar  den,  der  den  Alten  brachte, 
so  macht  man  ihn  schwarz  und  treibt  allerlei  Scherz.  Die  Sitte  ist 
schon  selten  geworden.  Jetzt  muls  der,  der  den  Letzten  hat,  ein  paar 
Groschen  zu  Bier  und  Schnaps  zum  besten  geben.  Drischt  der  Bauer 
selbst  mit,  so  nimmt  er  natürlich  den  Letzten.  Eine  kleine  Strohpuppe 
wird  auch  als  Pfandwisch,  eine  grotse  als  Krautscheuche  verwendet. 
Die  Niedersorben  haben  für  „den  Letzten u  den  Ausdruck  „den  Hahn", 
man  bekommt  übrigens  den  Hahn  nicht  nur  beim  Dreschen,  sondern 
bei  jeder  Angelegenheit  als  letzten.  —  Kaum  koboldischer  Art  dürften 
Marawa  und  Njespech  sein.  Wer  trödelt,  zottelt  und  nicht  nachkommt, 
heilst  beispielsweise  in  Radibor  Marawa,  in  Werben  Njespech,  bei  den 
Polen  DJubaia. 

Mehr  der  Sagengeschichte  gehören  Dietrich  von  Bern,  ferner  der 
sorbische  Faust,  das  ist  der  Rabenfürst  und  Zauberer  Krapat,  der  Räuber- 


Sitten  und  Gebräuche.  313 

hauptmann  Lipskulian  oder  Lipstulian  und  Pumpot  an,  der  witzige 
Junge,  der  den  Teufel  betrügt,  und  auch  in  deutschen  Kinderliedchen 
als  Pumpa  auftritt.  Wenn  ich  auch  auf  die  wendischen  Sagen  nicht 
eingehen  kann,  so  möchte  ich  doch  die  von  den  Wendenkönigen  nicht 
unerwähnt  lassen,  die  es  nie  gegeben. hat  und  die  doch  in  weiblicher 
Linie  noch  heute  in  dem  germanisierten  Dörfchen  K aminchen  Nach- 
kommen haben  sollen.  Angeblich  bezahlen  ihnen  die  Sorben  Kopf- 
steuern. Der  König  soll  Krone  und  Scepter  aufbewahren,  bis  das 
wendische  Königtum  wieder  anbricht.  Nach  Karl  Haupt  liefs  der  grofse 
Kurfürst  dem  Wendenkönig  nachforschen.  Als  Bauernbursche  arbeitete 
er  aber  alsbald  auf  Geheiis  eines  Alten,  und  man  liefs  ihn  unbehelligt. 

V.    Sitten  und  Gebräuche. 

1.  Hochzeit.  Vor  150  Jahren,  als  M.  Abr.  Frenzel  mit  Fleifs 
die  sorbischen  Sitten  und  Gebräuche  erforschte,  waren  die  Hochzeits- 
gebräuche nicht  wesentlich  von  den  heutigen  unterschieden.  Er  be- 
richtet : 

„Sobald  junge  Leute  ohngefähr  das  zwanzigste  Jahr  erreicht, 
denken  sie  an  Gründung  des  Ehestandes.  Der  heiratslustige  Bursche 
besucht  die  von  ihm  Ausersehene  einigemal  in  ihrem  Heim,  trinkt  ihr, 
wenn  sie  sich  in  der  Schenke  sehen  lälst,  einen  Ehrentrunk  zu,  läfst 
sie  neben  sich  am  örtentisch  sitzen,  führt  sie  zum  Tanze,  und  zum 
Schlufs  begleitet  er  sie  in  ihre  Wohnung.  Hier  bleiben  Beyde  bis  zu 
Tagesanbruch  zusammen,  legen  sich  wohl  gar  ins  Bett,  jedoch  in  den 
Kleidern,  und  halten  ihre  Liebesgespräche,  alsdann  gehet  der  Freyer 
fort,  und  singt  vor  der  Thür  stehend,  oder  im  Fortgehen.  Da  nun 
nach  der  Zeit  die  Altern  auf  Ersuchen  ihren  Konsens  wegen  der 
Tochter  von  sich  gegeben,  wird  das  Yerlöbniss  anges teilet;  bisweilen 
bleibet s  auch  nur  bey  dem  Jaworte  und  Handschlage.  Darauf  folgt 
dreimaliges  Aufgebot  von  der  Kanzel,  wobey  sich  die  Braut  jedesmal 
mit  einem  Kranze  in  der  Kirche  einfindet;  die  Gäste  aber  werden  von 
dem  Werbmann  und  Bräutigam  meistens,  wenn  zumal  die  verlobten 
Kinder  vermögend  seyn,  reutende  zur  Hochzeit  gebeten.  Beide,  Bräuti- 
gam und  Werbmann,  sind  wohlausgeputzt,  ebenso  beider  Pferde.  Der 
Werbmann  bringt  die  Einladung  vor,  der  Geladene  danket,  und  sagt 
zum  Schlufs:  Komm  ich,  so  wird  schon  etwa  ein  Plätzchen  für  mich 
übrig  seyn.  Da  nun  ferner  die  Gäste  erschienen,  ordnet  sich  der 
Hochzeitszug.  Voran  die  Spielleute,  Dudelsak  und  Geiger,  Bräutigam 
und  Braut,  dann  folgen  die  Gäste  bis  ins  Gotteshaus,  wo  die  Kopulation 
nach  der  meifsnischen  Kirchenagende  vollzogen  wird.u 

Er  schildert  dann,  wie  die  Junggesellen  vor  dem  Kirchhof  die 
entblöfsten  Schwerter  durch  die  Luft  schlagen,  wie  die  Salzmeste  aus 
ihrem  grofsen  Korbe  Stücke  Kuchen  auswirft  und  die  Musikanten  ein 
Feldstücklein  blasen.      Die  Brautmutter   kommt,    ehe    die  Gäste   ins 


314  Die  Sorben. 

Hocbzeitsbaus  kommen,  mit  Betten  nnd  dem  Hausrat  gefahren,  lälst 
eine  schwarze  Henne  fliegen,  „die  Braut  möchte  eine  gnte  Heckmutter 
sein".  Bei  der  zwei-  bis  dreitägigen  Hochzeit  geben  die  Eingeladenen 
Geld.  Den  ersten  Morgen  mnls  die  Braut  die  Tischtücher  auswaschen 
helfen  (Fleifal).  Bei  Hochzeiten  und  Kinnsen  wird  zuerst  Schwarz- 
fleisch gegessen,  auch  Milchhirse  bevorzugt  man.  Beim  Abendessen 
singen  die  Dorfmädchen  vor  dem  Brauthaus  und  empfangen  Bier  und 
Geld.  —  Bald  danach  schildert  Leske  eine  Trauung  so: 

Leske  I,  135:    Die  Trauung  eines  wendischen  Brautpaares,  welche  bei 
meiner   Anwesenheit    geschah,    und   vom   Herrn  Richter   auf  der  Stelle   ge- 

Abb.  130. 


Sorbische  Trauung,  12.  Juni  1 
(Nach  Leske  178 


Hochzeit  1782  und  heute.  315 

zeichnet  wurde.  Vorzüglich  zeichnen  sich  Braut  und  Bräutigam  aus.  Letz- 
terer hat  allezeit  einen  Degen  umhängen,  den  er  aber  in  der  Kirche,  ehe  er 
zum  Altar  trit,  ablegt,  und  um  den  Kopf  einen  aus  verschiedenenen  Blumen, 
Blättern  und  Bändern  geflochtenen  Kranz.  Das  übrige  seiner  Kleidung  ist 
ser  einfach,  und  wilkürlich.  Neben  ihm  steht  der  Brautwerber,  der  ein 
langes  doppeltes,  unten  mit  Franzen  besetztes  Handtuch,  wie  eine  Binde  über 
die  Arme  herunterhängen  last.  Hinter  diesen  stehen  die  übrigen  Hochzeits- 
gäste männlichen  Geschlechts.  Die  Braut  und  alle  Hochzeitsgäste  weiblichen 
Geschlechts  sind  schwarz  gekleidet.  Erstere  und  ihre  beide  Züchtjungfern, 
welche  gleich  hinter  ihr  stehen,  tragen  eine  sohwarzsamtne ,  gegen  oben 
etwas  zugespitzte  Mütze  auf  dem  Kopfe,  die  oben  offen  i«t,  und  hinten  einen 
runden  Absatz  hat.  Um  den  runden  Absatz  gehet  ein  messingener  Reifen, 
zwei  Querfinger  breit  gegen  die  Spitze  zu,  woran  oft  Flintern  oder  Sternchen 
von  Messing  hängen.  Oben  auf  der  Spitze  der  Sammetmütze  steht  der  Kranz 
von  grüner  und  roter  8eide,  oder  auch  grün  allein  zusammengewunden.  Das 
Haar  wird  fest  und  glat  zusammengemacht  und  hinten,  wo  die  Brautmütze 
zu  sitzen  körnt,  in  zwei  Zöpfe  geflochten,  so  dafs  es,  wenn  es  mit  einem 
seidenen  Bande  fest  umwunden  wird ,  scheinet ,  als  wenn  ein  ganzes  Stück 
Band  rund  zusammengewunden  wäre.  Der  Hals  ist  entblöfst.  Die  Weiber, 
welche  hinter  den  Züchtjungfern  stehen,  haben  um  die  Haube  ein  weifses 
Tuch  gebunden,  bedekken  den  Hals  mit  Tüchern  und  tragen  ein  grofses  zu- 
sammengewickeltes weislein wandenee  Tuch,  so  zur  Zierde  unter  den  Arm, 
wie  teutsche  Damen  ihren  Fächer  oder  Regenschirm.  Ganz  zuletzt  steht  die 
Magd  der  Braut,  die  aber  keinen  schwarzen  Bock,  sondern  nur  ein  Kittelchen 
von  weisser  Leinwand  an  hat,  welches  vorne  bis  unter  die  Brust,  und  an 
den  Armen  bis  unter  die  Ellenbogen  reichet.  Neben  den  Frauen  zur  rechten, 
stehet  der  Hochzeitsbitter  mit  seinem  Stabe  unter  dem  Arm,  und  etwas 
weiter  vorwärts  der  Schulmeister,  der  während  der  Trauung  die  Gesänge 
anstimmt.  Der  Prediger,  welcher  die  Trauung  verrichtete,  bedarf  keiner 
Schilderung.  Dieses  Brautpaar  gehörte  übrigens  zu  der  ärmeren  Klasse  der 
Einwohner,  denn  die  Reichen  haben  nicht  nur  mehr  Hochzeitsgäste,  sondern 
zeichnen  sich  auch  durch  reicheren  Anzug  aus;  doch  bleibt  das  Karakteri- 
stische auch  bei  diesen  unverändert. 

Heute  sind  die  Gebräuche  etwa  folgender  Art:  Wenn  Burach  und 
Mädchen  über  die  Heirat  einig  geworden  sind,  erkundigen  sich  die 
Brauteltern  nach  den  Verhältniesen  des  zukünftigen  Schwiegersohnes, 
dabei  wird  auf  Standesgleichheit  geachtet.  Wird  kein  Freiwerber  ge- 
schickt, sondern  durch  möglichst  unauffällige  gegenseitige  Besuche  die 
Verlobung  angebahnt,  so  holt  schlielslich  der  Bursch,  allein  oder  von 
einem  Freund  begleitet,  das  Jawort.  Wieweit  bei  der  nun  folgenden 
Verlobung  und  Hochzeit  der  Bräutigam,  die  Braschkas  oder  Draschbas 
und  die  Musikanten  in  die  äußerlichen  Feierlichkeiten  eingreifen,  ist 
von  Kirchspiel  zu  Kirchspiel,  von  Stand  zu  Stand,  von  Zeit  zu  Zeit, 
von  Individualität  zu  Individualität  verschieden.  Der  Bräutigam  tritt, 
wenn  es  sich  nicht  um  ganz  ärmliche  Verhältnisse  handelt,  wohl  meist 
zurück,  und  ein  oder  mehrere  gewerbsmäbige  Druschbas  machen  sich 
zu  schaffen;  in  der  Muskauer  Gegend  wieder  spielen  die  Musikanten 
zugleich  die  Rolle  des  Ordners  und  Abbitters,  in  derWerbener  Gegend 
ist  der  „Pobratsch"  meist  ein  Verwandter.  Bei  der  Verlobung  schon 
bittet  der  DruBchba  den  Brauteltern  ab,  es  möchte  dem  Bräutigam  ver- 
geben  werden,  was  er  etwa  Unrechtes  an  ihnen  gethan  habe.     Das 


Abbitten  ist  bei  den  Slawen  noch  sehr  im  Schwange,  es  beginnt  bei 
der   Konfirmation    in    ausreichendem   Matse    und   wird    vom    Draschba 


Burger  Feataträufte  aus  Füttern  und  künstlichen  Blumen. 

Solche    Strinlte    werden    von    den   jungen    Burschei 
„Stellung",  von  den  Sorben  aber  auch  bei  Kindtanfe 

an  der  Mütze,  teils  im  Knopfloch  de>  Rockes. 

vorm  Jawort  und  vorm  Abschied  des  Bräutigams  von  den  Eltern 
wiederholt,  vom  Manne  noch  Öfter  angewendet  und  endet  beim  Tode.  — 
Nach  dem  kirchlichen  Aufgebot  kaufen  sich  die  Neuverlobten  die  Braut- 


Hochzeit.  317 

geschenke  und  geben  sich  besonders  Kleidung  und  Wäschestücke.  Die 
Brautzier  wird  nur  am  Hochzeitstage  getragen,  dabei  bevorzugen  die 
Nochten  er  gemachte  grelle  Blumen,  Lavendel,  Thymian,  Rosmarin,  nicht 
Myrte.  14  Tage  vor  der  Hochzeit  lädt  der  Druschba  (oder  mehrere)  mit 
Stab  und  dem  in  verschiedenen  Gegenden  verschiedenen  Hochzeitsbitter- 
schmuck die  Gäste  ein.  Einige  Gegenden  bevorzugen  den  kurzen 
Cylinderhut,  andere  den  Straufs  (Abb.  131)  im  Knopfloch,  die  dritten 
das  lange  Tuch  oder  rote  und  grüne  Bänder  ebenda,  die  vierten  be- 
gnügen sich  mit  dem  bändergeschmückten  langen  Stab  und  dem  Strauls 
aus  Blumen  und  Federn  (Nochten).  Auch  zu  Rols  erscheint  der  Druschba 
hier  und  da.  Nun  schicken  die  Eingeladenen  ins  Hochzeitshaus  Milch, 
Butter,  Fleisch  und  anderes,  in  manchen  Orten  (z.  B.  Nochten)  ist  es 
gebräuchlich,  5  Thaler  zum  Mahl  beizutragen.  Am  Tage  der  Hochzeit 
kommen  die  Gäste  ins  Hochzeitshaus,  um  Glück  zu  wünschen.  Der 
Druschba  wird  nicht  sogleich  eingelassen,  sondern  zu  witzigen  Reden 
veranlalst,  um  dem  Bräutigam  Eingang  zu  verschaffen.  Dann  fragt 
er  die  Braut  und  deren  Eltern  in  aller  Form  nochmals,  ob  sie  die 
Frau  des  Bräutigams  werden  wolle.  Die  Niedersorben  gefallen  sich 
sogar  in  einem  scherzhaften  Brautkauf  mit  Handel  und  Draufgeld 
vor  der  Thür  der  Brauteltern.  Auch  giebt  man  hier  dem  Bräutigam 
erst  eine  vermummte  bucklige  Person;  der  Buckel  ist  mittels  eines 
Topfes  hergestellt.  Der  Druschba  schlägt  darauf,  dals  die  Scherben 
unter  Gelächter  herabfallen.  Schlielslich  wird  die  richtige  Braut  ge- 
bracht. So  war  es  früher  in  Werben.  Und  dann  geht  es  unter  Gesang 
und  Jubel,  wenn  auch  nicht  mehr  unter  Pistolenschüssen,  vielleicht 
schon  mit  Musikanten,  in  die  Kirche.  In  der  Hand  haben  Braut  und 
Bräutigam  das  Gesangbuch,  ein  weifses  Tuch  und  einen  Rosmarin- 
strauls,  Myrte  oder  dergleichen  (Abb.  132).  Auf  dem  Kopfe  hat  die 
Obersorbin  häufig  die  Borta  (vgl.  Abb.  133  a.  f.  S.),  jenen  persermützen- 
ähnlichen  Kopfschmuck,  der  uns  schon  auf  alten  Abbildungen  der 
Wenden,  der  Altenburgerinnen ,  der  Slowinzinnen ,  der  Litauerinnen 
begegnet.  Am  schmalen  Ende  der  Borta  ist  oben  ein  Myrtenkranz 
angebracht  und  nach  unten  hängen  Flittermünzen.  Wenn  die  nicht 
in  Ordnung  sind,  soll  es  mit  der  Jungfräulichkeit  der  Braut  auch 
nicht  ganz  richtig  sein.  Ähnliches  reiches  Gehänge,  künstliche  Blumen 
oder  Rosmarinzweige,  trägt  die  Obersorbin  auf  der  Brust.  Die  Nieder- 
sorbin kennt  die  hohe  Borta  nicht.  Aber  auch  ihr  Kopfputz  ist  eigen- 
tümlich und  mit  grüner  Raute  geziert,  zum  Unterschied  von  den 
Brautjungfern,  die  bunte  Blumen  im  Kopfschmuck  tragen.  Die  Katho- 
likin schlingt  um  den  Kopf  nur  ein  Band  mit  Schleifen,  die  Muskauerin 
trägt  eine  ziemlich  niedrige  Borta.  In  der  Hoyerswerdaer  Gegend  ist 
immer  eine  fesartige  Kopfbedeckung  bei  den  Mädchen  Mode  (Abb.  129), 
in  der  Muskauer  Gegend  hängen  vom  Bräutigamskranz  unterm  Hut 
hinten  gelbe,  grüne  und  rote  Seidenbänder  herunter,  um  den  Arm  sind 
buntblumige  Streifen  gewunden.     Vgl.  Abb.  125,  130,  132,  133,  134. 


318  Die  Borben. 

Die  Brautfrau  (Salzmeste,  Slonka)  ist  wie  die  Braut  gekleidet,  trägt 
aber  bunte  Kopfzier.     Ein  Kranz  von  reiner  Myrte  oder  grüner  Seide 
mit  langein  grünen  Band  bildet  des  Bräutigame  Abziehen.     Auf  dem 
Abb.  133.  Rückwege  findet  der 

Zug  wieder  Unter- 
brechung durch  ge- 
zogene Schnuren  und 
Begegnende.  Der 
Druschba  hat  vollauf 
zu  thun,  mit  kleiner 
Münze  und  Schnaps 
die  Bahn  frei  su  hal- 
ten und  den  Glück- 
wünschenden zu  dan- 
ken. Zu  Hause  stellt 
er  nun  die  Neuver- 
ehelichten   vor;     oft 

aber  muls  der 
Druschba  erat  den 
Eingang  erbetteln : 
„Lafst  sie  doch  ein, 
sie  ist  oft  fortgegan- 
gen und  wiederge- 
kommen ,  und  nun 
da  sie  einen  Begleiter 
hat,  wollt  ihr  nicht 
Offnen."  Endlich 

öffnet  man.  Die  Braut 
giebt  aus  einer  Milch- 
gelte den  fremden 
Zuschauern  Bier  zu 
trinken ,  sie  melkt 
dann  wohl  auch  aelbst 
eine  Kuh.  Die  Ge- 
ladenen aber  sehen 
Stalle  und  Gehöft  an, 
bis  das  Zeichen  zum 
Papitzer  Braut  (Rückansicht).  Mahl    gegeben    wird. 

(Nach  Pbotogr.  vom  Hofphotographen  Metmer-Kottbui.)  Bei  grotsen  Hoch- 
zeiten sitzen  die  200 
und  noch  mehr  Gäste,  wo  nur  Plati  ist  Im  Ehrenzimmer  mit  dem  Braut- 
winkel versammeln  sich  nur  die  nächsten  Verwandten;  in  den  Neben- 
stuben, im  Hausflur,  wohl  gar  der  Scheune,  wird  aber  alles  daran  gesetzt, 
den  Aufenthalt  möglichst  angenehm  zu  machen ,  damit  unter  Scherzen 
und  Witzen  die  sieben  Gänge  erledigt  werden  können.     Als  Vorkost 


Hochzeit.  319 

giebt  es  Butterbrot  und  Käse,  nach  der  Suppe  bevorzugen  die  einen 
Dorfschaften  Sauerbraten,  die  anderen  Reis  und  was  man  sonst  mag. 
Den  Schluls  machen  Kaifee  und  Kuchen.  Das  Einbinden  von  allen 
Speisen  ist  meist  aus  der  Mode,  das  Senden  von  Hochzeitskuchen 
aber  bleibt,  ebenso  das  Schicken  an  Arme,  das  Verschenken  an  Gäste 
und  Kinder. 

Vor  dem  neuen  Paare  stehen  brennende  Lichter.  Man  putzt  sie 
nicht.  Welches  zuerst  niederbrennt,  dessen  Besitzer  stirbt  zuerst. 
Und  wenn  das  dann  wirklich  eintrifft,  so  sagt  man:  „Seht,  es  hat 
doch  zugetroffen/  Während  der  Efspausen  wird  die  Braut  von  allen 
zum  Tanz  geholt,  nur  der  Bräutigam  bleibt  sitzen.  Besonders  beliebt 
ist  es  bei  den  jungen  Gästen,  der  Wachsamkeit  des  Druschbas  zum 
Trotz,  dem  Bräutigam  den  Hut  und  der  Braut  den  Schuh  zu  stehlen. 
Beides  mufs  dann  vom  Druschba  und  der  Salzmeste  gegenseitig  aus- 
gelöst werden.  Zum  Schluls  des  Mahles  wird  gesungen  und  gebetet, 
und  die  Braut  muls  über  den  Tisch  schreiten.  Man  begleitet  das  Paar 
nach  Abnahme  der  Borta  ins  Schlafgemach. 

Am  zweiten  Tage  läfst  man  auf  Kaffee  und  Kuchen  noch  ein 
grofses  Frühstück  mit  Butter  und  Käse  folgen.  Das  possenhafte 
Durchhecheln  der  einzelnen,  Maskierungen  und  spafsige  Streiche 
machen  auf  den  Fremden,  wie  immer,  keinen  angenehmen  Eindruck, 
desto  fröhlicher  sind  die  Beteiligten;  die  sind  ja  mit  Leib  und  Seele 
dabei.  Am  Ende  des  Mahles  gehen  die  Teller  der  Reihe  nach  herum, 
erst  einer  mit  Salz  für  den  Koch,  dann  einer  mit  einem  kleinen  Stroh- 
wisch für  die  Aufwaschfrau,  vielleicht  noch  einer  für  einen  gemein- 
nützigen Zweck.  In  der  Klittener  Gegend  sammelt  man  auch  für  das 
neue  Paar.  Der  Druschba  oder  Braschka  lälst  klirrend  zuerst  zwei  Thaler 
auf  den  obersten  Teller  und  dann  in  den  zweiten  fallen  und  schenkt 
dann  jedem  neuen  Schenker  unter  Namensnennung  aus  seinem  Glase. 
Besuche  bei  den  Dorfgenossen  folgen  hierauf  von  Seiten  der  Hochzeits- 
gäste, die  überall  eine  Tasse  Kaffee  trinken  müssen;  eine  mir  bekannte 
Dame  hat  es  auf  23  Tassen  gebracht.  Diese  Besuche  hält  man,  da  das 
ganze  Dorf  ja  beteiligt  ist,  für  etwaB  Selbstverständliches. 

Die  Hochzeit  dauerte  früher  oft  acht  Tage,  jetzt  zieht  die  Frau 
meist  am  zweiten  Tage  ein.  Die  Eingeladenen  tragen  ein  Stück  Hausrat 
mit  ins  neue  Haus.  Es  folgen  Abschiedsgesänge  der  Braut  an  die 
Ihrigen,  und  schliefslich  geht  der  Zug  ins  neue  Haus;  er  wird  vom 
Schwiegervater  bewillkommnet.  Es  folgt  noch  ein  Abendessen,  und  dann 
verabschiedet  man  sich.  Am  folgenden  Sonntag  geht  man  in  die 
Kirche  und  nimmt  das  Mittagsmahl  meist  bei  Verwandten  ein.  Der 
Hochzeitstag  selbst  ist  meist  der  Dienstag  oder  Freitag,  nie  der 
Donnerstag.  Die  Hochzeitsmusik  hat  besonders  in  der  Muskauer, 
Schleifener  und  Nochtener  Gegend  alte  Eigenart.  Meist  sind  drei 
Musikanten  vereint,  einer  mit  der  Geige,  der  andere  mit  der  Hoboe 
und  der  dritte  mit  dem  Dudelsack.     In  den  genannten  Orten  hat  man 


320  Die  Sorben. 

die  grotse  und  kleine  dreisaitige  Husla  noch  anstatt  der  Geige,  selten 
auch  noch  die  Tarakawa  statt  der  Hoboe.  Statt  des  gewöhnlichen 
kleinen  Dudelsacks  bedient  man  sich  auch  des  mit  Eberzähnen  und 
Ziegenfell  geschmückten  grolsen.  Die  Musik  klingt  grell  and  scharf, 
wie  schreiende  Farbe,  „aber  nur  nach  ihr  kann  man  ordentlich  tanzen u. 
Vgl  Abb.  146,  S.  340. 

Besondere  Eigenarten  in  der  Muskauer  Gegend  sind  die  folgenden : 
Die  Braut  darf  selbst  nichts  schlachten  fürs  Hochzeitsmahl ;  neben  dem 
Brautpaare  sitzen  rechts  und  links  Brautjungfern,  der  Druschba  muls 
bedienen.  Am  zweiten  Hochzeitstage  müssen  Braut  und  Bräutigam 
vorn  Hochzeitsmahle  zu  den  Leuten,  besonders  zu  den  Armen  schaffen 
oder  schicken.  Der  Hochzeitsbitterstock  ist  grün  umwickelt.  Die 
Musikanten  machen  aus,  ob  die  Braut  unter  oder  über  den  Tisch  weg- 
springen soll,  der  Druschba  aber  mufs  es  zugeben.  Es  darf  nur  einmal 
der  Hochzeitsschuh  von  einem  Jungen  gestohlen  werden.  Bei  Hoch- 
zeiten von  200  und  mehr  Gästen,  die  abends  bei  Bekannten  und  Ver- 
wandten, in  der  Scheune  und  auf  dem  Boden  bleiben,  werden  oft  noch 
mehr  als  sieben  Speisen  genossen.  Der  Bräutigam  tanzt  zuerst  mit 
der  Salzmeste.  Die  Frauen  führen  die  Braut  in  die  Kammer  und 
setzen  ihr  die  Haube  auf.  Die  Hochzeitsspäfse  sind  eine  Abart  des 
Zamberns  zur  Fastnacht,  da  werden,  wie  bei  den  Haberern,  die  Anwesen- 
den durchgehechelt,  nur  milder.  Das  Zambern  hat  allerdings  die  Polizei 
verboten.  Zum  Herbeischaffen  des  ersten  Tellers  ermahnt  man  mit  der 
Formel:  „Hier  ist  nicht  gesalzen,  bringt  Salz!"  Der  Koch  bringt  nun 
einen  Teller  mit  Salz  und  dahinein  legt  man  die  Geldgeschenke.  Dann 
heilst  es:  „Hier  ist  nicht  rein  gewaschen/  Nun  schickt  die  Auf- 
wäscherin  einen  Teller  mit  einem  kleinen  Strohwisch,  und  jeder  Gast 
legt  etwa  20  Pfennige  auf.  Der  Hausrat  wurde  früher  nach  der  Hoch- 
zeit gegeben.  Jetzt  wird  alles  so  eingerichtet,  dafs  am  dritten  Hoch- 
zeitstage der  Leiterwagen  mit  hochgestellten  Brettern  die  Ausstattung 
ins  neue  Heim  fährt. 

Bei  den  sorbischen  Katholiken  der  Radiborer  Gegend  hat  man  nur 
einen  Hochzeitsbitter,  den  Braschka.  Er  hat  keinen  Bänderstab,  aber 
am  Hut  einen  Kranz  mit  breiten  Bändern  und  ein  seidenes  Tuch  von 
der  Braut  im  Knopfloch.  Die  Braut  hat  zwei  Führer,  die  die  Braut 
zu  holen  haben.  Polterabend  giebt  es  nicht,  auch  keinen  grofsen 
Brautzug.  Der  Bräutigam  geht  mit  seiner  Salzmeste  und  die  Braut 
mit  der  ihren,  dann  folgen  die  Ehren  Jungfrauen ,  alle  meist  zu  Wagen. 
Die  Musikanten  kommen  nach  der  Trauung  zur  Kirche.  Dann  beginnt 
das  Mahl  und  der  Tanz.  Ein  besonderer  Brauttanz  fehlt.  Meist 
werden  Volkslieder  gesungen  und  gespielt,  die  für  die  Musikanten 
in  Musik  gesetzt  sind.  Man  tanzt  den  alten  wendischen  Tanz.  Die 
Husla  braucht  man  hier  auch  noch.  Man  trägt  ins  Hochzeitshaus  am 
Sonntag  vorher  die  sogenannten  Buttergaben,  Milch,  Reibkäse  u.  a. 
Auf  grolsen  Hochzeiten  zählte  man    schon  300  bis  400  Gäste.     Die 


Hochzeit.  321 

Witwen  heiraten  Montags,  die  Jungfrauen  Dienstags.  Die  meisten 
Hochzeitsbittersprüche  sind  auf  Lehrer  zurückzuführen.  Man  belieht 
nicht  mehr  die  gebundene  Form.  Wenn  das  erste  Gericht,  meist 
Rindfleisch,  auf  die  Tafel  kommt,  schickt  der  Braschka  einen  Teil  einem 
Armen  oder  Kranken.  Den  Stall  besucht  und  zeigt  man  den  Gästen, 
weil  er  die  Haupteinnahmequelle  der  Frau  ist.  Die  Hochzeit  dauert 
meist  nur  einen  Tag.  Beim  Enieen  vor  dem  Altar  rückt  das  Paar  eng 
zusammen,  auch  achtet  der  Bräutigam  darauf,  den  Rocksaum  der  Braut 
unterm  Knie  zu  haben,  sonst  herrscht  die  Frau  im  Hause.  Man 
schliefst  die  Hochzeit  gern  bei  zunehmendem  Mond  und  freut  sich, 
wenn  ein  wenig  Regen  nach  der  kirchlichen  Trauung  vom  Himmel 
fällt.  Die  Braut  läfst  eine  Henne  im  neuen  Hause  auffliegen;  gewöhnt 
die  sich  an  den  Hof,  so  bleibt  auch  die  junge  Frau  da,  im  anderen 
Falle  hat  die  junge  Frau  Wechsel  zu  erwarten.  In  Königswartha  liebt 
man  es,  beim  Zusenden  der  Hochzeitsgeschenke  allerlei  Scherze  anzu- 
bringen; man  fällt  mit  den  Töpfen  und  Küchenbrettern  und  putzt  Ge- 
schenke phantastisch  aus.  Wenn  der  Hochzeitsbitter  das  Paar  aus- 
segnet und  die  Lichter  aufstellt,  singen  alle:  „Mir  nach,  spricht 
Christus  u.  s.  w.u  (Wegen:   „Ich  leucht  euch  vor,  bin  euer  Licht"). 

Grolse  Hochzeiten  werden  immer  seltener.  Meist  finden  sie  statt, 
wenn  nicht  innerhalb  des  Dorfes,  sondern  von  Dorf  zu  Dorf  geheiratet 
wird.  Da  kann  man  wohl  auch  noch  den  Bräutigam  mit  nahezu  einem 
Dutzend  Hochzeitsreitern  und  den  berittenen  Hochzeitsbitter  sehen,  der 
vor  den  Häusern  des  Bräutigams  und  der  Braut  die  ganze  Gesellschaft 
dreimal  umreitet.  Aber  die  Förmlichkeiten  nehmen  von  Jahr  zu  Jahr 
ab.  Selbst  in  der  Schleifer  Gegend,  in  der  die  Hochzeit  aus  etwa  drei 
Dutzend  besonderer  Abschnitte  bestand,  hat  sich  mancherlei  verein- 
facht. Doch  hat  der  erste  Musikant  und  Hochzeitsbitter,  der  zugleich 
Halbbauer  und  Fabrikant  alter  wendischer  Musikinstrumente  ist,  immer 
noch  seine  zwölf  Reden  bei  einer  Hochzeit  vorzutragen.  „Ja,  der  mufs 
mehr  können  als  der  Pastor u ,  sagen  die  alten  Frauen  oftmals,  wenn 
sie  von  der  Thätigkeit  der  alten  Hochzeitsbitter  reden. 

Zunächst  hat  er  mit  einem  Genossen  die  Gäste  einzuladen.  Sein 
Bitterspruch  lautet  verdeutscht  etwa:  „Wir  haben  jetzt  einige  Worte 
zu  reden,  wundert  euch  nicht.  Wir  sind  die  Abgesandten,  erst  vom 
lieben  Gott,  dann  vom  ehrbaren  Bräutigam  und  der  Braut  und  den  lieben 
Eltern  des  Bräutigams  und  der  Braut.  Sie  lassen  euch  freundlich  zur 
Hochzeit  laden;  Dienstag,  um  8  Uhr,  mögt  ihr  euch  im  Bräutigams- 
hause einen  Augenblick  niederlassen  und  dann  mit  zur  Braut  gehen. 
Wir  wollen  einen  frischen  Trunk  Bier  trinken,  dann  ein  Vaterunser 
andächtig  beten  für  uns  allein  und  darauf  fürs  Brautpaar  und  ihm 
Glück  und  Segen  wünschen,  damit  der  Ehestand  ihnen  gerate.  Aus 
dem  Gotteshause  kehren  wir  zu  einem  Mittagsbrot  ins  Hochzeitshaus 
zurück.  Da  wollen  wir  essen  und  trinken  und  fröhliche  Gäste  sein. 
Je  fröhlicher  ihr  euch  zeigt,  desto  lieber  seid  ihr  uns.     Wir  wollen 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  21 


322  Die  Sorben. 

aber  in  der  Fröhlichkeit  auch  den  lieben  Gott  nicht  vergessen,  sondern 
ihn  beständig  in  Gedanken  haben,  und  fürlieb  nehmen  mit  dem,  was 
uns  Gott  bescheren  wird,  selbst  wenn  ihr  dort  nichts  weiter  finden 
werdet  als  ein  Brotränftchen  und  ein  wenig  Salz.  Wir  erwarten  aber 
vom  lieben  Gott  etwas  mehr,  denn  Gott  ist  allmächtig  und  kann 
machen  das  Kleine  grofs  und  das  Grofse  klein.  Gebt  uns  beiden  Ab- 
gesandten nun  eine  kurze  Antwort,  die  nicht  uns  allein,  sondern  auch 
denen  gut  gefällt,  die  uns  gesendet  haben!" 

Mit  demselben  breiten  Behagen  und  starker,  noch  erheblich  um- 
fänglicherer Anwendung  von  biblischen  Stellen  und  Predigtstücken 
fährt  nun  der  Druschba  fort,  seine  Beden  hersagend.  Eine  zweite 
Form  der  ersten  Bede  ist  für  besondere  Fälle  üblich. 

Die  Bitter  kommen  nach  Hause  und  halten  eine  förmliche  dritte 
Bede,  worin  schematisch  Bericht  über  die  Antworten  der  Eingeladenen 
erstattet  wird.  Die  vierte  Bede  erfolgt  im  Bräutigamshause.  „Wenn 
ihr  in  Gedanken  und  Herzen  bereit  seid,  euch  auf  die  Reise  zu  machen, 
die  wir  vorhaben,  dann  wollen  wir  vortreten  vor  das  Angesicht  des 
Höchsten  u.  s.  w.tf  Er  bittet  für  den  Bräutigam  bei  dessen  Eltern  ab 
und  erzählt  vom  jungen  Tobias  und  von  Ekbatana. 

An  fünfter  Stelle  redet  er,  wenn  nun  zur  Braut  gefahren  wird,  in 
drei  Abschnitten.  Diese  Bede  ward  früher  vom  Pferde  oder  Wagen 
herunter  gehalten,  und  es  folgte  das  dreimalige  Umreiten.  Nun  erst  geht 
die  ganze  Gesellschaft  zur  Braut.  Da  wird  der  Bitter  abgewiesen,  er 
soll  zum  Nachbar  gehen.  In  drei  Teilen  redet  nun  der  Bitter  die  sechste 
Bede,  es  folgt  eine  Art  Brautkauf,  das  Vorführen  eines  alten  buckligen 
Weibes  („die  ist  zu  alt"),  einer  Brautjungfer  („die  ist  zwar  schön,  aber 
nicht  die  richtige"),  endlich  der  Braut.  Man  schreitet  über  die  Schwelle 
zu  den  „vier  Säulen".  Sie  wird  dem  Bräutigam  „so  gesund  übergeben, 
wie  man  sie  empfangen  hat".  Die  siebente  doppelteilige  Bede  wird  ge- 
halten, wenn  die  Braut  aus  dem  Hause  treten  will  und  wenn  sie  dann 
heraustritt;  die  achte,  wenn  sie  von  der  Trauung  kommen,  die  neunte 
nach  dem  Abendessen,  die  zehnte,  wenn  das  junge  Paar  fort  aus  dem 
Hause  ins  neue  Heim  fährt,  die  elfte,  wenn  es  ins  neue  Haus  kommt. 
Die  zwölfte  und  letzte  mit  dem  Gleichnis  vom  ungerechten  Haushalter 
und  noch  einigem  fordert  die  Teilnehmer  zur  Bezahlung  des  auf  jeden 
fallenden  Kostenteils  auf. 

Im  Spreewald  kommen  Braut  und  Bräutigam  wohl  auf  dem  Kahn 
abends  ins  Haus  des  Bräutigams.  Die  Braut  hat  ihre  Laterne  mit 
und  hütet  sie,  dats  sie  nicht  verlöscht.  Wenn  das  Brautpaar  Einlals 
bekommen  hat,  brennt  die  Braut  im  Hause  sämtliche  Lichter  mit  ihrer 
Laterne  an.  Das  heilet,  „ihr  Licht  soll  aufgehen".  Dann  schenkt  sie 
jedem  Anwesenden  ein  selbstgemachtes  Stück:  Schürze,  Strümpfe,  Tücher. 

Beliebt  ist  das  Singen  des  Ehestandsliedes  von  Seiten  der  jungen 
Mädchen  am  Hochzeitsabend  vor  dem  Hause.  In  Schleife  singt  man 
vier  Strophen,  Müller  kennt  für  andere  Gegenden  Bieben« 


Hochzeitslieder. 


323 


Eh  es  tan  d  (vgl.  auch  Erks  Liederhort  II,  660). 
(Von  den  Jungfrauen  abends  vor  dem  Hochzeitshause  gesungen.    Schleife,  1900.) 


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Jetzt  hört  ein  -  mal      ihr      Chri-sten-leut,    woher  kommt  der 
Ben  Mann  er  -  schuf    der        lie  -  be   Gott,  der  Mann  fiel    in 


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E    -    he -stand?        Das        mer 
tie   -   fen  Schlaf,        so  tief 


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Men- sehen- klug -heit    kam    er    nim-mer,      nein  aus      Gottes 
Herr  nahm  aus    ihm     ei  -  ne    Bip  -  pe,    und  machte  dann  ein 


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25 


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Macht   allein       im    Pa  -  ra  -  die   -   se,        im      Pa  -  ra  -  dies. 
Weib  daraus,      zum  E  -  he  -  stan  -  de,        zum     E  -  he  -  stand. 


Jetzt  hör  einmal,  o  Bräutigam, 

Und  du  auch,  du  liebe  Braut, 

Am  heutigen  Tage: 

Es  werden  trübe  Tage  kommen, 

Freudenvolle  aber  auch 

Im  Ehestände,  im  Ehestand. 


Wir  wünschen  euch  nun  gute  Nacht, 

Und  noch  recht  viel  Heiterkeit, 

Ihr  Hochzeitsleut. 

Und  denkt  ah  jene  Hochzeitsfeier, 

Einst  bei  Jesu  wird  sie  sein 

In  Ewigkeiten,  in  Ewigkeit. 


Gern  gesungen  werden  auch: 

Mädchen  und  Bräutigam. 


^TjfT^=2te^tl  |i|fl  J3^ 


Was    haben       nur      die    Leu  •  te      all,    ja      all  -  zu  -  mal.    Sie 


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re  -  den  von  uns   ü  -  ber  -  all,  ja  ü  -  her  -  all. 

In  den  Krieg. 


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3 


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Es  sind  nun  sieben     Jah  •  re  her,  dafs  sich  der  Barsch  ein  Liebchen  nahm 

In   Kamenz  sangen,  nach  Hortzschansky ,  die  Sorben  um    1782 
gelegentlich  der  Hochzeit  und  des  Auszuges  folgende  drei  Lieder: 

Feldstückchen  oder  Marsch,  wenn  die  Braut  zur  Trauung 

geführt  wird. 


E3 


g_G-t-C4j;=^g^B 


Wed  -  ze  -  my    ju, 
(Wir)  führen       sie,    wir 


wed-ze-my      ju,    ma-my     ju,        a 
führen      sie,    wir      haben      sie,    wir 

21* 


324 


Die  Borben. 


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P=P=I?=* 


7 


:.p=p: 


. — ? — p: 


mamy    ju   hai,     wed-ze-my   ju,   wed-ze-my    ju,    mamy      ju,     a 
haben   sie,    wir     führen    sie,  wir  führen    sie,  wir   haben    sie,  wir 


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ma-my      ju      a,     nie    ko  -  mu      ju    hewak      nje  -  da  -  my. 
haben    sie,  wir  geben  sie  sonst  niemand,  niemand,  niemand  her. 


Marsch  bei  der  Heimführung. 


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32 


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Hai  je     Sty  -  ri  -  fsu      ko  -  ni  -  ki      sapschen  -  je       ne  a 

Vier  Pferdchen  sind  an  -  ge  -  spannt,  war-ten  vor'm  Haus,  und 

Wo      bist    du  mein  Va-ter,     mein    Mut  -   ter  -  lein,  lebt 

Habt    Dank,      ihr    £1  -  tern,    ich        dan    -    ke     euch,  für 


EätefeES 


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£ 


wschitke    fsus  Dwo  -  ra        wo  -  hu        wo 

wieh  -  ern    und  wol  -  len      zum      Ho  -  fe 

wohl  nun      es  mufs    nun         ge    -    schie    - 

eu  -  re        Er  -    zieh     -    ung       dan  -  ke 


bro  -  hczene,    a 
her  -  aus,      und 
den      sein,    Gut 
ich      euch,     für 


Efte 


m 


£* 


^r=Hypr. 


sty  -  mi 

-  a 

djr  -  bun  -  jetk       lej  -  der 

fso  - 

bu      precz 

ich   mufs 

nun 

bald      in     die     Frem  -  de 

hin 

aus. 

Nacht, 

es 

mufs     ja       ge           schie     - 

den 

sein. 

eu  -  re 

Er 

-    zieh     -     ung     dan  -  ke 

ich 

euch. 

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Beim  Abschied. 

Das  Mädchen  zog  nach  Weihnachten  am  heiigen  Stephanstage  fort, 

Ihre  Apfelchen  band  sie  sich  in  ein  rein  Tüchlein. 

Ach  gute  Nacht,  gute  Nacht,  meine  Mutter! 

Niemals  mehr  werd  ich  in  eurem  Hofe  herumgehn, 

Ach  niemals  mehr  werd  ich  eure  Kälber  mästen. 

Ach  ich  bedaure  die  lustigen  Burschen, 

Die  wir  miteinander  zu  Biere  und  vom  Biere  gegangen, 

Und  ich  bedaure  die  lustigen  Mädchen, 

Die  wir  miteinander  in  die  Kirche  und  aus  der  Kirche  gegangen  sind. 

2.    Taufe.     Die  Zahl  der  Paten  beträgt  drei  bis  zwölf,  in   der 
Kottbuser  Gegend  meist  vier,  in  der  katholischen  zwei  bis  drei.     Bei 


Taufe.  325 

Knaben  nimmt  man  in  einigen  Dörfern  mehr  Frauen,  bei  den  Mäd- 
chen mehr  Männer,  in  der  Gegend  von  Weilswasser  ist  es  umgekehrt. 
Die  Hebamme  oder  eine  Patin  sagt  beim  Verlassen  des  Hauses:  „Wir 
nehmen  einen  Heiden  mit  und  bringen  euch  einen  Christen  zurück." 
Ein  Patenbrief  mit  Geld,  umwunden  mit  Seide  oder  Zwirn,  wird  ins 
Taufkissen  gesteckt.  In  der  Radiborer  Gegend  sind  es  Münzen  ver- 
schiedener Art,  die  man  im  Patenbriefe  birgt;  auch  fügt  man  Gesäme 
und  bei  Mädchen  eine  eingefädelte  Nähnadel  hinzu,  dals  das  Kind 
fleifsig  werden  soll.  Mit  dem  Hüllfaden  näht  man  das  erste  Hemd. 
Den  Taufweg  verlegt  man  wie  den  Brautweg  mit  Querbändern,  ein 
kleines  Geldgeschenk  wird  für  Freigabe  des  Weges  erwartet.  Die 
Mutter  mufs  in  Gedanken  immer  beim  Kinde  sein,  sonst  vertauscht 
die  Mittagsgöttin  das  Kind.  Nach  sechs  Wochen  geht  die  Mutter  zur 
Kirche  und  lälst  den  Bade  wisch  hoch  auf  einen  fruchtbaren  Baum 
hängen.  Am  Schicksal  des  Badewisches  will  man  das  Geschick  des 
Kindes  erkennen.  Das  Taufkissen  mufs  mit  seinen  Bändern  hübsch 
in  Ordnung  sein,  dafs  das  Kind  ordentlich  wird.  Eine  schwangere 
Frau  darf  das  Taufkind  nicht  tragen,  sonst  stirbt  es  bald;  auf  dem 
Tauf  gange  soll  man  einem  Leichenzuge  ausweichen,  sonst  tritt  dasselbe 
ein.  Man  mufs  den  Täufling  an  den  Pastor  zu  stofsen  suchen,  dafs 
das  Kind  klug  wird.  Yor  der  Taufe  legt  man  unter  die  Schwelle,  bevor 
die  Paten  darüber  schreiten,  Beil  und  Säge  bei  Knaben,  und  Gesang- 
buch und  Sichel  bei  Mädchen.  In  Radibor  bemühen  sich  die  Paten, 
an  ein  Glöcklein  zu  schlagen,  dafs  sie  recht  schön  singen  können. 
Meist  hat  man  hier  drei  Paten,  die  Mädchen  gehen  dabei  wie  Braut- 
jungfern und  schenken  dem  männlichen  Gevatter  ein  Tuch.  Man  legt 
drei  Geldstücke  in  den  Patenbrief,  im  ganzen  10  bis  20  Mk.  Der  Tauf- 
gevatter findet  sich  bei  den  Patinnen  für  das  Geschenk  auf  dem  Tanz- 
saale mit  Wein  ab.  Er  hat  auch  den  Vortanz.  Das  Kind  wird  bei 
Feldgängen  in  einem  grofsen  Leinwandtuche,  der  „Trockawa",  getragen, 
die  dann  gern  hängemattenartig  angebunden  wird. 

3.  Krankheit  und  Begräbnis.  Gegen  Krankheiten  werden, 
wie  überall,  zunächst  Hausmittel  und  Besprechungen  angewandt.  Auch 
wenn  der  Arzt  geholt  worden  ist,  setzt  man  wohl  die  alte  Heilart  fort 
und  fragt  alte  Schäfer  und  heilkundige  Personen,  doch  weicht  der 
Glaube  an  sie  immer  mehr.  Der  Todkranke  läfst  sich  aufs  Betttuch 
und  Stroh  ohne  Unterbett  betten.  Am  Todestage  öffnet  man  die  Fenster; 
die  Angehörigen  beten,  solange  die  Leiche  im  Hause  ist,  früh,  mittags 
und  abends  ein  Vaterunser,  die  Nachbarn  singen  Sterbelieder  im  Hause. 
Der  Tod  wird  den  Haustieren  mitgeteilt.  Man  wirft  beim  Forttragen 
des  Sarges  den  Sargdeckel  um,  kehrt  dem  Sarge  nach  und  schliefst  die 
Thür.  Ein  tüchtiges  Begräbnismahl  schliefst  die  Feier.  Die  tiefe  Trauer 
dauert  vier  Wochen,  so  lange  bleibt  das  Erbe  unberührt.  Die  nächsten 
Verwandten  betrauert  man  ein  Jahr.  Die  Obersorben  tragen  ein  weifses 
Stirnband  als  Trauerzeichen,   die  Muskauer   ein  weifses  Taschentuch, 


die  Werbene-r  und 
Borger  schwarzes 
Brusttuch,  die  Katho- 
liken lange  Plaohta 
(Abb.  134)  und  Kopf- 
hütchtm.  Das  Begr&b- 
nia  bat  am  Schlüsse 
etwas  Geschäftsmälai- 
ges.  Nach  der  wen- 
dischen Einsegnung 
und  dem  dreimaligen  ■ 
Schieben  bei  der 
Beerdigung  eines 
Kameraden  sog  man 
nicht  etwa  mit  zur 
Kirchein  die  Leichen- 
predigt,  sondern  di- 
rekt unter  belebten 
Weisen  ins  Gasthaus. 


Trauernde  Niedersorbin  n 
(Nach    Photographie    to 

Abb.  135. 


Grabachmuck 
(Abb.  135  bis  142) 
und -spräche.  Eine 
ganze  Anzahl  tou 
Kirchhöfen  zeigen 
hübsche  Holzplat- 
ten in  verschiedener 
Form  und  verzierte 
guiseiserne  Kreuze 
neben  den  überhand- 
nehmenden Platten 
und  Mannorkruuie.il. 
Die  Inschriften  sind 
häufig  mit  weifser 
Schrift  auf  schwarzem 
Untergrunde  in  sorbi- 
scher oder  deutscher 
Sprache  geschrieben, 
die  Schrift  ist  deutsch. 
Ein  paar  deutsche 
Grabinschriften  sor- 
bischer Erdenpilger 
mögen  den  Geist  der 
Inschriften  überhaupt 
kennzeichnen. 


Grabschmuck. 


327 


Abb.  186. 


„Alhier  ruhet  selig  in  Gott  Georg  Rokott  aus  Königswartha,  geb 
d.  16.  Apr.  1818,  gest.  d.  28.  März  1890,  hinterläßt  1  Tochter 
1  Schwiegersohn 
und  4  Enkel.  — 
Das  Leben  ist 
gleich  wie  ein 
Traum ;  Ein  nichti- 
ger leerer  Wasser- 
schaum. —  Mein 
Lauf  ist  nun  voll- 
endet, der  Tod  das 
Leben  endet,  ster- 
ben ist  mein  Ge- 
winn, kein  Bleiben 


Grabschmuck  aus  der  Gegend  von  Neschwitz. 


ist  auf  Erden,  das  Ewge  mufs  mir  werden.     Mit  Fried  und  Freud 
fahr  ich  dahin." 

Abb.  137. 


„Hier  schlummern 
vereint  dem  grofsen  Mor- 
gen der  Auferstehung 
entgegen,  die  Gott  an 
einem  Tage,  den  27.  März 
1890,  abgerufen  hat: 
Karl  Strümpe ,  Haus- 
besitzer und  Zimmer- 
mann in  Königswartha, 
geb.    5.    Nov.    1845    in 


Abb.  138. 


Brie8ener  Holzkreuz. 
60  cm  hoch. 


Papitzer  Holzplatte. 
1%  m  hoch. 


Opitz,  wurde  alt  44  J.  4  M.  2  Tage,  seine  Gattin  Clara  Wilhelmine, 
geb.  Schmus,  Dresden,  geb.  20.  Aug.  1856,  wurde  33  J.  7  M.  5  T.  alt, 
und  deren  einziges  Kind  Anna  Marie,  8  J.  11  M.  26.  T.,  geb.  1.  Apr.  1887 
in  Königswartha.  —  Wer  weifs  wie  nahe  mir  mein  Ende  (u.  s.  w. 
bis)  gut." 

Abb.  139. 


— JUrvv 


□  £4S 


a  b  c  d  e  f 

V8m  h.     V8mh.      2  m  h.  1  m  h.      1%  m  h.    l/9  m  h. 

Holz         Holz         Holz  Holz  Stein  Holz 

Burger  Grabschmuck. 

In  Bliesen  ähnlich  wie  a  (60  cm  h.).    Vorn  „Marie  Rattey",  hinten  „1899". 

Den  deutschen  Einflufs  verrät  ein  Grabmal  des  Neschwitzer 
Friedhofes,  der  die  Inschrift  trägt:  „Was  sie  waren,  sind  wir;  was 
sie  sind,  werden  wir.tt     Der  Text  lautet: 


328 


Die  Sorben. 


„Hier  ruhet  vom  kurzen  Pilgerlauf  Frau  Agnes  Adolphine  Lade 
genannt  Ruick,  geb.  Haenich.  Sie  trat  in  das  Erdenleben  in  Naschwitz 
den  15.  Dez.  1798,  vereinigte   sich  am   16.  Jan.  1823   zum  ehelichen 

Abb.  140. 
Ä 


5  6  7 

1  bis  7  Holzplatten  auf  dem  Mittelpunkt  von  Grabkreuzen  zu  Königswartha. 

l/4  bis  !/a  m  hoch. 

Abb.  142. 
a  b  c 


Abb.  141. 


Zum  Andenken  an 
Johann  Kaacnwlla. 
we'cntr  Ao  1773  <J. 
4    Auguet  wn.or. 
aicniiger-weiae  aich 
•aiDtt  erac*OM«n. 
•em  After 
22  J**r 


Werbener 
Holzkreuz. 

1  m  hoch. 


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a  Totenbrett  (25  X  45  cm)  in  der  Werbener  Kirche ; 
b  seitliche,    c  Kopf-,    d    untere  Ansätze  an  Wer- 
bener Totenbrettern. 


Grabsprüche. 


329 


Bunde  mit  Adolf  Friedrich  Lade,  genannt  Ruick,  Rittergutspächter  zu 
Schmochtitz,  erfreute  denselben  während  des  kurzen  Ehestandes  durch 
die  Geburt  dreier  Kinder,  nämlich  zweier  jetzt  an  ihrer  Seite  ruhenden 
Söhnchen  und  einer  der  leitenden  Hand  ihrer  liebenden  Mutter  nur  zu 
früh  beraubten  Tochter  und  beBchlofs  nach  des  Höchsten  unerforsch- 
lichem  Ratschlufs  ihr  in  anspruchsloser  Thätigkeit  und  häuslicher  Zu- 
friedenheit dem  Wohl  der  Ihrigen  und  der  Tugend  und  Frömmigkeit 
gewidmetes  Leben  am  21.  Juni  1827  in  dem  Blütenalter  von  28  J. 
6  M.  6  T.  —  Dem  dunklen  Schofs  der  heiigen  (u.  s.  w.  bis)  werde. 
Noch  köstlicheren  (u.  s.  w.  bis)  Los.u     (Aus  Schillers  Glocke.) 


Grabsprüche  aus  Werben. 


Meines  jungen  Lebens  Blüte 
Stünde  jetzt  im  besten  Flor, 
Aber  Gottes  weise  Güte 
Nahm  was  andres  mit  mir  vor. 


Bald  ward  ich  dahingenommen, 
Durch  den  Tod  bin  ich  gekommen 
Hin  zu  meinem  Jesulein, 
Hier  ist  Fried  und  Freud  allein. 


(Hier  ruht  in  Frieden  Maria  Skorna  aus  Werben,   geb.  d.  25.  Oktober  1845, 
gest.  d.  12.  April  1869.     Alt  23  Jahre  5  Mon.   18  Tage.     Buht  neben  ihrer 

Mutter.) 


Ich  weifs,  in  Jesu  Blut  und  Wunden 
Hab  ich  mir  recht  und  wohl  gebett't, 
Da  und  ich  Trost  in  Todesstunden 
Und  alles,  was  ich  gerne  hätt. 
Mein  Gott,  ioh  bitt  durch  Christi  Blut. 

(Hier  ruht  in  Frieden  Christina  Skorna,   geb.  d.  19.  Februar  1814,  gest.  d. 
13.  März  1869.   Alt  55  Jahr  22  Tage.    TTnvergefslich  bleibst  du  den  Deinen.) 

Die  Sprüche  stehen  auf  der  Vorder-  und  Bückseite  von  Platten  meter- 
hoher Dachkreuze.  Material:  Holz,  Platte:  weifs.  Schrift: 'schwarz.  Kreuz: 
grün.  Umrandung:  weifs.  Die  hohen  Hügel  sind  mit  Steingras  und  bunten 
Blumen  besetzt. 


So  fahr  ich  hin  zu  Jesu  Christ. 
Mein'  Arm'  thu  ich  ausstrecken. 
So  schlaf  ich  ein  und  ruhe  fein, 


Kein  Mensch  kann  mich  aufwecken. 
Denn  Jesus  Christus,  Gottes  Sohn, 
Weckt  mich  zum  ewgen  Leben  schon. 


Er  wandelte  mit  Gott  und  war  nicht  mehr  zu  sehen,   denn  Gott  nahm  ihn 

hinweg. 


Wenn  ich  werde  dahin  kommen, 
Bin  ich  aller  Krankheit  los, 
Und  der  Traurigkeit  entnommen, 
Buhe  sanft  in  Gottes  Schofs. 

Nach  des  Lebens  Sorgen, 
Nach  des  Grabes  Nacht, 


In  der  Welt  ist  Krieg  und  Streit, 
Endlich  gar  der  bittre  Tod, 
Aber  dort  ist  allzeit  Fried. 


Tagt  ein  schöner  Morgen 
In  des  Himmels  Pracht. 


Ach  weinet  nicht,  dafs  ich  gestorben, 
Ich  habe  ja  nun  ausgekrankt. 
Was  mir  mein  Jesus  hat  erworben, 


Das  hab  ich  durch  den  Tod  erlangt, 
Ich  bin  an  einen  Ort  gebracht, 
Wo  meine  Seel  in  Frieden  lacht. 


330  Die  Sorben. 

Ach  wer  wollte  denn  nicht  gerne  sterben, 
Und  den  Himmel  für  die  Welt  erwerben. 
Wer  wollte  hier  bleiben, 
Sich  den  Jammer  länger  lassen  treiben? 

Und  wirst  im  Alter  zu  Grab  kommen,  wie  Garben  eingeführet  werden  zu 

seiner  Zeit.    Hiob  5,  26. 

Wo  ich  hingehe,  wisset  ihr,  und  den  Weg  wisset  ihr  auch. 

Christus,  der  ist  mein  Leben  (u.  s.  w.  bis)  Bruder  mein. 

Rom.  6.  8. 
Hörn.  18.  8. 

Wenn  du  die  Toten  wirst  (u.  s.  w.  bis)  Häuf. 

Und  ihr  habt  auch  nun  Traurigkeit,  aber  ich  will  euch  wiedersehen,   und 
euer  Herz  soll  sich  freuen,  und  eure  Freude  soll  niemand  von  euch  nehmen. 

Papitzer  Grabspruch. 

Bas  Leben  ist  gleich  wie  ein  Traum, 
Ein  nichtes  werter  Wellenschaum. 
Im  Augenblick  es  bald  vergeht, 
Und  nicht  besteht, 
Gleich  wie  ihr  dieses  täglich  seht. 

• 

Grabsprüche  aus  Burg. 

Mit  traurigem  Herzen  sahn  wir  dich  versenken, 
Dich  Gattin,  Mutter,  die  uns  über  alles  teuer  war. 
Für  unser  Wohl  war  ja  dein  stetes  Denken 
Und  rastlos  Streben  bis  zur  Totenbahr.  — 
Buhe  sanft,  Gott  lohne  deine  Treue, 
Dieses  Denkmal  wir  dir  liebend  weihen. 

Er  ging  dahin,  den  meine  Seele  liebte, 
Der  treuen  Gattin  und  der  Kinder  Glück. 
Er  ist  dahin,  der  nie  mein  Herz  betrübte, 
Und  läfst  uns  trauernd  hier  zurück. 

Buhe  nun  in  Frieden, 
Allen  Schmerz  hienieden, 
Allen  Kummer  tilgt  das  Grab. 

Buhe  sanft,  des  Lebens  Kummer 
Drückt  nicht  mehr  dein  frommes  Herz. 
Dich  umfängt  des  Grabes  Schlummer, 
Mir  allein,  mir  blieb  der  Schmerz. 

Ich  hätte  gern  gesorgt  für  euch  noch  manches  Jahr, 
Doch  folgt  ich,  Gott  ergeben,  dem  Buf  zur  Totenbahr. 
Sein  Will  ist  stets  der  beste,  ob  wir's  auch  nicht  verstehn, 
Drum  lasset  ihn  nur  walten,  bis  ihr's  im  Lichte  werdet  sehn. 

Wie  schlummerst  du  so  sanft  in  deiner  Kammer, 

Und  deine  Leiden  deckt  des  Grabes  Buh. 

Der  bittre  Kelch  ist  ausgeleert, 

Es  ist  nichts  mehr,  das  deine  Buhe  stört. 


Grabsprüche.    Ostern.  331 

Buhe  sanft  in  der  kühlen  Erden, 

Bis  wir  uns  einst  wiederfinden  werden. 


Dich  riefen  Gottes  Engel 
Früh  zu  des  Grabes  Buh. 


Doch  wehen  Himmelsblüten 
Dir  ewge  Freuden  zu. 


Grabsprüche  aus  Briesen. 

Du  warst  zum  Unglück  fast  geboren, 
Schwer  wurdest  du  oft  heimgesucht, 
Doch  nie  hast  du  den  Mut  verloren, 
Du  lebtest  fromm  in  Gottesfurcht. 

Du  blühtest,  eine  Blume,  '  Zu  deines  Schöpfers  Buhme, 

Die  man  mit  Freuden  sah,  Nun  bist  du  nimmer  da. 

4.  Ostern.  Zu  L&tare  und  am  Gründonnerstag  gehen  die  Kinder 
herum  und  bekommen  Graben;  im  Rotenburger  Kreise  singen  sie  am 
Gründonnerstag:  „Guten  Morgen,  guten  Morgen,  um  a  grün'  Dunscht 
(Donnerstag),  und  wenn  ich  nischt  krieg,  da  komm  ich  umsunst."  Die 
Kinder,  die  am  Gründonnerstag  bis  zum  Karsonnabend  sich  am  Oster- 
klappern  beteiligen,  erhalten  von  den  Leuten  Milchhirse,  Heringe  mit 
Kartoffeln  und  bekommen  dann  Eier,  die  sie  dem  Lehrer  früher  zur 
Verteilung  brachten.  Das  bei  den  Spinnstuben  erwähnte  Ostersingen 
findet  noch  an  vielen  Orten  statt.  Zu  Ostern  holt  man  früh  schweigend 
Osterwasser.  Den  Patenkindern  werden  in  Radibor  Striezel,  in  anderen 
Orten  Pfefferkuchen  und  Kähne  (kahnartige  Semmeln),  Geld  und  schön 
bemalte  Ostereier  geschenkt.  Mit  den  Eiern  kugelt  oder  waleiet  man 
nach  zuvor  gemachten  Erdvertiefungen.  Die  Besitzer  der  getroffenen 
Eier  müssen  einen  Pfennig  oder  sonst  ein  ausgemachtes  Zahlmittel  liefern. 
Im  nördlichen  Vogtlande  macht  man  dasselbe  Spiel  jahraus,  jahrein 
mit  Kugeln  (Titschern),  auch  tetscht  man  da  zur  Osterzeit  mit  Eiern 
so,  dals  einer  auf  das  Ei  des  andern  leise  schlägt.  Welches  Ei  einen 
kleinen  Sprung  bekommt,  erhält  der  Schläger.  —  In  Schleife  steht  auf 
dem  Dorfplatze  ein  Quadrat  von  vier  Bänken  zum  Sitzen,  auf  dem 
freien  Zwischenplatze  aber  eine  höhere  Bank,  auf  die  abends  die 
Laternen  gestellt  werden.  Die  Mädchen  üben  vier  Sonntage  vor  Ostern 
und  den  ganzen  Sommer  ihre  Gesänge  ein  und  singen  dann  am  Oster- 
morgen  im  Wirtshause  und  in  den  Gehöften  vor  jeder  Thür  dem  Haus- 
herrn, und  denen  es  Vergnügen  macht,  ein  Lied  vor.  Sie  bekommen 
dafür  Geld  und  richten  dann  ein  Fest  aus.  In  der  Muskauer  Pflege 
dehnt  man  diese  Singübungen  auf  sieben  Wochen  vor  Ostern  aus,  in 
Werben  übt  man  in  den  Spinnstuben,  in  Burg  im  Freien.  In  manchen 
Gegenden  hat  man  am  Osterschiefsen  festgehalten,  so  in  der  katholi- 
schen. In  der  Radiborer  Kirche  haben  noch  kürzlich  nach  der  Auf- 
erstehungsprozession im  Dorfe  und  von  Kirche  zu  Kirche  beim  Osterruf 
des  Pastors  „Christus  ist  erstanden tf  um  Mitternacht  Burschen  gleich 
in  der  Kirche  bei  der  Orgel  vorbei  geschossen.     Jetzt  begnügt  man 


332  -Die  Sorben. 

sich  bei  der  nächtlichen  Prozession  mit  Rotfeuer.  In  den  wendischen 
Dörfern  bei  Weilswasser  geben  die  Burschen  Geld  für  das  Singen  der 
Mädchen,  und  wer  beim  Fest  dann  ein  Mädchen  zum  Tanz  holt,  be- 
kommt bunte  Eier.  Manche  Dorfschöne  braucht  vier  Schock  Ostereier. 
In  drei  Orten  des  Königswarthaer  Kirchspiels  finden  noch  Fasten- 
prüfungen statt.  Dazu  kommt  klein  und  grofs.  Gebet,  Gesang, 
Katechismus  bilden  Prüfungsgegenstände.  Am  Ende  giebt  der  Pastor 
Brezeln  und  empfängt  Eier  oder  Geld.  —  Das  Osterreiten  hatte 
ursprünglich  sicher  den  Zweck,  die  Grenze  jedes  Jahr  aufs  neue  in 
Augenschein  zu  nehmen  und  anzuerkennen.  Schon  im  11.  Jahrhundert 
waren  aber  eigene  Gebräuche  mit  dem  Osterreiten  verbunden.  Die 
alte  Sitte  des  Umzuges  hat  sich  besonders  im  Klosterbezirk  Marien- 
stern erhalten.  Die  Bauern  und  Bauernsöhne  kommen  im  Reitkostüm 
und  mit  Gylinder  hoch  zu  Hofs.  Das  Sattelzeug  ist  mit  Muscheln  und 
Metallzierat,  Bändern  und  Blumen  geschmückt.  Mähne  und  Schwans 
hat  man  gekräuselt.  Eine  gestickte  Satteldecke  erbt  von  Geschlecht 
zu  Geschlecht.  Die  Dorfreiter  sammeln  sich  in  Gemeinden  nachmittags 
auf  einem  Orte  beim  Kloster.  Sie  ziehen  dann  unter  Vorangang  der 
Chorknaben  mit  Kirchenfahne  und  der  Geistlichkeit  nach  dem  Kloster, 
wo  Gottesdienst  gehalten  wird.  Inzwischen  umreiten  die  Osterreiter 
angesichts  einer  grofsen  Zuschauer  menge  unter  fortwährendem  Gesang 
sorbischer  Lieder  dreimal  den  Klosterhof. 

5.  Pfingsten.  ZuWalpurgis  werden  die  Kühe  abends  gemolken, 
die  Stallthüren  geschlossen,  die  schrägen  Kreide-  oder  Teerkreuze  an 
den.  Stallthüren  erneuert.  Dem  Ausziehen  mit  brennenden  Besen  hat 
die  Polizei  ein  Ende  gemacht.  Am  1.  Mai  pflanzt  man  Maibäume  auf, 
jedes  Dorf  einen.  Das  sind  Tannen,  die  mit  Taschentüchern  und  oben 
mit  einem  Kranze  geziert  werden.  Der  Kranz  wird  mit  auf  den  Tanzsaal 
genommen  und  hängt  da  mehrere  Wochen.  Früher  fand  Musik  unter 
dem  Maibaum  statt.  Schmaler  kannte  noch  die  Sitte,  dals  man  den 
Maibaum  bis  zur  Himmelfahrt  stehen  liels.  Dann  tanzte  man  um  den 
Baum,  grub  den  Boden  allmählich  weg,  und  wer  von  den  Burschen 
zuerst  zum  Gipfel  kam  und  ihn  abbrach,  wurde  von  einem  Freunde 
auf  den  Schultern  in  die  Schenke  getragen.  —  Zu  Pfingsten  schmückt 
man  Thüren  und  Fenster  seines  Heims  mit  jungen  Birken  oder  Birken- 
ästen, „Zacken".  In  den  Kirchen  stehen  vor  der  Thür  und  dem  Altar, 
sogar  auf  dem  Kirchturm  Birken;  an  den  Hauszäunen,  über  dem  Thor- 
und  Thüreingang  hat  man  Maien  befestigt.  Am  Vorabend  säubert 
man  mit  Bürste  und  Lappen,  mit  Rechen  und  Besen  das  Gehöft;  den 
Pfingstkuchen  hat  man  schon  fertig.  Früh  zum  Gottesdienst  kommen 
meist  die  Herrschaften  und  die  Wirte.  Die  schwarzen  Bauschröcke 
sind  in  Hülle  und  Fülle  zu  sehen;  das  weifse  fünfeckige  Kopftuch  hat 
nur  hier  und  da  Abänderungen  durch  eine  veraltete  Halskrause  oder 
durch  lange  Röhren,  die  bis  auf  die  Schulter  herabreichen.  Die 
Trauernden    allein    haben    schwarze   Kopftücher.      Die  Strümpfe  sind 


Pfingsten.    "Weihnachten.    Ernte.  333 

meist  sohwarz,  die  weifsen  verschwinden  immer  mehr.  In  der  Hand 
haben  die  Wendinnen  ein  Str&ufschen  scharf-  und  wohlriechende 
Gartenblumen  „als  Riecbfl&schchenu.  Nachmittags  ist  es  überall 
stumm,  die  Leute  besuchen  den  Gottesacker,  kommen  in  den  Häusern 
zusammen,  gehen  nur  vorübergehend  in  die  Schenke;  „das  ist  ein 
Bulstag",  sagte  mir  ein  Mädchen.  Ganz  anders  der  zweite  Feiertag. 
Früh  gehen  meist  die  jungen  Wendinnen  zur  Kirche.  Die  Röcke  sind 
in  den  hellsten  erfreuen  de  ten  Farben  gehalten,  grün  oder  rot  wiegen 
vor.  Der  Rand  ist  blumig.  Der  Staatsrock  ist  immer  von  Seide; 
die  Schürze,  die  beinahe  das  ganze  Kleid  bedeckt  und  andersfarbig 
ist,  gleichfalls.  Das  Kopftuch  ist  mit  den  verschiedensten  blumigen 
Mustern  versehen  und  hat  kostbare  Ränder.  Und  nachmittags  4  Uhr 
beginnt  das  Tanzvergnügen.  Mit  unglaublicher  Ausdauer  wird  bis 
nach  Mitternacht  getanzt,  dazu  auch  öfter  gesungen,  aber  fast  nur 
deutsch.  Noch  jubelnder  ist  der  Tanz  am  dritten  Feiertage,  da  hat 
man  keine  Gäste  aus  der  Stadt  und  ist  unter  sich.  —  In  Papitz  stellen 
die  beiden  Spinnstuben  vor  ihrem  Gasthof  einen  etwa  12  m  hohen 
Pfingstbaum  auf.  Der  muls  am  Pfiogst abend  gestohlen  und  nachts 
12  Uhr  aufgerichtet  werden.  An  einen  frischgeschälten  Fichten  stamm 
bindet  man  oben  eine  Birke,  an  ein  Querholz  darunter  zwei  Kränze 
und  Fähnchen.  „Aber  der  Stamm  müls  gestohlen  sein,  sonst  gilt  er 
nicht  für  voll."  Natürlich  hat  sich  die  Forstverwaltung  ins  Mittel 
gelegt  und  schliefslich  den  Ausweg  getroffen,  für  den  Baum  nur  ein 
weniges  zu  verlangen.     Aber  er  wird  trotzdem  lieber  gestohlen. 

6.  Zu  Weihnacht  ruht  der  Spinnrocken  in  den  Zwölften. 
Ruprecht  und  Nikolaus,  Lichterbaum  und  Gabentisch  treten  in  ihre 
Rechte.  Das  Backen  der  Kuh-  und  Schaf figuren  (nach  Schmaler),  die 
dem  Vieh  des  Gedeihens  wegen  gegeben  werden,  scheint  verschwunden 
zu  sein.  Das  Orakelsuchen  zu  Silvester,  das  Obstbaumschütteln  u.  a. 
herrscht  hier  so  gut,  wie  überall. 

7.  Ernte  (Abb.  143  a.  f.  S.).  Solange  Feld  und  Flur  nicht  ab- 
geerntet sind,  ruhen  die  Festfreuden.  Bis  vor  einigen  Jahrzehnten  war 
nur  in  der  Zahsower  Gegend  das  Elstertragen  am  zweiten  Pfingstf eier- 
tage Mode.  Wer  bei  einem  bestimmten  Ziele  zuerst  anritt,  wurde 
bekränzt  und  blieb  ein  Jahr  König.  Der  letzte  Reiter  aber  hatte  am 
Ende  des  Zuges  eine  Stange  mit  einem  Eichhorn  und  einer  Elster  zu 
tragen.  Mit  ihm  wurde  allerlei  Schabernack  getrieben,  wie  ja  über- 
haupt der  Letzte  im  Volksbewufstsein  besonders  hervorgehoben  wird. 
Das  beim  Umzüge  eingesammelte  Geld  ward  zu  einem  Tanzfest  ver- 
wendet. 

Zu  Johanni,  wenn  die  heilbringenden  Kräuter  eingesammelt  werden, 
pflegte  man,  nach  Schmalers  Angaben,  ehemals  einen  „Johann"  mit 
birkenrindener  Larve  und  Blumengewinden  zu  vermummen.  Der 
mufste  durchs  Dorf  reiten  und  ward  von  den  Jungen  zu  haschen  ge- 
sucht und  seiner  Blumen  beraubt,  die  heilbringend  sein  sollten.     Nach 


834  Die  Sorben. 

der  Heuernte  veranstaltet  man  in  Weifsagk,  Raddusch  and  Umgegend 
du  Stollereiten.  Die  Barschen  kommen  in  Hemd&nneln  auf  einem 
breiten  Wege,  „wo  Fuhrleute  nicht  fahren  und  nichts  eingetreten 
werden  kann",  unf  im  gesattelten  Rossen  zusammen.  Die  Musik  ist 
bestellt,  und  unter  Jubel  wird  nach  einem  bestimmten  Ziele  gejagt,  die 
drei  besten  Reiter  bekommen  Preise.  Am  Ende  ist  Tanz.  In  Papits 
ward  das  Spiel  erst  neu  eingeführt. 


i  Gemälde  von  Bteffen-Bnvg.) 


In  derselben  Gegend  spielt  man  „Jungf  ernst  echenu.  Eine 
Strohpuppe  wird  wie  ein  wendisches  Madeben  angezogen  and  ihr  auf 
der  Brust  ein  Brett  befestigt,  auf  das  ein  Herz  gemalt  worden  ist.  Eine 
lange  Gasse  Mädchen  sehen  zu,  wie  die  Burschen  mit  verbundenen 
Augen  nach  dem  Herzen  stechen.     Der  Treffer  erhält  einen  Preis. 

In  Maschen  nnd  Babow  ist  das  Hahnrupfen  gebräuchlich.  Ans 
drei  Stangen  macht  man  ein  Thor  und  hängt  einen  toten  Hahn  an, 
dessen  einzelne  Glieder  man  so  angeschnitten  hat,  dafs  sie  leicht  abzu- 
reiben sind.  Nun  reiten  die  Burschen  durch  nnd  suchen  dabei  den 
Hahn  herunterznreilsen.  Der  Sieger  bekommt  eine  festgesetzte  Be- 
lohnung. 

Ähnlich  ist  das  Hahnschlagen.  Man  macht  ein  Loch  in  die 
Erde,  steckt  einen  Hahn  hinein,  deckt  ihn  zu  and  legt  einen  Topf 
darüber.  Wahrend  die  Musik  spielt,  wird  immer  ein  Barsche  um  eine 
Tonne  dreimal  geführt,  dem  man  die  Augen  verbunden  hat.     Dann 


Spinnstuben.  335 

wird  er  freigelassen  und  mufs  mit  seinem  Stecken  oder  Dreschflegel 
nach  dem  Topfe  suchen  und  daraufschlagen.  Selten  gelingt  es,  denn 
die  Mädchen  suchen  den  Burschen  durch  Reden:  Rechts!  Zuschlagen! 
und  dergl.  irre  zu  fuhren.  Ist  der  Hahn  nicht  angebunden,  so  entrinnt 
er  vielleicht  sogar,  wenn  der  Topf  eingeschlagen  ist,  und  es  beginnt 
das  Nachjagen.  Auch  die  Mädchen  beteiligen  sich.  Übrigens  sagen 
auch  die  Erntearbeiter,  die  die  letzten  Garben  holen:  „Wir  bringen 
den  Eokot  (Hahn)  heim.tf  Die  Erntearbeiter  schmücken  sich  mit  Feld- 
blumen und  legen  eine  geschmückte  Garbe  auf  den  Wagen.  Am  Ende 
der  Ernte  bäckt  man  PlinBen.  Zur  grolsen  Kirmes  knallen  in  der  Kloster- 
gegend die  Kuh  jungen  vor  den  Gehöften,  bis  sie  Kuchen  bekommen. 

8.  Spinnstuben  (Abb.  144).  In  Sachsen  giebt  es  seit  etwa  15  Jahren 
keine  Spinnstuben  mehr.  Ältere  Leute  entsinnen  sich  aber  noch  wohl, 
dafs  das  Schlulsfest  der  Rockenstuben  das  Ostersingen  war.  Da  kamen 
die  Mädchen,  Jedes  Dorf  in  seiner  eigenen  Kleidung,  und  sangen  vor  den 
Häusern.  Sie  bekamen  Geld;  ein  Pastor  erzählte,  er  habe  immer  einen 
halben  Thaler  gegeben.  Die  Gendarmerie  hat  die  Sache  aber  als 
Bettel  aufgefalst  und  Anzeige  erstattet;  so  ist  es  allmählich  einge- 
schlafen. Auch  in  der  schlesischen  Oberlausitz  sind  die  Spinnstuben 
im  Verschwinden,  und  die  Niederlausitz  muls  mitmachen.  Klagend 
erzählte  mir  eine  alte  Frau,  jetzt  wolle  alles  vornehm  sein  und  nicht 
mehr  spinnen.  Man  kaufe  in  der  Stadt  die  feinen  Bazarwaren  und 
überlasse  den  Alten  das  Arbeiten.  Wohin  das  führen  werde,  sei  nicht 
abzusehen.  Die  Alten  seien  bald  alle  abgestorben,  und  dann  könne 
niemand  mehr  arbeiten.     Aber  alle  Ermahnung  nütze  nichts. 

In  der  Niederlausitz  beginnt  die  Spinn stube  am  11.  Oktober  oder 
nach  der  Kirmes  (z.  B.  Werben)  oder  zu  Martini  und  endet  mit  dem 
Ostersingen.  In  grölseren  Dörfern  giebt  es  zwei  oder  drei  Spinnstuben, 
so  in  Werben  eine  für  die  jüngeren,  eine  für  die  älteren  Mädchen  und 
eine  für  die  Burschen.  Gewöhnlich  gehören  10  bis  15  Mitglieder  zu 
einer  Spinnstube;  die  Hauptspinnstube  in  Werben,  die  der  älteren 
Mädchen,  zählt  etwa  30.  Die  Spinnerinnen  bevorzugen  natürlich  eine 
geräumige  Stube  und  wechseln  alle  Jahre,  wenn  es  angeht;  in  Werben 
nicht.  Hier  fangen  die  Mädchen  bei  eintretender  Dämmerung  an  und 
spinnen  bis  nach  acht,  dann  kommen  die  Burschen  zu  Besuch;  ander- 
wärts beginnt  das  Spinnen  um  sechs  oder  sieben  Uhr  und  endet  um 
zehn  Uhr.  An  der  Spitze  steht  je  eine  Vorsängerin  (Kantorka);  man 
wählt  gern  ein  älteres  Mädchen.  Den  Anordnungen  der  „Kantorin" 
hat  sich  jedes  zu  fügen.  Sie  stimmt  auch  die  Lieder  an;  zuerst  werden 
Gesangbuchs-,  später  Volkslieder  an  jedem  Abend  gesungen.  Gesponnen 
wird  bis  zum  Beginn  der  Feldarbeit,  das  Spinnrad  ruht  in  den  zwölf 
Nächten,  an  den  Feiertagen  und  deren  Vorabenden.  Festlichkeiten 
veranstaltet  die  Spinnstube  zweimal  vor  Fastnacht,  zu  Fastnacht  und 
zu  Ostern.  In  Werben  laden  sich  vor  Fastnacht  die  Spinnstuben  zu 
einem  Grogfest  ein,  der  Grog  wird  gleich  in  Kesseln  gekocht.     Zur 


336  Die  Sorben. 

Fastnacht  aber  versammeln  sie  sich  im  Tanzsaal;  die  Vorsteher  und 
Yorsteherinnen  bestimmen  die  Paare,  und  nun  zieht  der  Zug  durch 
das  Dorf  nach  dem  Herrenhause.  Dort  tanzt  man.  Oft  ist  es  kalt 
und  schneit,  und  der  Schnee  muls  weggeschaufelt  werden,  aber  die 
Mädchen  gehen  im  Ärmelhemd  ohne  Jacke.  Im  Zuge  folgen  nach  den 
Yorsteherpaaren  etwa  neun  Musikanten  und  dann  die  Spinn stubenpaare. 
Den  Schlufs  bilden  ein  Mahl  und  ein  Tanz  im  Saal.  Zu  den  Kosten,  die 
die  Mädchen  decken ,  trägt  jede  2,50  Mk.  bei.  Das  Schlulsfest  ist  das 
Ostersingen  (Ostersängerinnen,  vgl.  Abb.  125  u  bis  19).  In  Schleife  üben  die 
Mädchen  auf  dem  Dorf  platze;  in  Burg  lernt  man  im  Freien  die  Gesänge, 
meist  Gesangbuchslieder;  in  Werben  singt  man  die  in  der  Spinnstube 
gelernten  Lieder.  Mitternachts  zieht  die  Spinnstube  vor  das  Haus  jedes 
Mitgliedes  und  singt;  auch  vor  dieThür  von  Standespersonen  geht  man. 
In  Burg  sang  man  bis  vor  kurzem  vor  der  Mühle  und  wurde  dann  mit 
Kaffee  und  Kuchen  bis  gegen  zwei  Uhr  bewirtet.  Die  Aufnahme  in 
die  Spinnstube  gilt  für  eine  Ehre,  wird  nur  nach  der  Verheiratung  und 
dem  Tode  früherer  Mitglieder  vollzogen  und  muls  erkauft  werden.  In 
die  Spinnstubenkasse  fliefsen  auch  sonst  Pfandgelder  und  freiwillige 
Spenden.  Der  Spinnstubeninhaberin  giebt  man  in  Werben  für  jedes 
Mitglied  75  Pfennige,  schwingt  ihr  zwei  Pfund  Flachs  und  schenkt  zu 
Weihnachten  Schirm  und  Tuch.  Die  Inhaberin  hat  durchaus  nicht 
für  Bewirtung  aufzukommen.  —  Früher  wurde  in  den  Spinnstuben, 
besonders  bei  den  Festen,  weit  mehr  Mummenschanz  getrieben  als 
heut«.  Nach  Schmaler  verbrannte  man  den  Mädchen,  die  vor  Weih- 
nachten den  Flachs  nicht  auf  gesponnen  hatten,  den  Flachs  und  zer- 
brach den  Oberrocken.  Der  Witzigste  mutete  aufserdem  zu  Ascher- 
mittwoch einen  Rocken  mit  der  Ofengabel  durchstechen.  Wer  das 
erste  Mal  eine  Spinnstube  betrat,  wurde  angebunden.  In  jedem  Falle 
konnte  man  der  Strafe  durch  ein  Lösegeld  für  die  Spinnstube  entgehen. 
Wie  die  Jugend  mit  dem  bebänderten  Fastnachtsspiels,  so  ziehen  noch 
heute  an  manchen  Orten  die  Spinnstubengesellschaften,  mit  Musik  an 
der  Spitze,  vermummt  durch  das  Dorf  und  musizieren  mit  Blechstürzen, 
Gielskannen,  Kuchenblechen,  singen  und  juchheien.  Dann  sammeln 
sie  in  jedem  Hause  Geld  und  Eiswaren  ein;  so  war  es  beispielsweise 
noch  vor  30  Jahren  in  Hornow  und  Werben.  Die  Burschen  suchten 
wohl  auch  Pfähle  und  Latten  zum  Feuer  und  zur  Bereitung  des  Fest- 
mahles. Die  Fastnacht  ist  aber  noch  heute  der  Höhepunkt  der  Spinte. 
Beliebte  Spinnstubenspiele  in  der  Burger  Gegend  sind:  „Wer 
lacht  zuerst"  und  „Du  hast  den  Schlüssel".  Die  Vorsteherin 
steht  mit  dem  Taschentuch  da  und  ist  bereit,  es  dem  ersten  Lacher 
zuzuwerfen.  Die  Mädchen  aber  sitzen  auf  Stühlen  und  verziehen  keine 
Miene.  Die  Umstehenden  und  die  Gäste  machen  nun  irgend  etwas, 
sagen  thörichte  Reden,  um  die  Mädchen  zum  Lachen  zu  bringen. 
Die  aber  sitzen  starr  und  stumm  und  leisten  Unglaubliches  in  der 
Herrschaft  über   ihr  Mienenspiel.      Schlielslich   lacht  doch    eine,    die 


Ig 

- 1 


Spiele.  337 

Kantorin  wirft  ihr  das  Tuch  zu  und  nimmt  dann  du  Pfandgeld  für 
die  Spinnkasse  in  Empfang.  Dasselbe  Ziel  verfolgt  noch  eine  Reihe 
anderer  Spiele.  Nor  der  Geselligkeit  dient:  „Du  hast  den  Schlüssel" 
(Abb.  145).  Die  Madchen  setzen  sich  auf  den  Fulaboden  und  stecken 
Abb.  145. 


Spinnitabenspiel  „Du  hast  den  ScDliisaal11 .  (Nach  Photogr.  v.  Bteffen-Burg.) 
Die  Mädchen  haben  die  Hände  unter  den  KnieeD  und  laaaen  einen  Schlüssel  durch- 
wandern. Die  Kantorka  steht  und  «agt  iu  einer  „Du  haat  den  Schliieael".  Hat  sie 
die  richtige  getroffen,  so  darf  der  Scblüiiel  nicht  weilergehn.  Daa  Spiel  wird  u.  a, 
auch  in  Blankenhain  bei  Werdau  gemuht. 

unter  den  bohlen  Knieen  einen  Schlüsse!  rnnd  um.  Die  Kantorin  muls 
nun  raten  und  sagen:  Du  hast  den  Schlüssel.  Grotse  Heiterkeit  folgt, 
wenn  die  Zusage  zutrifft.  Sobald  das  Wort  gesagt  worden  ist,  halt  der 
Schlflesel  an.  Beim  „Alten  hochheben"  legt  man  je  eine  Männermfltze 
über  Fingerhut,  Schlüssel,  Bürste  und  deckt  eine  Schürze  darüber.  Die 
Vorsteherin  fragt  die  erste  beste,  welche  Mütze  weggenommen  werden 
soll.  Die  Gefragte  zeigt  auf  eine  Mütze.  Der  Fingerhut  bedeutet  den 
Junggesellen,  der  Schlüssel  den  Witwer,  die  Bürste  den  Alten.  Beim 
„Raupenziehen",  ähnlich  wie  bei  der  „Schlange",  zieht  ein  Mädchen 
auf  allen  Vieren  voran,  die  anderen  folgen  ihr,  indem  sie  sich  an  den 
Hüften  der  vorderen  festhalten.  Der  Zug  geht  durch  Stube  und  Hof 
und  zurück.  Beim  „Wolfreilsen"  falst  man  sich  aufrecht  stehend  am 
Rock  und  läuft  rückwärts  so  schnell,  bis  man  fällt.  Gebräuchlich  sind 
ferner  nach  Müller  „Bullen schlachten",  „Mühle",  „Ente  ziehen",  „Fuchs 
aus  dem  Loch",  „Backofen  einstofsen",  ölschlagen",  „Kalendermacben", 
„Ledergerben"  (eine  Art  n  Schinken  kloppen").  Wie  beim  Spinnen,  liebt 
man  auch  beim  Federschleifsen  die  Gemeinsamkeit;  sie  kam  in  den 

Tetiner,  Die  Slawen  in  DcatichUnd.  an 


388  -Die  Sorben. 

Dörfern  ine  Wanken,  wird  aber  aufs  neue  gestärkt  durch  die  ge- 
meinsame Anschaffung  von  Dreschmaschinen  und  anderen  wertvollen 
wirtschaftlichen  Geräten.  —  Als  Kinderspiel  ist  neben  dem  Fangen, 
dem  Anschlägen,  dem  Waleien,  dem  „ Himmelhüpfen a  besonders  das 
Steinchenspiel  beliebt.  Man  wirft  vier  bis  zehn  Kugeln  in  den  Sand, 
schnellt  eine  in  die  Höhe  und  fängt  sie  wieder  auf,  nachdem  man 
schnell  eine  andere  vom  Boden  in  die  Hand  genommen  hat.  Nun 
wirft  man  eine  dritte  auf  und  fängt  sie  mit  derselben  Hand  auf,  die 
schon  zwei  Kugeln  hält.  Manche  der  Knaben  bringen  es  bis  auf 
zehn  Kugeln.  Das  Spiel  geht  rundum  und  endet  dann,  wenn  einer 
alle  Kugeln  in  der  Hand  hat. 

Bindespruch. 

(Wenn  ein  Deutscher  die  Spinnstube  zum  erstenmale  betritt.    Werben.) 

Ich  binde  um  die  rechte  Hand 

Hier  mit  diesem  Ehrenband.  („Was  sie  um  den  Wocken  hat") 

Wirds  nicht  eine  Flasche  Wein, 

Wird's  eine  Flasche  Branntewein. 

Wer  was  giebt,  wird  hochgeacht' 

Wer  nichts  giebt,  wird  ausgelacht 

Und  zuletzt  noch  schlecht  gemacht. 

Bittgesang. 

(Wenn  in  einem  Hause  geschlachtet  oder  gebacken  wird.    Provinzialblätter, 
V.  8tück,  72.    Mitgeteilt  von  Conrad,  Kamenz  1782.) 

Gebt  uns,  gebt,  wollt  ihr  uns  etwas  geben. 

Lafst  uns  nicht  so  lange  stehn, 

Euren  Kot  tretend 

Und  unsere  Schuhe  zerreiXsend. 

Wenn  doch  die  Wirtin  so  gut  wäre 

Und  uns  ein  Stück  (Brot)  gäbe. 

Wir  wollen  spinnen, 

Holz  in  den  Ofen  legen. 

Und  den  Wirt  wollen  wir  hinter  den  Ofen  setzen 

Und  eine  weiche  Semmel  in  die  Hände  geben. 

9.  Allerlei  Glaube.  Wer  von  hellem  Feuer  träumt,  er- 
träumt sich  Geld  oder  baldige  Hochzeit.  —  Springen  Funken  aus  dem 
Ofen,  so  kommt  Besuch;  ebenso,  wenn  das  rechte  Auge  kraut.  — 
Raucht  es  aus  dem  Ofen,  kommt  Unglück.  —  Die  Krautpflanzen 
müssen  sich  einander  kugeln,  dann  gedeihen  die  Krauthäupte.  — 
Wievielmal  die  Wachtel  schlägt,  so  viel  Thaler  wird  man  für  den  Scheffel 
Korn  einnehmen. 

Unglück  bringende  Anzeichen  sollen  sein:  heulende  Hunde, 
krähende  Hennen,  Eulen,  zur  Linken  auffliegende  Vögel,  alte  Frauen« 
Hasen,  die  Begegnung  mit  einem  Geistlichen,  mit  dem  linken  Fulse 
die  Schwelle  überschreiten,  wenn  man  jemand  Glück  wünscht. 

Als  Glück  bringende  Anzeichen  werden  hingestellt:  zur  Rechten 
auffliegende  Vögel,  GTeise,  Mädchen,  eine  Spinne  am  Vormittag,  nüch- 


Aberglaube.    Todaustreiben.  339 

tern  Niesen,  wer  am  Neumond  unversehens  über  die  rechte  Schulter 
etwas  sieht.     Bei  der  linken  würde  Unglück  folgen. 

Dreht  sich  der  Pastor  beim  Begräbnis  um,  so  stirbt  bald  jemand 
aus  der  Familie  nach.  Das  geschieht  auch,  wenn  das  Grab  einstürzt. 
—  Wer  den  Schlucken  hat,  von  dem  redet  man.  —  Beim  Ausgehen 
soll  man  nicht  umkehren.  —  Am  1.  Januar  wird  nichts  verborgt  und 
verschenkt.  —  Wenn  es  in  die  Borta  regnet,  melken  die  Kühe  gut.  — - 
Hat  die  Braut  viel  Geld  in  der  Tasche  beim  Hochzeitstage,  so  hat  sie 
es  immer.  —  Am  Freitag  darf  man  nichts  anfangen.  —  Gegen  be- 
schrieenes  Yieh,  das  schlechte  Milch  giebt,  helfen  die  Viehdoktoren  mit 
wendischen  Pröpelformeln.  —  Das  Waschen  im  ersten  Winterschnee 
beseitigt  die  Sommersprossen.  —  Ein  Kalb  muls  man  früh,  nüchtern, 
ohne  ein  Wort  zu  sprechen,  absetzen.  Man  bedeckt  es  mit  einem 
Tischtuch e  und  führt  es  dann  rückwärts  zur  Krippe.  —  Wenn  ein 
Stück  Yieh  verkauft  wird,  bekommt  der  Knecht  oder  Sohn  des  Ver- 
käufers 2  bis  3  Mk.  Schwanzgeld  vom  Käufer.  —  Die  Zukunft  will 
ein  junges  Mädchen  erkennen,  wenn  sie  unter  drei  Töpfen  wählt,  unter 
denen  Brot,  Geld  und  Leinwand  verborgen  ist.  Das  Brot  soll  aus- 
kömmliche Nahrung,  das  Geld  Wohlstand,  das  Leinwandläppchen 
Krankheit  bedeuten.  —  Abendröte  bringt  schlechtes  Wetter. 

Bei  Preusker  heilst  das  Liedchen  beim  Todaustreiben  zu  Lätare: 
„Den  Tod  haben  wir  ausgetrieben,  den  Sommer  bringen  wir  wieder. a 
Er  vergleicht  damit  das  Tschechische:  „Nun  tragen  wir  den  Tod  aus 
dem  Dorfe,  den  neuen  Sommer  in  das  Dorf,  willkommen,  lieber  Früh- 
ling, grün  hervor,  keimendes  Getreide/ 

Wachs  von  geweihten  Kerzen,  Teile  vom  Glockenstrang,  vom  Blitz 
abgesplitterte  Baumstückchen,  um  Mitternacht  geholte  Kreuzwegerde, 
Asche  verbrannter  Hundeshaare  sind  Heilmittel. 

Ein  herzliches,  demütiges  Gefühl  gegen  Gott  prägt  sich,  wie  bei 
allen  slawischen  und  deutschen  Bauernstämmen,  auch  beim  Sorben  aus. 
Der  liebe  Gott,  der  Geber  des  lieben  täglichen  Brotes,  der  Verleiher 
der  Gesundheit  und  des  Erntesegens,  wird  gern  angerufen.  Zu  Pauli 
Bekehrung,  am  20.  Januar,  ist  die  Vogelhochzeit.  Da  stellen  die 
Kinder  auf  dem  Fensterstock,  und  wo  es  sonst  angeht,  Teller  auf,  die 
filtern  legen  Pfefferkuchen  und  Backwerk  darein;  das  sollen  Gaben 
sein  von  der  Vogelhochzeit.  Vogelhochzeitlieder  haben  auch  andere 
slawische  Völker. 

Die  Gebräuche  der  Sorben  sind  viel  einfacher  geworden  seit  der 
Zeit,  da  Samuel  Grosser  von  ihnen  berichtet,  wie  sie  verstohlen  vor 
heiligen  Bäumen  knieten,  im  Frühling  die  Brunnen  weihten,  den  Ver- 
storbenen zu  Ehren  auf  den  Scheidewegen  Hütten  errichteten,  die 
Neugeborenen  unter  Raunen  von  Zauberformeln  gegen  das  Feuer  hielten, 
die  jungen  Ehepaare  unter  Wehklagen  beräucherten,  den  Krankheiten 
unter  Zauberpossen  mit  des  Patienten  Haaren  und  Kleiderzipfeln  be- 
gegneten,  unter   die   Bahre    ein   halbes    Brot   legten,    nach    der  Be- 

22* 


340 


Die  Sorben. 


stattung  Steine  und  Laub  über  ihre  Köpfe  warfen'  und  die  Abgelebten 
töteten. 

10.  Segenbriefe.  Man  trägt  wohl  noch  zuweilen  Segenbriefe 
als  Amulette  bei  sich,  sorbische  sind  mir  nicht  in  die  Hände  gefallen, 
aber  wiederholt  deutsche,  geschrieben  und  gedruckt.  Die  gedruckten 
verschweigen  das  Jahr  und  geben  einen  recht  fremden  Druckort  an. 
Mitunter  liest  man  die  Angabe,  ein  frommer  Einsiedler  habe  das  be- 
treffende Schriftstück  von  seinem  Schutzengel  bekommen  und  eine 
hohe  Geistlichkeit  habe  es  „bewilligt".  Häufig  giebt  die  Mutter  dem 
scheidenden  Sohn  ein  solches  mit.  So  sah  ich  eins  mit  drei  Sprüchen 
„Für  Brandwunden u,  „Blut  versprechen tt,  „Schmerzen  versprechen u. 

Ein  anderes  lautet: 


Christlieb  Ealoscha. 

Es  haben  dich  vier  falsche  Zungen  versprochen,  drei  gute 
versprechen  dich  wieder,  das  erste  ist  Gott  Vater,  das  andere 
ist  Gott  Sohn,  das  dritte  ist  Gott  heiliger  Geist.  Die  vier  falschen 
Zungen,  die  dich  versprochen  haben  (voller  Name),  davon  will 
ich  dich  wieder  lossprechen.  Das  erste  war  ein  Mann  mit  seinem 
Hut,  das  andere  war  eine  Frau  mit  ihrem  Flor,  das  dritte  war 
ein  Bursche  mit  seinem  Mut,  das  vierte  war  eine  Jungfer  mit 
ihren  Zöpfen.  Davon  will  ich  dich  wieder  lossprechen.  Das 
zähle  ich  dir  zu  gute  im  Namen  Gottes  des  Vaters,  und  Gottes 
des  Sohnes,  und  Gottes  des  heiligen  Geistes.    Amen. 


VI.     Musik,  Tanz  und  Gesang,  Lied  und  Spruch. 

Es  giebt  nur  noch  eine  Gegend,  wo  die  alte  Volksmusik  der  Dorf- 
musikanten in  Blüte  steht,  das  ist  die  bei  Muskau  und  Schleife,  und 
in  der  Hauptsache  kommt  sie  auch  nur  zu  Ostern  und  bei  Hochzeiten 
zur  Entfaltung.  Es  gehören  mindestens  drei  solcher  Dorfmusikanten 
zusammen,  und  nach  deren  wendischer  Musik  will  die  sorbische  Dorf- 
schöne viel  besser  und  feuriger  tanzen  können  als  zu  deutscher.  Die 
Musiker  sind  ihrem  Hauptberuf  nach  Ackerbürger  und  Bauern  und 
treiben  ihre  Nebenbeschäftigung  hauptsächlich  von  Familie  zu  Familie. 
Die  Musikinstrumente  (Abbildung  146)  machen  sie  selbst,  schreiben 
auch  die  Noten  selbst  ab  und  vererben  sie  vom  Vater  auf  den  Sohn. 
Einer  zeigte  mir  eine  kleine  Husla,  die  200  Jahre  alt  war.  Aber  die 
Museen  haben  bereits  aufgeräumt,  und  es  ist  schwer,  vom  alten  Gut 
etwa  noch  etwas  zu  erwerben.  Schlau  nutzten  die  alten  Besitzer  zum 
Teil  ihren  Vorteil  aus,  schlugen  unter  der  Hand  Liebhabern  gegenüber 
auf  und  immer  mehr  auf,  voll  Freude  darüber,  dafs  sich  ein  hoher 
Standesherr  der  Gegend  50  Mk.  für  eine  Husla  im  Werte  von  3  bis  5  Mk. 


Musikinstrumente.  341 

abfordern  liels.  Ich  kam  gerade  zur  Osterzeit  unter  die  Musikanten, 
und  so  gern  jeder  die  Summe  genommen  hätte,  so  konnte  er  doch  sein 
Instrument  zum  Feste  nicht  entbehren.  Die  kleine  im  Gebrauch  be- 
findliche dreisaitige  Geige  stieg  während  der  Verhandlung  von  4  auf 
8  Mk.,  der  Dudelsack  auf  45  Mk. 

Es  giebt  zwei  Arten  sorbischer  Geigen.  Die  kleine  Husla  ist  am 
meisten  im  Gebrauch,  sie  ähnelt  ganz  einer  Kindergeige,  wie  man  sie 
auf  den  Jahrmärkten  und  in  den  Bazaren  kauft.  Auf  den  kurzen 
Saiten,  in  der  Stimmung  d  a  e,  wird  ein  äufserst  schriller  Ton  erzeugt. 
Seltener  schon  ist  die  gröfsere  Husla  (60  cm  lang),  deren  Form  mitten 
inne  zwischen  Geige  und  Guitarre  steht.  Die  Saitenbefestigung  des 
"Wirbelbrettes  dieser  ist  wie  bei  der  Guitarre,  das  obere  Brett  des 
Resonanzbodens  aber  etwas  nach,  der  Mitte  gewölbt.  Das  sorbische 
Museum  auf  dem  Lauengraben  in  Bautzen  besitzt  fünf  alte  und  eine 
neue  Husla,  drei  grotse  und  drei  kleine.  Alle  sind  mit  Darmsaiten 
bespannt.  Aufser  den  «glattspaltigen  F-Löchern  ist  am  Ende  des  Griff- 
brettes ein  thalergrofses  mit  sechs  Ritzen  « «*  versehenes  Schallloch. 

Der  Bogen  ist  sehr  straff  gespannt.  Man  legt  die  Geige  nicht  unter 
das  Kinn,  sondern  auf  die  Brust.  Diese  Instrumente  stammen  wohl 
ziemlich  alle  aus  Schleife. 

Das  zweite  Instrument,  die  Tarakawa,  habe  ich  nirgends  mehr 
im  Gebrauch  gesehen.  Man  hat  dafür  die  Hoboe,  und  das  ist  eigent- 
lich nur  eine  verbesserte,  mit  Messingklappen  versehene  Tarakawa,  die 
noch  kürzlich  bei  Tanzmusik  verwendet  worden  sein  soll.  Das  er- 
wähnte Museum  besitzt  zwei  alte  und  zwei  nachgemachte  Exemplare. 
Das  grölste  ist  s/4  m  lang.  Die  Anfertigung  des  angesteckten ,  einen 
kreischenden  lauten  Ton  erzeugenden  Mundstücks  soll  besonderes 
Geschick  erfordert  haben. 

Der  Dudelsack  kommt  in  doppelter  Form  vor,  einmal  mit  ein* 
fächern  schwarzen  Lederbalg,  das  anderem al  mit  grolsem  Ziegenfell, 
dem  man  Kopf  und  Schweinszähne  als  Hörner  aufgesetzt  hat.  Drei 
zusammengehörige  Musikanten  in  gleicher,  etwas  auffallender  Tracht, 
vielleicht  auch  mit  einer  Art  Dreimaster,  wirken  nun  zusammen,  der 
Geiger  in  der  Mitte,  Dudelsack  und  Hoboe  zur  Seite.  Das  Instrument 
tragen  sie  im  Sack  verschnürt.  Diese  dreiteilige  Musik  wird  durch  die 
vierteilige  verdrängt:  Violine,  Bafs,  Klarinette,  Trompete.  Aus  der 
Mode  sind  Zimbel  und  Brummeisen.  Zieh-  und  Mundharmonika, 
Hirtenhörner,  Weidenpfeifen,  Farzen,  Schnarren  und  Klappern 
(Abb.  147  a,  b  a.  f .  S.)  kennt  die  Jugend  sehr  wohl;  hat  man  sonst 
nichts  Lärmendes,  so  bedient  man  sich  der  Töpfe  und  Stürzen,  der 
Kämme,  hinter  die  man  Papier  hält,  der  Gielskannen  und  Triangel. 

Neben  den  deutschen  Tänzen  soll  noch  der  „sorbische  Reihen" 
nördlich  von  Bautzen  im  Schwange  sein.  Sobald  die  Musikanten  zu 
spielen  beginnen,   tritt  der  Vortänzer   mit  seinem  Mädchen,  Gesicht 


342  Die  Borben. 

gegen  Gesiebt,  vor  die  Musikanten.  Er  hebt  ihre  rechte  Hand,  und 
sie  dreht  sich  im  Kreise  auf  einer  Stelle.  Er  l&Ist  die  Hand  los,  und 
sie  dreht  sich,  die  Hände  straff  an  der  Seite,  weiter.  Nun  tanzt  der 
Vortänzer   um  das  Mädchen  herum  und  giebt  seinen  Wunsch  dabei 

Abb.  147. 
a.  b. 


a.     Schnarre.  b.    Klapper.    (Nach  Andree.) 

durch  Gebärden  zu  erkennen,  dals  er  mit  ihr  tanzen  möchte.  Sobald 
sie  die  Hand  hebt,  umfängt  er  sie  und  der  Tanz  beginnt.  Die  übrigen 
Paare  schwenken  sich,  nach  Schmaler,  auf  einem  passenden  Platze 
„acht  Takte  lang  rechts,  acht  Takte  links  und  so  fort,  bis  der  Vor- 
tänzer das  Zeichen  zu  einer  gemeinschaftlichen  Tour  giebt.  Die  Paare 
stellen  sich  einander  gegenüber,  fassen  sich  an  den  Händen  und 
chassieren  so  lange  acht  Takte  rechts  und  links,  bis  der  Vortänzer  sich 
mit  seiner  Tänzerin  auf  seinem  Platze  wieder  herumzudrehen  beginnt, 
was  nun  auch  alle  übrigen  thun.  Jetzt  wechselt  dieses  Herumdrehen 
und  Chassieren  so  lange,  bis  die  Musik  schweigt,  welche  ab  und  zu 
mit  Gesang,  bald  von  der  ganzen  Gesellschaft,  bald  nur  von  einem 
einzelnen  Sänger  begleitet  wurde".  Bei  Hochzeiten  wird  am  meisten 
getanzt,  doch  finden  eben  überall  die  bei  den  Deutschen  beliebten 
Tänze  Eingang.  Oft  singt  man  dazu,  z.  B.  „Wurst  im  Tiegel  etctt, 
„Anna,  bist  du  von  Sinnen*4. 

Die  Lieder  hat  Schmaler  in  Feldlieder,  Sätzchen,  Rundgesänge, 
Hochzeitslieder,  Bittlieder  und  Legenden  eingeteilt.  Die  Feldlieder 
werden,  wie  in  allen  bäuerlichen  Kreisen,  beim  Gange  durch  das  Feld 
gesungen;  die  Sätzchen  waren  noch  vor  kurzem  auch  in  derPleiCsen- 
gegend  Mode.  Wer  sich  zeigen  wollte,  gab  den  Musikanten  eine  grofse 
Münze  und  nahm  den  Vortanz.  Der  Vortänzer  wechselte  natürlich  oft 
am  Abend.  Wenn  er  vom  Vortanz  abtrat,  führte  er  sein  Mädchen  vor 
die  Musikanten,  sang  dann  selbst  ein  Liedchen  oder  liels  die  Musikanten 
eins  wählen  und  die  Sätzchen  aufspielen.  Um  das  Paar  stellten  sich 
die  anderen  und  sangen  das  Lied  mit  Musikbegleitung.  Dann  trank 
das  Mädchen  einen  Krug  Bier,  den  ihr  vor  dem  Sätzchen  der  Vortänzer 


Inhalt  der  sorbischen  Lieder.  343 

0 

gereicht  hatte,  diesem  und  den  Musikanten  zu.  Diese  leerten  den  Krug 
und  harrten  auf  einen  neuen  Vort&nzer.  Während  des  Tanzes  sang 
man  ahnliche  Tanzlieder.  Rundgesänge  beim  Gesellsohaftstrunk 
kommen  wohl  bei  den  Litauern  und  Deutschen  immer  mehr  ab,  ebenso 
die  eigenartigen  Hochzeitslieder  auf  dem  Wege  zur  Trauung.  Beim 
Kuchensingen,  beim  Ostergesang  und  zur  Fastnacht  werden  die  Bitt- 
lieder vorgetragen;  die  Legenden  sind  meist  von  Pastoren  gedichtete 
fromme  und  erbauliche,  zu  einem  guten  Leben  aneifernde  Dichtungen, 
wie  das  goldene  ABC. 

Der  wendische  Gesang  zieht  sich  immer  mehr  in  die  abgelegenen 
Dörfer  zurück,  an  den  breiten  Strafsen  und  Eisenbahnlinien  nistet  sich 
der  Berliner  Gassenhauer,  selbst  in  grösseren  Dörfern  das  bei  den 
Soldaten  gelernte  Lied  ein,  von  der  Schule  aus  aber  siegt  das  deutsche 
Volkslied.  Am  Sonntag  sitzen  die  Bauern  vieler  wendischer  Gregenden  in 
der  qualmigen  Kneipe.  Jeder  hat  (z. B.  in  S)  vor  sich  sein  Fläschchen 
Schnaps.  Die  schwarze  Sonntagsmütze  behalten  sie  auf  dem  Kopfe, 
das  Gespräch  wird  lauter  und  lauter.  Deutsch  ist  die  Unterhaltung. 
Dort  wettet  man  um  zwei  Liter  Schnaps,  ob  einer  früh  gesehen  worden 
oder  abgereist  ist,  hier  streitet  man  sich  halb  scherzend  über  Soldaten- 
angelegenheiten,  den  Fremden  beachtet  man  wenig;  dals  aber  der 
Berliner  Lebens  Versicherer  seit  Wochen  Haus  für  Haus  absucht  und 
versichert,  das  fällt  schlielslich  auf. 

Der  Inhalt  der  sorbischen  Lieder  bewegt  sich  in  demselben  Ge- 
dankenkreise wie  der  der  Dainos.  Der  Abschied  des  Mädchens  vom 
Vaterhause,  der  Zug  des  Burschen  zu  den  Soldaten  oder  in  den  Krieg, 
Liebeswerbungen  des  Jünglings,  Zurückweisungen  oder  verliebte  Seufzer 
des  Mädchens,  Klage  der  jungen  Frau  über  Unannehmlichkeiten  in  der 
Ehe  gegenüber  den  Freuden  im  Yaterhause,  Trinkgesänge,  Selbst- 
gespräche, wie  man  die  Nacht  nach  Hause  kommen  oder  wo  man 
bleiben  kann,  harmlose  Kriegserlebnisse,  Trost  beim  Bier,  Jubel  über 
das  Kneipenleben,  Treue  und  Untreue,  Tiergeschichten  und  Rätsel- 
fragen bilden  die  Vorwürfe.  —  Das  Mädchen  kann  nicht  schlafen,  ihr 
Geliebter  ist  in  den  Krieg  gezogen.  Da  pocht  es  nachts.  Es  kommt 
ein  Reiter  auf  braunem  Rofs  und  bringt  einen  Brief,  dafs  er  gestorben 
ist,  sie  soll  aber  nicht  um  ihn  weinen.  Das  Mädchen  aber  trauert 
sieben  Jahre.  —  Burschen  kommen  ins  Haus  und  fragen  nach  dem 
Mädchen.  Man  sagt:  „Das  ward  gestern  auf  den  Kirchhof  getragen/ 
Da  umreitet  der  Liebesbote  dreimal  den  Kirchhof  und  ruft  am  Grabe: 
„Lieb  Mägdlein,  steh  auf,  sprich  nur  zwei  Worte. u  „Ja,  wenn  ich 
noch  sprechen  könnte,  würde  ich  nicht  hier  unten  liegen.  Nimm  in 
meiner  Kammer  das  Schlaf  siein,  in  der  Truhe  liegt  mein  Kranz.  Die 
im  Kranze  ging,  kennt  nicht  mehr  Erdenlust. u  —  Ein  Mägdlein  sitzt 
und  flicht  zwei  Kränze,  ein  stolzer  Reiter  kommt  vorüber  und  bittet 
um  einen,  aber  das  Mädchen  sagt:  „Den  einen  setz  ich  auf,  der  andere 
gehört    meinem    Liebsten. a     —     Ein    Bursche    fährt    im    Kahn    aus 


344  Die  Sorben. 

Wacholderholz  den  Fluts  hinab  zum.  Schlofs,  wo  das  Liebchen  wohnt 
und  alles  schläft.  Sie  aber  wacht  und  flicht  eine  Schnur  für  den  Ge- 
liebten und  singt  dabei:  „Klettre  doch  an  der  Schnur  empor  und 
komm  übers  tiefe  Wasser;  wenn  du  auf  das  Austrocknen  des  Wassers 
zu  warten  vorhast,  wird  die  Liebe  vergangen  sein."  —  Der  Barsch 
beredet  das  Mädchen,  sie  möchte  ihn  nach  Hause  begleiten.  Sie  er- 
widert, die  Leute  werden  darüber  reden.  Er  aber  sagt:  „Lata  die 
Leute  reden,  wir  haben  uns  ja  verlobt  und  tragen  die  Ringe  am 
Finger. tt  —  Es  besuchen  zwei  Burschen  einen  Hof,  der  eine  geht  des 
Mädchens  wegen  hin,  der  andere,  um  sich  ordentlich  bewirten  zu 
lassen.  —  Das  Mädchen  soll  nicht  zu  schnell  heiraten,  „ scharfe  Dornen 
stechen  sehr,  falsche  Burschen  noch  viel  mehr,  solche  Burschen  giebt's 
in  Fülle,  solche  guten  Mädchen  wenig. tt  Diese  Gedanken  kehren  bei 
den  Polaben  und  Litauern  wieder,  ebenso  die  schmückenden  Beiwörter 
und  poetischen  Einführungen  von  den  lieblichen  Blumen  im  Garten, 
dem  hohen  Hause  auf  dem  Berge  oder  am  Meere,  der  grünen  Linde 
vorm  Hause.  Beliebt  sind  auch  die  Tiergeschichten,  wenn  zur  Hochzeit 
oder  zu  einem  Feste  Elster,  Eule,  Ziege,  Henne,  Storch,  Bär  antreten. 

Die  sorbische  Literatur  hielt  sich  anfangs  in "  rein  kirchlichen 
Bahnen.  Vor  Einrichtung  des  Prager  katholischen  Seminars  1704  und 
der  evangelischen  Predigergesellschaften  zu  Leipzig  1716  und  Witten- 
berg 1749  gab  es  auf ser  handschriftlichen  Werken  hauptsächlich  nur 
Mollers  Gesangbuch  und  Katechismus  1574,  den  Worjechs  1597,  ein 
Enchiridion  von  Tharäus  1610,  des  Ticinus  Grammatik  (Principia 
1679),  Abraham  Frenzeis  Werk  über  den  Ursprung  der  sorbischen 
Sprache  1693. 

Die  Obersorben  erhielten  1728  durch  Lange,  Jokusch,  Böhmer 
und  Wauer  die  erste  sorbische  Bibel,  die  Niedersorben  durch  Fabricius 
1709  das  neue,  durch  Fritze  1797  das  alte  Testament,  und  durch 
Schindler  1822  bis  1824  die  ganze  Bibel.  Predigtsammlungen  und 
andere  geistliche  Bücher  erschienen  wiederholt.  Auf  Kosten  der  Bibel- 
gesellschaften wurden  im  verflossenen  Jahrhundert  verbesserte  Bibeln 
in  beiden  Hauptdialekten  herausgegeben.  Volkslieder  sammelten  Haupt 
und  Schmaler  1842  bis  1843. 

Die  schöne  Literatur  pflegten  aufser  Sauerwein  die  Niedersorben 
Martin  Grys  (|1878)  und  Mato  Kolsyk  (geb.  1853,  lebt  als  Geistlicher 
in  Ohiowa,  Nebraska),  der  in  Hexametern  die  sorbische  Hochzeit  und 
ferner  die  angeblichen  Schandthaten  Geros  besungen  hat ;  unter  den 
obersorbischen  Dichtern  ragt  Zeiler  hervor. 

Die  Zeitungsliteratur  blüht  weniger  bei  den  Niedersorben  als  viel- 
mehr bei  den  Obersorben,  aus  deren  Reihen  sich  sogar  1900  ein 
sorbischer  Schriftstellerverein  entwickelte.  Den  Mittelpunkt  bildet  die 
Zeitschrift  der  sorbischen  Gesellschaft  in  Bautzen,  die  das  Beste  bietet, 
was  das  sorbische  Schrifttum  hervorbringt.  Sie  ist  für  die  Gebildeten 
berechnet,  während  Schriftvereine  für  Verbreitung  kurzer  und  erbau- 


Vaterunser.  345 

licher  Büchlein  beim  Volke  Sorge  tragen.  Dem  sorbischen  Schriftsteller- 
verbande traten  am  15.  März  von  24  Geladenen  22  Mitglieder  bei,  die 
an  den  sechs  obersorbischen  und  zwei  niedersorbischen  Zeitungen  mit- 
arbeiten. 

Sprichwörter.  Alle  trafen  vorbei,  nur  mein  Sohn  traf  — 
beinah.  Er  hat  einen  Elsterfufs  gegessen  (schwatzhaft).  Essen  und 
Trinken  ist  das  halbe  Leben,  auf  der  Ofenbank  liegen  das  ganze.  Das 
schickt  für  dich,  wie  der  Dreschflegel  für  den  Hund.  Erbsen  am  Wege 
rupft  jeder.  Was  einer  aufschüttet,  das  mahlt  er.  Er  hat  immer 
s'  Fenster  am  Halse  (er  liegt  tagaus  tagein  am  Fenster).  Er  macht  aus 
einem  Fingernagel  einen  Ellenbogen  (er  übertreibt).  Die  Finsternis 
frilst  die  Leute  nicht,  stötst  sie  aber  um.  Verliehene  Sachen  kommen 
als  Hinkebein  heim.  Er  fürchtet  sich  wie  ein  Fischotter  (sehr).  Grofse 
Arbeit,  kleiner  Käse.  Der  Flickfleck  mufs  grölser  als  das  Loch  sein. 
Einer  Fliege  wegen  schüttet  man  eine  gute  Suppe  nicht  aus.  Er 
windet  sich  wie  eine  Fliege  im  Brei  (der  Arbeitsunlustige  fängt  allerlei 
an,  aber  ohne  Lust).  Was  die  Frau  mit  der  Schürze  fortträgt,  vermag 
der  Mann  nicht  hereinzuführen.  Wo  die  Frau  die  Hosen  anhat,  ist 
der  Wirt  des  Teufels.  Nimm  dir  die  Frau  aus  der  Nachbarschaft,  die 
Gevattern  aus  der  Ferne. 

VTL     Das  sorbische  Vaterunser. 

1.    Obersorbisch  (mitgeteilt  vom  P.  Goltz  seh  -KÖnigswartha 

und  P.  M a Mi ng -Kutten). 


Wötce  nas,  kiz  sy  w  njebjesach.  Swjecene  budz  Twoje  mjeno.  Priridi 
k  nam  Twoje  kralestwo.  Twoja  wola  so  stan,  kaz  na  njebju,  tak  tez  na 
zemi.  Nas  wsedny  khleb  daj  nam  dz'ensa.  A  wodaj  nam  nase  winy,  jako 
my  wodawamy  nasim  winikam.  A  njewjedz  nas  do  spytowanja.  Ale 
wumoz  nas  wot  teho  zleho.  Pretoz  Twoje  je  to  kralestwo  a  ta  möc  a  ta 
cesc'  do  weenosce.    Hamjeri. 

2.    Niedersorbisch  (mitgeteilt  vom  P.  Schwellow-Hornow). 


Woschz  nas,  kenz  fsy  na  niebju.  Hufswieschone  buzi  twojo  me.  Twojo 
kralejstwo  pschizi.  Twoja  wola  fse  stani,  ako  na  njebju,  tak  tez  na  semi. 
Nasch  sebedny  kleb  daj  nam  zinfsa.  A  wodaj  nam  nasche  winy,  ako  my 
wodawamy  nasehym  winikam.  A  njewjez  nas  do  spytowanja.  Ale  humoz 
nas  wot  togo  slego.  Pscbeto  twojo  jo  to  kralejstwo,  a  ta  moz,  a  ta  zescz  do 
nimernoseji.    Amen. 

3.   Obersorbisch,  katholische  Fassung  nach  M.  Horniks  Übersetzung. 

(Mitgeteilt  von  Dr.  Groll  mufs- Leipzig.) 

Wötce  nas,  kiz  sy  w  njebjesach.  Swjatoscene  budz'  zwo  je  mjeno. 
Prindz  k  nam  twoje  kralestwo;  twoja  wola  so  stau,  jako  na  njebju,  tak  tez 

na  zemi.  Nas  wsedny  khleb  daj  nam  dzens.  A  wodaj  nam  nase  winy,  jako 
tez  my  wodawamy  nasim  winikam.  A  njewjedz'  nas  do  spytowanja;  ale 
wumöz  nas  wot  zleho.    Ameh. 


Die  Polaben. 

Literatur. 

Adelung:    Mithridates  II.    Berlin  1809.    S.  690/91. 

Andree:   Braunschweiger  Volkskunde,  2.  Aufl.   Braunschweig  1901.   8.  50O  f. 

Bergmann:  Bilder  aus  dem  hannoverschen  Wendlande,  Originalphoto- 
graphieen.    Lüchow  1899. 

Brückner:   Die  slawischen  Ansiedelungen  in  der  Altmark  etc.    Leipzig  1879. 

Burmeister:  Über  die  Sprache  der  früher  in  Mecklenburg  wohnenden 
Obotviten  -Wenden.    Bostock  1840. 

Oasopis  Macicy  serbskeje  16/17.  Bautzen  1863/64.  (Polabische  Sprach- 
denkmäler, herausgegeben  von  Pfuhl.) 

Festschrift  zur  Säkularfeier  der  k.  Landw.  Ges.  zu  Gelle.   Hannover  1864.  I,  2. 

Protokoll  aus  den  Verhandlungen  der  Bezirkssynode  Dannenberg  vom 
19.  Juni  1883.    Dannenberg  1883. 

Domeier:  300  wendische  Worte.  Hamburger  vermischte  Bibliothek  II,  5. 
S.  794  bis  805. 

Eccard:  Historia  studii  etymologici  linguae  Germanicae.  Hannover  1711. 
[S.  268  bis  306,  darin  des  Christian  Hennig  (f  1679)  zu  Wustrow  Auf- 
zeichnung.] 

Hannoversche  gelehrte  Anzeigen  1751,  613;  1752,  1137  ff. 

Hanusch:  Zur  Literatur  und  Geschichte  der  slawischen  Sprachen  in  Deutsch- 
land, namentlich  der  Sprache  der  ehemaligen  Eibslawen  oder  Polaben. 
Miklosichs  Slaw.  Bibliothek  II.    Wien  1858. 

Helmolds  Chronik  der  Slawen.  Nach  der  Ausgabe  der  Hon.  Germ.  Über- 
setzt von  Laurent;  2.  Auflage  neu  bearbeitet  von  Wattenbach. 
Leipzig  1894. 

Hennings:  Das  hannoversche  Wendland.  Lüchow  1862.  —  Sagen  und 
Erzählungen  aus  dem  hannoverschen  Wendlande.    Lüchow  1864. 

Hildebrandts  polabischer  Bericht  in  Eeyfslers  Reisen,  herausgegeben  von 
Schütze.    Hannover  1776.    Bd.  II,  8.  1376  bis  1378. 

Hilfer  ding:  Die  sprachlichen  Denkmäler  der  Drevjaner  und  Glinianer  Eib- 
slawen im  Lüneburger  Wendlande;  aus  dem  Bussischen  von  Schmaler. 
Bautzen  1857. 

Jacobi:  Slawen-  und  Deutschtum  in  kultur-  und  agrarhistorischen  Studien, 
besonders  in  Lüneburg  und  Altenburg.    Hannover  1856. 

Jugler:  Vollständiges  Lüneburgisch- Wendisches  Wörterbuch  1809.  (Manuskript 
der  Göttinger  Universitäts-Bibliothek.) 

Lisch:  Vaterunser  der  Wenden.  Jahrbücher  des  Vereins  für  mecklen- 
burgische Geschichte  und  Altertumskunde  VI,  57  bis  69.    Schwerin  1841. 

Verzeichnis  der  früher  im  hannoverschen  Wendlande  gebräuchlichen  Trachten 
und  Geräte,   gesammelt  für  das  Museum  zu  Lüneburg.    Lüohow  1893. 

Meitzen:    Siedelung  und  Agrarwesen  II,  475  bis  493.    Berlin  1895. 

Mente:    Der  Urnenfriedhof  bei  Bebenstorf.  Hannoversche  Schulzeitung  1894, 
Nr.  7  bis  9. 


Sprachgebiet.  347 

Mithof:  De  Lingua  Winidorum  Luneburgensium  17.  Mai  1691.  (Leibniz, 
Collectanea.    Hannover  1717,  II,  835  bis  360.) 

Parum  Schulze:  Nachricht  von  der  Chronik  des  wendischen  Bauern 
Johann  Parum  Schulze.  Annalen  der  Braunschw.  Lüneb.  Churlande 
1794,  VIII,  2.  8.  269  bis  288.  —  Dr.  Kaiina,  Jana  Parum  Szulcego 
Sfownik  Je,zyka  Polabskiego.  Krakau  1892/98.  (Das  Parum  Schulzesche 
Wörterbuch  nach  der  in  der  Ossolinskischen  Bibliothek  in  Lemberg  be- 
findlichen Handschrift.) 

Pypin-Pech:   Das  sorbisch-wendische  Schrifttum  etc.   Leipzig  1894,  8.10/12. 

Roch  oll:    Ohristophorus.     1862. 

Schleicher;  Laut-  und  Formenlehre  der  polabischen  Sprache.  St.  Peters- 
burg 1875. 

Spiel  und  Spangenberg:  Neues  vaterländisches  Archiv.  Lüneburg  1822, 
232;  1832,  I,  319  bis  350;  II,  6  bis  26. 

Steinvorth:  Das  hannoversche  Wendland.  (Deutsche  geographische  Blätter, 
herausgegeben  von  der  Geographischen  Gesellschaft  in  Bremen,  durch 
Dr.  M.  Lindemann,  Bd.  IX,  S.  141  bis  154.)    Bremen  1886. 

Beiträge  zur  Ethnographie  der  hannoverschen  Eibslawen,  mitgeteilt  von 
A.  Vieth,  mit  Einleitung  und  Zusätzen  von  H.  Zimmer,  V.  Jagic  und 
A.  Leskien.    Vgl.  das  folgende: 

Vieth:  Wendischer  Aberglaube  angemercket  bey  der  General  -  Kirchen - 
Visitation  des  Eürstenthums  Dannenberg  im  Monath  August  Anno  1671. 
(Mich.  Bichey.)  Archiv  für  slawische  Philologie  22,  107  bis  148. 
Berlin  1900. 

Warmbold:  Beiträge  zur  Geschichte  des  hannoverschen  Wendlandes. 
Lüchow  1895. 

Ziehen:  Wendische  Weiden.  Frankfurt  1854.  —  Geschichten  und  Bilder 
aus  dem  wendischen  Volksleben.    Hannover  1874. 


I.     Sprachgebiet. 

Die  Polaben  oder  Eibslawen  waren,  wenn  wir  die  Einteilung 
Nestors  beibehalten,  liutizischen  'Geschlechtes.  Sie  sind  heute  völlig 
germanisiert,  nur  eine  Anzahl  Worte  haben  sie  dem  deutschen  Sprach- 
schatz einverleibt.  Ein  alter  Lehrer  konnte  mir  noch  berichten,  dats  in 
Küsten  bei  Lüchow  und  in  der  Nachbarschaft  der  Schulze  am  Klapper- 
brett (vgl.  Abb.  151,  S.  355)  mit  einem  kurzen  wendischen  Satz  die  Bauern 
gerufen  habe,  heute  ist  davon  nichts  mehr  zu  sehen.  Hennings  hörte, 
dats  Anfang  des  19.  Jahrhunderts  einzelne  Bauern  noch  „wendisch" 
redeten.  Das  sagt  auch  1826  der  deutsche  Gelehrte  Wesebe  (Pypin-Pech, 
Sorbisch-wendisches  Schrifttum,  S.  9).  Büsching,  Pfennig  u.  a.  kennen 
die  polabische  Bevölkerung  noch  wohl.  Pfennig  sagt  1783:  „Die  pola- 
bisohe  Mundart  hat  sich  nur  noch  allein  in  den  lüneburgischen  Ämtern 
Dannenberg,  Lücho  und  Wustro  erhalten",  der  Gottesdienst  in  ihrer 
slawischen  Sprache  erlosch  allerdings  schon  1751  zu  Wustro w.  Aber 
viel  Leben  hatte  die  Sprache  schon  das  ganze  Jahrhundert  zuvor  nicht. 
Der  Dannenberger  Pastor  Domeyer  sammelte  1743  bis  1745  Sprach- 
reste und  stützte  sich  dabei  auf  die  Sammelarbeiten  des  Bauers 
Parum  Schulze  (1678  bis  1734)  und  des  Wustro  wer  Pastors  Christian 


348  Die  Polaben. 

Hennig1)  von  Jessen  (1705),  dessen  Wörterbuch  aus  dem  Munde 
des  Bauern  Johann  Janisch  aus  Elennow  zusammengestellt  und  von 
Chr.  Hennig  in  drei  Redaktionen  hinterlassen  worden  war.  Ja,  schon  die 
kleine  Sammlung  Johann  PfeffLngers  in  Lüneburg  1698  und  die  durch 
Leibniz  1691  veranlagte  Sammlung  von  Wörtern  und  Gebeten  und  dem 
bekannten  Hochzeitslied  (1711  von  Eccard  gedruckt),  von  Seiten  Hennigs 
und  des  Lüchower  Pastors  Georg  Mithof,  beweisen,  data  es  nur  noch 
Reste  zu  sammeln  galt.  Und  wenn  man  auch  in  der  ersten  Hälfte  des 
16.  Jahrhunderts  noch  in  der  Mecklenburger  Jabelheide  zwischen 
Ludwigslust  und  Dömitz  slawisch  gesprochen  hat,  so  scheint  doch  das 
Deutsche  überall  schon  so  mächtig  gewesen  zu  sein,  dafs  man  sich 
nicht  gedruckter  polabischer  Bücher  bediente.  Die  Reformation  hat  ja 
jedem  Völkchen  den  Katechismus  und  ein  paar  biblische  Stücke  in  der 
Muttersprache  beschert.  Hier  aber  scheint  kein  Pastor  die  Herausgabe 
eines  polabischen  Gesangbuchs  oder  eines  Katechismus  für  nötig  gehalten 
zu  haben.  Ich  habe  mich  bis  jetzt  vergeblich  bemüht,  dahinter  zu 
kommen,  welcher  wendischen  Bücher  sich  die  Polaben  bedienten.  Wenn 
dies  überhaupt  der  Fall  war,  wäre  am  ehesten  an  sorbische  zu  denken, 
etwa  an  Mollers  niedersorbischen  Katechismus  (Bautzen  1574)  und  sein 
Gesangbuch  oder  noch  an  den  Katechismus  des  Fabricius  (Kottbus  1706). 
Hennig  war  ja  selbst  aus  dem  Sorbenlande  1679  als  dreifsigjähriger 
Mann  nach  Wustrow  gekommen.  Einige  Zeugnisse,  dafs  eigentlich  die 
polabische  Sprache  seit  200  Jahren  als  im  Aussterben  begriffen  gilt, 
mögen  folgen. 

Eccard,  der  Amanuensis  von  Leibniz,  sagt  (Historia  studii  etymo- 
logici  linguae  Germanicae,  Hannover  1711),  die  Polaben  wären  wegen 
ihrer  Sprache  verspottet  worden,  und  hätten  sie  ganz  vergessen,  wenn 
nicht  unter  dem  Kurfürsten  Georg  Ludwig  (seit  1698;  1714  englischer 
König)  die  Leute  zur  Pflege  ihrer  Sprache  ermuntert  worden  wären. 
Da  habe  sich  nun  Hennig  Verdienste  erworben.  Auf  Grund  von  Mit- 
teilungen Mithofs  2)  bekennt  er,  es  gäbe  seines  Wissens  keine  Bücher 
der  hannoverschen  Wenden,  nur  mit  Mühe  habe  er  einen  ausfindig 
gemacht,   der  das  Vaterunser   „wendisch"   gekannt  habe;    aufserdem 


l)  Eccard  nennt  ibn  Hennigen;  E.Hennings,  der  von  ihm  abstammen 
soll,  Hennings;  Schleicher  (nach  Jugler):  Hennig. 

*)  Mithof  in  Leibniz,  Collectanea  338 :  „Man  hat,  meines  Wissens,  keine 
Bücher  in  der  Wendischen  Sprache,  auch  sonsten  keine  alte  schriftliche 
nachrichtungen ;  wie  denn  diese  Sprache  numehro  sehr  abzunehmen  beginnet. 
Dahero  auch,  wie  fleifsig  mich  gleich  bemühet,  vorerst  niemand  antreffen 
können,  welcher  —  das  Vaterunser  in  der  Wendischen  spräche  auszusprechen 
gewufst.  Endlich  aber  hat  es  einer  eingegeben,  und  lautet,  wie  folgt:  Noos 
Wader  etc.  (vgl.  S.  387).  Auch  giebt  er  einen  polabischen  Zauberspruch,  der 
deutsch  lautet:  Heute  ist  Marientag,  da  unser  Herr  Jesus  gebohren;  am 
anderen  Tage  ist  er  getauft,  den  dritten  Tag  hat  er  alles  abgesteuret,  steine, 
wasser  und  erde,  das  alles  unser  Jesus  hat  abgesteuret.  So  soll  er  den  Krieg 
absteuren  von  der  ganzen  Welt.    Kyrie-Eleis." 


Polabische  Sprachdenkmäler.  349 

bietet  er  noch  vier  kurze  Gebete.  Der  Lüchower  Bürgermeister 
F.  Müller  (f  1755)  hat  ein  Vaterunser  und  eine  ähnlich  lautende 
Beichte  aus  „seiner  Frauen  Grolsmutter  Emerentia  Wehlings,  weil. 
Secr.  Rodewalds  Mutter  Munde  aufgeschrieben,  weil  ihr  Bruder,  weil. 
M.  Caspar  Wehling,  der  erste  deutsche  Prediger  zu  Bülitz,  Amt  Lüchow, 
geworden u.  Johann  Parum  Schulze  zu  Süthen,  der  1724  oder  1725 
im  47.  Lebensjahre  schrieb,  kann  selbst  die  Sprache  nicht,  seine  Schwester 
versteht  aber  noch  etwas.  Im  Jahre  1751  fand  man,  nach  Jugler, 
keinen  mehr  in  der  Gegend  von  Dannenberg,  Lüchow  und  Wustrow 
„der  wendisch  reden  konnte",  und  nach  Hassel  wurde  1751  in  Wustrow 
zuletzt  Gottesdienst  in  wendischer  Sprache  gehalten  (Band  IV,  S.  507 
des  Handbuchs  der  Erdbeschreibung,  Weimar  1819).  1798  sei  der 
Hauswirt  W&rratz  zu  Kremmelin  gestorben,  der  aber  das  Vaterunser 
noch  beten  konnte.    1794  (Annalen,  S.  273)  reden  die  Polaben  deutsch. 

Für  sein  Werk  „Vollständiges  Lüneburgisch  -  Wendisches  Wörter- 
buch aus  drei  ungedruckten  Handschriften  und  den  wenigen  bisher 
bekannten  Sammlungen,  zusammengetragen  von  Joh.  Heinr.  Jugler, 
der  Arzney Wissenschaft  Dr.,  Chur- Hanno vr.  Landphysicus  zu  Lüne- 
burg etc.  1809"  fand  der  Verfasser  keinen  Verleger,  ein  Manuskript 
liegt  noch  auf  der  Göttinger  Universitätsbibliothek.  Adelung  (Mithri- 
dates  II,  5,  688  ff.)  kennt  1809  die  Polaben  noch  in  den  erwähnten 
drei  Ämtern. 

Aufgefrischt  wurde  das  Andenken  an  die  Polaben  erst  wieder 
durch  Hilferding,  der  dem  Volke  einen  Besuch  abstattete  und  des 
merkwürdigen  gelehrten  Bauern  Parum  Schulze  Werk  las,  das  nun, 
wie  ich  in  Süthen  hörte,  „für  ein  weniges"  nach  Lemberg  verkauft 
worden  ist.  Dann  gab  Schleicher  durch  sein  Werk  Veranlassung,  dafs 
die  gelehrte  Welt  der  Sprache  näher  trat.  Als  Hennig  seine  Schrift 
schrieb,  war  schon  nicht  viel  mehr  von  der  Sprache  zu  finden.  Ich 
fuhr  1898  ins  Polabenland  und  glaubte  Ähnliches  wie  im  Slowinzen- 
lande  zu  finden;  es  gelang  mir  nicht.  Vielleicht  glückt  es  jetzt,  da 
die  Leipziger  Jablonowskische  Gesellschaft  1901  als  Preisaufgabe  für 
1903  „eine  Ausgabe  der  polabischen  Sprachdenkmäler  mit  Grammatik 
und  alphabetisch  geordnetem  Wörterbuch"  gewünscht  hat. 

Die  Angabe  von  A.  v.  Fircks,  im  Kreise  Lüchow  (S.  266)  seien 
unter  je  1000  Bewohnern  20,6  Wenden,  beruht  auf  einem  Mifs- 
verständnis.  Die  Dorfbewohner  nennen  sich  allerdings  Wenden,  die 
Gegend  wird  auch  das  hannoversche  Wendland  genannt  und  es  er- 
scheint eine  Zeitung  für  das  Wendland.  Aber  das  sind  ja  nur  noch 
die  alten  Namen,  und  die  dortige  „ wendische u  Sprache  ist  im  Gegen- 
satz zur  hochdeutschen  Sprache  der  Städter  das  Plattdeutsch  der 
Bauern.  Mit  Recht  weist  A.  v.  Fircks  auf  das  altpolabische  Sprach- 
gebiet, auf  die  prachtvollen  Dorfrundlinge  hin;  es  ist  aber  ein  Irrtum, 
wenn  er  sagt:  „In  keinem  dieser  Dörfer  (Schletau,  Bockleben,  Witzeetze, 
Simander,  Volzendorf,  Predöhl,  Trabuhn,  Schweskau,  Kriwitz,  Kohlen, 


350  Die  Polaben. 

Schreyahn,  Banzau,  Lütenthien,  Külitz,  Proitze,  Vasenthien,  Tobringen, 
Grols-Breese,  Nemitz,  Lanze,  Prezelle ,  Thurau,  Meuchefitz,  Eremlin, 
Gänse,  Mammoifsel,  Grols-  und  Klein -Sacbau,  Diabren  und  Klein- 
Gaddau)  bilden  Personen  von  wendischer  Muttersprache  die 
Mehrheit  (!)  oder  auch  nur  einen  namhaften  Teil  (!)  der  Bevölkerung.* 
Der  Name  Wenden  hat  ihn  zu  der  Vermutung  veranlafst,  man  spreche 
slawisch.     Es  spricht  aber  kein  Mensch  mehr  die  alte  Muttersprache. 

Von  A.  y.  Fircks  werden  für  den  Lüneburger  Regierungsbezirk 
aufgezählt:  270  männliche,  235  weibliche  Wenden,  40  männliche  und 
25  doppelsprachige  Wenden.  Wenn  dieB  auch  wirklich  wendisch 
sprechende  Leute  wären  und  nicht  solche,  denen  der  alte  herkömmliche 
Name  und  ihr  sogenanntes  wendisch  Platt  Veranlassung  zur  Bezeich- 
nung „Muttersprache  Wendisch"  in  den  Zähllisten  gab,  so  beweist 
dies  nur,  dafs  auch  unter  den  Wenden  die  Sachsengängerei  an  Umfang' 
zunimmt.  Bestätigt  wird  dies  durch  die  275  männlichen  4-126  weib- 
lichen Wenden  und  41  männlichen  +  20  weiblichen  doppelsprachigen 
Wenden  im  Regierungsbezirke  Arnsberg,  bei  denen  der  Statistiker  gar 
nicht  an  alte  BodenBässigkeit  zu  denken  wagte.  Und  das  hätte  doch 
ebenso  nahe  gelegen.  Ja  auch  in  Berlin  (114  männliche  +  197  weibliche, 
78  männliche  -f"  84  weibliche  doppelsprachige),  Posen  (213  männliche 
+  235  weibliche,  12  männliche  doppelsprachige),  Münster  (52  männ- 
liche -f"  28  weibliche,  5  männliche  -\-  2  weibliche  doppelsprachige), 
Düsseldorf  (84  männliche  -f"  34  weibliche,  13  männliche  -+-  1  weib- 
liche doppelsprachige)  und  Potsdam  (35  männliche  -f"  43  weibliche, 
53  männliche  -f-  53  weibliche  doppelsprachige)  kommt  eine  ganz 
hübsche  Zahl  von  Leuten  vor,  die  ihre  Muttersprache  als  Wendisch 
bezeichneten.  In  den  Kreisen  Borns  t,  Lüchow,  Recklinghausen,  Dort- 
mund Land,  Gelsenkirchen  und  Essen  ermittelte  A.  v.  Fircks  0,73  Proz., 
bez.  2,06  Proz.,  0,08  Proz.,  0,1  Proz.,  0,21  Proz.,  0,05  Proz.  Wenden. 
Das  sind  aber  durchgängig  Sorben,  die  zugewandert  sind,  oder  Sachsen- 
gänger. 

Die  polabische  Bevölkerung,  ehemals  im  Süden  mit  der  Borbischen, 
im  Osten  mit  der  obotritisch-slowinzischen  in  Nachbarschaft,  hatte  ihre 
letzten  Sitze  an  der  Jeetzel  in  den  Kreisen  Lüchow  und  Dannenberg. 

n.     Siedelung. 

1.  Geschichte.  Die  Polaben  wurden  wahrscheinlich  von  Pipin 
oder  Karl,  mit  denen  sie  im  Bunde  gegen  die  Sachsen  fochten, 
auf  dem  Gebiet  ausgewiesener  Sachsen  angesiedelt.  Die  Geschichte 
vom  „schönen  Baum"  geht  auf  einen  wendischen  Fürsten  zurück,  der 
im  Sachsenkampfe  fiel,  eine  Eichel  im  Munde.  Der  sagenhafte  Volksheld 
Jam  Kahl,  dessen  christliche  Gemahlin  Seba  von  den  Priestern  ihrer 
Heirat  wegen  verbrannt,  dessen  Volk  im  ungleichen  Kampfe  vernichtet 
wurde,   und  dessen  Grabmal  noch  bei  Seben   zu  sehen  ist,   kämpfte 


Volkszahl.    Geschichte.  351 

auch  gegen  die  Sachsen.  Karl  weilte  wiederholt  bei  ihnen,  begünstigte 
sie  und  gilt  als  Begründer  ihrer  Rechte;  auch  die  Ausnahmestellung 
im  Erlafs  des  Zehnten  und  der  Schutz  der  Sprache  weist  auf  höhere 
Vergünstigung  hin;  das  Christentum  scheint  willig  Annahme  gefunden 
zu  haben.  Zuerst  berichten  Adam  von  Bremen  (Monum.  German.  7, 
283  bis  398)  um  1075,  Helmold  um  1172  (ebenda  21,  11  bis  90), 
Saxo  Grammaticus  (1181  bis  1208)  über  sie,  abgesehen  von  älteren 
Urkunden  und  vereinzelten  Notizen  bei  Einhart  (f  840),  Widukind 
(f  968),  Thietmar  von  Merseburg  (f  1018).  Die  ersten  Landes- 
herren hiefsen  Grafen  von  Warfke,  das  sind  die  späteren  Grafen  von 
Lüchow.  Sie  waren  den  Lüneburger  Weifen  unterthan,  wulsten 
aber  durch  geschickte  Lehensverbindung  mit  den  Ratzeburger  und 
Hagenower  Bischöfen  und  durch  Freundschaft  mit  Mecklenburg  und 
Brandenburg  ßich  ziemlich  selbständig  zu  erhalten.  956  wird  der 
Ort  Clenze  im  Drawehn  als  erster  polabischer  Ort  erwähnt,  Lüchow 
1144,  Jeetzel  1244,  Crummasel  1298.  Um  das  Jahr  1000  tritt 
uns  die  vollständige  Gaueinteilung  entgegen:  Lemgow,  Öning,  Brö- 
king,  In  den  Heiden,  Gein,  Drawehn.  Der  erste  Lüchower  Graf, 
Hermann  I.  (1145  bis  1174),  stand  in  einem  Vasallen  Verhältnis 
zu  Heinrich  dem  Löwen,  den  auch  die  Wendenhäuptlinge  als  Herrn 
anerkannten.  Der  letzte  Lüchower  Graf,  Heinrich  IV  (1278  bis  1317), 
kämpfte  in  einem  Kriege  zwischen  Brandenburg  und  Braunschweig- 
Lüneburg  1315  auf  brandenburgischer  Seite.  Er  vererbte,  da  er  ohne 
männliche  Erben  war,  sein  Land  1317  den  Brandenburgern.  Yon 
deren  Lehensgrafen  erwarb  es  1320  der  Herzog  Otto  der  Strenge  von 
Lüneburg.  Nun  besafsen  die  Weifen  das  Wendland  bis  1866.  Das 
Gebiet  selbst,  das  an  der  grolsen  Handelsstrafse  Leipzig  -  Hamburg 
liegt,  tritt  wiederholt  in  der  Geschichte  hervor.  Das  Rebenetorf  er 
Urnenfeld,  die  Dannenberger  Brakteaten,  die  alte  Wendenkrone,  Karls 
Aufenthalt  in  Lüneburg  und  Bardowik  sind  Zeugen  des  ersten  Jahr- 
tausends; die  Gefangenhaltung  König  Waidemars  von  Dänemark  in 
Dannenberg,  die  Einführung  der  Reformation  1525,  die  schwedischen 
Bedrängnisse  1643,  Karls  XII.  Aufenthalt  im  Waddeweitzer  Krug  1714 
sind  Hauptdaten  des  zweiten.  Im  Befreiungskriege  brauche  ich  nur 
an  die  Namen  Körner  und  Eleonore  Prochaska  zu  erinnern.  Auch 
ihren  Sänger  hat  die  Jeetzel  gefunden  in  dem  jugendlichen  Sigmund 
von  Birken,  der  1648  als  Erzieher  im  herzoglich  braunschweigischen 
Hause  zu  Dannenberg  weilte.     Er  singt: 

„  Schöne  Jeetze!     Dein  Gerinne 
Hat  mir  oftmals  zugehört, 
Wenn  die  heifse  Kot  verzehrt 
Meine  liebentbrannten  Sinne. 
Beine  Wellen  manches  Ach, 
Mir  noch  werden  lallen  nach.  — 
Liebster  Ort,  begleite  mich! 
Mit  dem  Leib  nur  lafs  ich  dich."  — 


352 


Die  Polaben. 


Von  dieser  Zeit  sagt  Partim  Schulze  (Annalen  281):  Zu  Anno  1640 
haben  eich  die  Jagend  in  Festen  suis  Einen  jeden  Dorff  zusammen- 
gethan  Etzliche  Tage  ein  Fest  in  sauffent  zu  halten  und  der  Etzliche 
haben  auf  die  benachbarten  Dörffer  erumbgelauffen  Würste  und  Eyer 
bey  denen  L&utten  ausgesucht  bilsweilen  hat  auch  wol  die  ganze  Rotte 
von  Dorff  zu  Dorff  gelauffen,  data  bilsweilen  woll  2,  3  Rotten  auf 
Einmal  in  Einen  Dorff  zugestrichen  haben  kommen  die  Wendische 
Lieder  gesungen  und  haben  Ein  lerm  gemacht ,  alle  wenn  sie  alles  zu 
boden  reisen  wolten.  (Sie  suchten  Nahrungsmittel  zu  ihrer  Fastabend- 
feier  unter  Widerstand  der  Wirte  zu  stehlen.) 

2.  Dorf  anläge  (Abb.  148,  149,  150).  Die  alte  Graueinteilung  hat 
sich  bei  Weg-  und  Brücken  Verbesserungen  noch  heute  als  malsgebend 

Abb.  148. 


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Schematischer  Grundrifs  eines  Dorfrundlings  im  hannoverschen  Wendlande. 

A  Dorfplatz,  B.  Prising,  a  Gehöfte  mit  dem  Giebel  nach  den  Dorfplatz  gekehrt, 
b  Schulzenhaue ,  c  Kirche ,  d  Schule ,  e  Wirtehaus ,  f  Gottesacker ,  g  Dorfzugang, 
h  Landstrafse,  i  Dorfteich  (meist  zugeschüttet),  k  Milchkrugtische,  1  Linden-  oder 
Eichenhain  mit  grofsen  Setzsteinen  (und  ehemaligem  Hirtenhaus),  m  Vorhaupt  vor 
den  Gehöften,  n  Elanzei,  o  Bäume,  p  Haus  für  Gemeindewerke. 

erhalten.  Die  Dorf  anläge  ist  so  ausgesprochen  eigenartig,  dafs  man 
immer  an  eine  gleichzeitige  vorbedachte  Gesamtbesiedelung  eines  Ge- 
meindebezirks denken  möchte.  Inmitten  prächtiger  Waldbestände  von 
Eichen,  Ulmen,  Buchen,  Eschen,  Birken,  Weiden,  Holunderbüschen  ist 
das  Dorf  gelegen.  Es  ist  hufeisenförmig  geplant,  „ein  Rundling",  wie 
Jakobi  die  Anlage  genannt  hat.  Abseits  vom  eigentlichen  Dorfe  liegen 
grofse  Gewanne,  Feldanlagen,  die  später  unter  die  Besitzer  verteilt  oder 
neu  bebaut  wurden.  Jeder  Ort  hat  seinen  Ausbau,  Koreitz,  eine  Art 
Vorstadt;    manche   besitzen    noch    ein   Eichenfeld   (Esternkamp),     ein 


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Dorf  anläge.    Flurnamen.  353 

Noblisein,  Barsing,  Sopung,  abgesehen  von  der  Hofkoppel  und  dem 
Schulzenland 1).  Vgl.  Andree,  S.  500  ff.,  über  Polabisches  in  Braunschweig. 

l)  Namen  von  Feldlagern  und  Gewannen  im  Kreise  Lüchow:  1.  Banzau: 
Berkfein;  2.  Beesem:  Kreiweitzen,  Prejeneitz,  Colla,  Cumparn;  8.  Belitz: 
Kreibeitzen;  4.  Bergen:  Spröfsel,  Kobbeleitz,  Spreifsel,  ßeesch:  5.  Bese- 
land:  Popatz,  Kräweitzen;  6.  Beutow:  Beaein,  Draweis,  Breitschü,  Piehn- 
feld,  Nohndrick,  Dumsei,  Güstneitz;  7.  Bischof:  Maraaken,  Sokohsen, 
Küpen thien;  8.  Bockleben:  Grebeneitz,  Gnesie,  Jörns,  Totjüms,  Grawein, 
Gut  wein;  9.  Bö  sei:  Pusweyen,  Pützjaaken,  Duetjeien,  Buchilen,  Krymey; 
10.  Bösen:  Persein,  Storzener,  Stamieneitz,  Morseitzen,  Preckneitzen,  Lüse- 
neitzen;  11.  Braudel:  Zethian;  12.  Brese:  Rapeitz,  Eohmreitz,  Dohmbeitz, 
Traf  ei  tz,  Köhmreitz;  13.  Breese:  Awschei,  Kompein,  Rutschern,  Kolbeitz, 
Vastroh;  14.  Brünkendorf:  Schmaleitz,  Jaske,  Zieleitz;  15.  Bü blitz:  Mafs- 
rein;  16.  Capern:  Kadieck,  Buhtjahns;  17.  Garmitz:  Sütosen,  Moöstack, 
Schandeitz,  Eikuloken,  Sotofken;  18.  Gassau:  Brisäng;  19.  Glenze:  ßieleiz; 
20.  Grautze:  Lemeintz,  Güstneitz,  Sabeims;  21.  Gremiin:  Pijeuns  beiLung, 
Sobloms,  Maedken;  22.  Griwitz:  Sidallen,  Laseneitz,  Kalifsen,  Zogolofken; 
23.  Crummasel:  Tasseitz,  Buseig,  Cola;  24.  Gussebode:  Güstneiteen, 
Natschü;   25.  Diahren:  Leiseitz,  Wibbeleiken;   26.  Dickfeitzen:  Verstrah; 

27.  Dolgow:  Pijohn,  Dambeitzen,  Tribeneitz,  Poswein,  Dumbeitz,  Traschntz; 

28.  Dom  m  atzen:  Waddeweitz;  29.  D  uns  che:  Forst,  Farjel,  Fovorstruve, 
Kuperneitz,  Vohmprey ,  Kreiweitz,  Witschein ;  30.  Gänse:  Elanzey;  Sl.Glede- 
berg:  Dotfieteiz;  32.  Göttien:  Satineitz;  33.  Gohlefanz:  Phuisineitzen ; 
34.  G  oll  au:  Schideitz,  Sohmielneitzen ,  Jüleitzen;  35.  Gorleben:  Böhm- 
beitzen;  36.  Grabow:  Erumpeitzen,  Draweist,  Breitschü;  37.  Güstritz: 
Weiselaney,  Dra  weisen;  38.  Guhreitzen:  Pyohn;  39.  Jeetzel:  Bobeitz, 
Trenneweitz;  40.  Elennow:  Proetzeneitz ,  Pitjahn,  Zarreitz;  41.  Kohlen: 
Kohleitz,  Gremlineitzer;  42.  Königshorst:  Triebneitz;  43.  Kühleitz: 
Haberneitzen ,  Wörgel;  44.  Künsche:  Gühleitz,  John  weifsei,  Pläsineitz; 
45a.  Küsten:  Wirreitz,  Kraiweitz;  45b.  Lübbow:  Plischei,  Binden,  Düpen, 
Dransen,  Sarröben,  Modeln,  Günschei,  Bookhorst;  46.  Lanze:  Zeleitzen, 
Sulafein,  Stödtke;  47.  Lefitz:  Privenah;  48.  Lenzian:  Dulei,  Strelen; 
49.  Lichtenberg:  Weifselneitz,  Kraewein,  Dührneitzen;  50.  Liepe:  Jissen, 
Schweifsei,  Sarschei,  Gompein,  Pros,  Leipnitz;  51.  Loitze:  Schreibneitz, 
Plost,  Lusatz;  52.  Lomitz:  Lafei,  Stameitz,  Gigaarte,  Fiffeitz,  Bockeneitz, 
Gohleitz,  Gottfeitzen,  Brosein,  Leipeitz;  53.  Luc  kau:  Majoenes,  Schuleitz, 
Frinneneitz,  Justneien;  54.  L Übeln:  Suckolachdüpe ,  Pigons,  Jurreitzen, 
Soakosen,  Sugolofken;  55. Läsen:  Sagelofken,  Guestneitzen,  Scheireitzen,  Strina, 
Maertgen,  Camineitzen,  Platjei,  Storz;  56.  Lütenthien:  Zanehf,  Vorwills, 
Gonsche,  Luhm,  Dorisch;  57.  Maddau:  Babeletzen;  58.  Malsleben:  Selof, 
Sohls,  Tombein,  Luskau;  59.  Mammoifsel:  Tibing,  Döhl;  60.  Marieben: 
Sooden,  Breer,  Geifsen,  Stahnken;  61.  Marlin:  Blanneitz;  62.  Meetschow: 
Kuseleitzen,  Belleitz;  63.  Meuchefitz:  Wanjörken;  64.  Molden:  Storfsnitz, 
Görsken,  Zosten;  65.  Müggenburg:  Scheideitz,  Zerrüthzeitz,  Schüste,  Joster, 
Grandal,  Schriebahn,  Porrein,  Jasebohm;  66.  Mützen:  Lunkneitz,  Zieleitz; 
67.  Nauden:  Sogelofken;  68.  Naulitz:  Koleisch,  Plasineitzen ;  69.  Nemitz: 
"Wirjahn,  Stuede,  Traf  sei  tz,  Dürlei,  Bürmk,  Targohei,  Vertoigen;  70.  Nien- 
dorf  bei  Bergen:  Lüskau,  Bohen,  Preifs;  71.  Niendorf  bei  Gartow:  Bastian, 
Schleik;  72.  Plate:  Jolan,  Lauseitz;  73.  Predöhl:  Warneitzen,  Peisland, 
Lehneitzen;  74.  Prezelle:  Zowe,  Gleimke,  Palleh,  Prebsch,  Steckel,  Porseneit, 
Klafeitz,  Tagall,  Yortüde,  Trevel,  Basea,  Stelk,  Sakaasen,  Jakas;  75.  Prezier: 
Bobke,  Kramin,  Sogelafken,  Seleitzen,  Verbalden,  Boerck,  Mudel,  Jomke, 
8ohr;  76.  Priefsseck:  Kräweitzen,  Püleitz,  Warreitz;  77.  Püggen: 
Papaneitz,    Klaatz,    Schleseneitzen ,    Garreitz;    78.  Puttball:    Pleischuren, 

Tetsner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  23 


354  Die  Polaben. 

Die  einzelnen  Teile  des  Dorfes  selbst  sind  der  Dorfplatz,  das 
Gehöft  mit  Vorhaupt  und  Klanzei1),  und  das  Prising.  Den  Mittelpunkt 
bildet  der  Dorfplatz;  er  ist  fast  kreisrund,  ist  mit  Gras  bewachsen,  hat 
nur  einen  einzigen  Zugang  von  der  Landstralse  aus.  Dieser  wurde 
früher  allabendlich  abgesperrt.  Jetzt  hat  er  sich  zu  einer  neuen  Dorf- 
stralse  entwickelt,  an  der  gewöhnlich  Kirche  und  Schule  stehen.  In 
der  Mitte  des  Dorfplatzes  befindet  oder  befand  sich  ein  Teich,  die  Not- 


Panneitzen,  Plaasgarens;  79.  Quartzau:  Wirreitz;  80.  Banz  au:  Mividack, 
Schiamman,  Solbein,  Gürlein,  Glanshey,  Breseyn,  Günleitzen,  Finnöh; 
81.  Bebenstorf:  Papeisch,  Pergün  (Günschei),  Sugarben,  Sugeloh,  Gorz, 
Brawinkel,  Garbeneitz,  Klun,  Gülkenberg;  82.  Beddereitc:  Twells,  Thies- 
kolen,  Gonnack,  Gangenei;  83.  Beddemoifsel:  Darschaus,  Harneids, 
Wüstenei;  84.  Beetze:  Wuning,  Parreien;  85.  Ben b eck;  Düoameitz,  Düca- 
neitz,  Glanon,  Derwatschen,  Duhl,  Serneitz;  86.  Beitze:  Jüstneitz,  Triweitz, 
Gebrünn;  87.  Bestorf :  Maddaus,  Iren,  Meischow,  Kaje,  Wetheringer,  Seering, 
Glamp,  Sei,  Blamen;  88.  Saafse:  Seeweitz,  Neenjeiden,  Eraensoh,  Bunck  ; 
89.  Sachau:  Gleimken;  90.  Sagrian:  Lungnei,  Boleitz;  91.  Sahlahn: 
Lasfein;  92.  Satemin:  Schötus;  93.  Schlannau:  Majack,  Düleitz; 
94.  Schletau:  Trebs,  Joleitz,  Zereneitz,  Jirseck;  95.  Schmarsau:  Sere- 
neitzen,  Kaläfsen,  Pifsein,  Jostreben;  96.  Schreyahn:  Soleik,  Draweitsch, 
Jijost;  97.  Schweskau:  Tapeleins,  Liesei,  Protzen,  Seleitzhanzen,  Gorein, 
Lanneitz;  98.  Schwiebke:  Klaatz,  Gusneitzen,  Gölein;  99.  Seelwig: 
Schladkens;  100.  Serau  i.  Lucie:  Dücaneitz,  Görlein,  Krangen,  Burreitz, 
Surneitz,  Bucktein,  Sileitzen,  Prafs;  101.  Simander:  Grabjei,  Sterrings, 
Wafs,  Kolk;  102.  Solkau:  Kojahns,  Sarme,  Briesän;  103.  Spithal:  Stoven, 
Gühleitz,  Süüseneitz,  Paleitz,  Solofts;  104.  Steine:  Lehmweitz;  105.  Süthen: 
Kr ammietz ;  106.  Tarmeitz:  Glumm,  Appelei,  Domachö,  Deifsen,  Glän, 
Kräbeitz;  107.  Teplingen:  Wasteneitz,  Bookhölter;  108.  Tobringen: 
Stratein,  Krefein,  Streedein,  Pastein,  Papeneitz,  Schamy,  Loops;  109.  Tolste- 
fanz:  Striebeneitz ,  Perseineitz;  110.  Trabuhn:  Beesings,  Zideln,  Zeleitz; 
111.  Trebel:  Lohnken,  Henpütten,  Kromsen,  Sehörken;  112.  Yaddensen: 
ßallien,  Zarenze;  113.  Yasenthien:  Sprilon,  Salein,  Bostein,  ßaghören, 
Schangenprem ,  Paperneitzen ,  Katzkein,  Trebenneitzen ,  Kastein,  Begöhn, 
Bleiseneitz;  114.  Yietze:  Gühleitz,  Papernei,  Zieleitz,  Jaask,  Jellneitz; 
115.  Yolzendorf:  Wilszein,  Joblum,  Taunbein;  116.  Weitsche:  Prüf», 
Baakfein,  Lapung;  117.  Winter  weihe:  Pollfeitz,  Bepas;  118/119.  Witt- 
feitzen:  Kümbeitz,  Gusneitzen,  Griesen;  120.  Witzeetze  im  Lemgo: 
Teitk,  Sopplamm,  Patözen,  Baböschen,  Buhnen ;  121. Woltersdorf:  Kumgül, 
Stubber,  Soleitzen,  Sosterleitzen ,  Preckneitzen,  Pagüns,  Groorsten,  Soder- 
neitzen,  Sosterleitzen,  Künsgül,  Trebeneitz,  Compernah;  122.  Zargleben: 
Joblomken;   123.  Zeetze:  Berücketein,  Pleust,  Schmaleitzen. 

Manche  dieser  von  Mente  gesammelten  Namen,  unter  denen  sich  auch 
einige  hoch-  und  plattdeutsche  befinden,  kommen  in  verschiedener  Recht- 
schreibung wiederholt  vor,  so  Jüsteneitz  (Schulzenland),  Koreitz  (Hahnort, 
Vorstadt),  Kraweitz  (Kuhanger),  Zileitz  (Wohnort),  Draweis  (Holzort). 

l)  Parum  Schulze  (Hilferding  18):  „Es  wird  an  vielen  Dörflern  solche 
Hinterhon0  sich  wol  finden,  da  Holtz,  Moratz  oder  sonsten  eine  umbauhete 
Platz  ist,  welche  man  klangsey  nennet.  Dies  Wort  klangsey  hat  da  seinen 
Nahmen  von:  der  erste  Hoff  virdt  in  Grose  und  feste  Zaun  gehalten,  diese 
Hinterhoff  wird  aber  nuhr  mit  einer  geringen  Zaun  oder  Planckricken  be- 
waret,  dieses  zu  machent  helfet  soklungsent,  davon  heilst  der  Hinterhoff 
Olansey,  ist  wendisch,  auf  deutsch  heilst  es  umscbrenken." 


Schulzenverkündigungen.    Gehöft. 


3ß5 


kable,  die   bei  Feuersbrünsten  gute  Dienste   that.     Der  Teich  bietet 
Enten  und  Gänsen  Aufenthalt     Neben  ihm  liegt  immer  ein  kleiner 
Hain  mit  uralten  Bäumen,  an  deren  Fula  grofse  Steine  liegen.     Hier 
setzt  man  sich  abends  nieder  und  erzahlt,  wenn  man  nicht  auf  der 
Hausbank  sitzt.    Früher  stand  inmitten  des  kleinen  Haines  das  Hirten- 
haus oder  auch  das  Geschworn  -  Schulzenbaus,  wo  sich  die  Familien  - 
vorstände  versammelten.     Die  Kreuzbäume  sind  längst  verschwanden, 
meist  auch    der  Teich; 
die   Molkerei  tische ,   auf 
die  jedes  Gut    früh  die 
vollen  Milchkrüge    zum 
Abholen  setzte,  verraten 
die     neue    Zeit.       Ver- 
schwunden   sind    Klap- 
perbrett    und    Klöppel 
(Abb.  151)  des  Schulzen; 
aber  noch  erklingt  hier 
und    da    sein:    „Herüt, 
herüt,  np  Strät,  holla!" 
um  die  Ältesten  zur  Be- 
ratung zu  versammeln. 
Unter  Umstünden  geht 
noch     der     Krückstock 
herum. 

Nach  den  Verkuppe- 
lungen besitzt  jeder  Hof- 
besitzer   mehrere    Kop- 
peln oder  Stücke,  in  der 
Grölse  von  2  bis  30  Mor- 
gen, zuvor  hatte  jeder 
das  Grundstück  hinterm 
Hole    oder    sehr    lange 
Fluren.      Tannengrund- 
stflcke    sind    zum    Teil 
noch  gemeinschaftlich.    In  Rebenstorf  hat  jeder  Bauer  10  bis  20  lange 
Tannenstücke,  keine  eigentlichen  Koppeln,  so  dafs  der  eine  Nachbar 
beim  Roden  oder  Abholzen  auf  das  Abholzen  des  vor  ihm  liegenden 
Nachbarackers  warten  mufs.     Erbe  des  Hofes  ist  der  älteste  Sohn,  die 
anderen  Kinder  werden  abgefunden.     Tn  neuerer  Zeit  fängt  man  aber 
auch  schon  an  zu  parzellieren. 

3.  Gehöft  (Abb.  152  und  153  a. f.  S.).  Um  den  Platz  nun  stehen 
symmetrisch  die  Giebelhäuser  der  Polaben;  das  Gehöft  mit  dem  Prising 
bildet  ein  Segment.      Zwischen  dem  Giebelhause  und  dem  Dorfplatze 


Er aun schweiger  Klapperbrett. 
(Nach  Andrei,  Brsunschw.  Volkskunde,  2.  Aufl.1) 


')  Vgl.  daselbst,  8.  250  bis  S53,  auch  Tetj 


,  Blowinzen,  8.  130. 


356  Die  Polaben. 

liegt  ein  neutrales  Stück  Raum,  das  Vorhaupt,  wo  die  Kinder  spielen, 
die  Hausinaassen  den  Feierabend  auf  einer  Bank  zubringen  und  der 
Hund  den  Fremden'  anbellte.  Der  charakteristische  Vordergiebel  besteht 
aus  Balkenwerk  mit  Ziogolfüllung ,  schön  farbig  getüncht  und  sauber 
gehalten  (Abb.  154  bis  156).  Ehemals  batte  man  Fachwerk.  Böse 
Mäuler  erzählen ,  dafs  hier  und  da  bei  versicherten  Leuten  das  Fach- 
werk weggebrannt  sei,  weil  man  gesehen  habe,  dafs  man  mit  der  Ver- 
Abb.  152.  Abb.  153. 


Grund  rift 
i  K  üsteiier  Wohnhauses, 
nun.    —    h  Ställe.   —    c  Geilndel 
i,  Stühlen).   —   e  Kammer.   —   f  g 
i  Wegen  schupp  en.  —  k  Wirt 
~~    "  lupt.  —  p  Klame 


o  Vorhau 


Lübelner  Gehöft. 
immern.    —    d    Dön«    (mit    Wehstuhl,    Bet 
liier  Schrank.  —  g  Thor.  —  h  neue  Wo] 
ihaftaräume.  —  1    Ställe.  —  m  Ziehbrunn  n 
—  q  Prisins-  —  ||  Thiir.  —  n  Fen*t*i-_ 


sicherungsauszablung  schöne  neue  Häuser  bauen  könnte;  ja,  di 
roals  das  Fach  nur  60  Pfennige  (wegbrennen  zu  lassen)  gekost 
Jetzt  müsse  man  mindestens  1  Mark  geben. 

Auf  der  Giebelspitze  prangt  eine  blecherne  oder  hölzerne 
zier  in  Gestalt  von  Pferdeköpfen,  Reichsäpfeln,  Tulpen,  Urnen, 
mit  Wetterfahne  (Abb.  157  bis  160).    Die  drei  wagerechten  Bai 
Giebel dreiecks  sind  gleichfalls  farbig  getüncht,  und  auf  jedem 
steht  eine  Inschrift,  auf  dem  kurzen  eiuGrufs  oder  Sprichwort,  e 
mittleren  der  Anfang  eines  Gesangbuchliedes,  auf  dem  dritten  mi 
andere  Lebensweisheit,  öfters  auf  den  vorigen  Brand  hinweisen. 
Eingang  vermittelt  überall  die  grolse  Scheunenthorthür,  zu  derer 
Seiten  je  eine  niedrige  Stallthür  und  ein  kleines  Fenster  sich  tuuuu«» 
Über  den  Stallthüren  steht  wieder  ein  Sprichwort,  über  dem  Thor  aber 
die  Bauzeit,  der  Name  des  Besitzerpaares  und  das  Datum  von  dessen 
Einzug.     Daneben  hat  man  meist  einen  Blumenstock  gemalt.    Bei  allen 
wichtigen  Angelegenheiten  wird  durch  diese  Hauptthür  gegangen.      Sie 
führt  über  die  Tenne  zur  Wohnstube  (Dönz;  Abb.  161  u.  162  a.  S.  358  u. 
360).  Die  Schafe,  Ziegen,  Pferde  können  auf  die  Tenne  blicken;  über  ihren 


Zu  Seite  358. 


Abb.  154.    Altes  Haus  i 
(Nach  einer  rtiotographie  von  I 


Belita,  1777. 


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1 1  I 
s.  : 

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Hausschmuck. 


357 


Ställen  ist  der  Stroh-  und  Heuraum.  Zwischen  ihren  Ställen  und  der 
Dönz,  von  der  aus  man  die  ganze  Tenne  und  auch  den  Hof  übersehen 
kann,  liegen  Knecht-  und  Mägdekammern.  Dieses  Haus  Belbst  bildet 
nun  durchaus  nicht  immer  das  ganze  Gehöft,  meist  ist  es.  nur  ein  Teil 
einer  fränkischen  Anlage,  so  dals  neben  der  einen  Stallthür  ein  einfaches 
Thor  auf  den  Hof  führt,  zu  dessen  Seiten  rechts  und  links  Wirtschafts- 
gebäude und  Wohnhaus  liegen,  während  Wagenschuppen  und  Schweine- 

Abb.  157.  Abb.  158. 


Flacher  Giebelschmuck  aus  Holz  Flacher  Giebelschmuck  aus  Holz 

(Klennow).  (Dolgow). 

stalle  die  anderen  Seiten  des  Rechtecks  bilden.     Brunnen  und  Wasch- 
kuhle sind   auf  oder  hinter  diesem  Hof.     Hinter  dem  Wohngebäude 
Abb.  159.  Abb.  160. 


ÄS 


Giebelbrett  mit  Giebel- 
schmuck. 


Körperlicher  Giebelschmuck  aus  Zink 
(Dolgow). 

liegt  der  kleine  Garten  (Klanzei)  und  dahinter  der  grolse  Garten  mit 
Wiese  und  Gartenland  (Prising),  wo  die  im  Winter  gewebte  Leinwand 
gebleicht  wird. 

4.  Hausinschriften.  In  den  Hausinschriften  hat  der  Polabe 
mit  mehr  oder  wenig  Bewußtsein  seine  Gedanken  niedergelegt.  Sie 
sind  unorthographisch  geschrieben  und  rein  deutsch.  Einige  Giebel- 
sprüche lauten: 

1.  Betrübt  sah  ich  die  Flamme  brennen,  die  mein  vor'ges  Haus  zer- 
stört. Ich  werde  nun  lobsingen  können,  dafs  mir  ein  andres  ist  beschert. 
Gott  will  ich  dieses  übergeben,  so  wird  er  mein  Beschützer  sein. 

An  Gottes  Segen  ist  alles  gelegen. 

2.  Was  das  Feuer  brannte  nieder,  gab  so  Gottes  Güte  wieder  in  der 
Tage  kurzem  Lauf,  so  hilft  Gottes  Hilfe  auf.  Preis  und  Dank  sei  unserm 
Herrn,  seiner  Hut  (Hilf)  vertrauh  wir  gern,  denn  der  Herr  hilft  nah  und 
fern.  —  Gott  schütz  dies  Haus  vor  Glut  und  Brand  u.  s.  w. 

Herr  segne  mich,  dein  Geist  verleih,  dafs,  was  ich  treibe,  glücklich  sei, 
mit  meinem  Anschlag,  That  und  Bat  u.  s.  w. 

3.  Gott  allein  die  Ehre. 

Herr,  wend  in  allen  Gnaden,  Krieg,  Feuer,  Wasserschaden,  Sturm,  Pest 
und  Hagel  ab. 


Hausinschriften.  359 

Wo  blieben  unsere  Häuser?  Sie  wurden  als  die  Heiser  verzehret  durch 
die  Glut.  Wir  suchen  allerwegen,  wo  wir  doch  bleiben  mögen,  gleich  wie 
ein  Armer  freudig  thut. 

4.  Gott  allein  die  Ehre. 

Ein  feste  Burg  ist  unser  Gott,  ein  gute  Wehr  und  Waffen,  er  hilft  uns 
frei  aus  aller  Not. 

Was  kränkst  du  dich  in  deinem  Sinn  und  grämst  dich  Tag  und  Nacht* 
nimm  deine  Sorge,  wirf  sie  hin,  auf  den,  der  dich  gemacht.  Hat  er  dich 
nicht  von  Jugend  auf  versorget  und  ernähret  u.  s.  w. 

Das  vorige  ward  durch  Feuer  verzehrt. 

5.  Ehre  sei  Gott  und  dem  Sohn. 

Bis  hierher  hat  mich  Gott  gebracht,  durch  seine  grofse  Güte,  bis  hierher 
hat  er  Tag  und  Nacht. 

Hilf  gnädig  und  ersetze  auch,  durch  deinen  reichen  Segen,  was  Wind 
und  Feuer,  Dampf  und  Bauch  in  Staub  und  Asche  legen,  behüte,  schütze 
diesen  Ort  von  Glut  und  Brand  und  sei  hinfort  uns  treuer  Vater  gnädig. 
Amen. 

Joachim  Heinrich  Eickhoff,  d.  13.  April  1835.  Maria  Elisabeth  Eick- 
hoff,  geb.  Kraft. 

Yon  Gott  kommt  das  Gedeihn.  (Derselbe  Dolchower  Spruch  auch  in 
Lübeln,  30.  Juli  1805,  bei  Joachim  Heinrich  Schultz.) 

Bete  und  arbeite. 

6.  Ich  baue  nicht  aus  Lust  und  Pracht,  die  Not  hat  mich  dazu  ge- 
bracht, das  vor'ge  ist  vom  Feuer  verzehrt,  Gott  hat  u.  s.  w. 

Erbaue,  was  zerstöret,  und  was  die  Glut  verzehret,  ersetze  diesen  Brand, 
so  wollen  wir  von  neuen  uns  deiner  Güte  freuen  und  ehren  dankbar  deine 
Hand.    Gott  erhöre  uns  (auch  in  Lübeln  1805). 

Aus-  und  Eingang  segne  Gott  (Dolgow). 

7.  Gelobt  sei  Gott. 

Gott  Vater,  ach  für  Glut  und  Brand  und  andre  Not  schütz  unser  Land, 
dafs  unser  Mund  von  Klagen  frei  dir  u.  s.  w. 

Was  Gott  thut,  das  ist  wohlgethan,  es  bleibt  gerecht  sein  Wille  (die 
ganze  Strophe  bis  „walten"). 

Joachim  Heinrich  Flaack,  den  6.  März  Anno  1835.  Dorothea  Elisabeth 
Flaack,  geb.  Glabbatz  (Bebenstorf). 

8.  Gott  mit  uns. 

Ein  unglücklicher  Abend,  der  1.  Oktober  1834.  Mein  ganzes  Vermögen 
wurde  ein  Baub  der  Flammen. 

Meine  Seele  wankte,  da  rief  ich  Gott  an  und  kriegte  Trost.  Herr, 
wenn  ich  deinen  Trost  nicht  hätte,  so  möchte  meine  Seele  verschmachten. 
Mein  Schöpfer,  steh  mir  bei,  sei  meines  Lebens  Licht,  dein  Auge  leite  mich. 

Johann  Friedrich  Härtens,  den  28.  April  Anno  1885.  Anna  Elisabeth 
Martens,  geb.  Glabbatz  (Bebenstorf). 

9.    Gott  schütze  dies  Haus. 
Ich  baue  u.  s.  w. 
Was  das  Feuer  u.  s.  w. 
An  Gottes  Segen  ist  alles  gelegen. 
(Buchstäblich,  vergl.  Abb.  154,  sei  folgende  Inschrift  wiedergegeben): 
Ach  Gott  dis  ganze  Haus  bewar  für  Feuer-Schaden  und  Gefar. 

Jesu  Mein  Trost  Hilf  Freude  und  zier  Mein  Haufs  und  Hertz  Stehet 
Hoffen  dir  Ach  Komme  mit  deinen  Segen  darein  so  Werde  Ich  reich  und 
selich  sein. 

Joachim  Glassak,  Maria  Elisabet  Bacheratzen,  den  27.  April  1726. 


360 


Die  Polaben. 


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Kleidung  und  Gerät.  361 

10.  Was  Gott  thut,  das  ist  was  Gott  thut  das  ist.    (Bete  und  arbeite.) 
Dies  Haus  lafs  gesegnet  sein  vom  Anfang  bis  zum  Ende.    Wo  u.  s.  w. 
Christoffer  Motterhom    (?),      Catharina   Elisabeth   M.,    den    25.   April 

A.  D.  1777. 

11.  Gott  ist,  der  das  Vermögen  schafft,  was  Gutes  zu  vollbringen,  er 
giebt  uns  Segen,  Mut  und  Kraft  und  läfst  das  Werk  gelingen.  Ist  er  mit 
uns,  giebt  sein  Gedeihn,  so  mufs  der  Zug  gesegnet  sein. 

Joachim  Christoph  Schulz.    Anna  Elisabeth  Schulzen,  d.  28.  März  1827. 


III.     Kleidung  und  Gerät. 

Die  Wohlhabenheit  der  Polaben  hat  es  mit  sich  gebracht,  dals 
Kleidung  und  Gerät  immer  moderner  wurden  und  jetzt  fast  nirgend 
von  dem  in  anderen  deutschen  Dörfern  üblichen  abweichen.  Aulser 
der  Abendmahltracht  alter  Frauen  und  der  tütenf örmigen ,  weifsen 
Kopfbedeckung  einiger  Polabinnen  kann  man  wohl  noch  einmal  bei 
einer  goldenen  Hochzeit  die  aufbewahrte,  alte,  prunkende  Brauttracht 
sehen,  die  hier  und  da  in  den  mächtig  grofsen  Koffern  bewahrt  wird; 
aber  auch  sie  war  nur  eine  Entwickelungsform  und  war,  wie  alle 
polabischen  Trachten,  so  häufig  der  Veränderung  unterworfen,  dafs  der 
alte  Partim  Schulze  gewissenhaft  von  Zeit  zu  Zeit  berichtet,  welcher 
Luxus  in  dem  und  jenem  Jahre  Mode  sei 1).  Am  reichhaltigsten  bewahren 


x)  Parum  Schulze,  Annalen  274:  Zu  der  Zeit  (um  1640)  haben  die  Weiber 
peltze  getragen  wöchentlich  zu  2  Thlr.,  Sonntages  zu  4  Thlr.,  Pesttages  zu  7  Thlr., 
haben  auch  Schöne  von  Mefsing  mit  gelenken  und  ketten  Kliedergörtel  ge- 
tragen, sie  haben  auch  am  halfse  Mefsings  Pfennnige  getragen,  in  Eysern 
rinken  gefafste  schöne  Bilder  darein  gegraben,  sie  sind  so  grofs  gewesen  als 
«in  Bev  Espen  Laub  Blat.  Ein  jede  Frau  hat  wohl  6  oder  7  am  halse 
getragen  auff  Messing  Ketten  und  wan  sie  gegangen  oder  gebücket,  hat  es 
geklunkert.  —  Dirne  sontages  allezeit  mit  geschwenzten  hären  und  blanken 
häupt,  8chuhe  mit  grosse  Beillöcher,  daüs  über  leder  war  gantz  voll  Löcher 
geschlagen,  dennoch  war  es  unterfuttert. 

Zu  1680  das  ich  gesehen  habe,  da  trugen  die  Weiber  Wämser  mit 
kurze  Leib  voll  Fischbeinen  auch  mit  vielen  gleichen  und  krummen  Näden 
Beer  Breitte  und  kurtze  hermein  mit  4  kurze  schönten  4  Vinger  breit  lang, 
hernach  algemälich  etwafs  länger  schotten  und  hone  fischebein. 

Zu  1700  wahren  die  Weiber  Wämser  Eben  so  lang  alfs  der  Bock,  doch 
nicht  mit  allen,  sondern  die*  sich  wafs  erfürthun  wollten  vor  andern,  die 
andern  hatten  nuhr  einer  Ellen  lang. 

Zu  1720.  Die  schotten  an  die  Wämser  sindt  nuhr  ein  spannen  lang. 
Tor  diesen  wurden  die  Weiberröcke  gefifselt,  anitzo  gildt  das  auch  nicht 
mehr.  (Vor  1700  beim  Kirchgang  weifse  „Flünckmüzen",  dann  „häuben  unter 
halfse  zuzubinden",  nach  1700  allerhand  bunte  Mützen  mit  grofsen  güldenen 
Bluhnen  und  „seyden  verblümte  Mützen".  Nach  1720:  „seyden  oder  Dam- 
mafsen  ohne  Blumen"  mit  „ silbernen  oder  goldnen  Tressen",  „sonst  gildt"  es 
nicht.  Bei  der  Männertracht  erwähnt  er  1680  „weise  Beiderfanfs  strümffe 
schuhe  mit  Kiemen  von  schuleder  geschnitten  oder  mit  schnür  die  schuhe 
zugebunden,  weise  linnen  auch  weise  „ Beiderfanfs"  -hosen,  -hemd  mit 
„hacken".  Der  Bock  hing  auf  dem  Leibe  „als  ein  Sack".  1690  kamen  die 
bei '  Krämern   käuflichen   kattunenen   mit  Baumwolle   und   schaffwolle    „ge- 


362  Die  Polaben. 

die  Museen  zu  Lüneburg  und  Lübeln  Kleidung  und  Gerät  der  Polaben. 

Lehrer  Mente-Rebenstorf  besitzt  auch  eine  schöne  Sammlung;  seinem 

Abb    163-  Besitze  entstammen  die 

Trachten     unserer    Ab- 

'  bildungen. 

Das  Lüneburg  er 
grobe  Museum  hat  eine 
von  ihm  gestiftete  be- 
sondere Wendenstube, 
der  Hauptsache  nach 
Gegenstände  enthaltend, 
die  bis  vor  kurzem  in 
Gebrauch  waren.  Ein 
wendisches  Brautpaar 
um  1800,  angethan  mit 
Original  kl  ei  dang  und 
-schmuck  bildet  den 
Mittelpunkt  (Abb.  163). 
Goldene,     silberne    and 

Myrten  braut  krönen , 
Timpmützen  in  verschie- 
denen Formen  und 
Farben,  wie  sie  beim 
Trauern ,  Austrauern, 
bei  tiefer  Trauer,  heim 
Abendmahle  und  bei 
freudigen       Angelegen- 

beiten  gebräuchlich 
waren  Kopftücher,  Kin- 
dermützen, Nacken-  und 
Kragen  schleifen,  Trauer- 
kragen ,  Abendmahl- 
tücber  und  -schürzen, 
Tanzoberhemden,  Stirn- 
binden ,  Mützen  -  und 
Kranzbänder,  Band- 
Hocbzeitepaar  um  1800.  schuhe    und    Schürzen, 

(N.ch  einer  Photogr.  yon  Steinbacher-Sikwedel.)       Wams    Und    Ziereinsatz 

bietet  sich  uns  in  allen 
Mannigfaltigkeiten  dar.  Auch  lange  silberne  Ohrbommeln  und  anderer 
Zierat  ist  beigefügt.  —  Die  männliche  Tracht  tritt  uns  in  langen  Feld- 

stoppeten"  Brusttücher  auf,  wenn  man  nach  Lüchow  ging  nahm  man  Schuh 
und  Strümpfe  auf  den  Stock  und  lief  barfufi.  Sie  Hüte  waren  .sehr  lang 
und  rund  spitz",  ohne  Krampe,  dann  kamen  kleine,  nach  1690  grofse 
Krämpenhüte  auf.) 


rocken   und  kurzen  Jacken,  langen    and  kurzen  Hosen,   in   schönen 
„Sieben thalern] fitzen",  Klapp*,  Winter-  und  Zipfelmützen,  Halsbinden, 


Spinnerin  um    1880. 
(Nach   einer  Photographie  ton  Bergm  an  n-Lüthow.) 

ungewöhnlich  hohen  und  breiten  Cylindern,  Seiden  weeten  und  Leinen- 
anzügen, Markt-  und  Feiertags! rächten  entgegen.  Eine  silberne  Meer- 
soha  um  pfeife  mit  gesticktem  Tabaksbeutel  und  Pfeifenstocher  scheint 


364  Die  Polaben. 

des  Bräutigams  untrennbares  Gut  gewesen  zu  sein.  Brille,  Schnupf- 
tabaksdose, Bürste  und  Uhrkette,  Schuhspangen,  bunte  Schirme  und 
etwa  1  Viin  hohe,  mit  langem  Silberbeschlag  versehene  Spazierstöcke 
vervollkommneten  den  äufseren Menschen.  Ein  Donnerkeil  wurde  gegen 
Krämpfe  gebraucht.  An  Mannigfaltigkeit  stehen  die  Hausgeräte  nicht 
Abb.  165. 


Grofsvnter  mit  Haspel  um  1880. 
{Nach  einer  Photographie  von  Bergmann-Lüchow.) 

nach,  ich  habe  aber  kein  einziges  Stück  gesehen,  das  in  derselben  Art 
nicht  auch  vor  50  bis  100  Jahren  im  Elster-  und  PI  ei  fs  engebiet  ge- 
braucht worden  wäre.  Wir  sehen  den  dauerhaften  Tisch  mit  derben 
Holzstühlen  und  Bänken,  Lehnstuhl,  Wiege,  Koffern,  Schemeln,  Spinn- 
stuhl  und  Spinnrad  (Abb.  164  a.  v.  S.),  eine  Zunderschachte],  deren  linke 


Gerät.    Geratsprüche.  365 

rechteckige  Vertiefung  Schwefelfaden,  Stahl  und  Stein,  deren  rechte 
quadratische  aber  Zunder  enthält.  Zinnerne  Teller,  Kannen,  Krüge,  mit 
Deckel  versehen,  Salzfäfschen  (1  dm  hoch  und  breit),  Butterteller  (2  dm 
hoch  und  breit),  Leuchter  erinnern  an  Wohlhabenheit.  Tassen  und  Milch- 
töpfe, Butterdosen  und  Kiepen,  Suppenschalen  und  Branntweinbowlen, 
Sand-  und  Standuhren,  Lampen  mit  birnenförmigem,  die  Zeit  anzeigen- 
dem Glasbehälter,  grofse  Holzschachteln  für  Tücher  und  Schürzen 
ergänzten  das  Hausgerät.  Gesangbuch  und  Hauspostille  und  ein  paar 
Schriften  von  Hennigs  verraten,  dafs  auch  geistige  Interessen  nicht 
ganz  mangelten. 

Hechel  und  Haspel  (Abb.  165),  Baakhammer  und  Multer,  Schwing- 
block und  Schwinge,  Garnrolle,  Spulkorb  und  Spulrad,  Nähkorb  und 
Hakenpflug  gemahnen  an  die  Beschäftigung  der  Polaben,  die  Kirchen- 
stöcke an  eine  weit  verbreitete  kirchliche  Einrichtung.  Vieles  eigen- 
artige, dem  Wendland  angehörige,  ist  aulserhalb  der  Wenden  stube 
unter  die  allgemeinen  Sammlungen  eingereiht.  Die  alten,  teilweise 
recht  zierlich  geformten  Urnen,  wie  sie  in  grofser  Zahl  zu  Rebenstorf 
gefunden  worden  sind,  enthielten  aufser  Birkenharz,  Beinkämmen, 
Kleiderresten ,  Spangen,  Fibeln,  Hefteln,  Nadeln,  Schnallen,  Nägeln, 
Nieten,  Messern,  Scheren,  Schlüsseln,  Spi nn wirtein ,  Perlen,  Ringen, 
besonders  Münzen  aus  der  Zeit  des  Antoninus  Pius  (138  bis  161) 
und  Gallienus.  Nach  der  gewöhnlichen  Annahme  entstammen  diese 
also  vorwendischer  Zeit;  dies  gilt  natürlich  auch  von  den  bei  Dannen- 
berg  gefundenen  Brakteaten  und  von  den  Steinbeil-  und  Bronze- 
funden. Dagegen  ist  die  sogenannte  Wendenkrone  mittelalterliches 
Erzeugnis.  Eine  Eigenart  bewahren  zahlreiche  Gegenstände,  insofern 
sie  mit  Inschriften  versehen  sind.  Aufser  Grabplatten  und  Hausgiebel 
versah  der  Polabe  auch  seine  grofsen  Holzschachteln,  seine  Teller, 
seine  Schränke  und  Zierfenster  mit  Sprüchen.  Die  bunten  Holz- 
schachteln, deren  ovale  Grundform  über  y8m  lang  ist,  haben  auf  dem 
Deckel  meist  ein  farbiges  Bild,  ein  Liebespaar  und  einige  Bäume  oder 
dergleichen  darstellend.     Darunter  stehen  die  Verse: 

„Geh  sie  mir  aus  dem  Angesicht, 
Denn  sie  ist  meines  gleichen  nicht." 

Oder:  „Auf  dem  Markt  zu  Satemin, 

Tanz  ich  mit  meiner  Katherin." 

Oder:  „Auf  dem  Markte  zu  Satemin, 

Da  tanzten  wir  sonst  nach  der  Violin. u 

Ein  grofser  Schrank  des  Lüneburger  Museums  enthält  plattdeutsch 
folgende  Inschrift: 

„Ein  neues  Haus,  gesunder  Leib, 
Ein  reinlich  Bett,  ein  schönes  Weih, 
Ein  frisches  Brot,  ein  gut  Glas  Wein, 
Was  kann  auf  Erden  besser  sein?8 


366  Die  Polaben. 

Die  unbeholfenen  Glasfenster  aber  bieten  in  der  Mitte  einen  Reiter 
dar  oder  ein  Schiff  oder  einen  Kammerwagen,  dessen  Pferde  Hirsch- 
geweihe zieren;  unter  diesen  Figuren  steht  dann  der  Name  des  Besitzers. 
Rundum  aber  befinden  sich  Verse,  wie  die  folgenden: 

1.  „Was  frage  ich  nach  der  bösen  Welt, 
Ob  sie  mich  lobe  oder  schelt 
Ich  habe  für  mich  ein'  treuen  Gott, 
Der  beschert  mir  wohl  mein  täglich  Brot." 

2.  „Geld  ist  Geld,  Welt  ist  Welt, 

Wohl  dem,  der  seinen  ehrlichen  Namen  behält," 

i 
8.    „Glauben  halten  ist  wohl  fein,  j 

Gedenke  du  junges  Mädelein, 

Und  lafs  dich  nicht  betriegen, 

Sonst  mufst  du  rumpeln  mit  der  Wiegen/ 

4.  „Distel  und  Dorn  stechen  sehr, 
Aber  falsche  Zungen  noch  viel  mehr, 
Doch  will  ich  mich  lieber  in  Disteln  und  Dornen  baden, 
Als  mit  falschen  Zungen  sollen  beladen." 

5.  (Claus  Singelmann  1720:) 
„Alles  mit  Gott  thu  fangen  an, 
So  wirst  du  Glück  und  Segen  han." 

6.  Menschen-Fleifs  gar  nichts  gelingt, 
Wo  Gott  nicht  seinen  Segen  bringt." 

7.  „Feinde  kommen  zum  andern  in  der  Nacht, 
Aber  Mann  und  Weib  noch  viel  mehr." 

8.  „Wem  Gott  nicht  giebt  Bein  Rat  und  Gunst, 
So  ist  all  unser  Thun  umsonst." 

9.  Ps.  38,  8  (?  19): 
„Ich  zeige  meine  Missethat  an 
Und  sorge  für  meine  Sünde." 

Das  Lubelner  Museum,  das  leider  der  nötigen  Pflege  entbehrt, 
enthalt  einige  interessante  Stücke  neben  vielem  Altbekannten.  Ein 
40  cm  langer,  10  cm  starker,  vorn  abgeschrägter  Granitcylinder  wird 
als  Pflug-  oder  Hakenspitze  (?)  gedeutet.  Daneben  wäre  die  35  cm  lange 
und  breite,  herzförmige  Eisenpflugspitze  und  ein  noch  spitzeres  Haken- 
pflugeisen allerdings  ein  bedeutender  Fortschritt.  Da  die  Stücke  des 
Lubelner  Museums  sämtlich  der  nächsten  Umgebung  entstammen,  ge- 
währen sie  ein  hübsches  historisches  Bild.  Da  liegt  friedlich  Steinaxt 
und  ovaler  Handmahlstein  neben  den  Uniformen  der  Lützower,  der 
wendischen  Braut  und  dem  Marktgänger,  mächtig  grofse  Haarkämme 
neben  alten  Geschossen  und  Feuerzeugen.  Ein  salzfafsähnliches  Näpf- 
chen hatte  den  Zweck  „Feuer  zu  erhalten a.  Eine  meterlange  Halskette 
mit  Halsring,  Gliedern  und  Schlots  erinnert  an  die  Zeit  entwürdigender 
Eirchenbulse.  Eine  viertelmeterhohe  Tabaksdose,  eine  ebenso  lange 
blecherne  und  zinnerne  Öllampe,  eine  Goldwage,  eine  grofse  Laterne 


Lü  belli  er  Museum.  367 

mit  hornenem  Lichtloch,  eine  uralte  thöneme  Kinderklapper  <)  in 
Henschenfonn,  zahlreiche  glasierte  und  nngiasierte,  rasen-  and  krug- 
förmige  Urnen  fesseln  unser  Augenmerk.  Ein  Bauer  ist  dargestellt, 
wie  er  nach  der  Stadt  auf-  Abb.  ica. 


bricht.  Er  hat  eine  lang- 
gestreifte, grün  und  rote, 
kurze  Jacke  und  zuge- 
knöpfte Weste,  entere  Ist 
offen  and  rechts  und  links 
mit  sechs  Silberknöpfen  be- 
setzt. An  die  weifsen  Knie- 
hosen sind  die  W  ollen - 
strumpfe  angefädelt.  Die 
Ledersehuhe  sind  vorn  mit 
einer  gelben  rechteckigen 
Schnalle  verziert,  so  dals 
noch  der  Strumpf  durch- 
schimmert. An  einem 
Jaokenknopf  hangt  der 
Tabaksbeutel  mit  Zubehör, 
im  Munde  halt  der  Bauer 
die  schöne  topf  ähnliche 
Meerschaum  pfeife.  Den  Eopf 
ziert  ein  schwarzer  Drei- 
master mit  schwarzweila- 
gelbschwarzer  Kokarde  in 
der  Form  einer  halben 
Ellipse.  In  der  Hand  halt 
er  den  langen  Spazier- 
etock.  —  Statt  der  Silber- 
knöpfe sieht  man  auf 
anderen  Kleidungsstücken 
grolse  Mes singknöpfe,  statt 
der  weifsen  Hosen  lang- 
streifige  bunte;  die  Jacke 
sieht  schwarz  aus.  —  Der 
Brautkranz    aber    ist    mit 

seiner  Raute  und  Füttern,  Markt"  und  Tanzanzug  bis  1880. 

yielen  Bändern  und  Ge-  <Nwh  einer  Phrto«*-  Ton  »t.i.bwWr-Sabw«.) 
hängen  aufs  verschiedenartigste  verziert;  der  schwarze  Brautrock  berührt 
den  Boden,  die  weifse  Brantschürze  uruschlielst  den  Rock  (Abb.  166). 
Bekanntlich  ist  in  der  Mark  bei  alter  Tracht  die  Schürze  länger  ab  der 
Rock.  („Die  Schürze  ist  länger  als  der  Rock,  das  Mädel  ist  aus  Jüterbogk".) 


')  Vgl.  Verband!,  der  Berliner  Anthrop.  Ges.,  16.  Januar  1892. 


368  Die  Folaben. 

Hier  sei  noch  einiger  eigentümlicher  Ausdrücke  gedacht,  wie 
Paggeleitz  (Brot  in  Huf  ei  Benform),  Poleitzki  (Büchse),  Anatter  oder 
Heinotter  (Storch),  Aust  (Erntefest),  Kost  (Festspeise),  Kuwwel  (feines 
Roggenbrot)  etc.  Charakteristisch  ist  die  Behandlung  des  anlautenden 
Vokals;  man  sagt  für  „Der  Hase  hängt  auf  dem  Hofe  an  dem  Haken14: 
„de  as  ängt  hupn  of  han  aken";  diese  Mundart  heilst  „Wendisch-Platt a. 

In  einem  Gedichte  „Yördüssen  un  ups t uns"  (Einst  und  jetzt)  wird 
in  der  bekannten,  das  Alte  gegenüber  dem  Neuen  verhimmelnden  Weise 
das  Leben  im  hannoverschen  Wendlande  geschildert.  Ehemals  habe 
der  Vater  Sonntags  in  der  Bibel  gelesen  und  den  Sohn  dazu  angehalten ; 
die  Leute  seien  stark,  arbeitsam  und  fromm  gewesen.  Jetzt  aber  kämen 
Andort  und  Johann,  das  Mittagbrot  sei  noch  nicht  ordentlich  verzehrt, 
und  holten  den  Freund  in  den  Krug  ab.  Der  werfe  sofort  den  Löffel 
weg  und  springe  herbei,  da  werde  „bit  in  de  sinkne  Nacht u  getanzt 
und  jubiliert;  man  laufe  in  fünf,  sechs  Krüge,  habe  den  anderen  Tag 
Katzenjammer  und  sei  mürrisch,  verdrielslich  und  —  ohne  Geld. 

Heet  dat,  de  Welt  is  upgeklärt, 
De  Welt  is  keen  Schott  Pulwer  wert. 
Un  ich  möcht  schier  wohl  judezeern, 
Bat  doch  de  Ollen  klöker  warn. 

IV.     Feste  und  Gebräuche. 

1.  Hochzeit.  Bas  grölste  und  wichtigste  Fest  im  Hause  des 
Polaben  ist  die  Hochzeit 1).     Die  jungen  Leute  lernen  sich  meist  auf 


l)  Hochzeitsschilderung  von  Mente:  „Bräutigam,  Vorreiter  und  Kranz- 
deeriis  ziehen  in  das  Haus  der  Braut.  Nachdem  sie  dort  Kaffee  und  Grog 
genossen  haben,  beginnt  die  Bückfahrt,  die  eigentliche  Brautfahrt.  Während 
des  Kaffees  wird  der  Schappenwagen  beladen  mit  Sohapp  (Schrank),  Koffer, 
Betten,  Spiegel,  Spinnrad,  Stühlen  u.  s.  w.,  auch  stellt  man  hohe  Braunkohl- 
pflanzen (Körschen)  zum  Schmuck  auf  den  Wagen.  Die  Jünglinge  stellen 
sich  oben  auf  die  Wagenleiter  und  halten  sich  am  festgebundenen  Schranke. 
Hinten  auf  dem  Wagen  und  neben  dem  Schranke  sitzen  und  stehen  die 
Kranzdeerns.  Vorn  auf  zwei  Stühlen,  oder  auf  einem  vollgestopften  Sack, 
nehmen  Bräutigam  und  Braut  Platz.  Bunter  ihnen  die  Korfmömke  (nächste 
Verwandte  des  oder  der  Einheiratenden)  mit  einem  Korbe  voll  Pfeffernüsse, 
die  auf  dem  Wege  unter  die  Kinder  und  Zuschauer  geworfen  werden.  Als 
Geschenk  für  diese  Arbeit  bekommt  die  Korfmömke  ein  seidenes  Tuch.  Der 
Schappenwagen  (Ernteleiterwagen)  wird  von  vier  Pferden  gezogen,  das  Riedel- 
pferd hinten  trägt  den  Fuhrmann,  dessen  Peitsche  mit  bunten  seidenen 
Bändern  geziert  ist;  aufserdem  trägt  derselbe  auf  dem  Bücken  ein  grofses, 
buntes,  seidenes  Tuch,  welches  ihm  von  der  Braut  geschenkt  wurde.  Die 
Pferde  werden  am  Kopfe  mit  bunten,  gemachten  Blumen  geschmückt.  Nach- 
dem der  Bräutigam  von  der  Braut  die  Zusage  erhalten,  dafs  sie  mit  will, 
und  die  Musikanten,  deren  Instrumente  mit  bunten  Taschentüchern  ge- 
schmückt sind,  einige  Weisen  wie :  Bis  hieher  hat  mich  Gott  gebracht,  —  Nun 
danket  alle  Gott,  —  So  leb  denn  wohl,  —  gespielt  haben,  setzt  sich  der  Zug 
zum  Hochzeitshause  in  Bewegung.    Voran  der  Schappenwagen,  dahinter  der 


Hochzeitsgebräuche  in  Bebenstorf.  &369 

dem  Tanz  oder  Jahrmarkt  kennen;  die  Verbindung  aber  wird  Ton  den 
Eltern  oder  Verwandten  betrieben.    Selten  heiratet  man  sich  ohne  Ver- 


Musikanten  wagen,  dann  andere  der  Hochzeitsgäste,  zuletzt  der  vorerwähnte 
Brotwagen.  Nebenher  die  Beireiter.  Nachdem  sie  das  Dorf  verlassen,  jagen 
einige  Beireiter  in  tollem  Galopp  dem  Hochzeitsorte  zu.  Wer  zuerst  das 
Haus  erreicht,  erhält  eine  Wurst  und  eine  Flasche  Wein,  womit  er  zum 
Hochzeitswagen  zurückkehrt.  Sobald  der  Wagen  an  der  Feldmarksgrenze 
des  neuen  Heimatsortes  der  Braut  angekommen,  wird  Halt  gemacht.  Hier 
wird  getrunken  und  zwischen  Braut  und  Fuhrmann  findet  ein  Zwiegespräch 
statt  (Fuhrmann:  a Jungfer  Brut,  wer  föhrt  die?*  Braut:  „Gott  un  god 
Lüt"),  wobei  die  Braut  dem  Fuhrmann  Geld  in  den  Hut  wirft  und  die  geleerte 
Flasche  Wein  am  Wagenrade  kaputt  geworfen  wird. 

Bei  der  Ankunft  fährt  der  Schappenwagen  direkt  ins  Haus  des  Bräuti- 
gams. Die  junge  Braut  wird  von  den  Schwiegereltern  in  Empfang  genommen 
und  begrüfst,  wogegen  die  Braut  denselben  ein  Geldgeschenk  aushändigt. 
Es  beginnt  nun  auf  der  Diele,  die  sich  mit  neugierigen  Dorfbewohnern  an- 
gefüllt hat,  das  Abladen.  Dieses  wird  meistens  durch  die  Dorfleute,  die 
nicht  zur  Hochzeit  geladen,  besorgt.  Die  neue  Schwiegermutter  (oder 
Schwägerin)  trägt  das  Bett  in  die  Brautbutze  (Kammer).  In  den  Betten 
findet  dieselbe  wieder  Geld  und  ein  seidenes  Tuch.  Alle  anderen  Sachen 
werden  kurze  Zeit  zur  Schau  auf  der  grofsen  Diele  ausgestellt. 

Es  folgt  nun  das  allgemeine  Frühstück,  Braaels  und  Kopfwurst,  wozu 
Semmel,  Brot  und  Butter  gegeben  wird.  Die  Zuschauer  auf  der  grofsen 
Diele  erhalten  Pfeffernüsse,  Kuchen,  Bier  und  Grog. 

Nach  dem  Frühstück  wird  zum  Traugang  gerüstet,  der  sich  etwa  um 
12  Uhr  in  Bewegung  setzt,  und  zwar  immer  zu  Fufs,  nachher  zu  Wagen. 
Voran  die  Musikanten,  dann  folgt  die  Braut  mit  ihren  nächsten  Verwandten 
(Truleirer),  dahinter  der  Bräutigam  mit  seinen  Verwandten.  Bei  der  Auf- 
stellung in  der  Kirche  steht  vor  der  Trauung  die  Braut  mit  ihren  Trau- 
leitern rechts  vor  dem  Altar,  der  Bräutigam  mit  Trauleitern  links.  Nach 
der  Trauung  tritt  die  Braut  links  zu  den  Trauleitern  des  Bräutigams,  der 
Bräutigam  zu  denen  der  Braut  rechts.  Bei  der  Trauung  wird  gesungen: 
Bis  hieher  hat  mich  Gott  gebracht ,  wobei  die  Musikanten  blasen.  Auf  dem 
Bückgange  kommt  hinter  den  Musikanten  zuerst  der  junge  Mann  und  Trau- 
leiter der  Braut,   dann  die  junge  Frau  mit  den  Trauleitern  des  Bräutigams. 

Vor  dem  Hochzeitshause  angekommen,  werden  sie  von  den  Eltern  und 
Schwiegereltern  empfangen,  wobei  die  Väter  Wein,  die  Mütter  Kringel  und 
Kuchen  reichen,  und  zwar  zuerst  dem  jungen  Ehepaar,  dann  den  Trauleitern 
und  den  Gästen. 

Sofort  geht  es  nun  zum  Mittagessen.  Das  junge  Ehepaar  mit  den  Trau- 
leitern nehmen  am  Tische  in  der  grofsen  Stube  (Dönz)  Platz.  Die  Gaste, 
welche  Messer  und  Gabeln  von  Hause  mitgebracht  haben,  setzen  sich  teils 
in  Stuben,  teils  auf  der  grofsen  Diele  zum  Essen.  Der  Trautisch  ist  unter 
anderem  auch  mit  Butter,  worin  Rosmarin  gesteckt,  geschmückt. 

Bei  dem  Essen  werden  dann  folgende  Sammlungen  gehalten:  Zuerst 
kommt  der  Koch,  in  der  Hand  eine  Schaumkelle,  worauf  alle  ein  Geldstück 
legen.  Am  Trautisch  gewöhnlich  50  Pf.  oder  1  Mk. ,  andere  geben  gewöhn- 
lich ein  Zehnpfennigstück.  Dann  folgt  der  Schenker,  in  der  Hand  ein 
Schnapsglas,  worein  das  Geld  geworfen  wird. 

Dann  kommt  die  Abwäscherin  (SchÖttelsch) ,  in  der  Hand  einen  Teller 

haltend,   worin  ein  kleines  Strohbündchen  (Schürwieb)   liegt,   und   sammelt 

darauf  ihre  Geschenke.    Zuletzt  kommt  ein  Musikant,  ebenfalls  einen  Teller 

in   der  Hand,   worauf  ein  Mundstück   einer  Trompete  liegt,   und   sammelt 

Tetsner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  24 


1 


370  Die  Polaben. 

mittler  oder  Freiwerber.  Der  Bräutigam  wird  dann  ins  Hans  der 
Schwiegereltern  zu  Besuch  eingeladen.  Will  aber  die  Braut  einheiraten, 
so  fragen  ihre  Verwandten  an.  Man  kauft  sich  dann  in  Lüchow  zu- 
sammen Geschenke:  Ringe,  Kleidungsstücke;  früher  mufste  die  meer- 
schaumene  Pfeife,  Beutel,  „Piepenpurrer"  und  eine  Sieben  thalermütz« 
dabei  sein.  Nun  wird  eine  regelrechte  Verlobung  gefeiert,  und  die 
Verwandten  besuchen  sich  gegenseitig  und  gehen  durch  die  Thorthür, 
„sonst  geht  die  Verlobung  zurück u.  Es  wird  jetzt  genau  ausgemacht, 
was  man  beiderseits  mitgiebt.  Nach  Einigung  setzt  man  die  Hochzeit 
auf  Frühjahr  oder  Herbst  fest.  Bei  der  Verlobung  (Löft)  schenkt  der 
Einheiratende  (Einkommer)  dem  zukünftigen  Schwiegervater  ein  Hals- 
tuch, der  Schwiegermutter  50  bis  100  Ellen  feine  Leinwand,  ein  Tuch 


Geldgeschenke.    Während  dieser  Sammlungen  wird  von  den   anderen  Musi- 
kanten gespielt. 

Nach  dem  Mittagessen  wird  getanzt  und  Karten  gespielt.  Sobald  die 
Dunkelheit  anbricht,  wird  der  Ehren  tanz  aufgeführt.  In  einem  länglichen 
Kreis  stellen  sich  sämtliche  Kranzjungfern,  in  den  Händen  brennende  Stearin- 
lichte haltend,  auf,  und  zwar  auf  der  Diele,  rechts  die  Verwandten  des 
jungen  Mannes,  links  die  der  jungen  Frau,  die  nächsten  oben,  d.  h.  am 
Kamin.  Hinter  diesen  Mädchen  nehmen  andere  Verwandte  und  Gäste 
sowie  fremde  Zuschauer  Aufstellung,  wobei  manche  auf  dem  Kuhkaben 
stehen,  andere  oft  auf  den  über  dem  Kuhstall  befindlichen  Bistall  klettern. 
Nun  beginnt  der  Ehrentanz.  Zuerst  tritt  der  nächste  Trauleiter  des  Bräuti- 
gams, auf  dem  Bücken  mit  Bändern  geschmückt,  in  den  erleuchteten  Kreis 
und  tanzt  mit  der  jungen  Frau  vier  Tänze.  Nach  dem  dritten  Tanze  wirft 
er  einige  harte  Thaler  für  die  Musikanten  auf  den  Teller,  der  auf  dem 
Musikantentische  steht,  so  dafs  der  Teller  in  Scherben  bricht.  Nun  er- 
scheinen die  Schwiegereltern  und  kredenzen  Kuchen  und  Wein.  Nach  dem 
vierten  Tanze  bringt  dieser  Trauführer  die  junge  Frau  zum  zweiten  Trau- 
leiter und  die  Tanzerei  beginnt  in  gleicher  Weise,  so  beim  dritten  und 
vierten  Trauleiter.  Der  letzte  Trauführer  bringt  die  junge  Frau  zu  ihrem 
Mann,  der  dann  auch  in  gleicher  Weise  vier  Tänze  (Klappeis)  mit  ihr 
tanzt.  Bei  allen  wiederholt  sich  nach  dem  dritten  Tanze  das  Geldwerfen 
und  Darreichung  des  Kuchens,  Krüge  und  des  Weins.  Nun  kommt  ein 
Tanz,  wo  der  junge  Mann  mit  Frau  sowie  alle  vier  Trauleiter  mit  ihren 
Damen  zusammen  tanzen.  Während  dieses  Tanzes  laufen  der  junge  Mann 
und  die  junge  Frau  den  Kreis  herum  und  schlagen  mit  Taschentüchern  die 
Lichte  aus.  Wer  die  Lichte  seiner  Damen  beim  Ehrentanz  zuerst  gelöscht 
bekommt,  der  lebt  am  längsten.  Damit  ist  der  Ehrentanz  zu  Ende.  Nun 
beginnt  das  allgemeine  Tanzen.  Am  zweiten  Hochzeitstage  trägt  die  Frau 
noch  Krone  und  tanzt  mit  allen  Fuhrleuten,  die  jeder  einen  Thaler  für  die 
Musikanten  werfen.  Abends  12  Uhr  bilden  die  jungen  Mädchen  einen  läng- 
lichen Kreis  (ohne  Lichte),  in  welchem  die  nächste  Verwandte  mit  der 
jungen  Frau  tanzt,  wonach  ihr  die  Krone  abgenommen  und  durch  die  rote 
oder  goldene  Mütze  ersetzt  wird.  In  dieser  Tracht  tanzt  die  junge  Frau 
auch  am  dritten  Hochzeitstage.  Bei  dem  allgemeinen  Tanze  fordern  die 
Tänzer  auf  und  bezahlen  immer  nach  dem  dritten  Tanze.  Nach  Beendigung 
der  vier  Tänze  (Klappeis)  wird  mit  Händen  geklatscht,  jeder  Herr  nimmt 
jetzt  eine  andere  Dame  zu  den  nächsten  vier  Tänzen.  Am  zweiten  Hochzeits- 
tage müssen  auch  die  tanzenden  Mädchen  und  Frauen  jede  einmal  auf- 
fordern und  ebenfalls  zahlen. 


Hochzeitsgebräuche.  371 

und  50  bis  100  Mk.  Löftengeld,  den  Geschwistern  und  Dienstboten 
Tücher  oder  Schürzen. 

Zum  Polterabend  erschallen  die  zerbrechenden  Töpfe;  200  bis 
300  Gaste  aus  einem  Dutzend  Gemeinden  werden  zu  einer  grolsen 
Hochzeit  persönlich  oder  durch  Verwandte  eingeladen.  Die  eingeladene 
Familie  läfst  sich  wieder  von  einer  befreundeten  fahren,  die  nun 
gleichfalls  Gast  ist.  Messer  und  Gabeln,  Betten  und  Geschenke,  als 
Mehl,  Eier,  Butter,  geschlachtete  Hühner  bringen  die  Gäste  mit  ins 
Hochzeitshaus.  Der  „Peerjung",  der  die  eingeladene  und  befreundete 
Familie  fährt,  ladet  alles  ab  und  fährt  dann  zurück,  um  am  Ende  der 
Hochzeit  seine  Leute  wieder  zu  holen.  Beidemale  bekommt  er  Essen 
und  Trinken  und  eine  Flasche  Schnaps.  Die  Hochzeit  dauert  zwei  bis 
drei  Tage.  So  werden  bei  einer  grolsen  zwei  Ochsen,  zwei  Kälber, 
drei  Schweine  geschlachtet,  Brot  und  Kuchen  in  Menge  gebacken,  Bier 
und  Schnaps  in  Massen  angefahren.  Sobald  die  Gäste  ankommen,  wird 
ein  tüchtiges  Frühstück  (Kopfwurst  und  Braaels)  eingenommen.  Die 
200  bis  300  Gäste  finden  in  der  Scheune  oder  einem  Zelte  Platz  und 
müssen  aufeinander  warten,  wenn  das  Gewühl  zu  grots  ist.  Alles  wird 
auf  einmal  aufgetragen.  Das  Hauptessen  aber  findet  mittags  nach  der 
Trauung  statt.  Die  Hochzeitsgeschenke  bestehen  in  Geld,  Mehl, 
Butter  u.  s.  w.  zur  Bestreitung  der  Hochzeitskosten.  Obenan  in  der 
Dönz  sitzen  beim  Hochzeitsmahl  Braut  und  Bräutigam,  die  Ver- 
wandten daneben.  Gedichte  humoristischer  Art,  die  sich  auf  das 
Eheleben  beziehen  und  nicht  immer  fein  sind,  werden  neuerdings  vor- 
getragen. Zehn  Musikanten  spielen  mit  Blechinstrumenten,  Geigen, 
Klarinetten.  Sie  mulsten  ehemals  grofse  Hochzeitsgaben  geben,  und 
wurden  erst  nach  Verhandlungen  darüber  angenommen.  Die  Gäste 
gaben  nämlich  den  Musikanten  je  drei  bis  vier  Thaler  für  verlangte 
Musik  und  wollten  sich  dabei  besonders  zeigen.  Bei  den  Ehrentänzen 
tanzt  die  Braut  ganz  allein  mit  jedem  Verwandten,  zuletzt  der  Bräutigam 
mit  der  Braut  Am  letzten  Tage  wird  der  Braut  von  den  Frauen  der 
Kranz  abgenommen.  Die  Mädchen  bilden  einen  Kreis  um  die  Braut, 
die  Frauen  suchen  durchzubrechen  und  die  Braut  zu  rauben.  Gelingt 
dies  endlich,  so  schlägt  eine  Frau  ein  Taschentuch  über  den  Kopf  der 
Braut,  setzt  ihr  dann  eine  schwarze  oder  goldene  Timpmütze  auf,  und 
die  Hochzeit  hat  ein  Ende.  Die  Gäste  bekommen  „Korb",  ihr  Tuch 
voll  Kuchen  und  Pfeffernüsse,  und  fahren  nach  Hause. 

Stammt  die  Braut  aus  einem  anderen  Dorfe,  so  holt  der  Bräutigam 
mit  seinen  Brautjungfern  reitend  oder  fahrend  mit  Vorreitern  und  vier 
bis  fünf  Wagen  die  Braut  ab.  Die  Vorreiter  stürmen  wie  die  wilde 
Jagd,  holen  die  Braut,  andere  sprengen  und  holen  Wurst  von  der 
fahrenden  Gesellschaft  und  bringen  sie  und  den  Kammer  wagen  zurück, 
bis  der  Bräutigam  der  Braut  begegnet.  An  jeder  Dorf  grenze  wird 
Halt  gemacht  und  die  Braut  gefragt:  „Willst  du  mit,  noch  ist  es 
Zeit?"    Die  Knechte,  die  an  der  Dorf  grenze  stehen  oder  diese  mit  einem 

24* 


372  Die  Polaben. 

Strick  sperren  wollen,  erhalten  Geld,  Pfeffernüsse  oder  wirkliche  Nüsse. 
Die  Eorfmöhm  wirft  die  Nüsse  vom  Wagen  herunter.  Gewöhnlich  ist 
dies  die  Schwägerin  des  einheiratenden  Bräutigams,  die  Ankleidefrau  der 
Braut.  Bei  der  Rückkunft  von  der  Kirche  wartet  die  Schwiegermutter 
„vor  der  grolsen  Thüru  mit  Kuchen  oder  Zuckerkringeln  und  Wein 
für  das  junge  Paar,  den  Festleiter,  die  Kranzjungfern  und  Gäste.  — 
Das  langsame  gemächliche  Fahren  des  geschmückten  Kammerwagens 
und  der  Brautleute  steht  im  Gegensatz  zu  der  Jagd  der  Vorreiter. 

Bei  der  Hochzeit  werden  noch  heute  verschiedene  Förmlichkeiten 
beobachtet.  Das  Brautpaar  hat  im  Bett  Geld,  in  der  Tasche  Weisen 
u.  dergl.  oder  mufs  über  die  mit  Korn  und  Stroh  bedeckte  Diele  gehen, 
„ damit  die  Ehe  und  der  Hausstand  gesegnet  sei".  Mit  schlimmem 
Finger  geht  man  nicht  vor  den  Altar.  Wer  die  Hand  oder  den  Daumen 
bei  der  Trauung  oben  hat,  bekommt  die  Herrschaft.  Die  Bräute  treten 
dem  Bräutigam  zu  demselben  Zwecke  auf  den  Fufs  oder  schlafen  auf 
seinen  Beinkleidern  in  der  Brautnacht.  Während  des  Kirchganges 
darf  sich  das  Brautpaar  nicht  umsehen  und  vorher  nicht  in  den  Spiegel 
gucken,  sonst  sterben  beide  bald.  Das  Paar  mufs  sich  zusammenstellen, 
dafs  niemand  durchschauen  und  die  Ehe  trennen  kann  oder  ihnen 
etwas  anthue.  Erwartet  der  Bräutigam  die  vom  Wagen  in  seine  Arme 
springende  Braut,  so  muts  er  sie  bis  zur  Mitte  der  Diele  tragen,  dafs 
sie  mit  keinem  Fufse  die  Erde  berührt.  In  der  Satemi ner  Gegend 
erhält  das  Brautpaar  beim  Eintritt  in  die  Stube  eine  Suppe  aus  allen 
möglichen  Getreidearten,  jetzt  ein  Glas  Wein;  das  soll  reiche  Ernte 
andeuten.  Erntesegen  erhofft  man  auch,  wenn  man  beim  Hochzeits- 
gange Weizen  in  die  Schuhe,  Flachs  in  den  Brautkranz  legt  Bindet 
die  Braut  dem  Bräutigam  ein  kleines  Stöckchen  ins  Halstuch,  oder  zer- 
bricht sie  ein  solches  vor  dem  Altar,  so  hofft  sie,  nie  geschlagen  zu 
werden.  Giebt  die  Axt  des  Bräutigams  beim  Holzholen  Feuerfunken, 
so  brennt  das  Auge  weg.  Wer  am  schnellsten  vom  Brautwagen 
springt,  ist  in  der  Wirtschaft  am  flinksten.  Der  Bräutigam  steckt  der 
Braut  eine  Nadel  ins  Zeug,  das  soll  Verträglichkeit  vorbedeuten.  Wer 
bei  der  Hochzeit  zuerst  am  Tische  sitzt  oder  zuerst  aus  dem  Hause 
tritt,  stirbt  zuerst.  Wer  sich  zuerst  umsieht,  wird  zuerst  verwitwet 
(„er  sieht  sich  schon  nach  der  neuen  Frau  um^).  Leichter  Regen  in 
den  Brautkranz  soll  Glück  bringen,  anhaltender:  Zwietracht,  Wind: 
Streit.  Wessen  Licht  beim  Ehrentanz  zuerst  verlöscht,  der  stirbt 
zuerst.  Beim  Hochzeitsmahl  essen  Braut  und  Bräutigam  von  einem 
Teller,  dafs  sie  sich  nie  abgünstig  werden.  Ist  bei  der  Hochzeit  ein 
Toter  im  Dorfe,  so  hat  die  Ehe  keinen  Bestand.  Kommt  der  Hund 
bei  der  Ankunft  der  Braut  dieser  freundlich  entgegengesprungen,  so 
hat's  die  junge  Frau  im  Hause  gut.  Beim  Backen  darf  die  Braut  nicht 
helfen,  sonst  gerät  ihr  in  der  Ehe  das  Brot  nicht.  Zur  Aussteuer  wird 
stets  ein  Stück  Brot  gelegt.  Hier  und  da  geht  das  Brautpaar  dreimal 
stillschweigend  um  den  Hochzeitswagen,  schlechte  Menschen  könnten 


■ 


Aberglaube  und  Lieder  bei  der  Hochzeit.  873 

sie  sonst  samt  Wagen  „versehen",  Unglück  auf  der  Brautfahrt  ist  von 
schlechter  Vorbedeutung 1). 

Man  schliefst  die  Ehen  bei  zunehmendem  Mond,  dals  nichts 
mangelt,  und  am  liebsten  Freitags.  Leiht  die  Braut  vor  der  Hochzeit 
vom  Bräutigam  Geld,  so  hat  sie  später  Verfügung  über  die  Kasse. 
Will  sie  überhaupt  Über  den  Mann  herrschen,  so  mufs  sie  vor  dem 
Altar  ein  im  Handschuh  verborgenes  kleines  Reis  von  Erbsenstroh 
zerbrechen.  Zahnschmerz  verliert  sie,  wenn  sie  beim  Abendmahl 
hinterm  Altar  in  einen  kleinen  Apfel  beiist.  Das  wurde  noch  am 
10.  November  1887  in  Dannenberg  beobachtet;  und  bis  zum  Jahre 
1865  wurde  Jedem  Bebenstorfer  Konfirmanden  von  der  Frau  Pastorin 
ein  Apfel  gereicht  mit  der  Weisung,  beim  Abendmahl  nach  dem 
Empfang  des  Brotes  dreimal  in  den  Apfel  zu  beifsen  und  ihn  dann  in 
die  Kirche  zu  werfen,  dies  helfe  gegen  Zahnschmerz.  Wessen  Trauring 
bei  der  Trauung  zur  Erde  fällt,  der  stirbt  bald  oder  wird  unglücklich; 
wessen  Licht  am  längsten  brennt,  der  lebt  am  längsten.  Wer  zuerst 
ins  Haus  geht,  mufs  die  Sorgen  tragen. 

Wenn  die  Braut  abgeholt  wird,  singt  man  u.  a.: 

„Ein  pchönes  Mädchen  einsam  safs 

Im  Wald  bei  einer  Quelle, 

Ihre  Augen  waren  von  Thränen  nafs, 

Schmerzvoll  war.  ihre  Seele.  — 

Sie  hatte  ein  so  schön  Gesicht, 

Das  jedermann  entzückte, 

Das  Blümlein  hiefs  Vergifsmeinnicht, 

Das  sie  am  Ufer  pflückte  u.  s.  w.tf 

(Vgl.  auch  B ah  1  mann,  Münsterländische  Märchen  etc. 

Münster  1898,  S.  219.) 

Bei  der  Hochzeitsfeier  singt  man: 

„Der  Jäger  in  dem  grünen  Wald 
Mufs  suchen  seinen  Aufenthalt, 
Er  ging  bald  hin,  er  ging  bald  her, 
Ob  auch  nichts  anzutreffen  war  u.  s.  w." 
Oder:   1.  „Du  sagst,  du  wolltet  mich  nehmen, 
Bis  dafs  der  Sommer  kam, 
Der  Sommer  ist  gekommen, 
Du  hast  mich  nicht  genommen. 
Ei,  so  nimm  mich  doch, 
Ei,  so  nimm  mich  doch, 
Ei,  so  nimm  mich  doch  zu  dir." 


l)  Vgl.  Verzeichnifs  einiger  Posten  des  abergläubischen  Wesens  der 
Land-  und  auch  vieler  Stadtleute,  1671,  Archiv  für  slaw.  Philologie  22, 
S.  122  bis  126;  vgl.  auch  113  bis  122.  Im  ersten  Abschnitt  wird  erzählt  vom 
Wohnbezirk  der  Eibslawen  („Drawey"),  im  zweiten  vom  „Creutz-  und  Kronen- 
bauma  („Die  Stete"  hat  hier  ihren  Sitz),  im  dritten  von  den  „Sauff- Festen44, 
im  vierten  von  gewissen  Tagen,  im  fünften  vom  Bauernrecht,  im  sechsten  von 
Züchtmeistern,  im  siebenten  von  Hochzeiten,  im  achten  von  Schwangerschaft, 
Bademüttern  und  Kranken  („abcantzlen"),  im  neunten  vom  Begräbnis,  im 
zehnten  vom  gewöhnlichen  Leben. 


374  Die  Polaben. 

2.  „Wie  kann  ich  dich  denn  nehmen, 
Denn  du  bist  ja  gar  nicht  schön. 
Du  bist  nicht  schön  von  Angesicht, 
Scher  dich  weg  von  mir, 

Ich  mag  dich  nicht, 

Scher  dich  nur  weg  von  mir.8 

3.  „Ich  lieb  ein  andres  Mädchen, 
Sieht  aus  wie  Milch  und  Blut, 

Sie  ifst  mit  mir,  sie  trinkt  mit  mir, 
8ie  schlaft  die  ganze  Nacht  mit  mir, 
Ei,  das  war  schön  von  ihr." 

4.  „Sie  hat  auch  einen  Thaler, 
Das  ist  ihr  bares  Geld, 

Dafür  lafs  ich  mir  was  waschen, 
Meine  Stiefel  und  Gamaschen, 
Kauf  mir  Wichs  dafür, 
Wichs  mir  meine  Stiefel  und  8chuh." 

Das  durch  Hennig;  Eccard,  Leibniz,  Herder  und  Goethe  unsterb- 
lich gewordene  „wendische  Brautlied"  unserer  Polaben  lebt  im  Volke 
nicht  mehr. 

Wer  soll  Braut  sein? 
Die  Eule  soll  Braut  sein. 

Die  Eule  sprach  hinwieder  zu  ihnen  den  beiden: 

Ich  bin  eine  sehr  gräfsliche  Frau,  kann  die  Braut  nicht  sein,   ich  kann 

die  Braut  nicht  sein. 

Das  Lied  fährt  in  gleichem  Tone  fort , .  der  Zaunkönig  will  zum 
Bräutigam  zu  winzig,  die  Krähe  zum  Brautführer  zu  schwarz,  der 
Wolf  zum  Koch  zu  tückisch,  der  Hase  zum  Mundschenken  zu  flüchtig, 
der  Storch  zum  Spielmann  zu  grofsschnablig  sein,  nur  der  Fuchs  will 
als  Tisch  den  auseinandergeschlagenen  Hintersten  anbieten. 

Das  Lied  sangen  mindestens  drei  Personen  mit  verschiedenen 
Stimmen,  Zeile  eins  die  erste,  Zeile  zwei  die  zweite,  Zeile  drei  alle  drei 
Personen,  Zeile  vier  die  dritte.  Am  Schlüsse  der  letzten  Strophe 
trommelten  die  Sänger  auf  dem  Tisch  und  schlugen  darauf. 

Ein  Glück  war's,  wenn  die  Bäckerei  geraten,  nicht  windiges  Wetter, 
wohl  aber  ein  sanfter  Regenguis  herrschte;  dann  hatte  der  Segen  kein 
Ende.  —  An  die  polabische  Hochzeit  knüpft  auch  die  bekannte  Sage 
vom  Brautstein  bei  Woltersdorf  an,  nach  der  eine  übermütige  Hochzeits- 
gesellschaft zu  Stein  verwandelt  ward. 

2.  Krankheit  und  Begräbnis;  Aberglauben.  Krankheiten 
kommen  meist  von  aufsen  oder  werden  einem  angehext,  entweder  mit 
Zaubersprüchen,  oder  indem  man  unbewulst  über  einen  absichtlich 
niedergelegten,  mit  unsauberen  Stoffen  gefüllten  Lappen  geht  Beim 
Vieh  besonders  ist  man,  wenn  es  nicht  frifst  oder  nicht  zunehmen  will, 
immer  mit  dem  Wort  zur  Hand,  es  sei  versehn.  Gegen  die  Krankheit 
hilft  Besprechung.  Die  günstigste  Zeit  dafür  ist  Vollmond,  abnehmender 
Mond,  Zeit  vor  Sonnenaufgang,  nach  Sonnenuntergang,  und  zwar  unter 


Zu  Seite  374. 


Ein  Lied,1)  ||  2)  welches  die  Wende  singen,  ||  wenn  sie  in  Gesellschaft  lu||stig 

zuweilen  lustig  ||  sind. 

s fr j- — K— ■ N .» 


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Katü  mes  Ninka  bayt?      Tel-ka    mes    Ninka  bayt.  Tel  -  ka      ri-tzi 

Wer  soll  Braut  seyn?    Die  Eu-le    soll    Braut  seyn.       Die  Eu-le  sprach  hin- 

-A-» — K ' —  N^jc — -^- 


Woapak  ka     nei  -  mo     ka       dwe  -  mo :  Jos  gis    wil  -  tya    gris  -  na     Se  -  na 

wieder    zu       ih  -  nen    den     bey  -  den :         Ich  bin  eine  sehr  hefs  -  li  -  che  Frau, 


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Braut  nicht    seyn. 


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Das  Lied  bietet  die  sieben  polabischen  Strophen  zwischen  den  beiden  Notenlinien, 
dann  die  deutsche  Übersetzung  mit  der  Anmerkung,  wie  das  Lied  zu  singen  ist  (vgl. 
S.  374).  Es  bildet  den  Schlufs  der  Handschrift  „Vocabularium  Venedicum  |  oder 
Wendisches  Wörter-Buch,  |  Von  der  Sprache,  welche  un  |  ter  den  Wenden  in  den  Chur- 
Braunschweig  -  Lüneburgischen  |  Ämtern  Lüchow  und  Wustrow  annoch  im  Schwange 
gehet.  |  Nebst  einer  Vorrede  von  der  Sprache  |  des  Menschen  und  derselben  Mannig-  | 
faltigkeit;  insonderheit  von  der  |  Slavon-  oder  Wendischen  Sprache.  ||  (Lederband  der 
hannövr.  Kgl.Bibl.  in  Quart  251  numerierte  Blätter:  1  Titel,  2  bis  71  Vorrede,  73  bis  81 
Übereinstimmende  Wörter  mit  der  sorbischen,  polnischen  und  tschechischen  Sprache, 
81b  bis  85  Wendische  Städtenamen:  Dieben,  Glauchau,  Halle,  Leipzig,  Zittau,  Kamenz, 
86  Vaterunser,  87  bis  243  Wörterbuch,  244  und  245  Zahlwörter,  Monats-  und  Orts- 
namen, 246  bis  251  obiges  Lied,  dessen  erste  Note  oben  g',  unten  h  ist). 

Die  Handschrift  rührt,  mit  Ausnahme  des  Textes  bis  Blatt  86,  von  Hennig  selbst 
her,  wie  ein  Vergleich  mit  seiner  Urschrift  beweist.  (Görlitzer  „Vocabularium  Vene- 
dicum", „Teutsch -Wendisches  Wörterbuch"  und  „Kurzer  Bericht  von  der  wendischen 
Nation  überhaupt;  insonderheit  von  den  Lüneburger  Wenden  und  deren  Abkunft,  auch 
von  ihrem  Pago,  dem  sogenanten  Drawän,  abgefalst  Anno  1705".)  Diese  Handschriften 
enthalten  das  Lied  nicht,  ebensowenig  das  im  Übrigen  ziemlich  gleiche  Vocabularium 
Venedicum,  198  Blatt,  der  Göttinger  Universitätsbibliothek,  noch  das  Magdeburger 
.Wendische  Lexicon"  (209  S.)  und  das  Wolfenbütteler  „Wörterbuch  der  im  Lüneburgischen 
ansässigen  Wenden",  122  Blatt,  noch  das  Werk  „Wendisches  und  Teutsches  Lexikon" 
(vgl.  S.  501;  dieses  Lexikon  stimmt  ziemlich  mit  dem  der  Kgl.  hann.  Bibliothek 
„Gründlicher  Unterricht  von  dem  wendischen  Pago,  Drawän  genannt",  63  Blatt, 
überein).  Dagegen  hat  Jugler  (vgl.  S.  349),  der  S.  393  f.  aulser  Buchholtzens 
Vaterunser  (1755)  alle  polabischen  Schriftstücke  bietet,  auch  aus  Eccard  ohne  Noten 
unser  „Wendisches  Trinklied".  Nicht  gesehen  habe  ich  die  Handschriften,  die  ehemals 
in  Sams,  Zasenbeck  und  Celle  lagen,  und  die  von  Potocki  benutzte.  Sie  bieten,  nach 
allem,  was  darüber  bekannt  ist,  aber  nichts  Neues. 


l)  Ich  erhielt  die  Handschriften  kurz  vor  Abschlufs  der  letzten  Revision.  —  *)  Zeilenanfange. 


„Wendisches  Brautlied/     Krankheit     Tod.    Begräbnisaberglaube.        375 

freiem  Himmel  mit  entblöfstem  Haupt.  Man  sagt  den  Spruch  ein- 
oder  dreimal  und  fügt  stets  am  Ende  dazu:  „Im  Namen  Gottes  des 
Vaters  und  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes tt,  die  einen  sagen  noch 
Amen,  die  anderen  wollen  es  weggelassen  wissen.  Oft  wird  hei  der 
Besegnung  geräuchert,  und  die  Frau  muls  den  Mann,  der  Mann  die 
Frau  besprechen;  niemand  darf  Geld  dafür  nehmen.  Hilft  die  Be- 
sprechung nichts,  so  läfst  man  von  einem  anderen  besprechen  oder 
geht  dann  zum  Wunderdoktor.  „Hat  es  aber  sein  sollen a,  so  erfüllt 
man  stets  den  letzten  Wunsch.  Man  zieht  schnell  das  Kopfkissen  weg 
(„auf  Hühnerfedern  darf  niemand  sterben"),  dals  der  Kranke  leichter 
sterben  kann,  hält  mit  Klagen  ein  und  legt  ihm  ein  Stück  ungekochtes 
Garn  ins  Bett.  Man  verhängt  den  Spiegel,  legt  ein  Gesangbuch  auf  die 
Brust  und  macht  die  Fenster  auf,  dafs  die  Seele  entweichen  kann.  In 
allen  Ecken  werden  Lichter  herumgetragen,  die  Uhr  wird  angehalten, 
Hundeheulen,  Toten  wurmpicken  vernimmt  man  nicht  mehr.  Alle 
werden  geweckt,  dals  nichts  „in  Todesschlaf  verfällt u.  Sogar  das  Samen- 
getreide wird  berührt,  „sonst  geht's  nicht  auf".  Wird  der  Sarg  hinaus- 
gefahren (kein  tragendes  Tier  fährt,  sonst  sterben  die  Füllen),  so  wirft 
man  die  Bänke  um,  auf  denen  er  stand,  damit  kein  Grauen  hinter- 
lassen wird.  Eins  löscht  die  Lichter  aus,  mit  denen  man  den  Toten 
zur  Thür  hinaus  begleitet  hat  („um  den  Spuk  oder  Schrecken  aus  dem 
Hause  zu  jagen");  zieht  der  Qualm  ins  Haus  zurück,  so  stirbt  bald 
wieder  einer.  Das  Stroh,  auf  dem  der  Sarg  stand,  wird  entweder  ver- 
brannt, oder  die  Kinder  gehen  dann  darüber,  „dals  ihnen  nicht  bangt  vor 
den  Toten".  Man  kann  vor  dem  Gottesacker  weggeworfenes  Stroh  in 
Menge  liegen  sehen.  „Als  Streu  würde  es  das  Vieh  krank  machen."  Das 
Sargmafs  wird,  wie  bei  den  Slowinzen,  mit  ins  Grab  gelegt,  ebenso  eine 
Schachtel  Ungeziefer,  der  letzte  Kamm  und  die  letzten  Tücher,  aber  kein 
mit  Namen  versehenes  Kleidungsstück  und  nicht  neues  Leinen.  Stücke 
des  Leichentuches  oder  Berührung  kranker  Glieder  mit  der  Leichen - 
hand  sollen  gesund  machen;  das  Treten  auf  den  Ort,  wo  das  Leichen- 
wasser ausgegossen  worden  ist,  macht  krank.  Begegnet  dem  Sarge  ein 
Bettler,  ein  Mann,  eine  Frau  oder  ein  Kind,  so  stirbt  bald  darauf  eine 
gleichaltrige  Person  gleichen  Geschlechts.  Dasselbe  geschieht,  wenn 
die  Pferde  nicken,  wenn  sich  vom  Trauerzuge  einer  umdreht  oder  am 
Begräbnistage  die  Stiefel  wichst.  Leichen  mit  lächelnden  Gesichtern 
holen  Verwandte  nach.  Regnet's  ins  offene  Grab,  so  wird  über  den 
nächsten  Toten  viel  geweint.  Dem  Sarge  gielst  man  Wasser  nach  und 
falst  sich  oder  den  Toten  am  Fufs  oder  der  Nase,  dafs  er  nicht  als 
Geist  erscheint.  Aus  demselben  Grunde  trägt  man  die  Leiche  nicht  vor 
einem  Spiegel  vorbei  und  vermeidet,  dafs  ein  Tuchzipfel  nach  seinem 
Munde  weht.  Geht  der  Strick  vom  Sarge  nicht  los,  so  verwest  der 
Tote  bald.  Wenn  sich  jemand  über  den  Sarg  legt  und  den  Toten  mit 
Thränen  benetzt,  so  holt  der  Tote  die  Verwandten  nach.  Will  einer 
nachgeholt  werden,  so  muls  er  sich  im  Leichenzuge  dreimal  auf  der 


376  Die  Polaben. 

Stalle  umdrehen.      Das  geschieht  mitunter.     Aufgehängten  mala  man 

den  Strick  mitgeben.     Erst  werden  die  Beerdigung  »gegenstände  aufs 

Abb.  167.  Grab  gelegt,  spater  ein  merkwürdiges  schwarzes 

Holzkreuz  in  ziemlich  rechteckiger,  dem  Grab- 

raud  angepaßter  Ilolzfassung  (Abb.  167).     Aul 

ihr     stehen    Bibelsprüche    (Satemin ,    Küsten). 

Bei    allen    Begrabnissen    endet   die    Feier  mit 

Leichenbier    im    Reiheschank.     —     Die    Gräber 

werden    gut    gepflegt,    oft,    anfser  Kreuz   oder 

Platte  (Abb.  168),  mit  einem  kleinen  Holzstaket 

Kreuz  in  grabgrofser     umgeben,   so  data  das  Grab  ein  Garten  scheint. 

Fassung.  Als  Thür  ist  die  Holzplatte    zu  denken.     Ein 

paar  Küstener  Grabsprüche  heilsen: 

1.  Sucht  mich  nicht  mehr  in  meiner  Wiege, 
Ich  rohe  jetzt  in  Oottea  Behufs, 

Wo  ich  auf  lauter  Rosen  liege. 
Ich  zog  gewifs  das  beste  Los. 
(Hier  ruht  Johann  Heinrich  Schübe,   geboren  1.  Jan.  1858,   gestorben 
22.  Febr.  1859,  alt  geworden:  1  Jahr,  1  Monat,  22  Tage.) 

2.  Je  größter  Kreuz,  je  lieber  Sterben. 

(Hier  ruhet  der  KassengeMlfe  J.  W.  Jauch   aus   Küsten ,   geboren   am 
10.  Jan.  1STD,  gestorben  am  23.  Jan.  1893  im  Alter  von  23  Jahren.) 

Auch  ein   „Höf ebesitzer "   liegt  auf  diesem  Gottesacker;  man 
sieht,    an  Stolz  fehlt's   nicht   —  Grabschmnck  trägt  man   selten    zn 
Abb.  168. 


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Hölzerna  aufrecht  stehende  Kreuze  und  Grabplatten  aus  Holz. 
(Küsten,  Bebenstorf.) 

Johanni  oder  am  Totensonntag,'  eher  zn  Ostern  und  Weihnachten  aufs 
Grab.  Ganz  besondere  Vorsicht  erfordert  nun  das  Begräbnis  eines 
Doppels&ugers.  Am  17.  Februar  1883  wurde  zn  Grols-Heide  and  am 
dieselbe  Zeit  anch  anderwärts  noch  mancher  „ Doppelgänger"  begraben. 
Wenn  die  Matter  einem  entwöhnten  Kinde  nochmals  die  Brust  giebt, 
so  verwesen  seine  Lippen  im  Grabe  nicht;  es  verzehrt  im  Grabe  sein 
Fleisch,  zieht  die  Lebenskräfte  der  Verwandten  ans  und  holt  sie 
ins  Grab  nach.  Diesem  Vampirismns  sucht  man  zu  begegnen.  Han 
giebt  Toten,  die  man  für  Doppelsäuger  hält,  ein  Geldstück  mit  ein- 
geritztem Kreuz  unter  die  Zunge.  Unters  Kinn  wird  ein  Brett  gelegt, 
damit  die  Lippe  nicht  zar  Brust  kann ,  sorgfältig  vermeidet  man  die 


Doppelsäuger.   Das  zweite  Gesicht.   Fluch  des  Alters.   Pröpelsprüche.         377 

Berührung  des  Totenkleides  mit  den  Lippen.  Geht  der  Zug  zur  Tenne 
hinaus,  so  hebt  man  die  grolse  Thürschwelle  (Süll)  hoch  und  trägt  den 
Sarg  darunter  weg.  Dann  macht  man  sie  sofort  wieder  fest,  dafs  der 
Doppelsäuger  nicht  zurück  kann.  Ähnliches  berichtet  Dr.  R.  Andree 
vom  Boldecker  und  Enesebecker  Lande  (Zeitschrift  des  Vereins  für 
Volkskunde  1897,  S.  130  ff.). 

Wie  der  Doppelsäuger  nach  dem  Tode,  so  wird  der  mit  dem 
bösen  Blick  oder  dem  zweiten  Gesicht  behaftete  im  Leben  den  Men- 
schen gefährlich.  Man  hütet  sich  vor  solchen  zweideutigen  Leuten, 
indem  man  ihnen  möglichst  aus  dem  Wege  geht,  sie  besonders  nicht 
in  Ställe  lälst  und  ihren  Ein  flu  Tb  durch  Besprecher  wettmacht.  Im 
übrigen  huldigte  man  der  Anschauung,  data  der  Kranke  oder  alters- 
schwache Mensch  am  besten  jenseits  aufgehoben  ist;  gerade  aus  der 
Polabengegend  stammen  alte  Nachrichten  von  der  Tötung  alters- 
schwacher Eltern.  Die  darob  (1297)  Betroffenen  hielten  sich  für  völlig 
berechtigt  dazu  mit  dem  Hinweis,  dals  sie  selbst  froh  wären,  sich 
ernähren  zu  können  (Jammerholz  bei  Grabow).  Auch  die  Erzählung 
vom  Knaben,  der  für  seinen  Vater  einen  Holzteller  aufheben  will,  weil 
er  das  schlechte  Beispiel  in  der  väterlichen  Familie  sieht,  deutet  auf 
Geringschätzung  der  altersschwachen  Eltern  in  früherer  Zeit. 

Pröpelsprüche.  Jeder  Spruch  hat  am  Ende  die  in  der  ersten 
Formel  angegebenen  Schlulsworte  und  wird  meist  dreimal  hinterein- 
ander gebetet. 

1.  Gegen  den  kalten  Brand.  Wie  hoch  is  de  Heven,  wie  rot  is  de 
Kreft  (Krebs),  wie  kolt  is  de  Dodenhand,  damit  stillt  man  den  kalten  Brand. 
Im  Kamen  Gottes  des  Vaters  und  des  Sohnes  und  des  heiligen  Geistes. 
Amen. 

2.  Gegen  Böse,  Geschwulst  und  Hitze.  Du  sollst  nicht  reifsen, 
nicht  spleifsen,  du  sollst  nicht  weh  thun}  du  sollst  vergehen,  als  der  Tau  im 
Gras!  Oder:  Du  feurige  Böse,  du  sollst  nicht  wehthun,  du  sollst  nicht 
stechen,  du  sollst  nicht  weiter  gehen!  Oder:  Böse,  du  sollst  nicht  glühen, 
du  sollst  nicht  blühen,  du  sollst  vergehen  wie  Tau  im  Gras!  Oder:  f  Böse 
t  Böse  f  weiche,  flieh  auf  eine  Leiche  und  lafs  die  Lebenden  befreit  von 
nun  an  bis  in  Ewigkeit! 

3.  Herzgespann  bei  Kindern  (Verschwellung  unter  den  Bippen). 
Weich  Bippengeripp,  wie  das  Pferd  aus  der  Krippe  frifstl 

4.  Gegen  Gicht.  Birnbaum,  ich  klag  dir  all  mein  Reifsen  und 
Spleifsen,  und  die  schwellende  Gicht,  die  mich  plagt  Tag  und  Nacht,  dafs 
sich  Gott  im  Himmel  erbarmen  mag.  Der  erste  Vogel,  welcher  fliegt  über 
diese  Kluft,  nehme  die  Schmerzen  mit  in  die  Luft!  (Ein  andächtiges  Vater- 
unser drei  Montage  und  drei  Freitage  abends  vervollständigen  die  Wirkung.) 
Oder:  Fliefsend  Wasser,  ich  klage  dir,  die  reifsende  Gicht  plagt,  ich  trinke 
dich,  die  reifsende  Gicht  verging  mir!  (Dabei  trinkt  man  aus  einem  fliefsen- 
den  Wasser.) 

5.  Wenn  ein  junges  Pferd  zum  erstenmal  angespannt  wird. 
Schwarten,  se  schallen  trecken  vor  Plog  und  vor  Eggen,  se  schallen  grat  ut 
gähn,  se  schallen  nicht  nach  de  Stränge  schiahn!  (Die  Frau  tritt  still- 
schweigend zum  Pferde,  macht  die  Stränge  an  den  Wagen  —  verkehrt  — 
oder  geht  dreimal  darum  und  murmelt  dabei  den  Spruch.) 


378  Die  Polaben. 

6.  Wenn  Kühe  angelernt  werden.  Kogemanns  Seel  und  Möllers 
Seel  und  Krögers  Seel,  so  wahr  als  de  in  Hölle  kam,  säst  du  Koh.  för 
Wagen  gähn! 

7.  Gegen  Flechten. 

a)  Die  Fottasch  und  die  Flechten,  die  flogen  wohl  über  das  weite  Meer, 
die  Fottasch,  die  kommt  wieder,  die  Flechte  nimmermehr.  (Nackt  beim 
Sprechen  Pottasche  gegen  den  Wind  ins  fliefsende  Wasser  streuen,  vor-  und 
nachher  schweigen.) 

b)  Fluha  und  Flecht  flogen  übern  Steg,  Fluha  gewann  und  Flecht  ver- 
schwand.    (Über  einen  Steg  gehen.) 

c)  Flugasche  und  Flecht  fechten  sich  um  Hecht,  Flugasche  gewinnt, 
Flecht  verschwind! 

d)  Weide  gewinnt,  Flechte  verschwind!  (unterm  Weidenbaum  beten). 

e)  Gegen  nasse  Flechten.  Flecht,  Barmgrund,  packe  dich,  laufendes 
Wasser  jagt  dich.  —  Da  stehen  drei  Jungfern  an  dem  See,  die  erste  wäscht, 
die  zweite  platscht,  die  dritte  langt  an  den  Grund,  damit  der  Barmgrund 
verschwund. 

8.  Gegen  Tehrer  (Auszehrung).  Ju  Lüdden,  hier  bring  ick  jü  Flas 
to  spinnen  un  bring  jü  Garn  te  Linnen,  un  bring  jü  Grütt  to  kaken,  nu 
sollt  jü  uns  Vadder  (Mudder,  Anlies)  wohl  latent  (Die  Angehörige  des 
Kranken  geht  mit  Flachs,  Garn  und  Grütze  unter  den  Holunderbusch, 
schneidet  Zweige  ab,  steckt  sie  in  die  Erde,  raunt  den  Spruch  und  sieht 
dann,  wieviel  Tehrer  der  Kranke  hatte.)  Oder:  Guten  Abend,  Fliederbusch, 
hier  bring  ich  euch  Hede  und  Flachs  zum  Spinnen  und  Fleisch  und  Brot 
zum  Essen,  damit  sollt  ihr  mein  Kind  vergessen! 

9.  Dafs  das  Blut  stille  stehe  und  der  Schmerz  aufhöre. 

a)  Abek,  Wabek,  Fabek.  In  Christi  Garten,  da  stehen  drei  Bösen,  eine 
für  das  Gut,  die  andere  für  das  Blut,  die  dritte  für  den  Engel  Gabriel. 

b)  Die  heilige  Mutter  Gottes  fuhr  über  Land,  das  Heiligste  trug  sie  in 
ihrer  Hand.    Das  Wasser,  das  thut  fliefsen,  das  Blut  sich  beschliefsen. 

c)  Auf  Christi  Grab  stehen  drei  Lilien ,  die  erste  heilst  Demut ,  die 
zweite  Wehmut,  die  dritte,  wie  Christus  will,  Blut,  steh  still! 

d)  Unser  Herr  ging  in  den  Garten.  Was  fand  er  da?  Drei  Böselein, 
eins  für  sein  Gut,  eins  für  sein  Blut,  eins  für  sein'  Wüln,  Blut,  steh  still! 

e)  Es  kommen  drei  liebliche  Mädchen  herab  auf  die  Erde  vom  Himmel, 
die  eine  heüüst  Blutlasserin ,  die  andere  Blutf asserin ,  die.  dritte  Blutsteh-, 
Blutvergeh-  (Blutversteh-),  Blutstülerin. 

f)  Petrus  hieb  Malchus  ein  Ohr  ab,  es  rifs  nicht,  es  sticht  nicht,  es 
schwärt  nicht,  es  heilt  aber  und  wird  gut. 

g)  Blut  gerinn,  Blut  verschwind,  Blut  du  sollst  stille  stehn,  wie 
Wasser  im  Jordan,  da  unser  Herr  Christus  den  Taufbund  aufnahm. 

h)  In  der  weiten  Welt  stehen  drei  Eichen,  unter  den  drei  Eichen  sind 
drei  Springer  (Spinnen?),  die  eine  die  läuft,  die  andere  die  leckt,  die 
dritte  steht  still. 

10.  Gegen  Ausschlag.  Dar  stunn  dree  Jungfern  in  de  Grund,  de 
eene  wusch,  de  annere  wrung,  de  drüdde  brukte  för  Barmgrund. 

11.  Böse  (vergl.  2).  Böse  ich  fasse  dich,  du  sollst  nicht  brechen,  du 
sollst  nicht  stechen,  du  sollst  nicht  brennen  und  nicht  weh  thun! 

12.  Gegen  Warzen  (bei  abnehmendem  Monde).  Mond  an  de  Wand, 
Wraken  an  de  Hand! 

13.  Gegen  Krankheit  der  Schweine.  Unser  Herr,  der  hat  ge- 
hangen, dieses  Schwein  hat  sich  verfangen.  Oder:  Unser  Herr  Christus  ist 
gehangen,  unser  Herr  Christus  ist  gefangen,  darum  weil  unser  Herr  Christus 
gehangen  ist,  schadet  dir  auch  das  Verfangen  nicht! 


Pröpelsprüche.     Geburt.    Taufe.  379 

14.  Gegen  Brandwunden.  Ich  bespreche  diesen  Brand  mit  Marien 
Hand,  dafs  es  nicht  killt,  dafs  es  nicht  schwillt  1 

15.  Gegen  Leibschmerz.  Darmgicht,  ich  umgreife  dichl  Ich  ge- 
biete dir  aus  diesem  Fleisch,  behüt  dich  Gott  und  der  heilige  Geist!  Oder: 
Herzband  und  Wand,  die  beiden  streiten  sich,  die  Wand  gewinnt,  Herzband 
verschwind.  Oder:  Jesus  und  Petrus  ritten  die  Strafse  entlang,  da  wurde 
Petrus  sein  Pferd  krank.  Da  sagte  Jesus:  Dein  Pferd  soll  wieder  gesund 
werden  t 

16.  Gegen  Würmer  und  Leibschmerz.  Herzwurm  und  Frucht- 
wurm und  Darmgicht,  ich  gebiete  dir  bei  Gottes  Gesicht,  dafs  du  dich  sollst 
legen  und  nimmer  regen,  bis  die  Mutter  Gottes  ihren  zweiten  Sohn  thut 
gebären. 

17.  Gegen  „Versehen".  Wat  2  leeg  Ogn  verkieken,  dat  schölln 
3  goo  Ogen  werrer  trecht  kieken.  (Man  sticht  sich  dabei  eine  Nähnadel  ins 
Zeug;  die  Öse  bildet  ein  Auge  und  der  Mensch  hat  zwei  Augen,  dann  sind 
es  drei  Augen.  Man  betet  dreimal.)  Oder:  Schlechtes  Maul  hat  dich  ver- 
raten, schlechte  Augen  haben  dich  versehen.    Auch  zu  5. 

18.  Wenn  ein  Mensch  Ilg  hat.  Du  sollst  nicht  stechen,  nicht 
brennen,  auch  nicht  weh  thun  und  nicht  weiter  gehn.  (Am  Schlüsse  des 
Gebetes  wird  darauf  gespuckt.) 

19.  Wer  angewachsen  ist,  mufs  an  einen  hohlen  Weidenstamm 
gehen,  dreimal  mit  dem  Stock  anklopfen  und  sagen:  „Anwachs  und  Über- 
wachs plagen  mich." 

20.  Für  schlimme  Augen.  Fürflufs,  Fürblei,  Fürblattern  und  alles 
was  schädlich  ist,  ihr  sollt  vergehn  wie  Tau  im  Gras,  wie  Totenkopf  im 
Kasten  1 

21.  Gegen  Fingergeschwür.  Ahl  und  Pohl  gingen  beide  zur  Schul, 
Pohl  gewann  und  Ahl  verschwand. 

22.  Für  Gewächs.  Was  ich  kneif,  das  kleiner  wird,  was  ich  seh 
(zunehmender  Mond),  das  gröfser  wird. 

3.  Geburt  und  Taufe.  Die  Mutter  darf  zur  Zeit  der  Geburt 
mancherlei  nicht  thun.  Sie  darf  nicht  scheuern,  „ sonst  wird  das  Kind 
schmierig".  Sie  soll  nicht  Mund  und  Nase  zuhalten,  wenn  sie  an  schlecht 
Riechendem  vorbei  geht,  sonst  bekommt  das  Kind  Übeln  Atem.  Wenn  sie 
aus  der  Flasche  mit  dem  Munde  trinkt,  wird  das  Kind  engbrüstig.  Sie 
darf  Urin  nicht  unter  die  Dachtraufe  fliefsen  lassen,  sonst  geifert  das 
Kind.  Es  erhält  Male,  wenn  sie  Spritzendes  kocht;  Sommersprossen, 
wenn  sie  gelbe  Wurzeln  Bchabt;  schielende  Augen,  wenn  sie  durchs 
Schlüsselloch  guckt.  Nach  der  Geburt  setzt  man  eine  Laterne  vors 
Kind  und  legt  eine  Schere  daneben,  dafs  die  Zwerge  das  Kind  nicht 
nehmen.  Vor  der  Taufe  darf  der  Name  des  Kindes  nicht  genannt 
werden,  sonst  lernt  es  schwer  sprechen.  Greift  man  den  Säugling  auf 
den  Kopf,  bekommt  er  schlechte  Haare;  ifst  die  Mutter  gleich  vor  dem 
Brotschrank,  wird  das  Kind  nie  satt.  Um  diesen  Zauber  zu  heben, 
wird  das  Kind  in  den  Schrank  gesetzt,  und  die  Mutter  verrichtet  davor 
neunerlei  Arbeit  Man  verschenkt  oder  verborgt  vor  der  Taufe  nichts, 
sonst  wird  das  Kind  ein  Verschwender.  Man  legt  Nähnadel,  Salz, 
beschriebenes  Papier  ins  Taufkissen,  dann  wird's  fleitsig;  zu  gleichem 
Zwecke  beten  die  Paten  leise  das  Gebet  des  Taufpredrigers  mit.   Eaunt 


380  Die  Polaben. 

man  ihm  ein  Vaterunser  ins  Ohr  und  legt  ihm  einen  Spruch  oder  ein 
Stück  Gesangbuchblatt  unters  Zeug  oder  auf  den  Leib,  so  bekommt's 
ein   gutes  Gedächtnis.     Der  älteste  Gevatter  trägt  den  Täufling   aus 
dem  Hause,  dann  wird  er  sehr  alt,  der  jüngste  schafft  ihn  zurück,    so 
wird  er  sehr  flink.     Die  Mutter  blickt  dem  Taufzuge  nach,  da   lernt 
das  Kind  gut  sehen;  die  Gevattern  juchzen,  dann  wird  es  frohmütig". 
Beim  Eingang  in  die  Kirche  lüftet  man  das  Taufkissen  ein  wenig,  dafs 
ein  Sonnenstrahl  das  Kind  trifft  und  dieses  damit  guten  Haarwuchs  und 
schönen  weifsen  Teint  bekommt.     Schmieren  aber  die  Paten  die  Stiefel, 
so  wird  das  Gesicht  unrein.    Schreit  das  Kind  bei  der  Taufe,  so  stirbt  es 
bald;  auch  mufs  es  den  Kopf  zur  Erde  hängen  lassen.    Die  Paten  tragen 
es  durch  dieselbe  Kirchthür  zurück.     Wird  aus  demselben  Taufwasser 
zuerst  ein  Knabe  und  dann   ein  Mädchen  getauft,   so  bekommt  das 
Mädchen  einen  Bart.     Das  Taufwasser  mufs  man  aufheben,  es  fault 
nicht  und  heilt  die  Sommersprossen.     Wird  der  Sohn  mit  dem  Tauf- 
wasser des  Vaters  getauft,   so  wird    er  ein    fleifsiger  Mensch,  wenn 
während  der  Taufe  zu  Hause  gelesen  und  fleifsig  mit  Sägen,  Beilen, 
Besen,  am  Rad  und  auf  dem  Hofe  gearbeitet  wird;  das  Gleiche  geschieht 
zu  gleichem  Zwecke  von  Seiten  der  Paten  nach  dem  Taufmahl.     Den 
Taufnamen  *)  Erdmann,  Erdine  erhält  dann  ein  Kind,  wenn  kurz  zuvor 
ein  Geschwister   im    zarten  Alter   starb.     Vor  der  Taufe   trägt    man 
das  Kind  über  eine  Schaufel  glühender  Kohlen.     Gegen  Schlaflosigkeit 
der  Kinder  legt  man  Eulenfedern  in  die  Wiege.    Beim  Taufmahl  legen 
die  Gevattern  je  eine  „Kelle"  Suppe  auf  den  Teller  der  Mutter,  dafs  sie 
gestärkt  wird,  gut  nähren  kann  und  das  Kind  einst  mildthätig  wird. 

Das  Fest  selbst  ist  jetzt  sehr  einfach  und  dauert  nur  einen  Nach- 
mittag. Bei  der  Taufe  des  Erstgeborenen  giebt  der  glückliche  Vater 
zuweilen  am  folgenden  Sonntag  Bier;  weit  häufiger  geschah  dies  nocb 
bei  der  Hochzeit,  damit  die  entfernteren  Bekannten  auch  etwas  hatten. 
Der  Name  „Paggeleitzenbier"  ist  von  den  grofsen  hornförmigen  Wecken 
abgeleitet,  die  dazu  gegeben  wurden.  Unter  „Kindsfeuten"  versteht 
man  Spenden,  die  der  Vater  seinen  Freunden  giebt,  wenn  ihm  ein 
Kind  geboren  worden  ist.  Eine  Tonne  Bier,  dazu  Schnaps,  genügen 
dabei.  —  öfter  wird  an  den  Pfarrer  das  Ansuchen  um  Überlassen  von 
Tauf wasser  gestellt;  man  glaubt,  es  helfe  gegen  Bettnässen,  wie  man 
auch  Kirchen  wachs,  Abendmahlswein  und  Hostien  gegen  Krämpfe  und 
Krankheiten  begehrt. 

4.  Kirchliche  Feste.  Bieten  auch  die  kirchlichen  Feste  als 
solche  nicht  Anlals  zu  besonderer  Behandlung,  so  sind  doch  mancherlei 
Regeln  erwähnenswert ,  die  sich  an  jene  knüpfen.  So  soll  man  in  der 
Adventszeit  die  Bäume  schütteln,  dafs  sie  viel  Obst  bringen  (Bäumlein, 
ich  rüttle  dich,  Bäumlein,  ich  schüttle  dich,  bring  mir  dies  Jahr  viel, 

l)  Spitznamen  gebräuchlich,  wie  in  ganz  Deutschland.  Vgl.  schon  das 
„Wörterbuch  der  im  Lüneburgischen  ansässigen  Wenden".  Hs.  in  Wolfenbüttel: 
122  S.  (1895  Wörter,  6  Ortsnamen,  einige  Spitznamen).   Mitt.  von  G.  v.  Smolski. 


Kirchliche  Feste.  381 

Herr  Christ.  Im  Namen  Gottes  des  Vaters  und  des  Sohnes  und  des 
heiligen  Geistes).  In  den  heiligen  Nächten  soll  man  der  Ordnung 
wegen  nichts  verborgen  und  Wäsche  nicht  aufhängen,  sonst  muls  man 
„den  Kirchhof  bekleiden tt ;  man  darf  den  Dünger  nicht  aus  dem  Stall 
ziehen,  sonst  thun  böse  Menschen  dem  Vieh  etwas  an  oder  die  „Wölfe 
brechen  ein" ;  auch  soll  man  keine  Hülsenfrüchte  essen,  sonst  bekommt 
man  Schwären;  die  Viehställe  darf  man  um  diese  Zeit  weder  räumen, 
noch  waschen;  Ackergerät  mufs  verschlossen  sein.  Zwischen  11  und 
12  Uhr  am  Christabend  geh  man  rückwärts  aus  dem  Hause  heraus, 
bis  man  das  Haus  entlang  sehen  kann,  dann  erfährt  man,  was  das  Jahr 
geschieht.  Am  Weihnachtsmorgen  müssen  die  Hühner  aus  einem  Kranz 
fressen,  dann  verlegen  sie  ihre  Eier  nicht.  Wer  zu  Weihnacht  zuerst 
an  die  Glocke  kommt,  erhält  guten  Flachs.  Unter  der  Egge  kann 
man  am  Christabend  sehen,  was  das  ganze  Jahr  geschehen  wird.  — 
Dem  Vieh  giebt  man  grotse  Bohnen,  dem  Federvieh  von  allem  Getreide. 
Man  schmilzt  zu  Sylvester  Blei,  sucht  Treffpunkte  in  der  Bibel,  achtet 
darauf,  ob  man  von  einem  Leichenzuge  träumt.  Die  heiligen  Nächte 
sind  auch  Wetter  verkünder,  und  wenn  jemand  stirbt,  so  folgen  in 
demselben  Jahre  zwölf  aus  dem  gleichen  Alter  nach.  Regnet  es  am 
Karfreitag,  so  wird  das  Gras  und  Obst  schlecht.  Aus  Gründonnerstags- 
eiern kommen  Hühner,  die  die  Farbe  wechseln.  Ehemals  schaffte  man 
zu  Ostern  eine  Tonne  auf  den  Berg,  legte  sie  auf  hohe  Pfähle  und 
brannte  Dornen  darunter  an,  schliefslich  rollte  die  Tonne  ins  Thal« 
Osterwasser  ist  heilkräftig,  man  besprengt  alles  damit  („ich  schöpfe 
hier  Christi  Blut,  das  ist  für  99erlei  Krankheit  gutu).  Am  1.  Mai 
schneiden  die  Leute  von  drei  fremden  Stücken  „Roggengruls"  und 
geben  es  dem  Vieh,  das  wird  fett;  aber  das  des  Geschädigten  magert 
ab.  Die  Thüren  werden  mit  Kreuzen  versehen,  um  die  Hexen  abzu- 
halten. Zu  gleichem  Zwecke  stellt  man  Besen  auf  den  Kopf  und 
wirft  drei  Handvoll  Salz  vor  den  Stall.  In  einen  Eimer  legt  man  einen 
Thaler,  gietst  Wasser  darüber  und  giebt's  den  Pferden,  dals  sie  kurze, 
blanke  Haare  bekommen.  Krankheiten  heilen  am  ersten  Maitag- 
abend am  Kreuzwege,  Gesundheit  gewährt  auch  der  Abendtau  des 
Weizenackers.  Auf  Anruf  darf  man  sich  nicht  melden,  sonst  bekommt 
man  Flöhe.  Blutstropfen  von  Johanniskraut  am  Johannistag  gesammelt, 
„wenn  sich  das  Blattwerk  dreht",  sind  heilkräftig.  An  Sonn-  und 
Festtagen  darf  man  nichts  drehen.  Geht  man  zu  Sylvester  rückwärts 
aus  dem  Hause,  so  kann  man  eine  weifse  Gestalt  auf  dem  First  sehen, 
die  Anzeichen  giebt.  An  Krebstagen  darf  nicht  gesäet  werden.  Am 
Pfingstfest  wird  das  Pfingstbier  getrunken.  Wer  zu  Pfingsten  am 
letzten  aufsteht,  wird  Pfingstochse  genannt;  dabei  wird,  wie  beim 
Julklapp,  viel  Scherz  getrieben.  Nicht  zu  vergessen  sind  auch  die  zahl- 
losen Wetterregeln,  die  an  gewisse  Tage  anknüpfen.  So:  Wird  Lein- 
samen zu  Maria  Geburt  (25.  März)  auf  den  Hof  gestellt  und  dann 
gesäet,  gefriert  der  Flachs  nicht.    Sonnt  sich  der  Dachs  in  der  Licht- 


382  Die  Polaben. 

melswoche,  geht  er  auf  vier  Wochen  wieder  zu  Loche.  Na  St.  Matthias 
geiht  kein  Vofs  öbert  Is,  denn  St.  Matthias  breckt  dat  Is.  Quaken 
die  Frösche  am  Markustag,  so  schweigen  sie  bis  im  Mai  hernach.  Auf 
St.  Jürgen  muls  man  die  Krähen  von  der  Weide  schürgen.  Merk  dies: 
St.  Vit  bringt  Fliegen  mit.  Wenn  der  Kuckuck  noch  lange  nach 
Johannis  schreit,  giebt  unfruchtbare  und  teure  Zeit.  Um  Maria  Gebart 
ziehn  die  Schwalben  fürt.  Auf  St.  Gall  die  Kuh  in  den  Stall!  Wenn 
die  Gänse  um  Martini  auf  dem  Eise  stehn,  müssen  sie  zu  Weihnachten 
im  Kote  gehn.     Säet  man  Roggen  zu  Michaeli,  so  wird  er  teuer. 

5.  Dorffeste.  Zwar  haben  auch  im  Polabenlande  Krieger-, 
Schützen-,  Kegel  vereine  u.  dergl.  überhand  genommen,  doch  sind  die 
alten  Dorffeste  auch  noch  nicht  ganz  ausgerottet  Von  der  Kirmefs 
weifs  man  nicht  viel.  In  einigen  Orten,  wie  in  Dangensdorf,  wird  sie 
am  8.  September  durch  Kirchgang  gefeiert.  Häufiger  hört  man  von  den 
Erntefesten  und  Pfingstbieren.  Vor  der  Gemeindeteilung  oder  Ver- 
kuppelung pflegte  man  wie  in  Litauen  und  Pomm  er  eilen  an  einigen 
Tagen  gemeinsam  zu  mähen  und  einzufahren,  dann  wurden  die  Mäher 
mit  Musik  geholt  und  mit  dem  Gesang  des  Liedes  „Nun  danket  alle 
Gotttt  und  „Bis  hierher  hat  mich  Gott  gebracht tf  nach  dem  Dorfplatz 
geführt.     Dann  hat  man  auf  der  Tenne  eines  Bauern  wacker  getanzt. 

Viel  höher  ging  es  bei  den  Bauerbieren  in  den  mit  Maien  ge- 
schmückten Stuben  her.  Daran  beteiligte  sich  jeder  Wirt,  und  Jahr  für 
Jahr  übernahm  das  Fest  ein  anderer,  bis  es  —  der  Landrat  abschaffte. 
Drei  Tage  lang  hat  man  bei  Gesang  und  Jubel  gezecht;  am  ersten  Tage 
nachmittags  probierte  man,  und  dann  wurde  bei  Tanz  und  Karten- 
spiel gefeiert;  zwei  Schaffner  bedienten.  Am  Ende  bezahlte  jeder 
Teilnehmer  den  gleichen  Teil.  Kuchen  und  Brot  mufsten  in  Menge  da 
sein,  das  viele  Tanzen  auf  der  Lehmdiele  machte  hungrig.  Auch  die 
holde  Weiblichkeit  wollte  ihren  Teil  von  den  20  Tonnen  ä  104  Liter. 
Sie  brachten  Töpfe  mit  Zucker  und  machten  sich  Kaltschale,  gaben 
auch  den  Kindern.  Als  Preis  hatte  jeder  Gast  zu  Satemin  zwei 
Groschen  zu  zahlen.  Nur  das  Bier  war  gemeinsam;  alles  andere  wurde 
einzeln  bezahlt.  Dies  Fest,  das  beispielsweise  in  abgeblalster  Form 
auch  in  Sachsen  hier  und  da  Mode  ist,  führt  auf  ein  viel  älteres  zurück, 
dessen  Zweck  die  Aufpflanzung  des  Dorfbaumes  war.  Der  Obersuper- 
intendent Hildebrand  berichtet  im  Jahre  1672  darüber.  Er  führt  etwa 
folgendes  aus:  Den  Wenden  wurde  vor  50  Jahren  ihre  Sprache  ver- 
boten, nachdem  sie  zuvor  von  den  Fürsten  gepflegt  worden  war,  die 
möglichst  viele  Völker  unter  ihrer  Herrschaft  haben  wollten.  Wenden 
aber  gab  es  sowieso  genug,  und  sie  bildeten  sich  mehr  ein  als  die 
Deutschen.  Im  Hauptsitz,  dem  Drawehn,  stehen  in  jedem  Dorfe  zwei 
Bäume,  der  Kronen-  und  der  Kreuzbaum.  Der  Kreuzbaum  ist  der 
wichtigste.  Er  darf,  falls  er  umgefallen  ist,  vor  Maria  Himmelfahrt 
nicht  wieder  aufgerichtet  werden,  weil  sie  sagen:  „die  Staete  wollte  es 
nicht  haben".     Kein  Wende  mit  garstigen  Füfsen   darf  über  diesen 


Dorffeste.  383 

Platz.  Als  zu  Rebenstorf  oder  Dangensdorf  den  Baum  ein  Bulle  um- 
warf, wurde  dieser  erschlagen,  und  nun  treibt  man  jährlich  einmal  das 
Vieh  rundum.  Wird  ein  neuer  Kreuzbaum  eingesegnet,  wird  auch  das 
Vieh  geweiht.  Nach  einem  Gelage  tanzt  man  um  den  Baum.  Der 
Schulze  in  Sonntagskleidern  mit  weifsem  Handtuch  um  den  Leib,  führt 
die  Reihen,  nimmt  ein  grofses  Licht  und  ein  Glas  Bier,  geht  um  das 
zusammengetriebene  Yieh,  bespritzt  es  mit  Bier  und  besegnet  es 
wendisch.  An  manchen  Orten  werden  die  Häuser,  Ställe,  Küchen, 
Kammern,  Stuben  an  demselben  Tage  mit  Bier  und  Branntwein  begossen, 
„dafs  das  Vieh  gedeiht".  In  Predöhl  bediente  man  sich  dabei  noch 
eines  grofsen  Wachslichtes,  und  ein  Greis  soll  jeden  Tag  dort  Andacht 
gebalten  haben.  Der  Baum  war  20  Ellen  hoch,  oben  darauf  war  ein 
hölzernes  Kreuz  mit  einem  eisernen  Hahn.  Der  Stifter  des  Baumes 
soll  Kaiser  Karl  gewesen  sein.  Zu  Maria  Himmelfahrt  wählen  die 
Bauern  einen  anderen  Baum  im  Holze,  jeder  thut  dann  einen  Hieb,  bis 
der  Baum  fällt.  Man  legt  ihn  auf  einen  Wagen,  deckt  ihn  mit  den 
Oberkleidern  zu  und  fährt  ihn  nach  „der  Staete".  Ein  wendischer 
Zimmermann  behaut  ihn  viereckig,  steckt  rechts  und  links  zum  Auf- 
steigen Pflöcke  ein  und  richtet  ihn  mit  Freudengeschrei  auf;  der 
Schulze  klettert  hinauf,  setzt  den  Hahn  übers  Kreuz,  segnet  ihn  mit 
einem  Glas  Bier,  dann  folgte  das  grolse  Gelage  bei  10  bis  12  Fafs 
liier  i). 


*)  Vgl.  Archiv  für  slaw.  Phil.  22;  Verzeichnis,  Capitel  2  und  Parum 
Schulze,  Annaleu,  S.  285:  Da  ich  noch  ein  knabe  war,  da  stunden  in  allen 
Dörffern  hohe  lange  aufgerichtete  Bäume  oben  ein  Quärholz  gleich  einen 
Creutzen  ganz  oben  eine  Eyserne  staoge  mit  einem  Weyerhan  von  unten 
auf  an  zweyen  seyten  mit  hölzer  langen  Nägeln  inen  geschlagen  das  man 
könte  oben  bei  den  hauen  inansteigen  (steht  1724  noch).  Wen  der  Baum 
in  Dorff  ist  in  Eingefahren  alfsdann  haben  die  Weiber  viele  lackens  in  gegen 
gebracht,  das  sie  den  Baum  gantz  bedecket  gehabt,  das  man  ihn  liberal 
nicht  hat  sehen  könen  dieses  hat  meine  Mutter  gesehen  alfs  sie  ein  klein 
mädgen  gewesen  und  Eine  solche  Jubelgeschrey  und  grosse  Fest  haben  sie 
gehalten  in  Sauffen  und  Tantzens  und  das  Etzliche  Tage  indurch  zu  Carmitz 
ist  dieses  geschehen. 

Hier  sei  vergleichsweise  an  die  Bauernfeste  der  alten  Preufsen  erinnert 
(S.  22)  und  im  Auszuge  die  Schilderung  von  Waisselius  über  die  Bock- 
heiligung angeführt.  Da  wii*d  erzählt,  wie  alljährlich  vier  oder  sechs  Dörfer 
sich  zusammenthun ,  einen  Bock  kaufen  und  in  einem  Haus  ein  lang  Feuer 
machen.  Die  Weiber  bringen  Weizenmehl  und  teigen  es  ein.  Der  Bock 
wird  vor  den  Wurschkayten  gebracht,  der  legt  beide  Hände  auf  das  Tier, 
ruft  alle  Gotter  zur  Segnung  und  Annahme  des  Festes  an  „und  gibet  einem 
jeglichen  Gott  seine  Ehre,  und  was  Macht  er  habe.  Darnach  führen  sie  den 
Bock  in  die  Scheune,  da  heben  sie  jn  auff,  gehen  alle  umbher.  Der  Wursch- 
kayt  ruffet  abermal  alle  Götter  an,  wie  oben,  hat  sich  auffgeschürtzet  und 
spricht:  Dieses  ist  das  löbliche  Gedechtnis  unsrer  Väter,  auff  das  wir 
versünen  den  Zorn  unserer  Götter:  und  sticht  den  Bock  in  die  Kele.  Das 
Blut  lassen  sie  nicht  auff  die  Erde  kommen  und  mit  dem  Blut  besprengen 
sie  jre  Habe  und  jr  Viehe.  Darnach  schlachten  sie  das  Thier  und  thun  das 
Fleisch  in  einen  Kessel,  und  die  Menner  setzen  sich  umbher  umb  das  Fewer, 


384  Die  Polaben. 

Wie  die  Männer  zu  Maria  Himmelfahrt  den  Kreuzbaum,  so  setzten 
die  Frauen  zu  Johanni  den  Kronenbaum. 

Alle  Weiber  eines  Dorfes  gingen  am  Johannistage    „bei    jedem 
Wettertt  in  den  Wald,  wählten  abwechselnd  eine  Birke  und  eine  Eiche, 
hieben  sie  um,   fuhren   sie  auf  den  Dorfplatz  und  richteten  sie   auf. 
Sie  wurde  zuvor  behauen,  nur  die  Krone  wurde  gelassen.     Die  Alten 
fuhren  die  Birke  auf  dem  Vordergestell  eines  Wagens  und  spannten 
sich  selbst  vor,  die  jungen  gingen  nebenher  und  sangen  wendische 
Lieder.      Nachdem  der  alte  Baum  abgehauen  worden  war,   den    ein 
Häusling  für  zwei  Schillinge  kaufte,  holte  man  für  dies  Geld  Brannt- 
wein, und  richtete  den  bekränzten  Baum  unter  Frohlocken  auf.     Dann 
erschienen  auch  die  Männer,  wieder  wurden  12  Tonnen  Bier  getrunken 
und  das  Fest  unter  Jubel  und  Gesang  abgehalten.   Wenn  ein  Mädchen 
aus  einem  anderen  Dorfe  einheiratete,  mufste  sie  um  den  Baum  tanzen 
und  eine  Münze  hineinlegen.     Wenn  jemand  am  Baume  gerieben  hatte 
und  gesund  geworden  war,  spendete  er  gleichfalls  eine  Münze.     Nie- 
mand rührt  das  Geld  an,  biß  Soldaten  kommen  und  für  das  Geld  Tabak 
und  Branntwein  kauften.     Zu  Hildebrands  Zeiten  gab  es  solche  Kreuz- 
bäume noch  in  Klennow,  Dangensdorf,  Rebenstorf,  Gistenbeck,  Kranze. 
Das  Gelage  fand  bei  den  Schulzen  statt.     Der  Kreuzbaum  scheint  den 
Stadtfrieden  bedeutet  zu  haben,  das  Fest  hat  gewifs  als  Einsegnungs- 
tag  des  Viehs  gegolten,  auf  dats  der  Baum  ja  sehr  hält.     Bei  der  Eid- 
verwarnung zieht  die  Androhung  der  Hölle  weniger  als  die  des  Un- 
segens  in  Feld  und  Stall.     Welche  Bewandtnis  die  Hahnenjagd  hatte, 
die  ehemals  im  Amte  Lüchow  stattfand  und  mit  dem  Erschiefsen  des 
abgejagten  und  dem   Verteilen   und  Vergeben   des  gekochten  Hahnes 
schlofs,  kann  ich  nicht  sagen.     Jedenfalls  sind  heute  die  symbolischen 
Gebräuche  geschwunden,    und  nur  das  Gelage  in    sehr   abgeblafster 
Form  ist  geblieben,  dafür  hat  man  Verständnis.     In  der  Geschichte 
vom  armen  Lazarus  denkt  sich  das  Kind,  dals  der  reiche  Mann  alle 
Tage  Hochzeitsfutter  (Kost)  hatte.     Die  Kuhhirten  wollen  auch  ihren 
guten  Tag  haben,  gehen  entweder  am  Pnngstvorabend  oder  am  zweiten 
Pfingstfeiertage  mit  ihren  Peitschen  in  den  Wald,  knallen  im  Takt  und 


und  die  Weiber  bringen  daher  den  Weitzen  Teig  und  machen  davon  Küchlein 
und  geben  die  Küchlein  den  Mennern;  dieselben  werfen  das  ungebackene 
Brot  durch  das  flammige  Fewer,  einer  dem  andern  zu,  bis  sie  vermeinen 
das  es  gar  sey.  Und  wenn  das  Fleisch  gar  ist,  so  theilen  sie  das  Fleisch 
und  Brot  aus  und  fressen  und  saufEen  aus  Hörnern  die  ganze  Nacht.  Auff 
den  Morgen  frtie  vor  Tage  gehen  sie  alle  für  das  Dorn*  und  tragen  mit  sich 
Knochen  und  Brosamen  und  alles  was  überblieben  ist,  das  legen  sie  auff  die 
stette,  die  sie  sich  haben  ausgesehen  und  vergrabens  und  tragen  alle  zumal 
Erde  darauff  und  verwachtens,  das  kein  Hund  dazu  kome.  Darnach  scheiden 
sie  zu  Hause  und  befehlen  sich  den  Göttern  und  thun  Danksagung  jrem 
Signoten,  den  sie  heissen  "Wurschkayten ,  mit  grosser  Beverentz.  Diese  Ge- 
wohnheit (war)  —  noch  —  bey  des  Ordens  zeiten,  —  fürnemlich  —  bei  den 
8udawen.u 


Johannistag.    Pfingsten-    Aberglaube  in  Haus  und  Feld.  385 

Bammeln  dann  Geld  für  eine  Tonne  Bier  ein;  die  Knechte  brennen  die 
Mädchen  mit  Nesseln  und  erhalten  Geld.  Wer  am  Pfingstmorgen 
zuerst  mit  der  Herde  aus  jagt,  ist  König.  Der  Aberglaube  wagte  sich 
noch  vor  kurzem  bei  den  Wenden  so  anspruchsvoll  und  selbstbewufst 
vor,  dafs  ein  Hauswirt  zu  Sellien  am  13.  August  1883  in  einer  öffent- 
lichen Anzeige  in  der  Zeitung  dem  50  Mark  Belohnung  zusagte,  der 
ihm  nachweisen  könnte,  wer  seine  Schafherde  behext  habe. 

6.  Allerlei  Aberglaube  in  Haus  und  Feld.  Das  Schweifstuch 
eines  Toten  hat  besondere  Heilkräfte ;  es  wird  unterm  Dache  verborgen. 
Einem  Bettnässer  soll  zur  Heilung  etwas  vom  Altarlichte  eingegeben 
werden.  Um  eine  blutende  Hand  bindet  man  einen  schwarzen  Faden, 
ein  weifser  würde  die  Hand  weifs  machen.  Zu  einem  Kranken  läfst  man 
einen  Hund  in  die  Stube.  Läuft  der  Hund  fort,  so  stirbt  der  Kranke  bald. 
Besucht  man  einen  Kranken,  so  nimmt  man  Salz  in  die  Hand;  wird  es 
feucht,  so  stirbt  er.  Ein  Kranker  soll  ein  Meerschwein  ins  Bett  nehmen, 
dann  geht  die  Krankheit  auf  das  Tier  über.  Gegen  Krämpfe  hilft  das 
Pulver  vom  verbrannten  Traurockzipfel  eines  Kranken.  Eiter  thut 
man,  um  geheilt  zu  werden,  auf  einen  Pfennig  und  legt  diesen  auf  eine 
Wegkreuzung;  wer  ihn  aufhebt,  bekommt  die  Krankheit.  Oder  man 
wischt  Eiter  mit  einem  Lappen  ab  und  giebt  ihn  einem  Kranken  mit. 
Einen  schlimmen  Finger  steckt  man  der  Katze  ins  Ohr;  einen  blutigen 
beschmiert  man  sogar  mit  Tabakspfeifensaft.  Gelbsüchtige  Leute  legen 
ein  gelbes  Band  auf  die  linke  Brust.  Kranken  Menschen  setzt  man 
fliefsendes  Wasser  unters  Bett.  Rauhe  Hände  reibt  man  mit  Speck- 
schwarte und  giebt  die  Schwarte  dem  Hunde  zu  fressen.  Gegen  Zahn- 
schmerzen hilft  der  Blutegel,  wider  Bleichsucht  Eisen  in  Kotwein,  vor 
Gelbsucht  ein  nächtliches  Gebet  an  einem  Weidenbaume.  Wer  Fleisch- 
m ade n  an  den  Augen  hat,  der  mute  sich  nach  Sonnenuntergang  von 
einem  Menschen  ein  Stück  Rindfleisch  holen,  dals  es  keiner  gewahr 
wird,  und  dann  das  Rindfleisch  um  den  Hals  hängen,  bis  es  ver- 
trocknet ist.  Treibt  man  Vieh  zum  Verkauf  auf  den  Markt,  so  bestreicht 
man  es  mit  dem  Geldbeutel,  dann  wird  man  es  los.  Ferkeln  giebt 
man  zu  gleichem  Zwecke  etwas  von  allen  vier  Tischecken  ein.  Hexen 
können  nicht  in  Viehställe,  wenn  Grasbündel  davor  liegen;  sie  müssen 
erst  die  Halme  zählen.  Fremde  Leute  läfst  man  des  bösen  Blickes 
wegen  nicht  in  den  Stall.  Wenn  eine  Kuh  kalbt,  borgt  man  24  Stunden 
nichts  aus,  sonst  schadet's  der  Kuh  und  der  Milch.  Kauft  man  Ferkel, 
so  streut  man  ihnen  sofort  Stroh  unter,  dafs  sie  gedeihen.  Wer  sich 
mit  einem  Totenkamm  kämmt,  dem  gehen  die  Haare  aus.  Wer  durch 
das  Nagelloch  eines  ausgegrabenen  Sargbrettes  sieht,  wird  von  einer 
Krankheit  befallen,  dafs  er  jede  Nacht  vor  einer  Leichenbeerdigung 
aufstehen,  aus  dem  Hause  gehen  und  dann  gespenstisch  den  feier- 
lichen Leichenzug  sehen  mufs.  Wem  früh  zuerst  ein  Mann  mit  Wagen 
begegnet,  der  hat  Glück.  Beim  Flachssäen  macht  man  mit  der  Harke 
einen  Eindruck  oder  ein  Kreuz  aufs  Feld  oder  steckt  einen  Stock  in 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  25 


386  Die  Polaben. 

die  Erde;  je  gröfser  dae  Kreuz  oder  der  Stab,  je  länger  der  Flachs. 
Man  säet,  wenn  Mond  und  Sonne  zugleich  am  Himmel  stehen.  Beim 
Abendglockenläuten  soll  man  von  drei  Ecken  eine  Hand  voll  Sand 
über  den  Flachs  werfen,  dann  schadet  der  Maulwurf  nicht.  Wind 
beim  Roggensäen  ist  von  schlechter  Vorbedeutung.  Man  soll  nicht 
allen  Sauerteig  weggeben.  Zu  Weihnachten  giefse  man  den  ersten 
Eimer  Wasser  weg.  Dem  Bullen  wird  nach  dem  Decken  ein  Eimer 
Wasser  auf  den  Rücken  gegossen,  dals  die  Kuh  trächtig  bleibt.  Wenn 
man  unter  einer  dreibalkigen  Egge  durchsieht,  so  kann  man'  die  Hexen 
am  ersten  Maitage  auf  einem  Besenstiel  reiten  sehen.  Das  Butterfafs 
soll  nicht  vor  fremden  Leuten  gerührt  werden.  Wird  beim  Scheren  das 
Garn  nicht  aufgebraucht,  so  legt  man  es  daneben,  sonst  zerreif sen  es 
die  „kleinen  Leute".  Auf  Brotteig  legt  man  Männerzeug,  dann  gerät 
das  Backwerk.  Wer  im  Mai  das  erstemal  donnern  hört,  setze  seine 
Finger  auf  die  Erde,  dann  wird  keiner  schlimm.  Der  junge  Säemann 
mufs  vor  dem  ersten  Säen  einen  Maulwurf  mit  der  Hand  tot  drücken, 
dann  hat  er  eine  gesegnete  Hand.  Wenn  kleine  Kinder  im  ersten 
Jahre  Schläge  bekommen,  fühlen  sie  später  keine  mehr.  Donnerstags- 
kinder müssen  auf  dem  Altar  getauft  werden,  sonst  sehen  sie  Spuk. 
Speck  wird  madig,  wenn  er  Montags  in  Rauch  gehängt  wird.  Weisen 
säet  man  nach  Sonnenschein. 

V.     Polabisches  Vaterunser. 

1.  Eccard:  Hist  stud.  etym.,  p.  269.  Hannover  1711.  (Noch  1711 
von  den  Dannenberger  Wenden  gebetet.)  Nach  Hennig;  vgl.  8.  2,  4,  5  und 
Hilferding,  8.  42  f. 

Nös  hölya  wader  ta  toy  chiss  wa  nebisgay.  ßjunta  woarda  tugi  geima. 
Tia  rik  komma.  Tia  willya  sohingöt  koke  nebisgay,  kok  kak  no  sizne. 
Nöessi  wisse  danneisna  stgeiba  doy  nam  dans.  Un  wittedoy  nom  nässe 
ggrels  tak  moy  wittedogime  nossem  gresnarim.  Ny  bringgoy  nös  ka 
warsikönge.    Tay  lösöay  nös  wit  wissokak.    Chundak. 

2.  Potocki:  Voyage  1795,  p.  36.    Aus  der  Gegend  von  Lüchow. 

Nesse  wader,  tu  toy  Jiss  wa  nebis  hay.  Siungta  woarda  tygi  cheyma. 
Tujae  rick  kommae.  Tia  wiliae  szymweh  rok  wa  nebis  hay,  kak  no  zimie. 
Un  wy  by  doy  nam  nesse  chrech  kak  moy.  Wy  by  dayne  nessen  chresmarym. 
Ni  bringwa  nass  na  wasskonie.    Day  lizwaynes  wit  wyskak  ohandak.   Amen. 

3.  Von  Müller.  Neues  vaterländisches  Archiv  von  Spangenberg 
II,  1822,  8.219;  vgl.  das  bei  Hennings,  8.44;  Schleicher,  8.1  und,  nach 
G.  v.  SmoUkis  gütiger  Mitteilung,  eins  in  den  Kirchenakten  zu  Plate. 

Eyta  nossi  tang  toy  bist  en  Nebi.  Sjenta  werde  tija  geyny.  Kommoja 
tija  Bitge.  Tija  Wilja  blyoye  kock  en  Neby  koick  en  Simea.  Nossi  wisse 
danneisna  stjeiba,  dogeyra  nöss  däns.  Un  schenk 6s  nossi  weineck,  kock  wy 
schenköt  nossi  weinecker.  Un  hringoye  nos  en  wienick  wersöcke.  Sseze  die 
sölva  nös  de  ggreck,  wyltiya  blift  to  Bitge,  ti  Möcht  un  warchene.  Büsatz 
niganka  un  nirugnissa.     Amen. 


Polabisches  Vaterunser.  887 

4.  Kirchenbuch  zu  Plate  bei  Lüchow,  durch  F.  Wohn  er. 

Eita  nossi,  tang  toy  bist  en  nebi.  Sjenta  werca  tija  geygny.  Kommoja 
tija  Bitge.  Tija  Wilja  blyoge,  kock  en  nebi,  koick  en  Sinica.  Nossi  misse 
danneiska  stieba  dogey  nos.  Dans  un  schenköt  nossi  weineck,  kock  wy 
schenköt  nossi  weinecker.  Unne  bringoye  nos  en  wienick  wersöcke.  Isize 
disolva  nos  ode  ggreck.  Wye  tija  bliff  to  Bitge,  ti  mocht,  au  warckene 
Busatz,  nigangka  un  in  ragnissa.    Amen. 

5.  Mithofs  Vaterunser.    Lüchow,  den  17.  Mai  1691.    (Vgl.  8.  348.) 

Noos  Wader  tada  töjis  wattuem  nibiTien.  Sioncta  mowardoot  tüi* 
Seimang  tüi  Bieck  oumma.  Tua  willia  moffa  fchiniot  wan  nibisjeu  eack 
wiffei  foquoi  noosXSme.  Noosü  daglitia  Sjcibe  dünam  daans.  Un  Wittodüman 
noosfe  Greichie  coock  moy  witto  düjeme  noos  fürne  Greihynarim.  Ni 
farforünas  wa  verfoikung.    Erlöfünas  wittige  goidac.    Hamen. 

6.  Das  polabische  Vaterunser  Hennigs. 

N6sse  wader,  ta  toy  gis  wa  nebisgay,  sjungta  woarda  tügi  geim,  tia  rik 
komma,  tia  willia  schinyot  kok  wa  nebisgay  kok  kak  no  sime,  nössi  wisse- 
danneisna  stgeiba  doy  nam  dans,  un  wittedoy  nam  nösse  ggrech,  kak  moy 
wittedoyime  nössem  gresmarim,  ni  bringoy  n6s  ka  warsikönye,  tay  lösoay  n6s 
wit  wissokak  chaudak.    Amen. 


7.  Das  polabische  Vaterunser  von  Hennig.  (.Nach  einem  von  Prof. 
Leskien  ein  wenig  geänderten  Text."     Stein vorth  153  f.) 

Kos  holi  v&der,  to  tai  jia  y&  nebeseu,  s'otü  v&rd&j  tüji  jaima;  tüji  rik 
komaj;  tüja  vüla  (mo  sa)  künot  kok  vä  nebeseu  tok  kak  no  zemi;  nosa 
visedänesna  skaibo  doj  nam  dans,  un  vütadoj  nam  nosi  grechy,  kok  mai 
yütadojime  nosim  gresnarem;  ni  bringoj  nos  vä  varsükög  (o);  tai  losoj  nos 
vüt  visokag  cheudag.    Amen. 


26* 


Die  Slowinzen. 

Literatur 
(vollständig  in  Dr.  Tetzner,  Die  Slowinzen  und  Lebakaschuben). 

Backe:    Siehe  Brüggemann  I,  65  f. 

Böttcher:    Die   Bau-    und   Kunstdenkmäler   des    Begierungsbezirks    Köslin. 

ßtettin  1889  ff. 
Bronisch:    Die  slawischen  Ortsnamen  in  Holstein  und  im  Fürstentum  Lübeck. 

Sonderburg  1901. 
Brüggemann:    Ausführliche  Beschreibung  des  gegenwärtigen  Zustandes  des 

kgl.  Preufsischen  Herzogtums  Vor-  und  Hinterpommern.    8tettin  1779:  I; 

1784:   II;    1800:   in.     Darin    über  die  Slowinzen:     Haken  I,   63  bis  65; 

Backe  I,  65  bis  69. 
Büsching:    Wöchentliche  Nachrichten  VII,  1779.     Berlin  1780. 
D  reg  er:    Codex  diplomaticus.     Stettin  1748. 
Edelbüttel:    Schmolsiner  Kirchenchronik.     Handschriftlich. 
Franz:    Garder  Kirchenchronik.     Handschriftlich. 
Garbe:    Die    letzten   Vertreter    der   slawischen   Sprache    in    dem    Kirchspiel 

Schmolsin  und  Grofsgarde.     Pomm.  Blätter.     Stettin,  9.  4.  98. 
Gustke:    Virchenziner  Eide.     Handschriftlich. 
Haken:    Siehe  Brüggemann. 
Hilf  er  ding:    Die    Überreste   der   Slawen   auf   der   Südküste    des   baltischen 

Meeres.     Zeitschr.  für   slawische  Literatur  1864.     Bautzen  I,    81  bis  97, 

230  bis  239;  II,  85  bis  111. 
Knaak  und  Stodtmeister:    Kluckener  Schulchronik.     Handschriftlich. 
Knoop:    Volkssagen,   Erzählungen,   Aberglauben,   Gebräuche   und   Märchen 

aus  dem  östlichen  Hinterpommern.     Posen  1885. 
Knoop  und  Haas:   Blätter  für  pommersche  Volkskunde.    Stettin  1892  ff. 
Krofey:    Duchowne  etc.     Bütow  1586. 

Legowski:    Die  Sprache  der  baltischen  Slawen.     Blätter  für  pomm.  Volks- 
kunde   1896.    —    Die    Slowinzen    im    Kreise    Stolp,    ihre    Literatur    und 

Sprache  1900. 
Lorentz:    Zur  älteren  kaschubischen  Literatur.     Archiv  für  slaw.   PhiL  20, 

556  bis  577. 
Micraelius:    Altes  Pommerland.     Stettin  1640. 
Pommersche s  Urkundenbuch,  3  Bände.     Stettin  1868  bis  1891. 
Fontanus:    Parvus  Catechismus  D.  Martini  Lutheri  Germanico-Vandalicua, 

Danzig  1643.     2.  Ausgabe  1758.     3.  Ausgabe  1828. 
Quandt:    Herkunft  der  baltischen  Wenden.    Baltische  Studien.    Stettin  1872, 

1  bis  64. 
v.  Sommerfeld:    Geschichte  der  Germanisier ung   des  Herzogtums  Pommern 

oder  Slawien  bis  zum  Ablauf  des  13.  Jahrhunderts.     Leipzig  1896. 
y.  Stoj  entin:    Aktenmäfsige  Nachrichten  von  Hexenprozessen  und  Zaubereien 

im  ehemaligen  Herzogtum  Pommern.     Weimar  1898. 


Sprachgebiet.  389 

Tetzner:  Die  Slowinzen  und  Lebakaschuben 1).  Land  und  Leute,  Haus  und 
Hof,  Sitten  und  Gebräuche,  Sprache  und  Literatur  im  östlichen  Hinter- 
pommern. Mit  einer  Sprachkarte  und  drei  Tafeln  Abbildungen.  Berlin 
1899.  —  Die  Kaschuben  am  Lebasee.    Braunschweig  1896. 

Wutstrack:  Kurze  hist.  geogr.  stat.  Besohreibung  von  Pommern.  Stettin 
1793,  1795.     2  Bde. 


I.     Sprachgebiet. 

Simon  Erofey  (1586)  und  Michael  Pontanus  (1643)  reden 
von  einer  „slowin zischen"  Sprache  und  Kirche  im  Pommerschen;  im 
Deutschen  gebrauchen  beide  „wendisch",  lateinisch  „vandalicus"  für 
slowinzisch.  Sie  meinen  damit  die  Sprache  der  evangelischen  Slawen 
in  Pommern.  Verbreitet  waren  ihre  Bücher  im  Kreise  Stolp,  wahr- 
scheinlich auch  in  Bütow,  Lauenburg  und  Pommerellen. 

1779  unterscheidet  Haken  zwischen  alten  Wendisch  -  Deutschen, 
deren  Überbleibsel  von  der  Dievenow  bis  zur  Lupow  angetroffen  wurden, 
und  echter  wendischer  Nachkommenschaft  zwischen  Lupow  und  Leba. 
Die  ersten  würden  wir  heute  Slowinzen,  die  zweiten  Lebakaschuben 
nennen,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dals  der  Hauptsitz  der  Slowinzen, 
nämlich  die  Ausbauten  von  Lupowanwohnern  in  den  Klucken,  jetzt  eine 
Meile  östlich  der  Lupow  liegt.  1879  fafst  Cenowa  den  Begriff  etwas 
anders,  wenn  er  die  benachbarten  Sprachen  als  kaschubisch-slowinisch 
bezeichnet.  Die  Slawen  Pommerns  selbst,  die  im  Westen  liutizischen,  im 
Osten  lechischen  Stammes  waren,  führen  in  Urkunden  der  Reihe  nach 
die  Namen  Slawen,  Wenden,  Wandalen  (unrichtige  gelehrte  Namens- 
übertragung), Kaschuben  oder  Pommern.  Nach  der  ziemlich  voll- 
endeten Germanisierung  Pommerns  steht  man  vor  der  Thatsache, 
dafs  die  letzten  pommerschen  Slawen  den  Namen  der  Kaschuben  für 
sich  in  Anspruch  nehmen  und  die  pommerellischen  „Polaken"  nennen, 
während  die  pommerellischen  schon  in  Schrift  und  Literatur  der  letzten 
Zeit  Kaschuben  hielsen.  Man  hat  darum  gut  gethan,  nunmehr  den 
pommerellischen  Slawen  den  Namen  der  Kaschuben  zu  lassen.  Es 
ist  auch  recht,  dafs  man  für  die  pommerschen  evangelischen  Slawen 
rechts  vom  Kluckenbach ,  die  einen  kaschubischen  Dialekt  sprechen, 
den  Namen  Lebakaschuben  angenommen  hat.  Und  es  bleibt  für  die 
in  der  Sprache  mehr  abweichenden  evangelischen  Slawen,  links  vom 


*)  Daselbst  bitte  ich,  aufser  den  Wutstrackschen  Vaterunsern  S.  195,  die 
falschen  Namensformen  in  die  richtigen  Simon  Krofey  und  Michael 
Pontanus  zu  verbessern;  des  letzteren  Geburtsjahr  lautet  1578  in  der 
Kirchenchronik,  auf  seinem  Bilde:  1583.  Aufserdem  finden  sich  folgende 
Fehler:  S.  4,  Z.  21  zuletzt:  lies  Wratislaws;  S.  6,  Z.  6  v.  u.:  65  bis  69 
Von  Backe;  S.  65,  Z.  1  v.  u.:  Prat;  S.  66,  Z.  2:  Gaffelstange  =  Wiidl, 
Ruder  =  Wjisl;  S.  70,  Z.  1:  1887;  S.  89,  Z.  2  v.  u.:  1181;  S.  102,  Z.  6:  1766; 
8.  129,  Z.  7  v.  u.:  1623;  S.  184,  Z.  13:  Anna  ist  Johann  Friedrichs  und 
Erdmutes  (f  1623)  Nichte,  Bogislaws  XIII.  Tochter;  S.  4  oben:  Die  Sorben 
sind  tschechischen  Stammes.    Zu  S.  177  vgl.  hier  S.  417,  420. 


390 


Die  Slowinzen. 


Kluckenbach ,  die  Bezeichnung  Slowinzen  übrig.  Dieser  Name  ist 
durch  den  Verbreitungsbezirk  der  Bücher  von  Krofey  and  Pontanas 
gerechtfertigt,  obwohl  die  heutige  slowinzische  Sprache  nicht  unbedeu- 
tend von  der  fast  polnischen  Schreibweise  jener  zwei  einzigen  elowin- 
ziachen  Schriftsteller  abweicht.  Der  Name  wurzelt  ferner  in  der 
Thataache,  dafs  die  Slowinzen  ihre  Sprache  die  slowinzische  nennen 
und  den  Volksnamen  in  Anspruch  nehmen,  wenn  auch  selten  und  etwa 
in  der  Fassung  als  Antwort:  „Wir  sind  Slowinzen,  Slowinzen  und 
Kasohaben  ist  dasselbe." 

Das  ganze  slowinzische  Sprachgebiet  (Abb.  169),  ehemals  im  Westen 
mit  dem   polabischen   zusammenhangend,  beschrankt   sich    heute    nur 
Abb.  169. 


MafüHtab  1 :  250  000. 
Das  slowinzische  Sprachgebiet  1 


neben  den  Kirchspielen  O  bezeichnen    das 

noch  auf  die  Scbmolsiner  und  Selesener  Klucken  am  linken  Ufer  der 
Kluckenbachmfindung ,  ferner  auf  die  Dörfer  Grols-  und  Klein  gar  de, 
Wittetock,  Rotten,  Lotken,  Wittbeck,  Zietzen,  Stohentin,  Virchenzin, 
Scholpin  and  Holzkathen.  Nur  die  Klucken  und  Garde  können  noch 
eine  Anzahl  Leute  aufweisen,  die  man  als  Slowinzen  bezeichnen  könnte, 
weil  sie  sich  mehr  ihrer  Muttersprache  als  der  deutschen  bedienen.  Die 
meisten  der  100  bis  200  slowinzisch  sprechenden  Leute  radebrechen 
die  Sprache  and  finden  für  die  sinnfälligsten  Dinge  den  Ausdruck  nicht 
mehr.  Zusammenhängende  Sätze  können  nur  wenige  bilden,  und  die 
mischen  deutsche  Worte  in  Menge  ein.  Ihre  Muttersprache  erlosch 
als  Kirche nsprache  im  letzten   Kirchspiel   Garde   1845,    in    Schmolsin 


Erlöschen  des  Slowinzischen.     Die  Heruler.  391 

1832.  Die  letzten  Slowinzen  sollen  hier  und  da  noch  nach  Glowitz, 
dem  Mekka  und  der  letzten  Hochburg  der  Lebakaschuben,  zum  Gottes- 
dienst gewandert  sein.  Da  wird  aber  seit  1886  auch  nur  deutsch 
gepredigt  1856  war  in  Bütow,  um  1799  in  Rowe,  1795  in  Budow, 
Nossin,  Schurow,  Dämmen,  1787  in  Mikrow,  1778  in  Lupow,  Freist, 
Zetlin,  Kolziglow,  Dübsow,  1700  in  Stolp  der  slawische  Gottes- 
dienst erloschen.  Die  nach  Osten  fortschreitende  Germanisierung 
Pommerns  kann  man  in  der  Geschichte  Schritt  auf  Schritt  verfolgen; 
die  Geschichte  dieser  pommerschen  Slawen  gehört  zur  Geschichte  der 
Slowinzen. 

II.     Geschichte. 

Nach  dem  Verschwinden  des  rugischen  und  herulischen  Namens 
finden  wir  slawische  Volksstämme  in  Pommern.  Weshalb  die  Germanen 
wanderten  und  wie  die  daheim  gebliebenen  im  Slawentum  untergingen, 
ist  noch  nicht  genügend  aufgeklärt.  Vielleicht  kann  man  mit  jenen 
Wanderungen,  wenn  auch  nur  entfernt,  unsere  heutige  Sachsen» 
gängerei  vergleichen.  Gerade  bei  Betrachtung  der  Heruler  ist  mir  der 
Vergleich  gekommen.  Die  Heruler  besalsen  in  Südschweden  ein  mäch- 
tiges Hinterland,  später  hatten  sie  feste  Stützpunkte  an  der  Ostseeküste. 
Landnot  (im  heutigen  Sinne)  war  es  sicher  nicht,  die  sie  zur  Auswande- 
rung gezwungen  hätte.  Später  ist  in  ganz  Ostdeutschland  allenthalben 
von  Westgermanen  gerodet  und  geackert  worden,  und  die  Einwanderer 
machten  Boden  urbar,  der  auf  Meilen  hinaus  von  niemand  betreten 
worden  war.  Ob  freilich  unsere  Ostgermanen  Geschmack  an  solcher 
Arbeit  gesucht  oder  gefunden  hätten,  das  möchte  ich  bei  dem  kriegeri- 
schen Gepräge  der  Wandilier  in  Abrede  stellen.  Das  Erbrecht  scheint 
mir  die  Quelle  des  Wanderstromes  anzudeuten.  Es  giebt  für  einen 
thatkräftigen  Besitzlosen  keine  härtere  Strafe  als  nichts  machen  zu 
sollen  oder  Rädchen  am  Wagen  eines  anderen  sein  zu  müssen.  Im 
Kriege  unterstanden  die  Jünglinge  und  Männer  zwar  auch  einem  Ober- 
befehlshaber. Aber  man  lese  nur  die  Geschichte  der  Heruler  und 
Rugier.  Sie  wählten  sich  zunächst  ihren  eigenen  König  und  Heer- 
führer und  wahrten  sich  dabei  so  viel  Freiheit,  data  römischen  und 
griechischen  Schriftstellern  eine  solche  Königswürde  nur  als  ein  Schatten 
erschien.  Der  freie  Mann  hatte  auch  im  Heere  Recht  über  Tod  und 
Leben  seiner  Angehörigen  und  Sklaven.  Und  wenn  einmal  ein  Narses 
dieses  Recht  nicht  anerkennen  will,  verläfst  sofort  das  ganze  Heruler- 
volk  mit  Kind  und  Kegel  vor  der  Schlacht  die  römische  Schlachtordnung 
und  zieht  sich  trotzig  von  dem  zurück,  der  ihre  Freiheit  so  wenig 
achtet.  Und  doch  kommen  sie  sogleich  wieder  zurück.  „Was  würden 
die  Römer  sagen,  was  würde  der  Oberfeldherr  von  uns  denken;  die 
Leute  wissen  ja  nicht,  dafs  uns  bitter  Unrecht  geschehen  ist;  man  hält 
uns  für  feig,  weil  die  Schlacht  losgehen  soll.tt  Ihr  König  eilt  mit  dem 
ganzen  Heere  zurück  und  thut  Wunder  der  Tapferkeit. 


392  Die  Slowinzen. 

Es  war  eben  der  Kriegsmut,  die  Hoffnung  auf  Ruhm,  die  in  ihren 
Augen  einzig  richtige  Ausfüllung  eines  sonst  leeren  Lebens,  die  sie  in 
die  römischen  Heere  trieb.  Und  war  der  Krieg  vorbei,  so  zog  man  in 
die  Heimat  zurück,  bis  aufs  neue  wieder  irgendwo  etwas  los  war.  Wie 
oft  sehen  wir  Herulerscharen  die  Ostseeströme  auf-  und  die  Pontns- 
ströme  abwärts  wallen  und  umgekehrt.  Und  wo  sind  die  Hernier? 
Überall,  in  allen  Heeren,  zu  allen  Zeiten.  Und  wenn  ihr  alter  König 
erschlagen  oder  abgesetzt  worden  ist,  geht  immer  wieder  eine  Gesandt- 
schaft ins  alte  Stammland,  „den  König  aus  Thule"  zu  holen.  Sie 
gingen  alle  im  fremden  Lande  zu  Grunde;  die  Verbindung  mit  der 
Heimat  war  zu  bald  unterbrochen,  die  Entfernung  war  zu  grofs.  Ganz 
anders  die  Slawen,  die  Schritt  für  Schritt  westwärts  drangen,  sich  ein- 
nisteten, wo  Platz  in  Fülle  vorhanden  war,  und  das  verringerte 
Germanentum  langsam  überwucherten.  Zu  Karls  des  Grolsen  Zeit  ist 
eben  ganz  Ostgermanien  slawisch,  wenn  auch  ohne  einheitliche  Führung. 
Ja,  unsere  heimischen  Schriftsteller  gebrauchen  sogar  noch  die  alten 
deutschen  Namen  für  die  unterdessen  slawisierten  Völker.  Ein  Zeit- 
genosse Barbarossas,  Helmold,  nennt  die  Heveller  ruhig  Heruler;  der 
Pegauer  Mönch  läfst  Wiprecht  von  Groitzsch  dem  harlungischen  Königs- 
geschlecht entstammen;  die  Werler  und  Balten  (nach  den  Hirren  des 
Ptolemäus)  setzt  man  ruhig  den  Herulern  gleich;  und  dann  bilden  sich 
die  baltischen  Letten  und  Litauer  ein,  sie  hätten  das  römische  Reich 
zerstört.  Bis  in  die  neueste  Zeit  hinein  haben  selbst  einige  Gelehrte 
Werler,  Heruler,  Hirren,  Letten  vermengt  und  vom  „herulischen  Vater- 
unser" gefabelt.  Vielleicht  ist  es  der  Name  der  Goten  (Gudden),  der 
noch  auf  weifsrussischen  und  hochlitauischen  Stämmen  haftet,  nachdem 
diese  Leute  sogar  eine  um  über  1000  Jahre  spätere  zweite  Völker- 
wanderung, die  friedliche  Sachsengängerei,  Jahr  für  Jahr  fortsetzen. 

Karls  des  Grolsen  Zug  bis  zur  Peene  vermochte  ebensowenig  wie 
Bolealaw  Chrobrys  Eroberung  des  Gebietes  östlich  der  Oder  unsere 
Pommern  („die  am  Meere  wohnenden")  in  Abhängigkeit  zu  bringen. 
Dem  Namen  nach  gehörte  das  Land  seit  dem  15.  Mai  834  zum  Erzbistum 
Hamburg  unter  Ansgar  („per  omnem  Slavorum  provinciam  usque  ad 
rnare");  als  Karl  im  Juni  786  das  östlichste  Bistum  Verden  gründete, 
reichte  dies  nur  bis  zur  Peene.  Unter  Kaiser  Otto  I.  wurde,  mit  der 
Gründung  des  Erzbistums  Magdeburg  968,  der  Erzbischof  Adalbert 
geistlicher  Herrscher  alles  slawischen  Volkes  jenseits  der  Saale  und  Elbe 
(archiepiscopus  tocius  ultra  Albiam  et  Salam  Slavorum  gentis).  Data  aber 
polnischer  Einflufs  in  Pommern  vorherrschend  war,  zeigt  die  Schenkung 
eines  Teils  der  Ostseeküste  an  Papst  Johann  XV.,  von  selten  polnischer 
(Misica  =  Miseko)  und  pommerscher  Herrscher  (vgl.  S.  8). 

Der  Pommernfürst  Swantibor  1.  hinterliefs  1 107  seinen  beiden  ältesten 
Söhnen  Slawien,  den  beiden  jüngeren  Pommerellen.  Slawien  reichte  von 
der  Peene  bis  zur  Persante  und  hatte  Stettin  als  Hauptstadt.  Pommerellen 
erstreckte  sich  östlich  davon  bis  über  seine  Hauptstadt  Danzig  hinaus. 


Altpommersche  Geschichte.  393 

Zu  Stettin  herrschte  Wratislaw  L>  der  1124  vom  Bischof  Otto, 
von  Bamberg  zum  Christentum  bekehrt  ward.  Er  errichtete  zu  Julin 
(Wollin)  ein  Bistum,  das  1140  nach  Cammin  verlegt  ward.  Kaiser 
Lothar  schenkte  1136  der  Bamberger  Kirche  für  die  Bemühungen 
Ottos  die  Landschaft  Tribsees  und  vier  Provinzen  Slawiens.  Die 
Slawen  leisteten  der  Christianisierung  Widerstand.  Am  11.  April  1147 
verniete  Papst  Eugen  III.  den  Kreuzfahrern  gegen  die  Slawen  gleiche 
Sündenvergebung  wie  den  Jerusalemfahrern  und  im  September  1151 
bat  König  Swen  von  Dänemark  den  König  Konrad  zu  einer  Zusammen- 
kunft, um  mit  ihm  über  die  Zähmung  (ad  Slavorum  depressionem)  der 
Slawen  durch  die  deutschen  Fürsten  zu  unterhandeln.  Ratibor  (illustris 
princeps,  dux  Slavorum  1158),  der  Fürst  von  Schlawe,  unterstützte 
die  Christianisierungsversuche.  Er  gab  dem  pommerschen  Bischof 
Adalbert  das  Kloster  Stolp;  so  schenkte  auch  der  Pommernfürst  Sambor 
dem  Kloster  Oliva  1178  mehrere  Dörfer,  und  der  Pommernherzog 
Swantopolk  beurkundete  1180,  dafs  die  den  Dänen  abgenommene 
Kastellanei  Stolp  von  jeher  zu  Gnesen  gehört  habe. 

Wratislaws  Söhne,  Bogislaw  I.  und  Kasimir  L,  nahmen  1170  den 
Herzogstitel  an,  betrachteten  sich  als  deutsche  Fürsten  und  wurden 
von  Friedrich  Barbarossa  1181  zu  Lübeck  belehnt  und  unter  die 
Lehnshoheit  des  Markgrafen  Otto  I.  von  Brandenburg  gestellt.  In 
der  nächsten  Zeit  fanden  Streitigkeiten  mit  den  dänischen  Königen 
statt.  Friedrich  II.  hatte  dem  König  Waldemar  einige  slawische  Be- 
sitztümer in  Pommern  gegeben,  die  er  nicht  halten  konnte.  Nach  der 
Gefangennahme  des  Dänenkönigs  Waldemar  IL  und  seines  Sohnes 
durch  den  Grafen  Heinrich  von  Schwerin  verpflichtete  sich  der  König 
am  17.  November  1225,  alle  Slawenländer  (omnes  terras  Sclavie)  aulser 
Rügen  nebst  Zubehör  beim  Deutschen  Reiche  zu  lassen.  Die  Herrin 
von  Schlawe,  Miroslawa  (Sclavorum  ducissa  et  filius  Barnim,  dux 
eorum),  erhielt  die  ihr  entrissenen  Güter  zurück.  Langsam  schritt 
nun  die  Christianisierung  und  Kultivierung  weiter.  1235  ward  ein 
Nonnenkloster  Marien busch  bei  Treptow  in  Sclavia  oder  Sclavonia 
gegründet. 

Während  für  Pommern  bis  jetzt  immer  der  Name  Sclavia  oder 
Sclavonia  (1239  populus  terre  Rugianorum  in  Sclavia)  gebraucht  wurde, 
taucht  auf  einmal  daneben  Cassubia  auf,  scheinbar  zum  Unterschied 
von  den  nie  mit  Sclavia,  Sclavonia  bezeichneten  Pommerellen  oder 
Pomerania,  zuerst  wohl  in  einer  Urkunde  vom  19.  März  1238.  Da 
nennt  sich  Bogislav  I.  Herzog  Kaschubiens,  Fürst  von  ganz  Pommeranien. 
Seit  1238  wird  Cassubia  öfter  angewendet.  Am  28.  August  1245 
stellt  Papst  Innocenz  IV.  die  Minoritenbrüder  in  ganz  Dacia  (Däne- 
mark), Cassubia  und  Pomerania  unter  den  Schutz  des  Bremer,  Hildes- 
heim er,  Schweriner  Oberhirten.  1248  wird  von  einem  Eindringen  in 
Kaschubien  und  ins  Land  der  Kaschubiten  (terra  Cassubitarum)  ge- 
sprochen.    Wratislaw  III.  war  Herzog  der  Kaschuben,  Barnim  I.  am 


1 


394  Die  Slowinzen. 

.22.  Februar  1246  Herzog  der  Slawen,  später  Herzog  „der  Slawen  oder 
Kaschuben",  doch  führte  er  auch  den  Titel  eines  Herzogs   „von   Ka- 
schubientt,   „von   Pomeranien",   „von  Stettin",   „der  Pommern".     Die 
Beifügung  „oder  der  Kaschuben"   erfolgte  erst,  nachdem  er  Schlawe, 
Stolp  und  Beigard  erworben  hatte,  so  dafs  also  diese  Gegenden  als  das 
eigentliche  Kaschubien  anzusehen  sind.   Am  12.  September  1248  werden 
mit  dem  Ordensmeister  Heinrich  von  Weida  auch  zwei  adelige  Mecklen- 
burger,   die    Brüder  von   Sambors   Gattin   Mechthild,    als  Herren    in 
Kaschubien  (dominos  Cassubie),  von  Swantopolk  von  Danzig,  Herzog 
von   Pomeranien,  und  seinem  Bruder  Sambor  zu  Schiedsrichtern   ge- 
macht.     1253   zeigt  zum  erstenmal  Barnims   I.    Siegel   die   Inschrift 
eines  Herzogs  der  Slawen   und  Easchubiens,  die  verdeutscht  in  den 
Worten  Herren  der  Wenden  und  Kaschuben   noch  heute  in   Fürsten- 
titeln fortlebt.     Die  Siegelinschrift  lautet:    Sigillum  Barnim  dei  gratia 
illustris  ducis  Slavorum  et  Cassubie.     1268  machte  Bischof  Hermann 
von   Cammin  einen  Unterschied    zwischen   Slawien   oder  Wendenland 
(Mecklenburg),  Kaschubien  (Pommern)  und  Pomeranien  (Pommerellen). 
1289  heilst  das  Belgarder  Land  Kaschubien.     So  unklar  die  Begriffe 
Kaschubien  und  Slawien  waren,  da  ja  nicht  fest  umgrenzte  Provinzen 
diese  Namen  führten ,    so  hatte    sich  doch   seit  Ende   des    1 3.   Jahr- 
hunderts,   biß   zu   welcher   Zeit   Gegenden    vom    westlichen  Mecklen- 
burg bis   zur  Leba  Kaschubien    genannt   wurden,   der  Gebrauch   des 
Kaschubennamens   für   die  Lebagegend    und    des   Wenden  namens   für 
Westpommern  festgesetzt.     Daran  hielt  man  bis  heute  fest;  nur  ist  die 
Verbindung  des  Namens  mit  Ostpommern  seit  etwa  150  Jahren  schwan- 
kend geworden.     Mit  dem  Aussterben  der  Slawen  Pommerns,  dessen 
östlicher  Teil  seit   1295   zeitweise    mit  Pommerellen   verbunden   war, 
blieb  der  Kascbubenname  auf  den  pommerellischen  Slawen  haften.     Eis 
ist  eigentümlich,  dals  gerade  diese  pommerellische  Sprache  auch  über 
die  Leba  hinübergegriffen  hat. 

Barnim  I.  begünstigte  das  Deutschtum  auf  jede  Weise;  deutscher 
Minnesang  erscholl  in  Slawien.  Sein  hervorragendster  Vertreter  war 
Fürst  Wizlaw  IV.  von  Rügen.  Die  alte  Rugierinsel  war  von  Slawen 
als  Hort  echten  Slawentums  auserkoren  worden.  Bei  Arkona  stand  der 
berühmte  Göttertempel.  Schon  Wizlaw  I.  hatte  aber  1221  unter  den 
Aufstanden  der  Slawen  zu  leiden.  Obwohl  Slawe  und  von  Slawen 
umgeben  (zwei  edle  slawische  Zeugen,  Boranthe  und  Pridiborc,  werden 
1225  in  einer  Urkunde  zu  Tribsees  namhaft  gemacht),  begünstigte  er 
doch  das  Deutschtum.  Wizlaw  IV.  (f  1305)  nun,  der  nach  dem  Tode 
seines  Bruders  Sambor  zur  Insel  Rügen  noch  das  gegenüberliegende 
Festland  1304  erhielt,  vermählte  sich  nach  dem  Tode  der  hinter- 
pommerschen  Herzogstochter  Margaretha  mit  einer  deutschen  Gräfin 
Agnes  von  Ruppin.  Trotz  seines  fehdenreichen  Lebens  im  Dienste 
Erichs  IX.  von  Dänemark  pflegte  er  dichterische  Neigungen.  Frauenlob 
und  der  Goldener  rühmen  ihn  und  sind  wahrscheinlich  von  ihm  unter- 


Germanisier ung  Slawiens.  395 

stützt  worden.  Seine  Verse  sind  niederdeutsch  und  heben  sich  mit  ihren 
kräftigen  Tönen  von  einer  Menge  Singsang  der  damaligen  Zeit  vorteil- 
haft ab.  Rügen  scheint  fast  ganz  deutsch  gewesen  zu  sein,  1404 
(Tetzner,  Slowinzen,  S.  6)  starb  die  letzte  Wendin. 

Wol  up,  gl  atolten  helde, 

Nu  komet  vor  mit  melde 

Drade  up  de  velde. 

Ne  röket  wie  juk  scelde, 

Sit  de  tit  is  wunnechlik. 

De  böme  sint  gekleidet, 

Den  Vogelin  beredet, 

Vil  manigen  twich  se  bredet. 

Ben  röket  wie  se  vedet: 

Dit  gift  in  de  meije  rik. 

Nu  tredet  up  den  anger  unde  dönet 

Mit  den  vögeln  juwen  nüwen  söten  Banc. — 


"Wizlav  de  junge  singet 

Dit  liet,  sin  fröwe  em  bringet 

Dat  Bin  lif  dorch  se  ringet, 

Swö  sere  sie  en  dwinget, 

Dat  wird  noch  sin  frouden  dach. 

1295  erhielten  Pommern -Wolgast  in  Bogislaw  IV.  und  Pommern- 
Stettin  in  Otto  I.  eigene  Fürstengeschlechter;  die  Oder  war  Landes- 
scheide. Nach  der  Tannenberger  Schlacht  fielen  Schlochau,  Bütow 
und  andere  polnische  Landesteile  an  Pommern.  1464  wurden  beide 
Linien  wieder  vereinigt,  aber  1523  unter  Georg  I.  von  Wolgast  und 
Barnim  XIL  von  Stettin  aufs  neue  geteilt.  Im  Vergleich  zu  Grimnitz 
wurde  1529  festgesetzt,  dafs  Pommern  reichsunmittelbar  sein,  Branden- 
burg aber  die  Erbfolge  haben  sollte.  Georgs  Nachfolger  war  1531 
Philipp  I.  Kantzow  (f  1542)  unterscheidet  um  diese  Zeit  die 
Wenden  nach  Sprache  und  Kleidung  von  den  in  der  neuen  Mark 
und  dem  „Heitort"  wohnenden  Kaschuben,  Sebastian  Münster 
schreibt  auf  seinen  Karten  den  Namen  Cassubia  zwischen  die  Städte 
Bütow,  Stolp,  Neustettin,  den  Namen  Vandalia  zwischen  Lupow  und 
Leba,  den  Namen  Unterpommern  südlich  von  Vandalia  und  Lauen- 
burg, Oberpommern  bei  Cammin,  östlich  vom  Haff.  Die  beiden 
pommerschen  Fürsten  nahmen  1534  zu  Treptow  die  Reformation  an 
und  lielsen  durch  Johann  Bugenhagen  eine  neue  Kirchenordnung 
einrichten.  Bugenhagen  führte  die  plattdeutsche  Schriftsprache 
ein,  und  das  Deutschtum  war  so  mächtig  geworden,  dafs  an  slawische 
Bücher  zunächst  gar  nicht  gedacht  wurde.  Aus  den  Offizinen  von 
Kellners  Witwe  und  Jochim  Rhete  ging  so  manches  Buch  hervor, 
das  der  Verdeutschung  des  Landes  Vorschub  leistete.  Als  Philipp  L 
1560  starb,  hinterliefs  er  fünf  Söhne:  Johann  Friedrich  (1542  bis 
1600),  Bogislaw  XIII.  (1544  bis  1606),  Ernst  Ludwig  von  Pommern- 
Wolgast,  Barnim  XII.  (1549  bis  1603)  und  Kasimir  von  Cammin  (seit 


396  Die  Slowinzen. 

1573).    Barnim  XL  behielt  bis  1573  die  Oberleitung,  Johann  Friedrich 
(f  1600)  regierte  in  Stettin,  Ernst  Ludwig  (f  1590)  in  Wolgast;    die 
Jüngeren   hatten  Teilgebiete  ohne   Landesoberhoheit,   so  Barnim  XII. 
(f  1603)  Bütow.     Um  diese  Zeit  nun  veröffentlichte  Simon  Krofey 
am  Konkordientage  1586  seine  „Duchowne  piesnieD.  Marcina  Luthera~7 
bei  Jakob  Rhode  in  Danzig  gedruckt.     Der  Titel  heilst  verdeutscht : 
„Geistliche  Lieder  Doktor  Martin  Luthers  und  anderer  frommer  Männer; 
aus  dem  Deutschen  in  die  slowinzische  Sprache  übersetzt  von  Simon 
Krofey,  Diener  des  Wortes  Gottes  in  Bütow."     In  der  Vorrede  sagt 
er,   er   verdanke   seinen  Fürsten   so  mancherlei;   er  habe  Wohlthaten 
von  ihnen  empfangen  und  wolle  in  aller  Demut  beitragen  zur  Samm- 
lung des  Volkes,  wie  zur  Erbauung  seiner  Fürsten,   an  erster  Stelle 
also  Barnims  von  Bütow  und  Rügenwalde,  des   späteren  Herzogs  von 
Stettin,    und   Johann   Friedrichs,  die   die    kleine   Arbeit    und  Dienst- 
bezeigung  als  ein  Ehrengeschenk  annehmen  möchten.     Er  hofft,  dafs 
weitere  notwendige  Bücher  in  dieser  Sprache   übersetzt  würden,    und 
ist  für  seine  Herren  immer  zu  frommer  Fürbitte  und  unterthänigen 
Diensten   bereit.      Ich   sah   dies   Buch  neben   der  ersten   Auflage   des 
Pontanus    zuerst    1896,    und    es    ist    seitdem    leider   kein    zweites 
Exemplar  aufgefunden  worden.     Das  in  Schmolsin  aufbewahrte  Büch- 
lein, ein  Schweinslederband  in  der  Grötse  von  8,5  X  13,5  cm,  umfafst 
Bogen  A  bis  0,  deren  erste  Blätter  am  unteren  Rande  mit  Zahlen  ver- 
sehen sind.      Nach  dem   Titelblatt  fehlen   einige  Blätter.     Die  Seiten 
haben  keine  Zahlseiten.     Die  Lettern  sind  gotisch,  zum  Teil  recht  un- 
deutlich.    Zwei  Blätter  sind  vorgeheftet  und  ein  ganzes  Bündel  bildet 
den  Schlufs.    Auf  diesen  Blättern  stehen  andere  handschriftliche  Lieder, 
teils  slowinzische  Übersetzungen,  teils  deutsche  Lieder  und  ein  Kirchen - 
gebet.     Die  Zahl  der  gedruckten  Lieder,  die  von  Luther,  H.  Sachs, 
P.  Eber,  E.  Alber,  P.  Speratus,  L.  Spengler,  J.  JonaB,  J.  Weis, 
E.  Hegen wald  herrühren,  ist  85;   zuweilen  sind  Gebete  angehängt, 
86  steht  die  Litanei,  87  das  Lied  der  Maria  (Lukas  1),  88  der  Lobgesang 
des  Zacharias,  89  der  des  Simeon,  90  bis  96  folgen  Gesänge  mit  Noten. 
Die  meisten  Gesänge  haben  nur  die  deutsche  Anfangszeile  als  Über- 
schrift.    In    der    Inhaltsangabe    wird    erst    das    „Register   nach    dem 
Alphabeth    Deudsch"     und    dann    das    Register    „wedluk    Alphabet u 
Slowieskytf  aufgeführt.     Man  sieht,   das  Buch  ist  für  doppelsprachige 
Gemeinden  berechnet,  deren   deutsche  Glieder  den  deutschen  Gesang 
singen,   während   die   Slowinzen   den   Text  ihrer  Sprache   vor  Augen 
haben.      Die    162   handschriftlichen  Seiten   bieten  nicht    nur    sprach- 
liches, sondern   auch  literaturgeschichtliches  Interesse.     Hatten  schon 
die  gedruckten  Gesänge  Glossen  und  Zwischen  Schriften ,   so  bietet  die 
103.  Seite  des  Anhangs  den  Namenszug  eines  Liederdichters  und  Lber- 
setzers,  des  Schmolsiner  Pfarrers  Sporgius,  und  die  78.  zeigt  als  Zahl 
der  Niederschrift  1709. 

So  nahe   die   Sprache   der   Krofey  sehen  Lieder  dem  Polnischen 


Krofey.     Bogislaw  XIII.  und  XIV.     Die  Klosterhexe.  397 

steht,  so  ist  doch  der  Versuch  Krofeys,  das  Slowinzische  zur  Schrift- 
sprache zu  erheben,  ganz  anzuerkennen.  Dals  der  Bütower  Pastor 
damit  einem  Wunsche  seiner  Fürsten  entgegenkam,  ist  sicher.  Un- 
erklärlich aber  bleibt,  weshalb  das  Buch  in  Danzig  und  nicht  in  Stettin 
gedruckt  worden  ist.  Wohl  lag  Danzig  näher,  aber  die  Verbindung 
mit  seinen  Fürsten  und  der  Eifer  derselben  für  die  Kultivierung  ihres 
Volkes  und  für  Bücher  mufs  zu  anderen  Erwägungen  führen.  Wie 
eifrig  gerade  die  pommerschen  Fürsten  die  Reformation  und  die  guten 
Neuerungen  pflegten,  ist  oft  hervorgehoben  worden.  1582  war  die 
berühmte  Druckerei  zu  Barth  von  Bogislaw  errichtet  worden,  aus  der 
die  niederdeutsche  Bibel  von  1588  und,  nach  der  Verlegung  in  die 
Stettiner  Oderburg,  1603  Friedeborns  Beschreibung  der  Stadt  Stettin, 
Gramers  „Vier  Bücher  der  grofsen  pommerschen  Kirchenchronik tt  und 
andere  bedeutende  Werke  hervorgingen.  Diese  Druckerei  kaufte 
übrigens  später  der  König  Gustav  Adolf  und  schenkte  sie  der  neu- 
gegründeten Dorpatschen  Universität. 

Die  pommerschen  Fürsten  waren  auch  im  Besitz  eines  Exemplars 
der  schönen  36  zeiligen  Bibel,  die  von  Gutenberg  oder  dem  Bamberger 
Albert  Pfüster  herrührt  und  jetzt  in  Greifswald  aufbewahrt  wird. 
Johann  Friedrich  war  ein  prachtliebender  und  thatkräftiger  Fürst.  Er 
baute  1575  bis  1577  das  Stettiner  Schlofs,  nahm  am  Türkenkriege  teil 
und  war  durch  seine  Gemahlin  Erdmute  (f  1628)  Schwiegersohn  des 
Brandenburger  Kurfürsten  Johann  Georg  (1571  bis  1598)  geworden. 

Die  folgenden  Jahrzehnte  sind  eine  trübe  Zeit  für  die  pommer- 
schen Herzöge. .  Mit  unheimlicher  Schnelligkeit,  ähnlich  wie  die  Linien 
Sachsen -Weif  senf  eis  und  Reufs-Ronneburg-Werdau,  räumte  der  Tod  in 
kurzer  Zeit  ein  zahlreiches  und  kinderreiches  Herrschergeschlecht  weg. 
Von  Philipps  I.  fünf  Söhnen  war  nur  Bogislaw  XIII.  (1603  bis  1606) 
übrig  geblieben,  der  hatte  elf  Kinder.  Zwei  von  ihnen,  Philipp  II. 
(t  1618)  und  Franz  (f  1620),  sind  am.  Stettiner  Schlosse  verewigt. 
Die  Inschrift  lautet:  1619  illustriss.  D.  Philippus  IL  et  Franciscus  I. 
fratres  Sedinorum,  Pomeranorum,  Cassubiorum,  Vandalorum  duces, 
Rugiorum  principes,  Caycorum  comites,  Leopoliensium  .  terrarum 
Butoviensium  dynastae  hoc  aedificium  suis  sumptibus  exstr actum  etc. 
Unter  Franz  (f  1620)  spielte  auch  der  berühmte  Hexenprocefs  gegen 
Sidonie  Bock,  seine  frühere  Geliebte,  die  auf  der  Folter  eingestand,  sie 
habe  das  pommersche  Herzogsgeschlecht  beseitigen  wollen.  Sie  stammte 
aus  einem  wendischen  Herrschergeschlecht  an  der  Rega  und  endete  auf 
dem  Scheiterhaufen.  Wilhelm  Meinhold,  der  Verfasser  der  Bern- 
steinhexe und  vieler  hübscher  Gedichte,  behandelt  weitschweifig  die 
Geschichte  in  seiner  Klosterhexe  1847. 

Der  letzte  männliche  Sprols  des  Pommernherzogs,  Bogislaw  XIV., 
hatte  trotz  seiner  Neutralität  noch  die  Schrecken  des  30  jährigen  Krieges 
zu  erleiden.  Er  starb  1637;  das  Land  fiel  an  Brandenburg,  aber  die 
Schweden  räumten  Vorpommern .  noch  lange  nicht ;  die  Hohenzollern 


398  Die  Slowinzen. 

mulßten  sich  aulser  mit  Hinterpommern  vorläufig  mit  dem  Titel  Herzog 
der  Kaschuben  and  Wenden  begnügen  and  erhielten  das  letzte  Stück 
Pommern  erst  nach  den  Befreiungskriegen. 

Es  lebte  nun  noch  die  Schwester  Bogislaws  XTV.,  die  Herzogin 
Anna.  Als  sollte  der  Glanz  des  alten  Greifengeschlechtes  noch  einmal 
mit  Sonnenglut  in  einem  Edelstein  leuchten,  so  sehen  wir  die  letzte 
pommersche  Herzogin  vor  uns.  Es  ist  zu  verwundern,  dats  die  zahl- 
reichen trefflichen  Romanschriftsteller  Pommerns  nicht  ihre  romantische 
Lebensgeschichte  mit  neuem  Zauber  umgaben  und  dem  Volke  dar- 
stellten. 

Anna  war  das  elfte  Kind,  die  jüngste  Tochter  Herzog  Bogislaws  XIII. 
und  der  Herzogin  Clara  von  Braunschweig- Lüneburg.  Sie  war  ein  Mad- 
chen, herrlich  an  Leib  und  Seele,  beglückt  vom  Umgang  liebender  Brüder 
und  in  schönster  Eintracht  lebender  Eltern;  heiter  und  sorglos  flols 
ihre  Jugend  dahin.  Der  Glanz  des  zu  Stettin  herrschenden  Onkels,  die 
Bildungsbestrebungen  des  ganzen  Herrschergeschlechts  erfüllten  auch 
ihre  Seele.  Und  wenn  die  Redner  und  die  Dichter  der  damaligen  Zeit 
sie  eine  Esther  von  Charakter,  eine  Abigail  an  Verstand,  eine  Perle  und 
Krone  der  Fürstinnen  nennen,  so  scheinen  sie  diesmal  nicht  übertrieben 
zu  haben.  Leider  starben  Vater  und  Mutter  früh,  und  schon  am 
4.  August  1619  führte  sie  der  katholische  Ernst  von  Croy  und  Archot 
als  Frau  heim.  Aber  der  heifsgeliebte  Gemahl  mufs  im  kaiserlichen 
Heere  am  Rhein  fechten  und  stirbt  nach  14  Monaten  im  Feldlager, 
ohne  sein  Söhnlein  Ernst  Bogislaw  gesehen  zu  haben.  Nun  beginnen 
herbe  Tage  für  die  geistreiche,  anregende  Herzogin.  Sie  lebt  bei 
ihren  katholischen  Verwandten,  wird  gequält  und  geärgert,  weil  sie 
nicht  in  die  katholische  Erziehung  ihres  Kindes  willigt,  man  will  sie 
um  das  Ihrige  betrügen;  sie  weilt  bald  da,  bald  dort,  denn  der 
Reichtum  der  Croy-  und  Arohotschen  Familie  liegt  zerstreut  vom 
Elsafs  bis  in  die  Niederlande.  Da  stirbt  ihre  Tante  Erdmute,  und  ihr 
Bruder  Bogislaw  XIV.,  jener  gute  treffliche  Mensch,  der  freilich  den 
Stürmen  des  30 Jährigen  Krieges  nicht  gewachsen  war,  trägt  ihr  den 
erledigten  Witwensitz  Stolp  am  13.  November  1623  an.  Sie  kommt 
mit  ihrem  Söhnlein  und  lebt  bis  zum  Tode  ihres  Bruders  1637  in 
Stettin.  Beim  Erbvergleich  des  Schwedenkönigs  Gustav  Adolf  und 
Bogislaws  war  sie  zugegen  und  soll  dabei  äutserst  klug  und  takt- 
voll gehandelt  haben.  1637  zog  sie  nach  Stolp,  besuchte  aber,  überall 
gern  gesehen,  fleilsig  ihre  Verwandten.  Schmolsin  erkor  sie  sich  zum 
Lieblingssitz  und  baute  hier  Kirche  und  Sohlols,  unterstützte  die 
Armen  und  lebte  ganz  der  Kunstpflege  und  Wohlthätigkeit.  Als 
herrliches  Denkmal  ihres  Kunstsinns  und  ihrer  Bildungspflege  sind  noch 
jetzt  die  Schmolsiner  Kirche  (1632  gebaut)  und  deren  Bilder,  ist  ihr 
Marmordenkmal  in  der  Stolper  Schlot skirche ,  sind  aber  auch  die  von 
rauher  Hand  zerstörten  Schmolsiner  Kunstschätze,  sind  endlich  die 
Werke  des  Pontanus  zu  betrachten.      Als  Anna  1656    in  Greifswald 


Anna -von  Croy  und  Archot,     Pontanus.  399 

einzog,  wollte  die  begeisternde  Huldigung  der  Studenten  kein  Ende 
nehmen.  Als  sie  am  7.  Juli  1660  die  Augen  Schlots,  versank  der 
Glanz  ihres  Geschlechtes.  Ihr  Sohn,  der  schon  mit  12  Jahren  Herr 
von  Cammin  war  und  Vasall  des  Groben  Kurfürsten  wurde,  starb 
1684  in  Königsberg.  Dessen  natürlicher  Sohn  endete  als  Jesuit  in 
Ingolstadt.  —  Uns  interessiert  hier  Annas  Verhältnis  zu  Pontanus,  der 
seit  1610  als  Schlolskapellan  der  Herzogin  Erdmute  und  später  als 
Schmolsiner  Pfarrer  wirkte. 

Auf  das  Bild,  das  Anna  malen  liefe  und  das  den  Pontanus  in 
seinem  Ornate  darstellt,  hat  sie  in  lateinischen  Versen  setzen  lassen: 

Mächtigster  Jesu,  du  bist  meine  starke  Brücke  im  Leben, 
Mitten  im  Tode  selbst  wirst  du  die  Brücke  mir  sein. 
Süfsester  Jesu!   Mein  Trost,  mein  Trost  bist  du  mir  im  Leben, 
Hoffnung  im  Tode  und  Trost,  wenn  ich  einst  wieder  ersteh'. 

Pontanus  veröffentlichte  1643  seinen  Katechismus.  Die  Wünsche 
Krofeys  hatten  sich  also  sehr  spät  erfüllt.  Pontanus  erwähnt  die  Vor- 
arbeiten Krofeys  nicht,  druckt  aber  ein  oder  zwei  Lieder  von  ihm  mit 
Namensnennung  ab.  Der  Katechismus  war  nach  seiner  ganzen  Anlage 
eigentlich  mehr  für  die  Pastoren  und  Lehrer  berechnet;  aber  er  brach 
sich  auch,  wenn  verschiedenen  Zeugnissen  zu  trauen  ist,  beim  Volke 
Bahn.  1758  erschien  eine  neue  Auflage,  die  wohl  Schimanski  oder 
Engeland  besorgten,  1828  eine  dritte  von  Mrongowius.  Die  erste 
Auflage,  von  der  ich  nur  das  Schmolsiner  Exemplar  kenne,  führt  den 
folgenden  Titel  (der  Druckfehler  Germanica  in  der  fünften  Zeile  ist  im 
Druckfehlerverzeichnis  verbessert) : 

In  nomine  Jesu. 
Parvus  Cate- 
chismus 
D.  Martini  Lutheri 
Germanico  -  Vandalicus. 
Der  kleine  Catechifsmus  D.  Martini  Lutheri. 
Deutsch  und  Wendisch  gegen  einan- 
der gesetzt. 
Mit  anhange  der  Sieben  Buszpsalmen  König 

Davids. 

(Dann  folgt  der  slowinzische  Titel,  bei  dem  noch  die  Passionsgeschichte 
nach  Matthäus  mit  aufgeführt  wird,  Luthers  Bild  von  der  Gröfse  eines 
Fünfmarkstücks  und  die  Druckangabe:) 

Drukowany  w  Gdainsku  przes 
Jerzego  Bheta  Boku  Pänskiego  1643. 

Der  Pappband  (15  X  17  cm)  enthält  viele  doppelspaltige  Seiten, 
links  den  deutschen,  rechts  den  slowinzischen  Text;  einleitende  Worte 
sind  meist  in  lateinischer  Sprache.  Die  Titelrückseite  hat  Psalm 
34,  12  in  allen  drei  Sprachen.  Dann  verbreitet  sich  Pontanus  auf 
vier  numerierten  und  sieben  unnumerierten  Seiten  über  den  Wert  des 
Katechismuslernens.     Der  Katechismus  soll  mit  Fleifs  getrieben,  alle 


400  Die  Slowinzen. 

Vierteljahre  wiederholt  werden,  dafs  die  Herzen  gewöhnet  werden  zur 
Gottesfurcht  und  weg  vom  „segenen,  böten,  Wicken,  Warsagen, 
Zauberey  und  dergleichen  Teuflischen  Beyglauben".  Ein  vierzeiliges 
Gedicht  schliefst  die  Ermahnung.  Nun  folgen  die  Hauptstücke  ohne 
Luthers  Erklärung  und  mit  Erläuterungen,  dazu  Belegstellen  und  Bilder, 
dann  kommen  Luthers  Fragestücke  und  andere,  wie  Segen,  Gebete, 
Haustafel,  Trau-  und  Taufbüchlein ,  darauf  die  ersten  Bulspsalmen  mit 
dem  Schlufs  (slowinzisch) :  „Diese  Bücher  hat  Gott,  dem  Herrn,  dem 
Dreieinigen,  zur  Ehre  und  Erbauung  seiner  slowinzischen  Kirche  in 
unserem  Pommerschen  auf  die  Bitte  und  dem  Betreiben,  auch  mit  be- 
willigter Unterstützung  einiger  frommen  Leute,  verfalst,  übersetzt 
und  für  die  Öffentlichkeit  herausgegeben  Michal  Mostnik,  d.  i.  Pon- 
tanus  oder  Brückmann ,  Diener  des  Wortes  Gottes  in  Schmolsin ,  am 
Tage  des  Erzengels  St.  Michael,  im  Jahre  des  Herrn  1643.  Dem  Herrn 
allein  die  Ehre.  Ende."  Nach  diesen  206  Seiten  folgen  mit  neuem 
Titel  noch  70  oder  mehr  Textseiten.  Sie  enthalten  die  illustrierte 
„Passya"  oder  Leidensgeschichte ,  geistliche  Lieder,  eins  aus  Krofey, 
zwei  aus  Krofey s  Anhang.  Eins  der  Gedichte  ist  „auff  einer  Fürst- 
lichen, recht  christlichen  Creutzträgerin  Symbolum"  gedichtet.  Die 
Anfangsworte  der  Strophen  heifsen:  Hilf  Jesu  friedlich  zur  Seligkeit 
persönlich.  Es  ist  klar,  dafs  dies  auf  seine  grofse  Gönnerin  geht,  die 
wohl  auch  die  Kosten  trug.  Ich  kann  aber  die  Anfangsbuchstaben 
nicht  deuten,  die  Namen  Anna  und  Ernst  Bogislaw  liegen  nicht  darin, 
eher  der  des  Herzogs  Johann  Friedrich  zu  Stettin -Pommern. 

Pontanus  Btarb  in  Armut;  sein  Sohn,  der  ihm  zur  Unterstützung 
beigegeben  war  und  sich  unwürdig  benahm,  bezahlte  seine  Schulden 
nicht.     Erst  Ernst  Bogislaw  berichtigte  die  114  Fl. 

98  (100)  Katechismusfragen  in  beiden  Sprachen,  die  in  den  anderen 
Auflagen  gedruckt  stehen,  folgen  handschriftlich.  Das  Buch  ist  mit 
Glossen  versehen,  besonders  das  Taufbüchlein  („Das  Überschriebene  ist 
der  Dualis  im  cafsubischen  Dialekt").  Auf  einem  Deckeleintrag  steht, 
dafs  das  Schmolsiner  Exemplar  1675  Herr  Johannes  Sartorius  einem 
nicht  genannten  Manne  geschenkt  hat,  was  Brotolomäus  Raddeus, 
Küster  in  Dübsow  (Grofsen  Düpsau)  bezeugt,  der  auch  die  Katechismus- 
fragen geschrieben  haben  wird.  Vielleicht  war  Raddeus  selbst  der 
Beschenkte,  auf  keinen  Fall  war  es  der  Schmolsiner  Pastor.  Denn 
um  diese  Zeit  war  Thomas  Pontanus  (1654  bis  1696)  angestellt,  der 
hatte  dies  Geschenk  nicht  nötig.  Dafs  man  übrigens  in  der  Zeit 
des  Pontanus  den  Unterschied  zwischen  slowinzischer  und  kaschubi- 
scher  Sprache  genau  kannte,  bezeugt  der  Rektor  des  Stettiner  Päda- 
gogiums und  Herausgeber  des  Werkes  „Altes  Pommern  (Altstettin, 
Georg  Rhete,  1640)u,  Dr.  Johannes  Micrälius,  jener  berühmte  Ge- 
lehrte, der  die  Überführung  der  früher  erwähnten,  aus  Barth  stammen- 
den Bärtholdschen  Druckerei  nach  Dorpat  vermittelte.  Er  sagt  auf  der 
211.  Seite  seines  Werkes:     „Es  sind  noch  heutiges  Tages  die  wendi- 


Geschichte  des  Sprachstammes.  401 

sehen  örter  von  den  cassubischen  unterschieden,  wie  denn  auch  die 
wendische  Sprache  etwas  anders  fällt,  als  die  cassubische."  Das  ßlo- 
winzische  Sprachgebiet  wurde  natürlich  immer  geringer.  In  Schlawe 
scheint  im  17.  Jahrhundert  die  slawische  Sprache  verschwunden  ge- 
wesen zu  sein.  In  Stolp  wollten  die  ersten  Prediger  an  der  alt- 
städtischen  Kirche  keinen  zweiten  zulassen.  Es  wurde  aber  doch  der 
slawischen  Sprache  wegen  einer  für  nötig  gehalten  und  deswegen  1623 
Paulus  Manteius,  1644  Michel  Pontanus  (nicht  mit  dem  Schmolsiner 
zu  verwechseln),  1677  Petrus  Silvester  angestellt,  um  1700  scheint  der 
slowinzische  Gottesdienst  erloschen  zu  sein,  um  dieselbe  Zeit  in  Freist, 
wo  1636  noch  ein  Küster  „den  alten  kaschubischen  Leuten  dienen 
konnte u.  Büsching  (Neue  Erdbeschreibung,  neueste  Ausgabe  1768, 
IX,  2063  1)  sagt  um  die  Mitte  des  18.  Jahrhunderts:  In  unter- 
schiedenen Kirchspielen  dieses  Kreises  (Stolp)  sprechen  die  Einwohner 
deutsch  und  calsubisch,  daher  auch  in  den  Kirchen  deutsch  und  pol- 
nisch gepredigt  wird.  Hübner  (Reales  Lexikon  1704;  Aufl.  1764, 
S.  431)  kennt  Kassuben  nur  als  Herzogtum,  Pommerellen,  Lauenburg 
und  Bütow  umfassend.  Es  scheint,  da£s  das  Slowinzische  im  18.  Jahr- 
hundert auf  das  Garder  und  Schmolsiner  Kirchspiel  beschränkt  war,  aber 
in  Anlehnung  an  das  Lebakaschubische  in  Glowitz,  Zezenow,  Charbrow, 
Leba  noch  stark  genug  blieb.  Friederich  von  Dreger  meint  1748: 
„Die  meisten  Dörfer,  sonderlich  in  Hinterpommern,  sind  von  Wenden 
bewohnt  geblieben,  wie  denn  auch  jenseits  dem  Stolpischen  Flufs  die 
wendische  Sprache  von  den  Bauern  noch  gebraucht,  auch  noch  der 
Gottesdienst  in  selbiger  gehalten  wird,  welche  Sprache  man  irrig  die 
cassubische  heilst,  weil  Cassuben,  Pommern,  Pohlen  zwar  eine  Sprache 
gehabt,  das  eigentliche  cassubische  Land  aber  gewesen,  wo  nun  Beigard, 
Arnhausen,  Polzin,  Neustettin,  Dramburg  und  Schievelbein  belegen  ist." 
Dreger  hat  nun  den  Ton  angegeben,  der  100  Jahre  und  noch  länger 
fortklingt.  Die  Gelehrten  streiten  hin  und  her,  was  eigentlich  kaschu- 
bißch  sei  und  was  nicht,  und  wo  die  Kaschubei  liege.  Pfennig  redet 
von  zwei  Herzogtümern,  Kassuben  (Neustettin,  Regenwalde,  Polzin)  und 
Wenden  (Rügenwalde,  Stolp).  —  Zunächst  freilich  schien  das  Slowinzische 
noch  stark  genug.  In  Garde  wies  man  1766  einen  Prediger  zurück,  weil 
seine  slowinzische  Predigt  nicht  zu  verstehen  war,  und  wählte  Kummer 
(1766  bis  1808),  den  Schwiegersohn  des  Glowitzers  Schimanski.  In 
Schmolsin  hatte  J.  M.  Sporgius  (1696  bis  1719)  eifrig  die  slowin- 
zische Übersetzung  und  Umdichtung  gepflegt,  sein  Nachfolger  G.  F. 
Lindner  (1720  bis  1733)  ward  seiner  guten  kaschubischen  Predigten 
wegen  angestellt;  und  Johann  Heinrich  Koller,  der  Hofmeister  des 
Herrn  von  Bandemer,  der  den  Pietismus  in  Garde  einführte,  scheint 
sich  auch  der  kaschubischen  Sprache  angenommen  zu  haben.  Denn 
aus  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  stammen  alle  die  handschrift- 
lichen Bücher ,  die  slowinzische  Eigenart  verraten , '  und  wohl  sämtlich 
in  den  Bestrebungen  der  Schmolsiner  Pastoren  wurzelten:  das  Schmol- 

T  et  in  er,  Die  Slawen  in  Deutschland.  26 


402  Die  Slowinzen. 

siner  Per iko penbuch,  das  Schmolsiner  Gebetbach,  die  Schmolsiner  Er- 
gänzungen und  Glossen  zn  Krofey,  die  Glossen  zu  Pontanns.  Pastor 
Engeland  (1734  bis  1752)  hält  noch  kaschubische  Prüfungen.  1747 
rät  Schimanski  inGlowitz,  man  solle  den  Katechismus  und  die  Heils- 
ordnung deutsch  und  polnisch  in  gespaltenen  Kolumnen  drucken,  aber 
—  um  das  Deutsche  schneller  einzuführen.  In  derThat  ward  1758  der 
Katechismus  des  Pontanus  neu  aufgelegt.  —  Nun  schien  auf  einmal 
das  Slowinzische  erschlafft  Kummers  Sohn  und  Nachfolger  in  Garde 
(1808  bis  1836)  kam  schon  in  eine  ziemlich  deutsche  Gemeinde,  der 
Schulunterricht  war  deutsch;  die  slawische  Predigt  seines  Nachfolgers 
Hafner  (1837  bis  1844)  war  nicht  zu  verstehen,  und  A.  Müller 
(1845  bis  1858)  hielt  nur  noch  einigemal  slowinzisches  Abendmahl. 
Nicht  anders  war  es  in  Schmolsin.  A.  Friderici  (1782  bis  1810, 
f  1819)  war  zwar  der  echten  kaschubischen  Sprache  mächtig,  aber  es 
kamen  nur  noch  40  zum  kaschubischen  Abendmahl,  und  1792  hörte 
der  polnische  Katechismusunterricht  auf;  unter  Kypke  (1817  bis  1830) 
schlief  auch  die  kaschubische  Predigt  ein.  Und  die  unruhigen  Schmol- 
siner, die  den  alten  Pastor  vertrieben  und  mit  Rebellion  und  Schulgeld- 
verweigerung 1830  bis  1838  den  Behörden  getrotzt,  durch  Brand- 
stiftungen die  Sicherheit  gefährdet  und  den  neuen  Prediger  Edel- 
büttel,  weil  er  nicht  kaschubisch  predigen  wollte,  bedroht  hatten, 
fanden  in  dem  alten  Freiheitskämpfer  ihren  Mann.  Er  predigte  1832 
zu  Weihnachten  das  erste-  und  letztemal  slowinzisch,  d.  h.  er  las  die 
Predigt  ab.  Und  damit  war  das  Slowinzische  als  Kirchensprache  er- 
loschen. Die  Behörden  hatten  schon  längst  gewünscht  und  angeordnet, 
dafs  das  Deutsche  immer  besseren  Eingang  fände,  und  Edelbüttel 
war  ganz  der  Mann,  in  einer  so  aufgeregten  Gemeinde  durch  Festig- 
keit einerseits  und  durch  Güte  und  treffliche  geistliche  Wirksamkeit 
anderseits  das  Volk  zu  gewinnen.  Es  handelte  sich  nun  um  ein  fried- 
liches Einschlafen  des  Völkchens,  das  heute  fast  nur  aus  Fischern  be- 
steht und  auf  seinem  Dünensand  mit  den  ostpreufsischen  Letten  zu 
vergleichen  ist. 

Die  von  D  reg  er  angeregte  Streitfrage  greifen  1779  Herr 
von  Wobeser  und  Bernoulli  auf.  Ersterer  meint  mit  Recht,  Kassu- 
ben  und  Wenden  hätten  nie  Landschaften  bezeichnet,  die  Kaschuben 
hätten  bis  Rügenwalde  gewohnt.  Wo  sind  aber  die  Kaschuben  und 
Wenden  geblieben?  Bernoulli  bestätigt,  dafs  er  1778  in  Lupow  eine 
kaschubische  Predigt  gehört  habe.  Vom  Slowinzischen  des  Pontanus 
scheint  man  gar  nichts  gewufst  zu  haben.  Haken  teilt  in  demselben 
Jahre  die  pommer sehen  Slawen  in  drei  Klassen:  beinahe  naturalisierte 
Kaschuben  an  der  westpreufsischen  Grenze,  Istker  am  Meere,  Wenden 
in  der  Mitte  gegen  die  Leba.  Mit  den  Istkern  scheint  er  die  Leba- 
kaschuben,  mit  den  Wenden  die  Slowinzen  zu  meinen.  —  In  demselben 
Jahre  erschien  der  erste  Theil  von  Brüggemanns  Hauptwerk  über 
Pommern,  darin  berichtet  Backe  über  die  Wendisch -Deutschen  (ger- 


Literatur.    Die  Klucken.  403 

manisierten  Slowinzen)  und  Haken  über  die  Lebakaschuben.  ßüsching 
1779,  Brüggemann  1784,  wie  auch  Wutstrack  1793,  geben  im 
grolsen  und  ganzen  die  Angaben  der  vorhin  genannten  wieder.  Die 
kaschubische  Probe  Wut  stracks,  das  Vaterunser,  weicht  von  den 
zuvor  vorhandenen  gedruckten  und  schriftlichen  Fassungen  ein  wenig 
ab.  Easchubisch  und  Slowinzisch  scheint  jetzt  in  eins  verschmolzen. 
Als  Lorek  seine  Arbeit:  »Zur  Charakteristik  der  Kaschuben  am  Leba- 
strom"  in  den  Pommerschen  Provinzialblättern  1821  veröffentlichte, 
machte  der  Herausgeber,  Hakens  Sohn,  die  Bemerkung,  nur  in  Zezenow 
und  Glowitz  werde  noch  in  der  Stolpeschen  Synode  polnisch  gepredigt, 
in  Rowe,  Garde,  Schmolsin  und  Stojentin  seien  höchstens  noch  50  bis 
100  Stockkaschuben.  Trotzdem  war  1828  noch  eine  Neuauflage  des 
Pontanus  nötig1).  Mit  Gründlichkeit,  aber  slawischer  Voreingenommen- 
heit, erfalste  1856  Hilf  er  ding  seine  Auf  gäbe,  die  pommerschen  Slawen 
kennen  zu  lernen.  Er  bereiste  alles  Land  und  trennt  ziemlich  richtig 
die  westpreulsischen  von  den  Lebakaschuben,  Kabatkern  (Glowito)  und 
Slowinzen.  Die  Ausdehnung  ihrer  Gebiete  giebt  er  durch  Aufzählung 
der  Ortschaften  und  rechnet  dabei  zu  Ungunsten  der  Deutschen.  Seine 
Sprach-  und  Dialektproben  sind  die  ersten  derartigen.  Das  slowin- 
zische  Gebiet  ward  dann  meines  Wissens  vor  meiner  Reise  1896  nicht 
wieder  behandelt.  Seitdem  haben  u.  a.  Lorenz  und  Legowski  neue 
dankenswerte  Studien  über  die  Slowinzen  veröffentlicht. 

m.     Die  Klucken. 

1.  Lage  und  Umgebung.  Die  Klucken,  40  an  der  Zahl, 
liegen  unterm  39,05  Längen-  und  54,64  Breitengrade  und  zerfallen 
in  die  Schmolsiner,  Selesener  und  Zemminer  Klucken.  Alle  drei 
bilden  eine  Schulgemeinschaft,  aber  nur  die  ersten  eine  Dorfgemeinde, 
während  die  anderen  zu  den  in  dem  Bestimmungsorte  genannten 
Dörfern  gehören.  Die  Bezeichnung  ist  Eigenname  ohne  Artikel  ge- 
worden, so  dals  man  jetzt  unschön  statt  „in  den  Klucken tt  sagt  „in 
Klucken u.  Die  Schmolsiner  Klucken  sind  am  meisten  deutsch  ge- 
worden, hier  befindet  sich  im  Gegensatz  zu  den  verstreut  liegenden 
anderen  ein  Fahrweg,  der  nach  dem  P/2  Meilen  entfernten  Kirch- 
dorf e  Schmolsin  führt.  Aufserdem  hat  dies  Dorf  die  Schule,  die  Post- 
niederlage, den  Gottesacker  und  —  den  Krug.  Der  Gottesacker  ge- 
hört aber  nur  den  Schmolsiner  Klucken,  die  Selesener  Klucken  begraben 
ihre  Toten  in  dem  l1/a  Meilen  entfernten  Selesen,  die  Zemminer  in 
dem  2  Meilen  entfernten  Kirchdorfe  Glowitz.  Dahin  gehen  auch  die 
Bewohner  der  zuletzt  genannten  Dorfteile  in  die  Kirche,  während  die 
ersteren  beiden  in  Schmolsin  eingepfarrt  sind. 


')  Vgl.   auch  Schafariks   kurze   Erwähnung  der  Ostseeslawen  (Slaw. 
Alt.  II,  S.  408.    Leipzig  1844)  und  anderer  Slowinzen  (II,  S.  330,  344,  498). 

26* 


404  Di©  Slowinzen. 

Die  Klucken  liegen  mitten  im  Lebamoor,  2  km  von  der  Südwest- 
spitze  des  Leb a Sees,  durch  Wiesen  von  ihm  getrennt.  Sie  stehen  kaum 
Va  m  über  dem  Seespiegel /sind  bis  zu  1km  voneinander  entfernt 
und  beherbergen  etwa  550  Einwohner,  von  denen  350  auf  die 
Schmolsiner,  150  auf  die  Selesener  und  50  auf  die  Zemminer  Klucken 
kommen.  Die  letzteren  beiden  liegen,  getrennt  durch  moorige  Wiesen, 
2  km  südlich  von  den  ersteren  und  werden  wieder  voneinander  durch 
den  Eluckenbach  geschieden,  der  die  Schmolsiner  Klucken  nicht  be- 
rührt. Mitten  durch  diese  geht  eine  Sanddüne,  die  hinter  der  Schule 
sich  bergartig  türmt  und  den  Fahrweg  vor  dieser  als  Sandwüste  er- 
scheinen läfst.  Von  diesem  Sandberge  aus  übersieht  man  nicht  nur 
die  durch  Fufspfade  verbundenen  Klucken  und  die  Brücke,  sondern 
den  See  mit  der  Nehrung  und  die  ganze  Kaschubei.  •  Im  Norden  und 
Nordosten  breiten  sich,  unterbrochen  von  Sträuchern  und  schmalen 
Gräben,  die  saftigen  und  bunten  Lebawiesen  aus,  die  im  Schilf  des 
flachen  Ufers  enden.  Zahllose  bekannte  und  nicht  wenige  seltene 
Blumen  schmücken  sie.  Da  finden  wir  das  rote  glockige  Moosglöckchen 
(Linnaea  borealis)  und  den  ährenähnlichen  Sumpfwurz  (Calla),  den  zähen 
grünbraunblätterigen,  weifs  blühenden  Sumpf porst  oder  wilden  Rosmarin 
(Sedum  palustre),  verschiedene  Arten  roten  Ampfer  (Rumex)  und  Augen- 
trost (Euphrasia),  gelbes  Taschenkraut  (Alectorolophus),  weifses  Wollgras 
und  gelben  Löwenzahn  (Leontodon  taraxacum),  Hahnenfufs,  Wegerich 
und  roten  Klee,  braungelbes  Läusekraut  (Pedicularis)  und  weilse  Schaf- 
garbe (Alchemilla  vulgaris),  die  kleine  weilse  Spergel  (Spergula  arvensis) 
und  eine  ebenso  kleine  gelbe  Hahnenfuf sart ,  rotes  Epilobium  und  das 
prächtige  weilse  Herzblatt  (Parnassia),  den  Wasserliesch  (Butomus 
umbellatus),  das  Pfeil-  und  das  Habichtskraut,  den  roten  Stendel, 
Sitter  oder  Sumpfwurz  (Epipactis  latif olia)  und  das  Knabenkraut ,  den 
Engelsüfs  und  die  Hundskamille  (Anthemis  arvensis),  das  Sumpf  - 
vergifsmeinnicht  und  den  seltenen  Tannenwedel,  wie  den  zarten  Wasser- 
nabel (Hydrocotyle  vulgaris).  Verschiedene  Heidearten  schmücken  das 
ärmlichere  Land ,  so  die  rötliche ,  gipfelglöckige  Erica  tetralix  und  die 
schlankere  Calluna  vulgaris.  Im  Bache  aber  leuchtet  die  schöne  gelbe 
Teichrose  (Nymphaea  lutea)  und  die  Kaschubenraute,  die  sonst  Wasser- 
pest genannt  wird.  In  dem  sich  westwärts  anschlietsenden  Walde  sieht 
man  Birken,  Buchen  und  Eichen,  Heidelbeeren,  Haselsträucher,  Fichten 
und  Kiefern. 

Nordwärts  erglänzt  der  meilenbreite  blaue  Lebasee.  Weifs  leuchten 
die  Dünen  der  Nehrung,  an  deren  Fuls  sich  Wälder  anschliefsen. 
Brauender  Nebel  verbirgt  das  zur  Schmolsiner  Hofkammer  gehörige 
Gut  Dambee  (Eichen),  das  von  zwei  Familien  bewohnt  wird.  Hierher 
geben  die  Kluckener  oft  ihr  Vieh  in  die  Weide  und  müssen  dafür 
jährlich  pro  Stück  etwa  15  Mk.  bezahlen.  Im  Osten  der  Nehrung  vor 
den  Ruinen  der  Lebamünder  Kirche  liegen  die  Häuschen  des  Dörfchens 
Rumbke,  das  nach  Schmolsm  eingepfarrt  ist.     Westlich  von  der  Düne 


Pflanzenwelt    Geschichte  der  Elucken.  405 

breiten  sieb  nach  den  Gehöften  kleine  Kartoffeläcker,  sowie  zahlreiche 
Baumgruppen  neben  Kohlfeldern  und  Moorstichen  bis  zum  Walde  aus. 
Am  Ende  aber  winkt  auf  bober  Düne  ein  Leuchtturm.  Im  Südwesten 
ragt  der  beilige  Berg  der  Kaschuben,  der  sagenumwobene  Revekol,  an 
dessen  Fulse  Scbmolsin  liegt.  Yon  hier  fahren  auf  sandigem  Wege 
nordwärts  Heu  -  und  Torf  wagen  am  Kanal  bin ,  der  die  beiden  Seeen 
verbindet.  Bis  übers  Knie  versinkt  man  oft  im  Sande. .  Ein  Zieh- 
brunnen ist  weitbin  sichtbar,  dann  wendet  der  Weg  rechts  nach  den 
Klucken  ab,  überall  durch  Sand,  den  man  scherzweise  „Hamburger 
Schnee"  nennt.  Der  Süden  zeigt  Binsen  wiesen  und  Moorstriebe,  unter- 
brochen von  Baumgruppen.  Die  Aussiebt  endet  mit .  jener  nadelholz- 
bewachsenen Hügelkette,  aus  der  im  Süden,  boeb  erhoben,  die  Turm- 
spitze von  Glowitz  schaut.  Dabin  führt  jetzt  von  den  Zemminer  Klucken 
aus  ein  Fahrdamm.  Auch  der  weite  Osten  ist  flach,  hat  Wiesen  und 
Moorgegend  und  endet  in  Wald  und  Hügel.  Man  erblickt  die  Strand- 
dörfer Fuchsberg  oder  Giesebitzer  Moor,  Giesebitz,  die  Leb  am  ün  düng, 
Speck,  Babidoll,  Czarnowske  und  das  Badestädtchen  Leba. 

2.  Ortsgeschichte.  Die  Klucken  sind  alte  Siedelungen,  die 
schon  zu  Beginn  des  vorigen  Jahrhunderts  einen  heimischen  Schul- 
lehrer, Pollex  (1738),  hatten;  ursprünglich  sind  die  Häuser  wohl 
Ausbauten  der  betreffenden  Dörfer  gewesen,  und  aus  den  Schmolsiner 
Barchenbüchern  kann  sicher  nachgewiesen  werden,  wann  die  Neu- 
siedelungen  selbständig  wurden.  Die  Bewohnerzahl  ist  früher  eine 
sehr  geringe  gewesen..  Zu  Beginn  des  vorigen  Jahrhunderts  wohnten 
in  den  Schmolsiner  Klucken  nur  9  Familien,  heute  sind  es  über  60, 
die  Selesener  weisen  20,  die  Zemminer  8  Familien  auf.  Von  diesen 
90  Familien,  unter  denen  sich  in  den  Selesener  Klucken  ein  Haus- 
stand Zigeuner  befindet,  sind  nur  die  des  Lehrers  und  des  Gastwirts 
rein  deutsch,  eine  andere  (Reimann)  ist  mit  ihren  vielen  alt  an- 
sässigen Verzweigungen  halb  slowinzisch  geworden.  So  kommt  es,  dafs 
wir  nur  wenige  deutsche  Familiennamen  antreffen.  Und  da  aufserdem 
seit  alters  fremde  Siedler  nur  schwer  in  die  Klucken  gelassen,  und  meist 
Verwandtschaftsheiraten  geschlossen  werden,  so  ist  die  Zahl  der  Namen 
eine  geringe.  In  den  Schmolsiner  Klucken  herrscht  von  Anbeginn  die 
Familie  Klück,  sie  weist  22  Hausstände  auf,  aufserdem  10  Pollex 
und  8Keimann.  In  den  Selesener  Klucken  walten  die  Namen  Kirck, 
Czirr  und  Ruch,  in  den  Zemminer  der  letztere.  Andere  Familien- 
namen, die  häufiger  vorkommen,  sind  Proy,  Eick,  Krietzsch, 
Gabbey,  Gromoll,  Kaitzschik,  Damaschke,  Wogatzki. 

So  kam  es,  dals  1857  unter  57. Schülern  18  Klück,  13  Kirck, 
10  Ruch,  4  Pollex,  3  Reimann  waren,  1875  unter  72  Kindern 
50  Klück.  Die  Zahl  der  Knaben  überwiegt  die  der  Mädchen,  1880 
waren  unter  82  Schülern  50  Knaben.  Zum  Unterschiede  setzt  der  Lehrer 
den  Schülern  des  Vaters  Vornamen  vor.  Aus  der  Geschichte  der  Klucken 
ist  erst  seit  der  Mitte  des  18.  Jahrhunders  etwas  bekannt.    Es  werden 


406  Die  Slowinzen, 

die  ersten  Lehrer  Pollex  (1738)  und  Heiek  (1747)  namhaft  gemacht; 
letzterer  war  „ein  junger  geschickter  Mann" ,  unter  ihm  sollte  eine 
Schule  gebaut  werden,  was  jedoch  erst  1863  geschah.  In  vorigem 
Jahrhundert  wirkte  einer  aus  der  Familie  Klück.  Er  war  früher  See- 
fahrer und  wurde  Schulhalter,  weil  er  Schaden  genommen  hatte  und 
nun  lahm  war.  Die  Kinder  brachten  ihn  selbst  in  die  Schule  und 
nach  Hause.  Er  bezog  zwölf  Thaler  Gehalt  und  verfertigte  wahrend 
des  Unterrichts  hölzerne  Löffel  und  Holzpantoffel.  1849  hatte  der 
Ort,  wie  so  viele  Grofsstädte,  seine  regelrechte  Revolution,  #ie  sich  in 
der  Zeit  der  Steuer  Verweigerer ,  nach  Edelbüttel,  folgendermafsen 
abspielte.  Schon  1848  wollte  man  in  Selesen  kein  Zollgeld  bezahlen, 
gab  aber  schliefslich  klein  bei.  Die  Selesener  und  Schmolsiner 
Klucken  widersetzten  sich  aber  weiterhin,  Chausseebeiträge  abzuliefern, 
da  sie  ja  selbst  keine  Chaussee  hätten  und  bekämen.  Die  Exekution 
wiesen  sie  durch  stummen  Widerstand  ab.  Am  5.  Juli  in  aller  Frühe 
rückten  1  Offizier,  7  Unteroffiziere  und  43  Soldaten  mit  klingendem 
Spiel  von  Stolp  aus  in  Schmolsin  ein.  Am  6.  früh  6  Uhr  zogen  sie 
unter  Trommelschlag  in  den  Klucken  ein,  nahmen  74  Schafe,  viele 
Schweine  und  mancherlei  Hausgerät.  Dann  ging  es  nach  Schmolsin 
zurück,  wo  anderen  Tages  alles  verkauft  werden  sollte.  Die  Kluckener 
kamen  aber  hinterher,  borgten  sich  Geld  in  Schmolsin  und  bezahlten 
die  Kosten,  die  von  13  auf  126  Thaler  gestiegen  waren.  Zwei  Selesener 
blieben  indessen  standhaft  und  wurden  am  7.  nachmittags  durch  einen 
Trupp  von  12  Soldaten  nochmals  ausgepfändet,  und  eine  Kuh  wurde 
nach  Schmolsin  getrieben.  Die  Geschädigten  gingen  schnell  nach,  lösten 
sie  ein,  wie  jene  die  Schafe  und  Schweine,  und  zogen  teils  lachend, 
teils  scheltend  zurück.  Ein  Klück  aber  rief  dem  Rittergutsbesitzer 
Herrn  v.  Bandemer  zu:  „Wenn  uns  der  König  auf  der  einen  Seite 
und  die  Herren  auf  der  anderen  ausplündern,  so  kann  nichts  über- 
bleiben.44 Er  erhielt  einen  Kolbenstofs  und  flache  Säbelhiebe,  und  der 
Führer  der  Exekution  wollte  ihn  mitnehmen;  durch  inständiges  Bitten 
erlangte  er  aber  Vergebung.  —  Damals  hatten  die  Schmolsiner  Klucken 
153,  das  Kirchspiel  3709  Einwohner.  Die  Schule  wurde  in  einer  Stube 
abgehalten,  die  eine  Witwe  auf  Gorni  geschenkt  hatte.  Der  Lehrer 
und  Schneider  Gabbey  hielt  in  einer  Stube  seines  Wohnhauses  Schule; 
1863  wurde  ein  Schulhaus  gebaut  und  ein  seminaristisch  gebildeter 
Lehrer,  Fröhling,  angestellt,  der  nun  in  deutscher  Sprache  unter- 
richtete. Er  begann  mit  der  Kultivierung  des  Bodens,  die  durch  den 
jetzigen  Schmolsiner  Pfarrer  Neumeister  und  den  Kluckener  Haupt- 
lehrer St  odtmeister  zu  einer  nicht  mehr  vergänglichen  gestaltet  wurde. 
Der  Boden,  auf  dem  die  Klucken  gebaut  sind,  sucht  an  Ungast- 
lichkeit  seinesgleichen  und  ähnelt  nur  dem  Czarnowkes.  Zwischen 
See  und  Dorf  ist  Wiesenland,  das  aber  den  Kluckenern  nicht  gehört. 
Als  nämlich  die  Regierung,  um  den  armen  Bewohnern  aufzuhelfen, 
diese  saftigen  Lebawiesen  umsonst  gegen  geringe  Grundsteuer  anbot, 


1 


Die  Klucken  um  1848.     Gehöftnamen.  407 

nahmen  sie  das  Geschenk  nicht  an  und  riefen  dem  Yerkünder  zu: 
„Dat  möt  wat  sin,  dat  is  en  Seelenverkdper."  Die  Selesener  dagegen 
griffen  dankend  zu  und  scheuten  den  meilenweiten  Weg  nicht.  Nun 
müssen  sich  die  Kluckener,  die  so  wenig  Gras  haben,  das  schönste 
Heil  vor  der  Nase  wegholen  lassen,  schelten  auf  die  Witterer  jener 
Seelen  verkeper  und  ergreifen  jede  Gelegenheit,  ein  Stück  Wiese  zu 
erwerben,  um  nicht  das  teure  Heu  kaufen  zu  müssen.  An  die  Wiesen 
schliefst  sich  südwärts  reiner  Sandboden  an,  der  Hauß  und  Zaun, 
Baum  und  Stein  zuweht  und  nur  mit  Mühe  abgewehrt  wird.  Diese 
Sandstrecke  ist  nur  schmal,  aber  alle  Schmolsiner  Klucken  stehen  in 
dieser  Wüste,  die  noch  westlich  in  den  Wald  hineinreicht.  Weiter 
südlich  folgt  Moorboden,  der  die  Grundlage  der  Selesener  und  Zemminer 
Klucken  bildet,  aus  diesem  aber  hat  man  durch  Kultur  doch  einige 
Felder  und  Wiesen  gewonnen.  Das  fruchtbare  Land  beginnt  erst 
südlich  von  den  Klucken,  nach  einer  stein-  und  kiesreichen  Gegend. 
Die  Bodenschichten  beim  Brunnengraben  sind  dieselben.  In  den 
Schmolsiner  Klucken  folgten  beispielsweise  auf  drei  Meter  zu  Tage 
liegenden  Sand  ebenso  viele  Meter  Moor  und  dann  Kies. 

Wie  fanden  sich  nun  die  slawischen  Siedler  mit  diesem  Boden  ab? 
Von  einer  runden  Dorf  anlage,  wie  bei  Garde,  konnte  schon  des  ungleich- 
artigen, meist  unbrauchbaren  Landes  wegen  nicht  die  Rede  sein.  Die 
Gehöfte  baute  man,  wo  man  es  für  gut  hielt,  nur  die  Schmolsiner 
Klucken  bilden  eine  Straf se.  Die  beigefügte  Karte  (Abb.  170)  des 
einzig  noch  slowinzisch  zu  nennenden  Dorfes  bietet  ein  typisches  Bild 
der  ganzen  Art  der  Anlegung,  wie  sich  erst,  fast  planlos,  Gehöft  mit 
eigenem  Namen  an  Gehöft  ansiedelt.  Sie  zeigt  auch  die  Zerstücke- 
lung der  minderwertigen  Fluren,  wie  sie  sich  infolge  der  fortgesetzten 
gegenseitigen  Abgrenzung,  sowie  infolge  der  übertriebenen  Erbteilerei 
und  des  Klebens  an  der  Scholle  entwickelt  hat.  Jeder  Siedler  nahm 
sein  Stück  und  gab  ihm  einen  Namen.  Der  Name  des  Stückes  blieb, 
auch  wenn  es  wiederholt  geteilt  worden  war.  Diese  Einrichtung 
finden  wir  ebenso  in  Litauen  und  genau  so  in  anderen  kaschubischen 
Dörfern.  So  hielsen  die  Teile  Zezenows :  Czegorke,  Czeschinitz,  Gawreuz, 
Kateuz,  Pablitz,  Pasitz,  Schlauschitz,  Schlippnitz,  Tomschütz,  Toplilz. 
Die  Teile  von  Giesebitz  führen  die  Namen:  Bijelawa,  Bilowa,  Birk- 
Lessagurka,  Bobann,  Buttaw,  Czefka,  Dobrowka,  Jerusalem,  Gonlätsch, 
Kamstätsch,  Klina,  Kwistrow(Quisdofka),Misk(Mui8k),  Nord,  Oberstraf  se, 
Poagekraug  (Froschkrug),  Pajanke  (Pajnik,  Parzonka,  Paris),  Saborra, 
Samuczefka,  Sekampja,  Woiistrow,  Wolitsch,  Zoll.  Die  Schmolsiner 
Klucken grundstücke  (vergl.  Abb.  170)  führten  die  Namen:  Dambowi, 
Gorni,  Grczendovi,  Jach,  Lugowi,  Novidomski,  Pawelki,  Piaskowi,  Zickor. 
Diese  Namen  waren  so  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen,  dafs  bei* 
spielsweise  in  der  Schulliste  unter  Beschäftigung  einfach  der  Name 
Gorni  oder  Zickor  geschrieben  wurde,  und  Marie  Klück  Pawelks  Marie 
genannt  ward.     Jeder  dieser  Teile  hatte   nun,  aufser  seinen  Stücken 


408  Die  Slowinzen. 

Wiese,  Acker  und  Unland,  für  gewisse  Stücke  Vieh  Weidegerechtigkeit. 
Brachte  ein  Teil  mehr  Kühe,  so  mufste  dafür  Bezahlung  geleistet 
werden.  Ursprünglich  erbte  nur  der  älteste  oder  der  jüngste  Sohn 
das  Grundstück,  später  teilte  man  alles  regelmäfsig,  so  dals  Jetzt  an- 
nähernd 30Q  zu  den  9  Teilen  gehören.  Man  teilte  nicht,  etwa  •  zu- 
sammenhängend, sondern  jede  Sorte  Land  für  sich,  so  data  ein  solcher 
Teil  jetzt  eine  ganze  Menge  kleiner,  unzusammenhängender  Teile  in 
Haus  und  Feld  hat,  die  naturgemäls  die  Quelle  von  Familienprozessen 
sein  müssen,  zumal  die  Teilungen  nie  gerichtlich  festgesetzt  worden 
waren.  Dazu  kommt  das  Unangenehme ,  dafs  eben  keiner  ein  neues 
Heim  baut,  oder  auswandert,  oder  Geld  statt  des  Teiles  nimmt.  Es  will 
durchaus  jeder  „Besitzer"  —  sei  es  auch  nur  einer  Handbreit  Erde  — 
sein,  und  wenn  drei  Familien  in  einer  Stube  zusammen  wohnen  müssen 
und  die  Kate  immer  mehr  Flickwerk  wird. 

In  einem  solchen  Katenteil  geschehen  hintereinander .  mehrere 
Sterbefälle,  die  Frau  bleibt  allein  übrig  und  yerläfst  aulserdem  ans 
irgend  einem  Grunde  gleichfalls  die  Wohnung,  um  eine  andere 
ererbte  zu  beziehen.  Die  Stube  steht  seit  Jahr  und  Tag  leer,  die 
Scheiben  sind  zerbrochen,  Ungeziefer  nistet  sich  ein.  Ich  frage: 
Warum  verkauft  denn  die  Frau  ihren  Anteil  nicht,  obwohl  Käufer 
genug  da  sind?  „Und  wenn  sie  1000  Thaler  bekäme,  will  sie  das 
Stück  nicht  hergeben,  weil  es  ja  ihren  Vätern  gehörte."  So  kommt 
es,  dafs  auch  die  Schmolsiner  Klucken  keinen  aus  den  anderen  auf 
ihrem  Gottesacker  begraben  lassen;  der  Gottesacker  gehört  eben  nur 
ihnen,  und  keine  Summe  kann  genügen,  ein  Eckchen  abzutreten. 
Und  sogar  die  Kämmerei  giebt  kein  Land  für  den  Gottesacker 
weiter  her. 

3.  Haus  und  Hof.  Das  Urgepräge  des  slowinzischen  Hauses 
ward  durch  fortwährenden  Anbau  verwischt,  ist  aber  doch  wieder  zu 
erkennen.  Die  Vorderseite  ist  meist  der  Strafse  abgekehrt.  Die  Wände 
sind  aus  Fachwerk  oder  blofsem  Lehm  gebaut,  öfter  ist  der  untere 
Teil  mit  Brettern  beschlagen,  die  Rückseite  aber  mit  Schilf  verstärkt. 
Die  Lehm  wand  ist  etwa  2  m,  der  zugeschrägte  Giebel  weitere  3  m  hoch. 
Das  Dach  ist  mit  Schilf schindel  bedeckt,  trägt  ein  Storchnest,  eine  bis 
zur  Erde  reichende  Feuerstange  oder  Feuerleiter  und  zeigt  erst  neuer- 
dings —  einen  Schornstein.  Die  alten  Holzessen  werden  immer  seltener, 
doch  sind  selbst  die  Rauchkaten  (Abb.  171)  noch  ziemlich  häufig  anzu- 
treffen, bei  denen  sich  der  Herdrauch  seinen  Ausweg  durch  Fenster, 
Thür  und  Bodenluke  suchen  muls.  Rauchkaten  giebt  es  aufserdem 
auch  noch  in  Garde.  Die  Vorderseite  des  Hauses  ist  in  zwei  Teile 
geschieden,  die  beiden  Thüren  stoben  mit  den  Bändern  aneinander 
und  halbieren  das  Haus  (Abb.  172).  Je  ein  kleines  sechsteiliges  Fenster 
und  ein  Hausfensterchen  seitlich  oberhalb  der  Thür  kennzeichnen  die 
Vorderseite,  die  oben  über  der  Thür  augenförmig  aufgebogen  ist  und 
je   eine  Heuluke  enthält.     Unter  den  Fenstern  sind  Bänke,  daneben 


Hausbau. 


409 


Abb.  171. 


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Torf-  oder  Brennholzschichten.  Die  Hausflur  ist  meist  in  zwei  Teile 
geschieden,  deren  hinterer  die  Küche  bildet.  Zu  dieser  führt  geradeaus 
eine  Thür,  zur  Stube  seitwärts  eine 
solche,  hinter  der  Stube  ist  noch 
eine  Kammer.  Der  Stubenthür 
gegenüber  stehen  meist  die  Betten, 
seitwärts  der  Herd  und  eine  Kom- 
mode oder  ein  Glasschrank. 

Die  Grundform  wird  verschie- 
dentlich abgeändert;  so  finden  sich 
je  zwei  statt  eines  Fensters,  oder  die 
Fenster  sind  in  der  Mitte  und  die 
Thüren  aulsen,  zuweilen  folgt  der 

Reihe  nach  Thür  auf  Fenster,  in  Rauchkate  in  den  Belesener  Klucken. 
anderen  Fällen  sind  die  Ställe  gleich  Auf  eingerammten  Stubben  liegen  Steine; 
seitlich  angebaut.  —  Die  Lehm-  darüber  Gersalsbau.  Der  Boden  ist  oben 
wände  ruhen  selten  auf  Stein,  mit  Lehm  festgemacht  und  mit  Sand 
häufig  auf  Stubben  und  Balken.   Die    ^T*'    a\iohnc  ^cke»  da%I)ach.ii8t 

°  .  i_   o     •   n»  sichtbar;     a  Kleiner  Vorraum  (zuweilen 

Diele  fehlt  meist,  auch  Steinniesen    feWt    die  Wand    zwischen   a    und    b), 

sind  selten,  oft  ist  der  glatte  Moor-  b  Küche  mit  b'  Kamin,  c  Stube  mit  zwei 
boden  mit  Lehm  gemischt,  mitunter     Himmelbetten.      d    leere    kleine    Stube. 

ist  das  blolse  Moor  mit  Sand  be-    * e  »***»&♦•     Gegenüber  liegt  eine 

,        ,      „.  .     „         i     ,      .  wr  «  ▼on    drei    Seiten    mit   Kiefern    als    Um- 

streut.  Kein  Haus  hat  einen  Keller,  2äunung  umgebene  Raucllkate,  deren 
man  baut  einen  solchen  auf  steiner-    Rückseite  ron  Schilf  beflochten  ist  und 

ner  Grundlage  auf  die  platte  Erde  eine  Thür  mit  zwei  Luken  aufweist.  Vor 
kegelförmig ,     etwa    4  m    breit    und     der  Rückseite   ein   8  m   langes  Kartoffel- 

3m  hoch,  man  belegt  ihn  mit  Holz  fcld'  vor  der  Vorde"eite  cin  Gärtchen. 
und  Schindel  und  bewahrt  Kartoffeln  darin  (vgl  Abb.  173,  S.  410). 
Ähnlich  sieht  auch  der  Backofen  aus,  er  ist  nur  halbkugelförmig,  besteht 

Abb.  172. 


Slowinzisches  regelmäfsiges  Haus. 

a,  a  Hausthür.  —  b,  b  Hofthür.  —  c,  c  Stubenthür.  —  d,  d  Kammerthür.  — 
e,  e  Fenster.  —  f,  f  Hausflur.  —  g,  g  Stube.  —  h,  h  Kammer.  —  i,  i  Küche.  — 
k,  k  Betten.    —    1,1   Tisch   mit  Stühlen.    —    m,  m    Kachelofen    mit   Ofenbank.    — 

n,  n  Kommode  oder  Glasschrank.   —   o,  o  Koffer. 


Die  Slowinzen. 


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Hausbau. 


411 


aus  Lehm  und  hat  eine  Eisenthür  an  der  abgeschrägten  Vorderseite 
(Abb.  173). 

Beim  Gehöft  (Abb.  174,  175  und  176)  liegen  der  Vorderseite  die 
Stallungen  oder  Gärten  gegenüber,   jene   wie  die  Wirtschaftsgebäude 

Abb.  174. 


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Gehöfte  in  den  Selesener  Klucken. 
a  Wohngebäude;  auf  Stubben,  darauf  Steine,  dann  Balken  mit  Fachwerk,  b  Stall. 
b'  Entenstall  aus  Weidengeflecht,  c  Vorratschuppen ;  Dach,  ohne  Grundmauern.  Giebel- 
zier auf  der  einen  Seite:  Doppelter  Pferdekopf,  darüber  Modell  eines  Zweimasters. 
Bei  c'  Thüreingänge  mit  je  drei  Teerkreuzen;  Fisch  als  Wetterfahne;  Dach:  Schilf- 
schindel; Dreiecksseiten:  Bretter,  d  Dünger,  e  Ziehbrunnen,  f  Torf,  g  Eingang 
ins  Gehöft,     h  Kiefernwäldchen,     h'  Gärtchen  mit  Kirschbaum,     i  Hof.     k  Feld. 

sind  gewöhnlich  seitlich.     Die  andere  Seite  ist  für  den  Eingang  frei, 
der  jedoch  auch  zwischen  den  Gärten  durch  auf  den  Hof  führen  kann l). 


*)  Über  die  ältere  slowinzische  Bauweise  vgl.  Backe:  Die  Bauart  ist 
nach  der  Landwirtschaft  bequem  eingerichtet.  Der  Hof'  ist  von  den  Wirt- 
schaftsgebäuden ganz  eingeschlossen,  und  man  fährt  durch  das  Thorzimmer 
auf  denselben,  wo  auf  der  einen  Seite  die  Scheunen,  auf  der  anderen  die 
Stallungen  sind,  über  deren  einer  oder  etlichen  der  Kornboden  sich  befindet, 
und  aus  diesen  kann  man  unter  einem  hervorragenden  Dache  auf  einem  Pflaster 
nach  dem  Hause  zu  gehen.  Ins  Haus  führt  ein  grofses  Thor,  weil  sie  einen 
Teil  ihres  Heues  oder  Erbsen  über  dem  Flur  verwahren.  Auf  einer  Seite  des 
Flurs  ist  das  Torfmagazin,  die  Hille  und  Flocke  für  die  Hühner,  weiter  hin 
die  Thür  in  den  Kohlhof,  und  darauf  in  einer  Reihe  die  Betten  in  der  Achter- 
luft, oder  Achterherd,  die  durch  ein  Fenster  erleuchtet  wird,  und  wo  die 
grofse  hohe  Kirte  der  Hausfrau  steht,  imgleichen  der  Eingang  in  den  Keller. 
Gemeiniglich  ist  für  Wirt  und  Wirtin  ein  Bette,  welche  aber  im  Winter  und 
wenn  sie  kleine  Kinder  haben,  in  der  Stube,  oder  Nadup  schlafen,  darauf 
ein  oder  zwei  Gastbetten,  und  dann  die  Betten  für  das  Gesinde  und  die 
gröfseren  Kinder.  Zu  diesen  Betten  müssen  sie  auf  ihren  grofsen  Kummen 
oder  Kästen  hinaufsteigen;  und  weil  sie  so  nahe  an  der  Decke  sind,  hinein- 
kriechen, und  kann  sich  niemand  darin  aufrichten,  ohne  mit  dem  Kopfe 
anzustofsen.  Gegen  den  Hauseingang  über  ist  der  Feuerherd  unter  einem 
Schwibbogen,  und  daran  stöfst  die  ordentliche  Wohnstube.  Auf  der  anderen 
Seite  ist  noch  eine  Stube  nebst  den  nötigen  Vorratskammern,  auch  meisten- 
teils noch  ein  Ausgang.  Ihr  aus  Gerste  und  schwarzen  Erbsen  oder  auch 
Feldbohnen  gebackenes  Brot,  wozu  nur  ein  kleiner  Teil  von  Boggenmehl 
kommt,  wird  auf  der  rechten  Seite  des  Feuerherdes   in  der  Höhe  auf  einer 


412 


Die  Slowinzen. 


Abb.  175. 


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Gehöft  in  den  Schmolainer  Klucken. 

a   Wohnungen.      b    Ställe.       c    niedriger    Vorraum, 
d  Wirtschaftsgebäude,    e  Garten,    f  Torf,    g  Eingang. 

Abb.  176. 


Die  G&rten  haben  selten  einen  Zaun,  sind  jedoch  mit  einem  Rande  von 
Fichten,  Birken  oder  Kiefern,  auch  Apfelbäumen  umgeben,  die  2  m  von- 
einander entfernt  sind.     Viel  mehr  als  Kartoffeln  und  Kohl  wird  darin 

nicht  gebaut,  doch  be- 
findet sich  zwischen  Gar- 
ten und  Wohnhaus  anf 
dem  Hofe  oft  neben  dem 
Schöpfbrunnen  ein  Gärt- 
chen,  wo  Salat  und  Ge- 
müse, ein  Obstbaum  oder 
Beerenstrauch  gedeiht. 
Ein  von  dünnen  Asten 
geflochtener  Entenstall 
und  eine  Hundehütte, 
die  immer  den  gleichen 
sch&ferhundartigen  klei- 
nen Hund  beherbergt, 
runden  das  Bild  des 
Hofes  ab.  Die  Felder 
und  Wiesen  stofsen  meist 
nicht  ans  Gehöft,  jene 
bieten  Kartoffeln  und 
Hafer  und  seit  etwa 
20  Jahren  auch  Korn. 
Um  den  unfrucht- 
baren Sand-  und  Torf* 
boden  nutzbar  zu 
machen,  sind  verschie- 
dene Versuche  angestellt 
worden,  aber  die  begut- 
achtenden Herren  kamen 
immer  zu  dem  Aus- 
spruch: „Hier  gedeiht 
weder  Baum  noch 
Strauch."  DerThatkraft 
zweier  M&nner  gelang  es  aber  doch,  aus  Wüsten  Paradiese  zu  zaubern ; 
das  sind  Neumeister  und  Stodtmeister. 

In  den  70  er  Jahren  hatte  der  Schmolainer  Pastor  bereits  dem  frühe- 
ren Lehrer  mit  Bäumen  aus  seinem  Garten  und  Ratschlagen  die  Hand 

Brottrage  aufbewahrt,  woselbst  es  im  Winter  nicht  leicht  friert.  Es  ist  ganz 
gut  für  einen  starken  Arbeiter,  aber  für  einen  zärtlichen  Geschmack  macht 
der  Torfgeruch  und  der  strenge  Erbsengeschmack  es  sehr  unangenehm;  son- 
derlich wenn  bei  Mifswachs  es  aus  lauter  Gerstenmehl  und  Erbsen  oder 
Wicken  verfertigt  wird,  da  es  wohl  bei  den  stärksten  einen  Ekel  wirkt, 
welchen  sie  den  Brodt-Koag  nennen,  d.  i.  eine  langsame  Krankheit  (Fritzower 
Gegend). 


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Gehöft  in  den  Schmolsiner  Klucken. 

a  Rauchkate  in  Fachwerkbau.  b  nach  aulsen  zu 
öffnende  Thür.  c  nach  innen  zu  öffnende  Thiir. 
d  Fenster,  e  Heuluke,  f  kleine  Fenster,  g  Schöpf- 
brunnen, h  Kartoffelfeld,  umgeben  von  Birken, 
Fichten,  Apfel-  und  Weichselbäumen.  i  kleiner 
Garten  mit  Salat  und  einem  Apfelbaum,   k  Landstrafse. 


Kultur  der  Klucken.  413 

zur  Urbarmachung  eines  Stückes  Land  geboten.  Es  erstand  ein  Garten, 
dessen  Spuren  nicht  untergegangen  sind.  Die  baldige  Versetzung  des 
Lehrers  und  die  Abgeneigtheit  seiner  Nachfolger  für  Gartenbau  lietsen 
alles  verkümmern.  Folgen  wir  dem  Berichte  Stodtmeisters ,  der  1886 
von  der  alten  Arbeit  nur  wenig  mehr  vorfand.  „Die  Schulwohnstube 
hatte  bestofsene  Thüren  und  Wände,  die  Tapeten  waren  zerrissen,  die 
Schulstube  befand  sich  in  ähnlichem  Zustande,  Bücher  fehlten  gänzlich; 
sofort  liefe  der  Schulvorstand  das  Gröbste  in  Ordnung  richten,  zur 
Pflasterung  der  Küche  liels  er  sich  aber  nicht  herbei,  da  er  selbst  nicht 
einmal  in  der  Stube  Steinbelag  hatte.  Vom  Schulgarten  sah  man  noch 
Spuren  früherer  Anlagen  und  Anpflanzungen.  Die  einst  von  fleifsigen 
Händen  gepflanzten  jungen  Obstbäume  und  Beerensträucher  waren 
meist  ausverkauft,  einige  waren  des  Nachts  gestohlen  worden.  Da  der 
Zaun  um  den  Garten  fehlte,  so  konnte  es  auch  nicht  ausbleiben,  dals 
die  noch  übrigen  Bäume  vom  Vieh  befressen  und  bestofsen  wurden/ 
Nun  schickte  der  Pastor  eine  Einspännerfuhre  Beerensträucher,  Kirsch- 
bäume u.  s.  w.  Der  Lehrer  mischte  den  Sand  mit  Torfgräbenaus- 
wurf, pflanzte  und  jätete  und  schuf  einen  wirklichen  Garten.  „An 
der  westlichen  Seite  des  Schulgartens  lag  ein  zur  Schule  gehöriges 
Stück  Unland,  auf  welchem  die  Bewohner  weideten  und  Streusand 
gruben.  Es  war  der  Wunsch  der  königl.  Regierung,  dies  Stück  Land, 
etwa  vier  Morgen,  zu  tragbarem  Lande  umzuwandeln;  aber  kein  Vor- 
gänger that  es."  Nun  grub  auf  Anraten  des  Pastors  der  Lehrer 
einen  Viertelmorgen  aus,  erhöhte  ihn  durch  Moorboden  und  Gräben- 
auswurf und  pflanzte  Hopfen  und  Gichorie.  Daß  war  nicht  lohnend 
genug;  da  versuchte  er  mit  guten  Erfolge  es  mit  Korn.  Sofort  gab 
die  königl.  Regierung  40  Mk.  Belohnung  und  forderte  zu  weiterer 
Urbarmachung  auf.  1887  wurde  ein  Stück  zwischen  dem  Schulgarten 
und  der  Viehweide,  1888  ein  anderes  fertig.  Da  gewährte  die  königl. 
Regierung  150  und  179  Mk.,  und  der  Kammerherr  v.  Bandemer 
schickte  seine  Begutachtung  der  königL  Regierung  ein.  Nun  wurde 
immer  weiterer  Boden  ertragfähig  gemacht,  und  des  Kaisers  Gnade  und 
die  Anerkennung  von  Seiten  der  Regierung  wurden  dem  Lehrer  wieder- 
holt zuteiL  Man  kaufte  ihm  eine  Wiese,  baute  ihm  eine  Scheune  für 
1300  Mk.  und  unterstützte  ihn  überall. 

Jetzt  ist  das  grolse  Schulgrundstück  ein  blühendes  und  frucht- 
reiches Paradies.  Schwerer  Roggen  gedeiht  auf  den  Feldern,  und  Obst 
und  Wein  blinken  dem  Wanderer  entgegen.  Hat  denn  die  segens- 
reiche Arbeit  des  Lehrers  Nachahmung  gefunden  ?  Leider  nicht  allent- 
halben. Wohl  wurden  von  der  königl.  Regierung  Preise  zu  weiterer 
Urbarmachung  ausgesetzt.  Da  machten  sich's  einige  leicht  und 
setzten  Kiefern  in  den  Sand,  den  meisten  anderen  dauerte  die  Zeit 
zwischen  Saat  und  Ernte  zu  lange.  Sie  wollten  noch  selbigen  Jahres 
Früchte  sehen  und  lielsen  alles  liegen,  als  die  Bäumchen  so  langsam 
wuchsen.     Zudem  liebt  der  Slowinze  die  Früchte  nicht,  sie  sind  ihm 


414  Die  Slowinzen.  l 

0 

lediglich  ein  Verkaufsstück  für  den  Markt  Einige  Einwohner  aber 
haben  sich  des  Lehrers  Wirksamkeit  znm  Vorbild  genommen.  Beson- 
ders eifrig  ging  man  daran,  auch  Boggenfelder  anzulegen,  und  diese 
nehmen  jährlich  an  Zahl  zu.  Andere  Eluckener  von  zäherer  Ausdauer 
betrieben  die  Anlage  von  Gemüse-  und  Obstgärten.  Die  ersteren  sind 
zahlreicher,  die  letzteren  finden  wir  bei  drei  Einwohnern.  Im  Schul- 
garten stehen  100  Obstbäume,  einzelne  kümmerliche  hat  fast  jeder 
Besitzer.  Um  einen  Begriff  vom  Beichtum  jenes  Gartens  zu  geben, 
wo  vor  25  Jahren  Sand  inmitten  von  Sande  lag,  will  ich  die  wichtig- 
sten Gewächse  darin  anführen.  Es  gedeihen  Johannis-,  Stachel-,  Wein-, 
Hirn-  und  Erdbeeren;  Äpfel,  Birnen,  Kirschen,  Pflaumen,  Walnüsse; 
Bohnen,  Kartoffeln,  Salat,  Radieschen,  Gurken,  Kürbis,  Sellerie,  Peter- 
silie, Zwiebeln,  Hopfen,  Cichorie,  Buben,  Kohl;  Bösen,  Nelken,  Georgi- 
nen, Päonien  in  Buchsbaumumrandung.  1895  verkaufte  der  Lehrer 
2Va  Centner  Honig  aus  neun  Bienenstöcken,  für  10  Mk.  Hopfen,  für 

13  Mk.  Eierpflaumen,  für  eine  ziemliche  Summe  Obstwein.  Früher 
baute  man  das  wenige  Gemüse  auf  dem  Felde,  jetzt  säen  viele  schon 
drei  bis  vier  Scheffel  aus  und  lassen  jenes  im  Garten  gedeihen;  eine 
Familie  brachte  für  50  Mk.  Zwiebeln  auf  den  Markt.  Mit  einiger 
Sorgfalt  wird  Kartoffelbau  auf  dem  Torflande  getrieben.  Abgesehen 
von  den  Stichen,  die  man  zur  Torfkultur,  nämlich  zur  Erlangung  der 
Brennsoden  bestimmt  hat,  behandelt  man  das  Moorland  an  günstigen 
Stellen  wie  Ackerland  und  baut  Buben,  Hafer  und  besonders  Kartoffeln. 
Die  Behandlung  des  Bodens  geschieht  auf  folgende  Art:  Man  sticht 
mit  dem  Spaten  etwa  0,2  m  tief  den  heidebewachsenen  Torf  heraus, 
wendet  ihn  um  und  lätst  die  Pflanzendecke  als  Dung  verfaulen.  Oben 
darauf  streut  man  wieder  Dünger  und  gräbt  dann  im  nächsten  Frühling 
nochmals  um.  Abzugsgräben  nehmen  das  Wasser  auf,  so  dats  die 
höher  liegenden  breiten  Beete  trocken  bleiben..  Diese  Gräben  müssen 
immer  gereinigt  werden,  und  den  Gräbenauswurf  benutzt  man  zur 
Düngung  sandiger  Grundstücke.  Die  gründlichste  Grabung  findet 
nach  Frühlingsanfang  statt  Dann  wird  nochmals  gedüngt  und  ge- 
graben und  im  Mai  mit  dem  Kartoffelstecken  begonnen.  In  den 
folgenden  zwei  Monaten  wird  mit  einer  karstartigen  Hacke  das  Un- 
kraut entfernt  und  das  Kartoffelhacken  zweimal  vorgenommen.  Die 
Kartoffelernte  ist  sehr  reichlich,  der  Name  „Kartoffelkaschubei",  den 
die  Einheimischen  gebrauchen,  zutreffend.  Mit  Leichtigkeit  und  ohne 
Gerät  nimmt  man  mit  der  Hand  unter  dem  Kartoffelkraut  die  Knollen 
weg  und  legt  gleich  im  Moor  grolse  Mieten  oder  Haufen  an,  in  denen 
man  die  Kartoffeln  aufhebt.  Meist  sind  sie  fast  luftdicht  von  der 
Aulsenwelt  durch  Schilflagen  abgeschlossen.  Im  April  schafft  man  die 
übrigen  Kartoffeln  auf  die  Scheunentennen  und  rüttelt  sie  alle  8  bis 

14  Tage  rollend  auf  dem  Boden  mit  den  Händen  hin  und  her,  dats 
die  Keime  abbrechen.  Der  Kartoffelreichtum  gewährt  die  Mittel  zu 
reichem  Viehstand;    in   dem  nahen  Giesebitz  werden  wohl   50  Stück 


Beschäftigung.  415 

Mastvieh  auf  einmal  verladen;  Rind  und  Schwein  sind  gut  genährt, 
der  mangelnde  Wieswachs  wird  durch  Kartoffeln  und  Ruhen  aus- 
geglichen. Wie  der  Kluckener  auf  feine,  reine  Geräte  in  Haus  und  Hof, 
auf  dem  Acker  und  der  See  halt,  so  sorgt  er  auch  für  reichliche  Dün- 
gung. Geschieht  dies  letztere  auch  nicht  allgemein,  so  treibt  doch  die 
Not  und  der  dürftiger  werdende  Fischfang  immer  mehr  dazu.  —  Wie 
lange  wird  es  dauern,  so  erntet  vereinzelt  der  Kluckener  gleich  dem 
Giesebitzer  seine  15  Scheffel  Roggen  auf  dem  Morgen  gepflegten  Acker- 
landes! Freilich  ist  das  Ackerland  sehr  selten  und  teuer,  und  der 
Bau  auf  dem  Moorlande  ist  leichter.  Die  aufgeworfenen  Moorhäufchen 
geben  grofsen  Landstrecken  ein  eigentümliches  Aussehen.  Noch  einer 
Ernte  ist  zu  gedenken,  die  erträglich  ist,  das  ist  der  Schilf  schnitt  am 
Seeufer.  Er  erfordert  keine  Mühe  und  Auslagen  als  eben  das  Schneiden 
und  soll  beispielsweise  dem  Giesebitzer  Rittergutsbesitzer  an  2000  Mk. 
einbringen.     Man  benutzt  das  Schilf  zu  Schindeldach  ung. 

4.  Beschäftigung.  Garten-,  Ackerbau  und  Viehzucht  bilden 
nicht  den  Haupterwerb  des  Slowinzen  1).  Aufser  Schafen,  Ziegen, 
Schweinen,  Enten,  Gänsen,  Tauben  und  Hühnern  besitzen  die  Schmol- 
siner  Klucken  8  Pferde  und  140  Kühe;  von  letzteren  gehören  3  der 
Schule.  Keiner  hat  mehr  als  ein  Pferd,  bei  festlichen  Gelegenheiten  thun 
sich  immer  zwei  zu  einem  Gespann  zusammen.  Die  herrschaftliche  Jagd 
erstreckt  sich  auf  unsere  bekannten  Wildarten,  zu  denen  auf  der  See- 
seite wilde  Enten  und  Schnepfen  kommen.  Die  hauptsächlichste  Be- 
schäftigung aller  ist  die  Fischerei.  Doch  treibt  eben  jeder  alles,  fischt 
früh,  bessert  an  seinen  Hausgeräten  mittags  und  versorgt  nachmittags 
das  Feld  und  den  Torfstich.  Alle  nennen  sich  „Eigentümer",  auch 
Wirt  oder  Besitzer;  einer,  der  ein  Haus  für  sich  hat,  ist  „Büdner";  ein 
einziger  Tagelöhner  ist  ohne  eigenes  Heim;  sonst  führt,  abgesehen  vom 
Lehrer  und  Wirt,  je  einer  die  Bezeichnung  Tischler,  Schneider  und 
Dachdecker. 

Die  Hauptbeschäftigung  nun,  die  Fischerei  auf  dem  Lebasee,  er- 
fordert genaue  Kenntnis  der  Netzarten.  Das  wichtigste  Netz  ist  die 
Zese,  mit  der  man  auch  in  den  Haffen  fischt.    Sie  gilt  für  den  Lebasee 

l)  Vgl.  Haken  über  die  Beschäftigung  des  Slowinzen  1779:  Sie  sind 
zu  Künsten  und  sogar  zu  Wissenschaften  nicht  ungeschickt,  indem  manche 
Bauernsöhne  dieser  Gegend  Gelehrte  geworden  sind,  und  man  unter  ihnen 
viele  antrifft,  die  durch  ihr  eigenes  Nachdenken  und  Fleifs  in  Schiff-,  Häuser- 
und  Mühlenbau,  in  der  Uhrmacherkunst  und  dergleichen  auch  viele  Ge- 
schicklichkeit erworben  haben.  Das  weibliche  Geschlecht  legt  sich  auf 
Spinnen  und  Weben,  so  dafs  sie  alles,  was  sie  an  leinen,  wollen  und  halb- 
wollen Zeug  gebrauchen ,  selbst  verfertigen ,  die  Wolle  auch  selbst  färben ; 
das  männliche  pfleget  zu  stricken,  wenn  es  mit  der  Feldarbeit  nicht  be- 
schäftigt ist,  und  die  Holzpantoffeln,  welche  sie  im  Hause  und  bei  der  Arbeit 
tragen,  für  sich  und  die  ihrigen  zu  verfertigen.  Zum  Beweise  ihrer  Wirt- 
schaftlichkeit dienet,  dafs  Knechte  und  Mägde  sich  von  ihrem  Lohn  zu 
erübrigen  suchen,  und  letztere  sonderlich  sich  Leinen  und  Betten  erwerben, 
um  damit  eine  eigne  Wirtschaft  anzufangen. 


416  Die  Blowinzen. 

als  „Fischfresser"  und  ist  jetzt  verboten,  trotz  aller  Bitten  der  Klucke- 
ner.  Die  Zese  ißt  eine  richtige  Mausefalle,  auch  der  Gestalt  nach; 
die  ich  sah,  war  etwa  2m  breit  und  dreimal  so  lang.  An  der  oberen 
Seite  sind  Holzstücke  aus  Pappelborke  befestigt,  sie  werden  von  den 
Slowinzen  Pluto,  von  den  Niederdeutschen  Flete  genannt  und  dienen 
dazu ,  dafs  das  Netz  offen  bleibt.  Die  kegelstumpff örmige  Maschen- 
kehle oder  Mäternitz  zeigt  den  Fischen  den  Weg  ins  Gefängnis.  „Was 
da  herein  ist,  kommt  nicht  wieder  heraus u,  sagte  man  befriedigt.  Die 
Slowinzen  meinen,  es  sei  ein  grolses  Unrecht,  dafs  man  ihnen  die 
Zese  entzogen  habe.  Jeder  Vernünftige  müsse  einsehen,  dals  sie  nur 
grotse  Fische  fange,  und  gerade  die  kleinen  Arten  würden  immer  sel- 
tener. Aulserdem  wülste  man  ja  gar  nicht,  wovon  man  weiterhin  leben 
solle.  „Wir  wollen  Se.  Majestät  bitten,  uns  nur  die  Zese  wiederzugeben, 
ohne  ihn  wird  sie  nicht  wieder  erlaubt. tt  Der  Oberförster  von  Schmolsin 
hat  mit  eiserner  Hand  auf  Erfüllung  der  Vorschriften  gehalten,  dals 
nicht  Raubfischerei  getrieben  wird. 

Ähnlich  der  Zese  ist  die  Reuse,  nur  dafs  sie  stufenweise  spitz 
zuläuft  und  statt  der  Fleten  Bogenreifen  besitzt.  Die  Kehle  beginnt 
1  Va  m  vom  Anfang  und  vom  Ende  zwischen  dem  zweiten  und  dritten 
Reifen.  Eine  Abart  der  Zese,  die  Flunderzese,  wühlt  mit  Bleistücken 
im  Grundsande,  ist  in  der  Mitte  eng  und  vorn  und  hinten  gleich  breit. 
Die  Zese  wird  von  zwei  Booten  mit  je  zwei  bis  vier  Mann  Besatzung 
in  die  Mitte  genommen.  Ein  kleines  Staknetz  führt  den  Namen  Klimjo 
oder  Klemenz.  Eine  andere  kehlenlose  Netzart,  die  sich  bei  den 
Slowinzen  schwerer  einbürgert,  weil  sie  eine  Neuerung  ist  und  zu 
viel  kostet,  ist  die  Wjidnik.  Sie  hat  nur  Flügel  und  ein  Meternetz 
(Mazeza).  Die  Maschen  werden  hinten  immer  enger  und  haben  nur 
noch  1,5  cm  Breite.  Man  windet  die  Wjidnik  mit  Kähnen  auf  dem 
Lebasee,  daher  hat  sie  auch  ihren  Namen  (slow,  wjio  =  winden).  Ihr 
ähnelt  die  Brozeschke  (von  slow,  bruodzec  =  waten),  die  nur  im 
Flach wasser  gebraucht  werden  kann.  Zur  künstlichen  Fischerei  nimmt 
man  Streichnetze.  Viel  verwendet  wird  der  Kescher,  insbesondere  der 
Zauwekescher  (Ziehkescher)  oder,  wie  man  abergläubisch  umgedeutet 
hat,  der  Zauberkescher.  „In  den  geht  alles  hinein. tt  Er  ist  ein  ein- 
facher kurzstieliger  Hamen  (vgl.  Abb.  58,  S.  153)  wie  ein  Schmetter- 
lingsnetz, der  Bügel  ähnelt  einem  kleinen  Ballschläger  im  Wurfball- 
spiel. Man  fängt  Plötze,  Barsche,  Aale,  Schleien,  Hechte,  Bleie,  Zander, 
Dorsche  (Pomuchel),  selten  Lachse.  Auf  dem  Meere  wird  selten  ge- 
fangen, obwohl  es  durch  die  Leba  mit  dem  See  verbunden  ist.  (Vgl. 
die  Netze  der  Kuren,  S.  153.) 

Die  künstliche  Winterfischerei  verdient  besonders  hervorgehoben 
zu  werden,  sie  wird  von  andauernder  Romantik  umkrönt.  Im  Sommer 
trinken  die  Kameraden  jeder  Abteilung  in  gehobener  Stunde  „auf 
Rechnung  des  ersten  Winternetzes u,  die  jungen  Mädchen  bleiben  nicht 
zu  Hause  und  beteiligen  sich  unter  Scherz  an  der  harten  Arbeit,  und 


Fischerei.  417 

das  ganze  Dorf  lauscht  gespannt  auf  den  Ausgang  jedes  Zuges.    Zwölf 
Teilhaber  oder  Maschkops  wählen  unter  sich  für  den  linken  Flügel 
(Lewie)  und  für  den  rechten  (Prawig)  je  einen  Kapitän  und  nehmen 
eine  Anzahl  Arbeiter  (Mandelniks)  an,  darunter  auch  Mädchen.     Ein 
Teilhaber  macht  den  Schenken,  der  rund  herum  den  Schnaps  gleich- 
mäßig   einschenkt.      Den   Teilhabern    gehören    die  Netze,    die    unten 
spitzen   Kähne  mit  flachem   Boden  und   die  gröfseren    unten  breiten 
Boote  gemeinschaftlich;  sie  teilen  später  die  grofsen  Fisch  arten,  wäh- 
rend die  Arbeiter  die  kleinen  bekommen,  alles  nach  altem  Brauch.    Die 
Arbeiter  bekommen  für  ihre  ganze  Arbeit  nichts,  wenn  keine  kleinen 
Fische  im  Netze  sind,  und   die  Teilhaber  haben  umsonst  Mühe  und 
Zeit  verschwendet,   wenn    nur  kleine  Fische  ins   Netz  gingen.      Die 
Arbeiter  gehen  des  Wassers  wegen  in  ganz  kurzen  Hosen  mit  ebenso 
langen  Taschen,  in  die  mitunter  grofse  Fische  wandern  sollen.     Jeder 
macht  seine  Arbeit  und  hilft  dem  andern  nicht.     Nun  hackt  man  zwei 
grofse  und  viele  kleine  Löcher  in  eiförmiger  Anlage.     An  der  Spitze 
wird  das  sackförmig  endende  Netz,  befestigt  an  je  einer  Stange  mit 
Seil,  eingesenkt.     Dieses  Netz  ist  sehr  grots,  das  Fuchsberger  milst 
100  Klafter  =  150  m  auf  jedem  Flügel.    Die  Stange  (Prat)  wird  durch 
eine  kürzere  mit   Zwiesel   versehene  Richtstange   (Klatsch)   nach   der 
nächsten  Eisöffnung  gelenkt  und  von  einer  ebenso  kurzen  Gaffelstange 
(Wjidl,  poln.  widly)  dahin  geschoben.     Das  Ruder  heilst  Wjisl  (poln. 
wioslo).     So  geht  es  auf  beiden  Seiten  von  Loch  zu  Loch,  am  grofsen 
Endloch  holt  man  das  Netz  heraus.     Inzwischen  ist  unter  Gesprächen 
immer  die  Flasche  herumgegangen  und  das  Brot  aus  der  Lischke  ver- 
zehrt worden.     Die  Lischke  ist  ein  starker,  geflochtener  Spankasten, 
reichlich  }/2  m  lang,  nicht  ganz  halb  so  hoch  und  breit.     Sie  hat  einen 
ebensolchen  übergestülpten  Deckel  mit  lederner  Handhabe  in  der  Mitte. 
Nun   teilen    die  Teilhaber  ihre  Fische  in   12  Teile,    die  Arbeiter  die 
ihrigen.     Einer  mufs  dem  Schauplatz  den  Rücken  wenden  und  wird 
gefragt:  eis  stuga?  (wessen  sind  sie?).     Er  nennt  die  Namen,  und  die 
inzwischen  mit  Karinen  herbeigeeilten  Kinder  und  Frauen  schaffen  die 
Fische    sofort   nach  Hause    und   eilen   damit   in   die    nächstliegenden 
Dörfer  und  Städte  zum  Verkauf.     Die  Karine  ist  ein  kleiner  Rücken- 
tragkorb,  die  Vorder-    wie    die  Hinterseite  hat  einen  BügeL      Auch 
Nichtbeteiligte  kommen,  um  billig  Fische  zu  erwerben,  falls  der  Fang 
ein  guter  war.     Die  Teilung,  die  im  Winter  auf  dem  Eise  geschieht, 
nimmt   man   im   Sommer   in    der  Nähe   der   Pustiniebrücke  vor,    wo 
die  Kähne  landen.      Es  ist  schon  vorgekommen,   data   ein  Netz  für 
1500  Thaler  Fische  herausgezogen  hat;    in  Fuchsberg  fing  man  im 
Januar  1891  für  2400  Mk.  Bleie  auf  einen  Zug.    Die  armen  Kluckener, 
die  bei  der  Zesenfischerei  erwischt  werden,  müssen  das  erstemal  15Mk. 
Strafe,  das  zweitemal  das  doppelte,  das  drittemal  das  vierfache,  dann 
das  achtfache  zahlen.      „Ein   Zug   bringt   alles    wieder   ein",   trösten 
sich   die  in   ihr  Schicksal  Ergebenen.     Jetzt  kommt  gewöhnlich    ein 

Teten  er,  Die  Slawen  in  Deutschland.  27 


418  Die  Slowinzen. 

Großhändler  und  kauft  die  Fische  gleich  vom  Eise  weg,  da  giebt  es 
dann  nach  glücklichen  Zagen  abends  ein  lärmendes  Fest  im  Krage; 
sonst  ilst  man  nie  daselbst.  Aber  bei  solcher  Gelegenheit  schmaust 
man  Hering  und  Brot  und  bis  zum  frühen  Morgen  —  Schnaps. 

Zum  Vergleich  sei  auf  die  Fischerei  eines  der  westlichen  Kirchspiele 
des  ehemaligen  slowinzischen  Gebietes  aufmerksam  gemacht,  aus  dem 
Backe  vor  einem  Jahrhundert  einen  Bericht  über  die  Wendisch-Deutschen 
veröffentlichte:  auf  die  Fischerei  des  Fritzower  Kirchspiels.  Dieses  liegt 
am  Fritzower  See,  dem  nördlichen  Teile  des  Camminer  Boddens,  der 
erweiterten  Dievenow  -  Mündung.  Vom  Fritzower  See  flielst  die  Die- 
venow  in  westlicher  Richtung  und  läfst  eine  kilometerbreite  Nehrung 
zwischen  Bodden  und  See  liegen,  derart,  data  am  Beginn  der  Nehrung, 
im  Osten,  Klein -Dievenow,  ein  ehemaliges  Vorwerk  von  Fritzow,  liegt. 
In  einer  Entfernung  von  3  km  westlich  folgt  der  jetzige  Hauptteil, 
Berg-Dievenow,  und  noch  1  km  Ost-Dievenow.  Gegenüber,  auf  Wollin, 
V*  km  entfernt,  liegt  West-Dievenow.  Es  heilst  deshalb  WeBt-Dievenow, 
weil  es  am  Westufer  der  Dievenow  liegt,  von  Ost-Dievenow  liegt  es 
südlich.  West-Dievenow  ist  ein  altes  Fischerdorf,  die  drei  anderen 
Dievenow,  besonders  Ost-  und  Berg-Dievenow,  sind  jetzt  beliebte  See- 
bäder. Die  Fritzower  und  Camminer  Fischer  fischen  im  Bodden,  die 
Dievenower  fast  nur  auf  dem  Meere.  Der  Hauptsache  nach  treiben 
diese  Dievenower  den  Störfang.  Sie  befahren  mit  ihren  grofsen 
Kuttern  die  ganze  Küste,  ja  bis  zu  den  Ostseeprovinzen.  Immer  thun 
sich  mehrere  Fahrer  zusammen  und  verkaufen  den  Fang  dann  an  der 
Küste.  Das  Störnetz  wird  aus  50  Pfund  Baumwolle  hergestellt.  Der 
Schwere  dieses  Netzes  wegen  macht  man  jetzt  nur  halbe  Netze  xa 
25  Pfund.  Die  Netze  stricken  die  Fischer  den  Winter  über  mit  Nadel 
und  Bock  (Abb.  177)  oder  bekommen  aus  Itzehoe  das  fertige  Garn,  das 
Abb.  177.  zuvor  in  OstpreuIsen; .  der  dortigen  billigen  Löhne 

wegen,  gesponnen  -  wird.  In  Dievenow  wird  dann 
nur  das  Tau  dazu  gemacht.  Die  Maschen  haben 
70  bis  80  mm  Knotenlänge.  Ein  halbes  Netz  ist 
20  Maschen  tief  und  70  bis  75  Klafter  breit.  An 
der  oberen  Breitseite  wird  die  neunte  Masche  am 
Tau  mit  Faden  festgeschlagen  (Schlag),  alle  vier 
Netznadel  mit  Bock.  Schläge  wird  ein  Korkflols  oder  eine  Flete  befestigt, 
ein  Stück  Kork,  V4  m  lang,  halb  so  breit  und  etwa  s/4  ^m  dick-  An  der 
unteren  Breitseite  sind  an  der  19.  oder  20.  Masche  etwa  20  grofse  Zink- 
ringe befestigt,  die  36  cm  im  Durchmesser  halten  und  das  Netz  auf  dem 
Grunde  festhalten.  Vier  solche  halben  Netze  („Länge"  oder  „Worp") 
sind  in  einer  Länge  zusammengesteckt  und  stehen  etwa  4  m  über  dem 
Meeresgrunde.  In  einer  Linie  mit  einiger  Unterbrechung  stellt  man 
nun  120  halbe  Netze  auf  dem  Meeresgrunde  auf  und  man  hat  zwei  bis 
drei  Stunden  zu  segeln,  wenn  man  den  ganzen  Jagdgrund  übersehen 
will.     Würde  man  die  Netze  auf  einem  kleineren  Räume  aufstellen,  so 


2 


Netze.  419 

wäre  der  Fang  nicht  ergiebig  genug.  Jede  L&nge  wird  an  beiden 
Seiten  verankert.  Der  Anker  liegt  schief  abseits,  oben  ist  die  Steuer- 
leine mit  dem  Schwimmholz,  auch  Bake,  Steuer  oder  Sweeke  (Rügen) 
genannt,  das  ist  ein  kahn&hnliches  Holzstück  mit  Fahne.  Das  Anker- 
seil ist  30  m ,  die  Leine  am  sogenannten  Schulmeister  etwa  20  m  lang. 
Der  Störfang  währt  vom  Februar  bis  September.  Jede  Fahrt  von 
Swinemünde  in  den  Rügener  Fischgrund,  eine  Entfernung  von  fünf 
deutschen  Meilen,  dauert  etwa  zwei  Tage.  Die  Netze  liegen  immer 
auf  dem  Meere,  müssen  aber  im  Sommer  alle  14  Tage,  im  Frühjahre 
alle  sechs  Wochen  herausgeholt  und  getrocknet  werden,  dafs  sie  nicht 
verfaulen.  Der  Fang  wird  nach  Salsnitz,  Cammin,  Stettin  oder  Swine- 
münde gebracht,  wo  gewisse  Händler  stete  Verwendung  haben.  Es 
kommt  vor,  dafs  gar  kein  Stör  eingegangen  ist,  zuweilen  hat  man  elf 
und  mehr  gefangen.  Der  Händler  bezahlt  45  bis  60  Pf.  für  das  Pfund, 
und  ein  Stör  wiegt  etwa  einen  Centner. 

Gleich  wichtig  ist  der  Flunderfang.  Das  Flundernetz  zählt 
1400  Maschen  oder  2800  Knotenlängen  und  ist  20  Maschen  oder 
40  Knoten  tief,  die  Knotenlänge  beträgt  55  mm.  Acht  bis  zehn  Netze 
werden  zusammengebunden.  Im  ganzen  liegen  50  Netze  auf  einem 
Jagdgrunde.  Oben  schwimmt  Pappelborke  oder  Kork,  unten  halten 
dünne  Bleiröhrchen  das  Netz  straff.  An  den  seitlichen  Enden  sind  die 
14  bis  15  Klafter  langen  Seile,  G renke  genannt,  befestigt.  Von  den 
Grenken  aus  reicht  ein  Seil  mit  dem  vorhin  erwähnten  Schwimmholz 
nach  oben.  Morgens  2  Uhr  wird  auf  den  Fang  gefahren,  um  9  oder 
10  Uhr  ist  man  zu  Hause.  '  Der  Flunderfang  dauert  vom  Frühjahr  bis 
zum'  Herbst,  die  Netze  stellt  man  dicht  am  Lande.  Die  Fische  bleiben 
mit  den  Kiemen  in  den  Maschen  hängen  und  verstricken  sich  durch 
seitliches  Schlagen  immer  mehr.  Im  Flundernetz  fangen  sich  auch 
Steinbutten,  Dorsche,  Barsche. 

Das  Staknetz  ist  1000  Maschen  lang  und  40  Maschen  tief.  Auf 
jeder  Seite  sind,  wie  beim  kurischen  Kurrennetz,  noch  grofse  Maschen 
(Letringe),  so  dafs  sich  die  Fische  wie  in  einem  dreifachen  Sack  fangen. 
Das  Staknetz  ist  also  nicht  straff  gezogen,  sondern  lose  zusammen- 
gedrückt und  ist  ein  richtiges  Jagdnetz,  mit  dem  man  im  Bodden 
Barsche,  Hechte,  Plötze,  Breitfische  fängt. 

Das  Winternetz  ist  vom  kurischen  nicht  unterschieden  und 
wird  von  Camminer  und  Fritzower  Schiffern  auf  dem  Bodden  benutzt, 
der  im  Winter  stets  zufriert.    • 

Mit  der  Zese  fischt  man  im  Herbst  am  Strande  auf  Flundern. 
Die  bei  den  Kuren  und  Slowinzen  am  Lebasee  gebräuchliche  Zese 
kennt  man  hier  nicht.  Die  Dievenower  Zese  ist  fünf  Klafter  lang, 
vorn  drei,  hinten  zwei  Klafter  breit,  hat  keine  Kehle  und  eine  Knoten- 
länge von  30  mm.  Hinten  sind  die  Maschen  dieses  Zesensackes  etwas 
enger  und  stärker.  Kork  oder  Pappelborke  hält  den  einen  Teil  der 
Zese  oben,  Knorren  oder  Röhrenbleistücke  den  anderen  unten.     Zur 

27* 


420  Die  Slowinzen. 

Zese  braucht  man  zwei  Boote,  Jedes  hat  ein  Zesenende  an  einer  150  m 
langen  Leine  (Flunderleine).  Alle  Y^m  ist  eine  Strohwiepe,  alle  2  m 
ein  Stein  befestigt.  Die  Strohwiepe  ist  ein  kleines  Strohbündel  und 
besteht  aus  einem  Dutzend  in  der  Mitte  zusammengebrochener  Halme. 
Jetzt  will  man  auch  Kehlen  in  die  Zesen  machen,  weil  der  Fang  immer 
weniger  lohnend  wird. 

Weniger  einträglich  ist  hier  der  Fang  auf  .Kaulbarsche,  Aale, 
Lachse;  man  bedient  sich  zu  diesem  Zwecke  lieber,  der  Angeln,  die 
auch  im  Meere  in  langen  Reihen  gesetzt  werden.  Als  Köder  benutzt 
man  den  Taabs  oder  Tobiasfisch. 

Gezählt  werden  die  Fische  nach  Wal.  Ein  Wal  hat  vier  Stiegen 
zu  je  20  Stück.  Hat  man  ein  Wal  abgezählt,  sa  wirft  man  einen 
Wurffisch,  Walhering,  in  einen  danebenstehenden  Kasten,  so  data  man 
an  der  Anzahl  der  Wurfheringe  die  Zahl  der  Wale  erkennt,  der  Wal- 
hering gehört  zum  Wal,  so  data  dieser  in  Wirklichkeit  81  Stück  hat, 
ähnlich  der.  Mandel  zu  vier  Würfen  von  Je  vier  Stück  und  dem  Schock 
zu  4  X  4  X  4  Stück.  —  In  Bügen  dagegen  hat  man  gleich  Netzsäcke, 
die  4  X  84  Stück  fassen;  ein  Wal  hat  dort  also  noch  vier  gute. 

5.  Charakter.  Die  Kluckener  sind  ein  schöner  Menschen* 
schlag,  die  jungen  Burschen  sind  meist  mehr  als  mittelgrols  und  kräftig 
gebaut.  Sie  lernen  gut  in  der  Schule,  avancieren  alle  beim  Militär, 
leisten  als  Seefahrer  Tüchtiges  und  kehren  dann  in  die  Heimat. zurück, 
wo  sie  allerdings  an  der  alten  Kraft  und  Schönheit  allmählich  ein- 
hülsen.  Die  jungen  Mädchen  sind  von  ebenmäßigem,  schönem  Bau; 
auch,  sie  altern  nach  der  Heirat  schnell.  Das  Haar  ist  blond,  den 
Bart  rasieren  die  Männer  meist  am  Kinn  und  den  Backen  glatt  aus. 
Sie  halten  mit  Stolz  an  Standesunterschieden  fest.  Ein  Teilhaber  sieht 
einen  Arbeiter  nicht  für  voll  an,  und  der  Ruf  eines  Arbeiters:  „Heute 
bin  ich  Teilhaber tt,  kennzeichnet  den  Stolz  des  Besitzenden.  Ein  Alt- 
sitzer  hält  sich  für  einen  kleinen  Herrgott,  dem  jede  Arbeit  zu  gering 
ist.  Vor  den  Behörden  aber  hat  man  eine  ungewöhnliche  Scheu,  die 
geben  nach  ihrer  Ansicht  nach  Gutdünken  Gesetze  und  haben  Macht, 
data  sie  erfüllt  werden.  Gern  hätte  man  von  den  Früchten  des  Lehrers, 
aber  nie  stiehlt  man  aus  dem  Garten.  Als  Nahrung  bevorzugte  man 
früher  Klöfse,  die  noch  jetzt  bei  Festen  mit  Obst  verabreicht  werden. 
Man  kocht  Grütze  und  Kartoffeln  zusammen ,  ebenso.  Kartoffeln,  Milch 
und  Fische;  besonders  bevorzugt  man  auf  diese  Weise  gekochte 
Kartoffeln  und  Aale.  Auch  gebackene  grofse  Fische  werden  gern 
gegessen,  die  kleinen  aber  benutzt  man  als  nahrhaftes  Schweinefutter. 
Wie  die  gerösteten  Fische ,  gelten  bei  den  Kaschuben  auch  geröstet 
zerstampfte  Pellkartoffeln  als  willkommene  Speise.  Die  Hauptnahrung 
ist  also:  Fisch  und  Kartoffel,  Klofs  und  Grütze.  Dazu  kommt  an  Stelle 
des  teuren  Kaffees  gebranntes  Korn  oder  noch  lieber  Cichorie.  Fleisch 
ilst  man  selten..  Abstofsend  wirkt  der  unaufhörliche  Schnapsgenufs 
und  das  reichliche  Tabakschnupfen.     Das  Brot  bäckt  man  hier  und 


Äufseres.    Nahrung.    Charakter.  421 

da  mit  Kartoffeln  vermengt  selbst,  meist  holt  man  es  aber  aus  den 
Marktorten.  In  den  Klucken  hat  nur  noch  der  Lehrer  einen  Backofen, 
in  Griesebitz  und  Babidol  giebt  es  noch  mehrere.  Die  Eluckener  nennen 
gekauftes  Brot  scherzhaft  „auf  der  Karine  gebackenestt.  Als  die  beiden 
Hauptgenufsmittel  gelten  Schnaps  und  Gichorie,  beide  für  Mann  und 
Weib.  Gott  habe  sie  den  Menschen  gegeben  wie  die  unentbehrliche 
Luft  und  das  Wasser.  Der  Slowinze  liegt  von  früh  bis  Abend  in  der 
Kneipe  oder  er  trinkt  seinen  Schnaps  zu  Hause.  Die  Frau  tauscht 
heimlich  Eier  gegen  Fusel  ein.  Noch  nach  der  Polizeistunde  um  10  Uhr 
bleiben  einzelne  Männer  vor  der  Kneipe.  Das  kleine  nach  innen  ge- 
bogene Yiertelliterfläschchen  kostet  10  Pfg.;  dabei  sitzen  die  Kluckener 
an  der  einzigen  langen  Tafel  an  der  Vorderwand  und  trinken  aus 
kleinen  runden  Gläschen  immer  aufs  neue.  Aber  sie  brauchen  selten 
einen  Arzt,  der  Schnaps  schadet  ihnen  nichts.  Sie  haben  so  schöne 
Elfenbeinzähne,  dafs  schon  die  ältesten  Chronisten  sie  der  Erwähnung 
wert  halten.  —  Der  Charakter  der  Slowinzen  wird  verschieden  ge- 
schildert 1),  von  sehr  vielen  als  hälslich  und  unlobenswert.  Man 
sagt,  sie  seien  faul,  diebisch,  fischten  und  jagten  ungern,  ausgenommen 
da,  wo  es  verboten  sei  Wenn  man  sie  aufklären  und  eine  Neuerung 
einführen  wolle,  seien  sie  mifstrauisch  und  gingen  nie  darauf  ein. 
Wolle  man  etwas  erreichen,  müsse  man  das  Gegenteil  sagen.  Einen 
Deutschen  würden  sie  nie  offen  und  ehrlich  behandeln,  sondern  be- 
schwindeln. Sie  stellten  sich  immer  dumm  und  wären  äulserst  ge- 
rieben. Wenn  sie  angeklagt  seien,  erschienen  sie  zerknirscht,  dumm 
und  unwissend  vor  dem  Richter,  so  dafs  dieser  jeden  für  halb  unzurech- 
nungsfähig halte  und  den  Angeklagten  freispreche;  dann  aber  juble 


*)  Vgl.  Haken  1779:  „Es  gebührt  ihnen  das  Lob  der  Ehrlichkeit, 
indem  man  bei  ihnen  nur  sehr  selten  Beispiele  von  List  und  Betrug  finden 
wird.  Sie  drücken  im  Reden  und  ganzen  Wesen  geradezu  ihre  natürlichen 
Empfindungen  aus,  wissen  aber  doch  solchen,  welchen  sie  Ehrerbietung 
schuldig  sind,  als  der  Obrigkeit  und  ihren  Predigern,  selbige  thätig  und  mit 
Worten  an  den  Tag  zu  legen.  Sie  begegnen  sich  einander  sehr  liebreich. 
Ihr  festes  Händedrücken  beim  Ankommen  und  Weggehen,  indem  sie  auch 
den  kleinsten  Kindern  die  Hand  geben,  ist  ein  Beweis  davon.  Knechte  und 
Mägde  heiraten,  sobald  als  sie  sich  etwas  erworben  haben,  und  da  solcher- 
gestalt unbeweibte  Knechte  sehr  selten  sind:  so  ist  diese  eine  von  den  vor- 
nehmsten Ursachen,  woher  diese  Gegenden  so  volkreich  sind.  Von  Dieberei 
hört  man  selten,  und  wenn  dergleichen  vorfällt,  so  betrifft  es  das  Obst  und 
Holz,  weil  sie  die  Meinung  hegen,  es  sei  nichts  Sündliches,  was  aus  dem 
harten  Holze  wachse,  zu  nehmen,  wo  man  es  finde.  Gewöhnlich  leben  sie 
mäfsig  und  nüchtern,  und  wenn  sie  bei  feierlichen  Gelagen  es  für  erlaubt 
halten ,  die  Mäfsigkeit  zu  überschreiten :  so  werden  doch  Schlägereien  sorg- 
fältig vermieden.  Gastfreiheit  und  Dienstfertigkeit  kann  man  im  ganzen 
ihnen  nachrühmen,  und  Beisende,  in  Brüche  geratene  oder  im  Schnee  verirrte, 
können,  sobald  als  ihr  Rufen,  es  sei  bei  Tage  oder  zur  Nachtzeit,  gehört 
wird,  sich  die  willigste  Hilfeleistung  versprechen.  Bettler  bekommen  in 
diesen  Gegenden  reichlicher  Almosen  als  sonst,  und  daher  zieht  sich  eine 
Menge  derselben  von  anderen  Orten  dahin." 


422  Die  Slowinzen. 

der  Slowinze  hoch  auf,-  lache  sich  eins  ins  Fäustchen  und  prahle:  den 
hab'  ich  aber  schön  beschwindelt!  Selbst  unter  sich  seien  sie  neidisch 
und  prozetssüchtig,  sie  gönnten  niemand  etwas,  nur  sich.  Sie  sprachen : 
das  kann  ich  schon,  wenn  ich  will;  aber  ich  will  nicht. 

Ich  stimme  diesem  Tadel  nicht  bei.  Freilich  sind  sie  schlau  und 
mifstrauisch ,  arbeiten  nicht  gern  viel  und  haben  die  gemachte  Arbeit 
lieber  als  die  zu  bewerkstelligende.  Aber  das  ist  bei  vielen  armen 
Landbewohnern  der  Fall,  wieviel  mehr  erst  bei  einem  Volke,  das  jahr- 
hundertelang unterdrückt  und  geringschätzig  behandelt  worden  ist! 
Ich  habe  so  viel  Gastfreundschaft  und  Herzlichkeit,  so  viel  Bereitwillig- 
keit und  Zutrauen,  Gutmütigkeit  und  Friedensliebe,  Vaterlandsstolz 
und  Un Verdorbenheit  gefunden,  data  die  kleinen  Fehler  daneben  ver- 
schwinden. Auch  die  Vorliebe  fürs  Alte  und  der  Hang  am  Herkömm- 
lichen verdient  mehr  Lob  als  Tadel. 

6.  Kleidung.  Die  Kleidung  ist  jetzt  nicht  anders  als  unsere 
bei  geringen  Leuten.  Bot  und  blau  gekreuzte  Zeugjacken,  lange 
Gehröcke  und  kurze  Joppen  aus  schlechtem  Zeug  tragen  die  Männer, 
den  Kopf  bedeckt  eine  Mütze.  Die  Frauen  sind  meist  aufgeschürzt, 
haben  Kattun  Jacken  und  kurze  Tuchröcke.  Die  altertümliche,  ärmellose, 
eng  anliegende  Miederjacke  über  weitbauschigen  Hemdärmeln  kommt 
auch  noch  vor.  Sonntags  ist  die  Mädchenkleidung  hell.  Ehemals  war 
die  Kleidung  schwarz.  Die  Männer  trugen  Böcke,  gefüttert  mit  Fries, 
ohne  Taschen,  Falten  und  Knöpfe,  dafür  Haken  und  Ösen.  Das  Kamisol 
war  von  Zwillich  aus  Leinen  und  schwarzer  Schafwolle.  Backe  be- 
richtet: „Diejenigen,  welche  sie  zum  Staat  anziehen,  lassen  sie  braun' 
färben,  welches  sie  Muts-,  das  ist  Moolsfarbe  nennen.  Diese  sind  mit 
grünem  Bande  eingefafst  und  schliefsen  sich  dicht  an  die  Hand,  so  dafs 
sie  vor  dem  Bocke  hervorragen,  und  diese  Ärmel  sind  an  den  Seiten 
wohl  mit  acht  Knöpfen  zugeknöpft.  Unter  diesen  haben  sie  noch 
Brusttücher  von  bunten  Kallmank,  mit  welchen  sie  vorzüglich  prangen. 
Im  Winter  und  auf  Reisen  tragen  sie  Stiefeln,  im  Sommer  mit  ledernen 
Biemen  zugebundene  Schuhe,  zu  Hause  aber  und  bei  der  Arbeit,  Holz- 
pantoffeln. Die  Beinkleider  von  Leder  oder  Zwillich  haben  an  den 
Taschen  viele  Knöpfe,  und  sind  an  den  Knieen  mit  bunten  Bändern, 
welche  die  Mädchen  zu  weben  und  zu  verschenken  pflegen,  zugebunden. 
Ihre  Hüte  sind  steif  und  rund,  ohne  Ecken  aufgestützt,  mit  einem 
schwarzen  seidenen  Bande  umgeben,  zur  Winterzeit  aber  tragen  sie 
insgesamt  rauhe  Mützen.  Das  weibliche  Geschlecht  geht  öffentlich 
nicht  anders  als  schwarz  gekleidet.  Ihre  Jopen  sind  von  schwarzen, 
sehr  glänzend  gepreisten  Zibeth,  am  Halse  und  auf  den  Schultern  mit 
schwarzen  Borten  eingefafst.  Die  Ärmel  gehen  dicht  auf  die  Hand, 
sind  oben  in  der  Schulter  fast  in  der  Dicke  einer  Hand  mit  Wolle  aus- 
gestopft, welche  Ausstopf ung  aber  allmählich  gegen  die  Hand  zu  ab- 
nimmt, so  dafs  der  Ärmel  die  Form  eines  Pistolenholfters  zu  haben 
scheint.     Ihre  Oberröcke  sind  gleichfalls  schwarz,  die  Schürzen  von 


Frühere  Kleidung.    Alltagsleben.  423 

schwarzen  oder  grünen  und  blauen  Rosch,  und  die  kurzen  Röcke 
darunter  von  eben  dem  braunen  Zeuge,  woraus  die  Camisöler  der 
Mannsleute  verfertigt  sind.  Alle  tragen  rote  Strümpfe  und  gemeinig- 
lich Pantoffeln,  wenn  sie  in  die  Kirche  gehen.  Ihre  Haare  sind  drei- 
strehlich  geflochten,  wozu  sie  etliche  Bind  grün  oder  baumwollen  Garn 
nehmen,  ohne  data  dieses  zu  sehen  ist.  Die  Flechte  wird  hinten  am 
Ende  in  der  Rocks-Einfassung  befestigt.  Blonde  oder  goldgelbe  Haare 
machen  eine  grofse  Schönheit  aus.  Unverheiratete  gehen,  wenn  sie 
geputzt  seyn  wollen,  mit  blofsem  Kopfe,  um  welchen  ein  oder  auch 
wohl  mehrere  schwarzseidene,  an  beiden  Enden  mit  einem  Blümchen 
von  ihrer  Hand  gestickte  B&nder  gehen,  deren  Enden  hinten  an  der 
Flechte  herunterhangen.  Dazu  haben  sie  noch  eine  schwarzsametne, 
mit  schwarzen  Borten  besetzte  und  etwas  ausgestopfte  Binde  oder 
Stichel  um  den  Kopf,  die  inwendig  mit  rotem  Frißls  gefüttert  ist.  Der- 
gleichen aber  dürfen  nur  Jungfern  tragen,  nicht  aber  geschwächte.  Die 
Schnürleiber  sind  gewöhnlich  von  bunten  oder  auch  schwarzen  Zeuge, 
vorn  mit  Friels  ausgeschlagen  und  heifsen  Joseepe,  stehen  auch,  wie 
die  Jopen,  vorn  offen.  Vor  der  Brust  tragen  sie  einen  steifen  Latz 
von  Pappe,  der  nach  ihrem  Vermögen  mit  schwarzen  Sammet,  bunten 
seidenen  Flicken  und  wohl  auch  mit  Tressen  besetzt,  zuweilen  mit 
blankem  Papier  überzogen  ist.  Die  Hemden  bedecken  ganz  die  Brust 
und  schliefsen  dicht  um  den  Hals.  Um  die  Unterhemden,  welche  ohne 
Ärmel  sind,  binden  sie  ein  schwarz  oder  bunt  seiden  Tuch.  Über  diese 
ziehen  sie  ein  (kurzes)  Oberhemd  mit  (feineren)  Ärmeln  und  breitem 
Kragen.«  - 

7.  Alltagsleben.  Früh  morgen 8  3  Uhr  fahren  die  Schiffer 
mit  iferen  Booten  vom  Kluckenbach  auf  den  See  und  kehren  noch 
vormittags  zurück.  Werden  sie  durch  widrige  Winde  auf  der  Nehrung 
festgehalten,  so  liegen  sie  drüben  tagelang  in  ihren  Hütten,  bei  Karten- 
spiel und  Gespräch.  Aber  nie  entsteht  eine  Schlägerei.  Sie  bereiten 
sich  ihr  Essen  selbst  und  holen  dazu  aus  Rumbke  Schnaps.  Kommen 
sie  aber  nach  Hause,  so  mufs  die  Frau  wieder  den  Fang  zu  Markte 
tragen.  Diese  hat  auch  das  Geld  in  Verwahrung  und  führt  die  häus- 
liche Herrschaft.  Früh  3  Uhr  kommt  auch  der  Hirt  mit  einer  72 m 
langen,  unten  1  */2  dm  breiten  Blechtute  und  bläst  in  einem  langen  Ton 
vor  jedem  Gehöft.  Überallher  kommen  die  Kühe  und  gehen  auf  die 
Dorfweide.  Es  ist  ein  Sommertag,  die  Kinder  gehen  ohne  Sang  und 
Klang,  ganz  anders  als  im  Erzgebirge,  in  die  Beeren.  Schon  kommen 
die  ersten  Schnapskäufer  in  den  Krug.  Es  arbeiten  die  Frauen  in 
Haus  und  Hof.  Der  Briefträger  erscheint.  Zu  Mittag  kehren  die 
Kühe  zurück.  Selten  wird  ein  Fremder  in  das  Dorf  verschlagen. 
Aufser  dem  Förster  habe  ich  innerhalb  acht  Tagen  nur  einen  einzigen 
gesehen,  der  für  eine  fromme  Stiftung  sammeln  wollte,  aber  schnell 
wohlhabenderen  Gegenden  zustrebte.  Nachmittags  3  Uhr  erklingt 
wieder  des  Hirten  Ton,  ausgenommen  Sonntags,  an  dem  vielleicht  ein 


424  Die  Slowinzen. 

Urlauber  mit  Beben  Freunden  und  Freundinnen  unter  Trompetenklang 
den  Flufs  abwärts  fährt,  weib  gekleidete  Mädchen  aber  Bammeln  eich 
zur  Unterhaltung  vor  irgend  einer  Thür.  Nachmittags  ist  das  Leben  im 
Kruge  lebhafter,  es  wird  Abend,  der  Hirt  treibt  die  Kühe  heim  und 
ruft  den  irregehenden  zu:  „Ihr  wollt  wohl  gar  in  den  Krug,  das  glaub' 
ich."  Um  10  Uhr  abends  beginnt  die  Polizeistunde,  der  Nachtwächter 
verkündet  sie  mit  zehn  schrillen  Pfeifen  tönen ,  durch  die  er  auch 
weiterhin  die  Stunden  markiert.  Der  Leuchtturm  auf  den  Dünen 
durchstrahlt  die  Nacht,  es  wird  feierlich  ruhig,  der  Mond  liegt  zau- 
berisch auf  der  eigenen  Idylle. 

Die  Männer,  die  nicht  im  Kruge  safsen,  trinken  zu  Hause  ihren 
Schnaps,  teeren  gemeinschaftlich  die  Boote,  die  Netze  werden  aus- 
gebessert und  die  Wirtschaft  besorgt.  Sonntags  aber  geht  alles  zur 
Kirche,  trotzdem  sie  zwei  Meilen  entfernt  ist.  Tief  religiös  ist  der 
Kluckener  nicht  gerade,  aber  eine  förmliche,  oft  bis  ins  Herz  gehende 
Frömmigkeit  zeichnet  ihn  vorteilhaft  aus.  Die  ganz  alten  Leute,  die 
zu  Hause  bleiben  müssen,  leeen  Sonntags  ihre  Postille.  Oft  wird  auch 
der  Prediger  zu  häuslichen  Andachten  geholt. 

8.   Gerät,  Zierat.    Die  natürliche  künstlerische  Beanlagnng  des 
Slowinzen  betbätigt  sich  nur  wenig.     Die  Häuser  sind  durch  zahllose 
Anbauten  entstellt.     Hörnerförmige  Giebelzier  ist  zuweilen,  aber  selten 
Abb.  178.  vorhanden,    an    der    Spitze    der    Feuerstange 

findet  sich  mitunter  ein  künstlich  gearbeitetes 
SchiS  oder  ein  Fisch  als  Wetterfahne.  In  den 
Häusern  hält  man  auf  reines,  sauberes  Haus- 
und Tischgerät,  das  aber  nichts  Eigenartiges 
bietet,  sondern  beim  Tischler  oder  auf  dem 
Markte  gekauft  wird,  wo  es  am  billigsten  ist. 
Der  Glasschrank  enthält  eben  die  Glasnippsachen 
und  Zierate,  die  die  Bauern  ganz  Deutschlands 
auf  dem  Jahrmarkte  für  die  gute  Stube  kaufen, 
nur  dafs  der  Kluckener  derlei  Sachen  meist  als 
Hochzeitsgeschenke  erhält. 

Neben  den  eigenartigen  Körben,  der  Karine 

und  Lischke  (Abb.  178),  ist  hier  und  da  noch 

eine  Handmühle  zu  sehen;  in  den  Klucken    ist 

keine  mehr  im  Gebrauch,   wenigstens  nicht  zur 

Mehlbereitung  für  das  Brot.     Ein  1,3  m  langer 

Liscbke.  (Nach  Andree.)   und  haib  so  breiter  und  starker  Holzklotz  steht 

auf  vier  Füfsen,  die  0,3  m  hoch  sind     Oben  ist  ein  cylinderförmiges, 

'/sm  tiefes  Loch  angebracht,  auf  dessen  Grunde  sich  ein  fester  Stein 

befindet.     Über  diesem  liegt  ein  geriefter,  20  cm  starker  und  ebenso 

grofeer  beweglicher  Stein  mit  seitlichem   Loch,  in   dem  eine   schräge 

Stange   steckt,   deren   anderer  Endpunkt  lose  in  einem  Loch   an    der 

Decke   genau  über  dem  Mittelpunkte  eines  Steines  ruht.     Der  obere 


Geräte.     Grabschmuck. 


425 


Stein  hat  in  der  Mitte  ein  10  cm  breites  Loch  zum  Einschütten  des 
Getreides,  der  untere  an  der  Seite  ein  nach  anfsen  durch  das  Holz 
gehendes  zum  Abfluls  des  grob  gemahlenen  Mehles.  Das  Stangenende 
mufs  ein  Mann  mit  der  ^tp    I7e 

Hand  im  Kreise  herum- 
drehen.     Eine  ähnliche 
(Braunschweiger)  Hand- 
ln uhle     etwas     anderer 
Form  zeigt  die  Abb.  179. 
Ein   schöner  hölzer- 
ner   Schulleuchter     mit 
gedrehtem       Mittelstab 
und  sechs  geraden  Lieht  - 
stangen  macht  dem  hei- 
mischen    Tischler     alle 
Ehre.      Auf  diesen  und 
seine  Vorganger  geht  ja 
auoh  die  Anfertigung  der 
hölzernen      Grabplatten 
(Abb.  180)  zurück.     Da 
der     Gottesacker      erst 
wenige    Jahrzehnte    alt 
ist,  weist  er  nur  wenige 
Arten     altslowinziacher 
Plattenformen  auf,    die 
wir  in  Glowitz  noch  antreffen.      In  den  Elucken  begegnen  uns   fast 
nur  die  1,5m  langen,   0,3m  breiten,  oben  abgerundeten  Grabplatten 
und  die  ebenso  hohen  Kreuze,  die  an  jedem  Ende  mit  einer  aus  drei 
konvexen     Bogen     bestehenden     Linie     enden 
(Abb.  181  a.tS.).    Die  Farbe  dieser  ist  dunkel; 
die  Vorderseite  trägt  den  Namen  des  Toten,  die 
Hintereeite  einen  Spruch.     Einzelne   Familien- 
inBchriften   lauten:     „Ruhestatte    des    Büdners 
Johann  Elück.      Er  wurde   geboren   1782   am 
10.  May  und   starb  1857   am   6.  July   im  Alter    Kluckener  und  Garder 
von   75  Jahren   2   Monaten."       „Hier   ruht   der         Holz- Grabplatten. 
Büdner  Johann  Kirck,  gobr.  (!)  den  25.  März  1818,  gest.  d.  1.  April 
1878."      „Hier  ruhet  der  Eigentümer   Martin  Elück,  geb.  28.  Dez. 
1813,  f  10.  März  1884,  Karoline  Klück,  geb.  13.  Jan.  1825,  t  20.  März 
1887."     Darunter  hat  der  slowinzische  Künstler  kleine  wellenförmige 
Ornamente  oder  Schlangenlinien  angebracht. 

Schon  winken  hier  und  da  eiserne  Grabkreuze,  die  in  merk- 
würdigem Gegensatz  zu  dem  einfachen ,  weitläufigen  Holzstaket  der 
Gottesackergrenze  stehen.  Die  meisten  Gottesäcker,  so  die  zu  Garde, 
Glowitz,   Schmolsin,    haben   als  Mauer  einen   künstlich  geschichteten 


Steinerne  Handmühle  (Sempmöle).  (Nach  Andree.) 

a   Einwurf  in    den    Läufer,      bb    Hölierae    Stiele    mm 

Drehen.       et    Eiserne    Ringe    mm    Herausheben    dee 

Läufers,     d  Auifluf«. 


426 


Die  Slowinzen. 


Stein  wall  (vgl  Abb.  173,  S.  410),  die  Grabplattenformen  sind  aber  in 
allen,  aufser  in  Glowitz,  ebenso  einfach. 

Uralt  ist  die  Anfertigung  von  Papierblumen  und  Papierschmuck. 
Die  Berichte   aus   dem   vorigen  Jahrhundert   erwähnen   diesen  Zierat 


O 


Abb.  181. 


A 


Alter  Fritzower  Holz -Grabsch muck. 

1  bis  7  Grabplatten1),  1  bis  ll/tm  hoch,  dunkelfarbig.  Schwarze  Schrift  auf  weifsein 
Grunde.    8  bis  17  Ornamente,  farbig  oder  golden,  wie  die  Kugeln  und  Spitzen  in  1,  3,  7. 

schon  und  noch  heute  flicht  das  Slowinzenmädchen  in  den  Braut- 
kranz oder  in  den  Preilselbeerkranz,  der  das  standesamtliche  Aufgebot 
umrahmt,  gelbe,  rote  und  weifse  Papierblumen.  Die  eine  Seite  des 
Schulzimmers  ist  von  65  Mooskränzen  mit  solchen  Blumen  geschmückt, 
jeder  Konfirmand  und  jede  Konfirmandin  stiftet  einen  als  Andenken, 
und  bei  Festlichkeiten  beschenkt  man  sich  ebenso  mit  solchen,  so  data 
wir  deren  in  jeder  Stube  antreffen.  An  den  Wänden  hängen  aulser 
Kränzen  nur  Familien-  und  Soldatenbilder,  zuweilen  auch  religiöse  und 
patriotische. 

9.  Volkslieder  und  Spruchdichtung.  Der  Slowinze  ist 
arm  an  Liedern.  Was  er  singt,  hat  er  entlehnt.  Nicht  ein  einziger 
seiner  Gesänge  gehört  ihm  ursprünglich  an.     Die  alten  Gesangbuch- 


*)  Vorderseite  zeigt  Name  und  Lebensdaten  (z.B.  des  Fritzower  Schäfers,  1777 
geboren,  also  zur  Zeit  Backes),  Hinterseite  Sprüche,  z.  B. :  „Solls  zum  Sterben 
gehn,  wollst  du  bei  mir  stehn,  mich  durchs  Todesthal  begleiten  und  zur  Herrlichkeit 
bereiten,  Dafs  ihr  einst  mögt  sehn  mich  zur  Rechten  stehn"  oder  „Es  war  kein  Kraut 
für  meine  Schmerzen,  kein  Balsam  mehr  in  G  — ,  der  Tod  drang  mit  Gewalt  zum 
Herzen,  es  fanden  keine  Thränen  statt;  gar  unerbittlich  war  der  Schlafs,  ein  jeder 
Mensch  ihm  folgen  muls."  Der  neue  Grabschmuck  besteht  nur  in  Eisen  kreuzen  und 
Steinplatten. 


Lieder.  427 

lieder  des  Pontanus  und  anderer  waren  Übersetzungen  ans  dem 
Deutschen,  dann  wurde  das  polnische  Gesangbuch  gebraucht.  Diese 
Lieder  singt  der  Eluckener  mit  grotser  Andacht,  aber  selten.  Die  in 
der  Schule  gelernten  und  vom  Militär  mitgebrachten  Lieder  werden 
wohl  auch  einmal  im  Kruge  angestimmt,  aber  nur  in  besonders  ge- 
hobener  Stimmung.  Öfter  ertönt  der  Saug  beim  Fischen;  anfser  den 
bekannten  Liedern  „Still  ruht  der  See,  die  Vögel  schlafen",  „Es  mur- 
meln die  Wellen a ,  „Ein  armer  Fischer  bin  ich  zwar"  hörte  ich  in 
Garde : 

„Ach  könnt'  ich  doch  in  meinem  ganzen  Leben 
Koch  einmal  meine  Eltern  wiedersehn! 
Was  wollte  ich  nicht  alles  dafür  gehen, 
Ach  könnte  dieses  einmal  nur  geschehnt 

Sie  sorgten  sich  für  mich  und  meine  Brüder 
Und  zogen  uns  zu  braven  Menschen  auf. 
Ich  sehe  sie  nun  nie  und  nimmer  wieder, 
Der  liebe  Gott  nahm  sie  im  Himmel  auf. 

Die  liebe  Mutter,  die  mit  tausend  Schmerzen 
Mich  unter  ihrem  treuen  Herzen  barg, 
Ich  kann  an  meine  Brust  sie  nicht  mehr  pressen, 
Sie  ruht  nun  längst  im  stillen  Sarg. 

Der  liebe  Vater  ruht  im  Grabe  drinnen, 
Der  unter  Sorgen  nur  gewollt  mein  Wohl.  — 
Drum  hebet  eure  Eltern,  folget  ihnen! 
Nur  dann  ergeht  es  euch  auf  Erden  wohl." 

Slowinzische  Lieder  habe  ich  nur  wenige  vorgefunden,  deren  Her- 
kunft man  in  den  Elucken  genau  kennt.  Man  sagt  nämlich,  früher 
hätte  man  wohl  Schelmenstücke  gesungen,  aber  selten;  beim  Tanz  habe 
man  nur  „Immer  rechts  Yum"  oder  „Immer  links  Yumu  gerufen.  Da 
habe  1848,  bei  Niederdrückung  des  polnischen  Aufstandes,  ein  Klück 
zwei  Liedchen  aus  Wreschen  in  PoBen  mitgebracht,  die  Soldaten  hätten 
sie  immer  gesungen.  Und  dann  verbreiteten  sich  die  beiden  Lieder 
über  die  ganze  pommersche  Easchubei,  sie  sind  umgewandelt  worden. 
Aber,  da  selten  einer  noch  ordentlich  seine  Muttersprache  kann,  sind 
die  Lieder  so  unverständlich  verdreht  worden,  dafs  man  selbst  in 
Glowitz  und  Giesebitz  mit  aller  Mühe  keinen  Sinn  herausbrachte. 
Die  Alten  in  den  Elucken  aber  brachten  es  noch  zuwege.     Das  eine 

heilst  etwa: 

Unsre  Mutter,  gute  Mutter, 
Früh  aufstehend,  giebt  sie  gütig 
Uns  ein  Ei  zum  Frühstück. 
Mittags  hat  sie  sich  gebessert, 
Zweien  hat  sie  eins  zerschnitten, 
'  Hat  versteckt  sich  abends. 

Daraus  hat  man  noch  ein  verderbtes  vierzeiliges  Lied  gebaut,  das 
sich  der  Wiedergabe  entzieht.  Das  Hauptlied  „Unsre  Herde u  hat  zwei 
Melodieen : 


428 


Die  Blowinzen. 


Wreachener  Lied. 


pEE^SEiEg 


Sl 


m 


3 


Unsre    Herden    sprangen    in  die      Wäl  -  der,   hab'  sie    hüpfen 


$ 


S: 


1 


w^m 


^m 


3m 


sehen  durch  die   Felder,    um  die    AI  -  ten  kann  ich        ru    -    hig 


$ 


i 


^=g^3^g 


-&- 


2 


t 


sein,    wä  -  ren    nur    die   Jungen     erst       herein.       O    hei   hi-to, 


* 


^^. 


EE 


i 


da  -  ho        lo 


tu-ru-ru  -  ka  -  lu. 


Zu  dieser  Melodie   (vergl.  Tetzner,   Slowinzen,  8.  232)  habe  ich  noch 
eine  ßtohentiner  bekommen: 


p¥^^=^^^^f=^ 


£_ 


Un  -  sre 
Un  -  ser 


Herde  sprang        in      die    Wälder, 
Böck-lein  seh         ich  ganz    alleine! 


hab*    sie 
Drü  -  ben 


um^mm33äprj=£i 


hüpfen  seh'n  durch  die  Felder,   um  die    AI -ten  kann  ich     ruhig 
liegt's  auf  dem  grü  -  nen  Raine.    Wenn  ich  auch  noch  gehe,  bricht  das 

di  -  ri    di  -  ri      di  -  ri      di  -  ri 


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S 


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F 


sein, 

wa  -  ren 

Herz, 

Lie  -  be 

Da  -  ida, 

di    -    ri 

nur      die      Jungen    erst  herein. 
Mut-ter,     dir  vor  Gram  und  Schmerz, 
di   -   ri        di    -    ri      da   -   ida. 


Merkwürdig  ist  die  Wandlung  dieses  Liedes,  dessen  zweite  Strophe 
einem  anderen  Liede  der  Kaschuben  ähnelt.  Letzteres  Lied  gehört  der  Welt- 
literatur an  und  schildert  den  Tod  des  Husaren  auf  dem  Schlachtfelde  und 
die  verschieden  lange  Trauer  der  Geliebten,  der  Schwester  und  der  Mutter. 

Einige  weitere  Liedchen  folgen: 

Die  Tanne  (Priehn- Garde). 

Ach  die  Frau  hat  Geld  im  Walde, 

In  dem  grünen  Walde, 

Schlag  die  Frau  nur,  schlag  die  Frau  nur, 

Schaff  nach  Haus  sie  balde. 


Lieder.    Sprichwörter. 


429 


Nein,  da  sollst  die  Frau  nicht  schlagen, 
Arme  Frau  nicht  schlagen. 
Denn  sie  wird  das  Geld  wohl  in  der 
Grünen  Mutze  tragen. 

Der  Ritt  zur  Geliehten  (Pigorsch  -  Stohentin). 


Melodie : 


I 


=£ 


*ESä^=g 


"Weit  ist's      übers       breite    Meer 
(Die  unterstrichenen  Noten  werden  betont.) 


Weit  ist's  übers  breite  Meer, 
Weit  zu  meiner  Liebsten  her. 
Bitt  zu  ihrem  Schlofs  heraus, 
Und  ich  klopfte  an  ihr  Haus. 
Kam  die  Mutter,  lud  mich  ein: 
, Steig  vom  Pferd  und  komm  herein." 
„Nein,  ich  steig  vom  Pferde  nicht, 
Bis  ich  schau  ihr  Angesicht." 
„ Wirst  die  Liebste  nimmer  sehn, 


,      Einen  andern  Weg  wohl  gehn, 
I       Und  vor  deiner  Liebsten  stehn." 
Bitt  und  kam  ans  Grab  der  Braut, 
Stand  am  Grab  und  weinte  laut. 
(Hier  wiederholte  der  Sänger 
Zeile  7  bis  11.) 
B  Wirst  sie  einst  dort  oben  sehn. 
Sie  vergab  dir  alle  Schuld 
Und  empfängt  dich  dort  voll  Huld." 


An  der  Seite  des  Meeres  (Frau  Savallisch- Rotten). 


An  des  Meeres  Seite  hütet 
Mägdlein  einen  Iltis  sich, 


Aber  an  des  Sees  Seite 
Hütet  es  den  Gänserich. 


Paul  Kojic  (Buttke- Garde). 


Paul  Kojic  mäht  die  Wiese, 
Und  Grütze  kocht  die  Trina. 


Paul  will  ja  keine  Grütze, 
Er  will  ja  nur  zu  Trina. 


Slowinzisches  Tanzlied    (Stohentin). 


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Ach,     Ma  -  rie  -  chen   ging     her  -  um      im      Wal  -  de 


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und      ver   -   irr   -  te        sich      im       Moo  -  re 


bal  -  de. 


^^§e£ 


^ 


es 


Ö3S 


Ach,  man  fand,  so  schwarz  wie  Moor,  Marie  dann  im    Walde. 


Bei  Übergabe  der  Brautgeschenke,  bei  der  Ankunft  des  Hochzeits- 
bitters  werden  Sprüche  gesprochen,  die  aber  nichts  Merkwürdiges 
bieten.  —  Selten  singt  man.  Dreschreime  and  dergleichen  kennt 
man  nicht,  hingegen  ist  die  Zahl  der  Sprichwörter  nicht  unbedeutend. 
Viele  sind  den  deutschen  gleich,  so  „Not  bricht  Eisen",  „Nachts  sind 
alle  Katzen  grau",  „Der  Mensch  denkt,  Gott  lenkt44;  andere  hörte  ich 


430  Die  Slowinzen. 

das  erstemal,  sie  lauten  in  Übersetzung:  „Er  frifst  wie  ein  Ochse  die 
Teufelskirsche  (begierig),  „Wenn  der  Hafer  grofs  ist,  ist  das  Pferd  tot* 
(vergebliche  Arbeit),  „Er  geht  auf  die  Angel u  (stöbern),  „Er  ist  dumm 
wie  ein  Ealbu,  „Er  ist  bis  zum  Slowinzischen  (Gottesdienst)  geblieben** 
(er  hat  noch  gezecht),  „Fischt  er  nicht,  so  schielst  er  wasu,  „Sie  bäckt 
das  Brot  auf  der  Karinett  (sie  tauscht  die  Fische  in  der  Karine  gegen 
Brot  um  und  bäckt's  nicht  selbst,  wie  dies  früher  der  Fall  war). 

10.  Sagen  und  Märchen.  Der  Reichtum  daran  ist  so  grob, 
dafs  ich  hier  nur  die  wichtigsten  andeuten  kann.  Der  wilde  Jäger,  der 
mit  Hußsaschrei  in  den  Lüften  mit  seinem  Gefolge  dahinfährt,  die 
feuerspeiende  Schlange,  die  den  einsamen  Wanderer  mit  Feuer  und 
Gift  schädigen  will,  so  dafs  man  ganze  verbrannte  Wiesenstrecken 
sehen  kann;  das  beilwerfende  Kalb,  das  an  Orten  weilt,  wo  das  Geld 
luttert;  der  Mann  mit  dem  zweiten  Blick,  der  alles  sieht,  was  dem 
gewöhnlichen  Menschenkinde  verborgen  ist;  der  tolle  Junker,  bei 
dessen  Begräbnis  die  Kirchenglocken  keinen  Ton  von  sich  geben,  und 
der  als  Geist  umgeht;  der  dumme  Hans,  ein  geriebener,  schlauer 
Bursche,  der  über  die  Afterweisheit  der  Menschen,  und  besonders  über 
den  betrogenen  Teufel,  triumphiert;  der  lahme  Bucklige,  der  das  Vieh 
verhexen  kann  und  im  Besitz  starker  Zauberbücher  ist;  das  weifise 
Mädchen,  das  Hof  und  Haus  schützt,  Geld  bringt  und  bevorzugten 
Menschen  erscheint;  die  Mahrt,  die  auf  einem  Strohhalm  über  die 
Ostsee  fährt,  einem  Wiesel  gleicht  und  sich  als  Alp  nachts  auf  des 
Menschen  Brust  setzt  (Alpdrücken,  Mahrtreiten) ;  die  unterirdischen 
Leutchen:  das  sind  die  Hauptstoffe  der  Kluokener  Sagen,  die  in  ver- 
schiedenster Form  verbreitet  sind.  Zwei  will  ich  aus  Volksmund  er- 
zählen, die  Sage  von  der  Garder  Steininsel  und  dem  Blutstein  zu  Rowe, 
und  die  Sage  vom  Revekol. 

Der  Gardesche  Prediger  sollte  einst  in  Rowe  predigen,  das  über 
dem  Gardesee  drüben  liegt  Er  sprach:  „Ich  .thu's  gern,  wenn  ein 
Damm  nach  Rowe  geht"  Da  kommt  der  Teufel  und  sagt:  „ Ver- 
schreibst du  mir  deine  Seele,  so  mach'  ich  ihn  fertig,  bis  der  Hahn 
kräht tt  Der  Prediger  geht  darauf  ein.  Der  Teufel  schwirrt  mit  seinem 
Gefolge  durch  die  Lüfte,  und  alle  bauen  emsig,  wie  die  honigtragenden 
Bienen.  Der  geistliche  Herr  aber  hat  Angst  um  seine  Seele  und  verrät 
den  Pakt  seiner  Frau.  Die  geht  nachts  in  den  Hühnerstall  und  klatscht 
vor  Tagesbeginn  in  die  Hände,  so  dafs  der  Hahn  kräht,  nachdem  sie 
selbst  seine  Stimme  vorgemacht  hat  Vor  Schreck  lassen  die  Teufel 
die  Steine  fallen,  der  Damm  ist  noch  nicht  fertig;  die  Seele  gerettet. 
Eine  Anzahl  erratischer  Blöcke  am  Ufer,  die  thatsächlich  Zeichnungen 
wie  Pferdefülse  und  Hahnenfülse  haben,  werden  mit  Jener  Sage  in  Ver- 
bindung gebracht  Vom  Damm  ist  nur  die  Steininsel  inmitten  des 
Sees  übrig.  Von  den  Steinen  aber  soll  die  Rowesche  (oder  die  Wit- 
stocker)  Kirche  gebaut  worden  sein,  die  einen  blutträufelnden,  vom 
Teufel  herrührenden  Stein  enthält    In  anderer  Fassung  tritt  an  Stelle 


Märchen.    Aberglauben  bei  der  Geburt  und  dem  Begräbnis.        431 

der  Frau  ein  Schäfer  auf,  und  es  handelt  sich  um  den  Bau  einer 
Kirche  inmitten  des  Sees. 

Der  Revekol  war  in  alter  Zeit  ein  Wallfahrtsort.  Erst  stand  ein 
heidnischer  Altar,  dann  eine  katholische  Kapelle  daselbst,  dahin  wurden 
vom  Papst  wiederholt  Büfser  geschickt.  Die  Herzogin  Anna,  die 
Protektorin  des  Michael  Pontanus,  hatte  am  Fufse  des  Berges  ihr 
Schlots.  Kapelle  und  Schlofs  sind  heute  selbst  in  ihren  Trümmern 
verschwunden,  den  Berg  aber  krönt  ein  eichener  Aussichtsturm,  der 
weithin  im  Lande  sichtbar  ist.  Jetzt  ist  der  Revekol  (vgl.  Böttcher, 
Kreis  Stolp,  S.  24)  mit  seinen  herrlichen  Waldungen  ein  beliebter  Aus- 
flugsort der  weiten  Umgegend.  Yom  Revekol  erzählt  man  eine  Menge 
Geschichten,  man  deutet  gar  den  Namen  aus  dem  lateinischen  rev. 
col.  =  verehrungswürdiger  Berg,  oder  aus  dem  Plattdeutschen  (Räuber- 
höhle, Schlupfwinkel)  und  zeigt  noch  jetzt  die  Löcher,  wo  sich  die 
Räuber  versteckt  hielten.  Die  Glocke  der  Kapelle  soll  in  die  Lupow 
heruntergerollt  worden  sein,  wo  sie  noch  jetzt  von  Sonntagskindern 
gehört  wird.  Über  den  von  den  Räubern  versteckten  Schätzen  liegen 
zwei  grofse  eiserne  Nadeln;  wer  die  heben  kann,  findet  die  Schätze. 
Auch  war  ein  Gang  zwischen  dem  Heiligtum  auf  dem  Revekol  und  dem 
alten  Schlots. 

11.  Aberglauben,  Sitten  und  Gebräuche.  Die  alten 
Bräuche  sind  ausgestorben.  Wenn  sich  noch  Spuren  erhalten  haben, 
so  läfst  man  sie  ungern  sehen.  Die  wichtigsten  will  ich  mitteilen. 
Bevor  ein  Kind  zur  Taufe  gebracht  wird,  legt  man  es  unter  die  Ofen- 
bank, dafs  es  fromm  wird.  In  die  Wiege  legt  man  ein  Gesangbuch  zu 
gleichem  Zweck.  Man  soll  Neugeborenen  ein  Licht  anbrennen,  dafs 
sie  nicht  vertauscht  werden.  Kocht  eine  Schwangere  Wasser  unnütz, 
so  gedeiht  das  Kind  nicht  gut.  Die  Wöchnerin  geht  um  den  Altar, 
wird  eingesegnet  und  legt  dabei  eine  Mark  an  der  Stufe  nieder.  Die 
gestorbenen  Wöchnerinnen  werden  zu  Haus  und  in  der  Kirche  ge- 
segnet. Die  gefallene  Jungfrau  mufs  um  die  Kirche  gehen  und  einen 
Groschen  in  die  Mauer  legen.  Stirbt  eine  Jungfrau,  so  breitet  die 
Mutter  deren  Ausstattung  im  Totenzimmer  vor  ihr  aus.  Einem  Toten 
giebt  man  ein  Gesangbuch,  eine  Schnapsflasche,  eine  Münze,  Haare, 
Federn  und  Borsten  seiner  Haustiere  mit,  den  Frauen  ehemals  ihr 
Kirchenlaken.  Die  Bank,  auf  der  der  Sarg  steht,  wird  umgeworfen 
und  mit  in  die  Gruft  gelegt,  dafs  der  Geist  nicht  sitzen  bleibe.  Man 
milst  den  Sarg  mit  einer  Rute  und  macht  danach  die  Gräber,  die 
Rute  zerbricht  man  und  wirft  sie  mit  auf  den  Sarg.  Wenn  der  Trauer- 
zug fortgeht,  bekreuzt  einer  das  Yieh  im  Stalle  und  die  Bienen  im 
Korbe,  dafs  sie  dem  Toten  nicht  nachfolgen. 

Bucklige  und  Hinkende  sind  gewöhnlich  mit  dem  zweiten  Gesicht 
begabt  und  können  Yieh  beschreien  und  Menschen  verrufen,  so  dafs 
beide  krank  werden.  Durch  Kreuzschlagen  verwahrt  man  sich  dagegen, 
darum  sind  fast  an  jeder  Kluckener  Stallthür  drei  schwarze  Kreuze. 


432  Die  Slowinzen. 

Beschrieene    Schweine    müssen    durch    den    vierten    Reifen    springen* 
dann  fressen  sie  wieder. 

Die  Hochzeiten  mächt  man  am  liebsten  Dienstags,  Freitags  oder 
Sonnabends,  früher  bei  Beginn  des  Herbstes,  jetzt  zu  jeder  Jahreszeit. 

In  der  Sylvesternacht  wird  Asche  um  die  Bäume  gestreut,  dafs  sie 
gut  tragen,  dann  ein  Strohseil  darum  gewunden. 

Wer  das  Tischtuch  liegen  lätst,  kommt  wieder. 

Osterwasser  holt  man  vor  Sonnenaufgang  aus  dem  Kluckenbach, 
bewahrt  es  das  ganze  Jahr  auf,  weil  es  heilkräftig  ist.  Zu  Ostern 
brennt  man  auf  dem  Berge  Osterfeuer  an,  wie  beim  Sedanfest  eine 
Teertonne.  Am  Neujahrsmorgen  und  am  Hochzeitstage  schols  man 
gern  mit  Pistolen.  Yor  dem  Marientage  (25.  März)  wird  die  Stube  mit 
Wacholder  eingeräuchert,  zu  Pfingsten  stellt  man  Birkensträucher  in 
die.  Stube.  Am  Andreasabend  wird  Blei  gegossen,  um  sein  Schicksal 
zu  erfahren;  zum  Sylvesterabend  reitet  man  auf  den  Kreuzweg,  da 
erscheinen  um  Mitternacht  Geister  und  beantworten  alle  Fragen. 

Man  geht  am  ersten  Osterf eiertage  mit  Buten  „frische  Grüne 
peitschen tt.  Zu  Weihnachten  nehmen  zwei  oder  drei  Burschen  ein 
Bettlaken,  einen  Stock  und  zwei  Siebe,  bewickeln  alles  mit  Stroh  und 
einen  an  den  Stock  gebundenen  Stiefelknecht  mit  Heu.  Ober  den 
Stock,  den  der  eine  Mann  hält  (Schimmelreiter),  schlägt  man  ein  Bett- 
laken, so  data  nur  der  Stiefelknecht  als  Pferdekopf  und  das  Stabende 
mit  Schwanz  zu  sehen  ist.  Dem  Schimmel  wird  ein  Zaum  angelegt. 
Ein  Mann  führt  ihn  und  der  andere  klopft  ans  Fenster,  ob  er  in  die 
Stube  darf.  Darf  er,  so  beten  die  Kinder  und  werden  mit  Zucker 
beschenkt. 

Zu  Walpurgis  wird  nichts  Besonderes  vorgenommen,  auch  die 
Verlobungsgebräuche  kennt  der  Kluckener  nicht,  er  verschmäht  das 
Verloben,  weil  es  keinen  Sinn  habe. 

12.  Familienfeste.  Hochzeit.  Der Hochzeitsbitter (derOUmann, 
Starost,  Köstenbitter)  im  dunklen  Anzüge  sagt  acht  Tage  vorher  allen 
Freunden  und  Bekannten,  möglichst  vielen,  die  Hochzeit  an.  Auf 
seinem  Haupte  thront  ein  geborgter  Cy linder,  der  mit  roten,  grünen 
und  blauen  flatternden  Cigarrenbändern  umgeben  ist.  Ein  Büschel 
solcher  Bänder  weht  auch  an  seinem  Spazierstock;  dieselben  farbigen 
Bänder,  meist  rote,  bindet  man  den  Kühen  ums  Hörn,  dafs  sie 
nicht  verzaubert  werden  sollen.  Die  vier  bunten  Bänder  liebt  der 
Slowinze  wie  der  Litauer.  Die  Mädchen,  besonders  die  Brautjungfern, 
deren  Braut  und  Bräutigam  je  vier  wählen,  tragen  bei  allen  Feierlich- 
keiten solche  Seidenstreifen,  in  die  Blumen  gewebt  sind,  um  die  Hüfte 
und  vor  der  Brust.  Hat  der  Hochzeitsbitter  seinen  Spruch  in  ge- 
reimter Rede  angesagt,  so  wird  er  willkommen  geheitsen  und  bekommt 
einen  Schnaps  und  mitunter  ein  Trinkgeld.  Von  dem  vielen  Schnaps 
wird  er  zuletzt  schwankend  und  findet  sich  mit  .oder  ohne  Not  ins 
Hochzeitshaus  zurück,  wo  er  die  Zusagenden  anmeldet  und  Abendbrot 


Die  Hochzeitsfeier.  433 

genietet.  Die  Brautleute,  meistenteils  Verwandte,  gehen  am  Sonntag 
vor  der  Trauung  zur  Kirche.  Die  Hochzeit  selbst  währt  gewöhnlich 
vom  Freitag  bis  zum  Sonntag  und  ist  immer  noch  meist  im  Herbst. 
Früher  ging  der  Hochzeitszug  unter  Gejubel  und  Pistolen  schieisen  zu 
Fuls  nach  Glowitz  oder  Schmolsin  zur  Trauung,  jetzt  fährt  man  meist 
in  möglichst  vielen  Wagen  zweispännig.  Zuvor  haben  sich  alle  die 
Hochzeitsgeschenke  angesehen,  die  am  Polterabend  auf  einen  Tisch 
gestellt  worden  sind  und  meist  aus  Glasschranksachen  bestehen.  Der 
erste  Wagen  des  Hoch  zeit  szuges  fahrt  aufser  dem  Ollmann  das  Braut- 
paar. Die  Brautjungfer  hat  Papierblumen  im  Haar,  der  Fuhrmann 
solche  an  der  Brust,  die  Pferde  sind  mit  Bändern,  die  Wagen  mit 
Guirlanden  geschmückt.  Vom  Brautkranz  aus  Myrten  hängen  die 
Enden  auf  die  Schultern  herab;  einen  Schleier  giebt  es  nicht,  das 
Brautkleid  ist  schwarz.  Gefallene  dürfen  den  Kranz  nicht  tragen,  auch 
darf  bei  deren  Hochzeiten  nicht  geläutet  werden.  Der  Bräutigam  ist 
völlig  modisch  gekleidet/  Zunächst  geht  der  Brautzug  ins  Gasthaus, 
wo  gegessen  und  Schnaps  und  Bier  getrunken  wird.  Der  Hochzeits- 
bitter bezahlt,  während  am  Sonntag  beim  Kirchgang  die  Brautjungfern 
für  alles  aufkommen.  Nun  geht  der  Köstenbitter  zum  Pastor,  sagt 
seinen  Spruch  und  ordnet  dann,  während  dieser  in  die  Kirche  geht, 
den  Hochzeitszug.  Voran  zieht  er  selbst  mit  seiner  Frau,  darauf  folgt 
das  Brautpaar,  dann  kommen  die  Brautjungfern  mit  je  einem  Burschen, 
zuletzt  die  Verwandten.  Das  Brautpaar  geht,  sobald  es  zu  läuten  an- 
fängt, vor  den  Altar,  die  anderen  setzen  sich  in  die  Bänke.  Nach  der 
Traurede  wandeln  alle  um  den  Altar  herum  und  legen  ein  Opfer  für 
die  Kirche  auf. 

Nun  marschiert  oder  fährt  alles  in  den  Krug  und  wirft  unter  die 
Zuschauer  unterwegs  Münzen.  Bei  Tanz  und  Gelage  verweilt  man  im 
Kruge  bis  zum  Abend,  dann  geht  eine  Wettfahrt  nach  Hause  los,  die 
nicht  immer  glatt  abläuft.  Zu  Hause  steht  das  Mahl  bereit;  der  alte 
Vater  empfängt  das  Paar  mit  einem  Schnäpschen  und  nimmt  die  Glück- 
wünsche des  Gefolges  entgegen.  Das  Vordrängen  der  Braut,  damit  sie 
die  Herrschaft  im  Hause  habe,  ist  nicht  mehr  gebräuchlich,  da  die 
Frau  ja  thatsächlich  herrscht.  Das  Abendessen  besteht  aus  Hühnersuppe, 
Klöfsen  mit  Backobst,  Fleisch  und  Fisch,  besonders  Hammelfleisch;  das 
Brot  ist  „schön  fest",  es  hat  vier  Wochen  lang  im  Rauch  gehangen. 

Dann  beginnt  der  Brauttanz,  alle,  auch  die  Kinder,  müssen  teil- 
nehmen und  die  Musikanten  bezahlen,  man  giebt  1  Mk.,  wer  arm  ist, 
10  Pf.  Der  Musikant,  der  nur  eine  Ziehharmonika  braucht,  nimmt 
oft  30  bis  40  Mk.  auf  einmal  ein.  Daher  kommt  es,  dafs  sich  viele 
um  dies  Amt  bewerben,  dem  Brautpaare  die  Hochzeitsfuhren  umsonst 
ausrichten  und  noch  6  Mk.  Brautsteuer  geben.  Andere  Instrumente 
als  die  Ziehharmonika  braucht  man  nicht.  Geht  das  Brautpaar  zeitig 
fort,  mufs  es  jedem  Zuschauer  eine  Flasche  Wein  geben,  deshalb 
bleibt  es  bis  zuletzt  beim  Tanz. 

Tetsner,  Die  Slawen,  in  Deutschland.  28 


434  Dte  Slowinzen. 

Am  nächsten  Tage  dauert  das  Essen  und  der  Tanz  in  der  alten 
Weise  fort,  am  Sonntag  aber  gebt  es  wieder  in  die  Kirche.  Da  l&Ist 
man  erst  die  Kirche  sich  anfüllen  und  tritt  dann  im  Zuge  ein,  um 
bewundert  zu  werden.  Am  Sonntag  währt  das  Fest  bis  Mitternacht, 
dann  wandert  alles  heim. 

Backe  meinte  in  seiner  Schilderung  der  Hochzeitsgebräuche  1779, 
man  schlielse  nie  Neigungsheiraten,  sondern  befolge  den  Willen  der 
Eltern  und  Verwandten.  Er  fährt  fort:  „Dennoch  ist  Zank  und  Un- 
verträglichkeit in  den  Ehen  selten.  Wenn  ja  eine  Frau  von  ihrem 
Manne  geschlagen  wird,  so  geschieht  es  heimlich,  und  die  Frau  sucht 
es  auch  zu  verheimlichen,  wenn  es  aber  dennoch  auskommen  sollte, 
ihren  Mann  damit  zu  entschuldigen,  dafs  en  unslagen  Wyf  als  en  unsolten 
Kohl  Bei.  Wenn  nach  Absterben  des  einen  Gatten  der  andere  wieder 
heiraten  will,  so  kommt  es  dabei  wieder  auf  das  Gutachten  der  er- 
wachsenen Kinder  um  so  mehr  an,  da  den  Alten  bei  Übergabe  des  Hofes 
an  die  Kinder  ein  ansehnliches  Altenbrot  ausgemacht  wird,  oder  ihnen 
gewisse  Jahre  gesetzt  werden,  die  sie  noch  wirtschaften  sollen.  Ge- 
meiniglich wird  die  Braut  aus  der  Verwandtschaft  erwählt.  Kann  eine 
Bütenschaft  oder  Bütware,  das  ist  ein  Tausch,  getroffen  werden,  wenn 
zwei  Söhne  oder  ein  Sohn  und  eine  Tochter  in  der  einen,  und  zwei 
Töchter  oder  gleichfalls  ein  Sohn  und  eine  Tochter  in  der  anderen 
Familie  sich  befinden,  so  ist  dies  vorzüglich.  Der  älteste  Sohn  bleibt 
im  väterlichen  Hause  und  der  andere  geht  in  den  Hof  seiner  Schwieger- 
eltern über.  Wegen  der  Mitgabe  wird  sehr  gehandelt,  indem  ein  Teil 
von  seinen  Forderungen  abläfst  und  der  andere  zu  seinen  anfänglichen 
Anbietungen  zulegt,  es  mag  nun  eine  Kuh  oder  Kalb,  oder  Füllen  und 
Geld  sein.  Bei  wohlhabenden  besteht  die  Mitgabe  in  vier  Pferden, 
vier  Kühen  und  einigen  hundert  Thalern  an  Gelde,  aulser  Leinen  und 
Betten.  Zween  Tage  vor  der  Hochzeit  werden  zwei  auf  ihre  Art  wohl 
geputzte  am  Hut  und  auf  der  Brust  mit  blanken  Sträutsen  gezierte 
Knechte  auf  den  besten  mit  blanken  Zäumen  versehenen  Pferden  aus- 
gesendet. In  der  Gegend  von  Köslin  haben  sie  einen  Spiels  (vgl.  Stet- 
tiner Museum)  oder  ordentliches  Esponton  in  der  Hand,  anweichem  rote 
Bänder  hängen,  und  oben  bei  dem  Eisen  ein  Strauts  von  Füttern. 
Diese  reiten  auf  den  Flur  und  wohl  gar  in  die  Stube  des  einzuladenden, 
und  fangen  alsdann  einen  langen  Spruch  in  Versen  an ,  welcher  das 
Brautlied  heilst.  Die  Hochzeiten  werden  gemeiniglich  im  Herbste  ge- 
halten, am  Dienstag  oder  Donnerstag  angefangen,  und  einige  Tage 
hintereinander  in  der  Braut  und  des  Bräutigams  Hause  fortgesetzt. 
Holt  der  Bräutigam  sich  eine  Braut  in  seinen  väterlichen  Hof,  so  ist 
der  Anfang  der  Hochzeit,  die  Trauung  und  das  Brautbette  bei  der 
Braut  Eltern;  geht  er  aber  in  den  Hof  über,  so  muls  die  Braut,  zumal 
wenn  sie  eine  Witwe  ist,  zum  Bräutigam  kommen.  Den  Tag  der 
Trauung  ziehen  sie  mit  ihren  Kasten  und  Betten  in  den  Hof,  den  sie 
bewohnen  sollen,  unter  der  Begleitung  der  jungen  Leute  zu  Pferde  und 


Hochzeit  nach  Backe  1779.  435 

vieler  Mädchens,  sonderlich  aus  der  Verwandtschaft,  welche  alle  bis 
auf  den  folgenden  Tag  daselbst  bewirtet  werden,  alsdann  aber  ins  erste 
Hochzeitshaus  zurückkehren,  wo  unterdessen  die  Alten  geblieben  sind, 
und  in  dem  Genüsse  ihrer  Ergötzlichkeiten  noch  einige  Tage  fortfahren. 
Zur  Trauung  fährt  die  Braut  mit  ihren  Gespielinnen  auf  einem  grofsen 
mit  vier  Pferden  bespannten  Wagen,  und  vorn  an  sitzen  Musikanten 
mit  Piepsack  und  Violinen.  Der  Bräutigam  kommt  mit  seiner  Gesell- 
schaft von  Verwandten  und  allen  Knechten  des  Dorfes  auf  den  besten 
Pferden  mit  blanken  Zäumen  geritten.  Die  Kleidung  der  Braut  ist 
schwarz,  bei  wohlhabenden  von  Seide,  und  so  auch  die  Schürze,  über 
welche  sie  an  einigen  Orten  noch  eine  weilse  von  Nesseltuch  oder  Lein- 
wand hat.  Um  den  Leib  trägt  sie  einen  ledernen  Brautgürtel,  der  mit 
silbernen  vergoldeten  Buckeln  fast  eines  Theeköpfchens  grofs,  dicht 
aneinander  besetzt,  und  vorn  mit  einer  silbernen  Kette  zusammen- 
geheftet ist.  Der  Schnürleib  ist  gleichfalls  mit  einer  silbernen  Kette 
zugeschnürt.  Auf  dem  Kopfe  trägt  sie  eine  Krone,  fast  wie  eine 
Grenadiermütze  hoch,  die  man  Flitterpeil  heilst.  Der  untere  Teil  des- 
selben ist  von  vergoldetem  Silber  in  der  Dicke  eines  Messerrückens, 
eine  Hand  breit,  darüber  sind  einige  Bügel,  welche  die  Höhe  und 
Haltung  ausmachen.  Rund  herum  hängt  eine  grolse  Menge  silberner 
Füttern,  die  teils  rund,  teils  oval,  teils  dreieckig  und  in  beständiger 
Bewegung  sind.  Über  die  Schultern  hat  sie  einen  Mantel  von  schwarzem 
feinen  Tuch,  der  vorn  inwendig  und  auswendig  drei  bis  vier  Finger 
breit  mit  schwarzem  Samt  ausgeschlagen  und  in  lauter  kleine  Falten 
gelegt  ist.  Er  wird  ein  Heuken  genennt  und  geht  über  die  Waden 
herunter.  Statt  des  Kragens  ist  oben  eine  starke  Pappe  über  eine 
halbe  Elle  lang  und  eine  Hand  breit  befestigt,  mit  schwarzem  Samt 
überzogen,  und  mit  seidenen  Borten  besetzt,  welcher  im  Nacken  über 
den  Schultern  wegsteht.  Es  sind  Bänder  daran,  um  ihn  um  die 
Schultern  zu  binden,  und  vorn  an  dem  samtnen  Ausschlage  können  sie 
die  Hände  durchstecken,  zu  welchem  Ende  auf  Jeder  Seite  inwendig 
etwas  schwarzes  Zeug  angenäht  ist.  Sowohl  der  Flitterpeil,  als  der 
Brautgürtel  und  der  Heuken  sind  als  Inventarienstücke  wohlhabenden 
Familien  eigen,  und  werden  bey  allen  darin  vorkommenden  Fällen  ge- 
braucht. In  einigen  Gegenden  wird  statt  des  Flitterpeils  der  Braut 
eine  Krone  von  Knistergold  mit  vielen  herumhängenden  beweglichen 
Füttern  aufgesetzt.  Um  den  Hals  hat  die  Braut  einen  grolsen  blau- 
gestärkten Kragen,  der  rund  um  den  Kopf  ziemüch  in  die  Höhe  steht. 
Beim  Zurückkehren  von  der  Trauung  in  der  Kirche  finden  sie  das 
Hochzeitshaus  zugemacht.  Nach  der  Eröffnung  desselben  kommt  jemand 
mit  einem  ganzen  Brot  und  einem  Krug  Bier  heraus.  Die  Braut  muls 
zuerst  aus  dem  Brot  ein  Stück  herausbeifsen ,  darauf  der  Bräutigam, 
und  dann  die  übrigen  nach  der  Reihe.  Das  ausgebissene  Stückchen 
Brot  wird  nicht  gegessen,  sondern  von  den  Brautleuten  aufgehoben. 
Im  Treptowschen  fährt  die  Braut  aufs  Flur,  wo  sie,  nachdem  sie  ab- 

28* 


436  Die  Slowinzen. 

gestiegen,  von  der  Köchin  an  den  Herd  geführt,  und  ihr  von  jedem 
Gericht  aus  Töpfen  und  Kesseln  etwas  zu  kosten  gegeben  wird.  Hierauf 
geht  der  Bräutigam  mit  den  Mannspersonen  in  die  Stube  zum  Essen, 
und  die  Braut  setzt  sich  mit  ihrer  weiblichen  Gesellschaft  auf  dem 
Flur  zu  Tische.  Vor  ihr  sowohl  als  vor  dem  Bräutigam  steht  ein 
hölzerner  Leuchter  mit  drei  Armen,  worauf  drei  Lichter  brennen,  die 
nicht  geputzt  oder  ausgelöscht  werden,  sondern  von  selbst  ausgehen 
müssen.  Die  übrig  gebliebenen  Enden  werden  aufgehoben.  Nach  der 
Mahlzeit  wird  getanzt.  Der  erste  Tanz  ist  allemal  der  lange  Reihen, 
da  der  Brautdiener  an  dem  weifsen  Schnupftuch  fafst,  den  die  Braut  in 
der  Hand  hat,  alle  übrige  Mädchen  sich  einander  an  der  Hand  fassen, 
und  so  auf  dem  Flur  nach  ihrer  Art  künstlich  mit  vielen  Wendungen 
und  Schwenkungen  tanzen,  wobei  sie  oft  unter  dem  Tuch,  den  die 
Braut  und  der  Brautdiener  halten,  durchgehen.  Dieser  muls  sich  dabei 
in  Acht  nehmen,  dafs  sie  ihn  nicht  umringen,  sonst  muls  er  eine  Strafe 
erlegen.  Nach  Erledigung  des  langen  Reihens  führt  der  Brautdiener 
alle  in  die  Stube,  die  Braut  dem  Bräutigam  und  jedem  der  anderen 
jungen  Leute  ein  Mädchen  mit  den  Worten  zu:  »ich  habe  deiner  ge- 
dacht, und  dir  ein  schmuck  jung  Mädchen  gebracht;  verschmadest  dn 
meine  Hand,  so  wirst  du  ihre  nicht  verschmaden.c  Diese  ist  hernach 
eines  jeden  vornehmste  Tänzerin,  mit  welcher  er  allemal  den  Tanz 
eröffnen  muls,  ehe  er  sich  an  eine  andere  wenden  darf.  Am  anderen 
Tage  der  Hochzeit  ist  die  junge  Frau  noch  als  Braut  in  ihrem  vor- 
erwähnten Staat,  am  folgenden  aber  setzt  sie  Haube  und  Mütze  auf, 
fährt  mit  den  Frauen  zur  Kirche  und  wird  nach  Absingung  eines 
Liedes  und  nachdem  sie  geopfert  hat,  von  dem  Prediger  mit  einem 
Gebete  eingesegnet.  Diese  Ceremonie  geschieht  auch  im  Hause  auf 
dem  Flur,  in  dessen  Mitte  ein  gedeckter  Tisch  mit  einem  Lichte  darauf 
gestellt  wird.  Die  Männer  gehen  nicht  mit  in  die  Kirche,  im  Hause 
aber  wohnen  sie  dem  Gesänge  und  Gebete  zugleich  mit  dem  weiblichen 
Geschlechte  bei." 

Taufe.  Der  Kindtauf ssch maus  dauert  nur  einen  Tag;  jeder 
weitere  kostet  75  Pf.  Steuern.  Die  Paten  müssen  während  der  Tauf- 
rede das  Kind  abwechselnd  in  die  Hand  nehmen.  Das  Geld  im  Paten- 
briefe (3,50  Mk.)  darf  nicht  zurückgewiesen  werden.  Die  Taufe  findet 
bald  nach  der  Geburt  statt,  weil  die  Wöchnerin  vor  der  Taufe  nicht 
über  die  Stralse  gehen  darf;  „sie  könnte  sonst  das  Vieh  versehen a. 

Begräbnis.  Wenn  ein  Kluckener  im  Sterben  liegt,  eilen  die 
Nachbarn  in  die  Stube,  singen  Choräle  und  beten  laut,  der  Sterbende 
singt  mit,  bis  ihm  die  Stimme  versagt.  Am  vierten  Tage  hält  man 
das  Begräbnis  ab.  Nur  die  Bewohner  der  Schmolsiner  Klucken  haben 
ihren  eigenen  Gottesacker.  Bei  ihnen  findet  das  Begräbnis  folgender- 
maßen statt.  Eine  halbe  Stunde  vor  des  Lehrers  Ankunft  sammeln 
sich  die  Leidtragenden  im  Trauerhause  an,  wo  sie  mit  Schnaps  und 
Weilsbrot  (Stuten,  Pameln)  ohne  Butter  oder  Fleisch  bewirtet  werden. 


Taufe.    Begräbnis.    Sprachliches.  437 

Beim  Eintritt  des  Lehrers  wird  nach  einem  stillen  Gebet  und  dem 
Gesang  eines  Chorals  vom  Lehrer  die  Leichenrede  mit  Vaterunser  ge- 
halten. Unter  dem  Gesänge  eines  Liedes  hebt  man  den  Sarg  auf  die 
Trage,  und  der  Zug  setzt  sich  in  Bewegung.  Bei  Erwachsenen  wird 
auf  dem  Wege  „Wer  weifs,  wie  nahe  mir  mein  Ende"  oder  „Jesus, 
meine  Zuversicht"  mit  Pausen  gesungen;  bei  Kindern:  „Christus,  der 
ist  mein  Leben. u  Der  Lehrer  geht  kurz  hinter  dem  Sarge  und  tritt 
beim  Betreten  des  Gottesackers  vor  ihn.  Er  liest  einen  Bibelabschnitt 
vor,  betet  ein  Vaterunser  und  stimmt  mit  den  Sängern,  während  man 
den  Sarg  einsenkt,  das  Lied  an:  „Nun  lasset  uns  den  Leib  begraben." 
Dann  verrichten  alle  knieend  ein  stilles  Vaterunser,  gehen  an  die 
Gräber  ihrer  Angehörigen  und  beten  dort.  Im  Trauerhause  giebt  es 
Butterbrot  mit  Käse  und  Schnaps,  Pellkartoffeln  mit  gekochtem  Fisch 
und  dann  Reissuppe.  Je  zwei  und  zwei  haben  eine  Schüssel.  Zuletzt 
reicht  man  nochmals  Schnaps  und  Butterbrot,  Bier  und  eine  Cigarre. 
Nun  singt  man  ein  Gesangbuchlied,  und  der  Lehrer  betet  am  Schluls  — 
das  wünscht  man  immer  —  nochmals  für  alle.  Auf  dies  Gebet  legt  man 
grotsen  Wert.  Einzelne,  die  vor  nichts  zurückschrecken,  stehen  dabei 
wie  gebrochene  Sünder.  Sie  weinen  und  fühlen  zuweilen  ihre  wundeste 
Stelle  im  Trauerhause  berührt.  „Das  wirkt",  „das  war  sehr  hübsch", 
meinen  sie  und  geloben  im  Herzen  Besserung. 

In  den  Zemminer  Klucken  sind  die  Gebräuche  bis  zum  Abmarsch 
des  Trauerzuges  dieselben.  Dann  geht  der  Lehrer  bis  zur  Dorf  grenze 
mit  und  scheidet  mit  einem  „Behüt  euch  Gott".  Nun  wandelt  man, 
im  Winter  mit  der  Leiche  auf  dem  Schlitten,  bis  Zemmin,  wo  der 
Zemminer  Lehrer  die  Führung  des  Zuges  und  die  Leitung  des  Gesanges 
„Jesus,  meine  Zuversicht"  übernimmt.  Hinter  Zemmin  singen  sie 
allein.  In  dem  1 5  km  entfernten  Glowitz  begleitet  der  Glowitzer  Kantor 
die  Leiche  bis  ans  Grab.  Von  der  Leichenhalle  ab  zieht  der  Pastor 
mit  und  beendet  die  Feierlichkeit,  dann  begiebt  sich  die  Trauer- 
gesellschaft in  den  Krug,  wo  es  recht  laut  hergeht.  Die  Bewohner 
der  Selesener  Klucken  fahren  ihre  Särge  den  Kluckenbach  aufwärts, 
laden  sie  dann  am  Berge  auf  den  Wagen  und  fahren  nach  dem  10  km 
entfernten  Selesen,  wo  der  Lehrer  die  Beerdigung  vornimmt. 

IV.     Sprachliches. 

Bei  allen  diesen  Handlungen  bedient  sich  jetzt  der  Kluckener  der 
hochdeutschen  Sprache,  die  er  schön  rein  und  deutlich  spricht;  im 
Kruge  aber  herrscht  die  plattdeutsche  Mundart  vor. 

Interessant  ist  Hakens  Bericht  über  die  Sprache  der  Slowinzen 
1779:  „Die  Aussprache  der  plattdeutschen  pommerschen  Mundart 
klingt  bei  ihnen  etwas  grobe  und  als  aus  vollem  Munde  kommend. 
Den  Lautbuchstaben  a  sprechen  sie  in  vielen  Wörtern  als  o  und  in 
anderen  als  u  aus,  seh  wie  sk  und  f  verwandeln  sie  oft  in  ch,  z.  B.  in 


438  Di®  Slowinzen. 

Lucht  statt  Luft.  Ihre  alten  Wörter  kommen  nach  und  nach  in  Ver- 
gessenheit. Zur  Probe  können  folgende  dienen.  Dörretz  oder  Dörse 
heilet  eine  Stube.  Schlöpt  ein  bätken  int  Döritz  un  Iaht  üb  en  Muhlken 
vull  kulzen,  heifst,  geht  ein  wenig  in  die  Stube  und  lafst  uns  etwas 
reden;  en  düglich  Balg,  ein  artig  Kind;  en  lütk  Lüt,  ein  klein  Kind; 
davallsk,  thöricht;  Hön  eine  Ecke  oder  Winkel;  Syg  jy  noch  gaut 
weelig?  befindet  ihr  euch  noch  wohl;  behau  wen,  gebrauchen,  wovon 
im  hochdeutschen  Behuf  herkommt;  Nadup  eine  Art  von  Alkove  in  der 
Stube.  Man  erinnert  sich  noch,  dals  die  Alten  Ath  für  Vater  gesagt 
haben.  In  ihren  Beden  bedienen  sie  sich  einer  Menge  von  Sprich- 
wörtern, welche  zum  Teil  einen  Beweis  des  ihnen  natürlichen  Witzes 
abgeben.  Wir  wollen  nur  einige  davon  anführen.  Wedder  den  Back- 
afen  pusten,  sich  einem  Mächtigern  widersetzen,  gegen  den  man  nichts 
ausrichten  kann;  Eöp  dy  n'en  Bück  (Bock),  so  werst  nich  melken, 
wenn  du  faul  sein  willst,  so  entbehre  auch  den  Nutzen;  Wenn  dei 
Kinn  er  klen  sind,  wyst  man  sei  af  mit'm  Appel  un  Lappen,  wenn  sei 
grot  waren,  mutt  ganz  anners  klappen,  kleine  Kinder  kosten  etwas, 
aber  wenn  sie  grols  werden,  kosten  sie  viel  mehr;  Sei  süht  uth,  als 
wenn  sei  uth  den  Arften  (Erbsen)  jagt  ist,  sie  sieht  ganz  verwildert 
aus;  Gif  em  wat  unnern  Bart,  so  wardt  wohl  krygen  gaude  Art,  gieb 
dem  Vieh  was  zu  fressen,  so  wird  sich's  wohl  bessern;  Im  Winter  ifs 
baven  an,  wo  man  de  Bratäppel  langen  kann,  im  Winter  ist  bei  dem 
Ofen  die  beste  Stelle;  Sei  süht  uth  als  Melk  un  Blaut,  man  kann  sei 
immer  ut  Sult  un  Water  geneiten,  Beschreibung  eines  reizenden  Frauen- 
zimmers; Dei  Braut  mut  spinnen,  die  Hochzeit  ist  aus;  Wat  schallt 
Honn'g  in  de  Teerbütt,  dies  Sprichwort  wird  gebraucht,  wenn  Jemand 
eine  gute  Speise  verachtet,  weil  er  sie  nicht  gewohnt  ist,  oder  wenn 
man  eine  Speise  zu  gut  für  ihn  hält;  Necken,  dat  deith  hei  nich,  in 
den  hülternen  Büchsen  (Kanzel)  steint  hei  nich,  nein,  das  thut  er  nicht« 
auf  sein  Wort  mufs  man  nicht  trauen,  als  wenn  es  von  der  Kanzel 
gesprochen  wäre;  Dem  ils  dei  Seil  (Seele)  in  den  Füllen  verbistert,  die 
Seele  hat  sich  bei  ihm  in  den  Falten  verirrt,  sagt  man  von  einem 
Alten,  den  man  gerne  los  sein  will  und  der  noch  nicht  sterben  kann; 
Wer  myn  Mauder  oock  ne  Zeg  (Ziege)  un  ick  hedd  man  gauden  Deg 
(Gedeihen),  es  schadet  wohlgeratenen  Kindern  nichts,  wenn  sie  auch 
geringe  filtern  haben;  Dei  der  over  der  Höll  sitt,  mutt  den  Düvel  tau 
Vaddern  bidden,  wer  einen  vor  sich  hat,  der  ihm  schaden  kann,  mufs 
ihm  wohl  etwas  zu  gute  thun;  Fruwens  Rat  und  Baukweitsat  raden 
sillen,  averst  wenn  sei  raden,  so  raden  sei  oock  recht  tau  dowegen, 
Frauenrat  und  Buchweizensamen  geraten  selten,  wenn  sie  aber  geraten, 
geraten  sie  rechtschaffen;  He  heft  morgen  nen  fetten  Domen,  er  hat 
morgen  einen  Schmauls  zu  erwarten;  Kanst  oock  all  Eyer  kaken?  willst 
du  auch  schon  Frau  spielen;  Wer  na  Noten  fidelt,  den  dort  dei  Pre- 
cepter  nich  up  dei  Finger  slan,  wer  nach  der  Vorschrift  handelt,  hat 
keine  Verantwortung;   Fischt  hei  nich  watt,  so   schütt  (schiefst)   hei 


i 


Sprachliches.    Aussprache.  439 

wat,  gelingt  es  ihm  nicht  auf  die  eine  Art,  so  gelingt  es  ihm  auf  die 
andere;  Hei  ils  so  flink  als  en  ult  Büfsenschlott,  er  will  gern  geschwind 
sein,  aber  das  Alter  versagts  ihm;  Hei  kann  mitm  Ellbagen  nich  in 
dei  Fobke  (Tasche)  kamen,  sagt  man  von  einem  Geizigen,  der  nicht 
gern  Geld  ausgiebt;  En  Düvel  hett  den  annern  Glupogg,  un  wenn  sei 
tau  seihn,  scheuen  sei  alle  beede,  ein  Esel  heilst  den  andern  Sackträger; 
Wenn  'm  den  Düvel  zehn  Jahr  Huback  dregt  (auf  dem  Rücken  trägt) 
un  sett'n  enmahl  unsacht  nedder,  helpt  alles  nilst,  bei  einem  Undank- 
baren verschwendet  man  seine  Gutthaten;  Wen'm  mit  dem  Enaken 
nam  Hunn  smitt,  so  kachinkt  (schreit)  hei  nich,  wenn  man  seinen  Vor- 
gesetzten oder  Richter  mit  Geschenken  besticht,  sieht  er  durch  die 
Finger;  Man  mutt  naken  (oft:  vgl.  Md.  fartn  =  forthin)  nen  s warten 
Hund  Schwan  heiten,  man  muls  oft  anders  reden  oder  handeln  als 
man  denkt;  Hei  geiht  als  dei  Hund  na  der  Kost,  er  geht  nicht  den 
geraden  Weg,  sondern  bald  rechts,  bald  links;  Dat  Beir  folgt  dem 
Tappen,  steck  tau,  so  dörst  nich  jappen,  trinke  mäfsig,  so  hast  du 
immer  was  und  darfst  zuletzt  nicht  schmachten;  Wenn  dei  Eark  oock 
noch  so  grot  ifs,  dei  Preister  predigt  doch  man  so  vel,  als  hei  will, 
dies  Sprichwort  braucht  man,  wenn  jemand  ein  grots  Gefäfs  darbeut, 
in  der  Meinung,  man  soll  ihm  viel  darin  geben;  Wenn't  taum  Klappen 
kümt,  ils  Grootmauders  Slaapmütz,  am  Ende  ist  es  nichts;  Sei  he  oben 
eren  egnen  Kopp,  als  dei  Rügianschen  Gänse,  sie  bleiben  bei  ihrer 
einmal  gefalsten  Meinung;  't  sitt  em  nich  in  den  Kledern,  't  sitt  em 
im  Liv,  das  ist  bei  ihm  keine  Gewohnheit,  die  er  wieder  ablegen  kann, 
es  ist  eine  angeborene  Gemütsart;  Hei  wett  das  Wysken  wol,  man 
nich  dat  Wörtken,  er  weile  die  Melodie  wohl,  aber  nicht  das  Wort,  er 
weifs  wohl,  wie  ein  Ding  sein  soll,  aber  nicht,  wie  er  es  machen  soll." 
Slowinzisch  wird  nur  von  den  alten  Leuten  und  auch  von  einigen 
jüngeren  bei  der  Fischerei,  beim  Grals  und  um  Deutschen  unverständ- 
lich zu  sein,  gesprochen.  Man  grüfst:  dobri  dzien  (guten  Tag), 
pomosch  bog  (hilf  Gott),  dobri  wieczor  (guten  Abend),  wietousche 
(willkommen),  ze  kuoja  (ich  danke),  bog  säplac  (schönen  Dank,  Gott 
bezahlt),  s  boga  (mit  Gott).  Die  Sprache  ähnelt  der  polnischen  und 
stimmt  in  vielen  Worten  wörtlich  mit  ihr  überein.  Das  wissen  auch 
die  Slowinzen  und  erzählen,  dals  sie  oft  in  Lauenburg  als  Dolmetscher 
zwischen  Käufern  und  polnischen  Verkäufern  auftreten.  Sie  haben 
ein  feines  Ohr  für  die  Unterschiede  zwischen  beiden  Sprachen  und 
erzählen  noch  jetzt,  dafs  von  den  früheren  Pastoren  der  Schmolsiner 
gar  nicht,  der  Glo witzer  sehr  schlecht,  der  Zezeuower  aber  vorzüglich 
kaschubisch  predigen  konnte.  Der  Wortschatz  ist  ein  anders  gearteter 
als  der  polnische  und  umfafst  die  Ausdrücke  des  gewöhnlichen  Lebens, 
und  selbst  von  diesen  hat  der  Kluckener  viele  vergessen  und  gebraucht 
ein  slawisiertes  deutsches  Wort;  so  für  die  Handwerkernamen.  Auch 
die  Betonung  weicht  oft  von  der  polnischen  ab;  sodann  wendet  der 
Kluckener  häufig  eine  eigentümliche  Diphthongisierung,  Vokalyerände- 


440  Die  Slowinzen. 

rung  und  Konsonantenein  Schiebung  an.  Einige  Beispiele  mögen  folgen: 
Polnisch  jestem  (ich  bin),  slowinzisch  jo  Jim;  p.  ubogi  (arm),  sL 
wubuodji;  p.  izba  (Stube),  sl.  jizba;  p.  on  (er),  sl.  wuon;  p.  koniec 
(Ende),  sL  könc;  p.  uzda  (Zaum),  sl.  wusda;  p.  wzrost  (Wuchs),  sL 
wruost;  p.  twardy  (fest),  sl.  schwardy;  p.  ogien  (Feuer),  bL  wödjen; 
p.  my  (wir),  sl.  ma;  p.  g§s*  (Gans),  sL  gas,  göee;  p.  sroda  (Mittwoch), 
sl.  struoda;  p.  igla  (Nadel),  sl.  jegla;  p.  ucho  (Ohr),  sL  wuoche,  pL 
wüsche;  p.  jezioro (See),  sL  jiesere;  p.  mydlo (Seif e),  sl.  madlo;  p.podniecs 
(aufheben),  sl.  woniesc;  p.  jest  dobrze  (es  ist  gut),  eL  je  doubrsche; 
p.  tak  mi  Panie  Boze  dopomöz  (so  wahr  mir  Gott  helfe),  sL  tak  ak  mi 
bog  pomösche;  sl.  zerkwia  (Kirche),  p.  cerkiew  (griechische  Kirche), 
kosciel  (Kirche)  und  zerkwischetze  (Gottesacker)  sollen  beweisen,  dafs 
die  Einführung  des  Christentums  hier  sehr  zeitig  und  von  Seiten  der 
griechischen  Kirche  geschehen  sei.  Die  Sprache  hat  jedoch  nur  so 
schwachen  Hinterhalt,  dafs  als  Gemeingut  nur  noch  wenige  Worter 
gelten  können  und  ganz  allmählich  eins  nach  dem  andern  dem  Klucke- 
ner  unverständlich  wird,  bis  die  deutsche  Spraohe  allein  herrscht. 

V.     Slowinzisches  Vaterunser. 

1.    (Nach  Pontanus  164S.) 

Oycze1)  näsz,  ktory  jes  w  Niebie.  Swiecono  badz*)  imie  twe.  Przydzy*) 
twe  krolestwo.  Twa  si$  Wola  stani4)  jako  w  Niebie  tako  y  na  Ziemi. 
Chleb  nasz  powszedny  day  nam  dzisa 5).  Y  odpuscy •)  nam  nasze  winny  7), 
jako  y  my  odpuszczamy 8)  naszim 9)  winnowacom.  A  niewodzy l0)  nas  w 
pokuszenie.  Ale  nas  wybawi  od  zlego  u).  Bo  twoje  jesta  krolestwo ,  y  lt) 
moc,  y  poczestnosd  od  wiäkä  asz  do  wieka  18).    Amen. 

2.    (Nach  Martin  Pollex  [L§gowski,  8.  19].) 

Woejcze  nasz,  chtore  te  jes  w  niebie.  Swancone  niech  bandze  imian 
twe.  Przyjdze  nom  twoje  kröulestwe  jak  w  niebie,  tak  na  zemL  Twoj 
chljeb  powszednan,  mili  Jezusku,  dzys  nom  daj,  a  wetpusc  nom  nasze  wine, 
nasze  gr£szy.  A  niewedze  nas  w  poekuszenie  le  nas  webawi  weto  WBzewo 
grzechu.    Abe  two  jesta  moc  tro  wet wieka  dowieka.    Amen. 


l)  Oy'cze  Wutstrack.  Uejcze  (=  Lejcze),  nasz,  ktery.  Mich.  Klick,  Klucken.  — 
*)  bfdzie  Schmolsiner  Gebetbuch,  ba'dz  Wutstrack,  swiancone  bodze  imi«»  twoje 
Klick.  —  8)  Przydz  nam  Schm.,  Przydz  W.  —  4)  stany  Schm.  —  *)  dzysa  Schm., 
dzcsia  W.  —  6)  odpusz  Schm. ,  ospusc  W.  —  7)  winy  Schm.  —  8)  odpuszczimy 
Schm.,  odpussczamy  W.  —  9)  naszym  W.  —  l0)  winowaycom  Schm.,  Winnowaycom 
W.;  nie  wodze  Schm.,  ni&  wodz  W.  —  ll)  Ale  naz  zbawi  od  WBzego  zlego  Schm., 
Ale  nas  wybawiod  zlego  W.  —  l*)  y  twoja  Schm.  —  l8)  na  wieky  wiekow  Schm., 
ass  do  wieka  W. 


Die  Kaschuben. 

Literatur. 
(Siehe  Tetzner,  Slowinzen  und  Lebakaschuben,  S.  268  bis  272.) 

Das  Altertums-Museum  im  Schlofs  zu  Stettin.    Stettin,  Fischer  und  Schmidt. 

Berka  (Biskupski):   Slownik  kaszubski  (Wörterbuch).    Warschau  1891. 

Biskupski:    Beitrage  zur  slawischen  Dialektologie.    Breslau,  Dissert.,  1883. 

B ronisch:   Kaschubische  Dialektstudien.    Leipzig  1896  ff. 

Cenova:  Skörb  etc.  (Märchen,  Bätsei  u.  s.  w.).  Schwetz  1866/68.  Kaschu- 
bisch.  —  Sbjör  etc.  (126  Lieder  u.  s.  w.).  Schwetz  1878.  Kaschubisch.  — 
Zar6s  etc.  (Entwurf  zur  Grammatik  der  kaschubisch  -  slovinischen 
Sprache).    Posen  1879.    Kaschubisch  und  deutsch. 

Derdowski:    O  panu  Czorlinscim.    Thorn  1880. 

Haken:    Bericht.    Abgedruckt  bei  Tetzner,  Slowinzen  und  Lebakaschuben. 

Hilferding:    Die  Überreste  der  Slawen  etc.    Ebenda  abgedruckt. 

Kantzow:   Fomerania.    Herausgegeben  von  Kosegarten.    Greifswald  1816. 

Le,gowski:   Kaszuby  i  Kociewie.    Posen  1892  (v.  Nadmorski). 

Lorek:  Zur  Charakterisirung  der  Kaschuben  am  Lebastrom.  Pommersche 
Provinzialblätter  1821. 

Maronski:  Die  stammverwandten  Beziehungen  Pommerns  zu  Polen.  Neu- 
städter Gym.-Progr.  1866. 

Möller:  Der  Dantzger  Frawen  und  Jungfrawen  gebreuchliche  Zierheit  und 
Tracht  1601.  Dantzigk,  Jac.  Rhode.  Herausgegeben  von  Bertling  1886. 
(20  Trachten.    Sehr  realistisch  die  Umbitter -Weiber.) 

Mrongowius:  Ausführliches  polnisch  -  deutsches  Wörterbuch.  Königsberg 
1835. 

Nadmorski:    Vgl.  Legowski. 

Perlbach:   Pommerellisches  Urkundenbuch.    Danzig  1882. 

Pernin:    Wanderungen  durch  die  sogenannte  Kaschubei.    Danzig  1886. 

Poblocki:    Stownik  etc.  (Wörterbuch).     Chetmno  1887. 

Ramutt:  Slownik  etc.  (Wörterbuch).  Krakau  1893.  —  Karte  in  „StatyBt. 
L.  Kasz".    Krakau  1899. 

Treichel:  Volkslieder  und  Volksreime  in  Westpreufsen.  Danzig  1895.  — 
Zahlreiche  Arbeiten,  veröffentlicht  von  der  Berliner  Anthropologischen 
Gesellschaft,  dem  Verein  für  Volkskunde  etc. 

v.  Winter,  Plehn  etc.:  Die  Bau-  und  Kunstdenkmäler  der  Provinz  West- 
preufsen.   Heft  1  bis  4  Pommerellen.    Danzig  1884  ff. 

I.     Sprachgebiet. 

Die  Heimat  der  Kaschuben  ist  Pommerellen.  Kaschuben  nennt 
man  heutigen  Tages  die  bodensässigen  katholischen  Slawen  der  Kreise 
Danzig,  Danziger  Höhe,  Patzig,  Neustadt,  Karthaus,  Berent,  Konitz, 


442 


Die  Kaschuben. 


Schlochau  (vgl.  Abb.  182),  dazu  die  an  der  pommeriBch-westpreuIsischen 
Grenze,  die  in  den  Bütower,  Stolper,  Lauenbnrger  Kreis  einige  Meilen 
vorgedrungen  sind.  Eine  genaue  Sprachgrenze  lälst  sich  schwer  fest- 
stellen, da  die  Sprachübergänge  an  der  polnischen  Sprachgrenze  sieb 
verwischen.  Die  Grenze  gegenüber  den  Polen  ist  seit  alter  Zeit  das  grolse 
Brachland  im  Gebiete  der  Netze  und  Warthe,  die  Brahe,  Kamianka, 


Die  letzten  lebakanchu bischen  Kirchspiele. 


In    den    (            )   Dörfern 

wird    noch    verei 

zeit  lebak 

( )  noch  hier  und 

•  verstanden.      Die 
der  kaschubisch 

beigesetzt 
n  Predigt 

Maßstab  1 

:  250  000, 

Dobrinka,  Küddow.  Im  Osten  reichte  das  Gebiet  nicht  über  die  Weichsel 
hinüber,  im  Westen  bis  znr  Leba;  es  gehorten  sogar  vom  heutigen  Pom- 
mern aulser  Lanenbnrg  and  Bütow  zeitweise  noch  Stolp  und  Schlawe 
dazu.  Im  Süden  war  die  Kastellanei  Wyszegrod  zwischen  Polen  und 
Pomm  ereilen  streitig.  Bis  ins  13.  Jahrhundert  werden  die  Bewohner 
westlich  von  der  Leba  Slawen,  die  östlich  davon  Pommern  genannt. 
Seitdem  der  Orden  im  Lande  war,  unterschied  man  zwischen  Pommern 


Sprach  gebiet. 


443 
Dieses   Pommereüen 


nnd   dem   heute  westpreutsischen   Pomm  ereilen. 
war  im  13.  Jahrhundert  noch  ganz  slawisch  und  gehörte  zum  polni- 
schen Gebiet, 

1793  umfatste  das  hinterpommersche  Sprachgebiet  (Abb.  183) 
aulser  dem  Kreise  Lauenbnrg  and  einem  Teil  von  Stolp  auch  noch 
Sprachreste  von  Bfitow. 

Abb.  183. 


Die  ksochubiachen  Kirchspiels  in  Pommern  im  18.  Jahrhundert. 
(Vgl.  S.  443,  Z.  3  v.  u.  und  du  Gebiet  der  Kaschuben  S.  473.) 


1860  endete  die  kaschubische  Sprachgrenze  bei  der  Linie  Gne- 
win,  Wittenberg,  Osseoken,  Prebendow,  Sarbake,  Leba,  Cbarbrow, 
Zezenow,  Dämmen  (ausgeschlossen),  Garde,  Südufer  des  Sees.  Die 
Kirchensprache  war  deutsch  und  kaschubisch  oder  polnisch,  die 
Familien  spräche  linka  des  Khickenbaeh.es  elowinziech. 

1885  begann  die  Grenzlinie  am  Nordostufer  des  Lebaseees,  reichte 
bis  znr  Mündung  der  Leba,  ging  Sntsaufwärts  bis  in  die  Gegend  von 


444  Die  Kaschuben. 

Zezenow  und  über  Poblotz,  Glowitz,  Garde,  das  Südufer  des  Lupow- 
sees  entlang. 

1900  hatte  das  Deutschtum  das  an  den  Grenzen  verkleinerte 
Gebiet  so  voneinander  geschieden,  dals,  westlich  vom  Eluckenbach  ab- 
getrennt, die  wenigen  Dörfer  bei  Garde,  Schmolsin  und  den  Klucken 
liegen,  die  noch  slowinzische  Reßte  beherbergen,  östlich  davon, 
namentlich  in  und  bei  Giesebitz  und  Czarnowske,  befinden  sich  Leba- 
kaschuben. 

Sehr  verschieden  sind  die  Angaben  über  die  Zahl  der  Kaschuben. 
55  539  giebt  A.  v.  Fircks  für  1890  an.  Die  Zahl  ist  viel  zu  gering, 
die  Karte  beweist,  dafs  eben  viele  Masuren  und  Kaschuben  sich  auf 
der  Zählliste  als  Polen  bezeichnet  haben.  Die  erste  Auflage  des  kleinen 
Mey  ersehen  Lexikons  zählt  85  500,  das  Brockhaussche  Lexikon  170000, 
der  Sprachforscher  Biskupski  180  000,  Dr.  Legowski  am  zuver- 
lässigsten  137  000,  Ramult  330  917  (davon  130  700  in  Amerika). 

Die  Lebakaschuben  (vgl.  Abb.  182  und  183)  sind  die  evangeli- 
schen Slawen  im  östlichen  Hinterpommern  jenseits  des  Kluckenbaches. 
Sie  sind  jetzt  bis  auf  verschwindende  Reste  in  Giesebitz  und  Czarnowske 
germanisiert.  Ihre  Geschichte  und  Konfession  bindet  sie  mehr  an  die 
Slowinzen,  mit  denen  sie  die  gleichen  Erbauungsbücher  besalsen. 
B üb c hing  (IX,  2063  bis  2064)  meint  1768,  dafs  im  stolpischen  Kreise 
in  Glowitz  und  Zezenow  neben  der  kaschubischen  Sprache  auch  eigene 
Tracht  geherrscht  habe,  in  Bütow  und  Lauenburg  aber  in  allen  Kirchen 
doppelsprachiger  Gottesdienst  gehalten  werde. 

Wenn  die  von  A.  v.  Fircks  angegebene  Zahl  (26  984  männliche 
und  28  555  weibliche  Kaschuben)  nun  auch  nicht  der  Wirklichkeit  ent- 
spricht, so  ist  doch  aus  den  Verhältniszahlen  desselben  Gelehrten  manches 
interessant.  Aulser  11  Juden,  1453  Evangelischen  und  5  der  evangeli- 
schen Kirche  verwandten  waren  alle  Kaschuben  katholisch,  nämlich 
97,39  Proz. ;  dies  Verhältnis  ähnelt  dem  der  Mährer.  Der  Staats- 
angehörigkeit nach  waren  aulser  fünf  Russen  und  einer  Österreicherin 
alle  Deutsche,  also  99,99  Proz.  42  Personen  waren  über  90  Jahre, 
2  über  100  Jahre.  Mit  den  Polen  stellen  die  Kaschuben  die  grölste 
Zahl  der  Alten. 

Mit  deutscher  und  kaschubischer  Muttersprache  waren  1223  Männer 
und  990  Frauen  begabt.  Es  zeigt  sich,  dafs  unter  diesen  doppel- 
Bprachigen  595  Evangelische  waren,  also  ein  unverhältnismäfsig  hoher 
Prozentsatz.  Bei  den  Kaschuben  merkt  man  die  einer  sefshaften  Be- 
völkerung eigentümlichen  Merkmale  der  Zahl  abnähme  in  den  höheren 
Altersklassen  und  der  Langlebigkeit  des  weiblichen  Geschlechts,  mit 
der  auch  die  verhältnismäfsig  langsamere  Zahlabnahme  des  letzteren 
verbunden  ist.  Die  Statistik  zeigt  ferner,  dafs  besonders  die  männliche 
Bevölkerung  zwischen  dem  20.  und  25.  Jahre  auffällig  gering  ist,  was 
seinen  Grund  in  der  Auswanderung  und  in  der  Sachsengängerei  hat 
Die  Zahl  der  Doppelsprachigen  nimmt  übrigens  mit  dem  Alter  ver- 


Volkszahl.    Älteste  Geschichte.  445 

hältnismälsig  zu,  sie  steigt  bei  den  Männern  bis  zum  20.  Jahre  und 
fällt  verhältnismäßig  nur  langsam. 

Neben  je  1000  Erwerbsfähigen  zählte  man  750,3  nicht  Erwerbs- 
fähige. 

II.    Gesohichte. 

Als  997  der  heilige  Adalbert  nach  Dan  zig  kam,  war  die  Stadt 
polnisch.  Der  Besitzer  war  Boleslaw,  der  zweite  christliche  Polenfürst. 
Aber  dieser  hatte  fortgesetzt  mit  den  Aufständen  der  Pommern  zu 
rechnen,  die  nur  lose  mit  seinem  Reiche  zusammenzuhängen  schienen. 
Kräftiger  scheint  die  geistliche  Herrschaft  gewesen  zu  sein,  nicht  die 
des  Hamburger  (seit  834)  oder  Magdeburger  (seit  968)  Erzbistums, 
aber  die  des  Gnesener  (seit  etwa  1000).  Mit  dem  Bischof  Werner  von 
Kujavien  oder  Leslau,  der  sich  1148  das  Land  von  derLeba  bis  Danzig 
ausdrücklich  als  Eigentum  mit  dem  Zehnten  von  dem  Getreide  und  den 
Schiffen  schenken  liefs,  ist  zugleich  der  Zeitpunkt  angegeben,  an  dem 
Westpommern  ostwärts  bis  zur  Leba  ein  eigenes  Bistum  und  dasselbe 
Land  ein  eigenes  Herzogsgeschlecht  umSchlawe  besafs,  hervorgegangen 
aus  dem  pommerschen  Herrscherhause,  sich  aber  durch  verwandtschaft- 
liche Bande  mehr  an  die  Deutschen  als  an  die  Polen  bindend.  Die 
Polen  behandelten  nun  Pommerellen  als  ihnen  zugehörend  und  wählten 
Statthalter  für  Danzig.  Der  erste  war  Subislaw  und  soll  der  Gründer 
des  Gistercienserklosters  Oliva  sein,  das  aber  erst  unter  seines  Nach- 
folgers Sambor  Regierung  (1170  bis  1207)  von  Kolbatz  aus  1178 
gegründet  worden  sein  kann.  Sein  Bruder  Mestwin  I.  (1207  bis 
1220),  der  Stifter  des  Prämonstratenserklosters  Zuckau,  tagte  noch 
friedlich  mit  den  polnischen  Bischöfen  zu  Mikulin.  Kaum  hatte  er  die 
Augen  geschlossen,  so  begann  die  Fehde  seines  Sohnes  Swantopolk 
(1220  bis  1266)  mit  Polen  und  mit  den  eigenen  Brüdern.  Swantopolk 
vereinigte  1227  Slawien  mit  Pommern  und  rief  deutsche  Siedler  nach 
Danzig,  sein  Bruder  Sambor  nach  Dirschau.  Swantopolk  bestätigte 
die  Schenkungen  Konrads  von  Masovien  für  den  Bischof  Christian  von 
Preufsen  1223,  dem  er  auf  Geh  eile  des  Papstes  Gregor  IX.  1231  gegen 
die  heidnischen  Preulsen  beistehen  sollte.  Er  beschenkte  die  Stanislaus- 
kirche  in  Garde  mit  dem  Fischzehnten  im  Garder  See,  dem  Zehnten 
von  Preuloca  und  Rowe  (Rou)  und  anderen  Einkünften  aus  Zietzen 
(Sice),  Rowen  (Roune),  Vietkow  (Wicesowo),  Schorin  (Scurevo),  Schmolsin 
(Smoltzini).  Sein  Nachfolger  Mestwin  IL  (1266  bis  1294)  erkannte 
1269  die  Brandenburger  Markgrafen  als  Lehnsherren  an  und  sprach 
ihnen  Danzig  zu.  Den  Mönchen  von  Beibuk  gab  er  1281  die  1180 
zur  Gnesener  Erzdiözese  gehörige  Stolper  Kirche  mit  dem  Dorfe  Karzin, 
dem  Zehnten  der  Dörfer  Labuhn,  Stantin,  Wobesde,  Buckow,  Selesen, 
die  Marienkapelle  auf  der  Burg  mit  dem  Zehnten  von  Flinkow 
und  Strellin  und  zu  einem  Kloster  die  Nikolaikirche  mit  den  Dörfern 


446  Die  Kaschuben. 

Bekel,  Veddin,  Schorin  und  Schmolsin  (Obesda;  §molino  cum  sylvia, 
pratis,  pascuis,  paludibus;  piscationem  in  stagno,  quod  Gardna 
vocatur,  et  —  quod  Lebesco  dicitur  etc.).  Charbrow  war  seit  1286 
bei  Kujavien.  Wohl  besafs  er  ganz  Pommerellen  bis  auf  Beigard, 
aber  von  allen  Seiten  drohten  die  Feinde,  zumal  er  durch  unkluge 
deutschfeindliche  Politik  und  durch  Schwanken  keine  Bundesgenossen 
erhalten  konnte.  Barnim  von  Pommern  griff  nach  dem  Kloster  Bukau 
in  Schlawe,  und  als  er  starb,  wollten  der  Orden,  Brandenburg  und 
Polen  gleichzeitig  das  Land.  Kurze  Zeit  besats  es  der  Polenkönig 
Przemyslaw  (f  1295),  der  sich  vom  Onesener  Erzbischof  zum  König 
von  Polen  und  Herzog  von  Pommern  hatte  krönen  lassen.  Dann 
nahm  es  der  Sohn  des  mächtigen  Ottokar,  Wenzel  IL  Wenzel  III.  ver- 
pfändete es  1305  auf 8  neue  den  Brandenburgern.  Aber  Wladislaw  von 
Polen  rückte  ins  Weichselgebiet  ein.  Und  als  1 308  die  Brandenburger, 
wie  30  Jahre  zuvor,  in  Dan  zig  einmarschierten,  riefen  die  Danziger  den 
Orden  herbei;  der  kaufte  den  Brandenburgern  ihre  Rechte  ab,  ergriff 
1310  selbst  Besitz  und  hatte  1313  alles  Land  bis  auf  Lauenburg, 
Bütow,  Stolp,  Schlawe  und  Bügen walde.  Unterdes  hatten  die  kujavi- 
schen  Bischöfe  überall  deutsche  Verhältnisse  eingeführt,  und  die  eigent- 
lichen Herren  des  Landes,  die  Äbte  von  Oliva  und  Pelplin,  der  Palatin 
Swenza  von  Danzig  und  Stolp  und  andere,  leisteten  dem  Deutschtum 
Vorschub.  Bis  zum  Verfall  des  Ordens  war  das  Deutschtum  so  weit 
vorgeschritten,  dals  selbst  die  Besitznahme  durch  Polen  1454  und 
1466  nicht  mehr  von  Einflute  sein  konnte.  Als  nach  der  ersten  Teilung 
Polens  Pommerellen  1772  an  Preulsen  kam,  war  ein  altes  durch 
deutsche  Arbeit  und  Siedelung  erworbenes  Land  in  den  Besitz  der 
Bebauer  zurückgelangt.  Lauenburg  und  Bütow  aber  lagen  seit  1657 
in  brandenburgischen  Händen.  Ging  auch  der  deutsche  Charakter 
Pommerellens  durch  die  Polenherrschaft  nicht  verloren,  so  fand  doch 
keine  lebensvolle  Weiterentwickelung  wie  im  übrigen  Deutschland  statt 
G.  Freytag  sagt  u.  a.  etwa  (Bilder  aus  der  deutschen  Vergangen- 
heit IV,  269  f.,  9.  Aufl.     Leipzig  1876): 

„Die  Mehrzahl  des  Landvolks  (der  Kaschuben)  lebte  in  Zustanden, 
welche  den  Beamten  des  Königs  jämmerlich  erschienen.  Wer  einem 
Dorfe  nahte,  der  sah  graue  Hütten  und  zerrissene  Strohdächer  auf 
kahler  Fläche,  ohne  einen  Baum,  ohne  einen  Garten,  —  nur  die  Sauer- 
kirschbäume waren  altheimisch.  Die  Häuser  waren  aus  hölzernen 
Sprossen  gebaut,  nur  mit  Lehm  ausgeklebt;  durch  die  Hausthür  trat 
man  in  die  Stube  mit  grofsem  Herd  ohne  Schornstein;  Stubenöfen 
waren  unbekannt,  selten  wurde  ein  Licht  angezündet,  nur  der  Kien- 
span erhellte  das  Dunkel  der  langen  Winterabende;  das  Hauptstück 
des  elenden  Hausrats  war  das  Kruzifix,  darunter  der  Napf  mit  Weib- 
wasser. Das  schmutzige  und  wüste  Volk  lebte  von  Brei  aus  Roggen- 
mehl, oft  nur  von  Kräutern,  die  sie  als  Kohl  zur  Suppe  kochten,  von 
Heringen  und  Branntwein,  dem  Frauen  wie  Männer  unterlagen.     Brot 


-J 


Polnische  Herrschaft.    Urteile  Frey  tags.  447 

wurde  nur  von  den  Reichsten  gebacken.  Viele  hatten  in  ihrem  Leben 
nie  einen  solchen  Leckerbissen  gegessen,  in  wenig  Dörfern  stand  ein 
Backofen.  Hielten  die  Leute  ja  einmal  Bienenstöcke,  so  verkauften  sie 
den  Honig  an  die  Städter,  aulserdem  geschnitzte  Löffel  und  gestohlene 
Rinde,  dafür  erstanden  sie  auf  den  Jahrmärkten  den  groben  blauen 
Tuchrock,  die  schwarze  Pelzmütze  und  das  hellrothe  Kopftuch  für 
ihre  Frauen,  stumpf  und  schwerfällig  trank  das  Volk  den  schlechten 
Branntwein,  prügelte  sich  und  taumelte  in  die  Winkel.  Auch  der 
Bauernadel  unterschied  sich  kaum  von  den  Bauern,  er  führte  seinen 
Pflug  selbst  und  klapperte  in  Holzpantoffeln  auf  dem  ungedielten 
Futsboden  seiner  Hütte,  schwer  wurde  es  auch  dem  Preufsenkönig, 
diesem  Volke  zu  nützen.  Nur  die  Kartoffeln  verbreiteten  sich  schnell, 
aber  noch  lange  wurden  die  befohlenen  Obstpflanzungen  von  dem  Volke 
zerstört,  und  alle  anderen  Kulturversuche  fanden  Widerstand.  Ebenso 
dürftig  und  verwüstet  waren  die  Grenzstriche  mit  polnischer  Bevölke- 
rung. Selbst  auf  den  Gütern  der  gröfseren  Edelleute,  der  Starosten 
und  der  Krone  waren  alle  Wirtschaftsgebäude  verfallen  und  un- 
brauchbar. Wer  erkrankte,  fand  keine  andere  Hülfe  als  die  Geheim  - 
mittel  einer  alten  Dorffrau,  denn  es  gab  im  ganzen  Lande  keine 
Apotheken.  Wer  einen  Rock  bedurfte,  that  wohl,  selbst  die  Nadel  in 
die  Hand  zu  nehmen,  denn  auf  viele  Meilen  war  kein  Schneider  zu 
finden,  wenn  er  nicht  abenteuernd  durch  das  Land  zog.  Wer  ein  Haus 
bauen  wollte,  der  mochte  zusehen,  wo  er  von  Westen  her  Handwerker 
gewann.  Noch  lebte  das  Landvolk  in  ohnmächtigem  Kampfe  mit  den 
Herden  der  Wölfe;  wenig  Dörfer,  in  welchen  nicht  in  jedem  Winter 
Tiere  und  Menschen  decimiert  wurden.  Brachen  die  Pocken  aus,  kam 
eine  ansteckende  Krankheit  ins  Land,  dann  sahen  die  Leute  die  weifse 
Gestalt  der  Pest  durch  die  Luft  fliegen  und  sich  auf  ihre  Hütten 
niederlassen,  sie  wufsten,  was  solche  Erscheinung  bedeutete,  es  war 
Verödung  ihrer  Hütten,  Untergang  ganzer  Gemeinden,  in  dumpfer 
Ergebenheit  erwarteten  sie  dies  Geschick.  Es  war  in  der  That  ein 
verlassenes  Land,  ohne  Zucht,  ohne  Gesetz,  ohne  Herrn;  es  war  eine 
Einöde,  auf  600  Quadratmeilen  wohnten  500  000  Menschen,  nicht  850 
auf  der  Meile.  Und  wie  eine  herrenlose  Prärie  behandelte  auch  der 
PreuLsenkönig  seinen  Erwerb,  fast  nach  Belieben  setzte  er  sich  die 
Grenzsteine  und  rückte  sie  wieder  einige  Meilen  hinaus.  Bis  zur 
Gegenwart  erhielt  sich  in  Ermland,  der  Landschaft  um  Heilsberg 
und  Braunsberg  mit  12  Städten  und  100  Dörfern,  die  Erinnerung, 
dals  zwei  preulsische  Tamboure  mit  zwölf  Mann  das  ganze  Ermland 
durch  vier  Trommelschläge  erobert  hatten." 

Friedrich  derGrofse  selbst  meinte:  „Ich  glaube,  Kanada  ist  ebenso 
kultiviert  wie  Pommerellen",  und  an  anderer  Stelle:  „Man  hat  mir  ein 
Stück  Anarchie  gegeben,  mit  dessen  Umwandelung  ich  beschäftigt  bin.u 
Ähnlich  hiels  es  auch  in  amtlichen  Berichten  über  den  Netzedistrikt 
von  1773:    „Das  Land  ist  wüste  und  leer.  —  Die  meisten  der  vorhan- 


448  Die  Kaschuben. 

denen  Wohnungen  scheinen  größtenteils  kaum  geeignet,  menschlichen 
Wesen  zum  Aufenthalt  zu  dienen Der  Bauernstand  ist  ganz  ver- 
kommen, ein  Bürgerstand  existiert  gar  nicht44 

Anton  (Die  alten  Slawen,  Leipzig  1783)  gedenkt  kurz  der  Ka- 
schuben unter  Benutzung  der  Aufzeichnungen  Hakens. 

Wertvoll  ist  auch  das  Zeugnis  Rhesas.  Es  ist  um  so  wichtiger, 
als  der  völkerkundige  Gelehrte  und  Dichter  mit  aller  Liebe  an  den 
Litauern  und  Kuren  hing,  gegen  die  Sprach  vernichter  auftrat  und  das 
Volkstümliche  zu  schätzen  wufste.  Als  Rhesa  mit  zur  Befreiung 
Deutschlands  auszog  und  als  Militärprediger  den  Feldern  von  Leipzig 
zueilte,  kam  er  auch  durch  Kaschubien.  Er  schreibt  in  seinem  Buche 
darüber : 

„Zwischen  Stargard  und  Konitz  ist  gegen  10  Meilen  lauter  Heide- 
sand und  Wüstenei.  Man  reist  zwei,  drei  Meilen  weit,  ohne  ein  Dorf 
anzutreffen.  Es  scheint  ein  von  Gott  und  Menschen  zugleich  ver- 
lassenes Land  zu  sein.  Die  Kaschuben,  ein  wendischer  Völker  stamm, 
bewohnen  diese  Wüstenei.  Sie  sprechen  eine  dem  Polnischen  ähnliche 
Sprache.  Der  Schnitt  ihres  Gesichts  ist  auffallend  von  den  Prealsen 
verschieden,  sowie  ihre  Kleidung.  Sie  sehen  aus  wie  die  gemalten 
Heiligenbilder  auf  dem  Trödel.  Da  sie  katholisch  sind,  so  ist  Einfalt 
und  krasse  Bigotterie  auf  ihrem  Gesichte  zu  lesen.  Ein  gewisser  Zug 
von  Feigheit  und  Hals  gegen  die  Deutschen  läfst  sich  von  ihnen  nicht 
verbergen.  Mit  heimlichem  Argwohn  blicken  sie  den  Fremden  von 
der  Seite  an,  wenn  er  nach  dem  Wege  fragt,  und  thun,  als  verständen 
sie  den  Deutschen  nicht.  Übrigens  herrscht  die  gröfste  Armseligkeit 
innerhalb  ihrer  mit  Marienbildern  bedeckten  Wand.  Keine  Spur  von 
deutschem  Kunstfleifs,  kein  Stuhl  in  dem  Hause,  kein  Obstbaum  im 
Garten.  Ich  glaube,  dals  dies  Volk,  obgleich  mitten  unter  Deutschen, 
seit  fünf  und  mehr  Jahrhunderten  auf  derselben  Stufe  der  Roheit  und 
Unkultur  stehen  geblieben,  weil  der  Deutsche  sie  und  sie  den  Deutschen 
nicht  leiden  können.  An  Schulen  auf  dem  Lande  ist  gar  nicht  zu 
denken,  dafs  sie  wenig  Patriotismus  haben  werden,  läfst  sich  nach 
dieser  Schilderung  wohl  erwarten,  und  durch  sie  wird  der  preulsische 
Staat  gewils  nicht  gerettet  werden."  —  Rhesa  sah  mit  dem  Auge  des 
Freiheitskämpfers  und  Patrioten. 

Lorek  schildert  1820  die  Lebakaschuben  schon  in  besserem 
Lichte;  neuere  Schriftsteller  werden  auch  den  guten  Seiten  der  pom- 
merellischen  Kaschuben  gerecht.  Die  Sprache  ist  an  vielen  Orten, 
besonders  in  evangelischen  Kirchspielen,  deutsch  und  der  Sinn  zu- 
traulicher geworden.  Auf  mich  wenigstens  haben  die  Leute  einen 
freundlicheren  Eindruck  gemacht  als  auf  Rhesa. 

Dafs  indes  auch  noch  heute  dort  polnische  Gesinnung  vorherrscht, 
zeigen  die  Reichstagswahlen.  Dem  allgemeinen  Kulturaufschwung  aber 
hat  sich  das  Kaschubenland  nicht  entzogen.  Auch  die  Ansiedelungs- 
kommission hat  ihre  Thätigkeit  nicht  umsonst  ausgeübt. 


Literatur.  449 

Ursprünglich  scheint  man,  im  Gegensatz  zu  den  Slowinzen,  rein 
polnische  Bücher  gehraucht  zu  hahen;  in  Zezenow  findet  man  noch  die 
alte  polnische  Bibel,  das  Königsherger  preußische  polnische  Gesang- 
buch, die  Evangelia  und  Episteln  deutsch  und  polnisch  (Danzig  1721) 
mit  angehängtem  Gesangbuch  und  Einmaleins.  In  Garde  hatte  man 
aber  auch  im  Jahrhundert  der  Reformation  die  Lutherische  Postille 
und  einen  Katechismus  in  polnischer  Sprache;  das  Krofeysche  Gesang- 
buch wird  nicht  erwähnt.  Auch  in  Glowitz  besafs  die  Kirche  1733 
aulser  deutschen  Büchern  und  der  plattdeutschen  Kirchen  Ordnung  ein 
Gesangbuch,  eine  Bibel,  einen  Katechismus,  eine  alte  und  die  neue 
Dombrowskische  Postille  in  polnischer  Sprache. 

Am  frühesten  erscheint  das  lebakaschubische  Schrifttum  in  An- 
lehnung an  das  evangelische  slowinzische  erblüht  zu  sein.  Die  hand- 
schriftlichen Arbeiten  sind  kaum  auseinander  zu  halten.  Auf  leba- 
kaBchubischem  Boden  entstanden  aber  sicher  die  Virchenziner  Eide  um 
1720  (Tetzner,  Slowinzen,  S.  212  bis  228).  Zu  den  in  meinem  Buche 
angegebenen  Stücken  füge  ich  hier  die  Übersetzung  des  Beinigungs-, 
Zeugen-  und  Dreschereides  (S.  214)  und  den  Lojower  Holzwärtereid. 

Reinigungseid:  Ich  N.  N.  schwöre  zu  Gott  dem  Allmächtigen 
einen  körperlichen  Eid,  dals  ich  an  dem  betreffenden  Bier  unschuldig 
bin  und  auch  das  Bier  nicht  angezapft  habe,  so  wahr  mir  Gott  helfen 
möge  durch  Jesum  Christum.     Amen. 

Zeugeneid:  Ich  N.  N.  schwöre  bei  Gott  dem  Allmächtigen  und 
bei  seinem  heiligen  Evangelium  einen  körperlichen  Eid,  dafs  ich  weder 
aus  Liebe  oder  Furcht  zu  meinem  gnädigen  Herrn,  noch  aus  Hals  oder 
Zorn  gegen  die  Zipko wer  fälschlich  aussagen,  sondern  die  reine  Wahr- 
heit sagen  will,  wie  es  einem  ehrlichen  und  aufrichtigen  Menschen 
ansteht.  Wenn  ich  lügen  sollte,  so  gebe  Gott,  dals  ich  verdorre  wie 
ein  dürrer  Ast  am  Zaun  und  kein  Glück  in  allem  dem  Meinigen  habe, 
sondern  dafs  meine  Thaten  verflucht  seien.     Amen. 

Dreschereid:  Ich  N.  N.  verspreche  und  schwöre  zu  Gott  dem 
Allmächtigen  einen  körperlichen  Eid,  dafs  ich  in  der  mir  vom  Herrn 
Schlofsvogt  zum  Dreschen  anvertrauten  herrschaftlichen  Scheune  das 
Korn  so  gut  als  möglich  ausdreschen  und  nichts  nehmen  will,  was  mir 
nicht  gehört.  Ich  will  auch  nichts  nehmen  lassen  und  es  anzeigen  und 
nicht  verbergen,  wenn  es  geschieht.      So  wahr  mir  Gott  helfe.     Amen. 

Lojower  Holzwärtereid.  Ich  N.  N.  schwöre  zu  Gott  dem 
allmächtigen  einen  wahren  leiblichen  Eyd,  dats  ich  auf  das  mir  an- 
vertraute Holz  und  Buschwerk  bey  Lojow  fleifsig  acht  haben  will. 
Solches  ofte  bey  Tag  und  Nachte  durch  gehen,  und  achtung  geben, 
dals  niemand,  weder  einheimische  noch  fremde  Schaden  darin  thun, 
und  dafern  ich  jemand  darin  betreffen  solte  data  er  was  abhauen  oder 
stehlen  wolte,  so  will  ich  solches  sogleich  meiner  Herrschaft  anzeigen 
und  darin  keinen  übersehen,  es •  sey  Freund  oder  Feind.  Will  auch 
sonst   meiner   Herrschaft    in    allen   stücken   treu   und   gehorsam   seyn, 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  29 


450  Di©  Kaschuben. 

alles  dieses  will  ich  thun  und  halten,  so  wahr  mir  Gott  zur  ewigen 
seeligkeit  helfen  soll  durch  Jesum  Christum.     Amen. 

Mrongowius  hat  in  seinem  polnisch  -  deutschen  Wörterhuche 
auch  den  kaschubischen  Sprachschatz  (1835  bis  1837)  berücksichtigt. 
Easchubische  Wörterbücher  schrieben  besonders  Poblocki  1887, 
Berka  (Biskupski)  1891,  Ramutt  1893.  Eine  kaschubische 
Schriftsprache  aber  wollte  Flavius  Cenowa  aus  Slawoschin  im 
Putziger  Kreise  schaffen.  Die  nördliche  Mundart  sollte  die  Grundlage 
einer  gemein  lechischen  Sprache  bilden  und  die  „slowinzische"  Sprache 
sollte  von  Heia  bis  ins  Tschechenland  verständlich  sein.  Unermüdlich 
sammelte  der  neifsige  Arzt  und  Gelehrte  seit  1850  Lieder,  Märchen, 
Sprichwörter,  er  dichtete  auch  selbst  und  verbreitete  die  jetzt  seltenen 
Heftchen.  Der  Humorist  Derdowski  gab  1880  ein  Werk  heraus,  in 
dem  er,  wie  Donalitius,  das  gewöhnliche  kaschubische  Volk  schil- 
derte. Von  neueren  kaschubischen  Ethnographen  ist  besonders  Le- 
gowski  zu  erwähnen,  der  mit  Vor-  und  Umsicht  die  sprachlichen  und 
volkstümlichen  Schätze  hebt. 

in.     Wohnung,  Beförderung,  Kleidung. 

Boden.  Uralte  Burgwälle,  die  Treichel  besonders  erforscht  hat, 
und  zahlreiche  Urnenfunde  beweisen,  wie  lange  die  Kaschubei  besiedelt 
ist.  Der  Boden  selbst  ist  karg,  und  besonders  im  Norden  sind  die 
grofsen  Heiden  oder  Moore,  ein  Gemisch  von  Sand-  und  Torfland, 
während  der  Waldbestand,  der  hier  und  da  nicht  unbedeutend  war, 
gering  geworden  ist.  Landschaftlich  schöne  oder  merkwürdige  Gegen- 
den, wie  der  Strand  und  die  Kaschubische  Schweiz,  locken  wohl  auch 
Fremde  zum  Besuch,  und  die  Tucheische  Heide  ist  lange  nicht  so 
schlecht  als  ihr  Ruf.  Die  Moorlandschaften  sind  bei  all  ihrer  Ein- 
förmigkeit (vergl.  Abb.  184)  nicht  unbelebt.  Der  Bauer  sticht  die 
Palten,  die  oberste  Schicht  des  mit  Moor  und  Heidekraut  bewachsenen 
Torfmoors,  und  fährt  mit  dem  Kuhgespann  haushohe  Haufen  vor  sein 
Gehöft.  Die  klar  gehackten  Palten  benutzt  er  als  Streu  oder  füllt 
die  Düngergrube  damit  an,  dafs  die  Jauche  einzieht.  Die  Palten 
machen  also  das  Stroh,  das  Feuerungsmaterial  und  den  Dünger  zum 
Teil  überflüssig.  Der  Gräbenauswurf  der  Moore  wird  auch  hier  zur 
Mischung  und  Fruchtbarmachung  des  Sandgebietes  benutzt;  auch  die 
Düngersalze  haben  ihren  Einzug  gehalten.  Die  Moordörfer,  die  die 
grofsen  Heiden  unterbrechen,  sind  meist  recht  klein  (vergl.  Abb.  185) 
und  zeigen  in  der  Gebäudeanlage  mit  den  schiefen  Giebeln,  den  abseits 
liegenden  Kartoffelmieten,  Kellern,  Speichern, 'Backöfen  und  dem  Zieh- 
brunnen ein  festes  Gepräge  (vergl.  Abb.  186). 

Haus.  Die  Grundform  des  Hauses  ist  der  slowinzischen  Urform 
ähnlich:  zwei  halbe  Häuser  sind  zusammengebaut  (vgl.  Abb.  172,  S.  409); 
jede  Hälfte  gehört  einer  Familie.     Wenn  bei  den  Lebakaschuben  links 


Das  Oiesebitzer  Moor. 


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Die  Kaschuben. 


Giesebitz. 


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454  Die  Kancbubeij. 

und  rechts  von  dem  Hausflur  nur  je  eine  Stube  mit  d  ah  int  erliegen  der 
Kammer  das  gewöhnliche  ißt  (Abb.  187),  der  Stall  aber  abseits   liegt. 


Czarnowsker  KaHchubenhftuser.     (Nach  einer  Aufnahme  de*  Verfassers.) 

so  bemerkt  man  in  der  Krockower  Gegend  viele  Häuser,  bei  denen 
aeitlioh  noch  ein  Stall  angebaut  ist  (Abb.  188).     Tritt  in  Pommern 

AM>.  188. 

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Grundriß  eines  Krockower  Hauses. 


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nooh  hier  und  da  Holzbau  auf,  so  in  Westpreulsen  meist  Lehmfach  werk 
mit  Strohdach.  Der  festgestampfte  Lehmboden  und  die  Rauchkate 
haben  der  Diele  und  der  Esse  Platz  gemacht.  Im  Norden  ist  die 
Giebelzier   seltener  als  im    Süden  (Abb.  189).      Aus-  und  Einbauten 


<ä#V. 


Giebelzier  aus  dem  Neustädter  Kreise. 
(Treichel  in  den  Verb.  d.  Bari,  anthr.  Ges.,  30.  6.  1888,  16.  2.  1889, 
Abbildungen)  verwischen  zudem  in  wohlhabenderen  Gegenden  die  land- 
schaftliche Eigenart.      Der  unermüdliche   Treichel   hat  Hunderte   Ton 


Haus.    Giebelzier.   Keller.    Beförderung.    Kleidung. 


455 


Abb.  190. 


Kaschubiscber  Keller  in  Krockow. 


Abb.  191. 


westpreufsischen  Giebelfiguren  gesammelt  (vergL  a.  a.  0.  30.  6.  1888, 
16.  6.  1894,  21.  7.  1894,  20.  6.  1896  etc.).  In  der  Küstengegend 
ragen  oft  einfache  Windbretter  kreuzweise  am  Giebelende  in  die  Höhe, 
und  das  Dach  fällt  nach  allen  vier  Seiten  schräg  ab.  Beim  Keller 
(Abb.  190),  der  stets  zu  ebener  Erde,  nie  unter  dem  Hause  liegt,  ist 
die  Erdgrube  die  Hauptsache.  An  den  beiden  Enden  sind  Pfahlkreuze 
und  darüber  ein  Balken  über  die  Grube  gelegt.  Nun  bildet  der  Balken 
den  First,  an  dem  schräg 
mit  Palten  bedeckte  Höl- 
zer dachartig  anliegen. 
Der  Kellerein  gang  ist 
stets  gemauert  und  mit 
einer  niedrigen  Thür 
versehen,  auf  der  Seite 
öfters  mit  Schilf  belegt 

und  ähnelt  zuweilen  einer  Hundehütte.  Der  Backofen  ist  mit  Lehm 
beklatscht  (Abb.  186),  gleicht  auf  serlich  öfter  dem  Keller,  ist  aber 
kugelig  und  hier  und  da  zu  einem  Backhäuschen  ausgebaut. 

Beförderung.  Es  wird  noch  derselbe  auf  den  abseits  liegenden 
Dörfern  gebräuchliche  kurze  Leiterwagen  gewesen  sein,  mit  dem  wir,  wie 
JEthesa,  das  Land  durchfuhren.  In  den  Leitern 
(Abb.  191)  stehen  zwei  halbe  ineinander  ge- 
schobene Korbkästen,  wenn  man  nicht  Stroh- 
seile durch  die  Leitern  gezogen  hat.  Auch  der 
Sitz  ist  von  Stroh.  Im  Winter  setzt  man  das 
Gestell  einfach  auf  Kufen.  Bei  der  geringen 
Zahl  von  Eisenbahnen  wird  man  bald  mit  diesem 
etwas  unbequemen  Gefährt  vertraut,  das  indes  schon  hier  und  da 
modischen  Wagen  im  Preise  von  500  Mk.  Platz  macht. 

Kleidung  (Abb.  192  bis  194).  Die  Kleidung  der  alten  Kaschuben 
ist  sehr  häufig  beschrieben  worden  (sämtliche  alten  Zeugnisse  in  meinen 
„Slowinzen  und  Lebakaschuben"),  namentlich  Lorek  hat  den  Gegenstand 
für  sein  Kirchspiel  ausführlich  behandelt,  den  schwarzen  kurzen  Falten- 
rock und  das  ärmellose  Mieder  der  Frau,  die  Pelzmütze,  den  gezipfelten 
Doppelpelz  der  Männer  (Abb.  193)  und  die  schön  gestickten  grofsen 
Handschuhe,  die  früher  in  Glowitz  sogar  als  geistliche  Abgabe  in  Ge- 
brauch waren,  in  ähnlicher  Weise 
aber  auch  noch  heute  in  ganz  Nord- 
deutschland vorkommen  (Abb.  192). 
Noch  vor  10  Jahren  trug  man  im 
Neustädter  und  Putziger  Kreise  den 
langen  blauen  Rock  aus  selbst-  Handschuh.  (Nach  Andree.) 
gewebtem  Tuch,  heute  sind  Sommer  Überzieher  und  Kaisermäntel  nichts 
Seltenes,  und  die  Kleider  der  Bazare  sind  teilweise  in  die  entlegensten 
Gegenden  eingezogen.     (Vgl.  auch  Abb.  194.) 


Leiterwagenseite 
in  Krockow. 


Abb.  192. 


Die  K  usch  nben. 


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458  Die  Kaschuben. 

IV.     Familienfeierlichkeiten. 

Hochzeit.  Die  Bräuche  bei  Hochzeit,  Begräbnis  und  Taufe 
weichen  von  dem  polnischen,  masurischen ,  slowinzischen  und  mähri- 
schen nur  in  Kleinigkeiten  und  individuellen  Zufälligkeiten  ab. 

Neben  der  Brautschau  giebt  es  auch  eine  Bräutigamsschau,  wenn 
die  Heirat  zwischen  den  Vätern  verabredet  worden  ist.  Bei  der  Ver- 
lobung fährt  der  Bräutigam  die  beiden  Mütter,  der  Brautvater  Brant 
und  Schwiegervater.  Der  Hochzeitsbitter  spricht  seine  Sprache  deutsch, 
seltener  kaschubisch.  Unter  den  zur  Hochzeit  von  den  Gästen  ge- 
schickten Nahrungsmitteln  befindet  sich  auch  ein  Hahn  für  den 
Bräutigam.  Man  nimmt  es  sehr  übel,  wenn  bei  der  Einladung  eine 
nahestehende  Familie  übersehen  wird.  Die  Frau  des  Lehrers  putzt 
meist  die  Braut  an.  Vor  dem  Brautgang  bittet  jene  ab.  Der  ge- 
schmückte Hochzeitsbitter  führt  den  Zug  zur  Kirche  an.  Knechte 
reiten  schiefsend  nebenher.  Am  Hochzeitstage  wird  dem  Bräutigam 
aus  Scherz  von  den  wartenden  Frauen  oft  die  Thür  zugehalten  und 
nur  gegen  Versprechungen  geöffnet.  Kommt  das  Paar  nach  Haus,  so 
reicht  man  ihm  Salz  und  Brot,  das  berühren  beide  mit  den  Lippen. 
Zum  Brautmahl  gehören  ungeköpfte  Fische,  Reis,  Schwarzsaueres. 
Brautschuh  stehlen,  Hochzeitsecke,  Lichter  vor  dem  Paar  sind  auch  in  der 
Kaschubei  hier  und  da  zu  finden.  Der  Hochzeitsbitter  hält  in  Pausen 
Reden,  die  mit  der  Aufforderung  zum  Geben  enden,  für  die  Braut,  für 
ihn,  für  die  Musikanten,  für  die  Köchin.  Zum  Schlufs  bittet  der  Braut- 
vater, mit  dem  wenigen  fürlieb  zu  nehmen.  Gesang  und  Gebet  be- 
schliefst  die  Tafel.  Beim  folgenden  Tanz  mufs  jeder  mit  der  Braut 
tanzen,  und  am  nächsten  Morgen  jede;  „der  Kranz  wird  abgetanzt*1, 
nachdem  um  Mitternacht  zuvor  die  Häubung  vorgenommen  worden  ist. 
Da  schliefsen  die  Jungfrauen  einen  Kreis  um  die  Braut,  singen  ein 
Lied  („Wir  winden  dir  den  Jungfernkranztf),  tanzen,  nehmen  ihr  den 
Kranz  ab  und  setzen  ihr  die  Haube  auf.  Der  Kranz  war  schon  zuvor 
zerknittert  worden.     Jeder  nimmt  sich  ein  Stück  davon. 

Die  Hochzeit  findet  meist  um  Martini,  und  zwar  Dienstags  statt; 
dann  sind  natürlich  die  Musikanten  rar.  Ärmere  feiern  die  Hochzeit 
im  Krug;  dabei  wird  viel  süfser  Schnaps  getrunken.  Die  Getränke 
spielen  eine  Hauptrolle,  schon  bei  der  Verlobung  wird  auf  die  Heirat 
ein  Fafs  Bier  getrunken.  Das  soll  zugleich  die  Abmachungen  wegen 
der  Ausstattung  rechtsgültig  machen.  Die  in  Prosa  übertragenen 
Sprüche  und  Lieder  aus  der  Arbeit  Treichels  zeigen  zunächst  eine 
Zeit,  bevor  die  Myrte  als  Brautschmuck  üblich  war.  Sie  zeigen,  wie 
die  ähnlichen  litauischen  Lieder,  ferner  den  Gesichtskreis  der  Leute 
und  die  symbolische  Art  der  Redeweise.  Die  Kaschubin  ist  weit  davon 
entfernt,  sich  schlagen  zu  lassen,  sondern  führt  die  Geldbörse. 

In  Zarnowitz  und  Umgegend  laden  meist  Bräutigam  und  Braut 
am  Polterabend  persönlich,  mit  einer  Flasche  Schnaps  versehen,   die 


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Hochzeitsgebräuche.    Hochzeitsbitterverse.  459 

Dorfbewohner  zu  ihrer  Hochzeit  ein;  zur  Hochzeit  bringt  man  Musik 
mit  zur  Kirche  (vier  Hornbläser),  nach  der  Trauung  wird  bis  gegen 
4  Uhr  im  Gasthause  getanzt,  wobei  viel  freudiger  Lärm  gemacht  wird, 
während  der  Easchube  Streit  vermeidet. 

Hochzeitsbitterverse:  Zu  gering  sind  meine  Füfse,  um  zu 
überschreiten  die  herrschaftliche  Schwelle;  aber  ich  bitte  euch  um  Ent- 
schuldigung, geehrte  Herrschaften,  auf  dafs  ihr  euch  nicht  darüber 
wundert,  weil  ihr  mich  heute  so  frei  aufdringlich  gesehen.  Denn  ich 
bin  nicht  zu  den  Herrschaften  gekommen  aus  eigenem  Kopfe,  sondern 
von  Gott  beredet.  Ich  bin  geschickt  zu  den  Herrschaften  zuerst  von 
Gott,  von  8 einer  allerheiligsten  Mutter  und  allen  Heiligen,  von  den 
Eltern  dieses  jungen  Paares,  auch  von  diesem  Brautpaare  (Namen) 
selbst,  welches  im  Begriff  steht  (Zeit,  Ort)  in  den  Ehestand  zu  treten. 
Ich  lade  euch,  alle  Herrschaften,  welche  ihr  euch  in  diesem  Palaste 
(Hause)  befindet,  zum  Hochzeitsakte,  damit  ihr,  geehrte  Herrschaften, 
keine  Ausrede  macht  und  diesem  jungen  Paare  zum  Ehestand  dient; 
auch  damit  die  Mädel  und  Brautjungfern  sich  Schürzen  und  Tücher 
schön  waschen  und  plätten,  die  Strümpfe  mit  seidenen  Bändern  fest- 
binden, damit  dieselben  im  Tanz  nicht  auf  die  Hacken  herabfallen, 
damit  für  sie  selbst  sowohl,  auch  für  die  junge  Frau  keine  Konfusion 
hieraus  entsteht;  auch  dals  ihr,  junge  Herren  und  Kavaliere,  die  ihr 
euch  in  diesem  Palaste  (Hause)  befindet,  die  Pferdchen  gut  mit  Hafer 
füttert,  die  Wagen  schmiert,  die  Stiefeln  putzt  und  die  Pistolen  in 
Ordnung  bringt,  um  mit  diesen  dem  jungen  Paare  Triumphe  zu 
schiefsen.  Auch  Euch,  Herr  Wirt,  der  Ihr  Euch  im  Palaste  befindet, 
sich  mit  den  Pferdchen  nicht  auf  Reisen  zu  begeben,  —  weder  nach 
Danzig  —  denn  es  wird  sehr  vornehm  zugehen  —  auch  nicht  nach 
Berent  —  denn  es  wird  nicht  Taufe  sein  —  nach  Bütow  nicht  oder 
Krakau;  —  darüber  aber  thut  mir  der  Kopf  weh,  —  nicht  mir  nur 
so  allein,  —  wie  dem  jungen  Paare  viel  mehr.  —  Es  wird  eine  reiche 
Hochzeit  werden;  —  da  sind  schon  geschlachtet  zwei  gehörnte  Ochsen, 

—  zwei  schwanzgestutzte  Borge,  —  drei  Mandel  Gänse,  —  drei  Paar 
Puthähne  —  und  drei  Körbe  mit  Pfefferkuchen.  —  Es  wird  da  sein 
ein  Backofen  voll  Brot,  —  welches  uns  sehr  nötig  sein  wird.  —  Es 
wird  da  sein  ein  leichtes  Getränk,  —  und  werden  wir  trinken  einer 
zum  andern.  —  Da  wird  sein  ein  Ohm  Branntwein  und  ein  Ohm  Rum, 

—  da  werden  wir  recht  trinken  und  saufen.  —  Die  Hochzeit  soll 
dauern  eine  ganze  Woche,  aber  für  uns  nicht  jeden  Tag,  —  von  Sonn- 
tag auf  Montag,  —  von  Montag  auf  Dienstag,  —  von  Dienstag  auf 
Mittwoch,  —  von  Mittwoch  auf  Donnerstag.  —  Und  am  Freitag  wollen 
wir  zusehen,  —  ob  Letzttag  ist  oder  erst  anfängt.  —  Wer  sich  aber 
noch  Sonntag  wird  amüsieren  wollen,  —  der  vergesse  nicht,  einen 
Beutel  mit  Geld  mitzunehmen.  —  Aber  ich,  meine  geehrten  Herr- 
schaften, bin  ein  Reisemann,  —  der  Beutel  ist  mir  und  mein  Bauch  so 
leer:   —   Daher  bitte  ich,  geehrte  Herrschaften,  um  ein  Glas  Bier  — 


460  Die  Kaschuben. 

oder  auch  um  ein  Gläschen  Kam,  —  damit  ich  glücklich  nach  Hause 
kommen  kann.  —  Oder  anch  um  einen  Groschen  Geld,  —  weil  ich 
habe  auf  dieser  Reise  viel  Elend  und  Ungemach  ausgehalten.  —  Hat 
aber  wahrscheinlich  den  verehrten  Herrschaften  mein  Dienst  nicht 
gefallen,  so  mufs  ich  die  Herrschaften  sehr  bitten,  mir's  doch  zu  ver- 
zeihen: —  denn  ich  hab  es  nicht  gelernt  in  der  Schule,  noch  in  der 
Kirche,  sondern  in  der  Scheune.  Und  ihr  wüst,  geehrte  Herrschaften, 
dafs  dort  nicht  viel  Zeit  zum  Lernen  ist,  —  weil  dort  Getreide  zum 
Dreschen  war.  —  Jetzt  endlich:  Gelobt  sei  Jesus  Christus!  — 

Häubungsgesänge  vor  dem  Abtanzen  des  Kranzes: 

1.    Vor  der  Häubung. 


Ach!  mein  Kranz  von  Lavendel, 
Gleite  nicht  von  meinem  Kopfe; 
Wenn  du  meinen  Kopf  losläfst, 
Wirst   du   auf  der   Erde   herum- 
geschleppt werden. 


Ach!  mein  Kranz  von  weiüser  Rose, 
So  mancher  dient  mir  heute: 
Morgen  wird  er  mir  nicht  mehr  dienen ; 
Denn  morgen   werde   ich   schon  Frau 

sein. 


2.    Nach  der  Häubung. 

Ach,  ach,  ach!  mein  Mann  schlägt  mich, 

Wer  wird  mich  jetzt  bedauern? 

Frau  Mutter,  fahr  zu  mir 

Und  bedaure  wenigstens  du  mich.  — 

Nachdem  Frau  Mutter  dann  gekommen, 

Hat  auch  die  Wirtschaft  sich  besehn: 

Schlag,  mein  Schwiegersohn,  gut, 

Bis  der  Tochter  die  Haut  platzt; 

Nicht  mit  der  Axt,  noch  mit  dem  Messer, 

Sondern  mit  Stock  und  Strang.  — 

Wenn  auch  wer  nachjagen  möchte  mit  vier  Pferden, 
Er  würde  meinem  Kranze  doch  nicht  ankommen; 
Wenn  auch  wer  fallen  liefse  ein  Knäuel  von  Zwirn; 
Meinen  Kranz  würde  er  nicht  greifen. 

Ach!  mein  Kranz  von  Kartoffelkraut, 
Falle  nicht  von  meinem  Busen1). 
Ach!  mein  Kranz  von  altem  Strauchbesen, 
Wie  werden  wir  uns  jetzt  knillen. 


Ach!  mein  Kranz  von  Lavendel, 

Fall  doch  nicht  von  meinem  Kopfe, 

Wenn  du  aber  runterfällst,  so  wirst  du  umkommen, 

Wirst  auf  meinem  Kopf  nicht  mehr  sitzen. 

Ach!  mein  Kranz  von  weifser  Böse, 
Die  Welt  dient  mir  jetzt  nicht  mehr; 
Andern  dient  sie,  und  mir  will  sie's  nicht: 
Mein  Herz  hat  es  gewufst. 


!)  Z  moich  piczy;  der  Sing.  =  vulva.  ',(„Nur  Travestierung B.   I^gowski.) 


Häubungsgesänge.    Kindheit,  Taufe.    Krankheit,  Tod.  461 

Achl  mein  lieber  Kosmarin, 

Ich  habe  dich  gesät  auf  dem  Beete, 

Jetzt  werd  ich  dich  nicht  mehr  säen, 

Werde  allein  Herrin  sein. 

Schwer  war  es  mir  auf  dem  Herzen, 

Weil  ich  heute  nicht  weinte. 

(Ethnogr.  Zeitschr.  1884,  S.  105  ff.) 

Kindheit  und  Taufe.  Bis  zur  Taufe  darf  nichts  verborgt 
werden,  die  Taufe  mufs  bald  geschehen.  Brautleute  als  Paten  bringen 
Glück.  Die  Kinder  sollen  nicht  nach  Verstorbenen  benannt  werden. 
Bei  der  Rückkehr  von  der  Taufe  wird  der  Mutter  das  Kind  zu  Füfsen 
gelegt.  Wer  eine  leere  Wiege  wiegt,  raubt  dem  Kinde  den  Schlaf. 
Bis  zur  Taufe  mufs  die  junge  Frau  etwas  von  ihrem  Manne  anhaben. 
Die  Entwöhnung  des  Kindes  mufs  bei  abnehmendem  Mond  geschehen. 
Zu  Paten  nimmt  man  keine  Personen  mit  körperlichen  Gebrechen, 
über  Kinder,  die  am  Boden  liegen,  soll  man  nicht  wegschreiten,  sonst 
wachsen  sie  nicht.  Hat  man  es  doch  gethan,  mufs  man  wieder  zurück- 
schreiten. Kinder,  die  die  Schere  in  den  Mund  nehmen,  bekommen 
Hasenscharten.  Kinder,  die  sich  auf  den  Tisch  setzen,  bekommen 
Schwären.  Den  ausgefallenen  Zahn  soll  das  Kind  über  den  Kopf 
werfen,  dats  ein  neuer  wächst.  Zum  erstenmale  Pate  sein,  und  zwar 
bei  unehelichen  Kindern,  bringt  Glück.  Einbinden  von  Geld  in  den 
Patenbrief,  von  frommen  Büchern  in  die  Wiege,  das  Hüten  vor  Be- 
schreien  und  vor  den  Unterirdischen,  ist  auch  bei  den  Kaschuben 
bekannt.  Wenn  ein  Mädchen  beim  Umzug  des  Schimmelreiters  vom 
Storch  berührt  wird,  bekommt  es  im  folgenden  Jahre  ein  Kind.  Irr- 
lichter sind  ungetaufte  Kinder.  Aus  den  Planeten  lesen  manche  die 
Lebenszeit  und  das  Lebensgeschick.  Mit  Kindern,  die  im  Schlafe 
lachen,  spielen  die  Engel. 

Krankheit  und  Tod.  Aalhaut,  Maulwurfspfoten,  Schleim  der 
schwarzen  Schnecke,  Berühren  mit  einer  Leichenhand,  Glockenfett, 
Glockenseilasche,  zu  Johanni  gesammelte  Kräuter:  sind  gute  Heilmittel. 
Pröpelformeln  werden  deutsch  und  kaschubisch  gesprochen.  Wer  am 
Sonntag  erkrankt,  wird  nicht  wieder.  Auf  Tolltäf  eichen  mit  der  Formel 
„Sator  arepo  tenet  opera  rotasu  gebackene  Kuchen  helfen  gegen  den 
Bifs  toller  Hunde.  Beim  „Beschrieensein"  hilft  das  Bewischen  mit  dem 
Hemde  eines  Menschen  des  anderen  Geschlechts.  Anzeichen  für  den 
Tod  sind:  Abfallen  eines  Bildes  von  der  Wand,  Stehenbleiben  der  Uhr, 
Maulwurfshaufen  im  Hause,  Hundegeheul,  Uhugekrächze.  Todkranke 
8 ollen  nicht  umgelegt  werden;  man  zieht  Sterbenden  das  Kopfkissen 
weg.  Auch  hier  teilt  man  den  Haustieren  den  Tod  mit  und  hält  unter 
Schmaus  und  Gesang  geistlicher  Lieder  die  Totenwacht.  Kleidung 
Lebender  giebt  man  Toten  nicht  mit  ins  Grab;  unfertig  hinterlassene 
Arbeiten  macht  man  nicht  fertig.  Die  Namenszüge  entfernt  man  aus  der 
Totenkleidung  und  -wasche.  Neuntöter  oder  Vampyre  bringen  Zähne 
mit  auf  die  Welt,  haben  ein  Häutchen  auf  dem  Kopfe  und  Striemen 


462 


Die  Ka8chuben. 


am  Halse.  Man  muls  ihnen  im  Sarge  den  Kopf  vom  Rumpfe  trennen. 
Beim  Begraben  kippt  man  die  Sargbank  um.  Dem  Toten  legt  man 
den  Kamm,  womit  er  gekämmt  worden  ist,  unter  das  Kissen.  Man 
giebt  ihm  öfters  eine  Gitrone  in  die  Hand  und  zieht  ihm  ungetragene 
Wäsche  an.  Toten  soll  man  nicht  nachweinen,  sonst  wird  ihr  Hemde 
nais.     Redet  man  von  Toten,  so  sagt  man:  „Gott  hab  ihn  selig. tt 

Abb.  195. 


u'^ 


Grabschmuck  (ll/8  bis  2  m  hoch). 

a,  c  von  schwarzem  Blech  mit  gelber  Inschrift ;  auf  der  Hinterseite  von  a  (Bohlschau) : 
„Droben  ein  Wiedersehn",  auf  der  Vorderseite:  „Hier  ruht  in  Gott  Auguste  März, 
geb.  den  7.  Nov.  1873,  gest.  den  18.  März  1889  zu  Boro  wo.  —  Grabspruch  auf  o 
(Doppelgrab  zu  Bohlschau):  „Hier  tönt  kein  Weinen,  nagt  kein  Schmerz,  hier  wohnt 
das  Glück,  hier  ruht  das  Herz."  —  „Die  Hand  der  Liebe  deckt  euch  zu,  Schlaft  eine 

sanfte,  süfse  Ruh.4*  —  b,  d,  e,  f  von  Holz. 

Auf  das  Grab  (Abb.  195)  verwendet  man  in  der  Strandgegend 
nicht  viel  Schmuck.  So  sind  in  Zarnowitz,  wohin  17  Dörfer  die  Toten 
begraben,  nur  18  Grabdenkmäler,  gewöhnlich  umlegt  man  dort  die 
Gräber  mit  Feldsteinen  von  doppelter  Faustgrölse. 


V.     Aberglaube  und  Gebräuche. 

Geister.  Teufel,  Alp,  Mahrt,  die  Leutchen,  kopflose  Gespenster, 
Hexen  und  Kobolde  sind  auch  bei  dem  abergläubischen  Teile  der 
Easchuben  zu  Hause.  Die  Kolik  ist  ein  lebendes  Wesen  wie  der  Gumbs 
der  Litauer.  Hinter  dem  Mistkäfer  verbirgt  sich  der  Teufel,  ebenso 
kommt  er  im  Wirbelwind  oder  hat,  wo  Irrlichter  funkeln,  Geld  ver- 
borgen. Unken  sind  verwünschte  alte  Jungfern.  Feurige  Männchen 
bringen  fliegend  Geld  über  die  Strafse. 

Glück,  Unglück,  Zukunft.  Schratkugeln  im  Wildfleisch 
bringen  für  Jäger  Glück.  Der  Backteig  und  das  Brot  sollen  bekreuzt 
werden.  Ein  gefundenes  Hufeisen  muls  man  ans  Haus  annageln;  es 
bringt  Glück.  Klagt  einem  ein  Kranker  sein  Leiden,  so  soll  man  still 
sagen:  „Klage  dem  Stein",  dafs  er  die  Krankheit  einem  nicht  anklagt. 
Während  des  Spiels  soll  man  sein  Geld  nicht  zählen.  Hochzeitsthaler 
vererbt  man  gern.  Wer  ein  neues  Kleid  anhat,  den  muls  man  zupfen 
mit  den  Worten:  Zupf,  zupf,  zupf,  dafs  bald  zerreilst,  morgen  kriegst 
du  wieder  ein  neues;  das  heilst  „den  Schneider  herauszupfen u.  Man 
schiebt  beim  Betreten  eines  neuen  Hauses  zuerst  ein  Thier  hinein, 
mauert  es  wohl  gar  ein,  damit  alles  Unglück  sich  auf  das  Thier  lenken 


Grabschmuck.    Aberglaube.    Feste.  463 

soll  und  für  den  Menschen  nur  das  Glück  übrig  bleibt  (vgl.  Wallen- 
stein im  Altorfer  Karzer).  Der  erste  Traum  im  neuen  Hause  ist  von 
Vorbedeutung.  Mittels  Erbbibel  und  Erbschlüssel  kann  man  Diebe 
entdecken.  Eine  Hand,  die  drei  Maulwürfe  totgedrückt  hat,  ist  eine 
glückliche.  Wo  ein  Storch  nistet,  brennt  das  Gebäude  nicht  ab;  wo 
Schwalben  ihr  Nest  haben,  schlägt  kein  Blitz  ein.  Maulwurfshaufen 
im  Hause  bringen  Glück,  vor  dem  Hause  Unglück.  Hunde,  die  Wasser- 
namen haben,  kann  kein  Dieb  besprechen.  Die  Zukunft  erfährt  man 
durch  Pantoffelwerfen,  Bleischmelzen,  Knopfabzählen,  Bibelaufschlagen, 
Lichtverglimmenlassen ,  mitternächtliches  Kreuzwegstehen;  besondere 
Zeiten,  die  Zukunft  zu  erfahren,  sind:  Mitternacht,  Sylvesternacht,  die 
zwölf  Nächte,  Johannisvorabend,  Andreastag,  Heiliger  Abend.  Auch  ver- 
birgt man  gern  unter  umgestürzten  Tellern  verschiedenerlei,  beispiels- 
weise Brot,  Geld,  einen  Zweig  u.  dergl.,  läfst  einen  Teller  wählen  und 
schliefst  von  dem  darunter  liegenden  auf  die  Zukunft  Glücksgebäck 
hat  man  gern  in  der  Schublade.  Wenn  man  Salz  verschüttet,  wird  Zank 
werden.  Ein  Unverheirateter  soll  weder  Butter  noch  Käse  anschneiden. 
Wer  das  erste  Ränftchen  bekommt,  wird  bald  heiraten;  das  Ränftchen 
darf  ein  Bettler  nicht  bekommen.  Man  bäckt  „Neu jähr chen",  die  giebt 
man  den  Neujahrssängern ;  dies  Gebäck  soll  für  das  Vieh  besonders  gut 
sein.  Man  setzt  niemandem  ein  unangeschnittenes  Brot  vor.  Schimm- 
lig Brot  macht  die  Augen  klar.  Das  Brot  darf  nicht  mit  der  Unter- 
seite nach  oben  gelegt  werden.  Gäste  bekommt  man,  wenn  sich  die 
Katze  putzt.  Freitags  und  Montags  soll  man  keine  Heise  beginnen. 
In  den  Zwölften  wird,  wie  allwärts,  nicht  gern  gesponnen  und  ge- 
rungen. Bei  zunehmendem  Mond  unternimmt  man  alle  Sachen,  die 
Wachstum  bedingen;  bei  abnehmendem  solche,  die  ein  Verschwinden 
wünschenswert  erscheinen  lassen.  Für  eine  geborgte  Stecknadel  soll 
man  nicht  danken,  sonst  vergeht  die  Freundschaft.  Nägel  mufs  man 
bei  zunehmendem  Licht  abschneiden.  Was  man  beniest,  ist  wahr; 
wenn  man  in  der  Rede  plötzlich  vergifst,  was  man  sagen  wollte,  war 
es  eine  Lüge. 

Adventszeit.  Vermummte  und  verkleidete  Knaben  ziehen 
am  Weih  nachts  Vorabend  mit  dem  Brummtopf  herum  und  singen: 
Wir  treten  herein  ohn'  allen  Spott,  einen  schönen  guten  Abend,  den 
geb'  euch  Gott  (auch:  den  gab  uns  Gott),  einen  schönen  guten  Abend, 
eine  fröhliche  Zeit,  die  unser  Herr  Christus  uns  hat  bereit'.  Wir 
wünschen  dem  Herrn  einen  goldenen  Tisch,  auf  allen  vier  Ecken  ge- 
bratenen Fisch  u.  8.  w.  Es  folgen  Wünsche  für  alle  Familienglieder; 
zuletzt  bekommen  die  Sänger  eine  Gabe.  —  Solche  volkstümlichen,  der 
Hauptsache  nach  wohl  von  Lehrern  oder  gewitzigten  Leuten  gemachten 
Verse  werden  auch  zum  Geburtstage,  bei  Hochzeitseinladungen,  beim 
Bringen  des  Erntekranzes  und  der  Erntekrone  vorgetragen,  sowie  als 
Bindesprüche  bei  der  Ernte,  als  Richtsprüche,  als  Schnursprüche  der 
Zimmerleute,  Lotsprüche  der  Maurer  und  Bindesprüche  der  Ziegler. 


464  We  Kaschuben. 

Der  Umzug  des  Schimmelreitore ,  zu  dem  eich  oft  Doch  neben  der 
Musik  mit  Stürzen,  Giefskannen  u.  dergl.  ein  Bärentreiber,  Storch, 
Jude,  Bettelweib  gesellt,  findet  in  der  Adventszeit  statt '). 

Osterzeit.  Die  „Palm weihe"  der  Weidenkätzchenruten  findet 
ähnlich  wie  bei  den  Tschechen  zu  Palmarum  statt*),  die  Kräuterweihe 
am  15.  August.  Zu  Ostern  „hüpft"  die  Sonne,  man  holt  Osterwasser 
nnd  geht  schmackostem.     Zu  Walpurgis  bekreuzt  man  die  Thflren. 

Johan  n  isf  es  t.  Man  brennt  am  Vorabend  Teertonnen  an,  die 
man  auf  Stangen  gesteckt  hat,  und  die  Jugend  tanzt  darum.  Den 
Kühen  bindet  man  Kränze  um  den  Hals,  bekreuzt  die  Stallthüren  nnd 
sammelt  gewisse  Heilkräuter. 

Tanz  und  Spiel.  Hier  nnd  da  sieht  man  noch  den  Schuster-, 
Schäfer-,  Mützen-  oder  Bärentanz.  Die  Kinder  spielen:  „'Wir  gehe 
wandern",  „Gehohlen,  gestohlen,  gekuppelt,  gekauft,  gehandelt,  ge- 
wandelt", „Wappen  oder  Zahl",  Klippe,  Ballspiel,  Fangen,  Himmel 
und  Hölle,  Holz  auf  Stein,  Tischspiel. 

Gerät.  Von  eigentümlichem  Gerät,  das  vom  Slowinzischen  ab- 
wiche, ist  hier  etwa  eine  stattliche  Reihe  von  Schulzen  stocken,  Tabake- 
kacheln '),  die  auch  in  Litauen  vorhandenen  Web-  und  Stri ck kämme *) 
Abb.  196. 


')  Vgl.  Treichel,    a.  a.  O.  20.  1.  1883,   Abbildungen.     Geräte  auch  i 
Btetün er  Museum. 

*)  Treichel,  Vortrag  15.  S.  1883. 

')  Treichel,  a.  a.  O.,  81.  1.  1882. 

*)  Desgl.,  81.    10.   1882;  lö.  12.   1893;  21.  7.   1894. 

l)  Vgl.  Stettiner  Museum  und  Treichel,  h.  a.  0.,  21.  7.  1894,  Abb. 


Flechtkamme. 

I5cm   breit,  10cm  hoch  bi«  zum  Ende  der  Schnitte.     Durch  die  (etw»  neun)  Löcher 
werden  Gnrnfiden  gezogen  und  zu  Bändern  geflochten. 

(Abb.  196),  Bälden  und  Kollekten becken ,  Segenbretter,  Bell-,  Sator- 
und  Tolltafeln  zu  erwähnen.  Die  Schulzentische  mit  den  eingeschnit- 
tenen Zeichen  jedes  Bauern,  die  Rundmarken1),  die  slawischen  Joche 
(Abb.  197),  Querneu,  Schlüsselanhängsel  finden  sich  bei  anderen 
slawischen   Stämmen   auch.      In    einigen   Orten    (Zarnowitz)  wird    bei 


Feste.    Geräte. 


465 


Bekanntmachungen  ein  hölzernes  Rohr  herum  gesandt,  darin  befindet  sich 
das  zusammengerollte  Schriftstück1).  Dem  Gemeindestab  (Abb.  198) 
und  der  Tafel  (Abb.  199)  folgte  an  vielen  Orten  das  einfache  Schriftstück. 

Abb.  197. 

<r - - 1.20 — -V 


Slawisches  Binderjoch. 
(Aus  Andree,   Braunschw.  Volkskunde,  2.  Aufl.) 


Abb.  198. 


\ 


Früherer  Bock  in  Bohlschau. 

Etwa  1  m  lang,  gewachsener  und  geschälter 
Stock  mit  möglichst  vielen  Biegungen, 
a  Griff,  b  Blatt  mit  Bekanntmachung,  um  den 
Stock  gewickelt,  c  Bindfaden  als  Befestigung. 


Abb.  199. 


Bock  (Gemeindezeichen) 
in  Bohlschau. 

24.35  cm.     Kunder  Stiel: 
14  cm  lang. 


l)  Vgl.  Abbildungen  und  Ausführungen  von  A.   T reich el,   a.   a.  O., 
21.  1.  1882,;  21.  7.  1894. 

Tetzner,  Die  Slawen  in  Deutschland.  gQ 


466  Die  Kaschuben. 

VI.     Kaschubisohe  Sprichwörter  und  Lieder. 

Er  ist  auch  nicht  hinter  dem  Ofen  aufgewachsen.  —  Das  Schwein 
hat  vergessen,  dafs  es  ein  Ferkel  gewesen  ist.  —  Du  mufst  es    so 
machen,  dafs  der  Wolf  satt  wird  und  das  Schaf  ganz  bleibt.  —  Es  ist 
ihm  mehr  um  die  Junge,  als  um  die  Alte.  —  Man  schläft,  wie  man 
sich  bettet.  —  Wenn  für  den  Hund  kein  Stock  da  wäre,  würden  alle 
Menschen  leiden  müssen.  —  Er  ist  dort  so  nötig,  wie  das  Loch  in  der 
Brücke.  —  Er  ist  so  weise  wie  Salomons  Beinkleid.  —  Die  Nachbarn 
wissen,  wie  man  sitzt.  —  Der  Mensch  schiefst,  und  Gott  trägt  die 
Kugeln.  —  Er  ist  so  verschwunden,  als  wenn  man  einen  Stein  ins 
Wasser  wirft.  —  Besser  besoffen   als  ersoffen.  —  Einem  hungrigen 
Fürsten  mundet  auch  Kartoffelbrei.  —  Wo  man  sein  Geld  verzehrt, 
darf  man  in  die  Stube  spucken.  —  Der  ist  noch  nicht  geboren,  der  es 
allen  Leuten  recht  macht.  —  Das  Wasser  wird  so  lange  im  Topfe  ge- 
tragen, bis  der  Henkel  abbricht.  —  Es  giebt  keinen  ärgeren  Teufel, 
als  wenn  ein  armer  Teufel  ein  Herr  wird.  —  Gott  gab  dem  Frosch 
nicht  Hörner,  der  würde  sonst  spiefsen.  —  Wer  es  bequem  haben  will, 
der  bleib  zu  Hause  sitzen.   —  Das  letzte  Wort  findet  einen  sichern 
Ort.  —  Hast  du  Brot,  so  suche  nicht  Kuchen.  —  Ihm  geht  es  wie  den 
Erbsen  am  Wege,  wer  nicht  zu  faul  ist,  zupft  ihn.  —  Wo  die  Tugend 
ein  Loch  hat,  vermag  Geld  nichts.  —  Der  Wolf  wird  nicht  durch  Beten 
fett.  —  Die  Dummen  werden  nicht  gesäet,  sie  wachsen  von  selbst.  — 
Wenn  auch  der  Herr  befiehlt,  er  muls  es  doch  selbst  thun.  —  Je  älter 
der  Kater,  desto  härter  der  Schwanz.  —  Hols  der  Teufel,  Gott  giebt's 
wieder.  —  Wer  nicht  arbeiten  will,  ist  nicht  wert,  dafs  er  ifst.  — 
Wenn  eine  Kuh  den  Schwanz  aufhebt,  thun's  alle.  —  Für  Geld  kann 
man  den  Teufel  tanzen  sehn. 

Le.gowski,  Treichel  u.  a.  haben  kaschubische  Sagen, Märchen  etc. 
gesammelt.  Die  Sagenstoffe  unterscheiden  sich  nicht  von  den  slowin- 
zischen  und  polnischen.  Die  Schlauheit  und  Verschmitztheit  spielt  eine 
Rolle  in  Schwänken  und  Streichen.  Steinsagen,  Geistergeschichten, 
Volksrätsel  werden  von  Mund  zu  Mund  erzählt.  Die  von  Treichel  in 
Hochpaleschken  gesammelten  meist  deutschen  Lieder  beweisen,  wie 
allgemein  eine  Reihe  deutscher  Lieder  gesungen,  wie  wenig  zeitweilig 
vom  Volk  Neugedichtetes  beibehalten  wird  und  wie  sehr  der  deutsche 
Gesang  den  kaschubischen  überwiegt.  In  Kaschubien  singt  man  unter 
anderen  folgende  Lieder: 

1.    Ein   armer  Fischer  bin  ich   zwar. 


P 


3-  > _^ -V 


Ein    ar  -  mer   Fischer  bin  ich  zwar,  verdien'  mein  Geld  stets  in  Ge- 
Sie    hat  einen   rosenroten        Mund,  die  Brü  -  ste,    die   sind   kugel- 


fa^Ejg 


Kaschubische  Sprichwörter  und  Lieder. 


467 


£ 


^ 


f    -'j    -\r^~- 


^<^+ 


fahr,   doch  wenn   Feins   -   lieb   -   chen    am        XJ  -  fer    ruht,   dann 
rund,     die    Hän  -  de  sind  so        zart  und  fein       und 


% 


--  £ 


E3=N=£ 


geht    das  Fisch'n  noch    mal 
ihre  Zähne    wie       EL 

Und  fahren  wir  zur  See  hinaus 
Und  werfen  unsre  Netze  aus, 
Bann  kommen  Fischlein,  grofs  und 

klein, 
Ein  jedes  will  gefangen  sein. 

Und  kehren  wir  vom  Fischfang  heim 
Und  ziehen  unsre  Netze  ein, 
Bann  geht  Feinsliebchen  ins  Käm- 
merlein 
Feinsliebchen  will  jetzt  schlafen  ein. 


so      gut. 
fen  -  bein. 

Des  andern  Tags  in  aller  Früh, 
Da  klopft  es  leise  an  die  Thür, 
„Steh  auf,  mein  Fischer,   so  jung 

und  schön, 
Du  sollst  heut  wieder  fischen  gehn.* 

Und  ist  der  Monat  Hai  vorbei, 
Vorbei  ist's  mit  der  Fischerei: 
Dann     geht     Feinsliebchen     zum 

Traualtar, 
Es  lebe  hoch  das  Fischerpaar. 


Dies  mir  von  Herrn  Lehrer  Boldt-  Giesebitz  mitgeteilte,  von  den 
Anwohnern  des  Lebasees  ganz  besonders  in  Anspruch  genommene  Lied,  wird 
in  Hannover  von  den  Soldaten  gesungen,  auch  hörte  ich  es  in  Leipzig  und 
Dievenow. 

2.    Oudne  cepy  z  widlami. 

(A.  Treichel,  Urquell  N.  F.  I,  S.  176.  —  Vgl.  S.  496  dieses  Buches.) 

(Dieses  Lied  ist  in  verschiedener  Fassung  bei  allen  Westslawen  verbreitet.) 


Ein  wunderschöner  Dreschflegel  mit 

der  Heugabel 
Broschen  Erbsen  im  Eichenhain. 
Es  frafs  ein  Häslein  eine  Stute  auf. 
Es  sitzt  auf  der  Bonau. 

Bie  Scheune  wurde  lustig 

Vertrieb  das  Häslein. 

Bie  Stampfmühle  (der  Stampftrog) 

erblickte  den  Schabernack 
Sprang  durchs  Fenster  raus. 


Ausgebrütet  wurden  Kraniche 
Hinter  dem  Ofen  im  Spinnrocken. 
Einen  Holzhäher  gebar  ein  Holz- 
häher, 
Blinde  haben  das  gesehen, 

Das  Meischen  hat  geworfen 
Unter  dem  Fenster  auf  einem  Brett; 
Sechs  Türken  hat  es  geboren 
Der  Deutschen  elf.  2) 


1)  Nach  einer  Angabe  aus  Braunschweig  wurden  die  beiden  Schluiszeilen 
dort  mit  etwas  anderem  Rhythmus  wie  folgt  gehört: 

K — V 


W1 


3- 


^fcfc^ 


£a 


s)  Var.:  Die  Meise  hat  geworfen  Hinter  dem  Fenster  auf  dem  Questen- 
brett;  Lutheraner,  Türken  hat  sie  geboren,  Der  Juden  einhundert  und 
fünfzehn. 

30* 


468 


Die  Kaschuben. 


Einer  von  ihnen  war  Präsident 
Auf  der  lindenen  Brücke, 
Und  es  kam  ein  Wolf  ihm  erzählen, 
Er  hätte  aufgegessen  hundert  Stuten 

in  den  Fasten. 

Er  hat  ihm  aufgegeben  zur  Bufee 

(zur  Strafe) 
Hat    ihm    hineingeschlagen    einen 
Tannenreifen  auf  dem  Hintern 
(auf  das  Fell); 
Und  der  "Wolf,  wenn  er  sich  rührt, 

so  stöhnt  er. 
Denn  er  fürchtet  sich  vor  dem  Beif. 

So  geht  der  Wolf  nach  dem  Forste, 
Ertappte  er  dort  einen  Hering. 
Die  Ahle  tanzte  im  Walde, 
Durchstach  einen  Bären  1 

Es  sitzt  ein  Mückerich  auf  einem 

Heuschober 
Ist  gesättigt  mit  Jauche, 
Dem  Wolfe  droht  er: 
„Du  wirst  verlustig  Deiner  Seele." 


Der  Mückerich  hat  ihn  gestochen 
Mit  seiner  bunten  Nase, 
Der  Wolf  hat  ihn  gestofsen 
Mit  dem  buckligen  Schwänze. 

Und  aus  dem  Mückerich  drang  Blut, 
Drei  haben  darauf  gesehen; 
Dreihundert  Türken  ertranken, 
Welche  durch  das  Blut  fuhren. 


Am  Yigiltag  des  Aschermittwoch 
Hat  das  Schwein  das  Hörn  herunter- 

gestofsen, 
Der  Hund    hat  sich   den   Schwanz 

rausgewunden, 
Die  Henne  hat  einen  Zahn  verloren. 


Die    Maus    wirtschaftet     mit     der 

Butter, 
Die  Katze  wehrt  die  Fliegen  ab, 
Der  Hund  trippelt  hinter  dem  Pfluge 
Die  Batte  treibt  die  Ochsen. 


3.    Blüten. 

Wer  Blüten  will  im  Garten  seh'n 
Mufs  Sommers  in  den  Garten  geh'n. 
Der  Winter  zog  ins  Land  daher, 
Ich  finde  keine  Blumen  mehr. 

(Czarnowske.) 


4. 

Unsre  Mutter,  kleines  Bebhuhn, 
Schlägt  die  Kinderlein. 
Unser  Vater,  lieber  Vater, 
Trinkt  stets  Branntewein. 

(Glowitz.) 


5.    Nascha  matka. 

Meine  Mutter,  matka, 
Poszla  (ging)  in  die  Stadtka, 
Kupic  (zu  kaufen)  Messer,  noza, 
Zu  schlachten  alte  Koza  (Ziege). 

(Treichel, 
-Volkslieder  106,  6.) 


VII.     Kasohubisches  Vaterunser. 

(Mitgeteilt  vom  Vikar  AI.  Swieczkowski-Zarnowitz.) 

Das  kaschubische  „Vaterunser"  ist  ebendasselbe  wie  das  polnische,  nur 
mit  dem  Unterschiede,  dafs  das  weiche  polnische  6,  und  s  (gestrichen)  im 
Kaschubischen  scharf  ausgesprochen  wird,  ebenso  das  polnische  dz  im  Ka- 
schubischen  dz  heifst.    Kaschubisch  heifst  es: 

Ojcze  nasz,  ktorys  jest  w  niebiesech  sweo  se  imie  Twoje,  badz  wola 
Twoja,  jako  w  niebie,  tak  i  nazemi,  chleba  naszego  powszedniego ,  daj  nam 
dzisaj  i  odpusc  nam  nasze  winy,  jako  i  my  odpuszczamy  naszym  winowajconi 
i  nie  wodz  nas  na  pokuszenie  ale  nas  zbaw  odezlego.    Amen. 


Die  Polen. 

Literatur. 

Back:   Die  Provinz   oder  das  Grofsherzogtum  Posen  in  geographischer  etc. 

Beziehung.    Posen  und  Bromberg  1847 
Baer:    Die  Bamberger  bei  Posen.    Posen  1882. 
v.  Bergmann:   Zur  Geschichte  der  Entwickelang  deutscher,  polnischer  und 

jüdischer  Bevölkerung  in  der  Provinz  Posen  seit  1824.    Tübingen  1883. 
v.  Brodnicki:    Beiträge  zur  Entwickelung  der  Landwirtschaft  in  der  Pro- 
vinz Posen  während  der  Jahre  1815  bis  1890.     Leipzig  1893. 
Brückner:     Geschichte  d.  poln.  Lit.    Leipzig  1901. 
Codex  diplomaticus  majoris  Poloniae.    Posen  1877  ff.,  4  Bände. 
DresBer:    Sächsisch  Chronicon.    Wittenberg  1596. 
Ehrenberg:   Urkunden  und  Aktenstücke  zur  Geschichte  der  in  der  heutigen 

Provinz  Posen  vereinigten  ehemals  polnischen  Landesteile.    Leipzig  1892. 
Erbrich:     Album    polnischer    Volkslieder    der    Oberschlesier ,    übertragen. 

Breslau  1869. 
Frey  tag:   Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit.    4.  Band:    Aus  neuer 

Zeit.    Leipzig,  4.  Aufl.  1876. 
Gehre:    Die  neue  deutsche  Kolonisation  in  Posen  u.  "Westpr.    Grofsenhain  1899. 
Greveniz:    Der  Bauer  in  Polen.    Berlin  1818. 
Guradze:    Der  Bauer  in  Posen.     Posen  1898. 
Hacquet:    Abbildung   und   Beschreibung   der   südwestlichen   und   östlichen 

Wenden,  mit  29  kolorierten  Kupfertafeln.     Leipzig  1801. 
Hengstenberg:     Geschichte    des    Deutschtums    in    der   Provinz   Posen  etc. 

Ra  witsch  1894. 
Hochberg:    Schilderung  der  besonderen   Sitten,   Gebräuche  und  Ansichten 

bei   der   slawischen   Bevölkerung   in   Oberschiesien.     Übers,    d.   Arb.    d. 

schles.  Ges.  1847,  192/94. 
Hoffmann  von  Fallersleben:    Buda.     Kassel  1865. 
Hund  rieh:    Statistik  und  Übersicht  der  Arb.  d.  schles.  Ges.    Breslau  1843. 
H(undt)  v.  H (äfften):   Das  Verhältnis  der  Provinz   Posen   zum  preufsischen 

Staatsgebiet.    Berlin  1870. 
Knoop:    Sagen  und  Erzählungen  aus  der  Provinz  Posen.    Posen  1893. 
Kohte:    Verzeichnis  der  Kunstdenkmäler  der  Provinz  Posen.    Berlin  1898.  — 

Das  Bauernhaus  in  der  Provinz  Posen.     Posen  1899. 
Kölling:    Siehe  Pestalozzi  verein. 
Kremmer:   Der  Posner  Wandrer.    Posen  1897. 

Lukaszewicz:    Histor.  »tat.  Bild  der  Stadt  Posen,  2  Bände.    Posen  1878. 
Meyer:    Geschichte  des  Landes  Posen.    Posen  1881. 
Posener   Archäologische  Mitteilungen.     Bed.   v.   Jadzewski   und   Erzepki. 

Jahrgang  1887.     Posen  1887. 
Nadmorski:  Ludnosc Polska w Prusach Zachodnich  (m. Karte).  Warschau  1 889. 
Nitschmann:    Geschichte  der  polnischen  Literatur.     Leipzig  1883. 
Part  seh:    Schlesien  I.    Breslau  1896. 


470  Die  Polen. 

Perlbach:   Preufsisch-polnische  Stud.  z.  Gesch.  des  Mittelalten.    Halle  1886. 

Pestalozziverein,  Schlesischer:  Bunte  Bilder  aus  dem  Schlesierlande. 
Breslau,  Woywod,  1898.  (60  bis  66  Barth  el,  Wanderung  im  Wenden  - 
lande.    392  bis  397  Kölling,  Die  Polen  Oberschlesiens.) 

P(ohl):   Volkslieder  der  Polen.    Leipzig  1833. 

v.  Beichenbach  (V.  Gr.  Bethusy-Huc):  Oberschlesische  Dorfgeschichten. 
Leipzig  1901. 

Boger:  Piesni  ludu  polskiego  w  gornym  Szl^sku  z  muzykf}  zebral  i  wydal. 
Breslau  1863. 

San  Marte:  Grofspolens  Nationalsagen  etc.  Bromberg  1841.  —  Die  pol- 
nische Königssage.    Berlin  1848.  —  Polens  Vorzeit  etc.     Bromberg  1859. 

Schmidt:  Geschichte  des  Deutschkroner  Kreises.  Thorn  1867.  —  Der  Kreis 
Flatow  in  seinen  gesamten  Beziehungen.  Thorn  1867.  —  Geschichte  des 
Stuhmer  Kreises.     Thorn  1867. 

Szujski:   Die  Polen  und  Buthenen  in  Galizien.    Wien  und  Teschen  1882. 

Vlach  (und  v.  Helfert):   Die  Cecho-Slawen.    Wien  und  Teschen  1883. 

Warschauer:    Stadtbuch  von  Posen.    Posen  1892. 

Weifs:  Album  polnischer  Volkslieder  der  Oherschlesier,  metrisch  übertragen. 
Leipzig  1867. 

Woycicki:   Polnische  Volkssagen  und  Härchen.    Berlin  1839. 

Wurzbach:   Die  Sprichwörter  der  Polen.     Wien  1852  (2.  Aufl.). 

Wuttke:    Städtebuch  des  Landes  Posen.    Leipzig  1864. 

Zeitschrift  für   Geschichte   und  Landesk.  der  Pr.   Posen.    Posen  1882/84. 

Zeitschrift  der  historischen  Gesellschaft  f.  d.  Prov.  Posen.    Posen  1885  ff. 

Zienkowicz:  Die  Trachten  des  polnischen  Volkes,  mit  36  kolorierten  Kostüm - 
bildern.    Paris  1841. 

I.     Sprachgebiet. 

Die  Zahl  der  Polen  betrug  nach  A.  v.  Fircks  1890  in  Europa 
13  Millionen,  wovon  6V2  (Lggowski  10MUL)  auf  Rufsland,  3  Va  Millionen 
auf  Österreich -Ungarn  und  nahezu  3  Millionen  auf  Deutschland  fallen. 
Diese  Angaben  sind  für  Deutschland  freilich  nur  dann  annähernd 
richtig,  wenn  man  Masuren  und  Kaschuben,  deren  Zahl  A.  v.  Fircks 
auf  etwa  161  000  angiebt,  einrechnet.  Dabei  stützt  sich  A.  v.  Fircks 
auf  die  amtlichen  Zahllisten,  die  aber  in  diesem  Punkte  kein  treues 
Bild  geben;  sie  verschieben  die  Zahlen  zu  Gunsten  der  Polen,  denn 
als  solche  benennen  sich  die  Masuren  und  Kaschuben  meist.  Es  be- 
zeichneten sich  255  768  als  Evangelische,  2  556  606  als  Römisch- 
Katholische,  177  als  Griechisch -Katholische,  6  als  Mennoniten,  915  als 
Baptisten,  6  als  Methodisten,  78  als  Apostolische,  22  als  Freireligiöse, 
54  als  Dissidenten,  2969  als  Juden,  22  alsBekenner  anderer  Religionen : 
auf  die  oberschlesischen  Polen  (934  590)  entfielen  36  141  Evangelische, 
897  870  Römisch  -  Katholische ,  2  Griechisch  -  Katholische ,  572  Juden. 
2  811109  Polen  hatten  deutsche  Staatsangehörigkeit,  1642  öster- 
reichische, 3755  russische,  70  ungarische  Staatsangehörigkeit,  von  den 
oberschlesischen  933  387  deutsche,  725  österreichische,  464  russische. 
Über  100  Jahre  alt  waren  7  Polen  und  47  Polinnen,  bei  den  ober- 
schlesischen 1  Pole  und  5  Polinnen.  1871  betrugen  die  entsprechenden 
Zahlen  im  ganzen  preufsischen  Staatsgebiete:  147  -j-  287,  1875:  141 
+   240,  1880:  128  +  231,  1885:  24  +  67,  1890:  13  +  59,  worans 


Volkszahl.    Eonfession.  471 

hervorgeht,  dafs  Polen  den  stärksten  Prozentsatz  stellt.  Die  Volkszahl 
der  Polen,  Masaren  und  Kaschuben  betrug  1858:  2  009  816,  1861: 
2  265  042,  1864:  2  356  800,  1867:  2  436  800,  1890:  2  977  951. 

Auf  die  preulsischen  Provinzen  verteilten  sich  die  Polen,  Kaschuben 
und  Masuren  1890  f olgendermafsen :  Ostpreufsen  155  089  Männer  -f- 
172  607  Weiber,  Westpreulsen  240  515  -f  252  914,  Stadtkreis  Berlin 
7229  +  6794,  Brandenburg  10  837  +  4870,  Pommern  7241  +  4045, 
Posen  494  689  -f  558  495,  Schlesien  477  149  +  517  8121),  Sachsen 
13  871  +  8723,  Schleswig  -  Holstein  3504  +  944,  Hannover  3420 
+  2522,  Westfalen  19  498  +  7879,  Hessen  -  Nassau  595  +  357, 
Rheinland  4623  -f  1723,  Hohenzollern  5  +  1. 

Im  Dienste  der  Religion  waren  28  Polen,  10  Masuren,  0  Kaschuben 
bei  der  evangelischen,  1386  Polen,  0  Masuren,  17  Kaschuben  bei  der 
katholischen,  1  Pole  bei  der  griechisch-katholischen  und  8  bei  Synagogen- 
gemeinden thätig.  Der  Kreis  Adelnau  war  zu  92,89  Proz.  polnisch. 
Von  549  Kreisen  in  Preutsen  haben  61  überwiegend  polnische  Be- 
völkerung. In  Oberschlesien  sind  das:  Rybnik,  Plefs,  Kattowitz, 
Beuthen,  Tarnowitz,  Gleiwitz,  Kosel,  Grols-Strehlitz,  Lublinitz,  Oppeln, 
Rosenberg  und  Kreuzburg;  in  Posen:  Kempen,  Schildberg,  Ostrowo, 
Adelnau,  Pleschen,  Krotoschin,  Rawitsch,  Gostyn,  Koschinin,  Jarotschin, 
Schmiegel,  Kosten,  Schrimm,  Schroda,  Wreschen,  Witkowo,  Strelno, 
Inowrazlaw,  Magilno,  Schubin,  Znin,  Gnesen,  Wongrowitz,  Obornik, 
Posen,  Grätz,  Samter,  Tuchel,  Seh  wetz,  Kulm,  Briesen,  Strasburg, 
Löbau;  die  masurischen  und  kaschubischen  Kreise  lasse  ich  beiseite. 
Das  ganze  Gebiet  ist  geschlossen  und  wird  von  einer  Reihe  Kreisen 
mit  schwächerer  polnischer  Bevölkerung  umgeben.  Aber  auch  westlich 
zählt  eine  ziemliche  Reihe  von  Kreisen,  elf,  über  1  Proz.  polnische 
Bevölkerung;  über  10  Proz.  auf  serhalb  der  vier  preulsischen  Ost- 
provinzen nur  Bütow  (10,86  Proz.  Polen,  2,26  Proz.  Kaschuben).  Im 
Kreise  Recklinghausen  waren  von  17  768  Schulkindern  infolge  der 
polnischen  Zuwanderung  368  polnisch  (2,071  Proz.),  von  32  333  in 
der  Stadt  Charlottenburg  78. 

Nach  der  Gröfse  des  Besitztums  teilt  man,  ähnlich  wie  bei  den 
Sorben,  die  polnischen  Bauern  in  Großbauern,  Halbbauern,  Viertels- 
bauern, Gärtner  oder  Büdner  und  Kätner.  Ein  Großbauer  hat  etwa 
7  Hufen  Ackerland,  etwa  210  Morgen.  Außerdem  besitzt  er  noch  Wiesen. 
Ein  adeliger  Großbauer  bekam  von  seinem  Herrn  4  Pferde,  4  Ochsen, 
dazu  Kühe  und  Kleinvieh.  Ein  Halbbauer  oder  kleiner  Gespannbauer 
besaß. die  Hälfte,  ein  Viertelbauer  den  vierten  Teil  eines  Großbauern- 
besitzes, der  Gärtner  nur  ein  Achtel,  ein  Kätner  noch  weniger.    Natur- 


l)  In  Schlesien  lebten,  nach  Hundrich,  1884  im  Regierungsbezirk 
Oppeln  266  39Ö  Deutsche  neben  468  911  Polen,  11754  Mährern  und  1366 
Tschechen.  1*846  in  ganz  Schlesien  528  691  Polen,  38  824  Mährer,  10  218 
Tschechen  und  30  942  Wenden. 


472  Die  Polen* 

lieh  haben  sich  die  Verhältnisse  durch  Zu-  und  Verkauf  verschoben.; 
auch  bestehen  Bezeichnungen  wie  Hüfner  und  Halbhüfner,  Grols-  und 
Kleinkossät. 

Eine  bemerkenswerte  Seite  des  Polentums  ist  die  SachsengängereL 
Zwar  nehmen  auch  die  Litauer  und  die  Mährer  daran  teil,  aber  nicht 
in  demselben  Malse.  Im  Jahre  1890  lebten  in  der  Stadt  Berlin 
16  000  Slawen,  im  übrigen  Brandenburg  ohne  die  Wenden  ebensoviel, 
in  der  Provinz  Sachsen  23  000,  in  Schleswig-Holstein  5000,  in  Hannover 
7000,  in  Hessen  -  Nassau  1000,  im  Rheinland  7000  und  in  Westfalen 
gar  29  000  Slawen,  die  nicht  immer  das  Gastrecht  ehrten.  In  den 
überwiegend  polnischen  Kreisen  Posens,  Westpreufsens  und  Ober- 
schlesiens  (Abb.  200),  die  eine  heftige  Gegnerschaft  in  ihrer  Presse 
gegen  das  Deutschtum  zeigen,  sind  die  Städte  zur  Hälfte  polnisch, 
von  152  nämlich  77.  Leider  besteht  weit  und  breit  auf  beiden  Seiten 
häufig  der  Irrtum,  es  handle  sich  um  einen  Kampf  gegen  die  polnische 
Sprache.  Das  Umgekehrte  ist  eher  der  Fall,  das  Polentum  sucht  neue 
Gebiete  durch  die  Sprache  zu  erobern.  Die  100  000  Sachsengänger, 
die  im  Frühjahr  über  die  Elbe  kommen,  gehen  nicht  alle  im  Herbst 
mit  ihren  Ersparnissen  zurück,  ein  Teil  bleibt  sitzen,  sondert  sich  aber 
von  der  übrigen  Bevölkerung  gern  ab,  es  bilden  sich  kleine  slawische 
Kolonieen,  die  jedes  Jahr  neue  Zurückbleibende  aufnehmen  und  schliefs- 
lich  ihre  Zeitungen,  Kirchen,  Schulen  wünschen. 

Zur  Sachsen  ganger  ei  einige  Beispiele.  Wohl  wandern  auch  Ka- 
schuben  und  Masuren  nach  Westen,  den  Hauptstrom  aber  senden  die 
Polen.  Abgesehen  von  den  Händlern  und  den  Gänsetreibern  im  August, 
kommen  besonders  Land-  und  Fabrikarbeiter.  In  Wilhelmsbrück  bei 
Kempen  findet  beispielsweise  ein  reiner  Menschenmarkt  statt.  Freilich 
stellen  das  Unwissende  als  Sklavenmarkt  hin,  in  Wirklichkeit  wissen 
aber  die  Polen,  was  sie  fordern  können.  Sie  sehen  sich  mehrere  Kontrakte 
genau  an  und  geben  sich  nicht  dem  ersten  besten  Inspektor  in  die  Hände. 
Der  Hauptandrang  ist  Anfang  April  und  am  dritten  Osterfeiertag.  In 
der  ersten  Aprilwoche  1900  sind  in  dem  kleinen  Wilhelmsbrück  14  000 
solcher  Sachsengänger  angekommen.  Ein  Jude  bringt  sie  meist  und 
bekommt  von  den  in  Wilhelmsbrück  wartenden  Verwaltern  eine  be- 
stimmte Summe,  etwa  3  Mk.  für  den  Kopf.  In  Oberschlesien  hörte  ich 
sogar  einmal  25  Mk.  nennen.  Diese  14000  wollen  zunächst  in  Wilhelms- 
brück untergebracht  sein.  Wohl  giebt  es  sieben  Gasthöfe,  aber  die 
langen  kaum  für  die  Verwalter;  in  einem  kleineren  safsen  fünf  auf 
einmal.  Die  Nacht  verbringen  sie  ruhig  und  fügsam  auf  Streu.  Wie 
Heringe  liegen  sie  aneinander  geschichtet  und  der  Wirt  verdient,  ob- 
gleich er  nur  10  Pf.  für  das  Nachtlager  und  5  Pf.  für  die  Tasse  Kaffee 
empfängt,  ein  schönes  Stück  Geld.  Ein  solcher  Verwalter  holte  allein 
400  Mann.  Ein  Vermittler  verdiente  in  einem  Jahre  12  000  Mk.  am 
Zwischenhandel,  sonst  durchschnittlich  6  Mk.  Früher  mutsten  die  . 
Polen  noch  1  Mk.  zugeben;  jetzt  ist  jeder  Verwalter  froh,  wenn  er  die 


Die  Polen  (und  Kajcbuben)  in  Deutachland. 


Abb.  200.      Die  Polen  und  Kaschuben  in  Wertpreufcen,  Posen  und  Schienen. 


474  Die  Polen. 

Leute  an  sich  fesseln  kann.  Sie  zerreifsen  sich  um  die  Polen  und 
suchen  sich  mit  allen  Mitteln  die  Leute  abzulocken,  aber  diese  wissen 
schon  selbst,  dals  sie  die  Fahrt  und  Beköstigung  umsonst  bekommen 
und  die  geschmeicheltsten  Kontrakte  die  schlechten  sind ;  der  polnische 
Truppführer  bekommt  übrigens  auch  noch  5  oder  6  Mk.  Der  Haupt- 
handel ist  in  Kempen,  wohin  in  derselben  einen  Woche  gleich  direkt 
8000  Mann  fuhren.  In  Kattowitz  soll  der  Betrieb  noch  umfangreicher 
sein.  Aber  er  herrscht  an  der  ganzen  Grenze;  selbst  aus  dem  Verhältnis  - 
mäfsig  kleinen  Rasselwitz  gehen  jährlich  300  Landarbeiter  in  die  Magde- 
burger Gegend  und  1000  Maurer  in  die  Städte.  Wenn  sie  im  Herbst 
zurückwandern,  ist  das  Treiben  ruhiger,  denn  die  Züge  kommen  zu 
verschiedenen  Zeiten.  Natürlich  sind  ganze  polnische  Ortschaften  im 
Sommer  wie  ausgestorben,  und  die  dortigen  Besitzer  können  Land- 
arbeiter oder  gar  Dienstmädchen  nur  spärlich  bekommen. 

Seit  1894  hat  die  preufsische  Regierung  die  vaterländische  Förde- 
rung wieder  kräftig  aufgenommen,  durch  neue  deutsche  Kolonisation, 
besonders  in  Posen  und  Westpreufsen ,  den  deutschen  Bauernstand 
daselbst  zu  stärken,  den  Boden  zu  kultivieren  und  Mafsregeln  zum 
Schutze  des  Deutschtums  zu  treffen,  der  polnischen  Agitation  aber 
durch  segensreiche  Einrichtungen  und  Landesverbesserung  die  Gelegen- 
heit zu  Kämpfen  zu  nehmen.  Und  es  steht  zu  erwarten,  dats  auch 
dieser  Slawenteil  sich  bald  freudig  und  wohl  unter  dem  deutschen 
Szepter  fühlt,  wie  die  Litauer  und  Letten,  die  Preufsen  und  Masuren, 
die  Polaben  und  Slowinzen,  die  Sorben  und  alle,  die  heute  zwar  ihre 
Muttersprache  verlernt,  dafür  aber  ganz  andere  Wohlthaten  des  Deut- 
schen Reiches  ererbt  haben. 

n.    Zur  Geschichte  und  Kulturgeschichte  der  Polen 

in  Deutschland. 

Der  älteste  slawische  Geschichtschreiber,  der  im  12.  Jahrhundert 
lebende  Kiewer  Mönch  Nestor,  berichtet  von  einem  Einfall  der 
Wlachen  ins  Land  der  Donauslawen,  von  denen  sich  die  Slowenen 
trennten  und  als  Lechen  an  der  Weichsel  niederließen,  die  Lochen 
aber  wären  in  Polen,  Lutizen,  Masowier  und  Pommern  zerfallen.  Die 
Polen,  „die  in  der  Ebene  wohnenden u,  fanden  Reste  alter  germanischer 
Völkerschaften  vor;  benutzten  ja  Burgunder,  Heruler  und  Goten  die 
Flufsthäler  als  Heerwege.  Das  Vorrücken  der  Slawen  in'  ehemals 
deutsches  Gebiet  geschah  langsam  und  fällt  in  die  Zeit  der  vernich- 
tenden Kämpfe  zwischen  Rom  und  Germanien.  Der  Stammsitz  des 
polnischen  Reiches  scheint  sich  in  der  Posener  Gegend  gebildet  zu 
haben,  wo  die  zurückgebliebenen  Deutschen  ihre  Eigenart  aufgaben. 
Der  erste  sagenhafte  Piast  soll  um  840  Stammvater  des  Herrscher- 
hauses gewesen  sein,  der  vierte,  Mieczyslaw,  ward  962  von  Gero 
unterworfen.      Die  Polen  wurden  Christen,    966   (996?)  ward  unter 


Geschiohte  im  Mittelalter.  475 

Mieczyslaw  das  Posen  er  Bistum  gegründet,  das  unter  dem  Magdeburger 
Erzbistum  stand  und  Sitz  einer  Woiwodschaft  blieb.  Infolge  der 
Siege  Heinrichs  und  Ottos  des  Grolsen  und  der  Wallfahrt  Ottos  III. 
nach  dem  neugegründeten  Erzbistum  Gnesen  erstarkte  der  deutsche 
Einfluls  und  hatte  eine  neue  Zuwanderung  deutscher  Kaufleute,  Geist- 
licher, Soldaten  in  die  Lande  polnischer  Zunge  zur  Folge.  Das  friedliche 
Verhältnis  zwischen  Deutschen  und  Polen  wurde  auch  nicht  getrübt, 
als  der  mächtige  Nachfolger  Mieczyslaws,  Boleslaw  I.  oder  Chrobry 
(992  bis  1025)  seine  erfolgreichen  Kriegszüge  nach  Westen  ausdehnte 
und  die  Freundschaft  mit  Otto  III.  sich  in  Feindschaft  verwandelte. 

1018  erkannte  Heinrich  IL  die  Unabhängigkeit  Boleslaws  an  und 
schlofs  mit  ihm  zu  Posen  Frieden.  Bald  entbrannte  der  Krieg  aufs 
neue,  1038  verbrannte  Herzog  Brzetislaw  I.  von  Böhmen  die  Stadt 
Posen,  und  in  den  folgenden  Jahrhunderten  erschöpften  sich  die  polni- 
schen Herrscher  unter  sich  und  im  Kampfe  mit  den  Kaisern.  Es  war 
noch  im  12.  Jahrhundert  zweifelhaft,  wie  weit  die  westelbische  Gegend 
unter  slawischem  oder  deutschem  Einflüsse  stehen  würde.  Doch  wan- 
derten immer  mehr  Deutsche  in  die  slawischen  Länder;  deutsche  Geist- 
liche, deutsch  redende  Juden  und  deutsche  Handwerker  kamen  zuerst. 
Sie  fanden  die  schlimmste  Willkürherrschaft  vor;  die  Adeligen  bedrückten 
die  Bauern  hart  und  zeigten  sich  überall  herrisch.  Wie  man  über  die 
Polen  dachte,  mag  Helmold  bezeugen: 

„Polen  ist  ein  grofses  Land  der  Slawen,  dessen  Grenzen  das  Reich 
der  Ruzen  berühren  sollen.  Es  zerfällt  in  acht  Bistümer.  Einst  hatte 
es  einen  König,  jetzt  wird  es  von  Herzogen  regiert.  Es  ist,  wie  Böhmen, 
der  Majestät  des  Kaisers  unterthan  und  zinsbar.  Die  Böhmen  und  die 
Polen  führen  gleiche  WaSen  und  haben  dieselbe  Kriegssitte.  So  oft 
sie  nämlich  zum  Kriege  mit  fremden  Völkern  kommen,  sind  sie  tapfer 
in  der  Schlacht,  aber  nachher  höchst  grausam,  indem  sie  sich  der 
Plünderung  und  des  Todschlages  schuldig  machen:  sie  schonen  nicht 
der  Klöster,  nicht  der  Kirchen  und  Kirchhöfe.  Sie  lassen  sich  aber 
auch  nicht  anders  in  einen  auswärtigen  Krieg  ein,  als  wenn  ihnen  die 
Bedingung  zugestanden  wird,  die  Schätze,  welche  in  den  Schutz  der 
heiligen  Orte  geflüchtet  sind,  plündernd  hervorholen  zu  dürfen.  Daher 
kommt  es  auch,  dafs  sie  aus  Begierde  nach  Beute  oft  ihre  besten 
Freunde  wie  Feinde  behandeln,  weshalb  man  sie  sehr  selten  herzuruft, 
wenn  man  der  Hülfe  im  Kriege  bedarf." 

Die  Lage  der  Bauern  war  nach  Schmidt  eine  menschenunwürdige 
und  ist  so  unter  der  eigenen  Herrschaft  immer  geblieben  1).     Bis  zur 


l)  Wie  es  in  polnischen  Landen  selbst  aussah  zu  der  Zeit,  als  das 
Deutschtum  erstarkt,  aber  durch  jesuitischen  Einflufs  bedroht,  und  eigene 
Fürstenkraft  nicht  imstande  war,  die  Zügel  der  Regierung  zu  führen,  mag 
Cavaliere  Bichi  aus  Siena  erzählen,  der  vom  27.  Mai  bis  zum  2.  Juni  1696 
Posen  bereiste  (Ehrenberg,  8.  547  f.):  Hier,  im  Dorfe  Mach,  lernte  ich  auch 
den  folgenden,  für  Polen  charakteristischen  Brauch  kennen,  der  darin  besteht, 


476  Die  Polen. 

Teilung  bestand  die  grofse  Masse  aus  Zinsbauern  und  Scharwerkern. 
Yon  den  ersteren  batten  die  Eigentümer  wenigstens  den  vollen  oder 
nutzbaren  Besitz  ibrer  Hofstellen  und  die  Emphyteuten  auf  die  Zeit 
eines  oder  zweier  Menscbenalter.  Die  Scbar werker  aber  salsen  noch 
1750  entweder  als  erblicbe  Besitzer  ohne  Eigentum  oder  als  Zeitpächter 
oder  als  Besitzer  auf  unbestimmte  Zeit.  Wenn  ein  leibeigener  Bauer 
zu  polnischem  Recht  klagen  wollte,  mufste  er  sich  durch  seinen  Herrn 
vertreten  lassen.  Gegen  diesen  gab  es  keine  Berufung.  Auf  ihrem 
Hofe  hatten  die  Bauern  überhaupt  kein  Erbrecht  Der  Edeling  konnte 
nach  Belieben  die  Bauern  versetzen  und  that  es  häufig.  Der  Bauer 
mufste  dann  ein  anderes  Gehöft  bewirtschaften  und  hatte  nicht  das 
Recht  der  Verweigerung.  Gerade  die  neifsigen  Bauern  wurden  immer 
wieder  auf  andere  heruntergekommene  Höfe  geschickt,  und  es  ist  nicht 
zu  verwundern,  wenn  die  Bauern  sich  diesen  Herren  dienst  so  leicht  als 
möglich  zu  machen  und  um  die  Arbeit  zu  drücken  suchten.  Viele 
entliefen  überhaupt,  um  neuer  angekündigter  Übernahme  zu  entgehen; 


dafs  man,  da  es  in  den  Städten  meistenteils  keine  Wirtshäuser  giebt,  einen 
Privatmann  aufsucht,  der  den  Beisenden  in  seinem  Hause  beherbergen 
möchte,  was  die  Polen  auch  bereitwilligst  thun.  Vorausgesetzt  ist  hierbei, 
dafs  man  nicht  bei  Juden  einkehren  will,  die  einen  sehr  guten  Tisch  führen, 
und  welche  man  überall,  auch  in  jedem  noch  so  kleinen  Orte  antrifft. 
Ferner  teile  ich  mit,  dafs,  sowie  man  vom  Wagen  abgestiegen  ist,  und  sogar 
noch  auf  dem  Wagen  selbst,  man  mit  dem  Hausherrn  entweder  Bier  oder 
Schnaps  trinken  roufs,  den  derselbe  dem  Beisenden  sofort  anbietet,  wobei  der 
Pole  zuerst  auf  das  Wohl  des  Beisenden  trinkt.  Auch  pflegt  man  den  Polen 
durch  Händeschütteln  zu  begrüfsen,  und  um  mit  ihm  ein  Gespräch  zu  führen, 
ist  das  Lateinische  ausreichend ,  weil  es  in  Polen ,  selbst  unter  den  Bauern, 
wenig  Leute  giebt,  die  es  nicht  verstehen.  Ist  man  in  das  Haus  eingetreten, 
so  mufs  man  verlangen,  was  man  essen  will,  vorausgesetzt,  dafs  etwas  vor- 
handen ist,  weil,  falls  keine  Hühner  geschlachtet  werden,  Fleisch  nur  an  den 
Markttagen  zu  haben  ist.  Sobald  man  nun  gehört  hat,  was  man  bekommen 
kann,  mufs  man  im  voraus  zahlen,  damit  der  Hausherr  das  Betreffende  kann 
kaufen  lassen,  und  diese  Art  erstreckt  sich  sogar  auf  das  Brot,  weil  der  Pole 
nicht  Gefahr  laufen  will,  von  dem  Beisenden  keine  Bezahlung  zu  erhalten, 
wie  es  ihre  Edelleute  thun,  welche  essen  und  trinken  und  dann  bisweilen, 
sogar  unter  Aufbietung  von  Gewalt,  nicht  bezahlen;  deshalb  verlangen  die 
Polen  das  Geld  zur  Herbeischaffung  im  voraus.  Ferner  mufs  man  auch  von 
ihrem  Kupfergelde,  das  sie  Schillinge  nennen,  eine  hinreichende  Menge 
vorrätig  haben;  denn  Silber  sieht  man  nur  wenig,  und  will  man  einen 
Ungarn  wechseln,  so  pflegen  sie  einige  Silberstücke  Namens  Schostak,  der 
so  viel  wie  unser  Karlin  gilt,  und  den  gesamten  Best  in  lauter  Kupfer  auszu- 
zahlen. Aufserdem  mufs  man  eine  Schlafdecke  mithaben,  welche  auch  auf 
der  Beise  als  Sitzunterlage  dient,  denn  oft  findet  man  nicht  einmal  Stroh  zu 
einem  Nachtlager,  und  ist  solches  vorhanden,  so  ist  es  verfault.  Am  Freitag 
findet  man  —  nur  Eier,  wenig  Fische  und  hauptsächlich  Krebse.  Das  Brot 
pflegt  schlecht  und  unausgebacken  zu  sein,  und  wenn  man  Wasser  verlangt, 
wird  man  an  manchen  Orten  nur  ungeniefsbares  erhalten.  Die  Häuser 
beginnen  nun  wieder  aus  Holz  erbaut  zu  sein,  wie  in  Böhmen,  sie  sind  aber 
weit  schlechter,  und  bei  wenigen  befindet  sich  die  Wohnstube  über  dem 
Erdgeschofs  u.  s.  f. 


Geschichte  der  neueren  Zeit.    Deutsche  Zuwanderung.  477 

wir  begegnen  diesem  Entlaufen  Ja  auch  bei  der  tschechischen  Koloni- 
sation schlesischer  Landesteile.  Der  Herr  konnte  seine  Bauern  züch- 
tigen, war  aber  auch  verpflichtet,  für  ihre  Ernährung  zu  sorgen,  das 
war  seine  ganze  Pflicht.  Die  Patriarchalität  und  das  Brudertum  be- 
standen, aber  nur  einseitig.  Willkür  und  knechtische  Unterwürfigkeit 
herrschten.  „Die  Bauern  waren",  wie  Mickiewicz  bildlich  sagt, 
„gewohnt,  dals  ihnen  die  Haut  mit  dem  Messer  abgezogen  wird  wie 
dem  Aal."  Zum  grofsen  Teil  hatten  die  Scharwerker  nicht  einmal 
die  Schüssel  im  Besitz,  aus  der  sie  afsen;  es  gehörte  alles  dem  Herrn. 
Bessere  Zustände  wurden  erst,  als  durch  die  Ausführung  der  Aus- 
einandersetzung gröfsere  Sicherheit  geschaffen  und  mit  der  Entwicke- 
lung  des  durch  Loskauf  freigewordenen  Domänenbauers  dem  Volke  der 
Zutritt  zum  Gericht  angebahnt  ward.  Die  willkürlichen  Leistungen 
und  Abgaben  erfuhren  bei  der  Gliederung  der  Bauernschaft  eine  feste 
Regelung.  Die  freien  Bauern  polnischen  Rechtes  hatten  ein  erträg- 
licheres Dasein  als  die  Leibeigenen  und  Knieten. 

Unter  diese  Bauernschaft  nun  wurden  die  Deutschen  gerufen. 
Wir  finden  seit  dem  12.  Jahrhundert  Niederländer  in  den  Kreisen 
Konitz  und  Stargard;  in  der  Stadt  Posen  sind  im  13.  Jahrhundert 
Deutsche  als  Ratsherren  und  Bürgermeister  thätig.  Die  Posener 
Bischöfe  und  Klöster,  aber  auch  die  Landesherren  und  Edlen  begehrten 
die  Zuwanderung  Deutscher.  Die  Siedler  kamen  in  Scharen  und  be- 
hielten sich  ihr  deutsches  Recht  vor;  meist  safsen  sie  zu  magdeburgi- 
schem Recht.  Das  Land  empfingen  sie  erblich  zu  festem  Zins,  ohne 
willkürliche  Abgaben,  ohne  Geheifs  und  Gericht  der  Starosten,  Kastellane, 
Woiwoden  und  Palatino.  Ihre  Aufgabe  war  Einführung  des  Hand- 
werks und  Gründung  der  Städte.  Das  Handwerk  blühte.  Der  Pole 
Lukaszewitz  sagt,  sie  hätten  nicht  nur  das  Handwerk,  sondern 
auch  die  Bildung  nach  Polen  gebracht.  Die  tüchtigen,  durch  Handel 
und  Gewerbe  wohlhabend  gewordenen  Ankömmlinge  hätten  sich  300 
Jahre  erhalten.  Dem  polnischen  Einflufs  wären  sie  erst  um  1500  er- 
legen, ihre  Tüchtigkeit  und  den  Fleifs  ihrer  Vorfahren  aber  hätten  sie  . 
beibehalten,  auch  nachdem  sie  polonisiert  worden  wären.  Ein  Teil 
der  Adeligen  freute  sich  der  blühenden  Städte,  aber  die  meisten  sahen 
scheel  auf  die  Ankömmlinge,  die  ihnen  einen  Teil  ihrer  Einkünfte 
raubten  und  die  Unterthanen  bessere  Zustände  ahnen  liefsen.  Diese 
Deutschfeindlichkeit  gewann  Oberwasser,  seit  in  der  Schlacht  bei 
Tannenberg  Jagiello  gesiegt  hatte  und  das  polnische  Nationalgefühl 
erstarkte.  Aber  das  deutsche  Wesen  war  zu  tief  eingesickert  und 
bildete  eine  feste  Säule  in  dem  Lande,  wo  schwache  Könige  und  über- 
mächtige Grofse  sich  das  Leben  gegenseitig  sauer  machten  und  fremde 
Kriegsvölker  die  Gaue  heimsuchten.  Und  als  1563  den  Katholiken  und 
Evangelischen  in  Polen  gleiche  Rechte  zugestanden  wurden,  und  nach 
der  Schlacht  am  weifsen  Berge  die  vertriebenen  böhmischen  Evangeli- 
schen bei    den   polnischen  Gutsbesitzern    freudige  Aufnahme   fanden, 


478 


Die  Polen, 


wurde  Polen  erst  recht  mit  Deutschtum  durchtränkt.  Eb  entstanden 
die  Hauländereien  oder,  wie  man  sie  irrtümlich  nannte,  „Holländereien". 
Au!  auszurodenden  oder  abzuholzenden  Gebieten  ward  zugewanderten 
Siedlern  eine  Anzahl  von  Hufen  zur  Kultivierung  gegeben.  Die  An- 
kömmlinge erhielten  deutsches  (magdeburgisches)  Recht  bewilligt,  hatten 
geringe  Dienste  oder  geregelte  Abgaben  in  Geld  oder  Naturalien  zu 
leisten  und  rodeten  nun  ihre  Ländereien.  Vor  dem  Blockhause  blähen 
Lindenbäume,  auf  dem  Dachfirst  nistet  der  Storch,  hinter  den  Gehöften 
wechseln  Gärten  und  Wiesen  mit  Waldstücken  ab.  Die  Anlage  der 
Gehöfte  fand  nicht  in  streng  fränkischer  Art  statt,  aber  man  suchte 
doch  meist  die  einzelnen  Häuser  um  den  Hof  zu  gruppieren.  Eine 
geschlossene  Reihenfolge,  wie  in  den  Rundlingen,  Anger-  und  Gassen- 
dörfern der  Slawen,  ist  nicht  zu  bemerken.  Vielmehr  lagen  die  Siede- 
lungen so  verstreut  und  vereinzelt,  wie  etwa  in  Burg  im  Spreewalde. 
Die  Fahr-  und  Fufswege  bilden  ein  wirres  Netz,  darin  sich  nur  der 
Kundige  zurecht  findet,  und  erst  mit  dem  Ausbau  des  Landes  entsteht 
eine  Art  Gassendorf.  So  kamen  die  Bauern  aus  Brandenburg,  Pommern 
und  Schlesien  ununterbrochen;  Johann  Georg,  der  grolse  Kurfürst,  der 
erste  preulsische  König  mufsten  Maisnahmen  treffen,  dals  die  Aus- 
wanderung und  Entvölkerung  der  eigenen  Lande  endlich  aufhörte. 

Die  Anlage  des  Hauses  und  des  Gehöftes  ist  kaum  von  der  sorbi- 
schen Art  unterschieden  (Abb.  201  und  202).      Bei  den   Hauländer- 

Abb.  201. 


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Ratayer  Gehöfte. 


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a  Wohnhaus,   b  Stall  mit  Speicher,   c  Lehmfachscheune,  d  Kartoffelfeld,  e  Backofen, 
f  Querbretterzaun  mit  Thür  und  g  Thor,  h  Dünger,  i  Ziehbrunnen. 

dörfern  wie  bei  den  Angerdörfern  steht  das  Wohnhaus  mit  dem  Giebel 
nach  der  Dorfstralse  gerichtet,  doch  findet  sich  ein  kleiner  Zwischen- 
raum zwischen  Bretterplanke  und  Haus,  der  vielleicht  durch  ein  Gras- 
oder  Blumenbeet  ausgefüllt  wird.  Der  Vorderseite  des  Hauses  gegen- 
über liegt  gewöhnlich  der  Kuh  et  all,  gleichlaufend  mit  der  Dorfstralse 
die  Scheune.  Der  Speicher  ist  meist  über  dem  Stalle  angebracht  wie 
bei  den  Sorben;    doch  mögen  grötsere  Besitzer  auch  eigene  Speicher 


|: 

II 


Dorf-  and  Hausanlage. 


479 


besitzen.  Kleinere  Gebäude  für  Schweine,  Kleinvieh,  Geflügel  sind  auf 
dem  Gehöfte  aufgebaut,  wo  es  der  Platz  erlaubte.  Düngergrube  und 
Ziehbrunnen  liegen  auf  dem  Hofe,  hinter  dem  Gehöft  beginnt  ein  Stück 
Kartoffelland  oder  Wiese.  Der  Pferdestall  ist  bald  bei  den  übrigen 
Stallungen,  bald  an  der  Scheune,  nicht  selten  auch  im  Wohnhause. 
Die  ausgeschnittenen  Ecken  der  sorbischen  Häuser  (Abb.  119,  S.  302) 
sieht  man  häufig.  Für  den  nun  fast  verschwundenen  Speicher  hat  der 
Pole  die  Worte  kiel  (Lehmhütte),  kleta  (elende  Wohnung;  dimin.  kletka), 
lamus  (gemauertes  Wohnhaus,  wohl  =  oberschlesisch  laimes  =  Lehm- 
haus); sol,  soiek  (Speisekammer,  Getreidespeicher);  spichlärcz,  spichrz 
(Speicher);  sypanie  (Speicher),  lepianka  (Lehmhütte;  Tschech.  lepenec); 
swirna,  swiren,  srub  (Tschech.- Oberschlesisch). 

Das  Wohnhaus  (Abb.  203,  204)  selbst  hat  die  Anlage,  die  bei 
den  Litauern  beschrieben  ward.     Der  mittlere  Teil,   der  Flur,  wird 

Abb.  203.  Abb-  204' 


Vorderansicht  Grundrifs  eines  Hauses  in  Zegrze. 

eines  Batayer  Hauses.  „  Q*„v>Ä     v  a  u      *  .„..  , 

*  a  Stube ,    b  d  Hausflur ,     c  Küche  mit 

Kamin,  ee  Kammern,  f  Treppenaufgang. 
durch  ümmauerung  des  Kamins  oder  durch  Verwandlung  des  Kamin- 
Stückes  in  eine  Küche,  in  drei  Teile  geteilt,  den  vorderen  und  hinteren 
Hausflur  und  die  Küche.     Die  Teilung  der  Stuben,  bewirkt,  dals  die 

Abb.  205. 


Abb.  206. 


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*    1 


Markt 


Grundrifs  eines  Backwitzer  Hauses  von  1660 
oder  1669,    gez.  M.  H.  S.     Nach  Modell  ini 
Poaener  Museum,  angeblich  von  einem  Hack- 
witzer  Lehrer  gefertigt. 

31.12  cm  Grundrils,    Dachhöhe  7,    Firstböhe   17 
Gersalsbau  ohne  Giebelzier,  Schräge  Giebelfügung 
a  Schornstein,  b  Treppe. 


Durchschnitt    eines 
Backwitzer  Schorn- 
steins, 
(a  in  Abb.  205). 


sämtlichen  Kammern   und   Gelaase   rund  um   die  Küche  liegen.      Die 
Strobschindel  ist  am  Firstende  durch  zwei  Latten  festgemacht,  die  dem 
letzten  Sparrenpaare  aufgenagelt   sind-     Eine  eigentümliche  Schönheit 
zeigen  die  Wohnhäuser ,   wie    sie   im   Stadtchen  Rackwitz  häufig    sind 
(Abb.  205).       Ein    schön     geschnitzter    Säulenvorbau,    wie    hei     4^ 


480 


Die  Polen. 


litauischen  Rieten,  ist  der  ganzen  Marktstrafse  eigen.  Doppelteilige 
Thüren  an  der  Langseite  führen  zum  Flur  mit  Kamin  (Abb.  206  und 
a,  205)  und  Treppenaufgang,  nur  zwei  Gelasse  bilden  das  übrige  Heim 
(Abb.  205).  Die  mannigfaltige  Giebelzier  (Abb.  207)  zeigt,  wie  der 
Zimmermann  verstanden  hat,  auch  bei  beschränkten  Mitteln  und  An- 
lässen dem  natürlichen  Eunstdrange  zu  folgen. 

Abb.  207. 


QMÖ 


Giebelzier  aus  Posen. 


Holzlage ; 
Posener  GiebeL 


Nicht  nur  deutsche  Bauart  und  deutsches  Handwerk  übte  einen 
Einflufs  aus,  auch  deutsche  Sprache  und  Gelehrsamkeit.  Dichteten 
doch  polnische  Fürsten  deutsche  Lieder,  ward  doch  1561  das  deutsche 
Stadtrecht  Lissas  in  deutscher  Sprache  bestätigt.  So  ist  auch  1696 
das  Statut  der  Rawitscher  Tuchmacherzunft,  1722  das  Wissockaer 
Stadtrecht  deutsch.  Ein  Martin  Opitz  fand  an  polnischen  Höfen 
Aufnahme  und  Unterstützung,  die  polnischen  grofsen  Städte  waren 
Horte  des  Deutschtums.  Und  wenn  jetzt  auf  dem  Posener  Markt  die 
polnischen  Marktfrauen  erscheinen,  so  haben  wir  zum  guten  Teil 
Deutsche  vor  uns.  Das  Volk  nennt  sie  ja  auch  Bamberger.  Und  ihre 
Tracht  ist  ebensowenig  eine  slawische,  wie  etwa  die  Pyrit zer,  die  man 
gar  für  kaschubische  gehalten  hat.  Wir  sehen  die  Marktfrau  mit 
ihren  dicken  Bauschröcken,  die  grüne  und  schwarze  Längsstreifen  auf- 
weisen, mit  ihrer  lang  vorstehenden  gelben  Strohhaube,  ihrem  weitsen 
Spitzentuch,  der  breiten  und  weilsen  Halskrause  oder  dem  buntblümigen 
Halstuch,  wir  sehen  die  eigentümliche  Befestigung  des  weifsen  Kopf- 
tuches mittels  eines  bunten,  zusammengedrehten  Tuches,  wohl  auch 
den  blumigen  Bamberger  Kopfputz  (Abb.  208),  das  kurze  sorbische 
Jäckchen  oder  die  lange  Kattunbluse.  Aber  was  wir  sehen,  ist  nicht 
Polnisch,  sondern  Deutsch.  Polnische  Kleidung  ist  in  Deutschland,  ab- 
gesehen von  der  Sokoltracht  (Abb.  209),  nur  in  Kujavien  zu  Hause. 

Wie  es  in  Polen  noch  vor  50  Jahren  aussah,  darüber  berichtet 
F.  W.  F.  Schmidt  (Topographie  des  Flatower  Kreises,  Neue  preute. 


Deutsche  Einflüsse.     Die  Polen  nm  1850. 


481 


Prov.-Bl.  Andere  Folge.  Königsberg  1854,  S.  343):  Dar  Adel 
macht  in  Polen  die  Nation,  und  von  Bauern  und  Bürgern  polnischer 
Zange  ist  nur  wenig  Erhebliches  zu  berichten.  —  Die  polnischen 
Bürger  —  werden  von  den  Deutschen  und  Juden  an  Zahlgeldmitteln 
bei  weitem  übertroffen.  iDth  208. 

—  Ebenso  unbedeutend 
ist  der  polnische  Bauern- 
stand. —  Jetzt  ist  zwar 
sein  Körper  frei,  aber 
seine  Seele  ist  noch 
immer  leibeigen.  Der 
polnische  Bauer  hat 
durchaus  keine  poli- 
tische Gesinnung,  und 
es  ist  ihm  gleich,  ob 
er  preutsisch ,  polnisch 
oder  russisch  ist,  wenn 
nur  seine  Besitzt ütn er 
nicht  angetastet  werden. 
Die  einzigen  Interessen, 
die  bei  ihm  neben  den 
materiellen  eine  Rolle 
spielen,  sind  die  reli- 
giösen ,  und  hierdurch 
gewinnen  die  Geistlichen 
auf  ihn  einen  bedeuten- 
den EinBnls.  —  Es  ist 
nicht  zu  leugnen,  dato 
Liederlichkeit  und  nach- 
lassige Wirtschaft  in 
diesem  Stande  noch 
immer  nicht  zu  den 
Seltenheiten  gehören. 
Ein  Verlangen  nach 
geistiger  Ausbildung 
macht  sich  in  dieser 
Klasse  nicht  gerade  be- 
merklich. —  In  einem 
Punkte    aber    stimmen 

—  alle  Stande  und  Ge- 
schlechter überein ,  nämlich  in  dem  starren  Festhalten  an  der  eigenen 
Nationalität  und  dem  Zurückstoßen  jedes  fremden  Elementes.  Die  dem 
Polen  Ton  Jugend  auf  eingeimpfte  glatte  Höflichkeit  ist  nur  ein  Mittel 
mehr,  das  Fremde  entfernt  zu  halten;  denn  Höflichkeit  ist,  wie  Bulwer 
sehr  richtig  bemerkt,    eine    vortreffliche   Erfindung   fürs  Nichtleiden* 

Totmer,   Die  Bliwren  in  D*oUchl»nd.  31 


'  Kopfputz.    (Vgl.  Anm.  auf  8.  500.) 
Photographie  von   Rubens-Poien.) 


482  Die  Polen. 

kOnnen.  —  Sie  nehmen  ohne  Bedenklichkeit  deutsche  Werter  in  ihren 
Sprachschatz  auf.  Im  ganzen  findet  man  wohl  Ober  6000  Vokabeln 
im  polnischen  Sprachschatz.  — 

Abb.  208. 


Sokoltracbt. 
(Nach  Photographie  von  Rubent-  Posen.) 

Seit  jener  Zeit  freilich  hat  sich  mancherlei  gelindert.  1848  war 
die  polnische  Umwälzung  am  offenen  Widerstände  der  dortigen  deut- 
schen Bevölkerung  gescheitert.  Die  Regierung  mulste  auf  Mittel  und 
Wege  sinnen,  das  Land  durch  Neubesiedelung  mit  deutschen  Arbeitern 
auf  dieselbe  Stufe  "zu  heben  wie  die  anderen  deutschen  Provinzen. 
Diese  neue  deutsche  Kolonisation  ist  erst  seit  1886  recht  in  Angriff 


Neue  Kolonisation.    Sitten  und  Gebräuche.  483 

genommen  worden.  1896  bewilligte  der  Reichstag  100  Millionen  Mark 
zur  Besiedelung  polnischer  Landstriche  mit  deutschen  Bauern.  Bis 
Ende  1898  wurden  184  Güter  mit  110  631  Hektaren  nnd  51  Bauern- 
wirtschaften mit  1836  Hektaren  für  7  144  226,87  ML  in  Pommern 
und  Westpreufsen  erworben  und  von  deutschen  Bauern  kultiviert.  Die 
Ansiedelungskommission  hat  88  deutsche  Schulen  gebaut,  15  Kirchen, 
10  Bethaus-  und  15  Pfarreigehöfte  wurden  errichtet.  Raiffeisensche 
Darlehn skassen ,  Brennereigenossenschaften,  Genossenschaftsmolkereien 
und  genossenschaftliche  Kaufhäuser  entstanden.  Viehstand,  Schweine- 
zucht, Geflügel  züchterei,  Obstbau  nahmen  rasch  zu,  und  das  nachbar- 
liche Verhältnis  zu  den  alten  polnischen  Bauern  blieb  freundschaftlich. 

III.     Sitten  und  Gebräuche. 

Die  Ausdehnung  des  polnischen  Sprachgebietes  und  die  hohe  Ent- 
wickelung  eines  geistigen  Lebens  verhindern  bei  den  Polen,  mehr  als 
bei  einem  anderen  baltischen  oder  slawischen  Volke,  in  Kürze  Sitten 
und  Gebräuche  des  ganzen  Volkes  zu  schildern.  Die  polnische  National- 
literatur hat  sich  der  Weltliteratur  eingereiht,  und  polnische  Gelehrte, 
Forscher  und  Künstler  waren  auf  allen  Gebieten  erfolgreich  thätig. 
Ist  in  den  alten  polnischen  Provinzen,  die  jetzt  zu  Deutschland  und 
Rulsland  gehören,  auch  die  polnische  Eigenart  im  Verschwinden  be- 
griffen, so  erhält  sie  doch  fortgesetzt  aus  Galizien  Nahrung,  wo  die 
Universitäten  Krakau  und  Lemberg  die  Horte  des  Polentums  bilden. 
In  den  Abhängen  der  Karpathen  hat  sich  bis  heute  das  alte  Volkstum 
mit  seinen  bunten  Trachten,  seinen  Tänzen  und  Gesängen,  seinen 
Musikanten  und  alten  Musikinstrumenten,  seinen  Marktgängern  und 
Juden,  seinen  Spinnabenden  und  improvisierten  Liedchen  am  malerisch- 
sten erhalten.  Und  wollen  die  Polen  in  Posen  ein  Nationalfest  feiern, 
so  legen  sie  die  farbigen  Trachten  der  Krakauer  Gegend  an  (Abb.  210, 
211  a.  f.  S.)  und  ziehen  wohl  auch  die  alten  Volksmusikanten  herbei. 

1.  Tanz  und  Musik.  Wie  bei  den  Sorben,  treten  gewöhnlich 
drei  Musikanten  auf,  der  eine  hat  den  Dudelsack  (Duda),  der  zweite 
die  Geige  (Gist),  der  dritte  die  Lyra.  Diese  Volkssänger  zogen  früher 
von  Dorf  zu  Dorf  und  sangen  ihre  Lieder  und  Sagen.  Jetzt  trifft  man 
sie  noch  bei  Tanz  und  Jahrmarkt,  wohl  auch  bei  Hochzeiten  und 
sonstigen  Feierlichkeiten.  Unsere  Buker  Musikanten  (Abb.  212,  S.  486) 
mit  ihren  niedrigen  breiten  Hüten,  langen  Mänteln  und  hohen  Stiefeln 
sind  noch  fleifsig  im  Dienste.  In  Galizien  hielten  sich  die  Adeligen 
gern  wenigstens  einen  Teorbanisten ,  die  wie  die  alten  Minnesänger 
Fest-  und  Alltag  durch  Lied  und  Saitenspiel  verschönten.  Bekleidet 
mit  reicher  Kosakentracht,  wie  Pohl  meint,  tanzten  sie  singend  und 
schlugen  den  Teorban  zur  Belustigung  des  Hofes. 

Pohl  führt  vier  Tänze  als  echt  polnische  an,  die  Polonaise,  die 
Mazurka,  den  Krakowiak  und  die  Kolomejka.     Die  Polonaise  ist  der 

31* 


484  Die  Polen. 

feierliche  Reigen,  wobei  die  Paare  dem  ersten  folgen  und  ■cnlietsüch 
zum  allgemeinen  Tanze  übergehen ;  jeder  konnte  der  Dame  ün  ersten 
Paare  die  Hand  zum  Tanze  reichen.  „Dieses  erinnert  an  die  gleichen 
Rechte  des  Adels  in  der  Republik.   —   Malt  sich  in  der  Polonaise  der 

Abb.  210. 


Tracht  aus  der'  Krakauer  Gegend,  getragen  bei  einem  Posener  Fest. 
(Photographie  von  Mirika-IWn.) 

Geist  des  alten  Adels,  so  spricht  sich  in  dem  „Mazur"  die  Seele  des 
gesamten  Volkes  aus.  —  Die  Figuren,  welche  durch  die  verschieden- 
artigste Zusammenstellung  der  Paare  gebildet  werden,  sind  reich  an 
Erfindung  und  beweisen,  wie  schonend  das  Gefühl  eines  Slawen  gegen 
die  Weiblichkeit  ist."    Der  Pole  singt  zur  Mazurka.    Der  Reigenführer 


Trachten.     Tanz  und  Musik. 


485 


singt,  während  die  Musik  verstummt,  ein  Lied,  die  Musik  fällt  dann 
tod  neuem  ein  und  der  Tanz  beginnt,  wie  beim  sorbischen  Tanz  und 
bei  den  Volkstänzen,  die  im  westlichen  Sachsen  noch  in  der  Mitte  des 
verflossenen  Jahrhunderts  im  Schwang  waren.  Der  Krakauer  tanzte 
ihn  mit  seinen  Klirrsporen,  der  Ahb   211 

Gebirgsbewohner  mit  blankem 
Beil.  Der  „Krakauer"  ist  ein 
Galopp  in  der  Runde  und 
wird  zur  Hälfte  getanzt  und 
zur  Hälfte  gesungen. 

Pohl  führt  einige  solche 
Verse  an.     Mau  singt: 

Dort  au  Krakaus  hohen  Mauern 

fliefet  die  Weichsel  hin 
Und  die  Polen  zogen  alle  fort  in 
langer  Reih. 

Dann  tanzt  man  rundum 
und  ein  zweiter  Sänger  singt 
weiter,  improvisierend: 

Alle  zogen  mit  den  Sensen ,  und 

sie  kehrten  nicht. 
Und   es  trauern  Wälder,  Fluren 
und  daheim  die  Weiber. 

Die  Kolomejka,  bei  der 
nicht  gesungen  wird ,  tanzt 
man  „von  den  Ufern  des  Sans 


bis 


Schw 


■  Mee 


Stumm  hält  und  leitet  der 
Tänzer  das  Mädchen  an  einem 
Band",  Tuch,  Zweig.  Auf  ein 
Zeichen  Sieht  das  Mädchen  mit 
zierender  Gebärde ;  die  Tänzer 
eilen  melancholisch  und  hände- 
ringend hinterdrein,  und  wenn 
die  Mädchen  das  Band  wieder- 
nehmen müssen ,  schlagen  sie 
die  Augen  nieder  und  bedecken 
das  Gesicht  mit  ihrer  Schürze. 
Fällt  der  Zweig,  so   beginnt  Mädchentracht  bei  Krakau. 

der  Tanzwirbel.  (NMh  Photographie  ron  Rub.im-Poien.) 

2.  Hochzeit.  Aus  dem  Jahre  1832  berichtet  Pohl  über  die 
Brautwerbung  und  Hochzeit  u.  a.  folgendes.  Am  Sonnabend  geht  der 
Brautwerber  mit  einigen  Männern  in  das  Haus  des  Mädchens,  und  die 
Eltern  laden  schnell  eine  kleine  Gesellschaft  zusammen,  selbst  wenn 
das  Mädchen  den  Eltern  gegenüber  erklärt,  von  dem  vorgeschlagenen 


Bräutigam  nichts  wissen  zu  wollen.  Ist  die  Gesellschaft  lebhaft  ge- 
worden, so  trinkt  der  Wortführer  den  Eltern  des  Mädchens  aus  einem 
Becher  Met  mit  den  Worten  zu: 

Fleifsig  wie  der  Biene  Leben 

Ist  das  Ackerleben, 
Und  stifs  wie  der  Honig 
Igt  der  Ehestand. 


Buker  Musikanten, 
(Nath  Photographie  von  Rubens-Poseo.) 

Wenn  die  Maid  den  Trunk  annimmt,  so  hat  sie  damit  ihr  Jawort 
gegeben  und  Aufgebot  und  Verlobung  folgen  nach  dem  Zechgelage  am