Google
This is a digital copy ofa bix>k lhal was preserved for gcncralions on library sIil-Ivl-s before il was carefully scanncd by Google as pari of a projeel
to makc the world's books discovcrable online.
Il has survived long enough Tor llie Copyright lo expire and the book to enter the public domain. A public domain book is one that was never subjeel
to Copyright or whose legal Copyright terni has expired. Whether a book is in the public domain niay vary country tocountry. Public domain books
are our gateways to the past. representing a wealth of hislory. eulture and knowledge that 's oflen diflicull to discover.
Marks, notations and other marginalia present in the original volume will appear in this lile - a reminder of this book's long journey from the
publisher to a library and linally to you.
Usage guidelines
Google is proud to partner with libraries lo digili/e public domain malerials and make ihem widely accessible. Public domain books belong to the
public and we are merely their cuslodians. Neverlheless. this work is expensive. so in order to keep providing this resource. we have taken Steps to
prevenl abuse by commercial parlics. iiicludmg placmg lechnical reslriclions on aulomaled uuerying.
We also ask that you:
+ Make non -commercial u.se of the fites We designed Google Book Search for use by individuals. and we reuuest that you usc these files for
personal, non-commercial purposes.
+ Refrain from mttoimited qu erring Do not send aulomaled uueries of any sorl to Google's System: IC you are condueting research on machine
translation. optical character recognition or other areas where access to a large amount of texl is helpful. please conlact us. We encourage the
use of public domain malerials for these purposes and may bc able to help.
+ Maintain attribution The Google "walermark" you see on each lile is essenlial for informing people aboul this projeel and hclping them lind
additional malerials ihrough Google Book Search. Please do not remove it.
+ Keep it legal Whatever your use, remember thai you are responsable for ensuring that whal you are doing is legal. Do not assume that just
because we believe a b<x>k is in the public domain for users in the Uniled Staics. thai the work is also in ihc public domain for users in other
counlries. Whelher a book is slill in Copyright varies from counlry lo counlry. and we can'l offer guidance on whelher any specific use of
any specific book is allowed. Please do not assume thai a book's appearance in Google Book Search mcans il can bc used in any manncr
anywhere in the world. Copyrighl infringemenl liabilily can bc quite severe.
Almut Google Book Search
Google 's mission is lo organize the world's information and to make it universal ly accessible and useful. Google Book Search helps readers
discover llie world's books while liclping aulliors and publishers reach new audiences. You can searcli through llic lull lexl of this book on llic web
at|http : //books . qooqle . com/|
Google
Über dieses Buch
Dies ist ein JisziULk-s Exemplar eines Buches, das seil Generalionen in den Regalen der Bibliotheken aufbewahrt wurde, bevor es von Google im
Rahmen eines Projekts, mit dem die Biieher dieser Well online verfügbar gemacht werden sollen, sorgfältig geseannt wurde.
Das Buch hat das Urheberrecht überdauert und kann nun öffentlich zugänglich gemacht werden. Ein öffentlich zugängliches Buch ist ein Buch,
das niemals Urheberrechten unterlag oder bei dem die Schutzfrist des Urheberrechts abgelaufen ist. Ob ein Buch öffentlich zugänglich isi. kann
von Land zu Land unterschiedlich sein. Öffentlich zugängliche Bücher sind unser Tor zur Vergangenheil und stellen ein geschichtliches, kulturelles
und wissenschaftliches Vermögen dar, das häufig nur schwierig zu entdecken ist.
Gebrauchsspuren. Anmerkungen und andere Randbemerkungen, die im Original band enthalten sind, linden sich auch in dieser Datei - eine Erin-
nerung an die lange Reise, die das Buch vom Verleger zu einer Bibliothek und weiter zu Ihnen hinter sich gebracht hat.
Nu tm ng s r ichtl i nien
Google ist stolz, mit Bibliotheken in Partnerschaft lieber Zusammenarbeit öffentlich zugängliches Material zu digitalisieren und einer breiten Masse
zugänglich zu machen. OITciillich zugängliche Bücher gehören der Ol'lciilliclikcil. und wir sind nur ihre Hüter. Nichlsdeslolrolz ist diese
Arbeil kostspielig. Um diese Ressource weiterhin zur Verfügung stellen zu können, haben wir Schritte unternommen, um den Missbrauch durch
kommerzielle Parteien zu verhindern. Dazu gehören technische Einschränkungen für automatisierte Abfragen.
Wir bitten Sie um Einhaltung folgender Richtlinien:
+ Nutzung der Dateien zu nichtkommerziellen Zwecken Wir haben Google Buchsuche für Endanwender konzipiert und möchten, dass Sic diese
Dateien nur für persönliche, nichtkommerzielle Zwecke verwenden.
+ Keine automatisierten Abfragen Senden Sie keine automatisierten Abfragen irgendwelcher Art an das Google-System. Wenn Sie Recherchen
über maschinelle Übersetzung, optische Zeichenerkennung oder andere Bereiche durchführen, in denen der Zugang zu Texl in großen Mengen
nützlich ist. wenden Sie sich bitte an uns. Wir fördern die Nutzung des öffentlich zugänglichen Materials für diese Zwecke und können Ihnen
unter Umständen helfen.
+ Beibehaltung von Google-Markenelemcntcn Das "Wasserzeichen" von Google, das Sie in jeder Datei linden, ist wichtig zur Information über
dieses Projekt und hilft den Anwendern weiteres Material über Google Buchsuche zu linden. Bitte entfernen Sie das Wasserzeichen nicht.
+ Bewegen Sie sich innerhalb der Legalität Unabhängig von Ihrem Verwendungszweck müssen Sie sich Ihrer Verantwortung bewusst sein,
sicherzustellen, dass Ihre Nutzung legal ist. Gehen Sie nicht davon aus. dass ein Buch, das nach unserem Dafürhalten für Nutzer in den USA
öffentlich zugänglich isi. auch für Nutzer in anderen Ländern öffentlich zugänglich ist. Ob ein Buch noch dem Urheberrecht unterliegt, ist
von Land zu Land verschieden. Wir können keine Beratung leisten, ob eine bestimmte Nutzung eines bestimmten Buches gesetzlich zulässig
ist. Gehen Sie nicht davon aus. dass das Erscheinen eines Buchs in Google Buchsuche bedeutet, dass es in jeder Form und überall auf der
Welt verwendet werden kann. Eine Urheberrechlsverlelzung kann schwerwiegende Folgen haben.
Über Google Buchsuche
Das Ziel von Google besteht darin, die weltweiten Informationen zu organisieren und allgemein nutzbar und zugänglich zu machen. Google
Buchsuche hilft Lesern dabei, die Bücher dieser Welt zu entdecken, und unlcrslülzl Aulurcii und Verleger dabei, neue Zielgruppen zu erreichen.
Den gesamten Buchlexl können Sie im Internet untcr|http: //book;: . j -;.-;. j_^ . ~:~\ durchsuchen.
KP/=./7.l;
■Barbar!) (College S-töran?
BOUGHT WITH INCOME
THOMAS WREN WARD
'he ium of $5000 was received in 1858,
" tbe income lo be annually expended
lor (he puichase ol books."
►
1
DIE
VXSLAWEN IN DEUTSCHLAND
BEITRÄGE ZUR VOLKSKUNDE
DER
PREUSSEN, LITAUER UND LETTEN, DER MASUREN
UND PHILIPPONEN, DER TSCHECHEN, MÄHRER UND SORBEN,
POLABEN UND SLOWINZEN, KASCHUBEN UND POLEN
Von
Dr. FRANZ TETZNER
MIT 215 ABBILDUNGEN, KABTEN UND PLÄNEN,
SPBAGHFBOBEN UND 15 MELODIEN
BRAUNSCHWEIG
DRUCK UND VERLAG VON FRIEDRICH VIEWEG UND SOHN
1902
kvf- n Z^
Alle Rechte, namentlich dasjenige der Übersetzung in fremde Sprachen,
vorbehalten
Dem Gedächtnis der Meinen:
seit
Peter Teczner
(1352, 1365, 1367), Rathsherr und Mitstilter der Leprosen-Kapelle in Chemnitz,
Paul Tezner
(1602 — 1666) zu Bernsdorf
und
Johann August Tetzner
(1793—1866), Freiheitskämpfer und Chronist, Bürger von Werdau.
VORWORT.
Mit zwei Völkergruppen haben die Deutschen in lebhafter
Wechselwirkung gestanden, mit den Romanen und mit den Slawen.
Wie sich das erstemal geschichtlich die deutsche Bildung selbst-
ständig machte und aus der römischen siegreich herauslöste, habe
ich in dem Werke darzuthun versucht: „Geschichte der deutschen
Bildung und Jugenderziehung von der Urzeit bis zur Errichtung
von Stadtschulen" *).
Die andere Schnittlinie zweier Kulturen, der deutschen und
slawischen, beginnt zeitlich etwa da, wo die römische aufhört,
und hat ihr Ende noch nicht erreicht. Unserem grofsen Vater-
lande gehören eine Anzahl Volksteile und Völkersplitter an, die
ihm im Laufe der Geschichte eingegliedert wurden und die eine
besondere Eigenart entwickelt und ihre alte Sprache erhalten
haben. Das Volkstum dieser Stämme zu erforschen, war seit
Jahren meine Aufgabe; die Früchte waren u. a. die Werke „Die
Slowinzen und Lebakaschuben" und „Dainos" l).
Nun giebt es wohl einige brauchbare Werke über deutsche
Volkskunde, ein solches über die Slawen in Deutschland fehlt
aber. Diese Lücke will das vorliegende Werk ausfüllen. Es ist
heute noch nicht möglich, jeden Volksteil gleichmäfsig oder inner-
halb der Gesamtheit in allen volkstümlichen Beziehungen zur
Darstellung zu bringen, da fehlen allzu viel Vorarbeiten. So ist
beispielsweise von dem geschichtlich, konfessionell und mundart-
lich so vielfach gegliederten Polenvolke noch keine ähnliche
deutsche Einzelarbeit, wie etwa die über die Litauer, Sorben,
Slowinzen, erschienen; ja nicht einmal die Anfänge dazu sind
vorhanden. Oder es ist noch nicht versucht worden, einzelne
*) Vgl. 8. 519, 520.
VIII Vorwort.
volkstümliche Erscheinungen bei den Slawen auf Herkunft, Ver-
bindung, Verwandtschaft, Geschichte zu prüfen, wobei sich oft
herausstellen würde, dafs solche Eigenarten oftmals nur erstarrte
deutsche oder allgemeine Gebräuche sind. Alle derartigen Arbeiten
würden als Vorstufen einer grofsen slawischen Volkskunde nötig
sein, die zu schreiben hier nicht in meinem Sinne lag. Ich wollte,
auf Grund eigener Anschauung bei allen slawischen Völkern, zu-
nächst das Volkstümliche schildern, was mir in die Augen sprang.
Ein gleichmäfsiges Erschöpfen der Volkskunde aller Volksteile
lag weder in meiner Aufgabe, noch in dem mir zugemessenen
Räume. Man wolle im Titel das Wörtchen zur nicht vergessen.
Baumgründe verboten auch die Aufnahme einer gröfseren ge-
schichtlichen Einleitung, einiger älterer ethnographischer Berichte
und die ausfuhrliche Behandlung einiger anderer Stücke, beson-
ders bei den Litauern, Sorben und Polen. Trotz der Abkürzungen
mufste ich den freundlichst zugestandenen Raum doch noch über-
schreiten und danke dem Verlag für sein Entgegenkommen, wie
für die dem Werke gegebene Ausstattung.
Wegen der öfter ungleichmäfsigen Schreibung der slawischen
Worte bitte ich um Nachsicht; hoffentlich nimmt sich die deutsche
Rechtschreibung einmal u. a. jener ostdeutschen Ortsnamen an und
duldet nicht slawische Lautwerte, unbegründete Dehnungen u. a.
Jene Studien sind mir eine Quelle reiner Freude gewesen,
das Suchen, Tasten und Finden mit allen Schwierigkeiten und
Erfolgen. Vielleicht leiste ich der Volkskunde unseres Vater-
landes einen Dienst, wenn ich ihren Freunden diese Studien über-
gebe. Wer an meinem Buche etwas zu ergänzen, zu berichtigen
oder anzudeuten weifs, den bitte ich um Mitteilung, damit mir
nichts entgeht, was zu wissen nötig ist
Die Ausarbeitung begann 1895 und ward Mitte 1900 ab-
geschlossen; einzelne Nachträge konnten während des Druckes
eingeschoben werden.
Leipzig, Nordstrafse 53 I, im Oktober 1901.
Dp. Franz Tetzner.
IN HALTSVERZEICHNIS.
••
Seite
Einleitung. Übersicht über die Slawen in Deutschland 1 — 4
Literatur 1. Geschichtliches 2. Tabelle 3. Karte der Slawen
in Deutschland 4.
Die baltischen Volksstamme in Deutschland.
(Altpreufsen, Litauer, Letten) 5 — 178
Die Preufsen 7 — 23
Literatur 7 — 8
I. Geschichte 8—15
II. Sitten und Gebräuche 15 — 23
Das preufsische Vaterunser 23
Die Litauer 24—112
Literatur 24 — 25
I. Sprachgebiet 25 — 86
II. Geschichte 36 — 49
III. Christian Donalitius und die litauische Literatur .... 49 — 65
1. Donalitius und seine Nachfolger 49. 2. Dainos 57.
3. Sprichwörter 63.
IV. Die Maldininker 65— 74
V. Feste und Spiele 74— 88
1. Talkos 74. 2. Jahres- und Familienfeste 79.
3. Spiele 85.
VI. Sinnen und Sagen 88— 94
1. Glaube und Aberglaube 88. 2. Träume und Vor-
ahnungen 94.
VII. Geräte 94—101
VIII. Hausbau 101—112
1. Das Wohnhaus 101. 2. Das Gehöft 104: A. Wohn-
haus 106, B. Speicher 106, C. Keller 109, D. Bauchhaus
109, £. Badestube 110, F. Flachstrockengestell 111,
G. Scheune 111, H. Futterraum 111, J. Stall 112.
Litauische Sprachproben (Vaterunser, Donalitius, Daina) . 112
Die Kuren (Letten) 113—178
Literatur 113
I. Geschichtliches 113—124
II. Gebiet 124—135
III. Haus und Hof 136—148
X Inhaltsverzeichnis.
Seite
IV. Beschäftigung 148—154
Landbau 148. Krähenfang 149. Fischfang 150.
V. Feste und Feierlichkeiten 154—162
Sonn- und Wochentag 154. Geburtstag 157. Hoch-
• zeit 158. Begräbnis 160. Kirchenfeste 160.
VI. Aberglaube 162—165
Heilung 162. Feldglück 164. Fischglück 164.
VH. Charakter 165—167
VIII. Sagen, Lieder und Sprüche aus dem preufsischen Lett-
lande 167—178
A. Sagen 167. B. Sprachliches 168. 0. Deutsche
Lieder 168. D. Litauische Lieder 171. E. Lettische
Lieder 176. F. Kurische Sprichwörter 177. G. Das
lettische Vaterunser 177.
Die westslawischen YoUtsstämme in Deutschland,
(Masuren, Philipponen, Tschechen, Mährer, Sorben, Polaben,
Slowinzen, Kaschuben, Polen) 179 — 499
Die Masuren 181—211
Literatur 181
I. Das masurische Sprachgebiet in Deutschland 181 — 186
II. Zur Geschichte der Masuren 186 — 188
IIL Masurische Wanderungen 188 — 211
IV. Das masurische Vaterunser 211
Die Philipponen 212 — 248
Literatur 212
I. Geschichte 212 — 218
II. Besiedelung 218 — 220
1. Anbau 218. 2. Beschäftigung 219.
m. HauB und Hof 220—239
1. Haus und Hof 220. 2. Klöster 226. 3. Kirchhöfe
227. 4. Kirchen 231. 5. Dörfer 234.
IV. Gebräuche 239—244
1. Kleidung 239. 2. Taufe 240. 3. Hochzeit 241.
4. Begräbnis 242. 5. Beichte 242. 6. Feste 248. 7. Unter-
schiede von der russischen Kirche 244.
V. Geistiges Leben 244 — 248
1. Charakter 244. 2. Geschichten 245. 3. Lieder 247.
VI. Philipponisches Vaterunser 248
Die Tschechen 249—270
Literatur 249
I. Zur Geschichte der Tschechen und ihrer Siedelungen . . 249 — 258
1. Die Tschechen in Deutschland 249. 2. Hummels-
herrschaft 250. 3. Hussitische Kolonieen 250. 4. Sachsen-
gänger 250. 5. Katholische Tschechen 251. 6. Evangeli-
sche Tschechen 254 : a) Straufseney 254, b) Hussinetz 255,
c) Grofsfriedrichstabor 257, d) Friedriohsgrätz 257, e) Peters-
grätz 258, f) Eatibor 258.
II. Sitten und Gebräuche 258—262
1. Hochzeit 258. 2. Taufe 259. 3. Begräbnis 259.
4. Weihnachten 260. 5. Ostern 261. 6. Pfingsten und
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
andere Feste 261. 7. 8piele 262. 8. Hussitische Ab-
weichungen 262.
HI. Haus 263—266
1. Hausbau 263. 2. Gerät und Zierat 264.
IV. Volksdichtung 266—270
1. Volkslieder 266. 2. Tschechische Sprichwörter und
Redensarten aus dem Kirchspiele Tscherbeney 268.
3. Geister 270.
V. Tschechisches Vaterunser 270
Die Mährer 271—281
Literatur 271
I. Zur Geschichte des Volkes und seiner Siedelungen . . . 271 — 275
IL Sitten und Gebräuche 275—279
1. Fastenzeit 275. 2. Karwoche 276. 3. Ostersonntag
276. 4. Ostermontag 276. 5. Osterdienstag 276. 6. 1. Mai
276. 7. Pfingsten 276. 8. Johannistag 277. 9. Kirmes
277. 10. Weihnachten 277. 11. Bpiphaniasfest 277.
12. Hochzeit 277. 13. Kindtaufe 278. 14. Todesfälle 278.
15. Kinderspiele 279.
III. Wohnung, Kleidung, Kunst, Volksglauben 279 — 281
1. Häuser 279. 2. Kleidung 280. 3.. Volkskunst 280.
4. Grabschmuck 280. 5. Volksglaube 281.
IV. Mährisches Vaterunser 281
Die Sorben 282—344
Literatur 282—283
I. Sprachgebiet 283—294
H. Dorf und Gehöft 294—305
in. Kleidung 305—810
IV. Götter und Geister 310—313
V. Sitten und Gebräuche 313—340
1. Hochzeit 313. 2. Taufe 324. 3. Krankheit und
Begräbnis 325. 4. Ostern 331. 5. Pfingsten 382. 6. Weih-
nachten 333. 7. Ernte 333. 8. Spinnstuben 335. 9. Allerlei
Glaube 338. 10. Segenbriefe 340.
VI. Musik, Tanz und Gesang, Lied und Spruch 340—345
VII. Das sorbische Vaterunser 345
Die Polaben 346—387
Literatur 346—347
I. Sprachgebiet 347—350
IL Siedelung 350—361
1. Geschichte 850. 2. Dorf anläge 352. 3. Gehöft 355.
4. Hausinschriften 357.
III. Kleidung und Gerät 361—368
IV. Feste und Gebräuche ... 368—386
1. Hochzeit 368. 2. Krankheit und Begräbnis; Aber-
glauben 374. 3. Geburt und Taufe 379. 4. Kirchliche
Feste 380. 5. Dorffeste 382. 6. Allerlei Aberglaube in
Haus und Feld 385.
V. Polabisches Vaterunser 386—387
XII Inhalts Verzeichnis.
Seite
Die Slowinzen 388—440
Literatur 388 — 389
I. Sprachgebiet 389 — 391
IL Geschichte 391—403
III. Die Klucken 403—437
1. Lage and Umgebung 403. 2. Ortsgeschiohte 405.
3. Haus und Hof 408. 4. Beschäftigung 415. 5. Charakter
420. 6. Kleidung 422. 7. Alltagsleben 423. 8. Gerät,
Zierat 424. 9. Volkslieder und Spruchdichtung 426.
10. Sagen und Märchen 430. 11. Aberglauben, Sitten und
Gebräuche 431. Familienfeste 432.
IV. Sprachliches 437—440
V. Slowinzisches Vaterunser 440
Die Kaschuben 441 — 468
Literatur 441
I. Sprachgebiet 441—445
II. Geschichte 445—450
III. Wohnung, Beförderung, Kleidung 450—457
Boden 450. Haus 450. Beförderung 455. Kleidung 455.
IV.J^amilienfeierlichkeiten 458 — 462
Hochzeit 458. Kindheit und Taufe 461. Krankheit
und Tod 461.
V. Aberglaube und Gebräuche 462—465
Geister 462. Glück, Unglück, Zukunft 462. Advents-
zeit 463. Osterzeit 464. Johannisfest 464. Tanz und
Spiel 464. Gerät 464.
VI. Kaschubische Sprichwörter und Lieder 466 — 468
VII. Kaschubisches Vaterunser 468
Die Polen 469—499
Literatur 469—470
L Sprachgebiet 470 — 474
II. Zur Geschichte und Kulturgeschichte der Polen in
Deutschland 474—483
III. Sitten und Gebräuche 483—492
1. Tanz und Musik 483. 2. Hochzeit 485. 3. Kind-
taufe 489. 4. Begräbnis 489. 5. Ostern 490. 6. Andere
Feste 491. 7. Geräte 492.
IV. Götter und Geister 492—493
V. Lieder und Sprichwörter 493 — 499
VI. Polnisches Vaterunser 499
Zusätze und Berichtigungen 500 — 501
Sach- und Namenverzeichnis 502 — 518
Schriften des Verfassers 519 — 520
Volkslieder und Volksmelodieen.
(Die Melodien sind durch vorgesetztes * gekennzeichnet).
Litauer:
Seite
*Unsre Hausfrau trank ein Bchlückchen. Litauisch 112
Ygl. Bartsch, Dainu balsai 124 f., 340 f.
Kuren (Letten):
Gute Vögel in unser Land, Ligo. Livisch 161
Johannis kommt. Livisch 162
•Ein Fähnrich zog zum Kriege 168
Vgl. Erk, Liederhort II, 136 f.
Ich war ein junger Bursche 169
Ach Schiffsmann, du f einslieblicher Mann 169
Vgl. WolfE, Poet. Hausschatz 6. Aufl. S. 184.
Köln am Rhein, du schönes Stadtchen 170
Vgl. Jenenser Anstichlied „Kleine Kugeln mulis man giefsen".
Der Seemann auf dem wilden Meer 171
* Soldat nur bin und bleib ich. Litauisch 171
Vgl. Bartsch a. a. O. 152.
Zwischen Johanni und Michaeli. Litauisch 172
Es flog die Amsel. Litauisch 172
O Ahornsträuchlein. Litauisch 173
Auf der grünen Feldflur mähen. Litauisch 173
Drunten im Thale. Litauisch 173
Aus dem Hörnchen trinkend. Litauisch 174
Ich will die Magd zum Vater senden. litauisch 174
Durch den Garten ging ich einst übers Rosenbeet. Litauisch ... .174
Sprach die Mutter: Geh zum Strande. Litauisch 175
Hohe Berge, ebne Wiesen. Litauisch 175
Ich armer Bursche. Litauisch 175
*Ich stand auf hohem Berge. Lettisch 176
Vgl. Bartsch 387.
Hei ich flieg ins Gärtchen klein. Lettisch 176
Vgl. Bartsch 213.
Werd ich in dem Gärtlein wohl. Lettisch 176
Ich diente meinem Herrn ein Jahr. Lettisch 177
Vgl. Bartsch 138.
XIV Inhaltsverzeichnis.
Masuren:
Seite
*Wenn der Schnee. Masurisch 190
Blümelein im Schatten stand. Masurisch 190
Vgl. Goethe.
Mägdlein hütet im Thal die Erde. Masurisch 191
Hänschen, wohin auf dem hellbraunen Pferd. Masurisch 191
Vier der Jahre dient ich treulich einem Ackerwirt- Masurisch .... 191
Vgl. Boger 80.
Mägdelein klagte sehr, wo doch ihr Hänschen war. Masurisch .... 192
Schönes Mädchen, ich liehe dich. Masurisch 207
Aus fremdem Lande kam er herein. Masurisch 208
Philipponen:
Des Propheten Wort gedachte ich. Philipponisch 247
Es heut des Lebens kurze Zeit. Philipponisch 247
Mufs klagen und mufs weinen. Philipponisch 247
War zur trüben Donau Wogen. Bussisch 247
Tschechen:
Auf der Schlaneyer Brücke. Tschechisch 266
Vgl. Boger 854.
Hänschen, welch ein Narr du bist. Tschechisch 266
Ihr Herren Musikanten da. Tschechisch 267
Wo ist meine Mutter, o Vater- mein. Tschechisch 267
*Ich weifs ein herrliches Böselein. Tschechisch 268
Sorben:
* Jetzt hört einmal, ihr Christenleut. Sorbisch u. Deutsch 323
*Was haben nur die Leute all. Sorbisch 323
*Es sind nun sieben Jahre her. Sorbisch 323
*Wir führen sie. Sorbisch 323
•Vier Pferdchen sind angespannt. Sorbisch 324
Das Mädchen zog nach Weihnachten 324
Gebt uns, gebt, wollt ihr uns etwas geben. Sorbisch 338
Polaben:
Ein schönes Mädchen einsam safs 373
Der Jäger in dem grünen Wald 373
Vgl. Ebner, Deutscher Sang u. Klang 132.
Du sagst, Du wolltet mich nehmen 373
\ *Wer soll Braut sein. Polabisch 374
Slowinzen:
Ach könnt ich doch in meinem ganzen Leben 427
Vgl. Böhme, Volksl. 203. Boger 481.
Unsere Mutter, gute Mutter. Slowinzisch 427
Volkslieder und (*) Volksmelodien. Abbildungen. XV
Seite
Un8re Herden sprangen in die Wälder. Slowinzisch 428
Ach die Frau hat Geld im Walde. Slowinzisch 428
*Weit ists übers breite Meer. Slowinzisch 429
An des Meeres Seite hütet. Slowinzisch 429
Paul Kojic mäht die Wiese. Slowinzisch 429
*Ach Mariechen ging herum im Walde. Slowinzisch 429
Kaschuben:
Ach mein Kranz v. Lavendel. Kaschubisch 460
Ach, ach, ach mein Mann schlägt mich. Kaschubisch 460
*Ein armer Fischer bin ich zwar. Kaschubisch 466
Vgl. Erlach, Volksl. d. Dtsch. 1835 m, 116: Bürkli.
Ein wunderschöner Dreschflegel mit der Heugabel. Kaschubisch . . . ' 467
Wer Blüten will im Garten sehn. Kaschubisch 468
Unsre Mutter, kleines Bebhuhn. Kaschubisch . 468
Meine Mutter, matka. Kaschubisch 468
Polen:
Auf dem Häuslein drinn' im Nestchen. Polnisch 495
Es stürzte ein grüner Baum auf der Heid. Polnisch 495
Es liegt ein Dorf im Thale. Polnisch 496
Die Sterne blitzen, kalt ist die Nacht. Polnisch 496
Was für Flegeln, was für Gabeln. Polnisch 496
Gnädiger Herr, komm lafs dich sehn. Polnisch 496
Wifst ihr Schwestern, was mir gestern. Polnisch 497
Herr, erhöre mein brünstiges Flenn. Polnisch 497
Es hat mich heut um Mitternacht. Polnisch 497
Abbildungen.
(Die Karten und Pläne sind durch beigefügtes * gekennzeichnet.)
.Seite
V *i. Die westslawischen und baltischen Volksteile inDeutsch-
land 4
2. „Ein alter heidenischer Preufs." Nach Waisselius 16
3. Altpreufsische Männertracht. Nach Hartknoch .18
4. Altpreufsische Frauentracht. Nach Hartknoch 18
5. AltpreuXsischer Priester vor der Bockheiligung. Nach Hartknoch • 19
6. Bomowe. Nach Hartknoch 20
</ *7. Gesamtübersicht des litauischen Sprachgebiets in
Preufsen und Rufsland 26
/ *8. Das litauische Sprachgebiet in Preufsen 28
9. Tolminkemen •, 56
XVI Inhaltsverzeichnis.
Seite
10. Hey dekrag -Werdener Grabschmuck 83
11. Litauischer Friedhof 84
12. Litauer im 17. Jahrhundert. Nach Lepner 95
13. Litauer am Ende des 19. Jahrhunderts 96
14. Kriwule 97
15. Stockgriff 97
16. Lichtständer 98
17. Handmühle 99
18. Kanklys 99
19. Cymbel 100
Brummeisen 100
20. Grundrifs des einfachen litauischen Wohnhauses 101
21. Orundrifs des geteilten grösseren litauischen Wohnhauses 102
22. Haffhaus 103
23. Schoner Haus 103
24. Olsiader Gehöft 105
\ *25. Litauisches Gehöft in Rufsland 106
26. Preufsisch-litauisches Wohnhaus 107
27. Russisch-litauisches Wohnhaus 108
28. Samogi tische Klete aus dem 17. Jahrhundert 108
29. Neue samogitische Klete 109
30. Klete in Szwiekszna 109
31. Litauische Klete in Nimmersatt 110
i *32. Das lettische Sprachgebiet in Ostpreufsen 127
33. Haus in Nidden mit Flunderschnüren 134
34. Grundriüs eines Preiler Hauses 137
35. Vorderansicht eines Preiler Hauses 137
36. Bommelsvittener Haus 139
37. Grundriß zweier Preiler Stuben 139
38. „ * „ „ 139
89. Grundrifs eines Niddener Hauses 141
40. Grundrifs eines Helneragener Hauses 141
41. Grundrifs eines Bauernhauses in Karkelbeck 141
42. Grundrifs eines kurischen Insthauses 141
43. Melneragener Gehöft 144
44. Preiler einteiliger Giebelschmuck 146
45. Nehrungsarne 146
46. Zweiteiliger Giebelschmuck 146
47. Giebelköpfe 146
48. Grabkreuze 146
49. Grabplatten 147
50. Grabzeichen für Männer und Frauen in Bommelsvite 147
51. Grabzeichen für Kinder in Bommelsvitte 147
52. Keitelkahn 152
53. Kaulbarschnetz 153
54. Dorschangel 153
55. Kurrennetz 153
56. Winternetz 153
57. Zese 153
•
Abbildungen. XVII
Seite
58. Kescher 153
59. Bernsteinkescher 153
*60. Masurisches und philipponisches Sprachgebiet 185
61. Masurin mit altem Kopfschmuck 189
62. Masurischer Strohspeicher . , 197
63. Giebelfenster in Masaren 197
64. Masurisohe Giebelzier in der Sensburger Gegend 198
*65. Die ostpreufsischen Philipponendörfer 216
66. Alter Philipponenpflug (1833), Seiten- und Oberansicht. Gabel . . 219
67. Gersafs - Balkenende 220
68. Firsthalter 220
69. Giebelzier im philipponischen Gebiete bei Philipponen und Masuren 221
70. Giebelzier mit Giebelbrett 221
71. Drei Zierschnitte des Giebelbretts 221
72. Fischerhütte 221
73. Keller 221
74. Schaluppe 223
75. Wohnhaus 223
76. Wohnhaus mit niedrigem Anbau 223
77. Wohnhaus mit hohem Anbau 223
78. Kleines Gehöft 223
79. Gröfseres Gehöft 223
80. Philipponenstuben 224
81. Philipponenstuben 224
82. Rosenkranz der Philipponen 224
83. Hand beim Kreuzschlagen 224
84. Heuschützer 225
85. Pope im Eckertsdorf er Mönchskloster 226
86. Philipponin, philipponische Nonnen mit Rosenkranz. Bekreuzigung
des Philipponen 227
87. Evangelischer Grabschmuck in Philipponendörfern 228
88. Philipponischer Grabschmuck 228
89. Schönfelder Philipponenkirche 229
90. Vorderseite der Eckertsdorfer Philipponenkirche 230
91. Grundrifs der Eckertsdorfer Philipponenkirche 231
92. Philipponenhaus. Philipponen in jetziger Tracht 240
93. Patenkreuz der Philipponen 241
*94. Die tschechischen evangelischen und katholischen
Kirchspiele in Oberschlesien 251
95. Scheiterhaufen 261
96. Haus in Schlaney 263
97. Podiebrader Häuser 263
98. Schlaneyer Wohnstube 264
XVIII Inhaltsverzeichnis.
Seite
99. Schulzenstock. Knopfinschrift des Schlaneyer 8chulzenstookes . . 264
100. Der Gemeindestock von Schlaney 265
101. Tschechischer Grabschmuck 266
*102. Mährisches Sprachgebiet 274
103. Haus bei Peterwitz 279
104. Saal in Grofspeterwitz 279
105. Dirschkowitzer Haus. A. Giebelansicht, B. Grundrifs 279
106. Grabzier in Katscher 280
*
107. Das sorbische Sprachgebiet 284
*108. Die niedersorbischen Kirchspiele 286
*109. Die obersorbischen evangelischen, katholischen und
altlutherischen Kirchspiele 1900 287
Drei Dorfformen 294—295
*110. Schematischer Plan des Dorfes Gurhow 295
111. u. 112. Werbener Hofräume 297
113. Giebelschmuck 298
114. Werbener Wohngebäude 298
^ 115. Hausgeräte aus dem wendischen Volksmuseum in Bautzen .... 300
116. Bemalte Thonteller aus dem Museum für sächsische Volkskunde . 300
117. Schulzenzeichen 300
i 118. Sorbische Gehöfte im Spreewald 30K o
119. Haus in Burg mit gebrochener Ecke und mit Gang 302
U20. Wendische Wohngebäude in Kalbitz 802
j 121. Wendischer Gutshof in Schönau 302
122. Stall und Speicher mit Gang in Burg 303
123. u. 124. Werbener Gehöfte. (123 zum Wohngebäude 114, 124 aus
dem Grofsbauernviertel) 304
\ 125. Wendengruppe aus der Parochie Klitten 305
126. Sorbische Tracht am Ende des 18. Jahrhunderts. Nach Anton . . 306
\ 127. Aussterbende niedersorbische Tracht in Schorbids 307
128. Sorbische Trauertracht, am 12. Juni 1782, in Muskau. Nach Leske 308
129. Hoyerswerdaer Brautjungfern mit Fes 309
130. Sorbische Trauung, 12. Juni 1782, in Muskau. Nach Leske . . . 314
131. Bürger Feststräufse aus Füttern und künstlichen Blumen . . . . 316
\ 132. Kahnfahrt zur Trauung in Burg 317
133. Papitzer Braut (Rückansicht) 318
134. Trauernde Niedersorbin mit Plachta 326
135. Hölzerner Grabschmuck in Schleife 326
136. Grabschmuck aus der Gegend von Neschwitz 327
137. Briesener Holzkreuz 827
138. Papitzer Holzplatte 327
139. Burger Grabschmuck 327
140. Holzplatten auf dem Mittelpunkt von Grabkreuzen zu Königswartha 328
141. Werbener Holzkreuz 328
142. Totenbrett in der Werbener Kirche. Seitliche, Kopf- und untere
Ansätze an Werbener Totenbrettern 328
Abbildungen. XIX
Seite
143. Ernte in Burg 334
V 144. Spinnstabe in Papitz 336
145. Spinnstubenspiel „Du hast den Schlüssel8 337
V 146. Musikinstrumente aus dem wendischen Volksmuseum zu Bautzen 340
147. Schnarre, Klapper 342
^ * Das hannoversche Wendland 350
*148. Schematischer Grundrifs eines Dorfrundlings im han-
noverschen Wendlande 352
/ *149. Dorf Klennow 352
j * 150. Südöstlicher Teil des hannoverschen Wendlandes vor
der Landvermessung von 1775 352
151. Braunschweiger Klapperbrett 355
152. Grundrifs eines Küstener Wohnhauses 356
153. Lübelner Gehöft 356
; 154. Altes Haus in Belitz 1777 356
^ 155. Häuser in Schreyahn 356
/ 156. Dorfansicht in Schreyahn 356
157. Flacher Giebelschmuck aus Holz (Klennow) 357
158. , „ (Dolgow) 357
159. Körperlicher Giebelschmuck aus Zink (Dolgow) . 357
160. Giebelbrett mit Giebelschmuck 357
161. Kamin in einem Hause aus dem Ende des 17. Jahrhunderts zu
Serau bei Satemin 358
162. Dönz mit zwei Butzen 360
163. Hochzeitspaar um 1800 362
164. Spinnerin um 1880 363
165. Grofsvater mit Haspel 364
166. Markt- und Tanzanzug bis 1880 367
167. Kreuz in grabgrofser Fassung 376
168. Hölzerne aufrechtstehende Kreuze und Grabplatten aus Holz . • 376
*169. Das slowinzische Sprachgebiet um 1900 390
j *170. Karte von den Grundstücken der Büdner zu Bchmolsiner
Klucken 407
171. Rauchkate in den Selesener Klucken 409
172. Slowinzisches regelmäßiges Haus 409
173. Im Slowinzenland 410
174. Gehöfte in den Selesener Klucken 411
175. Gehöft in den Bchmolsiner Klucken 412
176. „ . , , „ 412
177. Netznadel mit Bock 418
178. Lischke 424
179. Steinerne Handmühle 425
180. Klnckener und Garder Holz-Grabplatten 425
181. Alter Fritzower Holzgrabschmuck 426
Tabellen.
Seite
Die Slawen in Deutschland 3
• Die Letten in Deutschland 112 — 116
Die Philipponendörfer 217
«
XX Inhaltsverzeichnis: Abbildungen. Tabellen.
Seite
*182. Die letzten lebakaschubischen Kirchspiele 442
*183. Die kaschubischen Kirchspiele Pommerns um 1800 . . . 443 jl
184. Das Giesebitzer Moor, der Lebasee, dahinter die Nehrung, der i
Fuchsberg . 451 ,
185. Kaschubisches Dorf 452 )
186. Giesebitzer Lebawiese 453 \
187. Czarnowsker Kaschubenhäuser 454 i
188. Grundrifs eines Krockower Hauses 454 f
189. Giebelzier aus dem Neustadter Kreise 454 1
190. Kaschubischer Keller in Krockow 455
191. Leiterwagenseite in Krockow 455
192. Handschuh 455 j
193. Kaschubische Tracht im Jahre 1820. Nach Lorek 456
194. Typen aus Czarnowske 457
195. Grabschmuck 462
196. Flechtkämme .464
197. Slawisches Binderjoch 46R '
198. Früherer Bock in Bohlschau 465'
199. Jetziger Bock in Bohlschau 465 I
I
*
*200. Die Polen und Kaschuben in Westpreufsen, Posen und
Schlesien 473
201. Batajer Gehöfte 478
; 202. Polnisches Gehöft bei Posen 47'
203. Vorderansicht eines Batajer Hauses 479
204. Grundrifs eines Hauses in Zegrze 479
205. Grundrifs eines Backwitzer Hauses 479 »
206. Durchschnitt eines Backwitzer Schornsteins 479
207. Giebelzier aus Posen 480
208. Bamberger Kopfputz 481
209. Sokoltracht 482
210. Tracht aus der Krakauer Gegend 484
211. Madchentracht bei Krakau 485 \
212. Buker Musikanten 486 '»
213. Holzkreuze mit Inschriftplatten 489
214. Polnische Schulzen- und Gemeindezeichen 492
i
Einleitung.
■■
Übersicht über die Slawen in Deutschland.
Literatur.
A n d r e e : Globus, Illustrierte Zeitschrift für Länder- und Völkerkunde. Braun-
schweig, Vieweg u. Sohn. Jährlich 2 Bde. Bis 1901: 1. bis 80. Bd.
Beheim-Schwarzbach: Hohenzollernsche Kolonisationen. Leipzig 1874.
töckh: Der Deutschen Volkszahl etc. Berlin 1869.
.. Fircks: Die preufsische Bevölkerung etc. 1890. Zeitschrift des königl.
preufs. staust. Bureaus 1893, S. 189 bis 296.
Gehre: Die neue deutsche Kolonisation in Posen und Westpreufsen. Großen-
hain 1899.
Giesebrecht: Wendische Geschichten aus den Jahren 780 bis 1189. Berlin
1843.
Hanusch: Die Wissenschaft des slawischen Mythus etc. Lemberg 1842.
Lippert: Die Religionen der europäischen Kulturvölker etc. Berlin 1885.
Tteitzen: Siedelung und Agrarwesen. Berlin 1895 ff.
ftünster: Cosmographia. Basel 1550.
Bhamm: Zur Entwickelung des slawischen Speichers. (Globus 77, 18. bis
22. Heft.)
Schaffarik: Geselchte der slawischen Sprache und Literatur. Ofen 1826. —
„ Slawische Altertümer. Deutsch von Mosig von Ährenfeld.
Leipzig 1843/44.
Schulze: Die Kolonisierung und Germanisierung zwischen Saale und Elbe.
Leipzig 1896.
Mündliche und schriftliche Nachrichten der Herren: Dr. Andree,
Bischof Baranowski, v. Below, Geh.-Rat Prof. Dr. Bezzenberger,
Dr. Bielenstein, L. Blöde, Amtsvorsteher Bohn, PopeBorischewitz,
P. Freyberg, Dr. Gaigalat, Frau Gerfs, P. Hahn, L. Jakameit,
Jankus, P. Jopp, P. Jurkschat, L. Kaschkat, P. Emet,
P. Kossyk, L. Kuczius, Dr. f^gowski, Dr. Lorentz, P. Lotto,
Propst A. v. Maltzew, L. Marquardt, L. Mente, P. Neumeister,
Geh. Justiz-Rat Dr. Passarge, L. Paulat, P. Pohlmann, P. Poppe,
P. Pylda, Oberbibliothekar Dr. Reicke, L. Reschat, Forstbeamter
Rokitensky, C. Rollwage, Rektor Römer, C. Salkowski, Prof. Dr.
Schmidt, L. Scholze, Hegierungsbeamter Smilgewicz, L. Stodt-
meister, Prof. P. Szczybalski, Rittergutsbesitzer Treichel, cand.
jur, Trullay, C. Vahlbruch, Rektor Wanieck, P. Wegeli, Dr.
Wolter, L. Zwikirsch u. v. a.
Tetsner, Die Slawen in Deutschland.
2 Die Slawen in Deutschland.
Als die ostdeutschen Völker, teilweise von den römischen Kaisern
als Hülfßtruppen nach Süden gerufen, ihr Land verlief sen, drängten
die Slawen nach.
Der slawischen Überflutung Ostdeutschlands wurde durch Karl
den Grolsen 805 vorläufig ein Damm gesetzt, als die Saale -Elbelinie
oder die Marktstrafse Lorch, Regensburg, Erfurt, Magdeburg, Bardowiek,
Kieler Bucht zur Grenze bestimmt ward. Die Geschichte der sächsischen,
salischen und staufischen Kaiser ist voll der Kämpfe mit den Slawen.
Die Einführung der Burgwart- und Militärstrafsen Verfassung durch
König Heinrich und die Einleitung der grolsen deutschen Besiedelung
Ostgermaniens durch Albrecht den Bären und Wiprecht von Groitzsch,
den Grafen Adolf und den Deutschen Orden brachen die slawische
Macht. Es vollzog sich ein jahrhundertelanges allmähliches Aufgehen
im Deutschtum. Innerhalb der Reichsgrenzen bewahrten eine Anzahl
Stämme, die im vorliegenden Buch behandelt werden sollen, Lebens-
kraft. Sie erlebten grösstenteils noch die Zeit, da eine zweite Slawen -
welle Deutschland überwallte, die nicht zu unterschätzende der Sachsen -
ganger. Von diesen soll nicht die Rede sein, sondern nur von den
alten, nun grösstenteils germanisierten Stämmen. Sie gliedern sich in
eine baltische und eine westslawische Gruppe. Die baltische wird mit
Recht als besonderes Glied neben die slawische gestellt und zerfällt in
Preuf8en, Litauer und Letten. Von den Westslawen blieben die Masuren
mit den Philipponen, die Tschechen, Mährer, Sorben, Polaben, Slowinzen,
Kaschuben und Polen übrig. Die Tabelle (Seite 3) giebt Aufschluls
Über ihre Seelenzahl, Heimat, Konfession, Mutter- und Kirchensprache,
die Karte (Seite 4) über ihr Wohngebiet innerhalb Ostdeutschlands
Grenzen.
Die sich anschließenden Darstellungen beruhen auf Reisen durch
die slawischen Striche Deutschlands und der angrenzenden Gebiete
(1895 bis 1900). Die hier ergänzten Ergebnisse wurden zuerst im
Globus (1896 bis 1900) niedergelegt; ferner u. a. in folgenden Zeit-
schriften : Leipziger Zeitung, Münchener Allgemeine Zeitung, Zeitschrift
für Kulturgeschichte, Geographische Zeitschrift, Altpreufsische Monats-
schrift, Aus allen Weltteilen, Nord und Süd, Westermanns Monatshefte,
Unsere Dichter in Wort und Bild.
Vorbeugen möchte ich der irrtümlichen Meinung, die aufgeführten
Gebräuche und Gewohnheiten seien nicht auch Gemeingut der um-
wohnenden deutschen Dorfbevölkerung. Unsere slawischen Volks-
splitter gehören meist dem Bauernstande an, und der Gegensatz von
Stadt und Land ist, was Volkskunde angeht, trennender, als der von
deutsch und slawisch. Aber Sprache und Sprachschatz sind an sich
die wichtigsten Teile jedes Volkstums; sie bedingen auch die Zahl der
behandelten Völker.
in
du s
"3.5
IM
lj
1 3 311
!i
1*1
Hü
i ;
äj
ill
I t
-SS
IIa
ill-
(41 -33aI ■
s "äilll *
*o
I {'
58.- [p
■:{ili
all l|i
ks j-i
im
f>.
kl P
Im i w
! III I] III
Sil
II;
I] 1
h
M
l!
m
p
ii
ii
Stil i I l I
II i !
■4.
DIE
• •
BALTISCHEN VOLKSSTAMME
IN
DEUTSCHLAND.
(ALTPREUSSEN, LITAUER, LETTEN.)
Die Preufsen.
Literatur.
-Acta Borussica. Königsberg 1730—1732.
Altpreufsische Monatsschrift, herausgegeben von Beicke. Königsberg, seit
1864. Fortsetzung der Preufsischen (seit 1829) und Neuen Preußischen
Provinzialbl. (seit 1846).
Ambrassat: Die Provinz Ostpreufsen. Königsberg 1896.
Armstedt: Geschichte der Haupt- und Besidenzstadt Königsberg. Stutt-
gart 1899.
Arnold t: Kurtzgefafste Nachrichten von allen seit der Reformation an den
lutherischen Kirchen in Ostpreufsen gestandenen Predigern. Königsberg
1777#
Baczko: Nankes Wanderungen durch Preufsen, 2 Bde. Hamburg 1800.
Bernecker: Die pre ufaische Sprache. Strafsburg 1896.
Bezzenberger und Simon: Das Elbinger Deutsch -Preufsische Vokabular.
Königsberg 1897.
Boetticher: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Ostpreufsen.
Königsberg 1891 ff.
David: Preufsische Chronik, herausgegeben von Hennig und 8ohulz.
Königsberg 1812—17.
Dusburg: Ohronicon Prussiae, herausgegeben von Hartknoch. Frankfurt
und Leipzig 1679.
Frischbier: Preußisches Wörterbuch, 2 Bde. Berlin 1882/83.
Frydwald: Die Gemaine, auch gancz Bechtme&ige Apweichunge, der
Lande Preufsen, von denn Kreucz Herren wegen Irer grausamen Tyranneien.
Krakau 1578.
(Gervais): Notizen von Preufsen, 2 Bde. Königsberg 1795/96.
Grünaus preufsische Chronik, herausgegeben von Perlbach und Wagner.
Leipzig 1875—92.
Harn och: Statistik der evangelischen Kirche in Ost- und Westpreufsen.
Neidenburg 1890.
Hartknoch: Alt- und neues Preufsen. Frankfurt 1684.
Hasenkamp: Ostpreufsen unter dem Doppelaar. Königsberg 1866.
Hecht: Aus der deutschen Ostmark. GunVbinnen 1897.
Hennenberger: Grofse Landtafel von Preufsen. Königsberg 1629. — Er-
clerung der preufsischen gröfseren Landtaffel. Königsberg 1595. —
Kurtze und wahrhafftige Beschreibung des Landes zu Preufsen. Königs-
berg 1584.
Hörn: Kulturbilder aus Altpreufsen. Leipzig 1886.
Jeroschin: Die Kronike von Pruzinlant, herausgegeben von Strehlke.
Leipzig 1865.
Kataloge des Prussiamuseums. Königsberg 1893 ff.
Lemke: Volkstümliches in Ostpreufsen, 3 Teile. AUenstein, dann Mohrungen
1884—99.
Lohmeyer: Geschichte von Ost- und Westpreufsen. Gotha 1881.
8 Die Preußen: Geschichte.
Mo eller: Danziger Frauen trachtenbuch 1605, herausgegeben von Bert-
ling. Danzig 1886.
V/ Nesselmann: Die Sprache der alten. rieuTsen. Berlin 1845. — Thesaurus
• linguae prussicae. Berlin 1873.
Nostitz: Haushaltungsbuch des Fürstentums Preufsen 1578, herausgegeben
von Lohmeyer. Leipzig 1893.
Passarge: Aus dem Weichseldelta. Berlin 1857. — Aus baltischen Landen.
Glogau 1878. — Baltische Novellen. Leipzig 1884.
Perlbach: Preufsische Regesten. Königsberg 1876.
Preufs: Preufsische Landes- und Volkskunde. Königsberg 1835.
Preufsen, Erleutertes. Königsberg 1724—42.
Preufsische Provinzialblätter, siehe Altpreufsische Monatsschrift.
Pierson: Bilder aus Prenfsens Vorzeit. Berlin 1872.
"* Bhesa: Prutena, 2 Bde. Königsberg 1809, 1824. — Nachrichten von allen
seit 1775 an den evangelischen Kirchen angestellten Predigern. Königs-
berg 1834. — Nachrichten und Bemerkungen aus den Feldzügen 1813/14
aus dem Tagebuch eines Feldgeistlichen. Berlin 1814. — Kirchengeschichte»
Vorlesungen, Manuskript von Kurschat.
Bunau: Historia vnd einf eltige beschreibung etc. Wittemberg 1582.
Schirrmann und Hirsch: Pfarralmanach für die Provinz Ostpreufsen.
( Königsberg 1897.
Schultze: Grammatik der altpreufsischen Sprache. Leipzig 1897..
Schütz: Historia rerum Pruss. Zerbst 1592.
Vater: Die Sprache der alten Preufsen. Braunschweig 1825.
\ Voigt: Geschichte Prenfsens, 9 Bde. Königsberg 1827 — 39. — Codex
diplomaticus Prussicus, 6 Bde. Königsberg 1836 — 65.
WaisBelius: Chronica alter Preusscher, EifClendischer und Curlendischer
Historien. Königsberg 1599.
Weber: Preufsen vor 500 Jahren. Danzig 1878.
(Vgl. hier wie bei den folgenden Abschnitten auch die vorige Literatur.)
I. Geschichte.
Der Name der Preufsen (Pruzi, Pruzzi, Pruteni, Prutheni) begegnet
uns gegen Ende des 10. Jahrhunderts in einer Gegend, wo früher
Esthen, Goten, Heruler, Samen als ansässig bezeichnet wurden. Es
schenkten nämlich Boleslaws Stiefmutter Oda und deren Söhne Nisica
und Lambertus und der Pommernfürst Dagone dem Papst Johann XV.
um 992 die Stadt Schinesghe mit allem Zubehör längs des Meeres bis
Pruzze. Ob die von Tacitus, Kassiodor, Jordanis, Einhart genannten
Aisten, Esthen ein geschlossenes gleichartiges Volk waren, ist ebenso
wenig zu entscheiden, als die Frage, ob Goten und Heruler nur als
Herrscher an der Küste und an den Flüssen safsen. Um 500 dankte,
wenn des Kassiodor Zeugnis nicht als ein „Musterbrief" anzusehen ist,
der Ostgotenkönig Dietrich den Hasten für ein Bernsteingeschenk. Seit
dem 9. Jahrhundert treten dann einzelne Völkernamen auf, und die
Esthen sind die nördlicher lebenden Maarahvas. Es ist kein Grund vor-
handen, die frühzeitig erwähnten Samen nicht als Teilbezeichnung der
Preufsen anzunehmen, ebenso wenig wohl die Sudauer und Galinder,
Urgeschichte. 9
die schon Ptolemäus kennt. Die Grenze des Preufsenlandes legt der
Ordenschronist P. v. Dusburg zwischen Weichsel, Memel, Meer und
Rulsland. Aber das Gebiet zwischen Weichsel, Otta und Drewenz war
von Polen besiedelt worden, wie aus einer Urkunde vom Jahre 1239
hervorgeht, und Liebe und Nogat waren die Westlinien der preulsischen
Graue. Im Norden und Osten wohnten Litauer, die von manchen noch
heute für völlig gleichen Stammes angesehen werden, aber in ihrer
Sprache und Geschichte doch abweichen. Der Name Preulsen, der wohl
fälschlich schon von älteren Geschichtsschreibern mit Lit protas, Ver-
stand, wurzelverwandt, genannt wird, ward nach Untergang der
politischen Freiheit der alten Preulsen, auf das 1525 weltlich gewordene
Herzogtum und 1701 auf das neue Königtum aufserhalb Deutsch-
lands übertragen und für die sämtlichen Lande der preulsischen
Könige angenommen, während seit dem 1. April 1878 das Stammland
in die Provinzen Ost- und Westpreufsen geteilt ward. Die alte Grenze
unterlag verschiedenen Änderungen, die östliche und südliche geht auf
den zwischen Witold und dem Orden 1422 geschlossenen Frieden am
Melnosee, die westliche auf den zweiten Thorner Frieden und nach den
polnischen Teilungen auf die Neugestaltung nach den Freiheitskriegen
zurück.
Die alte preufsische Geschichte ist sagenumwobener als die meisten
Sagenreichen Urgeschichten. Im Anklang an die gotische Einwanderung
von Norden her werden die Brüder König Widewuto und Oberpriester
oder Kriwe Pruteno als die ersten Führer bezeichnet, die von Gotland
her übers Frische Haff auf Flötsen ankamen und in Glück und Segen
ihr Volk beherrschten. Sie haben ein Lebensjahrhundert überschritten,
als sie bei einer Volksversammlung eichenla abgeschmückt den Scheiter-
haufen an der heiligen Eiche ihres Romowe besteigen. Brüderlich ver-
eint, nach Ermahnungen ans Volk, ein Loblied den Göttern singend,
scheiden sie unter Blitz und Donner im Feuer ab, nachdem die 12 Söhne
Widewut8 die 12 Gaue in Besitz genommen hatten. Damit soll wohl
die glückliche Zeit vor der Zersplitterung in Gaue, die sich nur lose
aneinander fügten und im Kriege nicht immer unterstützten, angedeutet
werden. Jedenfalls führten die Preulsen ein ruhiges, der Jagd und
Fischerei, dem Ackerbau und der Viehzucht geweihtes Leben in
geschlossenen Dörfern unter ihren Gauführern und Priestern, den
Waidelotten, verehrten ihre Götter und verschönten das Leben durch
Br&uche und Feste. Da kam der erste Glaubensbote, der heilige
Adalbert von Prag, und ward am 23. April 997 bei Fischhausen
(in Cholinun = Kallen) von ihnen erschlagen; nicht besser erging es
seinem Nachfolger ßrun, der am 14. Februar 1009 mit 18 Begleitern
von ihnen enthauptet ward. Dieser Spröfsling des sächsischen Kaiser-
hauses soll nach dem Zeugnis Thietmars v. Merseburg bis an die Ost-
grenze vorgedrungen sein. Nach den Tschechen und den Sachsen
versuchten nun die Polen mit Feuer und Schwert das Christentum
10 Die PreuTsen.
einzufahren. Boleslaw I. (992 bis 1025) machte einen Teil tribut-
pflichtig, die Dänenkönige Eanut der Grofse (1015 bis 1035) und
Kanut IV. (1076 bis 1086) zwangen die Samen zur Unterwerfung;
von 1107 bis 1115 holte Boleslaw III. wiederholt Beute aus Preulsen
und schickte immer neue Missionare. Dals die Preulsen sich nicht
gutwillig alle Räubereien gefallen liefsen und nun auch nach Masovien
vorrückten , ist nicht zu verwundern. Auf was die Bekehrer leider
meist ihr Augenmerk lenkten, geht aus nicht wenigen Zeugnissen hervor.
Papst Innocenz III. ermahnte 1212 die Herzöge von Polen und Pommern,
die zum Christentum übergetretenen PreuTsen doch ja mit Sklaven-
diensten zu verschonen. Der getaufte preufsische Fürst Warpodo
schenkte, um seiner Güter nicht verlustig zu gehen, dem Bischof
Christian von PreuTsen 1216 das Land Lansanien, der Fürst Suava-
buno 1218 das Löbauische Land. Papst Honorius III. verlieh 1217
den aus den Nachbarländern zum Schutz der Neubekehrten in Preulsen
Herbeieilenden Kreuz und Ablafs, befahl aber, durch Erfahrungen
gewitzigt, doch ja nicht irdischen Gewinnes wegen nach Preulsen zu
ziehen.
Das eroberte Kulmer Land gab Konrad von Masovien 1222 zum
grölsten Teil dem Bischof Christian, auf dessen Rat wohl des Herzogs
Einladung an den Orden zurückzuführen ist. Die Gesandtschaft traf
den Hochmeister Hermann von Salza 1226 in Venedig, der auch zusagte,
wenn ihm das zu erobernde Land als Eigentum zufiele. Kaiser und
Papst gewährten ihm dies, forderten 1230 zum Kreuzzuge auf, und
1231 kam Hermann Balk mit seinem Heere im Lande an. Ihn mögen
die Gedanken beseelt haben, die ihm Felix Dahn unterlegt:
•
Wo des Perkunos Steine ragen,
Von Urwaldflchten schwarz umsäumt,
Wo wilde Steppenhengste jagen
Und im Gestrüpp der Rohrwolf heult,
Dort, statt am Jordan zu vergeuden
Des Bitters Mut, des Bauers Kraft,
Dort sollt ihr fechten, hau'n und reuten
Mit Axt und Grabscheit, Schwert und Schaft.
Nicht nur Krieger kamen, Burggraf Burkhart von Magdeburg
führte 500 waffenfähige Pilger und grotse Scharen anderer Deutscher
an, die das Land gefallener Preulsen bekamen. Hermann Balk gründete
Thorn und gab 1232 die erste Kulmer Handfeste, die 1251 erneut
ward und die Verhältnisse der Bevölkerung regelte. Sie ist die Grund-
lage jener Verordnungen, auf die auch der Name der Freibauern oder
Kölmer zurückgeht. Es vollzog sich nun ein blutiger Kampf, blutiger
als die Eroberung der Marken an der Elbe. Die Ritter legten Burgen
an, schufen eine Art Militärgrenze, Flüsse und Furten wurden bewacht.
Wer sich bekehrte, behielt anfänglich sein Eigentum, den Hartnäckigen
und Gefallenen ward es genommen. So verlieh 1242 der Landmeister
Ordenskämpfe. Durbener Schlacht. H
Heinrich v. Weida dem edlen T. v. Tyfenow erblich drei preußische
Dörfer mit allen Rechten und sechs Dörfer, die er verkaufen konnte.
Dafür mutete er die Preufsen, denen er Land anwies, so streng halten,
wie der Orden selbst.
Immer neue Scharen Kreuzritter zogen ein. Der milde Hermann
Balk, der den Preufsen ihr Besitztum liefs, starb. Seine Nachfolger
fühlten sich als unumschränkte Herren. 1245 forderte Innocenz IV.
den Hochmeister, die Ordensbrüder und das Kreuzheer in Preufsen auf,
die treulosen (preufsischen) Christen, die den heidnischen Preufsen und
Litauern beistünden, mit aller Macht zu unterdrücken. Was liefs sich
aus dieser Bestimmung nicht alles machen. 1249 konnte schon ein
Frieden mit den neubekehrten Preufsen aus Pomesanien, Ermland,
Pogesanien, Natangen und Barten geschlossen werden. Die dem Heere
zu Hülfe gekommenen jungen Adligen erhielten grofsen Grundbesitz
und hatten nur die Pflicht, bei Besitz von über 40 Hufen zu Pferde
mit zwei Begleitern beim Ordensaufgebot zu erscheinen. Diese Ritter-
gutsbesitzer besafsen die Gerichtsbarkeit, nur die über Leben und
Tod hatte sich der Orden vorbehalten; die Kölmer, die mit einem
Pferde erscheinen mufsten, übten die niedere Gerichtsbarkeit aus und
waren dem Komtur direkt untergeben. Das kölmische Schulzenamt
war erblich, die edlen ordenstreuen Preufsen hatten die Rechte der
Rittergutsbesitzer, ohne zu Feld erscheinen zu müssen. Die gewöhn-
lichen Freien blieben Freilehnsleute, die Bauern und Handwerker waren
frei, die Abgefallenen und früher unfreien Preufsen bildeten den Bauern-
stand. Sie hatten ein oder zwei Hufen im Besitz, waren zwar nicht
leibeigen, mufsten aber viele Lasten tragen. Die wichtigsten Gesetze
waren 1255 nach Waisselius die folgenden sieben: Die getauften
Preufsen „sollen und mögen tt allerlei Guter erwerben und mit aller
Gerechtigkeit wie in anderen Ländern besitzen, Testamente setzen,
dürfen Witwen eingewanderter Deutschen heiraten, ehrliche und
männliche können zu Rittern geschlagen werden, die Preufsen dürfen
Handwerke lernen und nach allen Orten verziehen, sie dürfen nach
Belieben zum kölmischen und polnischen Recht halten, und „die nicht
anbeten und wirdigen die Abgötter a, mögen alle Privilegien geniefsen.
Nach Niederwerfung des grofsen Aufstandes, der auf die Durbener
Sohlacht (13. Juli 1260) folgte, suchte der Komtur alle sicheren edlen
Preufsen mit Wohlthaten zu überhäufen, dafs sie feste Stützen des
Ordens inmitten der eroberten Lande seien. So befreite er den
Preufsen Gedun, der beim Abfall seiner Landsleute dem Orden zu
Hülfe geeilt war, mit seinen Söhnen vom Zehnten und jeder anderen
Leistung, nur sollte er mit Panzer und Waffen die gewohnten Kriegs-
dienste leisten. Was er im Kriege verloren hatte, ersetzte ihm der Orden.
Wer ihn etwa verletzen würde, sollte mit dem Leibe büfsen, wenn die
Seinigen nicht Wergeid zu geben vorzögen; seine Nachkommen aber er-
hielten dauerndes Erbrecht. Die Preufsen Szinte, Pisc, Pogononie und
12 Die PreuJsen.
Azovirth, wahrscheinlich einer Sippe angehörig, erhielten 40 Hafen
rechts und links der Drewenz und die niedere Gerichtsbarkeit; die
höhere, über Tod und Leben, behielt sich der Bischof vor. Ihre Pflichten
bestanden in der Abgabe von Getreide, Wachs und Pfennigen und im
Kriegsdienst, von dem überhaupt keiner der Belehnten frei war. Ein
anderer Preufse wurde Herr von fünf Familien und bekam sein früheres
Land erblich, ein dritter mufste gegen Erbrecht und Verleihung von
20 Familien Dienst mit Schild und Speer zur Landwehr, zum Burgenbau
und aulserdem Rekognitionszins leisten. Der Edle Wergule besafs sogar
die hohe und niedere Gerichtsbarkeit über 25, Waydote und Kleytin
über 5 Familien, ebenso 1262 der Preufse Tyrune und seine Erben
über 7 Familien im Dorfe Trentitten bei Laptau. Auch er hatte mit seinen
Leuten mit Schild und Lanze Heeresfolge zu leisten und beim Burgenbau
zu helfen, mufste dazu eine jährliche Abgabe von einem Pfund Wachs und
einem Eölmer oder fünf Königsberger Pfennigen an den Bischof leisten,
durfte aber sein Gut mit denselben Leistungen weiter verkaufen. Der
Preufse Palstok empfing für seine Dienste während des Aufstandes 1 260
sechs Haken eines Dorfes bei Labiau zu Erbrecht, auf denen er Familien
ansiedeln sollte, die ihm den Zehnten gaben. Die edlen Preufsen
eigneten sich schnell deutsche Bildung an, besuchten sogar teilweise
die gelehrten deutschen Schulen. So Herkus Monte in Magdeburg.
Dafs sie dabei ihr Volkstum nicht vergafsen, beweist gerade wieder
Herkus Monte. Einst wollten die Natanger ein Opfer thun. Da warfen
sie das Los über die gefangenen Christen. Das traf einen Magdeburger
Bürger, Herzhals mit Namen. Herkus Monte befreite ihn und liels
das Los aufs neue werfen. Das traf ihn wieder. Nochmals erlöste
ihn der Preufsenheld. Aber such zum dritten Male ward Herzhals
getroffen und machte nun keine Anstrengung mehr, sondern ergab sich
willig in sein Schicksal.
Der Orden umklammerte das Land immer fester von innen und
aufsen. Es folgte Aufstand auf Aufstand. Das Geschick der Preufsen
mufste sich bald erfüllen, trotzdem sie lange heldenhaft, wie die
Buren, fochten. — Zersplitterung und Verrat auf der einen Seite,
bessere Kriegstüchtigkeit und immer neue Scharen von Kreuzfahrern be-
wirkten, dafs auch noch die Gaue Sudauen, Nadrauen, Schalauen unter-
lagen, das Land um 1283 als erobert, die Edlen als unterworfen gelten
konnten, soweit sie nicht schon längst auf Seiten des Ordens standen.
Besiegelt war das Los des Volkes, nachdem 1273 der Held Herkus
Monte gehängt und damit Natangen überwunden wurde. Durch den
Verrat Sareckas, dessen Kämpfe Soldat in seinem gleichnamigen
Epos besungen hat, fiel auch Schalauen. Nochmals drangen 800 Litauer
über die Nehrung ein. Als aber der Landmeister Konrad von Thier-
berg das ganze noch nicht völlig beruhigte Land durchzog, die Hütten
verbrannte, Männer und Weiber fortschleppte, kroch alles zu Kreuz;
auch Pogesanien war nun erobert. Die Selbständigkeit des Volkes war
Landordnung Siegfrieds von Feuchtwangen. 13
gebrochen, aber der Orden war politisch genug, die Zügel nicht über-
mässig straff zu ziehen; besonders schonte man die Sprache. 1284
verschrieb der Bischof Heinrich von Ermland den Preufsen Gaudinis,
Poburs, Cantune, Cawald, Argaldinus und ihrem Oheim Skanthilt das
Feldlos Spalt das einst ihr Vater Stirnis im Felde Eapheim bei Gut-
stadt besessen, als Erblehen. Dafür sollten sie mit einem Reüsigen
Kriegsdienst leisten und von jedem Pflug ein Mafs Weizen und Roggen,
von jedem Haken ein Mafs Weizen und jährlich zwei Pfund Wachs
der Kirche Zinsen. Andere Treue erhielten ähnliche Schenkungen, nur
die Biberjagd, das Berg- und Salzregal, wie die hohe Gerichtsbarkeit
behielt sich der Orden meist selbst vor. Der 12. Hochmeister, Siegfried
v. Feuchtwangen, gab 1308 nach Waisselius eine Landordnung in 30
Artikeln. Aus ihnen ersehen wir, dafs im preufsischen Ordenslande Juden,
Schwarzkünstler, Zauberer und Weydeler (Waidelotten) nicht geduldet
wurden, dafs 30 böhmische Groschen eine Gute Mark gelten und das
preußische Gesinde allsonntäglich beim zuständigen Priester Beichte
thun und Predigt anhören sollte. Die Herrschaft durfte bei drei Mark
Strafe mit dem Gesinde nicht preufsisch reden, keinen Preufsen „zu
einem Regiment setzen" oder dulden, dafs Preufsen, Mann oder Weib,
Bier schenkten und andere Erbe bewohnten und Äcker bebauten, als
wüste. Wenn ein Dienstbote entlief, so konnte man ihm nachreisen
und bei einem Ohr annageln. Die Dienstboten durften zur Erntezeit
nicht heiraten. Die Brauer, Markt Verkäufer und Handwerker hatten
besondere Vorschriften. Für Gastgebote, Köstungen, Kindelbiere und
Freiersleute wurde festgesetzt, dafs Schulzen Gäste auf sechs, Bürger auf
vier, Bauern auf zwei Fässer Bier haben durften, aber nur Montags,
bei 10 Mk. Strafe. Zu einem „Lawelbier" und Kirchgang waren eine
Mahlzeit und vier Fässer gestattet, Strafe war nur mit Geld, nicht mit
Bier zu bezahlen. Sonntags durfte nichts gekauft, Kleider sollten nicht
anders gefärbt werden. Nur die Krüger waren ermächtigt, Heringe,
Bier, Öl, Honig, Salz in den Städten zu kaufen. Das Erbe zu ver-
äul8ern oder wüste Güter ohne Erlaubnis zu gebrauchen, fortgelaufene
Bauern aufzunehmen, das notwendige Vieh pfänden, war verboten.
Ein Gärtner konnte zwei Pferde halten ; niemand durfte roden, wenn er
nicht seinen Acker dahin verlegen wollte. Alle Jahre sollten die
Schulzen mit ihren Ratsherren die Grenzen bereiten und nötigenfalls
erneuern. Das Würfelspiel war untersagt. Der Eid war dem Angeklagten
zuzuschieben. Vormund und Gericht ward geregelt. Der Schulze
mufste vier Wochen nach Martini dem Pfarrer den Decem einmahnen.
Ein Schulz besafs vier freie Hufen, einen Hengst und einen Harnisch
zu einem Mann. Er mufste auf eigene Zehrung reisen und den Herren
beistehen; dreimal im Jahre sollten in den Städten die Satzungen
vorgelesen werden. Und wo ein Preufse einem die Neige zutrank, da
mufste er „bei seinem Halse u „von Frischem anheben u.
Die Preufsen fühlten sich unter der Ordensherrschaft wohler als
14 Die Preufsen.
unter der Adelswillkür des jungen Herzogtums. Wurde auch 1525 ihr
unterthäniger Widerstand gebrochen, so dauerte der Kampf um Besserung
der Verhältnisse doch über den Untergang des Volkstums und der Sprache
hinaus. Nach Einführung der Reformation erhielten sie noch 1545
einen „Catechismus" „jn vndeüdsoher Peussnischer sprach", und dagegen
das „deüdsche". Er enthielt nur die Hauptstücke ohne Luthers Er-
klärung und war so schlecht in der Sprache, dafs desselbigen Jahres noch
ein „Catechismus, in preussnischer sprach gecorrigiret", herauskam, der
bis auf Druckfehlerverbesserungen mit dem ersteren übereinstimmt. Als
Hauptsitz der Sprache wird ein Teil Samlands bezeichnet, in Natangen
sei die Sprache nicht viel anders, in Wehlau auch nicht. Grotse Ver-
breitung scheint er nicht gefunden zu haben. Das Erscheinen des
Enchiridion von Abel Will knüpft scheinbar an Nichtvorhandenes an.
Abel Wills Buch führt den Titel: „Enchiridion. Der kleine Katechis-
mus Doctor Martin Luthers, Teutsch und Preufsisch. Gedruckt zu
Königsberg in Preufsen durch Johann Daubman 1561." Die erste Vor-
rede ist vom Markgraf Albrecht zu Brandenburg , in Preufsen , zu
Stettin, in Pommern, derKassuben und Wenden etc. unterzeichnet. Die
zweite schrieb der Übersetzer Abel Will, Pfarrherr zu Pobethen. Er
rühmt der Fürsten Fürsorge um die Ausbreitung "der reinen Lehre,
kommt auch auf den Pickuls, den Teufel zu sprechen und bietet den
Inhalt der oben genannten Katechismen in abweichender Form. Dazu
gesellen sich die Lutherschen Erklärungen, Beichte, Morgen- und Abend-
segen, Benedicte und Gratias, Haustafel, Trau- und Taufbüchlein,
Gebete. — Man hat den alten Pfarrherrn, der des Preufsischen kaum
mächtig war und der sich der Hülfe eines Tolken bedienen mufste, von
alter Zeit her bis heute weidlich gescholten, weil er so viele Fehler
gemacht habe. Es bleibt nur eigentümlich, dafs sich damals kein
Gelehrter gefunden hat, der die Sache besser konnte. Sicher ist, dafs
Will und sein Tolke ganz andere Dinge zu thun hatten, als auf Etymologie
zu achten. Will hätte es auch gar nicht gekonnt und wollte noch viel
weniger Sprachgelehrter sein, der kirchliche Unterricht war sein Ziel.
Aber es finden sich auch sonst so grofse sachliche und grammatische
Fehler, dafs that sächlich die Sprache im gröfsten Verfall gewesen sein
mufs, wie etwa heute die slowinzische. Will mufs immerhin noch für
einen Kenner gegolten haben, der Altstädter Pfarrer Johann Funk in
Königsberg hatte ihn ja dem Landesherrn empfohlen und dabei nicht
bedacht, was ihm dabei „für eine Arbeit im Catechismo" auferlegt
worden. Will schreibt an Funk (Neue preufsische Provinzialbl., andere
Folge VII, 396, Königsberg 1855; vgl. auch Altpr. Mon. 11, 533 bis
545 über Wills mühseliges Leben, Erblindung und Tod im Löbenioht-
schen Hospital) u. a.:
„Nun hätte ich wohl erhofft, dafs ich meinen Tolken — bei dieser
Arbeit geruhlich hätte brauchen wollen, damit solche Arbeit so viel
schleuniger von Statten ginge, dieweil er sonderlich von anderen dieser
Abel Will und die altpreufaische Literatur. 15
Sprache wohl kundig, und auch darin von Gott mit sonderen Gnaden
begabt. Aber — , dafs der Weltfürst Satan — solches zu hindern,
in keinem Wege ablassen will. Denn der Hauptmann in Grünhoff
(George v. Eichicht) denselben Tolken vielfältig aufgeboten, data er ins
Schaarwerk hat ziehen müssen und ihm auch solches Schaarwerk auf-
erlegt, das seine Vorfahren und auch er zuvor niemals haben thun
dürfen. Nun hat er etliche Schaarwerk-Tage versessen, insonderheit
zu der Zeit, wenn ich bei ihm gewesen, und er nur im Dollmetschen
hat corrigiren geholfen, — hat ihn der Hauptmann aufs unglimpfüchste
angefertigt und übel abgefertigt mit Worten. — Die weil aber mir —
unmöglich ist, solchen Gatechismus in preufsische Sprache zu bringen,
will ich — gebeten haben, mir — zu rathen. — Pobethen, den 26. Juli
Anno 1659. K A. W. williger Abel Will, Pfarrer."
Als Simon Grünau in der Reformationszeit seine preufsische
Chronik schrieb, behauptete er, das Preufsische stünde den benachbarten
Sprachen nicht nach und führte ein fehlerhaftes Vaterunser und eine
Reihe preufsischer Worte an. Hundert Jahre später meinte Arnos
Comenius schon, es gäbe nur noch ein einziges preufsisches Dorf; das
war nun freilich nicht richtig. Aber Bedürfnis nach neuen preufsischen
Büchern hatte man auch nicht. Im Petersburger Exemplar des Kate-
chismus findet sich die Notiz, der letzte Preufse sei 1677 auf der Neh-
rung gestorben, Hartknoch meint 1684: „Es ist jetzt kein einziges
Dorf mehr übrig, in welchem alle Leute die alte Sprache auch nur ver-
stehen sollen, sondern hier und dort sollen noch einige alte Leute sein,
so dieselbe verstehen/ Um 1700 war wohl die Sprache erloschen;
aufser den oben genannten Werken, dem handschriftlichen Elbinger
Vokabular und sonstigen Wörtern und Kleinigkeiten ist nichts von der
Sprache übrig geblieben. Viel länger hielten sich die alten Sitten, und
wir gewinnen durch den Ordenschronisten Dusburg 1326, zum Teil
auch durch den unzuverlässigen Simon Grünau 1521, Joh. Meletius
1551, besonders aber durch Hennenberger 1584, 1595, Schütz 1592,
Waisselius 1599 und später durch Hartknoch 1684, zu deren Zeiten das
preufsisch sprechende Volk noch nicht ausgestorben war, einen hübschen
Einblick in das Leben und die Sitten der Preufsen.
n. Sitten und Gebräuche.
Die weltliche Herrschaft über die einzelnen Gaue führte ein selbst-
gewählter Gaufürst (dux et capitaneus), später ward er als kleiner König
bezeichnet. Wie grofs sein Einflufs war, sieht man daraus, dafs das
Volk den Widerstand aufgab, sobald der Führer sich dem Feinde
gestellt hatte. Die alten Preufsen zerfielen in Adelige, Freie und
gewöhnliches Volk und unterschieden sich nach der Gröfse ihrer Besitz-
tümer, die auf die Söhne vererbt wurden. Die Frau wurde gekauft
und spielte eine untergeordnete Rolle, zumal Vielweiberei an der
DU Preiiten.
, Ein alter heidenischer Preufs.' (Titelbild des Waincliu», Phantasie, wie Abb. 3 — 6.)
Umschrift: Der alten Preufsen Form, und gestalt,
Allhie int klärlich abgemalt,
Wie sie nemlich, gegangen recht,
Mit Kleidung, Wehr und Waffen schlecht.
Hsrtknoch, Alt- und neues Preufsen 1684, S. 220/21, sagt zu demselben
Bilde: .Defswegen sie keine andere Waffen gehabt, als nur erstlich eine lange
Keule mit Bley vollgegossen , hernach auch sonsten kleine Knüttel auch mit
Bley, sechs oder acht, darnach nach dem einer mehr oder weniger um sich
stecken konte, mit welchen sie gewifs werften kunten. Diese Preulsisclie
Knüttel können wir nennen plumbatas, das ist Bleykäulen, wegen defs ein-
gegossenen Bleyes, wiewohl uns nicht unbewust, dafs vor Zeiten plumbatae eine
Art Pfeilen gewesen (Vegetius I, de re mit., 17, et lib. 4, 29)." Vgl. Sehnte 3 b.
Die Winterfischerei. 17
Tagesordnung war. Das Leben widmete man dem Ackerbau, dem Handel,
der Fischerei. Dafs sich die Art der letzteren nicht von der heute am
Haff und im Lebasee unterschied, beweist am besten Hennenberger
(Erclerung, vor dem Register) durch Schilderung der Winterfischerei:
„ Zu Winterszeiten wenn alle Teich und See wol zugefroren sein, ist
in diesen Mitnachtischen Lendern die beste Fischerey; denn in allen
Seen und Teichen wissen sie wo die besten Züge seyn, so nicht haffte
haben, da ha wen sie dann eine gute vierkantige Wuhne, oder Loch
durch das Eiss, darnach uff beyden Seiten hawen sie wiederumb kleine
Wuhnen weit herumb her nach dem Lande werts, so weit voneinander,
daz man sie mit einer ziemlichen langen stangen von einem Loch zum
andern erreichen mag. Wan sie fast nach dem Lande werts kommen,
lenken sie sich mit der kleinen Wuhnen zusammen, wenn sie schier
zusammen gekommen, also das sie mit der langen stangen einander ab-
reichen mögen, haben «ie in der mitten wiederumb ein grosse Wuhne
oder Loch gemacht, das Garn allda auszunemen. In der Ersten und
grösten Wuhnen giebt man ein, Erstlich die lange Stangen, auff jegliche
Seiten eine, daran seind lange Bastene starke Leinen, die wie an die
flügel des Garns gebunden sein, auff jeglicher Seiten hat einer eine
Gabel, oben daran ein Greutz, damit er sie unter die Arme fasset, mit
dieser scheubet er die Stange von einem Loch zum andern, Vorn aus
gehet einer, der hat ein gar krummen Hacken, und vorn ein Nagel
daran, wo die Stange nicht recht zum Loche kompt, suchet er sie mit
demselbigeu Hacken und bringet sie damit in das Loch das sie der
ander mit der Gabeln zum andern Loch weiter fort schiebe, Hinter
diesem seind andere so umb das andere Loch die Strenge und das
Garne nacher ziehen, welches uff beyden seiten geschiehet, bis sie zu
der letzten und anderen grossen Wuhne kommen, da ziehen sie eines
nach dem andern heraus, bis sie endlich das Garn auch heraus ziehen.
Darinnen man oftmals gar gute und ein grofse Menge Fische fehet,
Und ist dis die beste Fischerey. u
Die Preufsen trugen wollene und leinene Kleider und tauschten sie
gegen Pelze ein. Die Abbildungen des Waisselius und Hartknoch geben
einen Begriff aus den letzten Zeiten, als auch das Kerbholz noch als
Kalender diente. Haus- und Jagdtiere, Erzeugnisse des Ackerbaues,
Met und gegorene Stutenmilch machten die Nahrung aus. Sie übten
Gastfreundschaft in ausgedehntem Mafse und unterschieden sich von
anderen Völkern dadurch, dafs sie das Strandrecht nicht geltend machten.
Jeder fand sichere Zuflucht bei ihnen, und Adam von Bremen meinte,
es könne gar viel Lobenswertes von ihren Sitten gesagt werden, wenn
sie nur den christlichen Glauben hätten, dessen Prediger sie unmensch-
lich verfolgten. Sie glaubten an ein Fortleben nach dem Tode ganz in
der sinnlichen Art der Naturvölker und legten ihre Toten geschmückt
ins Grab, als sollten sie das alte Leben in einem anderen Lande weiter-
führen. Als 1249 die unterworfenen Pogesanier, Ermländer und
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 2
Die Preufsen.
Hartknoch, a. a. 0., 8. 202 ; „Die Weiber hatten leinene Kleider, welche
sie Zweiffels frey ao umgebunden, wie die heutige Littauische Weiber in
Preufien ihre Decken umzunehmen pflegen. Den Hals zierten nie mit
knpffernen und Messingen Bingen, und hatten auch sonderliche Ohren-
gehänge. Die Männer hatten kurtze Röcke, entweder von Leinw&th, oder
auch, wo es etwas Vornehmes war, von schlechten weifsen Tuch. Es waren
aber diese Böcke nicht weit, wie bey den Parthern und Sarmaten, sondern
ganlz eng umb den Leib, wie die Teutschen haben zu tragen pflegen. —
Hosen — bifs an die Erde herab gehangen, defswegen mufcten sie dieselben
unten an den Schuhen (von Leder oder Bast) — anbinden."
Alt preußischer Priester. 19
Xatanger dem Kurehe und anderen Göttern das Ernteopfer zu versagen
versprachen, willigten sie auch ein, die Leichen Verbrennung zu unter-
lassen. Aber die Art, den Toten mit BeiDen Lieblinge stocken aus-
zustatten, währte fort Gab man ehemals Waffen mit ins Grab, so
Abo. 5.
Alt preußisch er Priester vor der Bockheiligung.
(Nach Hsrtknoch, S. 173.)
jetzt dem Schulzen in der Schulzentracht mit Schulzen stiefeln den Stab
und die Peitsche. Der Priester mutete den Angehörigen Bescheid
sagen, ob er nach dem Begräbnis den Toten gesehen habe, und sollte
dann Gestalt, Waffen, Kleider, Gesinde, Pferde beschreiben. Erst wenn
der Tote am Hause -vorübergegangen und ein Zeichen ins Thor
gehaneu, beruhigte man sieb.
20 Die Preufsen.
Die religiöse Herrschaft übten die Priester und Priesterinnen aus,
an deren Spitze der Oberpriester stand. Jene wurden auch Sigenoten,
bei Leichenbestattungen (1249) Tulissonen und Ligaschonen genannt,
dieser führte den Namen Kriwe, oder Kriwe Kriwaito. Der Sitz des
Altpreu falsches Romowe. (Nach Hwtknocli, S. 116.)
Kriwe hiefs Romowe. Ob nun freilich nur ein Romowe bestand,
oder jeder Gau eins besafs, ist ungewtfs, wahrscheinlich ist das
letztere. Der zuverlässige Orden schron ist Peter von Dusburg er-
wähnt einen Kriwe im nadrauischen Romowe. Hartknoch bildet
ein solches Romowe ab, giebt aber keine Quellen und (Erklärungen an.
Es ist ein richtiger Dorfrundling, in dessen Mitte das eigentliche Heilig-
tum mit den Götterbildern uud dem heiligen l-'euer stand. Der Kriwe
mufste dies Feuer böten, er hatte die Opferungen zu besorgen, z. B. hatte
er Gefangene zu opfern und den dritten Teil der Beute nach dem Sieges-
feste den Göttern darzubringen. Er mufste auch die religiösen Feste
Bomowe. 21
leiten und nach dem Begräbnis den Hinterbliebenen Mitteilung machen
über die Art des Übertrittes des Verstorbenen ins andere Leben. Das
heilst, er mufste sagen, in welchem Zustande er den Toten vorbei-
kommen sah. Nach der Einführung des Christentums führten die
Priester, die sich nicht bekehrt hatten, heimlich ihren Dienst weiter
und hatten immer Anhänger. Allmählich verlor sich ihre Macht. Als
„Weideier, Pilweysen, Schwarzkunstige, wie solche gottvergesser heissen",
waren sie den Verfolgungen ausgesetzt, wurden erst vermahnt, ver-
loren um 1408, nach Simon Grünau, die Rechte und wurden schliefslich
getötet. Aber ihre Aufgabe, das ceremonielle Festmachen der Diebe
(Hartknoch, S. 165), das Heilen u. a. blieb bestehen und ging auf die
alten Weiber über, denen man wie den Kranken aus dem Wege ging,
weil einem sonst kein Werk geraten könnte.
Am wenigsten geklärt sind unsere Anschauungen über den Götter-
himmel der alten Preufsen; Peter von Dusburg sagt, sie hätten Sonne,
Mond und Sterne, den Donner, Vögel, vierfüfsige Tiere und Kröten
verehrt und heilige Haine, Felder und Gewässer gehabt. 1249 wird
der Gott Kurche, vom ermländischen Bischof werden 1418 Patollus und
Natrimpe erwähnt. Simon Grünau hat in seiner bekannten Art einen
ganzen Olymp geschaffen. Dem preufsischen Mönch und Patrioten war
alles recht, was zum Lobe des Volkes dienen konnte. Waisselius und
Hartknoch haben diese Götterschar trotz aller Zweifel auch aufgenom-
men. Da thronen bei Waisselius Occopirnus, der Gott des Himmels und
der Erden, Schwayxtix, der Gott des Lichtes, Ausschweytus, der Gott der
Kranken und Gesunden, Antrympus, der Gott des Meeres, Potrympus,
der Gott der Flüsse, Perdoytus, der Gott der Schiffe, Pergribrius, „der
lesset wachsen Laub und Grass tt, Pelwitus, „der macht reich und füllt
die Scheuren tf (Bilwiz?), Perkunus, der Donnergott, Peckullus, der
Höllengott, Pockallos, der Gott der fliegenden Geister, Puschkaytus
der Erdgott „unterm Holunder44, die Berstucke oder „Erdleutlein", die
Merkopate oder „Erdleute".
Zu dem abgebildeten Romowe des Perkun, PikoH und Potrimp,
dessen Eiche „sechs Ellen dick zwerch über" war, konnte kein Regen
durchdringen. Wer Blätter von der Eiche am Halse trug, sei es Mensch
oder Vieh, entging vielem Unglück. Noch jetzt läfst ja der Slawe zu
Ostern in der Kirche seine Weidenruten segnen und hängt sie in
Stube und Stall zu gleichem Zwecke auf. Das bei Hartknoch ab-
gebildete, von etwa 30 Häusern umgebene Romowe mit Opferfeuer, Holz-
stölsen und Wall hat auch ein heiliges Gewässer. Hartknoch führt
ferner die Eiche Curchos bei Heiligenbeil, die 27 Ellen dicke Götter-
eiche bei Marienburg, in die Alle ihre Namen einschnitten, und die
Wehlauer an und meint, auch Linden und Holunderbüsche, wo die
unterirdischen Männlein wohnten, seien heilig gehalten worden. Den
Schlangen zollte man bis auf die jüngste Zeit grofse Verehrung. Die
den Göttern dargebrachten Opfer waren blutige und unblutige. Man
22 Die Preufaen.
opferte die Gefangenen, die Führer hoch zu Rofs, die Jungfrauen und
Bräute geschmückt. Den Göttern opferte man weifse Pferde, beim
Erntefest, besonders ceremoniell, einen Bock. Mit dem Blute ward das
Vieh besprengt Das Fleisch ward gebraten und verzehrt. Dazu afs
man Kuchen und trank Bier. Den Schlangen und Hausunken gab man
Milch und Speise.
Die Hauptfeste waren die Frühlingseinsegnung mit der Bitte um
Gedeihen der Landwirtschaft und das Fest des Ernteanfangs. Bei
beiden Festen , einer Art Bauernbieren , füllte der Priester eine Schale
in der Rechten mit Bier, redete jeden Gott der Reihe nach an, nahm
die Schale Bier zwischen die Zähne, trank sie aus und warf sie ohne
Hülfe der Hände über seinen Kopf. Dann tranken alle.
Beim Ernteanfang aber fing einer die Ernte an und brachte die
erste Gabe nach Hause. Am anderen Tage begannen dann die Haus-
genossen dessen Feld abzuernten, und dann folgten die anderen der
Reihe nach. Zu Ostern war das Frischgrünepeitschen in Gebrauch und
wurde beispielsweise von des Hochmeisters Mägden geübt (Passarge,
Aus dem Weichseldelta 342).
Die Familienfeste wurden mit besonderem Glänze gefeiert, nament-
lich die Hochzeit, obgleich ja der Mann Herr über das Leben der Frau
und ihrer Kinder war, nach dem Tode sofort eine andere nehmen
konnte und die Frau nur Magd neben Magd war. — Die Braut wurde
durch zwei Freunde dem Bräutigam scherzweise entführt, und er mufste
sie zurückkaufen. Ehe die Braut vom Bräutigam nach Hause geholt
ward, lud sie die Anverwandten zu einem Gastmahle ein und sang ein
Klagelied, wie das bekannte litauische, von Goethe in die Fischerin
übernommene. Der Bräutigam schickte ihr dann den Wagen entgegen.
An der Grenze sprang einer, der in der einen Hand. einen Feuerbrand, in
der anderen eine Kanne Bier hatte, hervor, rannte dreimal um den Braut-
wagen und forderte die Braut auf, des Herdes im neuen Hause wie im alten
zu walten. Wenn der Wagen vor der Thür ankam, schrie alles: „Der
Wagentreiber kommt. u Mit einem Sprunge setzte sich nun der Bräu-
tigam auf den an der Thür mit Kissen und Handtuch belegten Stuhl,
bis die Braut herausgeführt und auf den Stuhl gesetzt ward. Hatte
die Braut Bier getrunken, so wurde sie um den Herd geführt, die
Fülse wusch man ihr, sprengte mit dem Wasser Brautbett, Vieh, Haus.
Dann verband man ihr die Augen, strich ihr Honig in den Mund, und
stiefs sie dann zum Zeichen der Besitzergreifung an alle Thüren. Man
beschüttete sie mit Getreide aller Art und nahm das Tuch wieder ab.
Beim Gastmahle verwendete man ungeschnittenes Vieh. Yor dem
Abgange ins Brautbett schnitt man ihr die Haarlocken ab, und die
Frauen setzten ihr einen Kranz mit weifsem Tuch („abgloyte" = „ab-
glopte?") auf. Den mufste sie tragen, bis sie einen Sohn bekam. Im
Bette prügelte man sie und setzte dem Paare Bocksnieren vor, dafs es
fruchtbar wäre. Am anderen Morgen afs es den Rest des Brauthahns.
Feste. 23
Die Begräbnisgebräuche Bind in vielen Stücken noch heute ahnlich.
Die Nachbarn kamen alle zum Sterbenden, klagten und weinten, während
der Priester betete. Nach dem Tode wurde der Leichnam gewaschen
und in Schuhen und weilsen Kleidern auf den Stuhl gesetzt. Dabei
trank man in der Totenstube mit Schalen Bier aus dem Backtroge,
trank auch dem dabeisitzenden Toten zu mit den Worten: „Warum
bist du denn gestorben, hattest dus nicht so gut bei uns, hattest eine
schöne Frau und Kinder u. s. w. Warum bist du nur von uns
gegangen ?a Dann gab man ihm Schwert und Münzen, der Frau Nadel
und Zwirn mit und trug die Leiche zum Grabe. Die Blutsverwandten
ritten nebenher, hieben mit dem Degen in die Luft: „Lauft ihr Teufel in
die Hölle. u Auf diese Weise beschreibt ja auch der Biograph Wiprechts
von Groitzsch das Ende von dessen Grofsvater Wolf, dem Herrn über
Pommern und das Balsamerland: „Schliefslich konnte Wolf vor Alters-
schwäche nicht mehr auf dem Rosse sitzen, da banden ihn die Seinen
darauf, damit er ihnen so im Kriege voranzöge. Als er gestorben war,
trugen sie nach ihrer Barbarensitte den Leichnam zum Tempel der
Götter, umliefen, nach den Sippen geordnet, in Schlachtrüstung mit
gezückten Schwertern die Totenbahre und feierten unter Klagen sein
Leichenbegängnis. u
Dann folgte ein schwelgerisches Totenmahl; was an Speisen unter
den Tisch fiel, ward nicht aufgehoben, das war für den Toten. Nun
fegte der Priester die Stube aus und jagte die Seele fort: „Fort, ihr
habt gegessen und getrunken." An dem lärmenden Feste beteiligten sich
auch die anfangs so stillen Weiber. — Lebhaft tritt uns das Leben und
Treiben der alten Preuf sen zuerst besonders in des Matthäus Waisselius
von Bartenstein, Pfarrers zu Lauckheim, Buch entgegen, das 1599 in
Königsberg bei Osterberger erschien, mit vielen Wappen und einem
alten heidnischen Preufsen als Titelbild geziert ist und Chronica „Alter
Preusscher, EifElendischer und Curl endischer Historien u heifst.
Als Sprachprobe diene das Vaterunser nach Abel Will 1561:
Täwa Noüson kas tu essei Endangon.
Swintints wirst twais Emnes.
Pereit twais Rijks.
Twais Quäits audäsin, kagi Endangon tijt deigi nosemien.
Nouson deinennien geitien dais noümans schan deinan.
Bhe etwerpeis noümans noäsons äuschantins, kai mes etwerpimai noüsons
auschautenikamans.
Bhe ni weddeis mans emperbandäsnan.
Schläit isrankeis mans, esse wissan wargan. Amen.
Die Litauer.
Literatur.
Aleksandrow: Litauische Studien. Dorpat 1888.
Baranowski und Weber: Ostlitauische Texte. Weimar 1882.
Bartsch: Dainu balsai, 2 Bde. Heidelberg 1886/9.
Basanaviczius: Lituviszkos pasakos. Shenandoah 1899.
Beheim-Schwarzbach: Friedrich Wilhelms I. Kolonisation in Litauen.
Königsberg 1879.
Benecke: Fische, Fischerei und Fischzucht in Ost- und Westpreufsen.
Königsberg 1885.
>7JBezzenberger: Litauische Forschungen. Göttingen 1882. — Beitrage zur
/ Geschichte der litauischen Sprache. Göttingen 1877. — Litauische und
lettische Drucke des 16. und 17. Jahrhunderts. Göttingen 1874 ff.
Bock: Versuch einer wirtschaftlichen Naturgeschichte von Ost- und West-
preufsen. Dessau 1782/5.
Brand: Beysen (1673) durch die Marck etc., herausgegeben von Hfennin.
Wesel 1702.
- Bretkius: Postilla. Königsberg 1591.
Donali tius: Ausgabe von Bhesa: Das Jahr. Königsberg 1818. — Aus-
gabe von Schleicher. Petersburg 1865/7. — Ausgabe von Nessel-«
mann. Königsberg 1869. — Ausgabe von Passarge (Übersetzung).
Halle 1894. — „Kurzgefafste Nachrichten", Ausgabe von Tetzner in
„Unsere Dichter in Wort und Bild", V. Leipzig 1895. — Donalitius-
literatur, vergl. Altpreuft. Mon. 34, S. 278 ff.
Freyberg: Geschichte der evangelischen Kirchengemeinde Tolminkemen.
Stallupönen 1898.
Gaigalat: Die Wolfenbütteler litauische Postillenhandschrift d. J. 1578.
Tilsit 1900.
Geitler: Litauische Studien. Prag 1875.
Girenas: Die litauische Frage etc. Tilsit 1888. — Über einige Mifsgriffe.
Tilsit 1894.
Glagau: Litauen und die Litauer. Tilsit 1869.
«/» Goldbeck: Vollständige Topographie des Königreichs Preufsen. Königsberg
' und Marienwerder 1785/9.
Hoffheinz: Giesmiu balsai. Heidelberg 1894.
Jurkschat: Litauische Märchen etc. Heidelberg 1899.
Krause: Litauen und dessen Bewohner. Königsberg 1834. .
Kurschat: Litauisches Wörterbuch, 3 Bde. Halle 1870/73/83. Grammatik
der litauischen Sprache. Halle 1876.
Lasicius: De diis Samagitarum. Basel 1615. (Benutzt: Ausg. v. 1627.)
Lepner: Der Preufsische Litauer (1690). Danzig 1744.
Leskien und Brugmann: Litauische Volkslieder und Märchen etc. Strafs-
_ bürg 1882.
~ Litauisch-Literarische Gesellschaft: Mitteilungen. Heidelberg 1883 ff.
Mielcke: Anfangsgründe einer litauischen Sprachlehre. Königsberg 1800. —
Litauisch-deutsches und deutsch-litauisches Wörterbuch. Königsberg 1800.
» i
Die Litauer. 25
Moswid: Der litauische Katechismus vom Jahre 1547, herausgegeben von
Bezzenberger. Göttingen 1874.
Nast: Die Volkslieder der Litauer. Tilsit 1893.
Nesselmann: Litauische Volkslieder. Berlin 1858. — Litauisches Wörter-
buch. Königsberg 1850/1.
Nestor: Ausgabe von Schlözer, V. Göttingen 1809.
Pisanski: Entwurf einer preufsischen Literärgeschichte in 4 Büchern, her-
ausgegegen von Fhilippi. Königsberg 1886.
Prätorius: Nachricht von der Litauer Arth etc. (Erleutertes, Preufsen
1724; Tetzner, Dainos 5, 11 ff.). — Deliciae prussicae, herausgegeben
von Pierson. Berlin 1871.
Preufs: Litauen vor 300 Jahren. Tilsit 1898.
Bhesa: Vorrede zur litauischen Bibel. Königsberg 1816. — Dainos. Königs-
berg 1825.
Buhig: Betrachtang der litauischen Sprache. Königsberg 1745. — Litauisch-
deutsches und deutsch-litauisches Lexikon. Königsberg 1747.
Schleicher: Handbuch der litauischen Sprache, 2 Bde. Prag 1856/7. —
Litauische Märchen etc. Weimar 1857. — Litauisches Lesebuch. Prag
1857. — Briefe über die Erfolge einer wissenschaftlichen Heise nach
Litauen. Wien 1852.
(Schliupas): Lietuviszkiejie Basztai ir Basztininkai. Tilsit 1890.
Szyrwid: Punkty kazan 1629, herausgegeben von Garbe. Göttingen 1884.
— Dictionarium trium linguarum. 4. A. Wilna 1677.
Tetzner: Dainos, litauische Volksgesänge mit Einleitung, Abbildungen und
Melodieen. Leipzig 1897.
Thomas: Litauen (nach den Wegeberichten). Tilsit 1885.
Veckenstedt: Die Mythen, Sagen und Legenden der Zameiten, 2 Bände»
Heidelberg 1883.
Völkel: Litauisches Elementarbuch. Heidelberg 1879, 2. Aufl. 1898.
Weifs: Preufsisch- Litauen und Masuren, 3 Bde. Budolstadt 1878/9 (Litauer
167—173, Masuren 173—179, Zigeuner 180, Philipponen 180—183). *
Wiehert: Litauische Geschichten. Leipzig 1890.
Wiedemann: Handbuch der litauischen Sprache. Strafsburg 1897.
Wolter: Zahlreiche Aufsätze über Bussisch - Litauen in den Mitt. d. lit lit»
Ges.
Zweck: Litauen. Stuttgart 1898.
I. Sprachgebiet.
Das litauische Sprachgebiet umfafste noch Mitte des 17. Jahr-
hunderts ein Gebiet, das von folgender Linie eingeschlossen ward:
Königsberg, Slonim, Rjäschitza, Dünaburg, kurische Südgrenze bis
Polangen, karische Nehrung, Königsberg. Dabei lagen alle diese Städte
mitten im litauischen Sprachgebiet, wenn auch in den Städten selbst
die polnische und in Preufsen die deutsche Sprache an erster Stelle
herrschend waren. Besonders die Ostlinie (Slonim, Grodno, Wilna,
Dünaburg) ist früher weiter der Beresina und dem Dnjepr zugekehrt
gewesen. Für die Nordgrenze ist die Düna und die, Gegend Dünaburgs
von Interesse. Selbst litauische Patrioten, die doch dem ursprünglichen
Sprachgebiet möglichst viel beirechnen möchten, nehmen Dünaburg mit
seinen wenigen litauischen Bewohnern heute nicht mehr für sich in
Beschlag. „Dort wohnen genau so Litauer, wie in Petersburg oder
26 Die Litauer.
Moskau, sie sind eben eingewandert/ In einem Bericht von 1603 aber
wird wiederholt die litauische Bevölkerung in der Umgegend Dün ab urgs
erwähnt. Ich meine die „Wahrhafftige erschreckliche und unerhörte
geschichtt so sich in Lifflandt (bezeichnete damals Kur-, Liv- undEsth-
land) zugetragen in das einige Gebiethe Dünborch (in Kurland), ge-
schrieben durch Herrn Friedrich Engell, Pastore daselbsten" (Jahres-
bericht der Felliner literarischen Gesellschaft 1889, S. 236 bis 241):
„4. zeugt Jochim Friedewoldt, das in einem Kruge an der Dühne,
unter Ihr Fürstlich Gnaden gelegen, im Boroschen OloS der Hoff zu-
gehörig, ein Litauer Bauer ein Krüger gewesen; der hatt so viel
Menschenfleisch gekochet und den überdünischen Pauren verkauft.
7. In der Sieckelsche Witme (Widdern = Predigerwohnung) ist
ein Littower gewesen, alls der Pastor auf sgetzogen ; der hatt seine
Hunde und Katzen vertzehret, so woll einen lamen Jungen, Jahn
Stuckens Schwester Sohn, noch ander 2 Persohnen, so woll auch des
Pastorn Yiehemagt, mit nahmen Anna, auff gefressen.
8. Diesen (Bauer Martin) hatt gemelter Littower sambt andern
Dieben vom Galgen genommen und aufgefressen. Bezeugt Friedrich
Engell, Pastor daselbst, hat solches am Tage Reminiscere erfahren und
selbst gesehen.
28. Der Krüger ist ein Littower; darumb dals er 3 Gesind aufs-
gemordet und auffgefressen , auffs Rad gelecht. Testis Gothard Budt-
berchi.u
Aber noch heute wohnen, nach Manteuffel, nördlich von Düna-
burg, bei Bjäschitza, in der Umgegend von Ciskad, etwa 250 Litauer
in 64 Gehöften der Orte Girnokale,- Jaudzime, Kejdany, Olchowka,
Pilwale u. s. w.
Die geschichtlichen Ereignisse der letzten zwei Jahrhunderte waren
nicht dazu angethan, die Sprache besonders zu pflegen. Der russische
Teil war im Süden der polnischen, im Osten der weifsrussischen , im
Norden und Westen der deutschen, im Innern anfangs der polnischen,
später durch die Beamten der russischen Überflutung ausgesetzt.
Und so schrumpften die Grenzen immer weiter zusammen. Heute
liegen Grodno und Dünaburg, selbst Suwalki, auf serhalb des litauischen
Sprachbereichs. [Tafel des litauischen und des letzten preulsischen
Sprachgebiets (Pobethen), Abb. 7.] Und die alte Königsstadt Wilna ist
längst polemisiert. Von gröfseren Städten ist nur Kowno rings von litaui-
schen Dörfern umgeben, in der Altstadt ist noch eine litauische Kirche.
Die Bevölkerung der Stadt selbst aber ist polnisch, r,die Intelligenz
spricht clie Sprache Warschaus, nur die Bauern haben ihre Vatersprache
bewahrt11. Dasselbe Verhältnis hat nach Angabe des bekannten Bischofs
und Schriftstellers Baranowski in allen Städten und gröfseren Orten
Litauens statt. Die litauische Sprache erhält sich nur deshalb so lange,
weil so wenig Eisenbahnen das Land durchfurchen. Zum Sprachgebiet
gehören aufser dem Gouvernement Kowno oder Saraogitien die an-
Geschichte des Sprachgebiets. 27
grenzenden Teile der Gouvernements Wilna, Grodno und Suwalki und
kleine Teile von Minsk und Witebsk. Freilich wird gerade in dieBen
Teilen das litauisch - polnisch - russische Sprachgemisch noch bunter
durch die zahlreichen Deutschen und Juden. Wilna zählt unter
130 000 Einwohnern 60 000 Juden, Kowno je die Hälfte von Wilna,
Grodno gar unter 50 000 Einwohnern 40 000 Bewohner vom Stamme
Sem. Und die Juden radebrechen alle Sprachen, das Deutsch an den
Firmen kommt in folgender edler Gestalt vor: Kaffe und Schokolad,
Razizen, Harrschneiden, Parikmacherei, Resieren und Froasieren, Kos-
meticus Waaren. Juschkiewitsch führt in den Wielonaer „ Hochzeits-
gebräuchen a eine Daina an, darin heifst es :
„Kannst du Kownos Juden zählen?"
„Danke, danke!"
Eine genaue Zählung und Sichtung der Bevölkerung nach Sprachen
wäre ebenso unmöglich als unfruchtbar. Man müfste denn diejenigen
einer Sprache zuordnen, die eben nur eine Sprache kennen. Deren
Zahl ist jedoch in den Kreisen Wilna und Suwalki gering. Schon der
regelrechte ausgedehnte Marktverkehr bedingt das Erlernen der not-
wendigsten Sprachen. Meine Wirtin in Eowno verstand die sämt-
lichen oben erwähnten Sprachen, aufserdem das in besseren russischen
Kreisen gebräuchliche Französisch. Etwas sprachfester ist die gesamte
Landbevölkerung des inneren Samogitiens, die wie die polnische römisch-
katholisch ist und schon deshalb zur griechisch-katholischen Beamten-
welt in Gegensatz steht. Dafs die litauische Sprache überhaupt dort
noch nicht zum Trödel der Rumpelkammer zu zählen ist, bedarf nur
eines Hinweises auf die 1500 litauischen Priester, die Jenseits der
preußischen Grenze wirken. Diese Zahl ist nicht zu unterschätzen,
wenn man bedenkt, wie spärlich dort die Kirchen gesäet sind. Im nörd-
lichen Teile Samogitiens giebt es auch griechisch-katholische Litauer
und an der Grenze evangelische. So scheiden sich in Russisch - Krot-
tingen streng die katholischen Schameiten von den eingewanderten
evangelischen Litauern.
Die litauische Sprachgrenze in Rufsland umschlietst etwa
l1/) Millionen Litauer; sie beginnt bei Dubeningken an der Grenze,
berührt das Quellgebiet der Scheschuppe nördlich von Suwalki, zieht
sich nördlich von Grodno hin (im ganzen Gouvernement 2180 Litauer)
und erreicht das N Jementhal, die südlichsten versprengten litauischen
Gemeinden wohnen im Kreise Slonim (1886: 1156 Litauer in
Pogirren und Zetela). Dann wendet sich die Grenze nördlich nach
Nowagrodek im Gouvernement Minsk, wo ebenfalls inmitten von
Polen und Weifsrussen verstreut litauische Bevölkerung haust. Nach
Norden hin trifft die Grenze auf den Kreis Oschmiana, woselbst
in Lasduny die Beichte litauisch abgehört wird. Nun schliefst
die Grenze die alte Grofsfürstenstadt Wilna aus und mündet an der
samogiti sehen Grenze bei der Disna ein. An der Düna wendet sich
28 Die Litauer.
die Grenze zu einigen entfernten Dörfern im Kreise Rjäschitza (etwa
400 Litauer im Gouvernement Witebsk), umgeht Dünaburg und mündet
in die kurländisch - samogitische Grenze ein. Auch auf der kurischen
Seite wohnen noch Litauer, mit Letten und Deutschen vermischt. Die
angegebene Süd- und Ostgrenze umschliefst aber nur die äufsersten
Gemeinden, die Hauptbevölkerung ist polnisch und weifsrussisch. —
Nicht in Betracht kommen die litauischen Kolonieen, so die in Peters-
burg, wo regelmäfsiger Gottesdienst in der katholischen Katharinenkirche
stattfindet. Ebenso die nordamerikanischen Kolonieen in Plymouth,
Chicago, Mahanoy City, New York, Canada; ihre Zahl soll 1/2 Million
betragen, 1895 besafsen sie 15 Kirchen und 5 Schulen. Das Litauische
wird auf den russischen Schulen nicht gepflegt, die litauischen Schüler
der kurischen und polnischen Gymnasien kommen aber unter sich zu-
sammen und pflegen litauische Lektüre und Grammatik. Da der Druck
litauischer Bücher in den 60er Jahren von Murawjew in anderen als
russischen Lettern verboten ward, beziehen sie ihre Literatur aus
Deutschland, wo etwa 13, und aus Amerika, wo 9 Zeitungen erscheinen.
Drei davon sind besonders für Rufsland berechnet. Neuerdings aber
pflegen einige für die Intelligenz berechnete Blätter, wie Yarpas und
Ukininkas, Belletristik, Volks- und Landwirtschaft, Literatur- und
Kulturgeschichte; litauische Novellen und Dramen erschienen neben
aufklärenden Schriften. Und die Zeitungen, die als Literatur nur die
Dainos, kirchliche Schriften und das „noch nicht wieder aufgefundene
Bibelbruch stück tt neben Donalitius anführen und die litauische Literatur
damit für abgethan hielten, haben falsch prophezeit; es sind in den
letzten Jahrzehnten litauische Literaturwerke entstanden, die getrost
in die Weltliteratur eingereiht werden dürfen.
Die litauische Sprachgrenze in Deutschland (Tafel, Abb. 8) ist
im Laufe der Jahrhunderte nicht blols zurückgedrängt, sondern auch
durchbrochen und umschlossen worden, dal s heute kaum mehr von einem
geschlossenen litauischen Sprachgebiet die Rede sein kann. Ursprünglich
waren die drei Landschaften Sudauen, Nadrauen und Schalauen rein
litauisch. Der Orden vermehrte zunächst die Anzahl der deutschen
Burgen; nach aufsen und von aufsen wurde germanisiert. Gegen Ende
des 17. Jahrhunderts gehörte noch alles Land nördlich vom Pregel bis
nach Königsberg hin zum Sprachgebiet; und vom heutigen Regierungs-
bezirk Gumbinnen die Kreise Darkehmen und Goldap und was nördlich
davon lag. Alle und Deime galten als Grenze.
Friedrich der Grofse sagt, dafs zu Anfang des 18. Jahrhunderts
über 300 000 Einwohner durch Krieg und Pest umgekommen seien,
durch seines Vaters Kolonisation aber das Land reicher und frucht-
barer als irgend eine andere preufsische Provinz geworden wäre und
V2 Million Einwohner zähle. Hiernach kann die Zahl der Litauer
kaum bedeutender gewesen sein als heute, denn die herbeigerufenen
Siedler waren Deutsche. Zufälligerweise haben wir ein Verzeichnis
GSBEftß
' Jlfrrejierveiort* . ..
Geschichte des Sprachgebiets. 29
der Kirchspiele, in denen litauisch gepredigt wurde, aus dem Jahre
1719, also vor der deutschen Besiedelung. Wir sind so in der Lage,
die damalige Sprachgrenze feststellen zu können. Das litauische
Sprachgebiet umfafst danach den Teil Ostpreufsens , der nördlich von
folgender Linie liegt: Labiau, Petersdorf, Norkitten, Muldschen, Jod-
lauken, Trempen, Darkehmen, Szabinen, Goldap, Dubeningken. In
diesem Teile wirkten 62 litauische Pastoren, davon je zwei in Rag-
nit und Tilsit und drei in Memel. Ausserdem gab es einen solchen
in Königsberg, auch wohnten südlich von dieser Linie vereinzelt
litauische Familien. Es spricht für die Zähigkeit des Stammes, dafs
Friedrich Kurschat 1876 in seiner Grammatik auf der Sprachkarte,
wohl ohne Kenntnis jenes Berichtes von Lysius, die Grenze fast
genau so wiedergiebt, nur hier und da zu Gunsten des Volkes südlicher
legt. Litauische Kirchspiele gab es damals in den Kreisen Memel,
Heydekrug, Niederung, Tilsit, Ragnit, Pillkallen, Labiau, Insterburg,
Goldap, Stallupönen, Gerdauen, Darkehmen, Gumbinnen, Wehlau.
1848 war die Sprachgrenze: Labiau, Laukischken, Plibischken, Nor-
kitten, Obelischken, Jodlauken, Didlacken, Bailethen, Darkehmen,
Kleschowen, Gawaiten, Tolminkemen, Dubeningken.
Meine durch Fragebogen im März 1897 erhaltenen Zahlen beziehen
sich auf die geschlossenen Kirchspiele der einzelnen Kreise, als deren
Vertreter das Kirchdorf gilt. Sich neu abgrenzende Seelsorgerbezirke
werden allmählich zu Kirchspielen; solange sie dies noch nicht waren,
habe ich deren Einwohner zu den alten Kirchspielen gerechnet. Die
Kirchspiele selbst sind räumlich sehr ausgedehnt, im Kirchort selbst
überwiegt meist das Deutsche. Zu jedem Kirchspiel gehören eine
Menge Dörfer, Dörfchen und Schulen. Als Beispiel sei Tolminkemen
erwähnt, das ja seit einigen Jahrzehnten völlig germanisiert ist, von
ihm ward Rom inten abgezweigt. Das tolminkemische Kirchspiel hat
aulser dem Kirchdorf und den anderen Schuldörfern Ballupönen,
Didszullen, Islaudszen, Kiaunen, Kubillen, Lankischken, Pickeln, Pöw-
gallen, Schackeln, Theweln, Warnen noch die Dörfer: Bergenthal,
Budszedehlen, Czerwonnen, Deeden, Elluschönen, Jessatschen, Jagdbude,
Kaseleken, Kublischken, Martischken, Makunischken , Meldienen mit
dem Rettungshause Bethanien, Motzkuhnen, Oszeningken, Pallädszen,
Raudohnen, Samonienen, Sergunen, Waldaukadel, Werxnen.
Vor 300 Jahren erklang hier fast nirgend ein deutscher Laut,
noch vor 200 Jahren gehörten aufser den jetzigen zehn ostpreufsischen
Kreisen Königsberg-Land, Fischhausen, Wehlau, Gerdauen, Darkehmen,
Gumbinnen zum litauischen Sprachbereich. 1848 befanden sich in
diesen Kreisen nur wenig Leute noch, die des Deutschen nicht mächtig
gewesen wären. Zu Muldszen im Gerdauischen erlosch die litauische
Predigt im vorigen Jahrhundert, ebenso in den Stranddörfern von
Fischhausen und Königsberg - Land. Dasselbe Ereignis vollzog sich
um 1890 zu Bailethen im Darkehmischen und zu Plibischken im Weh-
30 Die Litauer.
lauischen. Plibischken hatte um 1800 noch 1000 litauische Kommuni-
kanten. Im Gumbinnischen wurde 1883 zu Niebudszen das letzte Mal
litauisch gepredigt.
Heute verläuft die südliche Sprachgrenze der gemischt- sprachigen
Kirchspiele von Nidden (Nehrung) über Gilge, Lauki senken, Mehlauken,
Popelken, Berschkallen (Insterburg) , Inst erburg - Land , Georgenburg,
Aulowönen, Grünheide, Pelleningken , Kraupischken (Ragnit), Mall-
wischken (Pillkallen) , Küssen, Pillkallen, Kattenau, Warningken,
Bilderweitschen , Eydtkuhnen, Stallupönen, Göritten, Pillupönen, En-
zuhnen, Melkemen, Szittkemen, Dubeningken.
Südlich von dieser Linie wird kein litauischer Gottesdienst ab-
gehalten und von den Pastoren das Litauertum für erloschen erklärt;
man predigt aber litauisch nordlich davon in jedem Kirchspiel. Das
so begrenzte litauische Sprachgebiet hat einige rein deutsche Inseln;
in jeder der drei gröfseren Städte Tilsit, Memel und Ragnit besteht
neben der deutsch -litauischen Landgemeinde eine rein deutsche Stadt-
gemeinde, die die Vorherrschaft des Deutschtums endgültig besiegeln.
Und von der angeführten Kirchspiellinie haben die Orte Georgenburg
(Insterburg) , Warningken (Pillkallen), Bilderweitschen (Stallupönen)
keinen selbständigen litauischen Gottesdienst mehr, sondern halten sich
soweit sie nicht, wie in Bilderweitschen, den deutschen besuchen, zu den
nächstliegenden deutsch-litauischen Kirchspielen. Die Grenzlinie selbst
bleibt der eigentümlichen Lage jener drei Orte wegen unverändert.
Im Übrigen ist die litauisch - ostpreufsische Ostgrenze deshalb keine
Sprachgrenze, weil jenseits der Grenzpfähle die litauische Sprache vor-
wiegt. Die natürliche Westgrenze hat sich infolge des unfruchtbaren
Bodens am unveränderlichsten in den Händen der Letten erhalten.
Derselbe natürliche Grund ist die Ursache der Slowinzeninsel am Leba-
see inmitten des völlig germanisierten Pommerns. Es gehören also
zum litauischen Sprachgebiet hinsichtlich der Kirchensprache vollständig
die fünf Kreise Memel, Heydekrug, Tilsit, Ragnit, Niederung; teilweise
aber die fünf Kreise Pillkallen (ohne Warningken !), Labiau Ost, Inster-
burg Nord, Stallupönen Nordost, Goldap Ost.
Dieser Sprachbezirk hat eine Einwohnerzahl von 415 411, die
Zahl der Litauer beträgt davon 120 693, d. i. 29,1 Proz. der Gesamt-
bevölkerung. Diese Zahl verteilt sich auf die lutherische, katholische
und baptistische Kirche. Die reformierten apostolischen und israeliti-
schen Gemeinden haben keinen litauischen Gottesdienst. Hinsichtlich
der Zahl der litauisch - deutschen Kirchspiele folgen die Kreise so :
Tilsit 12, Heydekrug und Ragnit je 11, Memel und Stallupönen je 9,
Niederung und Pillkallen je 8, Labiau 6, Goldap 2; nach der absoluten
Anzahl der Litauer folgen die Kreise: Tilsit 27 004, Heydekrug 26 362,
Memel 24 464, Ragnit 16 324, Labiau 10 060, Niederung 9680, Pill-
kallen 4607, Stallupönen 1302, Goldap 450, Insterburg 440. Nach
der relativen: Heydekrug 61,9 Proz., Memel 47,4 Proz., Tilsit 38 Proz.,
Südgrenze. Volkszahl. 31
Labiau Ost 30 Proz., Ragnit 27 Proz., Niederung 19,2 Proz., Pillkallen
10 Proz., Goldap Ost 4,3 Proz., Stallupönen Nordost 3 Proz., Inster-
burg Nord 1,6 Proz.
Würde man die drei deutschen Gemeinden in Memel, Tilsit und
Ragnit von der Berechnung ausschlief sen , so würden die ersten vier
relativen Zahlen lauten: Memel 70 Proz., Heydekrug 61,9 Proz., Tilsit
58,1 Proz., Ragnit 33 Proz.
Hinsichtlich der Lebenskraft des Litauertums zerfällt der litauische
Sprachbezirk in fünf Teile.
Der erste Teil umfafst den Kreis Memel, mit Ausschlufs der
Stadt gemeinde, und die Kirchspiele Rufs, Einten und Saugen vom
Kreise Heidekrug. In diesem Teile tragen die Litauer, alt wie jung,
noch allenthalben Tracht, besonders die Frauen; die lettischen auf
der Nehrung und in den Stranddörfern die vielfältigen schwarzen, die
litauischen auf dem Festlande die buntgestreiften Röcke. Ausserdem
überwiegt das Litauertum in allen Gemeinden, regelmässiger sonn-
tägiger litauischer Gottesdienst, litauische Konfirmation ist überall zu
finden. Die beiden Nehrungsgemeinden haben deutsche Konfirmation
eingeführt. Für diese sind das Litauische wie das Deutsche gleich
fremde Sprachen, und das neu gelernte Deutsch klingt gemäfs der
Schriftsprache, ist aber nicht etwa das vorgerückte Platt wie auf der
südlichen Nehrungshälfte.
Der zweite Teil reicht südlich von der Linie Nidden , Rufs bis
Schakuhnen, Plaschken, Pokraken, Tilsit, Piktupönen, Laugszargen.
Ihm mangelt von den vorhin angegebenen Kennzeichen die aus-
gesprochene Tracht. Wohl wird noch hier und da von älteren Frauen
die Marginne getragen, auch läfst sich hier und da noch ein Bast-
sohlenträger blicken, der Nachwuchs aber trägt moderne Kleidung.
Dieser Teil liegt gröfstenteils rechts vom Njemen und Rufsstrom in
den Kreisen Tilsit und Heydekrug und kennzeichnet zugleich, mit
Ausschlufs von Tilsit- Stadt, die Südgrenze des ostpreufsischen Bezirks,
wo die Deutschen in den evangelischen Gemeinden in der Minder-
heit sind.
Der dritte Teil, südlich der oben angegebenen Linie Nidden-
Laugszargen, reicht südlich bis Inse, Kaukehmen, Pokraken, Jurgait-
schen, Lengwethen, Budwethen, Wisch will, Schmalleningken. Hier sind,
mit Ausnahme der Gemeinden Inse, Schillgallen (kath.), Riedelsberg
(kath.) überall die Deutschen in der Mehrheit. Es findet jedoch noch
sonntäglicher Gottesdienst und alljährliche litauische Konfirmation statt.
Der Teil umfafst das linke Njemenufer in den Kreisen Tilsit, Ragnit,
Niederung, Heydekrug.
Der vierte Teil, südlich der vorhin genannten Linie Inse-
Schmalleningken , reicht südlich bis Gilge, Laukischken, Mehlauken,
Popelken, Skaisgirren, Jurgaitschen , Szillen, Kraupischken , Küssen,
Pillkallen, Schillehnen. Er umfafst also den südlichen Teil der Niede-
32 Die Litauer.
rung, Labiau Ost, Ragnit Süd, Pillkallen Nord. In diesem Teile sind
die Litauer, wie im vorigen Kreise, in den Gemeinden in der Minder-
heit. In Lauknen nur überwiegen die Litauer. Tracht trifft man
nirgend mehr, die litauische Konfirmation ist erloschen, aber in allen
Gemeinden findet sonntäglich litauischer Gottesdienst statt.
Im Kirchspiel Willuhnen giebt es noch einige ziemlich rein er-
haltene Salzburger Kolonieen, soWensken, Scharkabude, Kumelupchen;
die Wirtschaften sind Muster von Fleils und Ordnung.
Der fünfte Teil, südlich der oben angegebenen Linie von Popelken
bis Schillehnen, reicht südlich bis Berschkallen (litauische Predigt
jährlich einigemal), Insterburg - Land (zweimal), Georgenburg (kein-
mal), Aulowönen (einigemal), Grünheide (zwölfmal), Pelleningken
(zweimal), Mallwischken (viermal), Kattenau (zwölfmal), Warningken
(keinmal), Willuhnen (Sommers), Schirwindt (viermal) und umfafst
aufserdem folgende zehn südlich sich anschliefsende Grenzkirchspiele:
Bilderweitschen evangel. (keinmal), Bilderweitschen kath. (regelmäfsig,
95 Ortschaften sind eingepf arrt) , Eydtkuhnen (einmal), Stallupönen
(vierzehntägig), Göritten (viermal), Pillupönen (mehrmals), Enzuhnen
(dreimal), Melkehmen (viermal), Szittkehmen (Sommers), Dubeningken
(viermal). Dieser fünfte Teil umfafst also Insterburg Süd, Pillkallen
Süd, Stallupönen Nordost, Goldap Ost. In diesem Kreise hat nur die
Bilderweitschener katholische Insel das Litauertum überwiegend, in
allen anderen Kirchspielen tritt es in verschwindender Minderheit auf.
Es wird den alten Leuten zu Gefallen noch einigemal litauisch ge-
predigt. Die Pastoren brauchen meist nicht litauisch zu können,
sondern dürfen den jährlich mehreremal stattfindenden Gottesdienst
von litauisch sprechenden Kollegen halten lassen. In den drei Ge-
meinden Georgenburg, Warningken und Bilderweitschen (evangel.) ist
sogar dies nicht nötig, da die wenigen Litauer den litauischen Gottes-
dienst der Nachbargemeinde besuchen oder sich am deutschen betei-
ligen, den sie ebenso gut verstehen. Die Jugend ist völlig deutsch.
Die Namen nur erinnern an die alte litauische Abstammung. In dem
Grenzteile und auch in rein deutschem Gebiete werden staatliche Be-
kanntmachungen aber immer noch in deutscher, litauischer und polni-
scher Sprache veröffentlicht.
Obgleich diese Kreise ziemlich fest geschlossen sind, finden sich
doch einige Kirchspiele südlich des zweiten Kreises, die über 50 Proz.
Litauer zählen, nämlich Inse 55,5 Proz. (Niederung), Lauknen 59 Proz.
(Labiau) und die kleinen katholischen Kirchspiele Bilderweitschen
83,3 Proz. (Stallupönen) und Riedelsberg 60 Proz. (Tilsit).
Fast rein litauische Kirchspiele sind die um Memel herum : Deutsch-
Krottingen 92,3 Proz., Nidden 89,1 Proz., Dawillen 83,1 Proz., Prökuls
76,1 Proz., Plicken 74,1 Proz.; das Gleiche gilt von der baptistischen
Gemeinde Bruiszen mit 100 Proz. Litauern und sämtlichen katholi-
schen Gemeinden aufser Tilsit und Memel.
Preufüisch Süd li tauen. 33
Hinsichtlich der Eonfession zählt Deutsch - Litauen unter seinen
78 deutsch -litauisohen Gemeinden 7 katholische, 4 baptistische und
67 evangelische.
Von den katholischen entfallen je eine auf Memel (Memel mit
800 = 50 Proz. Litauern), Ragnit (Riedelsberg mit 300 = 60 Proz. Li-
tauern) und Stallupönen (Bilderweitschen mit 550 = 83,3 Proz. Litauern),
je zwei auf Heydekrug (Szibben und Schillgallen mit je 500 = 76,9
Proz. Litauern) und Tilsit (Tilsit mit 150 = 12,5 Proz. und Robkojen
mit 595 = 96 Proc. Litauern). So klein die katholischen Gemeinden
sind, die sich' zum gröfsten Teile aus russischen Litauern gebildet
haben, so treu halten sie an ihrer Muttersprache fest. Die 3295 katho-
lischen Litauer machen 56,6 Proz. ihrer Gemeinden aus.
Nicht so zäh bewahren die Baptisten das Litauertum. Ragnit-
Ikschen mit 10 = 3 Proz. Litauern hat keinen litauischen Gottes-
dienst, ebensowenig die rein deutsche Prökulser Gemeinde. Tilsit mit
30 = 10 Proz. und Memel mit 70 = 18,9 Proz. Litauern werden nur
von Alexen mit 90 = 33,3 Proz. und von Bruiszen mit 200 = 100 Proz.
Litauern übertroffen. Im ganzen verfügten die fünf deutsch-litauischen
Baptistengemeinden über 400 = 24,8 Proz. Litauer.
Die Evangelischen zählen an deutsch - litauischen Kirchspielen in
Memel 7, Heydekrug 8, Tilsit 9, Ragnit 9, Niederung 8, Pillkallen 8,
Labiau Ost 5, Insterburg Nord 6, Stallupönen Nordost 8, Goldap Ost
2 Kirchspiele. Von diesen 70 Kirchspielen wird in 67 litauischer
Gottesdienst gehalten. In diesen 70 Kirchspielen leben 28,8 Proz.
= 116 998. evangelische Litauer. Am treues ten bewahren die Maldin-
inker das Litauertum, die in ihren Laiengottesdiensten deutsch und
litauisch predigen, beten und singen.
Von den ostpreufsischen Litauern sind 97 Proz. evangelisch,
2,7 Proz. katholisch, 0,3 Proz. baptistisch; in früheren Verzeichnissen!
sind auch (1890) 95 litauische Juden, 20 Dissidenten, 1 Griechisch-
Katholischer namhaft gemacht worden. Soweit es sich nicht um vor-
übergehend Anwesende handelt, sind bis jetzt solche von Gemeinde-
vorstehern nicht namhaft gemacht worden; die Juden verstünden wohl
etwas litauisch, betrachteten dies aber nicht als Muttersprache. Die
Zahl war übrigens schon 1890 eine verhältnismäfsig geringe.
Von der Gesamtbevölkerung Preufsisch-Litauens bilden die Litauer
überhaupt 29,1 Proz., die Evangelischen 28,1 Proz., die Katholischen
0,8 Proz., die Baptisten 0,1 Proz.
Kurschat nahm 1890 für die nun reindeutschen Kreise Wehlau,
Gumbinnen und Darkehmen 373 an, für sämtliche anderen ost-
preufsischen Kreise 1020, v. Fircks für Preufsen aufs er halb der zehn
litauischen Kreise 1470.
Von gröfseren Städten aufserhalb des Bezirks kommen nur Königs-
berg und Berlin in Betracht, von denen ersteres 1890 469, letzteres
705 Litauer zählte. In den anderen Grofsstädten leben Litauer nur
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. g
34 Die Litauer.
sehr vereinzelt, und wenn man den Namen auf -eit, -at, -ies, -wicz be-
gegnet, wird der Träger des Namens bestätigen, dafs meist schon der
Vater und Grofsvater Deutsche waren.
Das deutsch-litauische Völkergemisch im Sprachbezirk erhält noch
durch drei an den Grenzen wohnende neue Völker Farbe: die Russen,
Polen und Letten.
Die Zahl der Litauer in früheren Zeiten ist erst seit 1831 auf
Grund genauerer Angaben festzustellen, solche haben Fircks, Böckh,
Völkel, Eurschat zusammengestellt. Die Zahlen schwanken zwischen
119 000 und 150 000 und machen trotz der Unsicherheit der Angaben
und der Zähl weise den Eindruck, dafs das Litauertum in Ostpreufsen
sich zäh hält, aber doch allmählich abnimmt.
Im Kreise Memel, der 47,4 Proz. = 24 464 Litauer zählt, wird in
neun Kirchen deutsch-litauischer Gottesdienst gehalten; die reformierte,
die jüdische und die evangelische Stadtgemeinde halten keinen litaui-
schen mehr, dagegen die katholischen (50 Proz. = 800) und baptistische
(18,9 Proz. = 70) und die evangelischen Landgemeinden zu Krottingen
(92,3 Proz. = 4800), Dawillen (83,1 Proz. = 2700), Memel -Land
(50 Proz. = 6000), Nidden (89,1 Proz. = 814), Plicken (74,1 Proz.
= 2000), Prökuls (76,1 Proz. = 7080), Schwarzort (50 Proz. = 200).
Im Kreise Heydekrug, der 61,9 Proz. = 26 362 Litauer aufweist,
sind sämtliche elf Gemeinden doppel sprachig. Die eine baptistische
Gemeinde zu Bruiszen ist fast rein litauisch (100 Proz. = 200), die
beiden katholischen Gemeinden zu Schillgallen und zu Szibben haben
je 76,9 Proz. = 500 Litauer. Die übrigen acht evangelischen Kirch-
spiele zählen zu Karkeln 5,9 Proz. = 80 Litauer, zu Kalninken
36,8 Proz. = 350, zu Kinten 73,5 Proz. = 3730, zu Rufs 60,9 Proz.
= 4502, zu Saugen 64 Proz. = 3200, zu Schakuhnen 55,5 Proz.
= 2500, zu Werden 60 Proz. = 6000, zu Wieszen 70,6 Proz.
= 4800.
Neue Kirchspiele lösen sich seitdem von Saugen, Werden, Wieszen r
Koadjuten und Plaschken ab; im Kreise Memel von Krottingen.
Im Tilsiter Kreise, mit 58,1 Proz. = 27 004 Litauern, überwiegen
links vom Njemen die Deutschen, rechts die Litauer. Gemeinden mit
deutscher Kirchensprache sind die Tilsiter reformierte, die apostolische,
die israelitische und die evangelische Stadtgemeinde. Doppels^rachig
sind die baptistische Gemeinde zu Tilsit mit 10 Proz. = 30 Litauern,
die katholische daselbst (12,5 Proz. = 150) und zu Robkojen (96 Proz.
= 595), sowie die neun evangelischen Dorfgemeinden zu Koadjuten
(66,6 Proz. = 4000), Laugzargen (68,6 Proz. = 1420), Nattkischken
(60,6 Proz. = 2000), Piktupönen (51,8 Proz. = 3015), Plaschken
(65,3 Proz. = 2824), Pokraken (52,4 Proz. = 1100), Rucken
(66,6 Proz. = 2730), Wilkischken (40 Proz. = 1640). Der Seelsorg-
bezirk Neu - Argeningken zweigt sich aus den an Heinrichswalde an-
grenzenden Gemeinden ab.
Statistik der Bevölkerung. 35
Im Ragniter Kreise, mit 27 Proz. = 16 324 Litauern, wohnen in
zwei Kirchspielen nur Deutsche, im evangelischen zu Ragnit- Stadt
und im baptistischen zu Ragnit -Ikschen, deren 10 Litauer (3 Proz.)
am deutschen Gottesdienst teilnehmen, während die 200 Ragniter
Litauer in die evangelische Landkirche gehen. Elf Gemeinden sind
doppelsprachig, die zu Budwethen (23,1 Proz. = 1500), Jurgaitschen
(29,7 Proz. = 1900), Kraupischken (20 Proz. = 1600), Lengwethen
(14,3 Proz. = 400); Ragnit-Land (33,4 Proz. = 3460), Rautenberg
(18,6 Proz. = 800), Schmaleninken (33,3 Proz. = 800), Szillen
(26,2 Proz. = 1854), Wischwill (46,7 Proz. = 3500); aufser diesen
evangelischen Gemeinden besitzt das katholische Kirchspiel Riedelsberg
noch 60 Proz. = 300 Litauer. — Der Seelsorgbezirk Lenkeningken
zweigt sich von Ragnit ab; ein Jetzt neugebildetes Kirchspiel ist
Gr. Szugken.
In der Niederung befinden sich 19,2 Proz. = 9680 Litauer in
samtlichen acht evangelischen Kirchspielen, nämlich in Grofsfriedrichs-
dorf 13,8 Proz. = 800, in Heinrichs walde 12,2 Proz. = 900, in Inse
55,5 Proz. = 1000, in Kaukehmen 24,8 Proz, = 2000, in Lappienen
3 Proz. = 150, in Neukirch 9,9 Proz. = 600, in Seckenburg 35,4 Proz.
= 1730, in Skaisgirren 22,7 Proz. = 2500.
Ueber Pillkallen sind 10 Proz. = 4607 Litauer in sämtlichen
neun evangelischen Kirchspielen verteilt, doch gehen die wenigen
Warninkener Litauer zum litauischen Gottesdienst nach Pillkallen. Es
sind ansässig in Küssen 5,1 Proz. = 300, in Lasdehnen 32,6 Proz.
= 3000, in Mallwischken 1,1 Proz.' = 40, in Pillkallen 2,9 Proz.
= 300, in Schillehnen 22,2 Proz. = 600, in Schirwindt 0,9 Proz.
= 50, in Warningken 0,1 Proz. = 5, in Willuhnen 5,7 Proz. = 312
Litauer.
Labiau zerfällt sprachlich in zwei Teile. Der Westen ist rein-
deutsch, nämlich die Kirchspiele Kaymen, Labiau, Legitten. Ostlabiau
hingegen ist mit seinen 30 Proz. = 10 060 Litauern in der katholi-
schen Gemeinde zu Alexen (33,3 Proz. = 90), wie in den übrigen fünf
evangelischen Gemeinden deutsch - litauisch. Der litauischen Sprache
rechnen sich zu in Gilge 46,5 Proz. = 2000, in Laukischken 16,6 Proz.
= 15^0, in Lauknen 59 Proz. = 3170, in Mehlauken 19,7 Proz.
= 1500, in Popelken 25 Proz. = 1800 Bewohner. — Die grofse
Wald- und Moorgegend am Haff und am Gilgestrom, mit der zahl-
reichen litauischen Bevölkerung, steht im merkwürdigen Gegensatz
zum deutschen Westen dieses Kreises.
Im Kreise Insterburg ist die Südhälfte deutsch: In sterburg- Stadt,
Didlacken, Jodlauken, Norkitten, Obehlischken , Puschdorf, Saalau; als
reindeutsch können auch die beiden Institute gelten: das Seminar zu
Karalene und die Strafanstalt zu Insterburg, wiewohl beide auf die
Litauer Rücksicht nehmen. Die rein evangelische Nordhälfte von
Insterburg hingegen ist schwach, aber gleich mäfsig mit Litauern über-
3*
36 Die Litauer.
säet (1,6 Proz. = 400). Es nennen sich in Aulo wohnen 1,6 Proz.
= 80 Bewohner Litauer, in Berschkallen 1,7 Proz. = 80, in Georgen-
i bürg 0,5 Proz. = 30, in Grünheide 5,5 Proz. = 200, in Insterburg-
! Land 0,6 Proz. = 30, in PeUeningken 0,6 Proz. = 20. In allen
diesen Kirchen, mit Ausnahme von Georgenburg, findet litauischer
Gottesdienst statt.
Von der Nordosthälfte des Kreises Stallupönen, mit 3 Proz.
= 1302 Litauern, gilt dasselbe wie von Nord - Insterburg. Sämtliche
acht evangelische Kirchspiele und das katholische zu Bilderweitschen
(83,3 Proz. = 550) weisen Litauer auf; die 5,8 Proz. = 150 evangeli-
schen Litauer zu Bilderweitschen aber haben keinen besonderen litaui-
schen Gottesdienst. Übrigens zählen Eydtkuhnen 0,1 Proz. = 8,
! Enzuhnen 0,3 Proz. ==• 20, Göritten 1,8 Proz. = 50, Kattenau 1,5 Proz.
| , =80, Melkemen 0,9 Proz. = 54, Pillupönen 8 Proz. = 350, Stallu-
; pönen 0,4 Proz. = 50 Litauer.
Im Goldaper Kreise sind nur die beiden evangelischen Kirchspiele
an der russischen Grenze doppelsprachig (4,3 Proz. = 450 Litauer),
davon hat Szittkemen 4,9 Proz. = 250 und Dubeningken 3,8 Proz.
= 200 Litauer. Das angrenzende Rominten ist deutsch.
Wie weit nun im litauischen Bezirke eine eigenartige vom Deut-
schen unterschiedene Sitte herrscht, ist schwer festzustellen. Gerade
einige in die Augen springende Eigenarten sind vielleicht weniger bei
den Deutschen in Ostpreufsen, dafür aber in entfernten deutschen
Gauen zu finden und können also nicht als unterscheidende Merkmale
gelten. Im grofsen und ganzen aber kann daran festgehalten werden,
dafs im ersten der angegebenen fünf Bezirke, also auf der Nehrung
und jenseits des Memelstromes, das Deutschtum noch den wenigsten
Einflufs ausgeübt hat, dasselbe gilt für die Inser Gegend am Haff, für
den grofsen Moorbruch im Nordosten des Kreises Labiau und für die
Grenzdörfer, die abseits von den Yerkehrsstrafsen liegen.
n. Geschichte.
Der Kiewer Mönch Nestor berichtet um 1100 von Einfällen des
russischen Grofsfürsten Jaroslaw, der den Litauern um 1040 und 1044
Tribut abdrang. Noch ältere Kriegszüge galten um 983, 1012 und
1038 den Jadwingen. Die russischen Einfälle wiederholten sich 1132.
Das ursprünglich friedliche Yolk mufste sich der Angriffe wehren, so
gut es konnte, und drehte bald den Spiefs um. Die Angriffe von zwei
Seiten führten das Yolk zur Einheit. Die Gewalt der kleinen Fürsten
oder Dorfschulzen, und selbst die des mächtigen Kriwe Kriweito, des
Oberpriesters, vereinigte der sagenhafte Grofsfürst Ringold (1204 bis
1239) auf seine Person. Er heerte Zeit seines Lebens in den russi-
schen Gebieten, besiegte die russischen Grofsfürsten wiederholt einzeln
und insgesamt und dehnte seine Herrschaft bis Smolensk und Witebsk
Mindowe, Gedimin. 37
aus. Sein Sohn und Nachfolger Mindowe (1240 bis 1263) gab dem
Vater an Kraft und Tüchtigkeit nichts nach. Im hellen Glänze er-
strahlten seine Thaten, und die berühmte litauische Schlauheit, der
Mangel jeglicher Sentimentalität und Resignation, die stolzfreudige
Kraft, mit den Thatsachen zu rechnen und des Schicksals Stern in der
eigenen Brust zu tragen, zeichnen ihn ebenso aus, wie die späteren
Heldenkönige. Von allen Seiten bedrängt, verdarb er zunächst den
Ordenskriegern das räuberische Gelüst, unter dem Mantel der Missionie-
rung sein Land nehmen zu wollen. Er trat 1252 zum Christentum
über und liefs sich im folgenden Jahre zum König der Litauer krönen.
Nach einem Vertrage über die neue Memelburg 1252 schenkte er dem
Orden 1254 die Lande Wangen und Carsow, 1257 und 1259 Be-
sitzungen in Liyland und versprach dem anfangs hülfreichen Orden,
der sich sein Land zur Interessensphäre erkoren, sein ganzes Land,
wenn er kinderlos stürbe. Er gründete auch in seiner Hauptstadt
Wilna ein römisch - katholisches Bistum. Dem Orden genügte das
nicht, er suchte einen neuen Anlafs, sich eher in den Besitz Litauens
zu setzen, und holte sich bei Durben 1260 und bei Dorpat tüchtige
Niederlagen. Mindowe verliefs den aufgezwungenen Glauben und wufste
alle baltischen Stämme zum nationalen Freiheitskampfe zu begeistern.
Dies eine Mal finden wir Preufsen und Letten, Hoch- und Niederlitauer
im gemeinsamen Kampfe um ihr Volkstum vereinigt. Verräterhand
tötete den Helden, sein Sohn Troiden (1270 bis 1282) hatte harten
Stand, 50 Jahre tobte der Bürgerkrieg, bis der Grofsfürst Witen
(f 1315), der Sohn des Litauerfürsten Putuwer (f 1292), den stark
erschütterten Staat neu befestigte. Vielleicht sind es jene Kriege, die
jene Daina schufen:
Sie trieben, trieben, trieben zusammen,
Der Dörfer Schulzen trieben zum Kriege.
O Gott, der Bruder, der junge Bruder,
Sonst niemand, niemand, der reiten könnte.
Sein Nachfolger war Gedimin; er regierte von 1316 bis 1341 und
war der mächtigste litauische Herrscher. Er eroberte Kiew und Now-
gorod, war Herr von Wolhynien und nannte sich König der Litauer
und Russen. Er besafs das mächtigste slawische Reich seiner Zeit.
Im Innern beugte er mit starker Hand selbstsüchtige Bojaren und
ordnete das Staatswesen. Aber er erkannte die Übermacht der christ-
lichen Bildung und zog deshalb deutsche Handwerker und Künstler,
christliche Mönche und Gelehrte in sein Land. Er baute seinen Christen
Kirchen und liefs seine Söhne griechisch-katholische Fürstentöchter
der Moskauer Herrscher heiraten. Die Bestrebungen der Ordens-
brüder wufste er wohl zu werten und war nicht gesonnen, denen
Einlafs zu gewähren, die ihn berauben wollten. Den päpstlichen Ge-
sandten, die aus Müs Verständnis seine Taufe einleiten wollten, sagte
er: „Hab' ich je die Absicht gehabt, Christ zu werden, so soll mich
38 Die Litauer.
der Teufel taufen. Die Christen lassen Gott in ihrer Weise verehren,
die Russen nach ihrem Brauch, die Polen nach dem ihrigen, und wir
verehren Gott in unserer Weise. Alle aber haben wir einen Gott.
Was redet ihr mir von Christen? Wo findet man mehr Frevel, mehr
Unrecht, Gewaltthat, Verderben und Wucher als bei den Christen und
namentlich bei solchen, die Geistliche zu sein scheinen, wie die Kreuz-
träger?44 (Vergl. Schiemann: Rufsland, Polen und Livland I, 227.)
Man sieht, Gedimins Heidentum richtete sich nicht gerade gegen die
Christen, denen er wohlgesonnen war. Die Verwüstungen, die er in
Gemeinschaft mit Polens Heeren vornahm, waren vom Papst geschürt
und dem verbündeten Polenfürsten zum Dank ausgeführt worden. Die
Christen nahmen schreckliche Rache. Der Böhmenkönig Johann be-
teiligte sich 1328 an dem Ereuzzuge gegen die Heiden Litauens, der
70 000 Litauer als Beute bot. Sie wurden als Gefangene in das Ordens-
land geführt, 6000 davon getauft. Kein Wunder, dafs ein Held wie
Gedimin Gleiches mit Gleichem vergalt. Ein Glück für Litauen war
es, dafs Gedimins ritterliche Heldensöhne und Nachfolger, Olgert
(t 1377) und Keistut (1341 bis 1382) dem Vater ebenbürtig waren,
„ganze Kerle", nennt sie ein Historiker. Selten regierte ein Brüder-
paar in so einträchtiger Gesinnung wie die beiden. Keistut hatte
seinen Thron in Kowno oder Troki, Olgert in Wilna. Das Reich er-
streckte sich vom Schwarzen bis zum Baltischen Meere, von dem drei-
mal erstürmten Moskau bis zu den rechten Nebenflüssen der Weichsel.
Aber keine der zahllosen Dainos enthält Erinnerungen an Jene Helden-
fahrten, nur die Erwähnung des Ölbaumes, der Donau und entfernter
Städte blieb als Rest. — Aber der Orden blieb auch nicht unthätig. In
Winrich von Kniprode (1351 bis 1382) war ihm ein tüchtiger Grofs-
komtur erstanden. Der Orden hatte es auf die völlige Vernichtung
abgesehen, man ging in den Krieg wie auf die Jagd und machte das
Dorf erverbrennen zum Sport. Das erhöhte die Zähigkeit der Litauer.
Im Kampfe um Sein oder Nichtsein entwickelte das angegriffene Volk
eine ungeahnte Kraftfülle. Zweimal drang 1365 Keistut bis zur
Ordensburg Eckersberg vor, ward gefangen und entkam. Winrich
zerstörte 1362 Kowno, schon im nächsten Jahre baute das Volk Neu-
Kowno daneben. In der mörderischen Schlacht bei Rudau 1370 siegte
der Orden und drang 1378 bis Wilna vor, aber zu Pfingsten desselben
Jahres zerstörte endgültig Keistut die Burg Eckersberg, 1 382 erdröhnten
seine Kanonen vor Insterburg. Und wenn in Handbüchern steht,
Winrich habe die Unterwerfung Litauens vollendet, so ist das falsch.
Von diesen Preufsenfahrten hat der Dichter Peter Suchen wirt ein
lebensvolles Gemälde entworfen. Er machte selbst eine solche 1377
mit und schildert, wie man im Litauerlande „schlug, fing und brannte,
der viel hehren Maria wegen und um den Glauben der hochgeehrten
Christenheit zu mehren". Auch Oswald von Wolkenstein war dabei,
ein Stück Brot als Wegzehrung in der Tasche tragend, und blieb acht
Witold. 39
Jahre in Preufsen. Suchenwirt sagt, man führte die Menschen weg
wie Jagdhunde, brannte die Dörfer an, dafs der Himmel erglühte.
Was ihnen weh that, that uns wohl, an ihrem Gut und Land konnte
man seine Freude haben. Nikolaus von Jeroschin sagt gelegentlich
der Schlacht am Walde Winse 1277 in Sudauen von den Kreuzherren:
Sie trieben über tausend Weiber und Kinder raubbeladen fort, nur
sechs Christen blieben tot, „daz andre her gar ane not mit dem roube
allintsam vrolich heim zu lande quam". — Im Gegensatz zur Hand-
lungsweise der Ritter führt Dlugols das Verhalten Keistuts nach der
Zerstörung Eckersbergs und der Gefangennahme des Pflegers Johannes
Snrbach an: Die Litauer wollten ihn den Göttern zum Opfer dar-
bringen, aber Keistut liefs es nicht zu. — Man kam in den grofsen
Waldwüsten nur schwer fort, meist fanden sich vereinzelte kleine
Dörfer, seltener bevölkerte reiche Gegenden. An einem Tage tötete
das Ordensheer 60 Mann, von 1321 bis 1377 wurden zehn solcher
Fahrten gegen die blinden Heiden unternommen. Man schätzt die
Anzahl der getöteten und gefangenen Feinde in den 85 verflossenen
Kriegsjahren auf 1/i Million. Die kriegerischen Unternehmungen
gingen von Königsberg und Riga aus und hatten ihre Stützpunkte in
den neu angelegten Burgen, wieTapiau, Heilsberg, Bartenstein, Labiau,
Memel, Tilsit, Ragnit; die entvölkerten Gebiete an der Alle und Deime
wurden mit unterworfenen Litauern besiedelt. — Olgerts Sohn Jagiello
(1377 bis 1434) bahnte sich den Weg zum Throne, indem er seinen
Onkel Keistut töten und dessen Sohn Witold gefangen setzen liefs.
Durch seinen Übertritt zum katholischen Christentum und seine Ver-
mählung mit der polnischen Erbprinzessin Hedwig wurden die litaui-
schen Fürsten 1386 polnische Könige. Doch erzwang sich das litauische
Volk einen eigenen Grofsf ürsten , Witold, der noch einmal die Macht
litauischen Heldentums offenbart, wie das Abendrot vor einer Nacht,
der kein Morgen folgt. Unerschrocken, tapfer, politisch und diplo-
matisch, schlau und jeglicher Sentimentalität abhold, war er ein wür-
diger Nachfolger seines Vaters und Grofsvaters. Er kannte nur ein
Ziel: sein Vaterland grofs und frei unter seinem Scepter zu wissen.
Allein und ohne Beistand war dies unmöglich, der Orden bot ihm
zunächst Hülfe; seinetwegen wurde Witold römisch-katholisch, trat
aber zum griechischen Glauben über, sobald die russischen Grofs-
fürsten Gewähr grösserer Unterstützung boten. Als ihn jedoch
Jagiello anerkannt und zum Bundesgenossen genommen hatte, wurde
er wieder römisch-katholisch. Der freie Blick gegenüber religiösen
Dingen ergab sich aus den ganzen Zeitverhältnissen. Aber Witold
war zu ehrlich oder naiv dabei. Er konnte nicht begreifen, dafs man
den Juden drückende Ausnahmegesetze gab, und schützte sie 1389
durch Vorrechte. Seine griechischen Bischöfe suchte er selbständig
und unabhängig von Konstantinopel zu machen, und in dem vom
Orden zurückeroberten Schameiten fanden gleichzeitig unter seinem
40 Die Litauer.
Beiseln und seinem Einflufs römische Massentaufen statt. 1415 be-
zeugten 60 neugetaufte Schameiten zu Eonstanz vor Kaiser und Papst
Witolds Vorkämpfe für christliche Gesittung in Litauen. 1418 er-
schienen ebenda 20 griechische Bischöfe seines Reiches auf seinen
Befehl in der Meinung, es gelte auf der Kirchen Versammlung alle Be-
kenntnisse zu vereinen und Mißstände auszurotten. Von Hussens
Tode hatte er nichts gehört, noch viel weniger davon, dafs die römische
Kirche in keiner dogmatischen Sache nachzugeben gesonnen war. Im
Kampfe für sein Vaterland verband er sich zuerst mit dem Orden
gegen Polen, schlug aber dann mit seinem Vetter 1410 bei Tannen-
berg die Deutschherren und wufste den Friedensvertrag so zu wenden,
dafs ihm der Orden verbunden blieb, er selbst Schameiten, sein Vetter
aber nichts erhielt. Neue Kämpfe mit dem Hochmeister führten ihn
nach Preufsen, wo er 1422 als Sieger schaltete. Im September schlofs
er am Melnosee Frieden mit den Deutschherren und legte die noch
Jetzt bestehende oatpreufsische Ostgrenze des Ordenslandes fest, behielt
aber Goldap und Stallupönen. Seitdem ist Sudauen, Nadrauen und
Schalauen unter deutscher Herrschaft. Das Verhältnis zu Jagiello
trübte sich Jedoch. Dem Kaiser Sigismund war dies passend, er wollte
ein schwaches Polen und trug darum dem Grofsfürsten Witold die
Königskrone an. Dessen Edelinge hatten ihn schon 1398 mit Gedimins
Titel zum König der Polen und Russen ausgerufen. Witold entbot
nun aufs neue 1429 seine Bojaren zum Krönungstage nach Wilna, um
von Sigismunds Gesandten die verheifsene Weihe zu empfangen. Aber
die Polen liefsen die Gesandtschaft nicht über die Grenze, die Ver-
sammlung löste sich auf; Witold kehrte enttäuscht zurück, er stürzte
vom Pferde und starb am 27. Oktober 1430 kinderlos in Troki. Litauen
fiel an Polen und teilte dessen Geschicke. (Vgl. Lohmeyer, Mitt. d.
L. L. G. II, 203 f.)
Bei der dritten Teilung Polens 1795 nahm Rufsland den gröfseren
Teil Litauens und bildete daraus sechs Regierungsbezirke: Kowno,
Wilna, Grodno (diese sind noch heute litauisch), Minsk, Witebsk,
Mohilew. 1812 mufste Preufsen noch seinen Anteil von 1795 ab-
treten: das litauische Suwalki.
Die preufsischen Litauer gehörten seit 1422 zum Orden, bis der
letzte Hochmeister Albrecht das Land 1525 in ein weltliches Herzog-
tum verwandelte und als Lehen Polens erklärte. Nach dem Tode
Albrechts empfing der Brandenburger Kurfürst Joachim II. die erbliche
Mitbelehnung. 1618 wurde Preufsen mit Brandenburg vereint, 1660 im
Frieden zuOliva unabhängig von Polen und 1701 alB Königreich erklärt.
Unterdessen hatte Litauen einen erfreulichen Kulturaufschwung
genommen. Albrecht hatte 1525 zugleich die Reformation eingeführt,
und mit ihr entwickelten die Litauer, die vorher kein Wort in ihrer
Muttersprache aufgezeichnet hatten, zugleich eine eigene Literatur, die
sich allerdings streng in den Bahnen der kirchlichen Erbauung und
Bretke, Szyrwid. 41
des Unterrichts hielt. Albrecht gewährte jedem Geistlichen vier Hufen
Land, zwanzig deutschen und acht litauischen Alumnen die Mittel zum
theologischen Studium und sorgte eifrig für den Bau neuer Kirchen.
Unter ihm erblühte nicht nur die erste preufsische, sondern auch die
erste litauische Literatur. Der Ragniter Archidiakonus Moswid gab
1547 ein Büchlein heraus, das die Fibel, den lutherischen Katechismus
und 11 Kirchenlieder enthielt. Sein NeSe Bartholomäus Willentas und
Stan. Rapagelanus hatten schon zuvor Gesangbuch verse gemacht.
Willentas, der seit 1550 als litauischer Pfarrer in Königsberg wirkte
und im Oktober 1587 starb, lieferte die ersten Anfänge einer Bibel-
übersetzung, indem er Jesaias 53 f., die Sonntags - Evangelien und
-Episteln in seine Muttersprache übersetzte. An Bedeutung übertrifft
die beiden Jons Bretke oder Bretkunas. Dieser wurde zu Bammeln
bei Friedland geboren, erhielt die Pfarre zu Labiau, woselbst er ohne
Tolken predigte. Das wird ihm immer hoch angerechnet, es scheinen
also die Pfarrer im allgemeinen Deutsche gewesen zu sein. 1587 ward
er litauischer Pfarrer in Königsberg und starb im Oktober 1602 oder
1 603. Zufälligerweise fand ich im ersten Königsberger Immatrikulations-
buche seinen Namen. (Anno salutis Humanae separatae MDLV = 1555
Rectore per aestatem Simone Titio artium et medicinae doctore dederunt
nomin a 14. Junii Johannes Bretke Fridlantensis natus in pago vicino
Bamlen pauper pupillus numeravit 5 gr.) In der Postilla 1591 „per
Jana Bretkunau unterzeichnet er sich „ Johannes Bretkius". Seine
Hauptwerke sind aufser der Postille das neue Gesangbuch 1589 mit
76 Liedern und die vollständige Bibelübersetzung 1579 bis 1590, die
aber nicht gedruckt wurde.
Ein Zeitgenosse des Bretkunas war der schameitische Domherr
Nikolaus Dauksza, der 1595 einen Katechismus, 1599 eine Postille und
später Predigten herausgab. 1625 veröffentlichte Johannes Rhesa,
wohl der 1598 bis 1621 zu Tolminkemen wirkende Pfarrer, eine
litauische Übersetzung der Psalmen. Die Literatur bewegte sich nun
100 Jahre lang in denselben Gleisen; in der Mitte des 17. Jahrhunderts
beginn^ ein neuer Zweig zu erblühen, das litauische Wörterbuch.
Der erste Verfasser eines solchen war der Jesuit Konstantin Szyrwid,
der zu Wilna (1677: 4. Auflage) für den Gebrauch der studierenden
Jugend ein dreisprachiges Lexikon veröffentlichte, in dem polnische
Wörter litauisch und lateinisch erklärt werden.
Die ruhige Entwickelung des 17. Jahrhunderts wurde durch den
Tatareneinfall von 1656 bis 1657 unterbrochen, der 13 Städte und
249 Dörfer wegfegte und dem Lande 100 000 Menschen durch Krank-
heit und Gefangennahme entraffte. Durch die Pest von 1708 bis 1711
wurden 154 445 Menschen vernichtet, so dafs nur ein Viertel der
alten Bewohnerzahl Preufsens übrig blieb.
Doch nun beginnt eine Glanzzeit Litauens. Als Friedrich 1701
zum ersten König in Preufsen gekrönt ward, wandte man sein Augen-
%
42 Die Litauer.
merk reger dem Lande zu, aber erst der Nachfolger Friedrich Wilhelm. I.
(1714 bis 1740) ward der wirkliche Besiedler Litauens; und unter
Friedrich dem Grolsen (1740 bis 1786) wurde der Ausbau fortgesetzt;
man legte unter anderem viele Straf sen an. Aus dem Namen der
Ortschaften, die zur Zeit Friedrich Wilhelms I. vorhanden waren, ersieht
man recht deutlich die grofse Waldeinöde Litauens wie mitten im
Forst (Widgirren), gelichtet (Skaisgirren) , Birkenteer gewonnen
(Dagutehlen, Dagutschen), Teer gebrannt wird (Smaledunen, Teer-
bude, Smaleninken), wo Holzmeiler kohlen (Trakehnen, Traken, Traki-
ninken) und durch Ausbrennen (Iszdagen) oder Umschlagen (Iszlaudszen)
der Wald verkleinert (Gireliszken) und die Heide bewohnbar (Schilenen,
Schilgalen) gemacht worden ist. In diesem Punkte hat der König1
vielleicht eher zu viel gethan; die Waldungen der frischen Nehrung
fielen auf den Rat übelkundiger Ratgeber, — der Wald wurde
schutzlos. Gleich im ersten Jahre seiner Regierung weilte er in Litauen
und besuchte es dann noch achtmal. Er bestimmte, dafs Einwanderer
steuerfrei wären und billigen Grundbesitz erwerben könnten. Er ver-
teilte Vieh und Aussaat an die Siedler, hielt es aber doch für nötig,
einen Befehl ergehen zu lassen, dals von einem Zwange, einzuwandern,
keine Rede sei. Die Einwanderer kamen in Scharen, namentlich den
des Glaubens wegen Vertriebenen bot der König freudig die Hand.
1724 erschienen 3900 Schweizer, Pfälzer und Franken, 1732 folgten
15 508 Salzburger. Insgesamt nahm er deren 20694 auf. Zu gleicher
Zeit hatte Leopold von Dessau für 17 000 Thaler Land erworben und
besiedelte es rund um Norkitten. Noch heute nennen sich die Bewohner
nach ihrem Heimatlande und bewahren teilweise ihre alten Sitten. Die
Urenkel jener Emigranten zeigen das Erbstück der Ahnen, das zu-
gleich Familienbuch geworden, die Bibel, um derenwillen sie dereinst
verjagt wurden. Einige Bauern tragen französische Namen; die
Herzen schlagen deutsch. Im ganzen hat der König von 1721 bis
1727 für Litauen 2 430 289 Thaler aufgewandt (Stadelmann,
Fr. W. L), für ganz Ostpreufsen 6 Millionen. Mit welcher Sorgfalt
der viel verlästerte König seine Provinz pflegte, ist aus den zahlreichen
Verordnungen ersichtlich, die sich auf Ackerbau und Viehzucht,
P^scherei und Gartenpflege, Vorwerke und Volkswohlfahrt beziehen.
Bald ist es ein Verbot, in Ställen und Scheunen zu rauchen, bald eine
Aufforderung, die Kraniche und die für jeden bestimmte Zahl schäd-
licher Vögel zu vernichten ]), dann wieder ein Anweis, Zigeuner, Bettler
und anderes liederliches Gesindel nach der nächsten Garnison zu schicken
und allgemein Nachtwächter anzustellen, sodann ein Befehl, die Stroh-
schindeldächer abzuschaffen und das Schi eisen mit Pistolen bei Hochzeiten
!) Noch 1744 wiederholte Friedrich der Grofse am 22. Juni in deutscher
und litauischer Sprache die Aufforderung zum Vertilgen der Sperlinge und
Krähen.
Kulturarbeit Friedrich Wilhelms I. 43
zu unterlassen ; aber auch ein Gebot für Reisende erging, in ordentlichen
Schenken oder Krügen zu übernachten; ausgenommen waren vornehme
und reputierliche Leute. Die Scharwerker sollten im Ragniter und im
Jnsterburger Kreise von Ostern bis Michaelis wöchentlich zwei, von
Michaelis bis Ostern monatlich einen Tag arbeiten. Immer wieder
verlangte er Auskunft oder Vorschläge zur Hebung der Wohlfahrt; der
sprichwörtlich sparsame Fürst konnte sehr wohl freigebig sein, wenn
es seines Volkes Heil galt.
Er begründete die landwirtschaftliche Musteranstalt Trakehnen,
die wegen ihrer Pferdezucht noch heute bekannt ist, errichtete land-
wirtschaftliche Professuren in Halle und Frankfurt a. 0. und vergafs
auch nicht die geistige Hebung; 1723 schuf er an der Königsberger
Universität ein litauisches Seminar zum Unterricht junger Theologen
und Lehrer und liels schon zuvor vom Professor Lysius das Kirchen-
und Schulwesen eingehend revidieren. Unter seiner Regierung erschien
die erste litauische Bibel; Gesangbuch und Katechismus wurden 1719
neu übersetzt, in Halle hielt F. W. Haack (aus D. Krottingen) litauische
Vorlesungen und gab 1730 das erste deutsch-litauische Wörterbuch heraus.
Dabei vergafs er die Germanisierung nicht, sein Grundsatz war:
„Je mehr Deutsche ins Land kommen, desto besser wird es." Und die
Deutschen rodeten und besiedelten denn auch fleifsig und breiteten
sich aus. Aber sie wurden unzufrieden, als sie neben dem Scharwerks-
dienst auch noch Abgaben geben sollten, und die Verhältnisse zwischen
den Litauern und Deutschen waren nicht immer die besten. In den
Gedichten des Donalitius werden sie als die Bringer loser Sitten, als
herrische, unkirchliche Eindringlinge dargestellt. Aber so oft dieser auch
den Besiedlern am Zeuge flicken will, das niufs er doch immer wieder
zugestehen, dals sie arbeitsam und fleifsig sind und die von ihm über
alles geliebten Litauer oft beschämen. Das schönste Denkmal hat der
Thätigkeit des grofsen Königs sein Sohn Friedrich der Grofse gesetzt,
indem er in einem Briefe an Voltaire 27. Juli 1739 schreibt (vergl.
Altpreufs. Mon. 1885, S. 1888): „Preufsisch Litauen ist ein Herzogtum,
das 30 deutsche Meilen lang und 20 breit ist, doch auf der deutschen
Seite von Samogitien etwas schmaler zuläuft. Diese Provinz ward zu
Anfang dieses Jahrhunderts von der Pest verwüstet und es kamen
mehr als 300 000 Einwohner vor Krankheit und Elend um.
Seit der Zeit hat der König keine Ausgabe gespart, um seine
heilsamen Absichten durchzusetzen. Zuerst gab er sehr weise Verord-
nungen, baute dann alles wieder auf, was durch die Pest verfallen
war, und liels aus allen Gegenden tausende von Familien kommen.
Die Äcker wurden urbar, das Land bevölkerte sich wieder, der Handel
blühte von neuem, und gegenwärtig herrscht in dieser fruchtbaren
Provinz mehr Ueberflufs als jemals. — Nun leben eine halbe Million
Einwohner in Litauen. Es hat mehr Städte und mehr Herden als
ehemals und ist reicher und fruchtbarer als irgend eine Gegend in
44 Die Litauer.
Deutschland. Und alles, was ich Ihnen gesagt habe, hat man nur
dem Könige zu verdanken, der nicht blofs verordnete, sondern auch
selbst über die Vollziehung wachte, Pläne entwarf und sie allein aus-
führte; keine Mühe, keine Beschwerden scheute, ungeheure Summen
aufwandte und es nie an Versprechen und Belohnung fehlen liels, um
das Glück einer halben Million denkender Wesen zu sichern, die nun
ihm allein ihren Wohlstand und ihre gute Lage verdankend
Und gleich unmittelbar darauf brach Friedrichs Groll in hellen
Flammen aus. „ Wären Sie hier", schreibt er am 8. August desselben
Jahres von den litauischen königlichen Stutereien aus an Jordan,
„ wären Sie hier, ich Heise Ihnen die Wahl zwischen dem artigsten
litauischen Mädchen und der schönsten Stute von meiner Zucht. —
Ihre Ehrbarkeit ärgere sich hieran nicht, denn hier zu Lande ist ein
Mädchen nur dadurch von einer Stute unterschieden, dafs es auf zwei
und diese auf vier Fülsen geht.44
Die Landbewohner Ostpreulsens und Litauens zerfielen damals in
vier Stände: die Adligen und Amtmänner, die Kölmer oder Freibauern,
die Bauern oder Scharwerker und die Knechte. An der Spitze der
Landbevölkerung standen die wenigen Adligen und königlichen Amt-
männer, die zugleich Domänenpächter waren. Sie hatten ausgedehnten
Landbesitz, der von den gewöhnlichen Bauern, den Schar werkern , be-
arbeitet werden mulste. Jedes Dorf innerhalb eines Amtsbezirkes hatte
seinen zugewiesenen Landbezirk und seine bestimmten Arbeitstage, der
Amtmann schickte dann den Schulzen herum, wenn beispielsweise der
Roggenschnitt beginnen sollte. Dann machten sich die Dorfinsassen
zur bestimmten Stunde mit ihren Geräten auf und gingen in das
ihnen zugeordnete Feld. Nach beendigter Arbeit kehrten sie nach.
Hause zurück, um ihre eigene Feldarbeit zu thun. Die Scharwerker
hatten ihre kleinen Bauernhäuschen, und seit den 50er Jahren mussten
diese bei ihren Feldern liegen. Ein solcher Scharwerker hatte öfter
seine eigenen Knechte. Es ist uns die Scharwerkerkarte von Tolmin-
kemen aufbewahrt, die genau erkennen läfst, welchen Anteil die ein-
zelnen Dörfer an den Domänenfeldern zu bestellen hatten.
Zwischen Bauern und Adligen standen die Freibauern oder Kölmer,
nach dem Kulmer Recht benannt. Sie waren vom Schar werker dien st
befreit und bestellten ihre Güter mit Knechten. In Tolminkemen gab
es zur Zeit des Donalitius einen Amtmann und Domänenpächter, dessen
Domänen aber über das Dorf hinausgingen, etwa fünf Kölmer und
200 Scharwerker. Das Schar werkleben tritt uns lebhaft aus Donalitius
entgegen, wenn er (Sommer 136, Übersetzung von Passarge) singt:
Während sich Seimas also ereifert, da knarret die Thüre,
Und herein tritt Fritz, der allen willkommene Schulze.
Seht, so sprach er, sogleich den Befehl des Herrn verlesend,
Übermorgen, so heifst's, erscheinen die Bauern zum Scharwerk,
Um aus den Ställen des Herrn herauszuschaffen den Dünger.
Entwässerung des Moorbruchs. 45
Darum bringt mir alle die Wagen gehörig in Ordnung,
Und stellt zeitig euch ein mit Haken und Forken zum Laden.
Allen Bauern ist ja bekannt, wie viel ihnen obliegt,
Jeder kennt gut auch genau den ihm angewiesenen Morgen.
Ich auch werd' unter euch, so Gott will, wacker mich tummeln,
Werde nicht blofs, wenn den Dünger ihr streut, euch ehrlich bewachen,
Sondern auch lehren, wenn's Zeit, ihn zu laden und ab ihn zu fahren. —
Sieh, da versammelten sich die Scharwerksleute in Haufen.
üäner hier seinen Haken, die neue Forke ein andrer
Bringend, so sputeten sie sich alle, so rasch sie nur konnten.
Albas hatte mit Fleifs sich neue Leitern verfertigt,
Auch MertRchuks auf die Achse gestreift die kräftigen Bäder.
Beide klapperten dann mit den übrigen Leuten ins Scharwerk!
Aber die Knechte auch, die sich neue Sohlen geflochten,
Liefen eilig herbei, wetteifernd, wer wohl der erste.
Seit jener Zeit haben sich die Verhältnisse der Litauer sehr zum
besseren gewendet. Die Russenherrschaft im siebenjährigen Kriege, die
Aulhebung der Leibeigenschaft 1804, das Unglücksjahr 1807, die darauf
folgende freudige Erhebung und die Neugestaltung der politischen und
socialen Verhältnisse gingen an Litauen nicht spurlos vorüber. Die
Hebung des Volksschulwesens, die Verbesserung der Wege und Ver-
kehrsstrafsen brachte die abgelegenste Reichsprovinz dem grofsen
Yaterlande näher, und willig folgen die Litauer dem grofsen Wege des
Fortschrittes. •
Jetzt eben hat man wieder ein grofses Gebiet, „den Moorbruch"
am grolsen Friedrichsgraben, zur Ackerbaukolonisation ausersehen.
45 000 ha sollen entwässert und fruchtbar gemacht werden. Die Ansiedler
bekommen nach ihren Mitteln eine Fläche urbar gemachten Moores
mit Haus auf etwa 20 Jahre in Pacht. Die Kätnerstellen umfassen 3,
die Bauernstellen 15 ha (zu 18 Mark Pachtpreis für 1 ha). Zwischen
zwei zu bewirtschaftenden Flächen wird immer eine frei gelassen.
Der dritte Teil bleibt Grasland, Kartoffel-, Zwiebel- und Gemüse-
bau soll am lohnendsten sein. Die Gemeinde Gilge erntet jährlich
allein 60000 Kohlköpfe und führt sie im Herbst auf Kähnen nach
Labiau und Königsberg. Freilich mufs man sehr auf der Hut sein,
dafs das Wasser, wie im Spreewalde, die Niederung nicht überschwemmt
und die Ernte verschlingt. Die Zeiten des Schacktarps, des noch nicht
tragenden Eises, und die des Eisschmelzens, wenn die ganze Niederung
unter Wasser steht, sind hier am drückendsten. — Jene Moorfelder
bieten aufserdem ein gutes Brennmaterial. Die Urbarmachung der
Gegend soll dem kleinen und sparsamen litauischen Bauer Gelegenheit
zur Landerwerbung und zur Verbesserung seiner Lage bieten.
Manche haben von einer „litauischen Frage u gesprochen, die ist
aber längst gelöst. Wer glaubt wohl, die Litauer wollten in Europa
eine politische Rolle spielen?
Wollen sie ein eigenes Reich errichten? Etwa einen baltischen
Pufferstaat zwischen Slawen und Germanen ? Meines Wissens ist dieser
1
46 Die Litauer.
naheliegende Gedanke weder in einer Zeitung ausgesprochen worden 9
noch giebt es eine politische Fraktion dieser Anschauung.
Als der unpolitische Verein Byrute gegründet ward, mag der
Namengeber allerdings daran gedacht haben, Byrute werde aufs neue
einen Witold gebären. Der kriegerische, zum Tode geweihte Fürst war
aber nie ein Hort der Zukunft, eher seine Vorgänger mit ihren civili-
sierten Siedlern. Die ostpreufsischen Litauer stehen so zu ihrem König-
und zu Kaiser und Reich und haben dies bei Huldigungen in Berlin
und beim Besuche preußischer Könige in Litauen so oft in Lied und
Wort zum Ausdruck gebracht, dafs an eine politische Erhebung von
allgemeinem Gepräge gar nicht zu denken ist. Nun ist aufserdem dies
Bauern volk so entschieden praktisch, am Alten hängend und auf des
Hauses und Ackers Gedeihen und die eigene Wohlfahrt bedacht, dals
es für derartige politische Fragen weder Zeit noch Lust hat. Und wie
steht es mit den geistigen Führern? Man mufs da von dem Tages-
geschwätz mancherlei abziehen. Der Städter hält gern den Dörfler,
das sind ja fast alle Litauer, für niedriger stehend, für bauernstolz,
listig, verschlagen. Richter sind oft nicht gut auf die Litauer zu
sprechen eben wegen jener Eigenschaften. So sagt man auch den
Führern bald Beschränktheit und Naivetät, bald Geriebenheit und Ver-
schmitztheit nach, die hübsch hinter dem Busche hält. In welcher
Weise mit ihnen gewisse Zeitungen umspringen, geht daraus hervor,
dafs man über einen litauischen Reichstagskandidaten berichtete, er wäre
nach seinem Durchfall einstimmig zum Nachtwächter seines Heimats-
ortes ernannt worden und hätte die Wahl dankend angenommen.
Die litauischen Führer denken gar nicht an eigene Fürsten. Sind
die einen königstreu, so sind andere mehr demokratisch und halten
vom Wirken der Fürsten überhaupt nicht viel. Sie haben getrost
Witolds Bild als Zimmerschmuck und meinen: „Was hatte denn
sein ganzes gewaltiges, kriegerisches Streben für Zweck? Die ruhige
bürgerliche Entwickelung mit Entfaltung wirtschaftlicher und geistiger
Kraft in den Tagen Gedimins hätte uns weiter gebracht; aber Witold
mulste ja Krieg führen. u So geben auch diese den jetzigen Herrschern
vor allen anderen und weiteren die gröfste Ehre. Beim Donalitius-
fest in Lasdinehlen stimmten alle Litauer mit Freuden in den Gesang
deutschpatriotischer Lieder ein und riefen das Hoch auf Kaiser, König
und Reich.
Besteht ein politisches Band zwischen den preuf Bischen und
russischen Litauern? Nein. Die russische Grenze ist eine hohe
Schranke, selbst für den, „der über die Wiesen gehttf. Sie läfst nicht
viel mehr als privaten Verkehr zu. Ein Nationallitauer in Eydtkuhnen
sagte: „Was könnte uns mit den Litauern jenseit der Grenze verbinden,
wo die unwissendsten Menschen der Welt wohnen ?u So übertrieben
diese Redensart ist, so bezeugt sie doch die Kluft. Die l1/2 Millionen
russischen Litauer von Suwalki bis Petersburg, von Polangen bis Düna-
Die litauische Frage. 47
buirg beziehen ihre geistige Nahrung zum gröfsten Teil aus Preufsen,
seitdem man den Druck litauischer Bücher in nichtrussischen Lettern
▼erboten hat. Wohl sollen die in Russland unterdrückten Litauer
einmal dem preulsischen Könige ihre Unterth an Schaft angeboten haben.
Mir selbst sagte man scherzhaft in einer alten litauischen Hauptstadt
mit rot- schwarz -weilsen Schilderhäuschen: „Das bedeutet, wir werden
bald deutsch. tt Politisch ist Kussisch - Litauen kaum in Frage zu
ziehen, da ein selbständiges Vorgehen fehlt. Wie aber ist es, wenn
einzelne Führer scheinbar im Namen des Volkes Bundesgenossen suchen?
Etwa ein Ungarnbündnis — diesen Scherz hatte sich ein dea Litauern
feindliches Blatt geleistet.
Aber ein Bund mit den Polen? Ja, die Polen zögen die Litauer
gern in ihre Bewegung, und es giebt einige Priester Jen seit der Grenze,
die in diesem Sinne wirken mögen. Die polnischen Blätter lassen es
an Schmeichelei nicht fehlen. Da heilst es :
„Die Polen sind zwar dem sehnsüchtig melancholischen Bestreben
der Litauer geneigt, ihr nationales Element wieder aufzufrischen. Doch
dieses Zunicken dauert nur so lange, als die Litauer mit den Polen
gemeinsame Sache machen. Unglücklicherweise hat in der letzten Zeit
der Geist der Einigkeit und Freundschaft erkalten müssen, namentlich
da die Litauer an eine Abtrünnigkeit von den Polen denken, ohne zu
überlegen, data die Litauer den Polen ihr ganzes Dasein verdanken.
Die Polen haben den Litauern sogar ein dauerndes Monument gesetzt:
Mickiewicz, Kraszewski, Eondrotowicz sind unter den Polen Apostel für
das Litauertum gewesen. So ein Denkmal werden die Litauer sich
nie setzen können." — «Wir haben den Polen einen Goethe und Schiller
gegeben, die Litauer Mickiewicz und Kraszewski", sagte ein als Dichter
bekannter Bischof umgekehrt, und ein anderer fügt hinzu: „Natürlich
haben jene schön klingenden Worte gar keine Geltung in den Augen
der Litauer, denn die Litauer hatten schon damals, als noch kein
Vöglein von den Polen sang, eine gewisse Kultur erreicht. Aufserdem
verdanken die Polen den litauischen Jagelionen ihren politischen und
bürgerlichen Aufschwung — das gestehen selbst die Polen ein; die
besten geistigen Kräfte unter den Polen, auch die oben genannten
Koryphäen, sind Litauer gewesen, die polnisch schrieben. Somit fällt
alles, was Jene Zeitung flunkert, ins Wasser, und gegen die litauische
Geistlichkeit findet man in den litauischen Zeitungen keine Bespötte-
lungen und Verfolgungen wie in den polnischen. Daher ist dieser
Artikel als eine elende chauvinistische Täuschung der Leser anzusehen/
Anders wirbt ein anderes Polenblatt. Die polnischen Pane hätten
zwar das litauische Volk geschunden, aber jene seien ja litauischen, nicht
polnischen Blutes. Man wolle nicht polonisieren. Der Redakteur trank
sogar auf der Schriftstellerversammlung zu Krakau auf das Wohl
der neu erstandenen litauischen Nationalliteratur. Aber die Litauer
mülsten bei den Polen bleiben, diese seien die Kulturträger der Welt!
48 Die Litauer.
„Die Polen wollen die Litauer täuschen, mit leeren Behauptungen blenden
und honigsüfsen Versprechungen einlullen. u — Man sieht, polemisierende
Politiker finden keine Gegenliebe, die Gründe sind einfach. Die Polen
sind die Nationalfeinde der Litauer. Das baltische Volk hatte die
ältere Kultur. Aber die Polen haben ihm unter Jagiello, trotz aller
Heldenhaftigkeit Witolds, Selbständigkeit und Recht untergraben und
allmählich vernichtet, sie haben in den ersten beiden Teilungen an
erster Stelle litauische Provinzen ausgeliefert, sie sagen noch heute
unverhohlen: „Helft uns nur Polen aufrichten, dann gehört ihr hübsch
dazu, dürft euren evangelischen und griechischen Glauben sofort mit
dem katholischen vertauschen und euer baltisches Volkstum dem
unseren opfern. Ihr möchtet gern eure Muttersprache behalten? Nun,
Hülfe ist in dem Herrn!" Man kann sich denken, dafs das litauische
Volk lieber dem Wilnaer Gouverneur seine „8000 Rubel Gehalt -für
Vernichtung des litauischen Volkstums verzieh", als die Redensarten
seiner polnischen Bedrücker. „Die Polen begreifen nur das, was die
Wasser Litauens auf die Polenmühle fliefsen lassen", sagt man an-
gesichts der Worte einer Wochenschrift: „Alle Litauer, die sich von
den Polen separieren wollen, sind Wagehälse mit langen Ohren."
Darum giebt es kaum einen Nationallitauer, der ernsthaft mit Polen
paktieren und die Kastanien für den alten Erbfeind aus dem Feuer
holen möchte. Und wenn auch 1863 einige unruhige Köpfe am Auf-
stande teilnahmen: für den weit gefahrlicheren Bedrücker geschah es
kaum, es war der angeborene dunkle Freiheitstrieb, der überall seine
Anhänger hat; die polnischen Herren in den ehemaligen Königsstädten
Wilna und Kowno sorgen durch ihre Geringschätzung gegenüber den
litauischen Bauern schon dafür, dafs eine Freundschaft nicht auf-
kommt.
So haben die Litauer gar keine politischen Sondergelüste? Nein,
in Europa nicht, vielleicht aber für Amerika. Jedes litauischen Jüng-
lings Ideal ist Amerika. Man lese des litauischen Dichters Ketorakis
Novelle „Amerika im Dörrhaus tt, um diese Sehnsucht nachzuempfinden.
Hoch die Auswanderung! Und immer nach den Gebieten an den
canadischen Seeen! Dort giebt es zahlreiche Vereine, grofse Zeitungen,
eine reiche Literatur, da entstehen Dramen, Novellen und Gedichte und
dürfen gedruckt werden. Amerika ist das Ziel so vieler. Und ein
Litauer meinte: „Was würde man in Europa sagen, wenn eines Tages
aus dem Scholse des grofsen Völkergemisches in Südcanada ein neuer
Burenstaat inselhaft sich abgrenzte, ein Litauen in Amerika ohne die
Fehler und Mängel jenes alten Reiches, das Byrutes Sohn lenkte? Wohl
ohne König, vielleicht ein Territorium der Vereinigten Staaten, aber
doch ein Staat." Aber das sind ja ungefährliche Zukunftsträume, die
Deutschland kaum berühren. Selbst die alten Rufer im Streite haben
diese Frage nicht erwogen. Sie haben vielmehr immer nur die wissen-
und wirtschaftliche Hebung des Volkes erstrebt und dafür gesorgt.
Litauische Bestrebungen. 49
Daukantas, Wolontschewski, Juschkiewitsch, sie alle wollten nur Hebung
der Schulen, der Bildung, Verbesserung der Bodenkultur und Gewerbe.
Versagte die Schule, so stiftete man Privatschulen, genügte ihnen die
Kirche nicht, so vertiefte man den Geist in Gebet 8 Versammlungen , die
nirgends so zahlreich als in Ostpreulsisch - Litauen sind.
Es bleibt uns nun die Frage übrig: Was wollen denn die ost-
preulsischen Litauer Besonderes?
Sie haben nur ein einziges Verlangen: „Schont unsere Mutter-
sprache. tf Sie wollen nur, dats in den untersten Schulklassen litauischer
Gemeinden die Unterrichtssprache litauisch sein soll. Für die Religion
möchte man diese immer beibehalten, während die anderen Lehrgegen-
stände nach und nach in deutscher Sprache erteilt werden sollen.
Diese Forderung ist berechtigt Ihr sollte schon Rechnung getragen
werden, nachdem Friedrich Wilhelm IV. und Kaiser Friedrich III. so
warm für Litauen eintraten. Man ist längst darüber einig, dafs die
muttersprachlichen Mundarten in den Unterklassen die sprachliche
Grundlage bilden müssen, die sehr zu berücksichtigen ist. Wie viel
mehr erst eine fremde Muttersprache eines treuen Volkes! So wird
auch das Kind des Litauers eine viel gesichertere Grundlage in seiner
Bildung erhalten, wenn es anfänglich in der Sprache seiner Eltern
unterrichtet wird.
Die Menge des litauischen Volkes vertritt ihre Forderung mals-
voll. Sie geht bewufst allmählich im Deutschtum auf, bevorzugt
deutsche Namen und deutsche Bildung. Sie wufste sich eins mit dem
deutschen Bruder, als sie mit Ruhm für Friedrich den Grolsen, mit
Tapferkeit gegen Bonaparte, mit Auszeichnung bei Amiens gefochten.
In Liedern preist der Litauer seine Könige von Friedrichs I. Krönung
bis Wilhelms IL Thronbesteigung. Jahr für Jahr wird das litauische
Sprachgebiet kleiner und durchsetzter, das der Sprachgelehrte hegen
möchte wie der Nordamerikaner seinen Nationalpark. Die flexions-
reichste indogermanische Sprache, die noch lebt und ihre alten Formen
erhalten hat, ist zugleich in Sang und Sage der Träger ehrwürdiger
Stoffe und Anschauungen, wurzelnd in einer Zeit, da Germanen und
Romanen, Balten und Slawen eine einzige Familie bildeten.
m. Christian Donalitius und die litauische Literatur.
1. Donalitius und seine Nachfolger.
»
Christian Donalitius wurde am 1. Januar 1714 in Lasdinehlen
geboren.
Lasdinehlen bedeutet Ort im Haselgebüsch. Es ist ein kölmisches
Gut und hat gegenwärtig 7 Familien mit 44 Einwohnern; in des
Dichters ersten Jahren gehörte es zum Kirchspiel Gumbinnen und
wurde 1725 zu dem neugegründeten Szirgupönen geschlagen. Jetzt
Tetzner Die Slawen in Deutschland. 4
50 Die Litauer.
ist die Sprache des Ortes und der ganzen Gegend rein deutsch,
litauisch sind nur noch die Familiennamen: damals war es infolge
der Besiedelung nach der Pest halb deutsch, halb litauisch.
Ob des Donalitius Vater, der frühzeitig starb, ein Urlitauer oder
ein Eingewanderter war, ist kaum aufzuhellen. Der Name Donalitius,
der allein für des Dichters Eltern und Geschwister urkundlich aufrecht
zu erhalten ist, ergiebt sich als eine Latinisierung, und der Wort stamm
kann ebenso gut die lateinische Übersetzung eines deutschen Wortes
(„Schenk", vergl. Ml. donale, donalia), als der litauische Ausdruck für
Brötchen (donele, „ Brotmann u), sogar die Ableitung von einem englischen,
vielmehr keltischen, Namen sein. Im 1 7. Jahrhundert wanderten wieder-
holt aus Schottland und England Kaufleute und Händler in Ostpreufsen
ein, Kant stammt ja auch aus schottischem Geschlecht. So finden wir
in Westpreulsen 1640 einen Donalson, 1735 einen Doneelson (Altpr.
Mon. 1892, S. 29). Der Name Donalitius kommt nicht mehr vor, ein
ähnlicher, Donalies, ist heute wie damals nicht zu selten.
Nach der Lieblingsbeschäftigung der Söhne ist man geneigt an-
zunehmen, dals der Vater neben der Besorgung des kölmischen Gutes
sich mit mechanischen Arbeiten abgegeben habe; seine sieben Kinder
scheinen diesen Hang geerbt zu haben. Eine Bruderstochter Christians
zählt sie auf und nennt auch die Brüder: 1. Friedrich, Goldschmied
in Königsberg; 2. Michael, der das väterliche Gut erhielt und am
1. Mai 1757 in Tolminkemen „als ein Juwelier seiner Kunst" starb, und
3. Adam, Huf- und Waffenschmied in Jocunen. Und Bock sagt auf
S. 199 im ersten Teil seiner 1782 erschienenen preußischen Natur-
geschichte: „Die beyden Brüder Donaleitis, davon der eine als Prediger
zu Tolminkemen gestorben, der andere als Goldarbeiter und Juwelier
in Königsberg lebet, sind hier im Lande durch Verfertigung der sonder-
barsten musikalischen, aerometrischen , hydraulischen und anderer
physikalischen Instrumente, Uhren u. dergl. einem jeden bekannt."
Der Vater starb arm, die Mutter aber scheint auf die Erziehung
der Söhne viel gegeben zu haben. Christian besuchte die Kneip-
hof sehe Kathedralschule in Königsberg und scheint in einem damit
verbundenen Pauperhause Aufnahme gefunden zu haben, bevor er zum
theologischen Studium auf der Universität überging. Damals bestand
Königsberg aus drei Städten, deren eine der pregelumflossene vom
Ordensmeister Winrich von Kniprode gegründete Kneiphof war. Winrich
hatte die Schule 1381 nach dem Muster der Elbinger Stadtschule ein-
gerichtet (vergl. Erleutertes, Preufsen III, S. 352 bis 391, Königsberg
1726). Anfänglich sollen die Stadtkinder darin „allerley freye künste"
lernen und den Chorgesang üben. Die Pauperschüler und die Hälfte
der Präceptoren mufsten den Kirchengesang besorgen, die Leichen
begleiten u. s. w. Sie hatte eine Armenbibliothek, der beispielsweise
Simon Dach 1648 einen schönen zweibändigen Demosthenes stiftete;
ein gewisser Kuhn vermachte dem Pauperhaus 1767 die Summe von
Donalitius in Königsberg. 51
1190 fl. (Bock a. a. 0. I, S. 203). Die Pauperschüler speisten teil-
weise im Universitätskonvikt. Bock berichtet (I, S. 59): „In der
Communität speisen ordentlich auf Tischen 84, und also an jedem
Tische 12 Studenten Mittags und Abends, wobey noch bis 27 Knaben,
die bey den Tischen aufwarten, ihren vorläufigen Unterhalt finden und
dabey zur Schule gehalten werden, auch in den drei grotsen Stadt-
schulen den Unterricht unentgeltlich geniefsen." Die Bruderstochter
Christians berichtet noch, „dals er sich auf der Universität sehr
kümmerlich hat durchbringen müssen, wie er denn einmal vor Hunger
sogar niedergesunken ist". Aufser den Namen seiner Universitätslehrer
und seiner Mitgliedschaft am litauischen Seminar des Dr. Schulz wissen
wir von seinem Leben vor Antritt des Tolminkemer Pfarramts nur das,
was er selbst mitgeteilt hat.
Er wurde am 27. September 1736 als Christianus üonaleitis Gumbin.
Bornes, aus der Kathedralschule unter die akademischen Bürger auf-
genommen. 1679 war schon ein Insterburger Johannes Donalaitius,
1680 ein Michael Donalaitis, 1706 ein Insterburger Johann Donalitius,
1709 ein Ditlakener Chr. Alb. Donalitius, 1762 noch ein Königsberger
Chr. Friedr. Donaleitis und 1812 ein Wischwiller Fr. E. Leop. Donalitius
immatrikuliert. Die Studienjahre unseres Christian Donalitius fielen
also in die grolse Zeit, da Friedrich Wilhelm die Siedler ins Land zog.
Sie verwandelten die Einöden in blühende Gärten. Donalitius freilich
ist voll Gift und Galle gegen sie, die wohl auf die Litauer als Niedrig-
stehendere herabgesehen haben mögen. „Als sich das Litauervolk
mit dem deutschen mischte, da schwand auch, haben wir's doch gesehen,
Bescheidenheit, Sitte und Anstand/ (Sommer, 348.)
Dem wirtschaftlichen Aufschwünge ging ein geistiger nebenher.
Königsberg bleibt geweiht durch Kants Wirksamkeit. Der Philosoph
erblickte in der preulsischen Krönungsstadt 1724 am 22. April das
Licht der Welt und ist bekanntlich nicht aus dem nächsten Umkreise
seiner Vaterstadt herausgekommen. Er studierte hier und wurde 1755
Docent und 1770 Professor. Donalitius hat ihn kaum gekannt, aber
der geistige Einflufs, der von dem grotsen Weisen ausging, sickerte in
hundert und aber hundert Rinnsein in die Bildung seiner Zeitgenossen
ein. — Die Pflege des Litauischen erfreute sich besonderer Teilnahme.
In Königsberg selbst wirkten Schulz und Quandt, die zugleich Lehrer
des Donalitius waren. Der Oberhof prediger Dr. Quandt veranlagte den
ersten Druck einer litauischen Bibel 1735 und die verunglückte Neu-
ansgabe des litauischen Gesangbuches. Bisher war nur das Neue
Testament von Schustehrus 1701 ins Volk gekommen, die Chylinskische
Bibel (1659 bis 1662) war nur bis zum Hiob gedruckt worden. Gesang-
bücher hatten nach Moswid 1547 und Bretke 1589 herausgegeben
Sengstock 1612, Klein 1666, Richovius 1685, Schustehrus 1705, Behrendt
1732, Glaser 1736, dann Schimmelpfennig 1751, Ostermeyer 1785, Mielcke
1832, Keber 1832, Kurschat 1841, 1844, Glogau 1875, Kelch 1880.
4*
52 Die Litauer.
In der deutschen Literatur aber regten sich die Keime einer späteren
Prachtblüte, die Vorliebe für die Idylle und später für das Volkslied.
Die Jahreszeiten Thomsons wurden allgemein bewundert, der Königs-
berger Professor Werner, der Vater des Dichters Zacharias Werner,
besang in lateinischen Hexametern nach des englischen Dichters Vor-
gang den gleichen Stoff. Es bleibt noch zu untersuchen, wenn das
Gedicht noch vorhanden ist, ob und inwieweit Donalitius von Werner
abhängig ist. Im Übrigen hat freilich Donalitius von den Bewunderern
des Volksliedes nichts gewufst, die mit Ruhigs Veröffentlichung einiger
Dainos und mit Perceys englischer Volksliedersammlung erwuchsen
und in Bürger, Lessing, Herder und Goethe ihre Führer sahen. Auch
Herder, sein Landsmann, der 1 744 zu Mohningen geboren ward, scheint
ihm unbekannt geblieben zu sein. Dals Donalitius seinen älteren
Zeitgenossen Philipp Ruhig, Pfarrer in Walterkemen, einen Vorgänger
seines Freundes Jordan, gekannt hat, ist nicht unwahrscheinlich. Dieser
gehört zu den 62 litauischen Pfarrherren inPreufsen, die 1719 ihr Gut-
achten über den neuen Katechismus des Heinrich Lysius abgaben, an
der von Quandt veranlagten Bibelübersetzung und an verschiedenen
litauischen Gesangbuchsausgaben beteiligt waren, und ist als Verfasser
des ersten gröfseren litauischen Wörterbuches 1744 bis 1747 und
Veröffentlicher der ersten Dainos in deutscher Übersetzung bekannt.
Ruhig stammt aus Kattenau und wurde am 6. Oktober 1692 immatri-
kuliert. Neue Wörterbücher schrieben Mielcke 1800, Nesselmann 1851,
Kurschat 1870 und 1883. In letzter Linie, gehen diese litauischen
Veröffentlichungen auf den tüchtigen König Friedrich Wilhelm I. zurück;
der wie Herzog Albrecht für Litauen sorgte. Als Student wohnte
Donalitius mit seinem Studienfreunde Sperber zusammen, der vor ihm
und mit ihm als Präzentor in Tolminkemen wirkte. Jener wurde am
27. September 1736, Sperber am 15. Mai 1734 immatrikuliert. Beide
werden als arm bezeichnet, sie hausten im alten Collegium Albertinum,
Stube C. und speisten „wie arme Studenten" in der Kommunität.
Seine Studien dehnten sich nicht blofs auf die Gottesgelahrtheit, sondern
auch auf die Sprachen aus. Briefe an befreundete Pfarrer und sonstige
Notizen bestätigen dies. Im Scherz citiert er die „Hiade" (Äneide)
des Virgil, dessen Bukolika, den Vers des Ovid, dals der Wille zu loben
sei, wenn die Kräfte fehlen, und andere Stellen und Anklänge (Hesiod,
Theokrit) aus lateinischen und griechischen Klassikern, einmal auch
Geliert und deutsche Kirchenlieder. Die litauische Schriftsprache hatte
laich vor ihm auf kirchliche Schriften und Gesangbuch sverse beschränkt.
Unter Schulzens Anleitung widmete er sich der litauischen Sprache,
die er nach eigener Angabe besser zu reden als orthographisch zu
schreiben verstand. — Nach Beendigung seiner Studien finden wir ihn
1740 als Kantor, 1742 als Rektor in Stallupönen. Pfingsten 1742
wurde er als Pfarrer nach Tolminkemen berufen, er blieb aber aus Mit-
leid für die Schulkinder noch bis zum Spätsommer und trat, nach einer
Donalitius in Tolminkemen. 53
Prüfung, in Königsberg, am 24. November, sein Amt an. Am 11. Oktober
1744 vermählte er sich mit der Witwe seines Amts Vorgängers in
Stallupönen, Anna Regina geb. Ohlefant aus Goldap, einer Tochter des
Stadtrichters daselbst. Er blieb bis zu seinem Lebensende, am
18. Februar 1780, als treuer Hirt seiner Gemeinde in Tolminkemen,
obwohl er die Besoldung mittel mäfsig schlecht nennt.
Als die Bussen 1757 Ostpreufsen besetzten, floh er in die Romin-
tische Heide und verrichtete die Amtshandlungen in der Jagdbude.
Am Alexander-Newski-Fest soll er in der Kirche gesagt haben, ihm sei
von der russischen Obrigkeit befohlen worden, über Alexander Newski
zu predigen. Der sei gewifs ein guter Mann gewesen, aber Donalitius
kenne ihn nicht und wolle darum lieber über 2. Tim. 4, 14 sprechen:
„Alexander, der Schmied, hat mir viel Böses erwiesen, der Herr bezahle
ihm nach seinen Werken, vor welchem hüte du dich auch, denn er hat
unseren Worten sehr widerstanden. a — Das Ende seines Lebens wurde
ihm durch den Streit mit dem Tolminkemischen Amt wegen der Feld-
separation sehr verbittert.
Es ist wünschenswert, dafs Donalitius seinen Platz in der deutschen
Literaturgeschichte bekommt. Er hat in Deutschland Zeit seines Lebens
geweilt und deutschen Boden und deutsche Staatsangehörige in seinen
Gedichten behandelt, ganz abgesehen davon, dats er deutsch gepredigt»
deutsch gedichtet und deutsche Prosa geschrieben hat. Von litauischen
Dichtungen sind sechs Fabeln, eine poetische- Erzählung und vier
Idyllen aufbewahrt; der Sprachfertigkeit nach ist dies wohl auch die
zeitliche Reihenfolge. Sämtliche Gedichte sind in Hexametern ge-
schrieben, dies ist bemerkenswert. Donalitius hatte in seinem Volke
gar keine Vorgänger, er schuf die dichterische Form, die vorher kein
neues Kulturvolk nachgeahmt hatte, die Form Virgils, neu *).
*) Inhalt der Werke des Dichters. Deutsche Werke: Kleine deutsche
Gedichte, 1. „Unschuld sei mein ganzes Leben" (1774). 2. „Der Gott der
Finsternis, der abgefeimte Teufel erbauet gern den Thor durch eingehauchte
Zweifel und dieser ranzt sogleich den Unflat in ein Buch zum Leid der
Redlichen und seinem eigenen Fluch etc." (1775). 3. „Ihr Schatten schneller
Zeit, ihr leicht beschwingten Stunden." (An den Amtsrat Donalitus, nach
dem Verlust seiner Gattin.) 4. „Allerley zuverlässige Nachrichten" (1773 bis
1779). Autobiographische und amtliche Nachrichten. Darin u. a.: Diese
Verordnung (Separation) habe auf Ersuchen der k. k. und D. Camer in
Gumbinnen den Litauern zugut ins Litauische übersetzt. — Felix parochia,
ubi nulla regia via, felicior illa, ubi nulla regia villa; sed felicissima ista,
ubi nullus Nobilita; — experto crede Buperto. — Kann wohl ein Prediger,
der allenthalben ein Exempel sein soll, Karten spielen, NB. um Geld , tanzen
und leichtsinnig sein? — Mein Temperament war natürlich munter, und
ich konnte auf meinem Forte -Piano und Flügel singen und spielen. — Um
nicht skandalös zu leben, habe ich oftmals Simsons Kraft annehmen müssen ;
— wenn mein Succ. eine entsetzliche Hitze im Geblüt besitzt und sich nicht
mäfsigen kann, so prophezeie ich ihm, dafs er in Tolm. eine Fischbrücke
(wie in Königsberg, in deren Nähe die Fischweiber sitzen) erleben wird, wo
54 Die Litauer.
Die ersten Gesänge des Messias wurden 1748, also später ver-
öffentlicht, als Donalitius zu dichten begann. Die vier Idyllen sind
vollständig von den „Seasons" Thomsons verschieden. Thomsons
Jahreszeiten waren 1726 bis 1730 erschienen, so da£s Donalitius
als Student gewils davon gehört hat. Thomson aber ergeht sich
fast nur in handlungslosen Naturschilderungen; wenn man bei Dona-
litius die Schilderung der beschneiten Bäume und der Vögel im
Lenz vergleicht, so ersieht man am besten die Art der unabhängigen
verwandten Dichtweise. Kleists „Frühling", der 1749 erschien, ist weit
von der realistischen Behandlungsweise unseres litauischen Dichters
entfernt.
Die Fabeln sind selbständig geschaffen, sie haben verwandte Züge
in den litauischen Yolksfabeln und im Äsop. Nach Sitte damaliger Zeit
fügt er eine Nutzanwendung hinzu, die besonders breit ist und beinahe
man sich einander zum schändlichen Spektacul an die Köpfe fafst und sich,
herumrauft. — Der ganze Acheron find sich an zu bewegen (Amtmann
Buhigs Verlangen nach Separation von der Gemeinde 1775) und der Beelzebub,
der oberste Teufel, gab sich als Präsident in diesem Spiele an. Ich mufste,
wie der kleine David, mit meiner Schleuder herumschmeifsen und endlich
nach Berlin gehen, um Bettung bitten und Gewalt schrein. — (Abdruck der
deutschen Schriften, Tetzner, Unsere Dichter, V.) Aufser zahlreichen kultur-
geschichtlich interessanten Notizen in den Kirchenbüchern sind noch ein
litauischer und ein deutscher Brief in Prosa mit litauischen Versen erhalten
geblieben, im letzteren erwähnt er seine Lieder und Compositionen „die
Freundschaft Davids und Jonathans, die Wirtschaft der ersten Menschen,
Glück und Unglück" (verloren), er berichtet von einer kleinen Gesellschaft
in seinem Hause unter Amtsgenossen, in der jene Lieder und aus seinen erhal-
tenen Werken vorgetragen wurden. Durch viele mechanische Arbeit (Garten-
bau, Obstveredelung, Klavierbau, Barometeranfertigung) sei seine Hand un-
geschickt geworden. Er schwelgt in Citaten aus dem klassischen Altertum
und rät, ordentlich das Litauische zu pflegen und nur an eine litauische
Gemeinde als Pfarrer zu gehen.
Litauische Werke: 1. Das Gastmahl des Fuchses und des Storches
(der Fuchs läfst den Storch ein, bewirtet ihn schäbig und mufs dann später
das Gleiche vom Storch ruhig hinnehmen). 2. Der Köter auf dem Jahrmarkt
(denkt, da ist alles umsonst und wird schändlich zerschlagen, nachdem er
Miene gemacht, nur etwas Leder zu nehmen). 3. Der Hund Dickkopf (das
Schäflein mufs ihm die Wolle vom Leibe geben, weil Wolf, Fuchs und
Habicht fälschlich beschwören, das Schaf Vater habe noch drei Scheffel
Hochzeitsgrütze dem Hund zurückzugeben). 4. Fabel vom Mistkäfer (der
Mistkäfer wird seiner unreinen Nahrung wegen von den übrigen Käfern ge-
scholten, meint aber, er sei kein Schadenstifter, wie diese). 5. Der Wolf als
Bichter (tötet das Zicklein, das ihm das Wasser getrübt haben soll). 6. Der
Eichbaum als Prahlhans (gegenüber den anderen Bäumen, wird vom Sturm
geknickt). 7. Der Schulze Fritz erzählt von einer litauischen Hochzeit (vgl.
S. 81 f.; später stückweise in den „Herbst" eingewebt). 8. Die Gaben des
Herbstes. 9. Die Sorgen des Winters. 10. Die Freuden des Frühlings. 11. Die
Arbeiten des Sommers. (Die letzten vier Idyllen schildern die Natur in den
vier Jahreszeiten und die ländlichen Arbeiten und Feste der litauischen
Scharwerker mit scharfer Charakterisierung des Schulzen, des Amtmanns,
Wachtmeisters, der einzelnen Bauern, der Weiber, der Salzburger u. s. w.)
Dichtweise des Donalitius 55
den Anschein giebt, als habe er diese Fabeln als Teile von Predigten
▼erwandt; vielleicht hat er sie auch für seine Stallupöner Schüler
gedichtet, doch weist der Inhalt eher auf Erwachsene hin. Vom
schwedischen Dichter TegneV ist es ja bekannt, dals er öfter gereimte
Predigten in der Kirche vortrug, und auch in Deutschland kam
es vor, dals Pastoren nicht blols Thema und Teile, sondern auch
ganze Predigtstücke in Versen von der Kanzel verkündigten. Den
Höhepunkt seiner Kunst zeigen die Idyllen und von diesen der zuerst
gedichtete Herbst. Den Inhalt bilden die täglichen Beschäftigungen
der Schar werker, die Feste und Bräuche seiner Volksgenossen. Eine
bestimmte Handlung fehlt dem Ganzen, also auch eine Reihenfolge,
oder ein organischer Zusammenhang, und die Zusammenstellung Rhesas,
der, mit dem Frühling beginnend, das Ganze als „Jahr" herausgab,
war willkürlich oder lehnte sich an ein verlorenes "Werk des Dona-
litius an; Pisanski (f 1790) berichtet nämlich, Christian Donalitius
habe in einem nachher auch in das Deutsche übersetzten Gedichte von
659 Versen in ungereimten Hexametern die vier Jahreszeiten besungen.
Im grossen wie im kleinen müssen wir also von der Hauptforderung an
ein Kunstwerk, Einheit und Fortschritt der Handlung und Gruppierung
um einzelne Personen, absehen. Der freischaffende, ohne Vorbild
dichtende Meister hatte aber auch nicht Literarhistoriker vor Augen, als
er schrieb. Er dichtete für seine Freunde, die Gefallen am „Fritz"
gefunden hatten, und hat sich nie um die Veröffentlichung gekümmert.
Man hat seine Kunst mit der eines Chodowiecki, Hans Sebald
Beham und Jan Steen verglichen. Jedenfalls hat die nachtigall-
durchtönte Romintische Heide und die scharwerkende litauische Be-
völkerung keinen bedeutenderen Sänger gehabt. Freunde seiner Dich-
tungen weihten ihm am 8. April 1896 einen einfachen Denkstein in
seinem Geburtsorte.
Zu den bekannteren litauischen Dichtern und Schriftstellern gehören
WoloDtschewski(1801 bis 1875), Daukantas (1793 bis 1864), die Brüder
Juschkie witsch , Guschutis, Baranowski (lebt in Suwalki), Wileischis
(lebt in St Petersburg), Baß ana witsch (lebt in Bulgarien), Schliupas
(lebt in Amerika), Jankus (lebt in Bitehnen) und Sauerwein, Jener
neue Mezzofanti, der in 40 Sprachen dichtet. Die Dramen behandeln
meist Stoffe aus der litauischen Geschichte, so den Sieg bei Tannen-
berg, die Eroberung Kownos, Keistut u. a. Sie wurden in Tilsit und
in Amerika wiederholt aufgeführt. Die Lyrik, Epik und Novellistik
stellt sich auch in den Dienst der nationalen Sache, neuerdings aber
weit mehr in den der wirtschaftlichen und sittlichen Hebung. Da
hier nicht der Ort und Baum vorhanden ist, den Inhalt der litauischen
Lieder in seiner grofsen Mannigfaltigkeit zu erschöpfen und die eigen-
tümlichen Melodieen zu charakterisieren, weise ich auf das Werkchen
„Dainos" (Nr. 3694 der Reclamscheu Universalbibliothek) hin, und will
nur kurz die Hauptstoffe andeuten.
B-S?S
"-?
1= *
IN
Mi
s a s
s-l P
rt
? 5
Inhalt der Dainos. 57
2. Dainos.
Die Dainos spiegeln das äulserliche und das Seelenleben eines
Landvolkes wieder, mit all den kleinen Leiden und Freuden des ein*
fachen, grofsstadtfremden Menschen, ohne die gewaltigen Seelenkämpfe
grofser Naturen, ohne die Geschickes wirrungen und vielfädigen Ver-
wickelungen der Kultur- oder Romanmenschen. Diese Klarheit und
Durchsichtigkeit bestimmt wohl auch hervorragende Forscher, diese
Volkspoesie „im ganzen inhaltlich unbedeutend" zu nennen. Freilich
werden keine gewaltigen und spannenden Probleme gelöst, wenn des
„Flachses Qual" vom Säen bis zum Tragen des Hemdes, oder die täg-
liche Haus- und Feldarbeit des Bauern (Donalitius) oder Abschied und
Wiederkunft den Inhalt des Liedes bilden. Schillersche Ideendich-
tungen und Faustsche Lebensfragen sind dem Volke so fremd wie
Sudermannsche Ehrenfragen und Nietzschesche Umwertungen. Aber
gerade diese Stoffbeschränktheit und die Enge des Gesichtskreises
sammelt alle Strahlen des Lebens; kleine, leuchtende Gemälde voll Lieb-
reiz und Zauber entstehen und erfüllen den singenden Bauernburschen
und das trällernde Landmädchen mit eigenster Seelenstimmung.
Der preulsisch-litauische Jüngling fühlt sich als preußischer Soldat.
Die Deutschherrenkämpfe sind vergessen, die Kriege mit Ungarn und
Kosaken von der Gegenwart verdunkelt, die Kämpfe mit den Franzosen
seit Friedrich H. bis auf Wilhelm I. aber hallen in einer ganzen Anzahl
von Soldatengesängen wieder; mitunter ist der Mangel an Initiative
eigentümlich !
Der Franzosenkaiser ist ein Räuberfürst,
Doch der Preufsenkönig ist ein Kriegesheld.
Der Franzosenkaiser prahlt bei seinem Heer :
In den Grund zerhauen werden wir sie all.
Doch der Preufsenkönig spricht zu seinem Heer:
Gott nur mag entscheiden, wem das Glück gehört. (!)
Der kurze abgerissene Ton ist genau der der deutschen Volks-
lieder. Die Übergänge und Zwischensätze sind vermieden. Die Ant-
wort folgt der Frage ohne Nennung der Redenden, oder die Frage fehlt
ganz, und die Antwort wird nur angedeutet. Andererseits werden
blofse Anzeigen episch ausgeführt: das Rofs wird gefragt und giebt
Antwort. „Die Sonne spricht u, während die menschliche Rede ohne
Angabe des Sprechenden aufgeführt wird. Schmückende Beiwörter
sind ständig, so die weifse Hand, die „hoheu oder „neue" Klete, das
braune Röfslein, der bunte Brief, die helle Wand, die grüne Eiche, das
liebe Mütterchen. Die Koseformen sind viel zahlreicher wie beim deut-
schen Volkslied und wirken in der Übersetzung nicht immer schön:
Gottchen, Köpfchen. Der Soldat ist ja in seiner Sprache sehr zu
Verkleinerungsformen geneigt, er sagt Trittchen (Stiefel), Klüftchen
58 Die Litauer.
(Anzug), Kistchen (Bett, Koffer) u. s. f. Aber die Verkleiner uDgssilben
sind in allen litauischen Liedern typisch.
Aus einzelnen Dainos klingt der Dienst wieder, die Freude, des
Königs Rock zu tragen, auf Wache zu ziehen, Flinte zu putzen, nament-
lich das Sitzen zu Rofe. Denn Litauer und Litauerinnen sind vorzüg-
liche Reiter. Der auch in deutschen Minneliedern auftretende Gedanke«
dals der Vogel Bote ist, kommt wiederholt vor. Wie die weitsen Vögel
der Gudrun Botschaft bringen, erscheinen hier waschenden Litauerinnen
Schwäne oder in Menschen verwandelte Schwäne, Kunde zu geben.
Die Tierfabel ist der einzige epische Stoff, der uns öfters in den
Dainos begegnet. Falsch aber wäre es, aus diesem Grunde auf eine
Einwanderung aus Asien hinzuweisen, wie dies gethan worden ist.
Wer je unter Landleuten gelebt hat, weils, dafs das Verhältnis zu
den Tieren naturgemäfs ein viel vertraulicheres ist, als der Kultur-
mensch denkt. Der Landmann redet mit den Tieren wie mit ver-
ständigen Wesen und legt ihnen seine Gefühle und Denkkraft bei.
Der Vater erzieht das Söhnlein auf seinem Höfchen und freut
sich darauf, es bald mehr lehren zu können. Knabe und Mädchen
wachsen im Hause auf, geraten wohl auch einmal in Nachbars
Garten und werden eingeschlossen, weil ihnen die Birnen zu verlockend
waren. Goethes Bemerkung (Rhesa-Kritik) vom Fehlen solcher Lieder
trifft nicht zu.
Die Kleinen schaffen dem älteren Bruder das Essen aufs Feld.
Wenn der Knabe nur erst gröfser ist, meint der Vater, will ich ihm
ein braunes Röfslein, seidene Zäume, silberne Steigbügel und goldene
Sporen geben, dafs er prächtig ausgerüstet ist.
An Silber, Gold und Seide sind die Dainos reich, im Gegensatz zur
Wirklichkeit; man dachte an den bekannten Reichtum der Edelinge, als
Wunschhort. Häufig ist das Jauchzen am Schlüsse: Fadurileli, Fale-
raleraleralerilosch, und der ständige Vergleich mit Blumen und Bäumen.
Der Bruder, das Söhnlein ist immer ein zartes Kleecben, eine Eber-
raute oder Eiche, oder eine Päonie; der Vater eine Eiche, das Mädchen
eine zarte Lilie, liebe Nelke, oder Rose; die bekümmerte Frau eine
welke Melisse oder Minze; der unglückliche Mann eine graue Weide.
Verstorbene oder ferne Geliebte oder Verwandte zeigen sich in Blumen
oder Vögel verwandelt. Aus den Gräbern wachsen die Blumen her-
vor, mit denen man die Lebenden verglich. Der Rautenkranz ist das
Zeichen der Jungfrau, das Flachsfeld das Gebiet des Weibes, wie der
Saatacker das des Mannes.
Das Mädchen schaltet nun im Hause, am Webstuhl, in der hohen
Klete, und mit der Harke im Garten. Der Bursche zieht zu den
Soldaten und trägt der Geliebten Ring am Mittelfinger. Auf das
Mädchen übt der Soldat auch in Litauen einen ganz anderen Eindruck
als der gewöhnliche Bursche, selbst wenn letzterer, wie dies häufig der
Fall ist, lieber in der Stadt ein feiner Herr geworden und nicht litaui-
Dainos: Liebesleben. 59
scher Bauer geblieben ist. Beim Heere zeichnet sich der (Bursche als
tüchtiger Reiter aus.
Die Soldatenlieder haben alle die zarten und alle die kräftigen
Töne wie die deutschen; sie sind aber doch weicher. Der Bursche
weint und möchte am liebsten zu Hause bleiben; nicht etwa aus Feig-
heit, wie man fälschlich gemeint hat. Heimgekehrt, dient der Bursche
seinem Yater weiter, oder er arbeitet auf dem Hofe eines anderen und
verdient dabei, wie weiland Jakob, erst die Güter (Huhn, Ente, Gans,
Schaf, Schwein, Ochs, Pferd, Kuh), bis er in zehn Jahren die Tochter
zur Frau erhält. Ein Bursche klagt darüber, dafs er des Vaters Hof
«inst nicht erben kann, und in einem alten Yolksliede aus der Zeit der
Leibeigenschaft grämen sich Bursche und Mädchen, dats sie vom
Yater nicht losgekauft werden.
In zartesten Farben ist das Liebesleben geschildert, wenn sich ver-
einzelt auch herzlose Gedanken hineindrängen. Die liebste Nelke, das
liebe Gartenblümchen mit goldenen Eimern und silbernen Tragen soll
nicht dem Wunsche ihres Herzens folgen, sondern eine Geldheirat
flchliefsen, aber das Mädchen grämt sich so darüber, dals es frühzeitig
stirbt.
Dort steht ein Mädchen am Herdfeuer und denkt des treulosen
Geliebten, der Ton ist so zart wie das Lied Mörickes ; und in Ghamissos
Frauenliebe und -Leben finden sich zahlreiche Gedanken aus den Dainos.
Die auch von Schiller dichterisch verklärte Ausrede der Tochter gegen-
über der Mutter, dals der Wind die Thür bewegt und der Rautenkranz
beim Wasserholen vom Nebel befeuchtet worden sei, kehrt in mehreren
Liedern wieder, die immer damit enden, dafs das Mädchen zugiebt,
beim Geliebten gewesen zu sein. Eine solche Daina ward auch von
Lessing veröffentlicht, bei ihm hat sie Schiller gelesen.
Ein kecker Bursche ruft: Ich heirate dich, wenn ich keine
Schönere finde; ein zurückgewiesener Schuldenmacher wünscht dem
Mädchen, dafs es sitzen bleibe. Mit Stolz bekennt die eine, sie habe
300 Freier aus Danzig, Küstrin, Memel, Königsberg; aber wer käme
ihrem einzig Geliebten gleich, der hell und klaren Blickes wie ein
prächtiges Bild dastehe, „ tritt den Boden er, nach Dukaten klingt's tt.
Das Leben ohne den Liebsten ist wie Weberarbeit ohne Weberschiffchen,
wie Mäherarbeit ohne den Wetzstein. Der Geliebte kann den Tod der
Braut nicht glauben, trotzdem sie eingesargt und auf den Friedhof
geschafft und eingesenkt wird; erst als man ihr die letzte Hand voll
Erde giebt, glaubt er's und möchte sich mit dem Schwerte den Kopf
abschlagen. Das Mädchen, das leichtsinnig Ring und Rautenkranz hin-
gegeben hat, vertrinkt ihren Kummer und beweint die verlorene Jugend.
Der ins Wasser gefallene oder vom Winde entführte Rautenkranz
{vergl. Baumbach) ist des öfteren der Gegenstand der litauischen Volks-
dichtung, und der Liebste, der ihn holen will, ertrinkt, wie im deutschen
Yolksliede. Vereinzelt erinnert die Aufforderung zur Rückholung des
60 Die Litauer.
Kranzes an Sigunes Aufgabe an Tschionatulander , das Gürtelband
zurückzuholen. „Das Wasser war viel zu tief" ist der Grundgedanke
jener Daina, die an das Lied von den Königskindern mahnt. Das tiefste
Wasser heilst litauisch Dunajus, damit ist eigentlich die Donau gemeint;
merkwürdig bleibt es, dafs die gröfste Zahl der Ströme auf der Völker-
strafse von Asien her in der Stammsilbe übereinstimmt, der asiatische
Tanais (Oxus); der Don und sein Neben fluls, der Donez; der Tanaster
(Dniester), der Tanapris (Dniepr), die Donau, die Düna; aber auch
damit ist nicht die Einwanderung der Litauer von Asien her erwiesen.
Auch die polnischen Volkslieder nennen als Hauptstrom die Donau.
Der alte Freier wird mit dem Dornstrauch verglichen, dem Tannen-
und Fichtennadeln unters Haupt gehören, wie auch ein lettisches Volks-
lied meint. Er wird vom Mädchen verhöhnt, seine Spur mit dem Besen
verwischt, es will zum einzig Geliebten sich legen, wie die Lilie neben
den Majoran. Ein Mädchen harkt, weint mehr, als sie harkt; die
Mutter ist ihr gestorben. Ein Knabe kommt, dem klagt sie ihr Leid.
„Wir sind zwei Waisen u, ruft der Jüngling, „auch mir starb die Mutter. tt
Da reichen sie sich die Hände für's Leben.
Rührend sind die zarten Weisen, welche die Jungfrau beim Gedanken
an den Liebsten erklingen läfst; wiederholt begegnen uns die Bilder,
die Rückert in dem Liede „Ich kann nicht sitzen, ich kann nicht
spinnen u entworfen hat, und wenn sie an den Abschied von Vaters
Haus und Hof, Garten und Wald sinnt, erschallt so wehmütig ihre
letzte Weise an den Rauten garten und an das Weberschiffchen. Wenn
Schiller der Jungfrau von Orleans ähnliche Töne in den Mund legt, so
will ich nicht die Entlehnung andeuten, wohl aber , dafs die einfachsten
inneren Gefühle aller Zeiten und Völker dieselben sind.
Zahlreiche Lieder besingen den Rautenkranz, der das Zeichen der
Jungfrau ist, wie blühende Kornähren am Hute und die Sporen das
Zeichen des Jünglings. Der Rautenkranz wird treu gehütet und ist
dem rechten Mädchen nicht um Geld und Gut feil. Geht es aber durch's
Flachsfeld und der Rautenkranz fällt herab, so gilt dies als Zeichen
baldiger Heirat, dann liegt der Frau die Pflege jenes Feldes ob, wie
dem Manne die des Getreideackers. Bei der Hochzeit erklingen wie
auch bei den Slawen Brautkranzlieder, in die sich nicht selten der
deutsche Kehrreim mischt: „Schöner, grüner Jungfernkranz. u Bei
der Heirat bekommt der Bursche den Rautenkranz, dann verwelkt er
am Holzhaken in der Klete.
Auch die zahlreichen Rätsellieder gedenken der Raute. So heilst
es in einem: „Was grünt Sommer und Winter durch? Die Raute
im Garten, die Tanne im Wald. — Was ist leichter als Flaumfeder?
Des Liebchens Hand, die meine Schulter drückt. Was ist schwerer
wie Stein? Des Witwers Hand, die meine Schulter drückt.14 — Danach
ist wohl das schöne Lied von Rhesa gedichtet, das der Kunstpoesie
angehört:
Dainos: Eheleben. 61
Als mich Mütterchen jüngst schalt,
Sprach sie: geh hinaus zum Wald,
Hole mir bei Wohl und Weh
Wintermai und Sommerschnee.
Irrend sucht ich auf den Höhn,
In den Thälern, an den Seen;
Frommer Hirte, sag mir an,
Wo ich beides finden kann; u. s. f.
(Tetzner, Dainos, S. 32.)
Der Hirt erbittet Liebe und den Ring zum Pfände für seinen
Rat und erhält beides. Nun bringt das Mädchen der Mutter beides:
Tannenreis und Wellenschaum, denn ,, Tannengrün ist Wintermai,
Wellenschaum ist Sommerschnee u. Rätsel und Mären bilden den
Unterhaltungsstoff der Rockenstuben, bis der Bräutigam zum Mädchen
zur Hochzeit kommt.
Nun zieht die junge Frau in das Heim des Mannes, oft weit weg,
übers Haff- Die Stimmung in den Dainos, die das Leben nach der
Hochzeit behandeln, nimmt ein anderes Gepräge an. Dem Litauer ist
der Heimathof der Wunschort der Dainos, die Fremde ist ihm das
„ Elend" im Sinne der alten Deutschen. Der beklagenswerten Waise
sind darum Sonne, Mond und Sterne Eltern und Brüder; und die
anglückliche Frau wendet sich mit ihrer Klage an Wetter und Wind
und wandernde Sterne und Vögel. Bursch und Mädchen werden bleich
und grau. Der Mann freilich ist stark im Besitze seines neuen Eigen-
hofes, er pflegt sein braunes RöTslein mit „reinem Hafer", zieht bei
Lerchensang mit „ goldenem ** Pflug hinaus, das Brachfeld zu pflügen,
oder geht auf die Jagd, um wilde Tauben und Häher zu schieisen;
aber das eheliche Leben selbst erfreut sich nicht der Gunst des Liedes.
Das ist aber in allen Literaturen so, die Brautzeit ist die Poesie, das
Eheleben die Prosa. Erst eine höhere Lebensauffassung Endet das
Zusammenleben zwischen Mann und Frau der dichterischen Verherr-
lichung würdig; das Volkslied kaum. Da sitzt die junge Frau zu
Hause und wird scheel von den Schwägerinnen und der Schwieger-
mutter angesehen. Wie hat sie in dem Vaterhause mit Majoran alles
so schön rein gefegt und die Gläser mit Seife blitzblank geputzt; jetzt
wäscht sie mit Thränen. Der Mann ist kaum von der Feldarbeit
zurückgekehrt, so geht er auch schon zur Schenkin ins Wirtshaus
und wird der Gattin untreu, sitzt den ganzen Abend beim Alus und
läfst sein Weib vergeblich warten. Das harrt und grämt sich und
bittet die Winde, der lieben Mutter Botschaft zu bringen. „Wenn ich
ein Vögiein war, um zur Mutter fliegen zu können !a Sie weifs, die
schöne Zeit der Liebe ist vorbei, und Laima sendet keinen Sonnenstrahl
mehr. Der Gatte schlägt die Frau, und die Anverwandten helfen ihr
nicht, Vater, Mutter und Schwester rufen vielmehr dem Manne zu :
„Schilt nur, schlag nur", wenn nicht der starke Bruder mit dem
Schwerte den Schwager zur Ruhe und Ordnung verweist. Das Trinken
62 Die Litauer.
soll schuld an allem sein, denn seit sich Hopfen und Gerste verbanden
wie Schwester und Bräutigam, giebt's in der Welt Zank und Streit.
Das Mädchen, dem nicht geholfen werden kann, sehnt sich nach dem
Grabe oder — nach der Schenke. Es wäre nun freilich verkehrt und
der Wirklichkeit gar nicht entsprechend, wenn man diese Anschauung
der Dainos als allgemein vorkommend und der Regel entsprechend hielte ;
die vereinzelten Vorkommnisse eignen sich aber der dramatischen
Verknüpfung wegen und weil sie das Gemüt ergreifen, eher zu dichte-
rischer Darstellung als das traute, ruhig dahinfliegende Familienleben;
sie erregen auch die Aufmerksamkeit und Beachtung der Hörer eher,
und es gewährt einem so weichen Volke, wie dem der Litauer, Genug-
thuung, die Rolle des Gekränkten zu spielen. Merkwürdig ist es
übrigens, dafs gerade das Lied vom Schelten und Schlagen, das in
ähnlicher Fassung auch bei den Sorben und Polen wiederkehrt, bei der
Hochzeitsfeier dann gesungen wird, wenn es am lustigsten zugeht, so
dats das Ganze nicht viel mehr als Scherz ist. Jene Stoffe aber für
bare Münze und alltäglich zahlreich vorkommende Thatsachen zu
nehmen, wäre genau dasselbe, als wenn man das Leben eines Volkes
in den Berichten von Gerichtsverhandlungen oder in Sudermannschen
und Ibsenschen Dramen dargestellt glaubt.
Des Lebens Einerlei verrinnt unter Leid und Freud, Krankheit und
Todesfällen. Das Litauer volk hat eine Menge von Totenliedern. An
der Bahre ertönen diese eigenartigen Raudos, deren Inhalt von einer
seltenen Gemütstiefe Zeugnis ablegt.
Einer Eigentümlichkeit der Dainos mufs noch gedacht werden,
das sind im Gegensatze zum deutschen Volksliede die zahlreichen
Pflanzen- und Tiernamen und die Ortsangaben. Wir hören da die
Städtenamen: Tilsit, Memel, Küstrin, Königsberg, Danzig, Berlin, RigaT
Moskau, Grodno, Kowno. Die Donau und der Niemen, das Haff und das
Meer, der Dünensand und heimatliche Berge bilden den Schauplatz
der Handlungen. Holunder und Wacholder, Ahorn, Fichte, Tanne,
Linde, Eiche, Faulbaum, Kirsch- und Apfelbaum, sogar die Olive zieren
die Orte. Rose, Lilie, Nelke, Päonie blühen im Garten und bieten
Vergleiche mit Gärtner und Gärtnerin. Was stark duftet und rot und
weils gefärbt ist, erfreut sich besonderen Wohlwollens, wie Melisse,
Raute, Krauseminze, Thymian, Lavendel, Klee, Eberraute, Majoran.
Es fehlen auch nicht die Nutzgewächse Roggen, Gerste, Hafer, Hopfen,
Flachs, Heidelbeeren und das giftige Bilsenkraut. Bei vielen Bäumen
und Pflanzen mögen sich religiöse oder medizinische Erinnerungen an-
knüpfen, wie nicht minder an das Wald vögelein , die Schwäne, den
Kuckuck, den Storch.
Wie der Pole das „Dreikraut" , so kennt der Litauer ein sagen-
haftes Pflänzlein, das nur an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten
(zu Johanni) gefunden wird. Auch auf die neunerlei Kräuter des
Johannisstrauches wird hier und da Gewicht gelegt; unklar ist, was für
Sprichwörter. 63
Beziehungen Ölbaum, Faulbaum und Eberraute (Gottesbäumchen) in
den Dainos haben. Wendische Mädchen zeichnen gern ihre Lieder in
ein Büchlein auf, litauische kaum. „Wenn einer ein Liedchen sich
dichtet und es gefällt den Mädchen, singens alle mit, aber aufschreiben
thats keiner41, meinte ein litauischer Postillon aus der Crottinger Gegend.
3. Sprichwörter.
Eines jeden Nägel sind nach seiner Art gekrümmt. Es ist Zeit,
sich in den Wagen zu setzen. Eines Hundes Stimme dringt nioht zum
Himmel (ist erfolglos). Er geht umher, wie Jakob unter den Schweinen
(stolz). Gott gab Zähne, er wird auch Brot geben. Er sputet sich
wie der Deutsche in den Himmel. Dem Dummen wird auch mit der
Lischke vorgeläutet. Bin haben neun Eilen befallen. Es schläft sich
kalt, wenn der Alus gärt (wenn man Sorgen hat). Handle wie ein
Jud, und zahl wie ein Bruder! Du kannst nicht mit den Nägeln
aufmachen, wenn die Zähne nötig sind. Ich füttere die Kuh, und
er milkt sie. Was du abhandeln kannst, brauchst du nicht zu be-
zahlen. Heilig wie ein Schwein, rein wie ein Schweinetrank. Faul,
wie ein Elch. Ähnlich gemünzt, ähnlich gemahlen (Atkalts, atmalts.
Das Kind ähnelt dem Vater sehr). Den Walddieb hat noch niemand
gehängt. Die Zwiebel ist überall am Platze. Die Gerechtigkeit hat
sich aufgehängt, den Frieden haben die Hunde totgebissen. Es ist
Bchlimm, wenn aus dem Bastschuh ein Stiefel wird. Geh in den
Wald nicht ohne Axt, und in die Kirche nicht ohne Gesangbuch.
Auch ein kluges Huhn verbrennt sich den Schnabel in Brennesseln.
Je näher der Stadt, desto tiefer die Tümpel und bissiger« die Hunde.
Die Wärme bricht die Knochen nicht. Die Paresken kommen weiter
in der Wirtschaft, als die Stiefel. Der Lehm ist unser aller Bruder.
Schweig, aber liebe Gott! Sie jammert, wie Waischterienne nach
einem neuen Tuche. Der Sohn beiist in den Apfel, und seinen
Kindern werden die Zähne stumpf. Die Herde kommt von allein.
Du wirst dich mit den Störchen erheben und wirst mit den Baben
herunterfallen (Hochmuth kommt vor dem Fall). Wenn's auf die
Gröfse ankäme, finge die Kuh den Hasen. Manches Wort fliegt als
Sperling aus und kehrt als Ochse zurück. Was du ausgetrieben
hast, umist du weiden. Wie der Glaube, so das Opfer. Am
Jungen sieht man, ob's der Vater ist. Wer thoricht ist, kauft das
Pferd, bevor er's geritten hat. Ein schlechter Kaufmann kauft das
Ferkel im Sack. Den flüchtigen Hasen kannst du nicht aufhalten.
Wer als Dohle geboren ist, bleibt eine Dohle; wer als Pfau geboren ist,
bleibt ein Pfau. Schulden sind keine Wunden, sie heilen nicht von
selber. Ein früher Gast bleibt nicht zur Nacht. Ein böser Mensch
spaltet aus einem Splitter einen ganzen Wagen voll. Vorm Wolf läuft
er, beim Bären bleibt er. In wessen Wagen er sitzt, dessen Lied
64 Die Litauer.
mu£s er singen. Mir ist es Schlaf, dir Arbeit. Wie der Topf, so der
Deckel. Im Busche sind mehr krumme Bäume als gerade. Nenn
mich einen Backofen, aber Brot wirst du nicht in mir backen. Wer
Bären fuhrt, hat auch an Bären seine Freude. Ein Bauer ist immer
unter den Nägeln schwarz. Wem es nicht bitter ist, der zieht kein
Gesicht. Blas gegen den Wind! So lang es Brot giebt, ist die Hungers-
not blind. Er wird sich seines Geburtstages erinnern (er wird unter
dem Drucke der Verhältnisse oder vor Angst das Unmögliche möglich
machen). Sieh ihm in die Augen, und frag nach seiner Gesundheit!
Geschehe, was will, der Litauer wird nicht untergehen. Er fürchtet
sich, wie der Teufel vor Perkun. Sei selbst nicht bös, dann kann dir
auch der Böse nichts thun. Der Deutsche wird bald so klug sein wie
der Litauer. Der Bär, von der Eichel getroffen, brüllt; vom Ast
niedergedrückt, ist er still. Ich hab ihm Gutes gethan, er gräbt mir
eine Grube. Ein Reicher ist hochmütig und gefährlich. Der Magen
kann leicht gefüllt werden. Der ist glückseliger, dem man mitsgönnt,
als den man bejammert. Trunkne prahlen. Wer arbeitet, der hat
was. Ein böser Traum trifft eher ein, als ein guter. Die Menschen
gehen lieber mit glücklichen Leuten um, als mit elenden. Des
Menschen Leben vergeht wie Schaum. Das Verhängnis ist unver-
meidlich. Der Tod fragt nicht nach den Zähnen. Auch ein guter
Mensch kann zornig werden. Eile mit Weile! Jede Henne scharrt
nach ihrer Art. Er frifst, als hätte er zuvor an der Hungerkette
gehangen. Es ist nicht immer Johannisfest (ein guter Tag). Ich
melke die Kuh, und er hält die Hörner. Der wurmige Apfel fällt
bei Windstille, der grüne muls vom Winde herunter geschlagen
werden. IJinterm Meer gilt der Ochs einen Groschen, aber geh
und hol ihn!
Die hauptsächlichsten Verbreiter der litauischen Literatur sind
die Kalender, von denen sechs in Preufsen und drei in Amerika
erscheinen, und etwa ein Dutzend Zeitungen. Die in Tilsit gedruckte
liberale „Neue litauische Zeitung" mit über 3000 und der kon-
servative „Tilsiter Pilger" mit ziemlich 2000 Abonnenten sind ge-
wöhnliche, viel gelesene Wochenblätter, ebenso die in Memel ge-
druckte „Litauische Zeitung" mit 1000 Abonnenten; sie bringen
Tagesneuigkeiten. Den Kukatisten dient der „Friedensbote", er
bietet Tagesgeschichte und hauptsächlich Religiöses. Das Prökulser
Vereinsblatt hat, wie die beiden vorher genannten, einige hundert
Abonnenten. — An ein gebildeteres Publikum wenden sich Monats-
und Halbmonatsblätter, wie Varpas (Glocke), Ukininkas (Land-
wirt), „Vaterlands Wächter" und „Rundschau" (etwa 500 Leser),
deren Abonnenten zahl 1000 nicht erreicht. Die beiden letzteren
sind in römisch-katholischem Geiste geschrieben, die ersteren liberal.
Diese behandeln die sociale Frage und Politik, bringen Dramen,
Gedichte, Novellen und Aufsätze über Kunst und Wissenschaft. Eine
Geschichte der Maldininker im 18. Jahrhundert. 65
eigene litauische Druckerei von Martin Jankus in Bit ebnen macht
sich um Verbreitung von Literatur auch in Rufsland und Amerika
verdient.
IV. Die Maldininker.
Die Worte Maldininker oder Surinkimininker sind abgeleitet
von Litauisch Malda = Gebet und Surinkimas = Versammlung. Der
erste Ausdruck hat einen spöttelnden Nebensinn bekommen und wird
von ihnen selbst nicht angewendet, ist aber sonst gang und gäbe.
Auf deutsch nennen sie sich am liebsten Bruder, bezw. Schwestern,
auch Gebetsversammler , Erweckte, Bekehrte. Die Fernerstehenden
gebrauchen die Namen „Fromme", „Heilige", „Mucker". In keinem
deutschen Lande ist das religiöse Vereins- und Sektenwesen so ent-
wickelt als in Ostpreußen, nirgends tritt es so offen hervor als hier.
Und gerade von den Maldininkern kann man so Widersprechendes
aus dem Leumund von allerlei Leuten hören.
Zinzendorf hatte nach Gründung seiner Herrnhuter Gemeinde
bereits 1727 die ersten Missionare in alle Welt geschickt. Diese sollten
den Christen und zwar den verlorensten Stammen eine andere als die
orthodoxe Lehre predigen, die bei den meisten kein christliches Leben
im Gefolge zeitigte. Ein heiliger gottgeweihter Lebenswandel, thätige
Liebeswerke, Bulse, inniges Versenken ins Erlösungs- und Bekehrungs-
werk, pflichtgetreue Arbeit in Acker und Garten, Haus und Hof, das
waren ihre Ziele; daneben wurden die Äufserlichkeiten bald zu Haupt-
sachen: Meiden von Tanz, Theater, Tabak, geistigen Getränken,
lustigem Wesen, lautem Lachen u. dergl. In den dreilsiger Jahren
des 18. Jahrhunderts finden wir solche Herrnhuter Missionare bei
den Kaschuben. Geistesgewaltige Priester gehen auf ihre Lehre ein,
zumal fromme Patrone, Rittergutsbesitzer und deren Witwen und
gealterte Schwestern, die Herrnhuter Brüder mit Freuden in ihr Schlots
aufnahmen. Die Pastoren in Schmolsin, Garde, Glowitz, Zezenow,
besonders Schimanski und Beyer wirkten mit grofsem Segen unter
dem trunksüchtigen slawischen Stamme. — Um dieselbe Zeit nun hatte
Friedrich Wilhelm I. die Salzburger nach dem abgelegenen, durch
Krieg und Pest entvölkerten Litauen gerufen. Die um ihres Glaubens
willen Vertriebenen brachten schon ein lebendiges Christentum mit,
die Herrnhuter Wanderprediger suchten es recht auszubauen. Bereits
1733 kamen die Missionare Demuth und Böhnisch und hielten Gebets-
versammlungen ab, noch zwei andere, Hof er und Grenzer, werden
namhaft gemacht. Ein Salzburger Siedeier, Namens Goffer, hatte
solchen in der Insterburger Gegend beigewohnt und lernte litauisch,
um auch unter diesem Volke solche Zusammenkünfte zu veranstalten.
Drei Lehrer: Demke und die Brüder Jurkschat, wirkten nun, als
geborene Litauer, um Insterburg und Tilsit. Es entstanden, wie man
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 5
68 Die Litauer.
alles kam zur rechten Geltung. Benjamin Schmolck, Bogatzki u. a.
wurden übersetzt; die Erleuchteten dichteten selbst, so die oben er-
wähnten Demke und Jurkschat. Bereits um die Mitte des vorigen Jahr-
hunderts liels der Bruder Mertikaitis für die Maldininker ein eigenes
Gesangbuch, „das Psalmbuch tf, erscheinen, das 113 Lieder enthielt.
Im Gegensatz zum litauischen offiziellen Gesangbuch erfreute sich das
Psalmbuch trotz der frömmelnden Art und trotz der Riesenlänge
mancher Lieder, grofser Anerkennung und Beliebtheit. Die neuen
Auflagen wurden rasch vergriffen und erschienen in vermehrter Auf-
lage. Von gewisser Seite wurde das Psalmbuch freilich nicht für voll-
wertig gehalten. Mielcke sagte: „Es hat ein gewesener Soldat und
Litauer aus der Niederung ein litauisches Gesangbuch (um 1800) auf
seine Kosten herausgegeben. Er hat darin verschiedene Gesänge aus
dem Ostermeierschen Gesangbuch genommen, viele aber selbst gedichtet»
und wiederum andere von schlechten litauischen Schulmeistern über-
setzte zusammengerafft und unter die Litauer gebracht. Es kommen
darin die absurdesten Dinge, übertrieben mystische Ausdrücke, närrische
Epitheta und ganz abgeschmackte Wendungen vor, die dem vernünftigen
Gottesdienst des Singens zuwider sind.tf (VergL Schwede, Zur Ge-
schichte der litauischen Gesangbücher. Lit Lit M. III, S. 403.) Der-
artige Urteile verhinderten nicht, dafs die Psalmu knygos 1876 in
12. Auflage im Umfang von 404 Liedern erschienen. Und gerade
zu Mielckes Zeit hatten die Surinkimininker an Ausbreitung und
Einfluls gewonnen. Ein Schiffer aus der Memeler Gegend, Klimkus
Grygolait, wurde auf einer Reise nach England „erweckt". Er hatte
Visionen, sagte, Gott hätte ihn zu seinem Rüstzeug auserwählt, dafs er
seinem Volke Bulse predige. 1807 zog er in die Grenzgegend zwischen
Memel und Schmaleninken, in die Ortschaften um Wisch will und Eydt-
kuhnen. An der Scheschuppe und am Njemen wurden Gebetsversamm-
lungen abgehalten, die Elimkenaten wuchsen täglich an Zahl; Preuk-
schat wirkte in der Tilsiter Pflege, Albuschait in der Ragniter, wie
Dr. Gaigalat in einem Vortrage über die Maldininker ausführte. Die
Prediger waren meist Bauern, die im Herbst nach Beendigung der
Ackerarbeit ihre Missionsthätigkeit aufnahmen. Es waren gewöhnlich
tüchtige, strebsame Ackerleute, die ihr Besitztum gut verwalteten.
Sie nahmen nie Lohn an, blieben bei der Lehre der Bibel und empfahlen
noch Arnds wahres Christentum und Bogatzkis Schatzkästlein. Viele
Pfarrer waren auf ihrer Seite, so der Ragniter Superintendent Malkwitz.
Jener Soldat, den Mielcke erwähnt, war vielleicht der Bruder Dargys.
Der eignete sich vorzüglich zu seinem Amte und erlebte dann auch die
Blüte der Gebetsversammlungen. Er hatte sich durch eigenes eifriges
Lernen in wissenschaftlichen und geistlichen Büchern tüchtig vor-
bereitet, hatte 1813 die Freiheitskämpfe mitgemacht und zog nun
wie ein Sendbote von Dorf zu Dorf; er benutzte aufser geistlichen
auch philosophische Bücher, berief kraft seines Ansehens die Maldininker-
Sekten der Maldininker. 69
Prediger in Synoden zusammen, setzte ab und ein und wurde von
allen anerkannt. Die 1848 er Verfolgungen brachten auch ihm Ein-
kerkerung seitens des Tilsiter Landrats. Dies Martyrium erhöhte
nur seinen Ruhm. Zudem erlangte Malkwitz nicht nur die Freilassung
des Dargys, sondern auch einen königlichen Befehl Friedrich Wil-
helms IV., der eine Gel den t Schädigung gewährte. Dargys, der willig
und ohne Murren ins Gefängnis gezogen war, schlug dies Geldgeschenk
au 8 und lehrte vor wachsender Zuhörerschar. Die Verfolgungen
wirkten wie im Urchristentum, das Martyrium wurde vorbildlich und
erweckte neue Bekennen Das Oberkonsistorium that den rechten
Schritt und liefe die Unschädlichen gewähren. Eine mildere Richtung
unter Jurkunas gestattete sogar mäfsigen Genuls von Tabak und
geistigen Getränken. Schlimmer war Klimkats Schüler Petrick, der das
Alte Testament als Lehrgrundlage betrachtete, noch gefährlicher dessen
Schüler Sonder, der folgerichtig das Alte Testament auch ins Leben
umsetzen wollte, seine Frau verstiefs und mit seinen Mägden in Viel-
weiberei lebte. Er forderte den Zehnten von seinen Gläubigen, hatte
drei grofse Reiseboote, auf denen die Prediger missionierend aus-
zogen und liefs sich wie einen Patriarchen verehren. 1848 träten eine
Anzahl Brüder aus der Landeskirche aus, die meisten blieben ihr treu,
spalteten sich aber in zwei Lager. Die alte Richtung bewahrte ihre
alte Freiheit. In der Versammlung, die in eines wohlhabenden Bruders
Behausung stattfindet, singen sie zunächst ein Lied aus den Psalm u
Knygos. Dann knieen sie nieder auf den Fufsboden, und der Verkünder
betet lange und laut. Nun steht man auf, der Gebet sversammler liest
und erklärt einen Bibelabschnitt. Kniegebet und Schlutslied folgen. Die
neue Richtung trägt gescheiteltes Haar, ausgesucht einfache Kleidung
in Schwarz und Weifs, verwirft mit der farbigen Marginne alles Bunte
und hafst die abschweifenden volkstümlichen Erklärungen. Man betet
still im Versammlungszimmer beim Ein- und Austritt. Man singt das
dreimal Heilig, und die Predigt erstreckt sich nur auf Ermahnung und
Spruchwiederholung. Die Alten tadeln an den Neuen: Starrheit der
Lehre und Sucht , äulserlich aufzufallen , diese umgekehrt an jenen :
Menschen Satzung und Abweichung von der Heiligen Schrift. Gemeinsam
ist beiden ein tugendhaftes Leben, das den Gerichten nichts zu thun
giebt, ferner die eifrige Unterstützung des Missionswerkes, der häufige
Genuls des Abendmahls. Die Verkünder dagegen predigen nur, geben
an, Visionen zu haben und durch Handauflegung Kranke heilen zu
können. Sie bilden sich selbst aus, sobald sie glauben, Gott habe ihnen
das Predigtamt gegeben. Sie stehen in hohem Ansehen bei den
Brüdern und wissen es sich auch zu erhalten. Gegenwärtig steht an
der Spitze der bekannte Christoph Kukat, ein ehemaliger Besitzer in
der Tilsiter Gegend, der mehrere Kirchen sein eigen nannte. Er ist
schon in ganz Deutschland als Wanderlehrer thätig gewesen, ward
einmal für irrsinnig erklärt, erhielt aber schlief slich vom Oberkirchen-
70 Die Litauer.
rat die Erlaubnis zum Predigen. Er leitet die religiöse Wochen-
schrift „Friedensbote" (Pakajaus Paslas), die Vereinsschrift des Ost-
preul8ischen Gebetsvereins. Diese erscheint in einer Auflage von
reichlich 500 in Memel, hat zur Hälfte litauischen, zur Hälfte deutschen
Text.
Aus dem Munde der Litauer selbst hörte ich die widersprechend-
sten Urteile über das Thun und Treiben der Surinkimininker und ihre
Predigten. Die Übelgesinnten sagen ihnen Muckerei und Schein-
heiligkeit nach, schlimmere Zungen sprechen im Gegensatze zu der
gerühmten Keuschheit von „Kinder vereinen" und nannten die Verkünder
Betrüger oder schlaue Schelme. Sie zögen zur Herbstzeit aus, -weil da
die Gläubigen geschlachtet und gebacken hätten. Ihr Wirken sei
nicht unschädlich. Dem gegenüber sagen ernste Männer: Die Mal-
dininker wirken nur Gutes, vermeiden politische Streitigkeiten; Uneinig-
keiten schlichten sie durch eigene Schiedsgerichte, sie geben den ab-
legenen Dörfern mit der geistlichen geistige Nahrung und sind Träger
der Kirchlichkeit und des Opferwillens.
Einst traf ich eine ganze Gesellschaft Maldininker auf einem
Memelschiffe. In schwarzer Tracht, Landpastoren ähnelnd, kamen sie
zusammen, reichten sich die Hände und küfsten sich. Sie waren auf
einer Missionsfahrt von Tilsit nach Rufs und Schwarzort begriffen.
Im Mittelpunkte stand ihr Führer. Er mochte 50 Jahre alt sein; sein
blühendes Gesicht, seine ganze Haltung wirkten vorteilhaft: „Nein,
wir sind nicht studierte Personen, uns hat Gott das Predigtamt gegeben,
ich bin Kukat." Mit glaubensfreudigem Eifer und Überzeugung be-
gann er nun sogleich sein Werk der Bekehrung. „Es kann eben
niemand seine Bekehrung erzählen, weil er nicht bekehrt ist. Ja, bis
zum 20. Jahre lebte ich auch so dahin, dahin. Rauchen, Tanzen, Bier-
trinken, Kirchegehen, alles that ich, gern, aber unbekehrt, und Gott
erschien mir im Gesicht und berief mich zu meinem Amte, und er er-
wählte mich zum Rüstzeug und zeigte mir Hölle und Himmel. Ja, da
sagen viele, der Kukat schwindelt doch, er ist nicht dort gewesen.
Zweifelt nur, Gott thut, was er will." Wie sah es denn nun im Him-
mel und Hölle aus? „Ja, das können Worte nicht beschreiben, in der
Hölle sah ich viel eitel Trauer und Herzeleid und hörte die Klagen der
Verdammten und die Siegesfreude der Teufel, im Himmel aber ist eitel
Wonne und Seligkeit und Freude die Fülle, und die Engel singen und
spielen mit den Gläubigen in Gemeinschaft. tf Über die diesen Ab-
straktis zu Grunde liegenden Konkreta gab er jedoch keine Auskunft;
er war erstaunt, dafs man sich mit anderen als biblischen Studien ab-
geben könne, Bekehrung sei alles, was vom Menschen zu verlangen
sei, alles andere sei sinnlos. Die Bibel legte er so aus, wie sie der
lülementarlehrer verständlich gemacht hatte, sie war ihm schlechthin
Gottes Wort, auch der Katechismus mit seinen Erklärungen. Der un-
kritischen, oft falschen Bibelauslegung bot indes eine volkstümliche
Eine Versammlung der Maldininker. 71
Beredsamkeit und Versinnbildlichung die Hand, und so kam oft ein
ganz trefflicher Gedanke heraus, der allerdings gar nicht in der Bibel
stand. Derbe Worte scheute er nicht. Die Sünden des Volkes ver-
glich er mit dem Schweinetroge des verlorenen Sohnes. Seine Mit-
verkündiger sekundierten ihm vortrefflich, und ihre Augen glänzten,
wenn er von seinen Missionsreisen durch ganz Deutschland sprach:
„Ja, warum kann ich nur Deutsch und Litauisch, die Polen verstehen
mich schon nicht mehr; wenn ich aber Französisch und Englisch
könnte, dann wollte ich die ganze Welt durchziehen. u Peinlich war
mir die offene Rede der so liebenswürdigen Leute, wer sich bekehre,
bekäme Speise und Trank, Wohnung und Führung, so lange er bei
Brüdern sei; es könnte scheinen, als ob sie das Gottesreich samt dem
Linsengericht für eine neue Seele geben wollten. Aber das meinten
sie gar nicht, denn der Sinn der Bede war kein anderer als der: Du
bist hier gewifs in einem wildfremden Lande ohne Freunde und Be-
kannte, hier aber hast du Menschen, die dir alles in Fülle geben,
nur mulst du ihr Bruder sein. Eukat erklärte, man könnte ihm ja
sein gottverliehenes Predigt amt nicht wehren, und dem möchte man die
fortgesetzten Bekehrungsversuche zu Gute halten; das glaube er aber,
— alles Wissen sei nicht mehr im Vergleiche zu seiner geistlichen
Wirksamkeit, als das Schwarze seines Fingernagels.
Bald waren die „Verkünder" von Rufs nach Calberg zu einem
„Bruder" gefahren. Nach einstündigem Marsche gelangten auch wir
an das erleuchtete grofse Wohnhaus. Lauter Choralgesang tönte uns
entgegen. Beim Eintritt ins Innere war rechts ein Doppelzimmer mit
etwa 50 Frauen und 20 Männern gefüllt, die erst im Gebet knieend,
dann auf Bänken und Stühlen sitzend, die eigentümlichen litauischen
Choräle sangen. Die Melodie „Liebster Jesu wir sind hier" war so
verändert, dafs man sie kaum wiedererkennen konnte. Die ineinander
verschwimmenden Töne schlugen zitternd leis immer noch eine Quarte
nach oben nach, die Übergänge zu den nächsten Noten schwankten
in kleinsten Tonzwischenräumen selbst über die kurzen Verspausen,
gleichzeitig sangen die Deutschen den deutschen, die Litauer den
litauischen Text. Die Männer waren einfach und gewöhnlich in
Bauerntracht gekleidet, die von der allerorts üblichen nur durch das
breite russische Mützenschild abweicht. Marginnen und Paresken sah
ich nicht. Die Frauen trugen dieselben einfachen gestreiften Bauern-
röcke, wie allerwärts; nur die weifsen blumenrandigen Kopftücher, die
am Halse oder meist im Nacken zusammengebunden waren, stachen
hervor, zumal die drückende Hitze des 1. August nicht die Abnahme
jenes Kopfschmuckes zu bewerkstelligen vermochte. Der Raum war
ziemlich hell durch Deckenlampen erleuchtet, nur auf dem Predigttische
brannte eine Setzlampe. Ich wurde vorderhand ins linke Zimmer ge-
führt, man wartete auf mein Kommen. Da safsen denn schon mehrere
Verkünder und Freunde beisammen, der Hausherr begrülste uns und
72 Die Litauer.
lad uns zum Abendmahl ein, da gab es Bier, Kaffee und Milch, Brot,
Fleisch und Früchte vorzüglich und in Hülle und Fülle. Galant ge-
währte man meiner Frau einen Ehrenplatz, und nach kurzem Imbifs
gingen wir in die Versammlung und erhielten unseren Sitz, trotz
Sträubens, auf der Bank der Prediger. Über das lange und harte
Enieen auf Holzdiele oder Stein sehen die Brüder ebenso leicht hinweg,
wie über die Filzpantoffeln des einen Verkünders. Eukat safs am
Tische, neben ihm je ein Bauernpriester. Nach dem Gesänge des
Chorales betete der Linke ein deutsches Gebet von der Sündhaftigkeit
und Bulse der Menschen, worin sich ein fortwährendes Stöhnen Sünden-
beladener Gemüter mischte. Es folgte ein neuer Choral, der mit der-
selben Inbrunst und in Gott versenkter Miene zu Ende gesungen ward,
und dann eine litauische Predigt und der Gesang des Liedes: „Herr
Jesu Christ, dich zu uns wend.u Nun erhob sich Eukat, las die Ge-
schichte von Pauli Bekehrung aus der Bibel vor, wie sie jeder tüchtige
Pastor vorlesen kann, und ergriff dann das Wort zur Predigt Eukat
ist ein bedeutender Redner. Es Bietst aus seinem Munde ohne Anstols
und Versprechen.
Die Kraft und Volkstümlichkeit seiner Rede wird durch eine
wohlklingende Stimme unterstützt; Eifer und Stärke des Vortrages
sind aber für den beschränkten Raum viel zu grofs, und würden eher
nach St. Peter in Rom passen. Er eiferte gegen die Namenchristen, die
Religionslehrer, die Religion nur als Fach lehren, er erhob sich gegen die
studierten Pastoren, die den geistlichen Beruf nicht von Gott empfangen
hätten, sondern von ihren Eltern auf die sichere Pfründe aufmerksam
gemacht worden wären. Diese predigten in der Eirche Bekehrung und
bekehrten wohl auch und seien doch selbst nicht bekehrt. Ja, des Vaters
Geld verstudieren, sich gemütlich erhalten lassen und mit allen Mitteln
einem ernährenden Amte zustreben, das sei nicht der Boden, der einen
wahrhaften Priester hervorbringe. Sie können auch gar nicht frei
predigen, müssen erst aus Büchern lesen und auswendig lernen oder
vorlesen, Gottes Wort ist ihrem inneren Wesen fremd. Und was thut
ihr? Ja, wie viele habe ich gesehen, beten ganz andächtig in der
Eirche, singen und hören der Predigt zu. Und ist die Eirche aus, —
gehen sie in ein Geschäft und kaufen für die Woche ein. Die haben
alle der Stimme des Herrn nicht Folge geleistet, der überall schreit und
überall erscheint, aber verstopfte Ohren findet. Und da haben wir die
Gelehrten, die grofsen Professoren, die das Wort verworfen haben
„wahrhaftiger Gott vom Vater in Ewigkeit geboren und auch wahr-
haftiger Mensch von der Jungfrau Maria geboren". Am jüngsten Tage,
mit den Socialdemokraten und Säufern zusammen, ha, wie freut sich
der Teufel, dafs er sie mit seinen Elauen zwacken kann.
Mit der Gewalt eines Bulspredigers ertönen immer wieder die
Worte, die dem Saulus vor Dasmaskus zugerufen wurden; die Stimme
schlug einmal über und wurde heiser. Die Farben waren grell, die
Eine Missionsfahrt der Maldininker. 73
erwähnten Erörterungen im einzelnen oft unzutreffend, im ganzen
aber wirksam.
Es folgten der Reihe nach von Seiten der anderen Verkünder ein
langes seufzerreiches litauisches, dann ein deutsches Gebet und das
Vaterunser; zum Schlüsse sang man: „Unsern Ausgang segne Gott",
und zerstreute sich nach einem stillen Gebet. Ein Bruder gab uns das
Geleit nach unserer eine Stunde entfernten Wohnung. Eine abermalige
Einladung zur Gebets Versammlung anderen Tages früh 6 Uhr konnten
"wir nicht annehmen, weil wir Rufs und seine Umgegend kennen lernen
mufsten. Auf dem Nachhausewege nachts 11 Uhr erklangen von den
Bänken vor der Hausthür die schwermütigen Dainos, einzeln und im
Wechselsang, hier und da beim Klange der Ziehharmonika.
Früh 10 Uhr sollte die Missionsfahrt der Maldininker nach
Schwarzort stattfinden. Schon in der Frühe kamen von allen Himmels-
richtungen zu Fufs und zu Flofs, Wagen und Boot die Litauer, um
am Feste teilzunehmen. V2I2 Uhr langte der gemietete Dampfer aus
Tilsit an, war aber bereits so mit Anhängern überladen, dals niemand
mehr mitbefördert werden sollte. Nun zogen die stundenweit Herbei-
geeilten ergeben in ihr Los nach Hause. Ich aber drängte mich vor,
die seltene Gelegenheit nicht zu versäumen. Kein Mensch konnte
sitzen und sich bewegen, so war das Schiff vollgestopft. Heute waren
viele Litauerinnen aus Minge und Einten, Skirwith und Inse, Heyde-
krug und Loye in ihrer Tracht erschienen. Ueber den 10 bis 20 ge-
bauschten, reichgefalteten kurzen Unterröcken befand sich der selbst-
gewebte vierzigfaltige Oberrock, buntfarbig, die drei Hauptfarben
bevorzugend, langgestreift, neu. Einzelne hatten aus der Swirne den
grünseidenen Rock geholt und darüber gezogen. An der rechten Seite
hing das seiden- und perlengestickte Handtäschchen. Die Schürze
ähnelte dem Oberrocke, war aber meist noch flimmerdurchwirkt und
wies ein reichgesticktes oder blumig gewebtes lang wallendes Band auf.
Der Oberkörper war von einem weitärmeligen Hemd bekleidet, das am
Hals- und Ärmelbund, wie am Lätzchen seidene Stickerei aufwies. An
der Brust prangte eine grofse Brosche aus Bernsteinperlen. Ein ärmel-
loses sammtneB Schnürleibchen schlols sich über dem Oberrocke an.
Auf dem Kopfe der Jungfrauen befand sich über dem kranzartig ge-
wundenen Zopfe ein grüner oder blumiger Kranz und bei den Frauen
noch ein eigen gefaltetes Tuch. In der Hand ruhte Gesangbuch,
Taschentuch und Majoranstrauls, die Verlobte trug am Mittelfinger
den Goldring. Die lettischen Mädchen Schwarzorts und Niddens haben
dieselbe Tracht, nur ist der Oberrock nicht bunt, sondern schwarz. Im
Gespräch mit ihnen stellte sich nun bald heraus, dafs so mancher und
manche nicht der Bekehrung, sondern des schönen Ausfluges wegen
mitfuhr. Sie hatten einen guten Grund, um sich von zu Hause loszu-
reifsen, hörten dem Missionsgottesdienste einige Minuten zu und gingen
dann, befreundet oder verliebt, in die schönen Anlagen Schwarzorts,
74 Di© Litauer.
die vom Haff bis zum Baltischen Meere die Düne durchqueren. Der
Missionsgottesdienst fand auf einer prachtvollen Waldwiese inmitten
alter Föhren und Fichten statt.
Gegen 800 Männer und Frauen hatten sich versammelt Inmitten
stand der Predigttisch; Verlauf und Inhalt boten nichts, was von dem
am vorigen Tage Gehörten besonders abgewichen hätte. Einige der
ßauernpriester fuhren abends 8 Uhr mit nach Tilsit zurück, andere zogen
zu den Brüdern der nächsten Dörfer, Kukat blieb vorläufig in Rufs.
Ich nahm den Eindruck mit, dals die Leute trotz mancher Ab-
sonderlichkeiten tüchtige und brauchbare Menschen sind, der Nutzen,
den sie bringen, Jedenfalls gröfser als der Schaden ist und üble Nach-
reden wohl einmal von einem, aber sicher nicht angesichts der Gesamt-
heit der Wahrheit entsprechen; über die Aufgabe und den Zweck des
Lebens freilich haben sie eine verkehrte Ansicht. Früh 5 Uhr erreich-
ten wir Tilsit. Die ganze Nacht hindurch aber erklang der schmelzende
Gesang der Burschen und Mädchen, bald deutsch, bald litauisch. Und
noch lange tönten mir die Lieder im Ohre:
„Mein Herz ist ein 8chränkchen,
Kein Schlüssel hängt dran,
Doch in Tilse wohnt einer,
Der allein herein kann."
V. Feste und Spiele.
1. Talkos. Von allen Festen der Litauer sind die Talkos in ihrer
Ursprünglichkeit und Eigenart am lebendigsten erhalten geblieben.
Eine Talka ist ein Arbeitsschmaus und wurde früher ebensogut in
slawischen wie in germanischen Gemeinden gefeiert. Die Easchuben
haben sie teilweise noch jetzt, in Deutschland treten sie nur noch hier
und da auf, im russischen Litauen sind sie aber noch in Blüte. Sie
reichen in die Zeit der Leibeigenschaft zurück und sind gemäls dem
Gange ins Scharwerk gebildet. Friedrich Wilhelm I. hatte 1722 die
Frone dahin gemildert, dafs die Bauern nur 48 Tage für den könig-
lichen Amtmann und Domänenpächter zu arbeiten hatten; 1723 er-
gänzte er für zwei litauische Kreise die Anordnung so, dafs im Sommer-
halbjahre jeder Scharwerker wöchentlich zwei Tage, im Winterhalbjahre
monatlich einen Tag Dienst leisten mufste. Hatte nun der Schulze
den Schar wer kern seines Dorfes auf Befehl des Amtmannes den Tag
und die Art der Beschäftigung zwei Tage vorher mitgeteilt, so zogen
die Bauern mit Gesang zur festgesetzten Stunde auf das ihnen bekannte
Feld und arbeiteten unter seiner Aufsicht gemeinsam bis zum Abend
ohne Entgelt. Die Gemeinsamkeit zeitigte die Geselligkeit und rasche
Erledigung der Arbeit. Vergl. Donalitius, Sommer 307 f.:
Kinder, beeilt euch flink, ihr seht, schon dämmert der Abend,
Morgen schon heifst es, gemach die Sensen rüsten und schärfen.
Hört ihr nicht schon, wie die Wachtel mahnt, zu beginnen den Heuschnitt»
Talkos: Düngerfuhr -Schmaus. 75
Wie sie verlangt, dafs zum Winterbedarf wir setzen die Haufen?
Aber es ist auch Zeit; das Fest des beilegen Jobannes
Feiern, wie allen bekannt, wir übermorgen mit Schmausen
Und nicht lange, dann heifst's hinaus auf die Felder zur Arbeit !
Seit alters nahm man das Düngerfabren, Mähen, Einernten, Flachs-
brechen zur Zeit gewisser Tage vor. So erledigten die Easchuben den
gemeinsamen Roggenschnitt in der Zeit des Dominiktages (4. August).
Freunde und Bekannte halfen bei dieser und anderer Arbeit unent-
geltlich dem einen Bauer und erhielten die gleiche Hülfe an einem
folgenden Tage. Abends oder vielmehr nachts darauf wurde ein echtes
Bauernf est geleiert, das zeitgenössische, von der Kultur beleckte Bericht-
erstatter als den Ausbund aller Tollheit, Ungebührlichkeit und Ver-
schwendung schildern. Lorek weist auf die wirtschaftliche Schädigung
hin, man verprasse dabei soviel, als man im ganzen Winter zum Leben
brauche; andere betonen die sittliche Gefahr, und auch der für
litauischen Brauch begeisterte Donalitius scheint die Talkos nicht zu
lieben, wenn man seine Verse (Sommer 4491) liest:
„'s war im vorigen Jahre, da hat der nichtsnutzige Plautschun
Auf der Talka bei Kaspar sich so unmäfaig betrunken,
Dafs in dem Dunkel der Nacht, das Feld durchirrend, sein neues
Wetzzeug, samt der schartigen Sense sogar, er verloren
Und erst beim Grauen des Morgens mit Mühe nach Haus sich gefunden.11
Die erste grössere Talka findet im Juni statt; das ist die
Mieschlu(n) talka (Düngerfuhr- Arbeitsschmaus ; Lit. mieszlinis = Juni,
Düngermonat). Auf Ansage kommen bei dem Morgengrauen Knechte
und Bauern mit Wagen und Feldgerät zu dem betreffenden Besitzer.
Sie versammeln sich in der kleinen Stube (Bakawoje), wo lange Tafeln
aufgestellt sind. In dieser Stube spielt das Essen und Trinken eine
Hauptrolle. Jeder Wirt setzt seine Ehre darein, recht viel und recht
vielerlei und etwas Besonderes zu bieten. Um 6 Uhr sind alle zur
Usiraschite (Anmeldeessen) vereint. Auf dem Tische steht Weilsbrot
und ein Teller mit Kastinis. Das ist Butter, aus Vollmilch mit Kräutern
gebuttert. Sie ist an Fett ärmer, wird ganz in der Weise der reinen
Butter geformt und ist sehr beliebt. Nun geht es stramm an die Arbeit.
Um 8 Ubr versammelt sich die Gesellschaft wieder zum Frühstück
oder Halbmorgen (Pusrytis, Donalitius: Pusryczei). Es giebt Kartoffel-
brei mit Speck und aufserdem dicke Schlickermilch. Brot ist stets auf
dem Tische, wird aber wenig gegessen. Um 10 Uhr hält man Prisch-
pitis oder Frühmittag, bestehend aus Schwarzbrot und Käse. Mittags
12 Uhr findet man sich wieder beim Mittagsessen (Pietai) zusammen.
Die Wirtin hat Sauerkohlsuppe mit Schweinefleisch (Kopustai su Mesa)
gekocht. Dann giebt es dicke Milchsuppe mit grolsen Nudelstücken.
Nun folgt eine zweistündige Mittagspause und dann dreistündige tüch-
tige Arbeit. Zu Halbabend (Wakarine) oder Vesper (Paweczerka) um
5 Uhr bietet die Hausfrau Pellkartoffeln mit Kastinis, dazu dicke Milch.
76 Die Litauer.
Uin 8 Uhr reicht man das Abendbrot (Weczere). Da liegt auf dem
Tische ein ungeheuerer Käse, 50 Pfd. schwer, zuweilen ist es ein
Warschkis, ein Fettkäse, den man aus Vollmilch bereitet hat. Daneben
stehen Brot und Butter, selten Bier, immer aber, wie überhaupt bei
allen Mahlzeiten, Schnaps. Eine Art Milchsuppe aus Biestmilch mit
Gerinnseln (Padaszas) schliefst die Mahlzeit1). Wird das Brot, die
Butter oder der Käse frisch angeschnitten, so reicht man immer der
Wirtin das erste Stück. Und wenn neue Kartoffeln oder eine neue
Speise das erste Mal gegessen wird, versetzen sich die Nachbarn einen
leichten Schlag. Um 10 Uhr schliefst man die Arbeit ab, geht wieder
in die Pakawoje und verharrt bei Tanz, Spiel, Gesang und Erzählen
bis etwa 2 Uhr. Dann geht oder fährt man nach Hause.
Ähnlich verläuft der Roggenschnittschmaus, die Rugiu(n)talka.
Roggenschnitt und Einfuhr sind mitunter desselben Tages. Auch sie
dauert einen Tag und beginnt etwas früher, zu Jakobi (15. Juli). Die
eigentliche Talka findet natürlich abends statt, nachdem die Schnitter
mit einer Ansprache dem Hauswirt einen Kranz überreicht haben,
der aus den letzten Ähren geflochten worden ist. Das gegenseitige
Begiefsen mit Wasser, wenn ein neues Werk unternommen wird, hat
sich bei der Roggenernte noch heutigestages bei den Litauern und
bei den slawischen Völkern erhalten, das Kranzüberreichen auch bei
den Deutschen. Donalitius schildert den Beginn der Rugiutalka mit
folgenden Worten (Übersetzung von Passarge. Sommer 505):
Während ich solches erwog, erhob sich wieder ein Lärmen,
Und ich wähnt', eine brüllende Kindviehherde zu hören;
Aber es brachte den Erntekranz das Volk des Plautschunas.
Wisset ihr doch, wie fürchterlich weit die Litauer brüllen,
Wenn um Jakobi Zeit, nachdem der Roggen gehauen,
Unter Jubel und Tanz sie singen: „Nun bringen den Kranz wir* —
l) Andere beliebte Speisen der Litauer sind Schaltinosei, eine Art ge-
füllter Klöfse (kalte Nasen), die warm gegessen werden; Budwinei, rote,
eingesäuerte Buben mit Fleisch zu Suppe gekocht; Schupinis, ganze Kar-
toffeln mit Bauchfleisch gekocht und Sahne darüber gegossen; Bulbine,
Kartoffelsuppe; Putra, Mehlsuppe; Kuosche, Grützbrei mit Speckgriefen,
die gewöhnliche Kost; Kiselus, Hafergrützbrei, die Fastenspeise ; Blincei,
Plinzen; Klezkei, grüne Klöfse mit $peck oder Sahne; Konkuline, Mehl-
suppe mit Klöfschen; Kruopine, Graupensuppe. Yergl. Donalitius, Herbst
412 ff. (Passarge):
Und verschwende nicht thöricht, was doch bei den Speisen nur Zuthat,
Dafs du zuletzt nicht müfstest der Zuthat gänzlich entbehren.
Buben und gelbe Möhren, auch Pastinak wurzeln und "Winken,
Bartsch von roten Buben, und eingesäuerter Kohlkopf;
Erbsen auch, mit Bohnen gemischt und im Topfe gesotten;
Erbsenbrei, von gutem Geschmack, wie die köstliche Grütze;
Dann die Kissehl, der Hafermehlbrei, der tüchtig gekocht hat;
Oder noch weiter Kartoffeln, zu vielen Gerichten verwendet,
Endlich die Schwämme verschiedener Art, wenn reichlich geschmolzen:
Alles wird gut dir schmecken und auch vortrefflich bekommen.
Kleine Talkos, Flachsbrechfest. 77
Mertschus und Lauras schleppten ins WaBser die Mädchen, wofür dann,
Um sich sofort zu rächen, Laurene samt Pakulene
Männer und Bursche begossen mit voügefülleten Eimern.
Donalitius bat hier ganz aus eigener Anschauung geschildert. War ja
sein Vater litauischer Kölmer auf dem Gutsbezirke Lasdinehien. Hatte
er selbst doch als Pfarrer zu Tolminkemen umfangreiche Ländereien.
Kleinere Talkos, den erwähnten beiden ähnlich, finden das ganze
Jahr über statt; sie werden durch die unentgeltliche Hülfe der Nach-
barn bedingt. Beim Heumähen, der Schienpjute, beim Neubau irgend
eines Hauses (Budawojimas) und in anderen außerordentlichen An-
gelegenheiten verknüpft man Fest und Arbeit. Hingegen erfolgen beim
Schweineschlachten nicht, wie früher, Einladungen.
Am poesiereichsten aber ist das Flachsbrechfest, Linu(n)talka oder
Linumina. Es wird Mitte Oktober bis Ende November gefeiert und
findet nur nachts statt. Wenn man im Litauischen den Ausdruck eine
Arbeit feiern gebraucht, so stehen dem auch im deutschen Sprach-
gebiete ähnliche Erscheinungen zur Seite. Das Düngerfahren wird in
Teilen Mitteldeutschlands als Düngerfest und als „ Geburtstag u an-
gesehen, ähnlich ist es beim Scheuer- und Schlachtfest. Die Linutalka
findet in der Pirtis und in der Scheune statt. Nachmittags 3 Uhr
kommen aus dem Dorfe und seiner Umgebung Burschen und Mägde
in der Bakawoje zusammen. Um 5 Uhr ifst man Abendbrot, be-
stehend aus Kartoffelsuppe und Fleisch. Zuweilen trinkt man Thee,
sehr selten das Sonntagsgetränk Kaffee. Nun geht es in die Scheune.
Auf der Tenne liegt der zuvor in der Schardine getrocknete Flachs.
Mittels der Flachsbreche werden nun die Flachsstengel von den
Burchen zerbrochen und von der Rinde befreit. Die Mädchen rei-
nigen die zerbrochenen Stengel von dem feineren Abfall. Ganz rein
ist nun der Flachs immer noch nicht, er wird aber in die Klete
geschafft und nach Bedarf im Winter vollständig gereinigt und ver-
sponnen. Das Flachsbrechen dauert die ganze Nacht durch, bis früh
8 Uhr, bei Tage wird geschlafen, gegen Abend wieder angefangen.
Auf einem grösseren Gute dauert das Flachsbrechen vier bis fünf
Nächte. Jetzt brennt man in der Scheune Petroleumlampen, früher
den Kienspan oder Schiburys auf dem Kienspanleuchter oder Schi-
bengschtis. Um 72 10 Uhr hält man das Vornachtessen in der
Scheune ab, Prischnaktine im Unterschiede zum eigentlichen Abend-
essen (Wakarine) benannt, da giebt es Brot, Wurst, Alus und Schnaps.
Zum Nachtessen (Naktine) um 12 Uhr reicht man Kartoffelbrei mit
Speck und aufserdem dicke Milch. Gekochtes Obst giebt es niemals,
dieses essen nur Vornehme. Nun ruht man zwei Stunden. Von 2 bis
5 Uhr arbeitet man und nimmt dann den Morgenimbils , Auschrine,
ein, bestehend aus Warmbier mit Honig, Brot und Kastinis. V28 Uhr,
zur Pusritis, folgt das stärkste Mahl: Kohlsuppe mit Fleisch, Milch-
suppe mit Maccaronistückchen , Pellkartoffeln , Trank. So lustig und
78 Die Litauer.
heiter jeder Abend ist, so folgt doch am letzten Flachsbrechtage das
au 8 gelassenste Fest. Die mannigfaltigsten Tänze wechseln mit Daina-
sang und Geschichtenerzählen. Ein beliebtes Spiel der Linutalka ist
das Strohstrickspiel oder Suschimuschte. Es legt sich einer mit ver-
bundenen Augen auf die Tenne, irgend ein anderer schlägt mit dem
Strohstrick. Der Geschlagene muls den Schläger erraten, dann mufe
sich dieser auf die Tenne legen. Das Spiel entspricht dem erz-
gebirgischen „Schinkenkloppen", wird aber in Samogitien sogar von
Priestern und Vornehmen mitgespielt. An Stelle des Strohseiles ist ein
gewundenes Handtuch getreten.
Der nächtliche Aufenthalt in der Jauje und Pirte hat etwas Aben-
teuerliches und giebt denn auch zu allerhand Bräuchen Anlats. Man
erzählt: der Teufel (Weins) habe seinen Sitz in der Pirte oder Duoba
und zwar im Ofen oder in einem Balken. Ein Bursch versichert, den
Teufel citieren zu können, wenn sich ein Kamerad findet, der mit dem
Bösen zu kämpfen geneigt ist. Findet sich ein solcher, so schlägt der
Bursch einen Keil in eine Balkenritze oder hebt einen Balken in die
Ecke und spricht dabei eine nur ihm verständliche Zauberformel.
Dann kommt der Weins und spricht: „Wer will mit mir kämpfen ?u
Da meldet sich der Kamerad, der Kampf beginnt, und der Teufel wird
selten Sieger. Der Bursche drängt ihn nämlich in die Nähe des Ofens,
drückt ihn an die glühenden Kacheln oder Platten, bis er um gut
Wetter bittet. Wenn man ein Kreuz schlägt, reifst der Böse von selbst
aus, darum mufs jener Kämpfer sein Schmuckkreuz, das er etwa trägt,
vor dem Kampfe weglegen. Der Weins kümmert sich um materielle
Sachen nicht, bringt kein Geld, kauft aber gern die ungetauften Kinder
von Bauern, er lärmt, wirft Sand, verwandelt sich in einen Raben oder
einen Menschen, und ist als solcher wohl gar auf der Linutalka an-
wesend. Von Furchtsamen sagt man: „Er hat Angst, wie ein Weins
vor dem Kreuze."
Auch die Irrlichter oder Schwakeles, die der Litauer für Seelen
Verstorbener hält, und die in Gefechten umherwandern und an Dächern
zu sehen sind, kommen in die Pirte. Es ist nun vorgekommen, dafs
übermütige Burschen solche Irrlichter auslöschten, oder jagten und
quälten. Da sollen sich diese Schwakeles in böse Geister verwandelt
und den Burschen auf dem Linutalka erschlagen haben.
Eine Haupttalka, eine Art Kirmes und Schlachtfest, schildert ein
unbekannter Autor des 17. Jahrhunderts (vergl. Preufs, S. 12): „„Das
Landvolk in Samogitien feiert noch jetzt ein Opfer und Festschmaus
nach heidnischer Weise alljährlich gegen Ende des Oktobermonats,
wenn die Feldfrüchte eingebracht sind, auf folgende Art. An dem
Festplatze kommen alle mit ihren Weibern, Kindern und Knechten
zusammen, bestreuen einen Tisch mit Heu, legen darauf Brote und
stellen zu beiden Seiten des Brotes zwei Gefäfse mit Bier. Alsdann
führen sie ein Kalb, einen Eber und eine Sau, einen Hahn und ein
Jahres- und Familienfeste. 79
Huhn herbei ' und andere Haustiere , nach der Reihe männliche und
weibliche. Diese schlachten sie nach heidnischem Opferbrauche also.
Zuerst beginnt ein Priester oder Vorbeter unter Hersagen eines ge-
wissen Spruches mit einem Stocke auf das Tier zu schlagen; darauf
Schlagen alle Anwesende mit ihren Knütteln auf das Tier los und
sprechen dabei: „Dies Opfer bringen wir dir, o Gott Ziemiennik
(Winter- oder Erdgott), und danken dir dafür, dafs du uns auch in
diesem Jahre vor Feuer, Schwert, Pest und allen Feinden beschützen
wollest. u Darauf verspeisen sie das Fleisch der geopferten Tiere,
schneiden aber zuvor von jedem Gericht ein Stückchen ab und werfen
das zur Erde und in alle Winkel des Hauses , wobei sie sprechen :
„Nimm, o Ziemiennik, unser Opfer gnädig an." Und darauf schmausen
sie alle feierlich und reichlich." u Auch die Weise, zur Arbeit zu singen,
führt unser Gewährsmann noch Guagninus an: „Sie haben ein schwarzes,
recht schlechtes Brot, indem sie das Korn samt der Kleie, oft sogar
mit den ganz unausgedroschenen Ähren zermalmen. Dazu gebrauchen
sie Handmühlen, deren es in jedem Hause drei bis fünf giebt; wenn
sie diese mit den Händen drehen, stimmen sie dabei altherkömmliche
ländliche Lieder an. Überhaupt ist das Männern wie Weibern eigen-
tümlich, dafs sie jede Arbeit mit bestimmten Liedern begleiten. Sie
haben auch eine Art lange hölzerne Trompeten, denen sie seltsame und
grausige Töne entlocken/ — Die Vergnügungen der Spinnstuben kennt
man nicht, wenn auch in jeder Familie gesponnen wird ; dagegen bieten
die Jahrmärkte Gelegenheit zu Vergnügungen für die Jugend beiderlei
Geschlechtes.
2. Jahres- und Familienfeste. Die Zwölfnächte sind heilig,
die Träume innerhalb derselben treffen ein. Der Schimmelreiter zieht
auf einzelnen litauischen Dörfern noch herum. Es darf in dieser Zeit
nichts gedreht werden. Am heiligen Abend, der der Andacht ge-
widmet ist, vermögen Tiere miteinander zu sprechen, sie reden über
das neue Jahr und ob das heurige Futter langt Der Bauer, der zu-
hören will, stirbt. Auch soll man in weifsen Kleidern schweigend die
Obstbäume mit Strohbändern mitternachts umhüllen, dafs böse Geister
fern bleiben und die Tragfähigkeit der Bäume grölser wird. Der
Christbaum hat sich in Litauen noch nicht durchgängig eingebürgert.
Am Sylvesterabend fahren die schameitischen Burschen in die nächste
Kirche, wo die Geburt Christi ausgestellt ist. Am Neujahrstage ist
Tanzabend. Am 6. Januar, am Dreikönigstage, macht man wie am
Sylvesterabend mit dem Messer oder mit Kreide drei Kreuze oder Druiden-
füfse an alle Thüren oder schreibt die Namen der heiligen drei Könige
daran. Zu Pauli Bekehrung (25. Januar) legen sich alle Tiere auf die
andere Seite, d.h. sie geben ein Zeichen, dafs ein neues Leben beginnt.
Die Fastnacht ist ein rechtes Fest des jungen Volkes. Von früh
morgens an wird viel gegessen und gesungen. Den Höhepunkt bildet
das Schaukeln in der Scheune und das Fahren auf dem Bundschlitten.
80 Die Litauer.
Je toller, je besser; besonders wenn einer oder eine fällt. An diesem
Tage trifft man sich (wie zur Kirmesschaukel in Sachsen) in gewissen
Höfen, die seit der Väter Zeit bekannt sind. Am Abend um 5 Uhr
beginnt der Tanz und das Ringspiel. Alle im Kreise halten die Hände
gefaltet auf dem Schofs offen. Einer geht herum und thut, als gäbe
er jedem den Ring. Ein anderer geht ihm nach und muls den erraten,
der ihn wirklich bekommen hat. Rät er falsch, muls er ein Pfand
geben. Das Spiel heilst Ringspiel (Schieda graiti). Vom Grün-
donnerstag bis zum Sonnabend läutet man nicht die Glocken, son-
dern schlägt sie. Der Karfreitag ist der Ruhe und dem Fasten
geweiht. Der Freitag überhaupt ist ein Unglückstag, man hat ihn
des Fastens wegen nicht lieb. Sonst giebt es kein Tagewählen; vom
Sonntag Vormittag erzählt man, dals sich um die Zeit der Predigt die
Teufel Mützen aus den Nägeln machen, die man sich abschneidet. Am
Palmsonntag lätst man sich die Wacholderbündel weihen, mit denen
man das Jahr über, um Krankheiten fernzuhalten, die Stuben räuchert.
Am 1. April ist das Anführen Mode. Zu Ostern holt man Oster-
wasser, das jahrüber heilkräftig bleibt. Am 23. April, am Georgs-
tag, soll (in der Pillkaller Gegend) nichts von Tieren, Vögeln, Fischen
herrührendes gegessen werden. Am Johannisvorabend macht man
Schaukeln und brennt auf den Bergen grolse Leuchtstangen an.
Birkenkränzchen befestigt man an die Hörner der Rinder, und einem
Stiere bindet man einen grolsen Kranz um den Hals. So geht es auf
die Weide. Abends schenkt die Wirtin dem Hirten einen Käse. Die
Mädchen werfen in der Nacht Rautenkränze in die Bäume, besonders
in die Linden; fällt der Kranz nieder, so bekommt das Mädchen in
dem Jahre noch keinen Mann. Man schnellt auch mit Werg umwickelte
und brennend gemachte Kartoffeln. Früher sollen noch viele andere
Gebräuche ausgeübt worden sein. In der Olsiader Kirche hat aber vor
20 Jahren ein Priester eine solche Strafpredigt gegen diese alten Volks-
sitten gehalten, dafs sie dort beinahe ausgestorben sind. Hingegen
scheint sich das Johannisfest in Preufsen zum litauischen Nationalfest
zu entwickeln. Hier feiert man bei leuchtenden Ragos den Abend mit
Sang und Spiel auf dem Rombinus. Die zum erstenmale auf das Feld
Gehenden werden begossen, wie auch die heimkehrenden Erntearbeiter.
Beim Ausdreschen ruft man dem, der den Letzten hat, die Worte zu:
„Du wirst nächstes Jahr wieder dreschen." — Das zweite Halbjahr ist
die Zeit der Talkos. Gegen Ende des Jahres zu Weihnachten oder
Neujahr findet der Abzug und Einzug des Gesindes statt. Der schamei-
tische Knecht empfängt 25 bis 50 Rubel, die Magd 20. Aufserdem
erhält jedes ein 20kg schweres Brot, eine Hammelkeule, 3 bis 4 Pfd.
Speck. Das ist ihr „Profit" (Pawirschis). Schlief such bekommt jedes
noch Wolle, Flachs, Hafer, wenn es nicht gleich selbst ein Fleckchen
Feld bekommen hatte, um säen und ernten zu können. Die Familien-
feste, Hochzeit, Taufe, Begräbnis, waren zu des Nationaldichters Zeit
Hochzeit. 8 1
sehr ausgeprägt, heute werden sie bereits ziemlich einfach gefeiert und
ähneln denen in ganz Mitteleuropa.
Über die Hoch Zeitsgebräuche in Kussisch - Litauen , und zwar
in Wieion a, hat Juschkie witsch ein ganzes Buch geschrieben, aber
dort verlaufen Jetzt die Hochzeiten viel einfacher. Auch die ausführ-
lichen und reichlichen Schilderungen von Gisevius und anderen passen
kaum mehr auf die heutige Zeit. Hier und da geht der Bräutigam
schon im Cylinder, und das Brautpaar empfängt Hochzeitsgeschenke,
die man in den Bazaren von Königsberg, Tilsit und Memel gekauft hat.
Die Tracht des Bräutigams gleicht der jedes Deutschen, die Braut
trägt nicht mehr die eigentümliche Kopfbedeckung von ehemals. Doch
dauert immerhin das Hochzeitsfest noch zwei oder drei Tage. Die
Braut schenkt wie bei den Slowinzen und Sorben jedem nächsten Ver-
wandten des Bräutigams etwas Linnenes, besonders ein fein gemachtes
Handtuch, oder ein Hemde, oder auch wollene Handschuhe. Der
Hochzeitsbitter (sehr oft ein Schneider) sagt die Hochzeit an und
ordnet das Fest. Man fährt zur Kirche, recht viele Wagen gelten als
besonders fein. Nach der Trauung ist zu Hause Tanz auf dem Hofe
oder im Hause. Der Tanz wechselt ab mit Schmaus und Gesang bis
früh 5 Uhr. Mittags geht es von neuem los. Am letzten Tage bildet
das Aufhängen des Hochzeitsbitters „in effigie" (Pirschli karti) einen
würdigen Abschlufs des Tanzes.
Zu des Donalitius Zeit ging, wie im „Fritz" und im „Herbst" aus-
geführt ist, die Hochzeit so von statten: Zu Pferde erscheint der
Hochzeitsbitter (Kweslys) und lädt die Gäste zum Bauer Christian
ein, dessen jüngste Tochter Ilsbutte der Schulz von Tauken heimführen
will. Die Geladenen nehmen den Hut ab, danken und versprechen,
Christian die Ehre zu geben und zu kommen. In acht Tagen rücken
die Gäste an, Stephan und Martin in neuen Stiefeln, Lauras und
Johann mit sauberen Bastschuhen. Enskys hat den Schimmel besonders
gestriegelt und geschmückt, sich die Hüften mit neuen Riemen, die
Beine mit Feststiefeln geziert. Ein halbes Schock Mütter, „die geladen
waren", folgten. Auf den letzten Punkt wird sehr gehalten. Aber
auch jetzt noch hängt jeder Bauer sehr an dem Brauche. Zu einem
Begräbnis im Altenburgischen ging kürzlich, der wiederholten Auf-
forderung eines Verwandten folgend, ein Bekannter den weiten vier-
stündigen Weg und wurde dann schlief such mit den Worten begrüfst:
„Ihr seid zwar nicht gebeten, na, aber setzt euch nur." — Die Frauen
gehen in ihrer Tracht zur Hochzeit, mit der Haube (Kykas), dem
Schleier (Nometas) und dem Umschlagetuch (Ploschte, vgl. Sorb. Plachta),
die Mädchen mit dem Kranze und den geflochtenen Zöpfen.
„Frauen, begehrt mit nichten das Jungfernkränzlein zu tragen,
Und ihr Mädchen verlangt mir dafür nach dem Kykas mit nichten!"
Mit lautem Geschrei kommt der Zug vor Christians Hause an, höflich
▼erneigend begrüfst er sie alle und nötigt sie ins Haus und holt die
Tetsner, Die Slawen in Deutschland. R
82 Die Litauer.
Schnapsflasche zum Zutrank, während die Brautmutter Punzen bringt,
und schon derbe Scherze beginnen. Da kommt der Hochzeitsbitter zu
Kols und schlägt den dürren Gaul. Die Menge jubelt ihm entgegen,
zum Thor herein führt man das eingesegnete Brautpaar. Das begrülsen
die versammelten Freunde und Nachbarn und begleiten es ins Haus.
Drei fette Kühe, zwei Ochsen, ungezählte Schafe und Schweine, eine
Menge Gänse und Hühner waren geschlachtet worden, der Dampf er-
füllte die Gassen. Die Hochzeitsbitter tragen das Fleisch auf, und man
ifst nun nicht gerade sehr zimperlich und trinkt ein Fafs Bier dazu;
zu beten hatte man am Ende des Mahles vergessen. Nun ertönen
Lieder, und man erzählt sich von Pferden und Ochsen. Lauras spielt
das Brummeisen, Jakob die Geige, Dotschys aber fällt schon zu Boden,
so unmälsig hat er sich benommen. Die Frauen, die erst den Schnaps
entrüstet zurückgewiesen hatten, kriechen in einen Winkel und leeren
schnell eine tüchtige Flasche. Dann erzählen sie von ihren Gänsen
und Enten. Da kommen die Musikanten mit Cymbel, Geige, Pfeife. In
Stiefeln, Schuhen, Bastschuhen und barfuls, einige ohne Jacke, beginnen
sie zu tanzen. Zwei ungebetene Nachbarn, Slunkius und Peleda,
erscheinen. Alles ist starr über die unglaubliche Formverletzung. Da
ergreift Enskys einen Birkenknüttel, zerschlägt den beiden den Rücken,
reifst sie an den Haaren und wirft sie zur Thür hinaus.
R. Keusch hat (Neue Preuls. Prov.-Bl. V, Königsberg 1848, S. 187 ff.)
erforscht, dafs die verschiedensten Tage als Hochzeitstage bevorzugt
werden, sogar auf einem verhältnismäfsig kleinen Raum. So lassen
sich angeblich am Montag Morgen die katholischen Ermländer, am
Dienstag die Böhmen und Mährer, und die reichen Märker und keuschen
Appenzeller, am Mittwoch die verunglückten Appenzellerinnen und
märkischen Verwitweten, aber nie die Pforzheim er trauen. Die Uker-
märker (Brodewin) und die altansässigen Deutschen am Drömling
bevorzugen den Donnerstag, die Polaben, Lauenburger, Schleswig-
Holsteiner und Litauer den Freitag. Eine litauische Hochzeitsladung
durch den Platzmeister hat in der Übersetzung (S. 223) folgenden
Wortlaut: „Guten Tag! guten Tag! meine lieben Freunde. Nehmt nicht
übel, dafs ich so dreist ins Haus geritten, nicht nur ins Haus, sondern
auch in die Stube. Ich junger Platzmeister, mein kleines Pferd; das
Pferd hat vier Füfse und stolpert, und meine eine Zunge verfehlt und
erholt sich auch wieder. Ich grülse Euch vom Bräutigam und von der
Braut und lade zur Hochzeit auf den Freitag. Den Martin zum Mar-
schall, die Anna zur Brautjungfer und die übrigen alle zum Abendbrote,,
wer einen Löffel und eine Gabel aufheben und einen Krug Alans aus-
trinken kann. Wenn wir werden reisen aus des Hochzeitsvaters Hause
ins Haus Gottes, aus dem Gotteshause in des Königs bunten Krag
(Gasthaus), dort werden wir tanzen und froh leben, jeder für seinen
Groschen. Aber beim Zurückkehren in des Hochzeitsvaters Haus finden
wir weifse Tische, bunte Krüge, umflochten, verziert und mit Alaus
Taufe, Begräbnis.
83
gefüllt. Dort finden wir Gekochtes und Gebratenes, Essen und Trinken;
für unsere Pferde Brücken von Eschen, Krippen von Eichen mit Hafer
angefüllt. Nicht weit hin ich gereist, nicht viel hab ich gelernt, wenn
ich werde weiter reisen, werde ich auch mehr erlernen. Für mich
jungen Platzmeister ein Hemde ; wenn nicht ein Hemde, dann ein Hand-
tuch; wenn nicht ein Handtuch, dann ein Paar Beinkleider; wenn nicht
ein Paar Beinkleider, dann ein Hosenhand; wenn nicht ein Hosenband,
dann ein junges Mädchen; wenn nicht ein junges Mädchen, dann ein
grünes Blümchen an den Hut. — Mit Gott, meine lieben Freunde!"
Die Taufe dauert heute nur einen Tag, ehemals dehnte man sie
als Familienversammlung wie die Begräbnisfeierlichkeiten länger aus.
Auch die Zahl der Paten ist nicht mehr so zahlreich, wie zu den
Zeiten des Donalitius, der gewöhnlich sechs, oft zwölf Paten eintrug.
In der Postille von 1574 steht, dals man bei der Geburt mit geweihtem
Salz, Wasser und mit geweihten Kerzen hantierte, die gramniczios
genannt worden wären, einem Worte, das heute „Maria Lichtme£stt be-
zeichnet. Ferner habe man geweihte Kräuter, Hanf, Unkraut, Brenn-
nesseln u. a. gebraucht, die zu Johanni oder Maria Himmelfahrt ge-
weiht und kupala geheilsen hätten. In der Gegend von Ponewiesch ist
das Kräuterweihen (Kupalia wimas , Kupoliojimas, Russ. Kupala) noch
im Gebrauch. Bei den Tschechen begegnen wir ähnlichen Sitten.
Die Begräbnisgebräuche der Litauer sind heutzutage nicht
anders als die bei anderen bäuerlichen Volksstämmen Deutschlands.
Von den alten Sitten, wie sie beispielsweise Lepner schildert, haben
sich an den verschiedenen Orten verschiedene Reste erhalten. Im
Sterbezimmer ward Gerste, Hafer und Malz zu Met und Bier einge-
weicht. Kam der Kranke wieder auf, so trank er sein Begräbnisbier aus
Freuden Belbst mit. Eine alte Bäuerin zu Lepners Zeit half es zehnmal
austrinken. Zu Totkranken wurden die Nachbarn und Verwandten ein-
geladen, die beim Abschiede sagten: „Bleib Gott befohlen. Gott gebe,
dafs du gesund wirst und wir gesund zusammenkommen können."
Abb. 10.
Heydekrug -Werdener Grabschmuck.
1 bis ll/sm hoch. Schrift meist schwarz auf weifsem Untergrund. Holzfarbe
schwarz.
„Gott gebe es", antwortete der Kranke, machte sein Testament und er-
teilte Anordnungen , dals der Jüngste das Gut , die anderen bestimmte
6*
Spiele. 85
Erbteile bekämen. Meist ward auch der Geistliche geholt. Der
Tote wurde auf frisches Stroh auf Erden gelegt, gewaschen und mit
weilsem Kleide, Frauen mit mehreren weifsen Hemden bekleidet, der
Mann bekam auf den Kopf eine weifse Schlafmütze, die Frau ein weilses
Tuch. Den Sarg machten sie aus vier ungehobelten Brettern selbst.
Manche lielsen beim Tode läuten. „Es wurde der Seele nachgeläutet. a
Die zur Totenwache sich einstellten, sangen geistliche Lieder. Das
Grab ward am Begräbnistag gegraben. Vor dem Begräbnis erschollen
die schluchzenden Ilaudos, die Brand, Lepner u. a. von den Litauern,
Waisselius, Hartknoch von den Preulsen übereinstimmend gleichlautend
erwähnen. Grabgänger kamen gebeten und ungebeten, die Frauen
gingen weils. Die Gatten gingen nicht mit zum Grabe, sondern folgten
nur bis zum Gartenzaun. Dem Zuge voran trug man ein selbst ge-
fertigtes Kreuz, die Leiche zwischen „zwo mit zwey Handtüchern oder
Strängen zusammen gebundenen Stangen u. Hatte man die Leiche
ins Grab gesenkt, so öffnete einer den Deckel und sah nach, ob der
Leichnam noch gerade lag, gab ihm einige Münzen unters Haupt und
ein Stückchen Erde auf die Schultern, legte Lieblingsgegenstände bei,
so dem Schulzen seine Peitsche, schlofs den Sarg und das Grab. Dann
folgte ein schwelgerisches Leichenmahl. — Heute giebt es Klagemänner
statt der ehemaligen Klageweiber, die Itaudos ertönen noch in Samo-
gitien. Die ganze Nacht hindurch kommen Bekannte und Nachbarn,
singen und beten an der Leiche. Sie werden bewirtet und zu einem
Erinnerungsschmaus eingeladen, der neun Tage später stattfindet.
In Preufsisch - Litauen bürgern sich jetzt mehr und mehr Stein-
platten und Eisenkreuze ein. Die alten litauischen Holzkreuze für die
Männer, Dachkreuze für die Frauen findet man noch auf allen Kirch-
höfen nördlich des Njemen und seiner linken Zuflüsse. Daneben giebt
es ganz eigentümliche Holzplatten, wie Abb. 1 1 zeigt, die solche Grab-
platten enthält, wie sie in Schwarzort, Krottingen, Girschunen, Wil-
mantinen, Tolminkemen, Bitenen u. s. w. vorkommen. In Russisch-
Litauen erkennt man diesen Grabschmuck nicht für voll an, sondern
bedient sich in den Dörfern nur der grofsen Holzkreuze ohne Dach.
3. Spiele. Kinder- und Jugendspiele sind äulserst zahlreich.
Juschkie witsch zählt in den Hochzeitsgebräuchen der Wieionischen
Litauer die folgenden auf: 1. Iltis, 2. Bär, 3. Kranich, 4. Kater,
5. Affe , 6. Hirsch , 7. Kohl hauen , 8. Pergel oder Splitter spalten,
9. Mützen schlagen, 10. den Birkhahn schlagen, 11. Bürste stechen,
12. Kartoffeln trocken kochen, 13. den Wolfsschwanz recken, 14. nach
Born reiten, 15. eine Nadel einfädeln, 16. einen Habicht rupfen,
17. eine Eule rupfen, 18. das Rehtanzen, 19. auf die Tenne klettern,
20. das Schafböcklein, 21. Bartholomäus, 22. Teer brennen, 23. Pflüge
schmieden, 24. Sterne zählen, 25. Häcksel fressen, 26. Flachs brechen,
27. Mohne reiben, 28. Flachs weichen, 29. die Thür durchbohren,
30. eine Flasche zerschlagen, 31. eine Flasche in die Erde hinein-
66 Die Litauer.
schlagen, 32. einen Krug nicht zerschlagen, 33. die Kuh melken,
34. hinter der Thür zutrinken. Baudoin de Court enay fügt noch
35. Ziege, 36. Zigeuner hinzu. Juschkiewitsch nennt diese Spiele
Hochzeitsspiele und giebt kurz zuvor noch folgende Gesellschaftsspiele
an: Himbeerchen, das Sechsdrähtige, Kreis, Fee, das Unterkriechen,
zwei Häschen, Häschen, das Ausschauen, Kuckuck, Sperling, Dajlilo,
Judabru, Dreihewelten- Leinwand, Drohen, Brahe, Entlein, Mützchen,
Hochzeitsgast , gnädige Frau, der Schöne, Kopf kifschen , Mohn, der
Müller mit Gesang, die Schlafmütze, den Sperling rupfen.
Die meisten dieser Spiele waren freilich bereits dem Herausgeber
fremd. Die in jener Gegend eigentümlichen seien erwähnt. Das
Schweinchentreiben (Kjaulawaris , Kjaulemuschte) beginnt mit dem
Graben von kleinen Löchern in die Erde, etwa 3x3, das mittelste
X1 Xa X3
ist das grölst e X4 ^J:5 X6. Das grofse Loch heilst Dwaras (Bauern-
X7 X8 X9
gut), die kleinen Löcher Putra (Mehlsuppe). Ins Dwaras soll die grolse
Kugel (K jaule = Schwein, Sauchen ins Loch) gebracht werden. An
jedem Loche steht ein Knabe mit einem Stocke mit Naturgriff. Außer-
halb der neun Löcher befindet sich ein Mitspieler, der hat die K jaule
und mufs versuchen , sie ins Mittelloch zu werfen. Jeder sucht nun
die kollernde Kugel zurückzuschlagen. Ist sie im Dwaras, so mufs
der Hüter des Dwaras ans neunte Loch, und der erste Knabe
beginnt das Spiel aufs neue. Im Masurischen nennt man das Spiel
„Kaulchenspiel14, zu Grunde liegt das Wort Kaulchen = Kugel, die
Übertragung : Kugelsteinchen auf Litauisch K jaule (Schwein) ist wohl
nachträglich gemacht und das Spiel aus Deutschland eingeführt. —
Im Scheibenschlagen(Tekinimuschte) wird ähnlich wie beimCroquet
ein Rad von einer Partei zur andern geworfen und pariert. Dem
Strohstrickspiel (Suschimuschte) ähnlich ist das Sperlingrupfen.
Einem Knaben werden die Augen verbunden. Die Mitspielenden um-
stehen ihn und zupfen ihn aufser der Reihe. Errät der Verbundene
den Thäter, so kommt dieser an seine Reihe. Beim Knopfschnellen
(Gusikais-graiti) schnellt der erste einen Knopf vom Knie, der zweite
thut das gleiche und zielt nach dem ersten. Man setzt das Spiel so
lange fort, bis ein Knopf so bei dem andern liegt, dals man mit der
Spanne der verschiedenen Finger messen kann. Die Mittelfingerspanne
sichert dem Gewinner einen Knopf, die Zeigefingerspanne zwei Knöpfe,
das Aufeinanderliegen der Knöpfe drei Stück. Ähnlich ist in Mittel-
deutschland das Stahlwerfen und das Anschlagen und Kugeltetschern.
Dals allen diesen und den folgenden Spielen Abzählreime voran-
gehen, braucht kaum erwähnt zu werden. Der blinden Kuh
(Laumineti) ähnlich ist das Hasenfangen (Suikinieti). In einer
Schar Knaben werden einem die Augen verbunden, der mufs dann
einen andern von den Knaben zu fangen suchen, die entweichen und
Spiele. 87
auf den Ausgangspunkt zurückkehren. Unser gewöhnliches Such- und
Fangspiel ist dort nicht bekannt, dahingegen erfreuen sich auch in
Russisch - Litauen das Vogelverkaufen (Paukschtinieti) und das
Durchziehen (Goldne Brücke, Wolf und Fuchs, Wir wolln eine
goldne Brücke baun) einiger Beliebtheit. Das Schaf weiden (Aweles-
ganyti) erinnert an „Katze und Maus" oder „Fuchs und Gansu.
Häschen in der Grube haben die Schameiten auch. Das dabei
gesungene Lied ähnelt dem deutschen Liede sehr. Es heilst: „Du
mein Häschen, du mein blaues, du mein liebes blaues Häschen, Darfst
noch nicht, darfst noch nicht Im Gärtchen hüpfen. Denn wie Eisen
sind die Pförtchen, Und aus Silber sind die Schlüssel; Darfst noch
nicht, darfst noch nicht Im Gärtchen hüpfen. u Beim Eugelspiel
setzt jeder Mitspieler in ein in die Erde gegrabenes Loch eine be-
stimmte Zahl Kugeln. Reihum wirft man nun in gewisser Ent-
fernung mit einer grofsen Kugel nach den kleinen. Wieviel heraus-
springen, soviel bekommt der Werfer (Bubinamuschte oder Bulbina-
muschte? vgl. Bubintojis = Dreher, Bubininkas = Trommler, Bulwis
= Kartoffeln). Dem Stöckchenspiel, das Koncewicz (Lit Lit M. II,
249 f.) erwähnt, scheint das Span chen spiel (Lischkais-graiti) verwandt
zu sein. Jeder Mitspieler setzt 5 Kopeken und nimmt dann der Reihe
nach die 12 gleich kleinen und das gröfsere (Karalus) Holzspänehen
in die hohle Hand, wirft sie in die Höhe, fängt sie mit dem Handrücken
auf und wirft die aufgefangenen alsbald wieder hoch, um sie mit
offener Hand aufzufangen. Wieviel Spänchen er aufgefangen hat, so-
viel erhält er Kopeken. Der König (Karalus) gilt 2, der König allein 12.
Dem Sticheln verwandt scheint das Stabspiel. Ein kleiner Holz-
stab wird mittels eines größeren fortgeschleudert, und zwar von der
Spitze eines in die Erde gesteckten. Fängt der Gegenmann das Stäb-
chen auf und schlägt damit im Stichelwurf den eingeschlagenen heraus,
so gewinnt er einen festgesetzten Preis.
Ähnlich dem Pflöckelspiel macht man „Adler oder Zahl", d.h.
man dreht eine Münze kreiselartig, schlägt darauf und hat gewonnen,
wenn der Adler nach oben, verloren, wenn er nach unten liegt.
Unsere Mühle ist dem litauischen Hängespiel (Karties) gleich.
Wer keine Beihe Zahlen fertig bringt (2), hat verloren, ist pakartas
l!2|
(aufgehängt) 1
lj |
Das Aussprechen schwieriger Wortverbindungen mit Pfänder-
gabe der Ungeschickten ist wie in Deutschland zu Hause, ebenso bei
den Kleinen das Spiel mit den Puppen, Bildern, der Schnarre (Tarsch-
kine), Pfeifen; das Dämmebauen, Wassermühle machen u. a.
Noch häufiger als bei uns ist das Rätselaufgeben. So fragt man:
Was ist das, es steht in der Ecke aufgeblasen und fliegt ganz toll?
(Flinte.) — Lang und schlank, nach oben kriegt er und legt Eier
88 Die Litauer.
(Hopfen); die schlanke Dame mit langer Nase (Swirtis = Brunnen-
Stange mit Haken).
Das Beilegen von Spitznamen ist an der Tagesordnung und die
niedrigste Form ewig junger Volksdichtung. Yon jenem Spiel heilsen
alle die Bubina, auf denen man herumschlagen kann. Eitlus ist ein
Watschler, Luntrus ein Taugenichts, Lurbis ein Roher, Lorbas ein
Verächtlicher, ein gewisser Bubele wird nur Enakies (Stammler),
Mika hingegen Nelurbis genannt. Alle alten Schriftsteller führen zahl-
reiche Beispiele von der Spitznamensucht der Litauer an, besonders
Donaiitius (Dickbauch = Didpilwis, Dramblys, Kröte =- Rupuische,
Maulaffe = Schioplys, Taugenichts = Beslepitsche! etc.).
VI. Sinnen und Sagen.
1. Glaube und Aberglaube. Den Begriff des persönlichen
Gottes drückt der Litauer, ähnlich allen Indogermanen, mit dem Worte
De was aus. Ein aufgeblasener Emporkömmling läuft wie ein De-
waitis, ein junger Gott, herum (Donal. Lenz 122). In vorchristlicher
Zeit schnitzten sie sich, wenn Donaiitius (Sommer 536) recht hat, ihre
Götzen oder Dewaitsche selbst. — Vom Götterdreigestirn Perkun,
Pikoll, Potrimp hat eich im Volksglauben noch der erste lebendig
erhalten. Ueber sein Äusseres gehen freilich die Berichte auseinander,
Bassanowitsch kennt ihn als alten Mann, andere als Jüngling, in
Samogitien kommt das Wort sogar neben der maskulinen Form im
Femininum vor. Er ist der Donnergott. Für „es donnert a sagt der
Scham eite: Perkun rasselt oder dröhnt (Perkun ja oder Perkunas oder
Perkunalis grauna oder gruraa). Ein Sprichwort lautet: „Perkun,
plage nicht den Schameiten, sondern den Gudden wie einen roten
Hund.tt
Pikoll und Potrimp kommen wohl in Orts- und Familiennamen
vor; was sonst über sie heutigestages bekannt ist, geht vielleicht auf
gelehrten Einfluls zurück. Die Vermutung, Pikoll hänge mit dem
Worte pekla = Hölle zusammen, ist wohl zurückzuweisen.
Die Laima als Glücks- und Liebesgöttin kennt man kaum weder
diesseits noch jenseits der Grenze mehr, hingegen erzählt man von
ihren Priesterinnen, den Laumen (Druden), vielerlei. Sie vertauschen
die Kinder, ziehen als Wassernixen die Unvorsichtigen ins Wasser,
tanzen oder reiten nachts auf Kühen, um von einem Orte an den
andern zu kommen. Sie quälen das Vieh und necken die Menschen.
Belemniten oder Donnerkeile werden LaumenfLnger (Laumes Pirschtai)
oder Laumenzitzen (Laumes Papai) genannt. Von Insekten hervor-
gebrachter Rindenauswuchs mit dürren Reisern heilst Laumenbesen
(Laumesschlota), vertrocknete, abgenutzte Birkenbündel oder Besen-
reste führen den gleichen Namen und auch das Blindekuhspiel trägt
den Namen der Laumen (Laumineti).
Mythologie. 89
Die Verpeja spinnt den Lebensfaden jedes Menschen am Himmel
ab. Fällt ein Stern, so sagt man: „Wieder ein Mensch gestorben. u
Die Raganos (früher „Priesterinnen") sind Hexen. Sie scheren
des Nachts die Schafe, melken die Kühe, so dafs der Bauer bei der
Schafschur wenig Wolle nnd die Magd beim Melken keine Milch erhält.
Ihre Spuren sieht man im Schneckenschleim auf dem Rasen. Sie werden
auch Schawieten genannt (Behexerinnen). Wenn man sich bekreuzt,
haben sie keine Macht.
Die Gilt ine (von igelti = stechen) denkt man sich bald als
Schlange, bald als Weib. Sie ist die Todbringerin. Donalitius besingt
den Heuschnitt und braucht dabei u. a. folgende Verse (Passarge,
Sommer, S. 434 f.):
Da lief man in Massen zusammen,
Und rief überall laut: Lauft, mäht, harkt, bringts in Haufen.
Da beganns auf dem Feld wie ein Ameisenhaufen zu wimmeln,
Knechte und Herren, alles bereit, das Heu zu bereiten.
Wars doch, als ob die Welt, zum heifsen Kampfe sich sammelnd,
Trüge Schwerter und Säbel hinaus auf die blumigen Wiesen.
Bingsum würgte sogleich hohnlachend Giltine und brachte
Allen den lieblichen Wiesen umher unendliche Klage. —
Doch mit der scharfen Hippe, als wollte sie alles rasieren,
Bäumte Giltine auf den sämtlichen Bauern die Wiesen.
In Sprichwörtern lebt der Name des weiblichen Freund Hein noch
fort. „Giltine sieht nicht auf die Zähne", sagt der Schameite. Zwei
andere Poltergeister erwähnt Donalitius nur den Namen nach: die
Piktschurna und den Bildukas. Er vergleicht den scheltenden
Winter mit der ersteren. Der letztere erscheint dem Fritz um das
Hahnengeschrei und schafft sein Geld aus dem Kasten durch den
Schornstein. Beide kennt man jetzt nicht mehr, ebensowenig die von
Moswidius und Bretkunas erwähnten Götzen Sehern epatschus = Lit.
Szemepatis (Erdmännchen, weibliches Tierlein) und Laukasargus
(Feldhüter). Die Stelle bei Bretkunas heilst: „Die Litauer beteten an
die Schemepatschus Kaukus", die bei Moswid: „Vergefst die Eaukus
Schemepatis und Laukasargus, verlalst alle Teufel (welnuwai) und
Götter (deiwes)".
Die Wolfenbütteler Postille von 1573 l) kennt gleichfalls Scheme-
patis, Perkun, Pikullai; aulserdem Aitwars (Etwaras, Eitwarius), Kaukai
Appidemes (Lasicius: Apidome), Kalnus, Akmonis, Medzius (Media),
Gaius (Alkus), Ypes, Besas, Czertas, Welnas.
*) 8. 85 a: Tikedami ing fzemepaezius, Eitwarius, kaukus, appidemes,
kalnus, akmenis, medzius, gaius kaip ghe wadinna alkus, vpes, perkunu.
Tai wissa ira — presch pirmughi ir antrughi prisakimu etc. — Kaip nesang
welnas ira etwaras, teip besas ira fzemepatis, teipag czertas ira Apideme,
teiegi pikullai ira kaukai, tai wisa kruwai pati welina ira, Tasiegi welinas,
biesas, czertas, a pikulas, kalnai, Akmeni, medi, gaiui, alkie, vpei, kursai ira
Eitwarei fzemepatei, kaukai kurios ghe meldz. — Mittheilung von Herrn
Dr. Gaigalat.
90 Die LitAuer.
Der Eauks ist ein litis - oder katzenähnliches Tierlein, länglich
wie ein Wiesel oder Hermelin, er wohnt unterm Strohdach in den Eck-
winkeln. Er hat einen langen Schwanz, läuft schnell, fliegt nie. Er
ist des Hauses guter Schutzgeist, bringt Getreide und Geld, das er den
Feinden des Besitzers wegnimmt. Das Korn schafft er in die Elete.
Wo ein Eauks im Hause ist, werden die Vorräte nie alle, man mag
noch so wenig geerntet haben. Jeder Besitzer sucht, einen Eauks zu
erlangen. Zu diesem Zwecke vergräbt man ein Ei in den Pferdemist
und hütet die Stelle sorgfältig, bis das Ei verschwunden und der Eauks
ausgekrochen ist. Jeder sucht seinem Eauks Wohlthaten zu erweisen
und ihn nicht zu stören.
Der Aitwars ist dem Kauks ähnlich, bringt nur Geld, ist aber
behender als der Eauks und kann auch dahin, wohin dieser nicht zu
kriechen vermag. Der Glaube an den Eauks und Aitwars herrscht in
Preufsen wie in Russisch-Litauen. Donalitius erwähnt beide nicht.
In Samogitien sagt man von einem flinken Menschen, „er läuft
wie ein Aitwars". Ähnliche Wesen, der Pukys (-.Kaulbarsch*1, Do-
nalitius) und derSperuks (Schpiruks), sind im eigentlichen Samogitien
unbekannt, doch kennt man in Olsiady den Bugys. Das ist ein böser
Geist in Gestalt eines kleinen Mannes, mit dem man die Kinder
erschreckt, sowie man in Mitteldeutschland mit den Worten Furcht
einzujagen sucht: „ Jetzt kommt das Graumännchen. u
Den Wirbelwind (Wesuls) falst man wohl nirgend mehr
dämonenhaft auf.
Die Barsduken (Zwerge), die im Wirbelwind erscheinen, kennt
man in Preufsisch - Litauen, nicht in Samogitien. Dafs ein Zusammen-
hang dieses Wortes mit dem von den gefragten Burschen sofort damit
in Verbindung gebrachten Barsiuks (Dachs) vorliegt, dessen Fett als
Heilmittel verwandt wird, ist wohl nicht anzunehmen. Man hält jenes
Wort vielmehr mit Lit. pirfstas (spr. pirschtas, Finger) verwandt und
meint, es bedeute „Däumling". Diese Däumlinge kennen alle slawischen
und germanischen Völker.
Gewisse Lichterscheinungen setzen besonders die Fischer in Er-
staunen und erfüllen sie mit Aberglauben. So sehen die Leute in ihren
Eähnen öfters bei klarem Wetter drüben auf den hohen Sandbergen
der Nehrung riesengrolse graue Gestalten, die sich rüstig vorwärts
bewegen und ihre Grötse verändern. Es sind Strahlenbilder von
Wanderern, die durch eigenartige Strahlenbrechung und Spiegelung
hervorgerufen werden.
Bei Gewittersturm bemerkt man an der Mastspitze und den Leinen
öfters einen Phosphorschein, es ist das St. Elmsfeuer. Beide Erschei-
nungen setzen „nicht gereiste" Fischer in abergläubischen Schrecken.
Inwieweit die Mittagsfrau oder das Roggengespenst bekannt ist,
vermag ich nicht zu entscheiden. In Jonaten hörte ich, ein weifses
Weib (Obaks) vertreibe die Einder aus dem Getreide; ob das Wort
Geister und Dämonen. 91
etwa Ubag8, Ubage (Bettler, Bettlerin) heilsen soll? In Deutsch-
krottingen warnt man die Kinder, nicht ins Getreide zu gehen, der
Pohpoh, Kornpopel (Baidykle, Beidiklis) oder der Jud komme sonst,
letzterer stecke die Kinder in den Sack.
Die Mate (Mutter, auch Gebärmutter) ist dem Namen nach lettisch
and bezeichnet ein froschähnliches Wesen, das im Inneren des Menschen
sitzt und ge wisser mafsen der Träger seines Lebens und seiner Gesund-
heit ist. Durch Überanstrengung im Heben oder Essen schädigt man die
mate, es entsteht dann Kolik oder Gebärmutterkrankheit. ImTelscher,
Rossienischen und Schaulener Kreise bezeichnet man mit Maziza mate
eine Gebärmutterkrankheit. In ähnlicher Weise bedeutet daselbst das
Wort Gumbs nur Magenbeschwer oder Kolik« Bei Donalitius drückt
der Gumbs das Herz, quält beim Erschrecken, plagt den Magen bei
übermälsig genossenem Kaviar und wird durch Branntwein vertrieben.
Eine litauische Zauberformel aus der Memeler Gegend enthält die
Worte: „Ich gehe, dreimal neun Gumbs zu vertreiben — kehr nicht
wieder, du böse Gumbele." In Olsiady bezeichnet man mit Gumbs eine
Beule, als Geist in Froschform kennt man ihn nicht.
Die Ausdrücke Pikta-dwase (böser Geist als Verführer), Schaltys
(böser Geist in Schlangenform als heftiger, gefährlicher Widersacher)
und Rupusche (böser Geist in Krötenform) werden im Telscher
Kreise gebraucht, sind jedoch häufiger Schimpfwörter; die Ableitungen
Rupuschokos, Rupuschele, Schaltuks sind nur Schimpfwörter. Über
den ehemaligen Schlangenkultus sind wir durch eine grotse Reihe von
Zeugen unterrichtet. Äneas SilviuB (De Polonia, Lituania et Prussia)
erzählt auf Grund von Nachrichten des litauischen Missionars Hiero-
nymus von Prag, jeder litauische Familienvater habe in einem Winkel
des Hauses eine Schlange. Während sie auf dem Heu lag, wäre sie
angebetet worden, auch habe man sie mit Speise versorgt. Als Hiero-
nymus die Schlangen auf dem Marktplatze zu verbrennen befahl, konnte
eine grofse Schlange vom Feuer nicht verzehrt werden. Dann be-
kundet Sebastian Münster, die Litauer hätten ursprünglich als Numina
das Feuer, die Wälder, die Vipern und Schlangen verehrt, welch letztere
sie in den einzelnen Häusern wie Penaten genährt, mit Opfern bedacht
und verehrt hätten. Desgleichen hätten sie ein beständiges heiliges
Feuer unterhalten. In Münsters Illustration beten zwei sich den
Kücken kehrende Litauer ein Opferfeuer auf dem Altar und eine
Schlange am Baume an. Münster erzählt auch, dafs sie die „vier-
fülsigen Schlangen, so nur drei Spannen lang sind", für ihre Haus-
götter halten (Kosmogr. 1550, S. 906; 1598, S. 1413). Dieser Bericht
Münsters wurde fleifsig nachgedruckt, er findet sich zum Teil wieder
beim Krakauer Kanonikus Mathias a Miechow (Descriptio Sarmatiarum
1521), dann bei Striykowski, der hinzufügt, bei Wilna würde der
Schlangenkultus noch von vielen getrieben. Ihn benutzten Erasmus
Stella (Antiauitates Borussiae), Joh. Krasinski (Polonia 1574), Andr.
92 Die Litauer.
Cellarius (Descriptio Regni Poloniae 1659), Lasicius (de diis Samagi-
tarum 1615), Jansson, Atlas 1613 (vergl. Preuls). Sigmund von
Herberstein ergänzt Sebastian Münsters Angaben in seiner Moscovia
(1549, 1557). Man nenne diese Schlangen Giowites, Jastznka oder
Szmya. Sie seien wie die Eidechsen, aber grötser, vierfülsig, schwarz,
feist, ungefähr drei Spannen lang. Zu einer bestimmten Zeit setze
man Milch inmitten der Wohnung auf und kniee auf den Bänken,
dann komme der Wurm hervor, pfeife die Leute wie eine zornige
Gans an und dann beteten die Leute den Wurm mit Ehrfurcht
an. Wenn ihnen etwas Unangenehmes geschähe, so lebten sie des
Glaubens, sie hätten ihren Gott nicht gut gefüttert. Noch jetzt
braucht der Litauer das Wort Gymate euphemistisch für Schlange,
Gywas bedeutet lebendig, Gywolis Lebewesen, Gywata ein Bauerngut
und zugleich die ewige Hütte, die ewige Seligkeit. Ein Gywatininkas
ist der Bewohner einer ländlichen Besitzung. Kaum genug zu poeti-
schen Verbindungen bieten diese beiden Worte. Die Jastznka scheint
die polnische Eidechse zu sein, Schmya ist das noch jetzt bei den tsche-
chischen und lechischen Stämmen übliche Wort für Schlange. Nehring
(Die Anbetung der Ringelnatter bei den alten Litauern, Samogiten und
Preuls en, Globus 73, 4) meint, es sei die Ringelnatter gewesen, die man
verehrt hat Ich glaube, man hat noch andere derartige Tiere ver-
ehrt, denn Münsters Angabe von der vierfüfsigen Schlange, der
Hinweis auf einen kundigen Gewährsmann und das allerdings frag-
liche Wort Jastzuka, alles dies scheint auch auf eine Eidechse, einen
Molch oder d ergleiche d zu deuten.
Die Weles, die nach Daukantas im Volksglauben der Litauer
die Seelen der unbegrabenen Verstorbenen sind und nach Bartsch
diese abholen, kennt man in Samogitien nicht mehr, hingegen ist
der Glaube an den Weins (Teufel) über das ganze litauische Sprach-
gebiet verbreitet. Bei Donalitius (Lenz 214) flucht ein stattlich ge-
kleideter Herr, der obersten einer, bei allen groben und kleinen
Teufeln (Welnias, Welniuksztis), dats die Hölle aufdampft. Der Weins
oder Welnias entspricht dem biblischen Satan, heifst auch Biesas,
Schetons, Tscharts, Tschertas, und wird gern in der Duoba
wohnend gedacht Alle diese Worte, wie auch die Ableitungen Wel-
nuks, Biesuks gebraucht man auch als Schimpfworte.
Den Smakas, der in den lit. Mitteil. I, 395, mit den wenig
verständlichen Worten charakterisiert wird: „Der Lindwurm, der
aber in seiner äufseren Erscheinung mehr dem Menschen ähnelt",
bezeichnet in Russisch - Litauen einen starken , furchtbaren Teufel.
Man erzählt sich dort viele Geschichten von ihm. Auf einem Altar-
bilde der Olsiader Kirche ist ein Gentaur abgebildet, den das Volk all-
gemein als das Bild des Smakas deutet. „Stark oder schrecklich, wie
ein Smakas" ; „er greift zu, wie Smakas", sind daselbst sprichwörtliche
Redensarten.
Zauberei, Schatzgräberei, Krankheitsbesprechung. 93
Dafs es trotz der Predigten der Priester, die derlei Glauben auszu-
rotten aufs eifrigste bestrebt sind, noch so vielerlei alte Anschauungen
giebt, beweist ihr Alter und ihre Kraft. Hier und da hat man noch
Zauberbücher, die man aber nicht sehen läfst. Zur Wahrsagerin
{Burtininke, „die Karten benutzt sie nicht") gehen, wie in ganz Deutsch-
land, fast nur verliebte Mädchen und Witwen. Im Kufe der Zauber-
kunst stehen in Samogitien besonders die Bärenführer (Meschkininkai)
and die Juden. Die Bärenführer legen Bärenhaare unter die Thür-
sch welle, um das Yieh zu verzaubern. Die Fleckchen eines bösen
Fingers, Streifen eines Tuches darf man nicht aufheben, sonst wird
man krank. Man wirft sie ins flielsende Wasser oder legt sie auf den
Zaun, dafs mit dem Fleckchen auch die Krankheit vertrieben wird.
Der Juden bedient man sich bei Verzauberungen deshalb, weil sie viel
dringender, eifriger und zudringlicher beten und handeln können. Man
giebt ihnen Geld, dafs sie des Feindes Tod oder Unglück durch ihr
Beten bewirken, oder, dafs sie die Auffindung eines Pferdediebes
durch Gebet befördern sollen. Nicht viel anders ist es, wenn man dem
Pfarrer einen Eubel für eine Messe giebt (Misches uschpirkti), die den
Pferdedieb herbeiwünschen und das Geständnis der Schuld bezwecken
soll; oder, wenn die frommen Weiber (Da watkos = „Devote?" oder
Polnisch oder zu Litauisch Dawadas =■ Ordnung, wie Methodisten,
Stundisten und die polnischen Gromadki) zum Pastor gehen, er soll
ihnen gegen Bezauberung oder Krankheit Absolution lesen (Absortas
akaititi), cL h. aus einem lateinischen Buche unverständliche Worte
hersagen. Auch Schatzgräberei treibt man hier und da. Wo man
dreimal ein Flamm chen aufflackern sieht, ist Geld. Dahin legt man
ein geweihtes Kreuz oder den Rosenkranz; beides kann der Teufel,
wenn es geweiht ist, nicht wegnehmen. Nachts gräbt man, wobei der
Teufel immer stören will. Das Graben ist nur von Erfolg, wenn man
„drei Köpfe heruntergethan" hat. Ob das Kohlköpfe, Hühnerköpfe
oder Menschenköpfe sein müssen, weifs man aber nicht.
Das Geld erscheint dann in Form eines Kalbes oder Hundes etc.
Schlägt man den Hund mit Holz an, wird er zu lauter Geld. Das
Loch muls der Gräber auflassen, sonst werden die Augen krank. —
.Ein böser Bursche hat einst einen toten Hund gefunden, den warf er
nach seinem Gegner; der fand ihn am andern Morgen in Geld ver-
wandelt.
Gegen Krankheit bedient man sich zahlloser Hausmittel, Be-
sprechungsformeln u. dergl. So verwendet man gegen das Überbein
Totenknochen, mit denen man die betreffende Stelle reibt. Eine Ver-
stauchung (Lit. Girgszdele) sucht man zu vertreiben, indem man ein
Band um das Handgelenk wickelt. Als stets heilkräftig gelten
neben geweihten Wacholderbüscheln Abendmahlsoblaten und „Wolken-
abfälle u (Debesilai). Erstere kann man, wenn auch sehr selten, durch
Juden kaufen, letztere sind angeblich Sternschnuppen und eine „weiche,
94 Die Litauer: Tieraberglauben, Lockrufe, Bräuche, Geräte.
gallertartige Masse", meist ausgekrochene , unverdaute Raubtier speise.
(Donalitius: Debesylas = Alant nach Nesselmann; Gryta will den bei
einer Prügelei zerschlagenen Dotschys mit Alant und anderen Kräutern,
Selmyke und Berge mit Salben, Jeke mit einer Abkochung von kräftigen
Kräutern, Porst und ßirkenteer, Daggert, heilen.) Magerem Vieh
giebt man Krebse und zerhackte Schlangen zur Kräftigung, gegen Toll-
wut hilft ein Getränk, aus saurer Milch und besonderem zerriebenem
Holz (cica medis) bereitet. Saure Milch löscht auch das durch Blitz
entstandene Feuer.
Die Träume und Vorahnungen weisen auf die rege Beziehung-
zur Tierwelt hin. Solange der Hund heult, ist bei Kranken keine
Gefahr im Anzüge; ist aber das Heulen und Bellen anhaltend, so
stirbt in dem betreffenden Gute eins. Träumt man von einem bellen-
den Hunde, so stölst einem Übles zu. Der Storch wird geschont,
schielst man ihn, so brennt das Haus an. Läuft eine Katze oder ein
Hase über den Weg, so bedeutet dies, wie das Erscheinen eines
Kometen, Unglück. Wäscht sich die Katze mit der Pfote, so kommt
Besuch; dieser Glaube herrscht in Mitteldeutschland auch. Der Ruf
des Kuckucks bedeutet Tod; im Herbst wird der Kuckuck zum
Habicht. Die Stimme der Nachtigall lautet: „ Georg, spann anr
schlag zu, fahr"; die der Wachtel: Wachauf; die der Schwalbe, wie
Rückert im deutschen Liede ähnlich sagt: Als ich Abschied nahm, waren
Eist' und Kasten schwer, als ich wiederkam, war alles leer. Die Hühner
lockt man: put, put; die Küchlein: tschip, tschip, tik, tik; die Hühner
scheucht man: schtisch, schtisch. Die Gänse ruft man: schut, schut;
die Enten: pile, pile; die Schafe bure, bure; die Fohlen: gusche, gusche
oder kusch, kusch; die Kälber: prtsch, prtsch oder verschelai, verschelai
oder mit vibrierenden Lippen: tpwruk, tpwruk. Für diesen Laut
hat die litauische Schreibweise ebensowenig ein Zeichen, als das deutsch-
lateinische Alphabet der deutschen Sprache für die Schnalzlaute, mit
denen der deutsche Bauer Schweine, Federvieh und Binder lockt. Die
Katzen scheucht man: schkatsch, schkatsch und lockt sie: kat, kat.
Die Schweine ruft man: tschuk, tschuk oder kjaule, kjaule.
Einige Bräuche sind noch verbreitet: Man fährt nie bei Nordwind
Dünger. Das Messer hält man nie nach oben. Hat man den Schlucken,
so spricht anderes Volk über einen. Träumt man, man verliere einen
Zahn, so stirbt man.
VII. Geräte.
Als die auffälligsten, von den Deutschen unterschiedenen, weib-
lichen Schmuckstücke (Abbildungen 12 und 13) führt Lepner fol-
gende auf : Kieka oder Zebszius (Schleierhaube) , Marginne (bunte
Decke), Paresken, Blumensträufse von Raute, Krauseminze, Marien-
blätter und dergleichen, Messingringe, Messing- und Zinngürtel, bunte
1 1
Litauer am Ende des 19. Jahrhundert*.
kugeln (Titschern), Tanz. Die veralteten Ansichten Lepners über die
litauische Sprache (als Proben giebt er aufser Worten das Vaterunser
in der Form der Katechismen Simon Grünaus und seiner Zeit) übergehe
ich hier, die Wörterbuch schrei her un gedruckter Wörterbücher auch,
als beste GesangbuchBdichter gelten ihm Klein, Hurtelius, Prätoriua,
Schwabe, als litauische Schriftsteller von Ruf Rapagelanus, Moswid,
Willentue, Sengatock, Bretke, Joh. Rhesa.
Die Kriwule bat sich bis heute am Haff erhalten. Ein Litauer in
Eydtkuhnen erzählte, dafe zu seines Vaters Zeiten sehr oft Tom Neben-
Geräte. 97
Hanse die Kriwule gebracht worden sei. In fliegendem Laufe sei sie ^
ohne Bemerkung oder mit einfacher Zeitangabe abgegeben worden und
mulste sofort zum Nachbar weitergeschafft werden. Der letzte im
Dorfe brachte sie zum Schulzen zurück. Sofort nach dem Erhalt der
Kriwule, oder auch zur festgesetzten Zeit, versammelte man sich dann,
und wer zu spät kam, zahlte Strafe. Aulser dem vielgebogenen Stock
(Abb. 14) gab es auch noch eine Kriwule, die nichts als ein vielgewun-
dener Griff in Geweihform war und mit einer Pfeife und einem Loch
zum Einschrauben des Stockes (Abb. 15) versehen war. Ähnlich geht
Abb. 14.
Gemeindestock oder Kriwule (Stock). Stockgriff.
in Sachsen (Döbern, Priestäblich, Doberschütz, Fremdiswalde, Burkarts-
hain, Schwemmthal) der „Hammer", bei den Easchuben der „Bock",
bei den Tschechen der „Gemeindestock", bei den Sorben „Klucke" oder
„Heja", bei den Polen die „Tafel" herum. In manchen litauischen Gegen-
den bezeichnet man mit Kriwule dann auch die ' Zusammenkunft der
Dorfjugend, besonders an den Abenden des zweiten Feiertags und in
den zwölf Nächten. An diesen Bocken abenden ist es natürlich lustig
hergegangen, man vermutet sogar, dafs der Name Krawall nichts als
eine Umbildung von Kriwule sei, womit man jene Versammlungen be-
zeichnet habe. Es bliebe da zu untersuchen, wo das mittellateinische
Wort charavallium (Katzenmusik, Lärm) entstanden ist und wie dies mit
Kriwule zusammenhängt. Jetzt leitet man meist Krawall von jenem
mittellateinischen Worte ab. Neben dem Gemeindestock entstand ein
Schulzenstab, etwas gröfser als ein gewöhnlicher Spazierstock, nun aber
auch aulser Gebrauch. Ehemals trug der Schulze den Krumm stab als
Zeichen seiner Würde und sandte ihn als Symbol herum. Jetzt ist die
Kriwule meist nun ein einfaches Schriftstück. Im Walddorfe Szargillen
ging dieser „Krawul" kürzlich herum, und kurz darauf kam der Gemeinde-
diener, den angekündigten Steuergroschen zu holen. Eine Kätnersfrau
wollte nicht bezahlen und der Diener nahm irgend einen Gegenstand
als Pfand. Da griff die Dame nach der Forke und schlug auf die
räuberische Hand und den Rücken des Dieners. Der ging aufs Labiauer
Schöffengericht, wurde aber abgewiesen, weil der Kätner aussagte, der
Krawul sei gar nicht in seine Hände gekommen. Der Gerichtshof
ging noch weiter und war der Meinung, jene Sitte sei keine ordnungs-
gemäße behördliche Benachrichtigung.
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 7
98 Die Litauer.
Charakteristisches Hausgerät besitzen die Litauer nicht mehr.
Tisch, Bank, Stuhl, Bett, Wiege, Koffer, Kommode sind wie in gans
Deutschland; eine eigentümliche Sesselform ist nicht selten, bei der
die Fütse auf einem Rahmen enden. Die festen Wandbänke unter-
scheiden sich von der verrückbaren Sitzbank vor dem Tisch. Diese
drei Stücke geben jedem Krug sein Gepräge, der eben nichts weiter
enthalt, als die lange Tafel mit den Bänken. In Russisch -Litauen
i Abb. IS. bietet der Lichtet ander (Schubinkschtis,
■' Schibintnwas) noch eine Erinnerung an ältere
Zeit. Zu Lepners Zeit war er noch allgemein
in Gebrauch, Rhesa kennt ihn noch auf den
Haffdörfern, heute ist selbst in die entlegensten
seh am ei tischen Weiler die Petroleumlampe ge-
kommen ; nur selten ist er noch zu finden.
Eine 1 V» m hohe Holzstange mit Fufs ist mit
einer kürzeren, verstellbaren zweiten verbun-
den, die oben eine Zwicke als Spanhalter trägt.
Dieser Kienspan (Skala) wird abends angebrannt
und dient als Licht (Schiburys ; Donalitiue :
Ziburys, Kienspan als Leuchte). An der Seite
des Standers hängt ein Bündel Kienspäne als
Vorrat (Abb. 16). Der Lichtständer tritt in
mehreren Abarten auf; an Stelle der Zwicke
befindet sich oft eine rostartige Eisenpfanne.
Diese Lichtpfanne enthält brennende Kien-
späne und steht entweder auf einem Ständer
oder hängt an der Decke. Die erste re Art
habe ich genau in derselben Weise beim persi-
schen Moharemfeste in Smyrna gesehen. Der
Hof, auf dem die eigenen nächtlichen Tänze
und blutigen Selbstverwundungen der schiiti-
sehen Mohammedaner stattfanden, ward einzig
durch solche Lichtständer erhellt.
Ton anderem Hausgerät verdient die Handmühle noch Erwäh-
nung. Heute besorgen freilich fast allgemein Dampfmühlen oder doch
Wasser- und Windmühlen das Geschäft der Mehlbereitung. Einst
füllte aber das Mahlen einen grolsen Teil der täglichen Thätigkeit ans.
Die Dainos gedenken wiederholt der Mühle, und alte Zeugnisse (vergl.
Tetzner, Dainos, S. 9) erwähnen den Gesang beim Mahlen. In einem
besonderen Häuschen besorgte man ehemals die Mehlbereitung (Abb. 17).
Ein Holzgestell von Im Höhe und Breite und l'.'^m Länge enthält
im Inneren in einem cylinderförmigen Loch eine wagerecbt liegende
feste und darüber eine ebensolche drehbare Steinscheibe. Die Dreh-
scheibe ist unten gerieft, hat in der Mitte ein durchgebendes Loch
(Lit, Kazuba; man vergleiche den Tolksnamen der Kaschuben) zur
Handmühle. Kanklys. 99
Aufnahme des Getreides und nahe am Bande ein »weites Loch zum
Drehen. Gewöhnlich reicht eine über dem Centnun festgemachte, zum
Drehen dienende Stange Abb. IT.
ine Drebloch herab. Am
Bande der festen Scheibe
befindet sich ein Ab-
flnfsloch für das Mehl
oder vielmehr für die
Grütze. Denn höchstens
dazu benutzt man die
Bandmühle noch.
Hölzerne Pflüge
(Zochen) nnd hölzerne
Eggen machen den ,
eisernen Platz. Wagen
und Schlitten der unbe-
holfenen und zusammen- Handmühte.
gestoppelten alten Art
werden immer seltener. Ein schöner hölzerner litauischer Renn-
Schlitten, der Jetzt im Prussiamuseum aufbewahrt wird, zeigt aber,
zu welcher Höhe die heimische Kunst gedeihen kann. Gleichfalle
ersichtlich ist dies aas den zierlichen Giebelverzierungen, die
hier nnd da in Preufsisch- und Russisch- Litauen zu sehen sind. Sie
begegnen uns in der Form von Hörnern, gegenüberstehenden Pferde-
köpfen, sowie als Herz, als eine Art Reichsapfel, Kelch u. dergl.
Wahrend in Buesisch- Litauen die Grabkreuze völlig gleich sind, ist
auf alten preulsischen Kirchhöfen gröbere Mannigfaltigkeit.
Die altertümlichen litauischen Musikinstrumente sind jetzt allent-
halben durch Geige und Ziehharmonika verdrängt, doch fristen auch
noch Kankljs, Cymbal, Truba und Pfeife ein verborgenes Dasein.
Die Kanklys (Abb. 18) ist das eigentümlichste jener Instrumente;
es wurde auch Schweinskopf genannt. Wahrscheinlich soll das auf
Lepuers Bild (Abb. 12) am Boden Abtp 18_
befindliche eine Kanklys sein. Die
Exemplare im Königsberger Prussia-
museum und Tilsiter litauischen
Museum sind anders gestaltet. Sie
ist wie eine Guitarre oder auch wie
eine Zither gespielt worden und Kanklys.
konnte auch umgehängt werden, so
dals mau sie im Freien oder bei Aufzügen benutzen konnte. Von den
litauischen Gelehrten des vorigen Jahrhunderts haben nur wenige die
Kanklys in Gebrauch gesehen; Riesa, Nesselmann, der Übersetzer von
Juschkiewitschs Hochzeitsgebräuchen von Wielona, beweisen schon
durch ihre falsche Verdeutschung, dafs die Kanklys dem litauischen
100 Die Litauer.
Vülksbewufstsein ganz fremd geworden ist» Sie soll aber doch noch
hier und da gespielt werden, nach Budrius wurde sie ähnlich der Zither
behandelt (vergL Neue preuls. Prov.-BI. 1847 u. 1848), Juaohkiewiteeh
erwähnt sie ja auch. Die Besaitung der neunsaitigen Kanklys soll
eine Oktave mit dem Baisgrundton umfafst haben. Die grölst e Höhe
der grolsen Königsberger Kanklys betragt 85, die Breite 35 cm; die
kleine (siehe Fig. 17) aus Schon ei hat knapp zwei Drittel der Malse
jener. Die grotse Kanklys ist jetzt mit Darmsaiten, die kleine mit
metallenen neu versehen. In Deutschcrottingen soll man noch einzelne
Exemplare haben.
Die Truba, die auch Lepner bietet, ist bis l'/jm lang und be-
steht aus einem ausgehöhlten Birkenast, den man zu diesem Zwecke der
Länge nach zerschnitt. Man bindet die ausgehöhlten Hälften mit
Tannen wurzelchen aneinander, biegt das Schallloch breit aus, fugt
aber kein Mundstück ein. Früher spielte die Truba bei Hochzeiten,
Kindtaufen und lärmenden Umzügen eine Rolle, jetzt hat sie sich zu
den Hirten geflüchtet und wird hier und da aus Blech nachgebildet.
Die Trommel und die Fiedel, auch von Lepner erwähnt,
weichen von den bekannten Formen nicht ab.
Die Pfeifen treten in mehrfacher Gestalt, als Längs- und Quer-
pfeifen, auch als künstliche Thonpfeifen auf. Die von Lepner ab-
gebildete würde litauisch fleta oder klernata (nach dem deutschen Flöte,
Klarinette) genannt werden. Kurze Längspfeifen aus Rohr werden in
einem Prussiakatalog Skurduczei, ech&meitisch Wamzdelei genannt
Doch teilte mir eine Schameite mit, in der Olsiader Gegend nenne man
eine solche Pfeife Birbyne, während der Ausdruck Womsdis, Womsdelis
für Thonpfeifen in Tierform verwendet werde. Nesselmann übersetzt
des Donalitius Wort birbyne mit Kinderschnarre, die nach meinem
Gewährsmann in Schameiten Tarszkine genannt wird.
Die Maultrommel (Dambras, Dambrelis) in Hufeisenform, auch
Brummeisen oder Brummholz genannt, ist verschwunden. Jetzt
Abb. 1» haben die Kinder ein
kleines Instrument, das
sie beispielsweise in
Leipzig Brummeisen
nennen. Es ist 5 cm lang
und 4 cm breit, besteht
aus Eisen draht und hat
die Gestalt eines Kreises,
Cymbel. der auf der einen Seite
in zwei Stäbchen endet
£^- . Als Kreisdurohmesser mündet zwischen den Stäbchen eine
elastische Feder mit Haken. Die beiden Stäbchen nimmt man zwischen
die Zähne und lälst die Feder schnappen. Es entsteht ein brummender
Ton. Auch vom Brummtopf scheint man nichts mehr zu wissen.
Hausbau. 101
Er besteht aas einem Topf, über den man eine Schweinsblase spannt.
In der Schweinsblase hat man innen Pferdehaare verknotet, die man
durch die nassen Finger gleiten l&fst. Der brummende Ton klingt
unschön, kreischend.
Die Cymbel ist noch heute bei den Zigeunern in Gebrauch, in
Litauen ist sie schon selten. Die nebenstehend, nur mit Andeutung
der Besaitung, abgebildete (Abb. 19) trapezartige hat 114 Saiten (drei
Oktaven) und wird mit kleinen Holzhämmerchen geschlagen. Ich sah
sie auf einer Eisenbahnfahrt von Wilna nach Dünaburg in Gebrauch.
VHL Hausbau.
1. Das Wohnhaus. Das einfachste und altertümlichste
litauische Wohnhaus diesseits und jenseits der Grenze ist dreiteilig-
Das Rechteck des Grundrisses ist der Länge nach so geteilt, dafs die
Thür in der Mitte der Vorderseite in die Hausflur a führt, auf der
sich der Herd 5 befindet. Rechts geht eine Thür in die Wohnstube
(c stuba, istuba, jizba), links eine solche in die Kammer (d kamare,
kumburis). Die Wohnstube hat ein Fenster auf der Hausthürseite, die
Kammer ist finster.
Dafs dieser einfachen Form eine noch einfachere vorausging, die
keine Zwischenwände besafs, ist aus natürlichen Gründen anzunehmen,
zumal die alten Schriftsteller, Hennenberger, Prätorius, Lepner u. a.
nicht ausdrücklich Scheidewände hervorheben, die Schultz 1832 er-
wähnt. — Reinlichkeitssinn und Bequemlichkeit geboten, den rauchigen
Herd von der Wohnstube zu trennen, in der die wertvolleren Haus-
geräte aufbewahrt wurden. Die Vorratskammer aber mulste schon
deshalb abgesondert werden, weil sich in der
Hausflur zugleich das Kleinvieh aufhielt. Solche
einfache Häuser (Abb. 20) kommen noch heutiges-
tages vor, im germanisierten Südlitauen sowohl,
als in der rein litauischen Kownoer Gegend.
Abänderungen dieses Hauses treten früh-
zeitig ein. Die dunkle Kammer erhielt z. B.
eine Eingangsthür von aufsen, später Fenster.
Schielslich wurden durch eine Querteilung die Grundrifa des einfachen
Zimmer einzeln nochmals geteilt und Stuben li^chen Wohnhauses.
und Kammern bekamen mehr Fenster, vorn, a H^*;/b He"
seitlich, hinten. Schliefslich wurde in vielen * Stube; d' Kammer.
Gegenden ein Vorflur vor der Hausthür an-
gesetzt, und die Wohnseite (c in Abb. 20), die kleiner als die andere d
war, erscheint meist in gleicher Grölse. Das so entstandene neue
Haus (Abb. 21) mit oder ohne Vorflur a2 kann als heutige Grund-
form des litauischen Hauses gelten, erneute Teilungen c und cl
längs oder quer sind häufig (z. B.: c2, c8). Von der Wohnstube c ist
Abb. 20.
b
o
d
c
a
T„T ~
102
Die Litauer.
eine Kammer abgetrennt worden. Die Vorratskammer d ist Jetzt
sogenannte kleine Stube oder Altsitzerwohnnng und der davon ab-
geschiedene Teil dl dient für die Vorräte. Der hintere Teil der
Hausflur aber ist Küche geworden. Neben dem Herd befindet sich ein
von der Küche aus zu heizender Ofen e, der die Wohnstube und die
Kammer erwärmt, und oft auch noch ein solcher, der die kleine Stube,
vielleicht auch den davon ab-
getrennten Teil heizt. Das
Hausgerät der Wohnstube fand
TT
Abb. 21.
n
kj
T
I
1
-\ \-
T C
a
O
b
- I i
a
r\
0>
J- h
TÜD
l
1
ü
I
H h
1
■Q.
g
0<n j
a
I
ich oft so verteilt, dats der
Stubenthür gegenüber Betten
g, an der Vorderseite aber
feste Bänke i mit dem Tisch h
und davor Stühle und beweg-
liche Bänke standen; rechts
H befindet sich ein Koffer k. Der
mit Haken versehene Ofen ist
mit einer Ofenbank umgeben.
Eine andere Ansicht über
die Enstehung des litauischen
Wohnhauses hat Bezzen-
berger, der in ihm eine Ver-
einigung oder Zusammen-
Grundrifs des geteilten gröfseren Wohn-
hauses.
(Donalitius: Namas, Namai; Nordlit. Butas; Wirkung von den ursprüng-
Hochlit. Namai, Nama; Scham. Trobas.) liehen einzimmerigen drei
a Hausflur (Priemene, Pryange, Priesiednis); Häusern: Rauchhaus (namas)
al Küche (Kukne)- afi Hausvorflur (Gonkas, und Wohnhaufl (ßtuba) md
Prybutis, Prynumis); b Ummauerter Herd -r , , xn--2 i- mL
(Pelens); cWohnstube (D.: Stuba,Sch.: Troba, Mahlraum = Wirtschaftsraum
H.: Grynicze, Russ.: Jizba; feine Wohnstube: (maltuwe) sieht.
Pakajus); e, f Ofen (Pecziu»), g Bett (Lowa), Dieses Wohnhaus führte
h Tisch (Stalas), i feste Bank (Suolas), k Koffer in den vorigen Jahrhunderten
(Skrinale), 1 bewegliche Bank (Zaslanas), m Stuhl i • r> • i >T x\
/tt \ a i /o j ,u i ox u i die Bezeichnung Namas, Do-
(Krase), Sessel (Sedelka); c1 Stubenkammer . ö .
(Uzpeczkine, Bakawoje, Babsze); c8 Fremden- nalitius gebraucht sie an
z i rn m e r (Alkerus) ;c8 Brotkammer (Czpirzarne), erster Stelle. Wenn ich Lepner
zugleich mit Backofen; d kleine Stube recht verstehe, der ein halbes
(Pries^ioinke A itsit^erBtube) ; dl Milchkarnmer JahrhriIldert vor Donalitius
(Penene) oder Fleischkammer (Mesine). .
schrieb, meint auch er mit
namas das Wohnhaus; ebenso Szyrwid (f 1631) und die Instruktion
des Kauf schulzen 1604. Deutsch sagt die letztere dafür Rauchhaus.
Der Name ist von dem offenen Herde hergenommen, der das ganze
Haus erwärmte und, da eine Esse fehlte, — durchräucherte. Solche
Rauchhäuser als Wohnhäuser finden sich in Preulsisch- Litauen heute
selten, doch sind sie nicht ganz verschwunden, besonders in den Haff-
gegenden und bei den Kuren. Die pomm ersehen Kaschuben haben
auch daran festgehalten. Schon zu des Donalitius Zeiten verband
Wohnhaus.
103
man indes mit dem Namen Namas nicht mehr den Begriff „ Rauch -
haus", sondern „Haus", „Gebäude", „Gemach". Gerade an den alten
Tolminkemer Häusern ist gut zu beobachten, wie zu des Dichters
Zeiten in jener Gegend aus der Einzahl namas die Mehrzahl namai
ward. Die Kultivierung Litauens unter Friedrich Wilhelm I. und
seinem grofsen Sohne erstreckte sich über alles. Die herbeigerufenen,
an reichere Ausstattung gewöhnten Deutschen, Salzburger, Schweizer,
Nassauer, Franzosen haben zu ihrem Teil beigetragen, die H&user
schmucker, schöner, mehrteiliger zu machen. Man ging nicht mehr
in sein Gemach, sondern in seine Gem&cher. Und Donalitius
gebraucht für Haus öfters den Plural als den Singular; der Plural
wurde herrschend. Er war schon zuvor von Bretkunas u. a. in diesem
Sinne für Wohnhaus angewendet worden. Jetzt geschieht dies noch
zuweilen in der Prökulser Gegend und in derTelscher; hier aber meint
man am liebsten ein Haus mit allen seinen Anhängseln oder Anbauten
and gebraucht das Wort auch für den Begriff „Häuser".
Abb. 22. Abb. 23.
— r
CT
b»
a
Q-l K
\J
e
c
J2l
'* Q
c* C
H h
„1
H h
I
Haffhaus,
a Hausflur; a* Halle mit Säulen; b Herd;
c Stube; c1 Stubenkammer; c", c* Kammern;
e Ofen; n Stall; o Vorratsraum, Futter-
kammer; p Kobe; q Vorratsraum, Schuppen.
Schoner Haus.
a Tenne (klonas); b Ofen in der
Pirte; e Wohnstube; cl Stuben-
kammer; d Dörrhaus (Pirte);
dl Kaff- und Spreuraum (peludis,
trakine); e Banse (galas); f Ställe.
In Russisch - Litauen hat man noch das Wort Namas, und da
hat es die alte Bedeutung Bauchhaus behalten. In diesem Rauch-
hause befindet sich der Herd ohne Esse. Hier wird das Viehfutter,
besonders das Schweinefutter bereitet. Fässer mit Rüben und Kartoffeln
n. dergl. stehen darin. Das Wohnhaus aber führt allgemein in Preufsisch-
Litauen den Namen Butas und in Samogitien Trobas; in Kowno auch
Gywene, in Schaulen Gryczia. Die Hausflur heilst wie das ganze Haus
jetzt allgemein Namas oder Butas.
Butas gebraucht Donalitius im Sinne von Gehöft oder Stadthaus.
Heute bedeutet das Wort Butas, Butele in Preufsisch - Litauen einfach
Haus oder Wohnhaus, in Samogitien Anwesen, Gehöft mit Land, wofür
der Nehrunger Gywenamoi, der Schameite auch Gywenimas, Gywenamas,
104 Die Litauer.
sagt. Troba wendet Donalitius für Wohngebäude an. In Samogitien
bezeichnet es heute, wie schon zu Szyrwids Zeit, die Stube, während
das Wohnhaus Trobas (Mehrzahl von Troba) heilst. Entwickelte sich
nun das litauische Wohnhaus der Begüterten in der Vorzeit schon zum
Gehöft, so verwandelte es sich bei der ärmeren Bevölkerung ohne
grolsen Landbesitz und bei den Fischern am Haff zu einem, oft
unschönen, Gebäudekomplex. Der armer Bauern (Abb. 22) unter-
schied sich, gemäfs der verschiedenen Beschäftigung (Netzetrocknen,
Dreschen) von dem der Fischer (Abb. 23), wie die beiden Grundrisse
darthun. Die Säulenhalle tritt zuweilen, der Haus Vorbau in Samogitien
sehr oft auf.
2. Das Gehöft. Hennenberger, Lepner und andere alte
Schriftsteller erwähnen als Absonderlichkeit der Litauer, dafs sie auf
ihrem Gehöfte eine Unmenge kleiner Häuser stehen haben, für fast
Jede Beschäftigung eines. Dieser Zustand besteht heute nur noch in
abgeschwächtem Malse in Preulsen, in Rufsland aber hat er sich bei
den größeren Besitzern erhalten. Die ganze Hof anläge im diesseitigen
Litauen hat sich allmählich der fränkischen angeglichen. Dals aber
die Vermögenslage, die Intelligenz und andere Verhältnisse wesent-
lichen Einflufs auf die Ausgestaltung des Gehöftes ausüben, ist im
kleinsten Dorfe zu beobachten. Der Besitzer wird mehr aufwenden
als der Eigentümer, dieser mehr als der Kätner und der Ar-
beiter, die nur Häuschen haben. Im jenseitigen Teile stehen die
Gebäude in bunter Ordnung, doch so, dafs die Klete meist dem Wohn-
hause gegenüberliegt, der Stall und das Rauchhaus aber ziemlich weit
entfernt sind, mit der Vorderseite aber alle nach dem Mittelpunkte des
Gehöftes gerichtet sind. Bund um das Gehöft zieht sich ein Gehöft-
zaun, er ist hoch und weitläufig. Mitten durchs Gehöft geht der Hof-
zaun, der die Wohnungen von den Stallungen trennt, er ist niedrig
und dicht, damit die Tiere nicht durch können. — Man gebrauchte für
das ganze Anwesen mit Land schon zu Zeiten des Donalitius den Namen
Butas, auch Gywenamas. Die Gesamtheit der Gebäude heilst Budawones.
Die Lage des Gehöftes in der Nähe eines Baches, Teiches u. dergl.
gilt als bevorzugt. In gewissen Teilen Samogitiens ist die Hausthür
südwärts, die Wohnstube ostwärts gerichtet, die kleine Stube also west-
wärts, die Hinterthür nordwärts. Der Gehöftzaun ist verschiedenartig
hergestellt, entweder aus eng aneinander gebundenen hohen Fichten-
stämmchen oder aus einer meterhohen Stangenschranke, auf der einige
Meter lange Pfähle auf der einen, dann auf der anderen Seite, 60° zur
Erde geneigt, aufgelegt sind. Häufig ist auch die Art, dafs in Ab-
ständen von etwa 6 m Pfähle eingesetzt sind, die durch etwa drei Brett-
schwarten miteinander verbunden sind. Besonders in Samogitien
liegen die Gebäude abseits der Fahrstrafse, deshalb ist jedes Gehöft
durch einen Fahrweg mit der Straf se verbunden. In der Umgebung
des Gehöftes stehen kleine Waldungen von Eichen oder Fichten oder
Gehöft
105
Birken. Die Dainos gedenken des Rittes durch das Birkenwäldchen
und des Spähens nach dem Fichtenwaldchen, woher Besuch kommt,
Abb. 24.
++++++++++++++++++++
+
4-
4-
+
4-
+
+
+
+
+
4-
+
+ + + + + +
4- + + +
£
B
o
s
— n —
»ib
a
ci
ciC
Z> d
n
c
n
A
i
D
rzTT
t\ »*T
e
N
o r
ED*
+
+
+
+
4-
4-
4-
4-
Q
4-
4-
4-
4-
4-
h
f
i«1
0
b
a
•
d
b
g
: 0 :
u
+ + ++ + 4- + P+ + +
4-4-4-4-
4- 4-
P
+ + 4-4-4-4-4-4- + + 4-4-4-4-4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
-1-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
4-
+
4-
4-
Olsiader Gehöft (Butas, Namai, Gywenamas, Budawones).
A Wohnhaus (Preufs.: Namai, Stuba, Trobas; Scham.: Trobas; Kowno: Gywene;
Schaalen: Gryczia); darin c Wohnstube (Preufs.: Stuba; Scham.: Troba); davor
i Kleinegarten (Darzelis). — B Speicher (Kletis, Swirna); a Getreidespeicher;
b Gemach der Wirtin; c Schlafzimmer der Mägde, Knechte; d Säulenvorbau. —
C Keller; (Sklepas). — D Rauchhaus (Namas); a Herd; b Raum für Rüben-
fässer etc.; c Gänsestall; f Hühnerstall; d Kobe; e Arbeitsraum zum Ausbessern. —
£ Badestube (Pirtis). — F Flachstrockengestell (Zardine). — G Scheune
(Jauja, Jaujis, Reja); a Tenne (Klonas, Kluonas); b Banse (Galas) ; c Dörrhaus (Pirtis
oder Duoba mit Ofen = d) ; e, el Spreuraum ; f Kaffraum ; g Strohraum (Darzine). —
H Futterraum (Darzine, Darzinale). — J Stall (Twartai); a Pferde; b Kühe;
c Futter; d Kleinvieh. — L Teiche. — M Brunnen. — N Obstgarten. —
O Querzaun mit P Fahrweg, Q Gehöftzaun. — R Birken- und Fichten-
wald. — S Zaunthür.
sehr häufig. Obstgärten Besitzt der russische Litauer auch , pflegt sie
aber nicht wie der Deutsche; ihm ist das Obst mehr Leckerei und
Handelsartikel, zur Nahrung dient es selten. Hingegen hält jedes
106 Die Litauer.
litauische Gehöft seinen Kleinegarten, vor dem Hause oder als Abschnitt
des Obstgartens, in besonderer Pflege. Hier gedeihen aulser Küchen-
gemüsen die zahlreichen duftenden Blumen und Kräuter der Dainos:
Raute und Minze, Päonie und Rose, Majoran und Tulpe. Litauische
Gehöfte, wie Abb. 24 in der Olsiader Gegend, umfassen etwa 2 ha,
das ganze Besitztum 150 ha. Ein ähnlich grofses zeigt der Grundrils
Abb. 25. Ist dieses nur 2 ha grofs, so ist das Gehöft wie in Abb. 23
gebaut.
A. Wohnhaus. (Pr. Butas, Namai, Hochl. Nama, Scham. Trobas.
Etwa 15 x 8 m. Als Kate: Butelis, als Insthaus: Inamiu Butas.) Von
den einzelnen Gebäuden fällt uns zunächst das Wohnhaus ins Auge« Es
ist vornehmer ausgestattet als die übrigen Gebäude. Das Baumaterial
ist der leicht behauene Holzbalken. Diese werden übereinander gesetzt,
die Fugen verstopft man mit Moos oder Lehm. Dies Baumaterial ist
noch in ganz Litauen gebräuchlich, früher baute man in Südlitauen
auch Lehmhäuser; heute aber beginnt man schon überall das Holzhaus
durch das Steinhaus zu verdrängen. Als Donalitius das Witwenhaus
in Tolminkemen baute, war es ihm keinen Augenblick zweifelhaft, den
Fortschritt mitzumachen. (Abb. 9.) Die Holzbalken blieben ehemals
im Innern ohne Schmuck, heute beklebt man sie in Samogitien auch
schon mit Tapete. In Preufsen benutzt man behauene (Abb. 26), in
Rufsland runde Balken (Abb. 27). Zur Thür führen meist eine Anzahl
Stufen, so in der Ragniter Gegend. Die Fenster sind klein, das Dach
ist mit Strohschindeln bedeckt. In Preufsisch- Litauen tritt jetzt dafür
Holzschindel und noch häufiger Ziegeldeckung ein. In den Dörfern
liegt auf dem Dache, bis zur Erde reichend, die Feuerleiter. Thür-
vorbau und Säulenhallen vor oder neben dem Hause sind nicht selten.
Dafs das Wohnhaus eine Vereinigung von mehreren kleinen Häusern
wäre, ist schon aus dem Grunde ausgeschlossen, weil in gröfseren
Besitztümern alle in den älteren Zeiten erwähnten kleinen Häuser
noch gebaut werden und vorhanden sind; und dann, weil die kleinen
Besitztümer armer Bauern aus praktischen Gründen nicht zu vielen
Häuserchen Raum gewährten. Die Entwickelung des Wohnhauses
zum Gehöftgebäude (Abb. 22 und 23) einerseits und zu den Gehöft-
anlagen (Abb. 24 und 25) andererseits ist getrennt voneinander zu
betrachten.
B. Speicher (Kletis, Klet, Swirns, Swirna). Der Speicher wird seit
mindestens dem 11. Jahrhundert in slawischen und deutschen Quellen
(Mhd. glet) häufig Klete genannt, während man jetzt den Namen lieber
nur für alte Speicher verwendet, solche neuerer Art, besonders Steinbauten,
aber Swirne nennt. Nördlich von Memel hörte ich dagegen, Klet sei
gebräuchlicher, Swirne bedeute den alten Speicher, das ist wohl so zu
erklären, dafs beide Worte ursprünglich verschiedene Gebäude bedeuten,
von denen ein anderes bei den Schameiten wie bei den preußischen
Litauern die Herrschaft behielt. Ruhig 1742, Mielcke 1800, Donalitius,
(Nach
Pre mazul
die Heuspeicher 1
bräuchlichere tro
troba) ; längs der
(gurbais) 'del zusi
(c) und Ofen (/*)«
(Nach Smilgewicz
B Awike, C Stain
(Kurschat: awiky
KuhsUU (Smilgel
Kr. 3 Kletis: K
C Grudine su aru<
A Laitas klojimo
A Tenne? B und
Brunnen («), Br
kanapiu, Q kluot
platz für Speiseki
l) Die Eiu
(neben Nr. 1, 6,
*) Die Mal
Nowo - Alexandrot
Rosseinischen ist
zimmer), statt ug
8) Die inq
Abb. 29 und woj
i
dünne, 1 m hoh^
Korn zwischen c.
Korns leert man
4) Wird i
provinzen Küche
Rhesa 1825 kennen nur das Wort Kletis; Stanewicz 1829, Daukantas
1846 nur Swirne, Budrius 18i6 braucht beides nebeneinander, Nessel-
Abb. 27.
R a 3S isch - li ta uiscliea Wohnhaus.
Nach einer Skizze des Verfassers, gez. von Hiemann.
mann auch, bevorzugt aber Swirue, Bartsch dagegen Klete, sagt aber
unrichtig, in den Dainos stehe Swirne häufiger. Bis 1846 hat in
poetischer, gehobener Rede „Klete" den Vorzug, jetzt Stfirne, in der
gewöhnlichen Sprechweise gilt Elete. In ihrer Nahe ist gewöhnlich
ein Teich oder Brunnen. Die Klete steht meist in einiger Entfernung,
^bb 28. durch ein Gärtcben ge-
Kold trennt, dem Wohnhause
gegenüber auf höherem
Fundament. Sie hat einen
Stock, dessen Oberboden
(Bieningis) angeteilt ist
und zur Aufbewahrung
von Wirtschaftsgegen-
ständen , Geschirrzeug,
Stricken , abgetragenen
Kleidern, Netzen, Ge-
treide dient. Oft ist vor
der Klete eine meter-
breite Säulenhalle, zu der
Stufen auf ein oder zwei Seiten von aufsen in das Stockwerk führen.
Der untere Teil der Swirne ist, wie das Wohnhaus, dreiteilig, die
Kletenflur mit Speicherräumen trennt die Kammern voneinander. Die
Speicherräume bergen in ihren durch Balken geschiedenen Abteilungen
w«>
1 .
I J
b
Gehöft.
109
die Getreide Vorräte, Jene haben seitliche Fenster und meist vordere
Zugänge und dienen erwachsenen Söhnen und Töchtern, Knechten und
Abb. 29.
i
"T
t l
t |
t i t
-" +
+ - , -
ui
V
: y
t i
i t
P
i
t
i
- - - j
c
\
b
e
• r
i
. _ - .
i ■
XL
z
— A— II-
-Hl
•
1 II 1
La.,, — 1
Neue samogitische Klete (an Stelle der 1886 abgebrochenen).
a Brücke, Prigrindas (l1/,111 breit), b Gastzimmer, Kleiderraum, cKletenflur, e Treppe,
r geringes Korn, s Mehl,, t Getreidefram, vgl. Abb. 25, Anm. 8), u Stube des ältesten
Knechtes oder Ökonomen mit Handkammer (ul), v Knechtekammer, w Handkammer
der Hausfrau, y Mägdekammer, z Kammer der Tochter im Sommer. Fundament: Feld-
steine. Stufen zur Klete: 4 bis 8. Dach: früher Stroh-, jetzt Holzschindel. Die c
zugekehrten Wände von r, s, t sind nur meterhoch. Die Klete liegt dem Hause
gegenüber, etwa 55m entfernt, Breite 25 bis 30m, Tiefe 12 bis 15 m, Wandhöhe
2% m, Firsthöhe 4 m, Fenstergröfse V, bis % der gewöhnlichen.
Mägden zu Schlafgemächern. Die vordere Kammer mit Fronteingang
ist das Schlaf gern ach und der Wohnraum der Wirtin oder des Ökonomen.
In der Swirne feiern Bräuti- ^b 30
gam und Braut die Vermäh-
lung. Die Dainos gedenken
gern und oft der „ hohen
Klete", „neuen Klete u, „hohen
Swirne a, „neuen Swirne".
C. Keller (Sklepas). Der
Keller liegt in der Nähe der
Klete und hat einen Ober- ***** ** Szwiekszna.
boden zum Aufbewahren von (Grundrift ™ »e™ Rupschis, durch Herrn
* • i. jri j n Wolter erhalten.)
a „Kamaras diel Darbininku" (Gesindekammern),
D. Rauchhaus (Namas). b „der Swirns oder das Gastzimmer", c „Pati
SchrägseitlingS vom Wohn- klete" (Hausfrauen -Klete), d „Priongis" (Vor-
hause, mit Thür und Fenster flur)> e Schuppen oder Laube? Vor abd
versehen, Hegt in feuersicherer "•* in jacher Breite der Hof (Kims) und
_ ° dann in etwas geringerer Breite und Lange
Entfernung das Rauchhaus. da8 dreiteilige Wohnhaus [Priszinke = Vorrats-
Es dient zur Bereitung des räum, prisenez und Primine (Buts) = Flur,
Viehfutters. In der Mitte ist troba mit Alkierius und Kamara (Mazoje
der grolse Herd, zuweilen ein Troba)]; in geringer Entfernung von der Vor-
Kessel dazu. Auf der einen ^skammer, »** gegenüber e ein kleiner
nams (Sommerkuche) , in weiterer Entfernung
Seite stehen Gefälse , abge- stall und Scheune, getrennt durch die Genetis;
Stutzte Fässer, mit Rüben, davor die Viehtrift (Ganinkla).
11
II
-Hr-
a
b
d
e
a
0
110
Die Litauer: Gehöft.
Kartoffeln, Krautstrünken u. dergl.; dazu ein Stampf trog mit Stampf-
messern. Auf der anderen Seite befindet sich (in Abb. 24) der Hühner-
Abb. 31.
W
m
m
k
m
jCl
* h
+ e
^ h
n
H I-
0
Litauische Klete in Nimmersatt.
Länge der Vorderseite : 7,6 m ; Länge der Giebelseite : 6,5 m; Breite der Vorklete :
Im; Höhe der Vorklete: 4m; Höhe der Klete: 6m; a Vorklete, b Mädchenschlaf-
stabe oder Gastzimmer, c Flur, d Burschenschlafstube, e Treppenaufgang zum Korn-
räum , f Stein als Stufe , h Bett , i Drechselbank mit Schraubstock , k grofse , mit
Blumen bemalte Lade, 1 Kleider an der Wand, m Birkenzweige mit Papierbändern
an der Wand, n Sense, o Spinnrad, p Schnitzbank, q sonstige Geräte. —
Auf dem Boden bei 0 Thür, bei W Fenster. Unterbau: grofse Steine, Bauart:
Ständer mit Füllholz (gehobelt) , Bedachung : Ziegel , Bodenraum für Erbsen , Hanf
und dergl. beginnt in der Art halbstöckiger Häuser unterhalb des Daches, Giebelzier
und Kamin fehlen, Vorklete = Gang mit drei offenen Bogen und vier Säulen, und
liegt auf der Ost-, die Hausthür auf der Nordseite des Hofes.
und Gänsestall. An das Rauchhaus ist öfter (so auch in Abb. 24) die
Eobe angebaut. Auf der anderen Seite dient ein offener Anbau als
Arbeitsraum zum Ausbessern, Schnitzen, Flicken des Geschirrs u. s. w.
E. Badestube (Duoba, Pirtis). Die Badestube liegt gegenüber
dem Rauchhause, in Preufsi seh -Litauen ist sie selten. Donalitius er-
wähnt sie gar nicht, wohl aber Lepner. Ihr alter Name (Pirtis) ist
jetzt auf einen Teil der Scheune (Duoba) übertragen worden, in dem
nie gebadet worden ist. Das Baden war ehedem gegen allerlei Krank-
heit in ständigem Gebrauch. Leider ist dieser diesseits der Grenze
mehr und mehr abgekommen. In der Nähe der Badestube liegt ein
Teich.
Dörrhaus. Futterraum. 111
V
F. Flachstrockengestell (Zardine). Ein leichtes Häuschen,
blofses Gestell oder Gerüst mit oder ohne Dach zum Trocknen des
Flachses, der Erbsen, des Klees, steht zwischen Bauchhaus und
Scheune.
G. Scheune (H. Jaujas, S. Jauja, Jauje). Die schameitische Scheune
unterscheidet sich von der südlitauischen wesentlich durch das Fehlen
des Dörrhauses (Pirüs, Duoba, polnisch hrydnia), weshalb der Ausdruck
Jauje nur für solche Dörrhausscheunen gebraucht wird. Neben der
Tenne (Klonas, Kluonas) befinden sich rechts und links eine Banse
(Galas), die nur durch einen Längsbalken in der Höhe der Wand ab-
geschieden wird. Die Ähren sind nach der Wand zugekehrt. Als
Unterlage dient Stroh, nicht das sogenannte „Bollwerk14, wie in Mittel-
deutschland. Zwischen der Tenne und der einen Banse aber steht,
ein Haus im Hause, ein eigenes kleines Gebäude, das Dörrhaus. Das
Dörrhaus reicht entweder bis an die Vorderseite der Scheune und hat
ein besonderes Fensterchen, oder es ist durch zwei kleine Gelasse von
der Vorder- und Hinterwand geschieden. Die beiden Gelasse dienen
zur Aufbewahrung der Spreu (Spreuraum = Pelude, Peludis) und
der geringen Abfallähren (Kaffraum = Trakine). Das Dörrhaus hat
auf der Mitte seines Fulsbodens eine Vertiefung mit einem grofsen
Kachelofen und heilst deshalb duoba. Neben dem Ofen, der keinen
Schornstein besitzt, stehen St angen schrägen , woselbst man die Gar-
ben aufschichtet und 24 Stunden von der Wärme und dem Ofen-
rauch dörren lälst, bis sie zum Dreschen brauchbar werden. Spielt
in den Dainos die Klete den romantischen Ort des Hauses, so in
den Pasakos (Erzählungen) und im Aberglauben die Pirte. Die
besten Erzeugnisse der modernen litauischen Belletristik, so des
Wileischis „Hans und Ännchenu und des Ketorakis „Amerika im
Dörrhaus" lassen einen Teil des häuslichen Lebens in der Duoba
vor sich gehen. Jedes grolse Fest der Knechte und Mägde findet
hier statt, besonders die Flachsbrech - Talka. Hier denkt man sich
den Sitz der Geister, des Teufels. Das Ganz- oder Halbdunkel hat
etwas Schauerliches. Der heifse brennende Ofen mit seinem Bauch
erinnert an die Hölle (Pekla), mit der man volksetymologisch den
Pikoll zusammenzubringen sucht. In den Eckbalken der Pirtis wohnt
der Weins, hier kann man ihn citieren, am Ofen kann man ihn ans
Feuer drücken. Die kleinen Häuser haben die Pirte gleich im Hause
(Abbildung 23). Kein Mädchen wagt sich des Nachts in das Dörr-
haus. Häufig findet sich vor dem Scheunenthor der Wagenschuppen
(Pelaga).
H. Futterraum (Darzine, Darzinale). In Preufsisch- Litauen sind
Scheune und Futterraum vereint und bilden die Tenne. In Bussisch-
Litauen ist der Futterraum kleiner (Darzinale ist Diminutivum) und
dient zur Aufbewahrung von Klee, Heu, Stroh.
112
*, Die Litauer :J Stall. ^
J. Stall (Twartai). Ein einzelner kleiner Stall heilst jetzt noch
Twartas, welchen Ausdruck Donalitius im Sinne einer einfachen Um-
zäunung oder Hürde, eines Flecht Werkes für Kleinvieh gebraucht In
Samogitien bezeichnet Twartai die Gesamtheit der Stallungen, wie
Trobas die der Gem&cher. Der Grundrifs gleicht dem afrikanischer
Temben, deren Hofraum hier der Düngerraum (La idaras) bildet. Die
eine Seite beherbergt die Pferde, die andere die Kühe, die dritte das
Kleinvieh, das in D nicht untergebracht ward, die vierte Seite enthalt
Futter und Wirtschaftsgegen stände.
Litauische Sprachproben.
1. Das litauische Vaterunser (Pfarrer Jopp-Nidden) :
Tewe musü, kurs esi Danguje.
Buk szwencziamas Wardas tawo.
Ateik tawo Karalyste.
Buk tawo Wale kaip Danguje, taip ir ant Zemes.
Dftna, musü dieniszka, duk mums ir sze, Dien%.
Ir atleiak mums musü Kaltes, kaip ir mes atleidziam sawo Kaltiems.
Ne wesk mus i Pagundyma, bek gelbek mus nü wiso Pikto.
Nesa tawo yra Karalyste ir Stiprybe ir Garbe ant Amziü Amziü. Amen.
2. Pawasario Linksmybes. (Donalitius, Des Lenzes
Freuden 103 bis 108.)
Köznas (juk) ir kekwens tawo szaüna, gärbmä daina,,
Käd tu mums dywüs linksmü laksztingälü czauszki,
Tu wargonu bei cimbölu nekini garsa,.
Smüikai taw ir känklys tür su geda nütilti,
Kad rykaudämä tu sawo säldü päkeli balsa,,
Ir kinkyt, papläkt, nüwäziut iszbüdini Jürgi.
(Jeder Mensch, o Nachtigall, preist deine süfsen Gesänge.
Wenn du die lieblichen Weisen der Nachtigalllieder uns vorschlägst,
Da verstummen der Orgel Getön und die Klänge der Zimbel,
Geige und Kanklys neigen sich dir in stummer Beschämung,
Wenn du mit hellem Schlage erhebst die herrliche Stimme:
„Georg, wach auf, spann an, fahr zu und knall mit der Peitsche!8)
3. Daina.
i
E3E
Wm
*
s
v=v
m
Ge - re mu - sü Zu - po - ne - le Wie - na. Mal - ka,
Un - sre Hausfrau trank ein Schlückchen aus dem Gläschen
^^^^
T=£
V=P-
x
t-i-t&T+ü
Sti - klu - ze - le Ge - re je, ge - re je, ge - re je, ge - re je.
nur ein Stückchen schlürfte sie und sie trank und schlürfte, ja, sie trank.
Die Euren (Letten),
Literatur.
Berendt: Geologie des Kurischen Haffs und seine Umgebung. Königsberg
1869. Schrift, d. phys.-ökonom. Ges. zu Königsberg. IX. Jahrg., S. 1S1
bis 238. Königsberg 1868. Mit 6 Tafeln. Erste Tafel: Nehrung von
Lattenwalde bis Süderhaken.
Bezzenberger: Die Kurische Nehrung und ihre Bewohner. Stuttgart,
• Engelhorn, 1889.
Bielenstein: Die Grenzen des lettischen Volksstammes und der lettischen
Sprache in der Gegenwart und im 13. Jahrhundert. Mit Atlas. St. Peters-
burg 1893.
-Bock: Die Vorgeschichte der Kurischen Nehrung, ihre Festlegung und Auf-
forstung. Königsberg 1897.
^Diederichs: Die Kurische Nehrung und die Kuren in Preufsen. Magazin,
herausgegeben von der lett.-lit. Ges. 17, S. 1 bis 96. Mitau 1883.
Jachmann auf Nettelbeck: Nachrichten über die Kurische Nehrung. 1825.
Preufs. Prov. I, 8. 195 bis 220, 310 bis 834.
Lindner: Die preufsische Wüste einst und jetzt. Oster wieck 1898.
Nanke: Wanderungen (1794) durch Preufsen. Hamburg und Altona 1800.
Passarge: Die Kurische Nehrung. Altpreufs. Monatsschrift VIII, 1. bis
3. Heft.
Prätorius: Deliciae Prussicae XVI. Acta Borussica IL Erleutertes
Preufsen IV, 1726, S. 262 bis 272. »Von der curischen Nehrung." Zuvor
von den Predigern der Nehrung.
Seraphim: Über Wanderungen lettischer Bauern aus Kurland nach Ost-
preufsen im 17. Jahrhundert. Altpreufs. Monatsschrift 1892, 29, S. 317
bis 335.
Schiefferdecker: Bericht über eine Reise zur Durchforschung der Kurischen
Nehrung in archäologischer Hinsicht. Schrift, d. phys.-ökon. Ges. zu
Königsberg, 14. Jahrg., S. 32, 75.
Schumann: Geologische Wanderungen durch Altpreufsen. Königsberg 1869.
Sommer: Das Kurische Haff. Stuttgart 1898.
Wiedemann: Joh. Andr. Sjögrens livische Grammatik nebst Sprachproben.
St. Petersburg 1865.
Wutzke: Bemerkungen über die Entstehung und den gegenwärtigen Zustand
des Kurischen Haffs etc. Preufs. Prov.-Bl. V, S. 122 bis 138, 226 bis 234,
293 bis 311, 443 bis 464. Königsberg 1831.
I. Geschichtliches.
"7 Um 853 tritt im Leben des heiligen Ansgar (a. 36) zum ersten-
ntale der Name der von den Schweden unterworfenen Kuren (Cori)
auf; sie besitzen fünf Stadtkreise (civitates). Häufig erwähnt sie zu
Tetiner, Die Slawen in Deutschland. Q
114 Die Kuren: Geschichtliches.
/ Anfang des 13. Jahrhunderts der Lettenpriester Heinrich unter dem
^Namen Curones und erzählt von ihnen und ihrem Gebiet, das vom
Rigaschen Busen bis zur Nord spitze des Kurischen Haffs reichte. Auf
flinken Piratenkähnen dehnen sie ihre kühnen Raubzüge bis Dänemark
aus. Die Öseler sind ihre Freunde und kaufen ihnen wertvolle Beute
ab, kriegsgefangene Weiber. Die Liven sind ihre Bundesgenossen.
An der Windau machen sie den Wenden deren Besitz streitig und ver-
treiben sie. Um 1230 treten sie zum Christentum über. Als aber
König Mindaugas von Litauen 1260 das Christentum abschwur, und
aulser seinen litubaltischen Völkern auch die Kuren zum gemeinsamen
nationalen Kampfe gegen den Orden aufrief, als Dorpat in seine Hände
fiel und die Ritter 1265 fliehend dem Durbener Schlachtfelde den
Rücken kehrten, da hatten auch die Kuren dem Rigaer Herrn den
Gehorsam aufgekündigt und fochten Schulter an Schulter mit den
Ordensfeinden und dem Einiger der baltischen Stämme. Wie Heinrich
berichtet auch die „Reimchronik" mancherlei vom Lande Curonia und
seinen Bewohnern. Im letzten Drittel des 13. Jahrhunderts aber ver-
schwand die Bezeichnung Vredecuronia und die der Bewohner. Der
Yolksname der Liven, der anfänglich selbständig neben dem der ver-
wandten Kuren gebraucht ward, umschlielst seit dem 16. Jahrhundert
die alten Kuren und Liven.
Diese Kuren waren, wie die Liven, ein finnisches Volk, kein bal-
tisches (litulettisches), wie verschiedene Forscher annahmen, bis Sjögren
und Wiedemann die finnische Zugehörigkeit aulser Frage stellten. Die
drei wichtigsten südlichen Finnenstämme, die Kuren, Liven, Esthen,
haben den drei südlichen Ostseeprovinzen die Namen gegeben. Sie
besalsen die baltische Küste von Memel nordwärts, südlich und öst-
lich von ihnen hausten baltische Stämme. Von jenen drei Finnen-
stämmen ist der esthnische in Nordlivland und Esthland erhalten
geblieben. Die Reste des livischen befinden sich auf dem sandigen,
durch Wälder und Moore abgetrennten Strande beim kurischen Vor-
gebirge Domesnäs und umfafsten 1881: 14 Dörfer mit 3562 Köpfen;
nur die Familien spräche ist livisch, die Kirchensprache war immer
lettisch. Herr Akademiker F. Schmidt- Petersburg macht mich dar-
auf aufmerksam, dafs die esthnischen Bewohner der benachbarten
öselschen Halbinsel Sworbe mit den Domesnäser Liven in Verkehr
stehen und sie Kuren nennen, im Unterschied zu den dahinter wohnen-
den Letten, dafs also diese Liven Reste der alten Kuren seien. Das
ist sehr einleuchtend. Die Schwarzorter Letten nennen sich Kurseniki,
im Unterschied zu den Kurländern (Kurseinniki) und kennen die Letten
(Latwischi) gar nicht Nach Dr. Bielenstein soll der Name Kuren
lettisches wie esthnisches Volk bezeichnet haben, das wäre dann
ein Name wie der der Ästier. Diese Liven gleichen in ihrer Ab-
geschlossenheit den Kluckener Slowinzen und den Nehrunger Kuren.
Nicht der Sprache nach, auch nicht der somatischen Anlage zufolge;
Die Liven. Namen. 115
beides geht durch zufälligen, unbewulsten äufseren Zwang oft bis auf
einen Bruchteil verloren. Aber die gleiche Beschäftigung, der gleiche
Boden, das gleiche Wetter, das durch Wald, Moor, Sumpf bedingte
Abschließen und Sich-Zusammenschlielsen, endlich auch die gemein-
same Küste: alles dies hat dazu beigetragen, die ehemaligen Unter-
schiede zwischen den äufsersten Strandbewohnern vom Gardersee bis
nach Dom es n äs ausgleichen zu helfen (vgl. Virchows Zeitschr. f. Eth-
nolog. IX, S. 366 ff., 386 ff.). Der letzte jener Finnenstämme, die
Kuren, sind im benachbarten Lettenvolke vollständig aufgegangen, von
ihrer Sprache sind aufser einigen Namen kaum ein Dutzend Wörter
erhalten geblieben. Die dahinten sitzenden mächtigen Stämme der
Litauer und Letten mit ihrem breiten Landbesitz sogen die armselige
kurische Strandbevölkerung auf. So ging es auch den Lebakaschuben,
so geht es jetzt den Resten der Slowinzen am Lebasee und den kur-
ländischen Liven, so den lettisierten Kuren der Nehrung.
Neben den Volks- und Sprachnamen jener drei finnischen Stämme
bildeten sich frühzeitig gleichklingende Landschaftsnamen aus. Mit
Esthe bezeichnete man ungenauer Weise, was man heute Esthländer
nennt, einen Bewohner Esthlands, gleichviel welchen Stammes und
welcher Sprache er ist. Heute bedeutet Esthe nur den bodensässigen
Bewohner finnischen Stammes und esthnischer Sprache in Liv- und
Esthland. Ein Live war ein Einwohner der livischen Provinz, man
nannte sogar jeden Bewohner der drei südlichen oder deutschen Ostsee-
pro vinzen einen Liven, weil Livland die Vorherrschaft führte. Heute
bezeichnet man mit Live einen altansässigen Bewohner finnischen
Stammes jener 14 Livendörfer Kurlands, mit Livländer jeden Landes-
angehörigen Livlands, besonders einen deutschen Livländer.
Kure aber galt als das, was wir heute einen Kurländer nennen,
als ein Bewohner Kurlands. Die im Goldinger Amte wohnenden
„Kurischen Könige u sind Nachkommen der Stammeshäupter jener ein-
gangs genannten Stadtkreise (civitates); sie haben bis heute eine
gewisse Eigenart behalten und wurden in den Genuls gewisser Vor-
rechte gesetzt; ihre Sprache ist aber, soweit man zurück verfolgen
kann, die lettische gewesen. Nach der Lettisierung des gesamten
Kurenvolkes bezeichnete also der Kurenname kein finnisches Volk mehr,
sondern teils lettisierte Finnen, teils reines Lettenvolk in Kurland.
Noch heute nennt der schameitische Bauer die nördlichen Nachbarn
in Kurland Kuren (Kurszei); der gebildete Samogitier gebraucht schon
den Namen Letten (Latwei), er steht ihm höher und bezeichnet eine
freie Nation, nicht unterthänige Leute. Der geringer gebildete Volks-
genosse kennt den Namen nicht und wendet ihn höchstens auf die
Witebsker oder auf die livländischen Letten an. Merkwürdig ist der
Gebrauch von curisch auch für Gegenden, die heute rein deutsch sind.
So wird ums Jahr 1700 ein slowinzischer Eid im lebakaschubischen
Gebiet curisch genannt. Beide Sprachen haben nichts miteinander zu
8*
116 Die Kuren: Finnische Einflüsse.
thun. Ist es nun auch sehr leicht möglich, dals die kurischen Fischer
früher den Strand noch viel weiter westlich, als bis nach Memel
besiedelten, so könnte hier der Name wohl blols „fremd", „ undeutsch tt
bedeuten.
Wahrscheinlich ist aber jenes curisch von curia abgeleitet und
bedeutet Unterthaneneid der Gu t s ho f- Arbeiter.
Den Namen Eurszei (sprich Eurschei) gebraucht der Litauer von
den lettisch redenden Nehrungern und Memelstrandfischern. Weshalb
diese Leute den Eurennamen führen, das hat wiederholt die Eöpfe
der Gelehrten beschäftigt. Sind die preufsischen Euren bodensässig
oder eingewandert, sind sie ursprünglich finnischen oder baltischen
Stammes? Am wahrscheinlichsten ist die Annahme, dafs die preufsi-
schen Euren eingewanderte lettisierte Finnen der nördlicheren kur-
ländischen Küstenstriche sind. Den Eurennamen führten sie schon
in ihrer früheren Heimat, als das Lettentum bis an den Strand
vorgedrungen war, sie brachten ihn mit auf die Nehrung. Dr. Bielen-
stein aber schreibt mir, gegen die ursprüngliche finnische Zugehörig-
keit spreche „die sprachliche Verwandtschaft mit den Letten am
Strande südlich und nördlich von Libau, wo es niemals viele finnische
Leute gegeben hata. Er fährt fort: „Auch die Euren Beinberts von
Apulia waren nicht finnisches, sondern lettisches Yolk. Die Südwest-
ecke von Eurland ist gewifs nicht lettisiert, sondern von Urzeit lettisch
bis an den Strand. Wann die Lettisierung der in das kurische Küsten-
gebiet eingedrungenen Finnen begonnen habe, welche ja an sich nicht
unzweifelhaft ist, dürfte nicht mehr festgestellt werden können. Ich
habe versucht, nachzuweisen, welcher Prozentsatz Finnen unter den
Letten Eurlands überhaupt eingedrungen sein könnte („Grenzen"
S. 314 f.). Die Prozentziffer ist eine auf serordentlich kleine; an der
Nordspitze ist sie am höchsten und doch nur ca. 6 Proz. und nimmt
nach Südwesten stetig ab. Die wenigen scheinen das Volk und Land
der Letten beherrscht zu haben, und weil es so wenige waren, sind sie
so spurlos lettisiert bis auf die kleine Ausnahme bei Dondangen. Ich
glaube nicht, dafs die Letten zum Strande vorgedrungen sind, sondern
da£s die finnischen Kolonisten in das finnische Gebiet eingedrungen sind.
Das beweisen mir die uralten lettischen Ortsnamen auch unweit des
Strandes."
Über die Urbesiedelung der Nehrung weifs man nicht sehr viel;
die älteren Gräberfunde weisen Übereinstimmung mit der alten Kultur
der Domesnäser und Goldinger Gegend auf. Wie die Besiedelung statt-
fand, bleibt unaufgeklärt; vielleicht dient ein Vergleich mit der Leba-
nehrung. Die Besiedelung der Lebadünen fand auf zweierlei Art statt,
teils von der Landseite, teils von der Südküste des Sees her. Die
Fischer der letzteren legten erst Schutzhütten auf den Dünen an, um
bei widrigem Wetter nicht die weite Heimfahrt antreten zu müssen,
allmählich erwuchsen kleine Dörfchen mit ansässigen Bewohnern dar-
Sprache im 17. und 18. Jahrhundert. 117
ans. Auf dem Landwege aber drangen die Meeresküstenbewohner
weit stetiger und sicherer auf den doppelseitig bespülten Dünen nach
deren Mitte vor, sobald ihnen bessere oder besondere Nahrungsquellen
winkten. Auf der Kurischen Nehrung ist der Landweg der bevorzugtere
gewesen. Aus Namen und Berichten ersieht man, dafs die lettische
Besiedelung sich nicht nur auf die Nehrung erstreckte, sondern auch
auf das Haff uf er und auf die Stranddörfer bis in die Danziger Gegend«
Es ergiebt sich also folgendes: Die alten Euren waren teils
lettisches, teils finnisches Volk, das am nächsten den Liven
verwandt war und wohnten an Kurlands Küste. Der ethno-
graphische Name wurde Volksname für die Kurländer. Die
lettischen Kurländer ererbten den Namen Kuren und führen
ihn noch heute bei den Schameiten. Die preufsischen Kuren
sind die Letten auf der Nehrung und am Strande nördlich
von Memel. (Die Domesnäser Liven werden von den benachbarten
Esthen auch Kuren genannt; der Livenname ist, um Verwechselungen
vorzubeugen, beizubehalten.) Die preufsischen Kuren behandele ich in
den folgenden Abschnitten.
Ordensberichte des 1 5. Jahrhunderts bekunden wiederholte Besiede-
lung kurländischer Fischer auf der Nehrung und am Strande. Jeden-
falls reicht das erste Aufschlagen einfacher Fischerbuden in weit frühere
Zeit zurück und ist kaum anders zu deuten als die ähnliche Besiede-
lung der Lebadünen. Im 13. Jahrhundert wurde die Nehrung schon
als Heerstrafse benutzt, und bereits damals scheint es neben einzel-
nen Hütten Dörfer gegeben zu haben. Im 16. Jahrhundert erscheinen
die Namen fast sämtlicher Nehrungsdörfer, die Zahl der lettischen
Familiennamen war eine verhältnismäfsig gröfsere, die Volkssprache
wird als eine besondere „kurische" neben der litauischen bezeichnet,
die litauische ist die Kirchensprache. Noch in dem Jahre 1648 reden
nach Einhorn die Strandbewohner „von der Memel und ferner bils fast
an Dantzig" die lettische Sprache. Damals standen Kirchen aufser
in Memel: in Sarkau, Karwaiten und in Kunzen. Die letzteren wurden
wiederholt verlegt. Heute gehören die Kuren des gleichen Landstriches
zu den Kirchspielen Sarkau, Bossitten, Nidden, Schwarzort, Memel
(Land) und Deutsch-Crottingen. Doch ist nur in den letzten vier
Kirchen der Gottesdienst noch doppelsprachig. Bei den Lysiusschen
Katechismusunterschriften fehlt merkwürdigerweise die Nehrung ganz.
Jedenfalls herrschte Kurisch zu Anfang des 18. Jahrhunderts und
früher auf der ganzen Nehrung. In Kunzen und Sarkau war damals
Jacob Naps (1711 bis 1727) Pfarrer, der zuvor das Präceptorat in dem
noch halb litauischen Muldschen bekleidete. Den Karwaitener Gottes-
dienst versorgte der Memeler litauische Diakonus seit 1709 mit. Er
hiels Johann Theodor Lehmann (1687 bis 1722) und unterzeichnete
nur als Memelscher litauischer Pastor, tadelte am Katechismus die
Orthographie, den Ausdruck und den Stil.
118 Die Kuren: Kunzen. Ludwig Rhesa.
Einen Einblick in das Leben der Kuren im 17. Jahrhundert er-
halten wir durch das Kommunikantenbuch des Kunzener Pfarrers
Burckhardt (1664 bis 1707). Obwohl die Nehrung damals bewaldeter
war, drohte doch schon vielseits den Dörfern Versandung, und laute
Klagen ertönten um Hülfe. Den Karwaitenern versprach man, weil ihre
Kapelle versandet war, in Negeln Gottesdienst. Alle Vierteljahr hielt
der Kunzener Pfarrer bis 1709 einmal in Nidden Kirche. 1666 kam
er auch und liels den Fischern vorher den Tag seiner Ankunft und die
Abhaltung des Abendmahls melden, früh lud er sie nochmals ein. Da
stand einer, Skirbe, vor der Thür und schnitzte einen „ Schweinskopf u,
eine Kanklys, jenes Instrument, das bei den Litauern heute so gut wie
unbekannt ist, während es in Finnland noch häufiger gefunden wird1).
Ein anderer, Martin Pipp, sals in der Stube spielend vor der Kanklys.
Die Frau besserte Strümpfe aus. Die Einladung des Predigers wies
sie mit der Ausrede zurück, sie habe keine Schuhe. Ihr Mann hatte
aber „24 Mark für Stindt gelöset, laut der anderen Nachbarn Aus-
sage". Auch das Reisegeld, zehn Groschen, verweigerte sie, da ja keine
aus ihrem Hause zur Kirche war. Ein anderer, Andreas Zimmermann,
verweigerte das Beichtgeld, er müsse ein „Stof Bier trinken, es sei
lumpig, zu Ostern zur Wasserkanne zu laufen.
Kunzen hatte schon 1555 einen Pfarrer, Johann Woysen. Kunzens
Pastoren wirkten zugleich in Sarkau und bis 1709 in Karwaiten, dessen
Kapelle schon 1569 stand. 1756 bis 1765 finden wir in Kunzen als
Pastor den Freund des Donalitius, Sperber; er vertauschte aber den
Dienst mit der einträglicheren Gaweitener Kirchstelle bei Goldap. Der
Siebenjährige Krieg tobte auch in unserer Gegend und vernichtete bei-
spielsweise ganz Lattenwalde.
Am 9. Januar 1776 wurde in Karwaiten Ludwig Rhesa geboren,
der einzige preulsische Kure, der sich einen berühmten Namen gemacht
hat. Sein Vater war der dortige Gastgeber und Strandbediente und
besafs zuvor ein kleines Fischereigrundstück. Seine Mutter verlor er
im dritten, den Vater im fünften Lebensjahre. Auch seine Stief-
mutter starb bald, nun blieben vier Söhne und eine Tochter in
dürftigstem Zustande zurück und wurden bei Verwandten unter-
gebracht. Ludwig, der dritte Sohn, kam zum Fischer Radmacher
in Negeln, dann zum Posthalter Böhn in Rossitten. Beide waren arm,
und Ludwig mulste die Gänse hüten. Er nahm aber, vom Rossittener
Lehrer in die ersten Gründe der Wissenschaft eingeweiht, alle
Bücher, die er erlangen konnte, mit aufs Feld und erhielt öfter
Strafe, weil der sonst so folgsame Knabe dabei das Gänsehüten ver-
gafs. Der Lehrer empfahl ihn an den Kantor und späteren Pfarrer
l) Im Leipziger Grassimuseum sind zwei jener finnischen Instrumente
zu sehen, eine 14 saitige und eine 24 saitige. Sie gleichen den erhaltenen
litauischen, nur sind die beiden Langseiten gleichlaufend und die gröfsere
Kanklys ist doppelt so lang als die kleine.
Rhesas Leben. 119
Wittich in Kaukehnen, wo er 1785 bis 1791 im Latein unterrichtet
ward und rund heraus erklärte, er wolle studieren. Wittich war selbst
arm und brachte unsern Ludwig Rhesa ins Löbenichtsche Pauperhaus,
von dem aus man (bis 1810) die Universität besuchen konnte. Khesa
hat also ähnlich wie Moswid und Bretke, wie Donalit und Pogar-
szelski die Armut durchgekostet und hat wie sie zeitlebens ein Herz
für sein Volk und Dankbarkeit gegen sein Geschick bewahrt. Im
Herbst 1794 begann er zu studieren und belegte philosophische,
theologische und orientalische Vorlesungen, besonders bei Kant, Hasse,
Kraus. Der Eintrag ins Matrikelbuch am 25. März 1795 bezeichnet
Ludowicus Rhesa als Theologen. Dabei unterdrückte er seine poetische
Ader nicht und nennt das Jahr 1798 geradezu sein poetisches. Er hatte
im Kypkeanum freie Wohnung und erhielt sich durch Privatunterricht*
zuletzt wirkte er bei dem Gutsbesitzer a*if Jesau und nahm dann 1800
einen Ruf als Königsberger Garnisonprediger an. Zugleich bereitete er
8 ich auf sein akademisches Lehramt vor und verkehrte viel mit dem
späteren evangelischen Erzbischof Borowski. Als 1807 der Kriegs-
schauplatz nach Ostpreufsen verlegt ward, hatte er in seiner doppelten
Stellung harte Arbeit. Aber ein rechtes Herz ist gar nicht umzubringen.
Gerade damals dichtete er so manches schöne Lied auf sein über alles
geliebtes Vaterland. Er ward .Dr. theol. und arbeitete an der Über-
setzung der Bibel ins Litauische, sich der dauernden Gunst Wilhelm
v. Humboldts erfreuend. Als er 1811/12 den Feldzug nach Rutsland
mitmachte und mit dem Kurator der Dorpater Universität, dem Fürsten
von Liewen, in Briefwechsel kam, erhielt er später einen Ruf an die
livländische Universität. Die Liebe zum Vaterlande hielt ihn zurück.
1813 trat er als Feldprediger in die Reihen der Freiheitskämpfer, fuhr
über die Kaschubei und Wendei in die Leipziger Gegend, nahm an
der Schlacht teil, zog in Paris mit ein und besuchte auch London.
In seinen Nachrichten und Bemerkungen aus dem Tagebuche eines
Feldgeistlichen (Berlin 1814, 282 S.) hat er in trefflicher Weise
seine Reiseerlebnisse geschildert; sein Biograph unterschätzt in wenig
liebreicher Weise seine Arbeiten. Ein bekannter, mit den Verhält-
nissen vertrauter Gelehrter schreibt über diesen: „Es ist der ganze
und echte Katheder -X. mit seiner Unfehlbarkeit und Arroganz, wie
sie früher den meisten Universitätsprofessoren eigen war. Und doch
mufste gerade jener dem Vorgänger Rhesa sehr dankbar sein, denn
er leitete den Bau des Rhesianums und behielt sich bescheiden eine
grofsartige Wohnung vor, während die Zellen der Studierenden auf
ein Minimum reduziert wurden. Das Ganze machte und macht noch
Jetzt den Eindruck, dafs es eine palaisartige Behausung für den Vor-
steher sei und nebenbei auch eine Unterkunft für ein paar Studenten.
So hat sich Rhesa offenbar seine Stiftung nicht gedacht. a 1816 legte
Rhesa seine Predigerstelle nieder und ward ausschlielslich Universitäts-
lehrer, als welcher er sich ein grofses Verdienst um die Ausbildung
120 Die Kuren: Bhesas Gedichte.
junger litauischer Theologen erwarb. 1816 ward er Professor der
Theologie und Direktor des litauischen Seminars. Seine schrift-
stellerische Thätigkeit eröffnete er 1809 mit der Herausgabe der Prutena
(„oder preufsische Volkslieder und andere vaterländische Dichtungen"),
Er widmete sie der Königin, der in ihrem grolsen Leid ja gerade damals
jene Gegend nahe stand:
Die Daina, welche Littas Hirtin singt
Im Rautenkranz, am blauen Nemastrom,
Des Fischers Klage bei dem Bernsteinsee,
Und was in Tagen, die vorüber sind,
Wenn Laimas Fest erschien und Jung und Alt
Den Lindentanz begann, erklungen, wird
Toiskons hehre Tochter nicht verschmäh'n,
Zum ungezierten Dank, dafs sie
In Tagen, die der Enkel Prüfung nennt,
Bei ihrem Volke mütterlich geweilt,
Des Volkes Thränen liebend hier geteilt
Und auch des Volkes herzlichen Gesang. —
Die Gedichte sind von ungleichem Werl Die meisten bewegen
sich in einem schon damals durch Goethe und Schiller überwundenen
Ton und sind in Stoff wie in der Sprache veraltet. Aber eine ganze
Reihe von Poesieen werden unvergänglich bleiben, besonders die, in
denen er seine Heimat besingt, und vielleicht ist die Zeit nicht mehr
fern, dals Rhesas ausgewählte Gedichte ihre Auferstehung feiern. Eine
Anzahl der Gedichte sind Bearbeitungen oder Umdichtungen von Dainos,
andere bewegen sich im Gedankenkreis der Anakreontiker und Idyllen-
dichter oder sind Ausdruck des Klopstockschen Freundschaftskultus;
die schönsten aber wurzeln im Heimatboden, so das „Samländische
Fischerlied", die „Linde bei Rössel", der „Philosophengang bei Königs-
berg", „Vaterlandslied", „Die Ruinen von Balgau, „Das versunkene
Dorf", „Lied der Bernsteinfischer", „Der Sturm", „Carwitas Gräber",
„Das Todten- Feuer " , „Der Lindentanz", „Der Gang zur Heimat",
„Elegie auf Immanuel Kant", „An Hasses Grabe", „Baltische Sage",
„Epitaphisches Wort für J. C. Kraus". Ein paar Stellen lauten:
Carwitas Gräber.
„Hier deckt ein Berg von flügem Sande
Der hoher Eichen Wipfel zwang,
Der Väter Gruft auf ödem Strande
Wo sonst der Ernte Sichel klang
Wo sind die Lieder, die hier klangen ?
Wo ist des Dörfchens Beigentanz?
Wo sind die Hirten, die hier sangen?
Wo ist die Braut im Rosenkranz?
Hier steh ich auf dem öden Hügel
Und wein auf meiner Väter Sand,
Wann kommt der Stunde Bosenflügel
Und trägt mich über Meer und Land?" u. s. w.
Rhesas Werke. 121
Gang zur Heimat.
— Bald dämmerten die Wipfel
Von Niddas Tannenhain,
Der grauen Berge Gipfel
Umflofs Auroras Schein. —
Da hallte Grabgeläute,
Ein Zug im Trauerflor
Erschien, im Kranz der Bräute
Folgt ihm ein Mädchenchor. —
. — Allein am Seegestade,
Hinpilgernd sonder Buh,
Ging ich dem Heimatpfade,
Nach Niddas Dörfchen zu.
Der Kindheit Bosenauen,
Der Jugendfreunde Blick,
Und die Ersehnte schauen,
War mir ein Götterglück.
Und ach, die mir erschienen,
Sie, meiner Sehnsucht Bild,
Mit engelgleichen Mienen,
Lag in den Sarg gehüllt.
Den zweiten Teil der Sammlung lief 8 Bhesa 1825 folgen. Er steht
nicht auf der Höhe des ersten. Von den Freiheitsgesängen, deren er
schon im ersten Teil solche auf die Schlachten hei Auerstädt und
Eylau veröffentlicht hatte, kann sich keiner mit denen Schenkendorfs
und Arndts messen. Aber sie beweisen doch Ehesas Können.
An das Vaterland 1812.
Von der baltischen See, die mein Lied erzog,
Bauscht mir tröstend ein Laut seliger Vorwelt zu.
Wo an Bäumen des Lebens
Einst ein besser Geschlecht gewohnt. —
Und die Götter des Hains flohen zum Freundesvolk,
Wo dein bläulicher Strom, Njemen, durch Wälder fleufst,
Lebt verklungen ihr Name
Noch im Lied, was die Hirtin singt.
Dann läfst Khesa die Grofsen des Vaterlandes: Dach, Kopernikus,
Herder, Hippel, Kant, Hamann vorüberziehen und verflucht den Tyrannen,
der die Heimat unterjochte. In einer Ode an Bülow v. Dennewitz
meint er, die Tage von Marathon seien wiedergekommen, Leipzigs Felder
seien Platää, Culmens Gebirge Thermopylä.
Neben umgedichteten Dainos bietet die Sammlung Sagenstoffe, wie
den Strandvogt von Eossitten, Keistut und Mylinne, Nimmersatts Zer-
störung durch den Dänen Frodo. Am besten trifft Rhesa wieder den
Ton, wenn er auf das gewöhnliche Volk zu reden kommt, auf den
„ Fischer, welcher das Netz von dem Kahn zum grünenden Hügel hinan-
trug, Wo aus Nufsbaumschatten die Halmdachhütte hervorblickt, Neben
des friedlichen Dorfes abhängenden Büschen und Gärten", oder auf Kranz:
„Hier wo ein Kranz von halmbedeckten Hütten
Am netzumhangnen Strand sich friedlich lehnt,
Wo Gnügsamkeit bei frommer Väter Bitten
Sich reicher, denn in Goldpalästen wähnt. —
(Will ich vergessen schnöder Sorgen Kummer etc.)"
Mit Unterstützung der britischen Bibelgesellschaft lief 8 er 1816
nach Herausgabe der interessanten „Nachrichten etc. 1812/1813", die
Übersetzung der litauischen Bibel mit einer wertvollen literargeschicht-
122 Die Kuren: Bhesas Alter, Testament und Nachruhm.
liehen Einleitung und 1818 den Donali tins folgen, den er 1824 er-
gänzte. Er widmete den „Donaleitis" dem Edelsten, „welcher in
Zungen vielerfahren und Sitten der redenden Menschengeschlechter,
auch des Sanges und Volkes, was blüht an der heiligen Memel, kundig ;
Thoiskons Weisen", Wilhelm v. Humboldt. Dieser hatte an der Be-
arbeitung regen Anteil genommen und erhielt das Lob, dafs er „dem
sprachenstürmenden Schwärme zürnte, der mit dem redenden Laute
austilgen die Seele des Volks will". — Diese Ausgabe zeigt ihn als
Dichter, aber nicht als kritischen Herausgeber. Sie ist, besonders von
Nesselmann, viel gescholten worden. Merkwürdig bleibt, dals die Ver-
einigung der vier Hauptidyllen zu dem ländlichen Epos „DaB Jahr"
nach Pisanski schon von Donalitius vorhergesehen sein soll, dafs aber
Rhesa darüber keine Rechenschaft giebt. Wertvoll sind aber Rhesas
biographische und sonstige Notizen. Rhesa hat zeitlebens in die Bücher
seiner reichen, 3000 Bände zählenden Bibliothek fleilsig Notizen ein-
getragen und jedes seiner Bücher mit solchen versehen. 1825 Schlots
er seine dichterische Thätigkeit mit der Herausgabe der „Dainos" ab.
Sie sind, wie der „Donaleitis" mit Übersetzung versehen; Melodieen
und Anmerkungen folgen. Ein Goethe zollte ihnen hohes Lob. (Vgl.
Tetzner, Dainos 32 bis 34.) 1828 ward Rhesa erster Professor der
theologischen Fakultät und später Eonsistorialrat. Je älter er ward,
desto einsamer, nervöser, reizbarer und ängstlicher soll er geworden
sein. In der Königsberger Deutschen Gesellschaft hielt er anfänglich
Öfters Vorträge, besonders über Litauen, auch über deutsche und
französische Literatur (Boileau). Zuletzt vermied er jede grössere Ge-
sellschaft, lebte ganz kärglich und zurückgezogen und verlief s kaum
seine Wohnung. Man erzählte sich, dafs ein rüder theologischer
Student, der, nach damaliger allgemeiner Sitte, auf der Straf se stets
mit einer langen Reitpeitsche aufgetreten, zu dem erschreckten Pro-
fessor gekommen sei und ein Gesuch durch Hantierung mit der Peitsche
so unterstützt habe, dafs Rhesa es ratsam gefunden, sich in einen
Winkel zurückzuziehen und dem Bramarbas alles Verlangte zu be-
willigen. Es wurde studentisch fast für unschicklich angesehen, einem
Professor gänzlich höflich zu begegnen. Man betrachtete ihn noch
immer als einen, der die studentische Freiheit beschränkte. Kurz vor
seinem Tode machte Rhesa am 27. August 1840 sein Testament und be-
stimmte hochherzig sein Vermögen zu einer Stiftung, die vollkommener
als die Kypkesche sein und wieder armen Studenten den Weg ins Leben
ebnen sollte. Er, der zeitlebens die Pfennige ängstlich zusammenhielt,
gab alles das Seine in dankbarer Erinnerung an seine Helfer in der
Jugend, den unbekannten Söhnen aus dem Volk, das der „ anspruchslose,
pflichtgetreue, friedfertige, vaterlandstreue u so liebte. Er war bis auf
die letzten Lebensjahre äufserst fleifsig. Ich besitze sein Kollegienheft
„ Kirchengeschichte" in der Kurschatschen Nachschrift von 1837. Sie
zeigt das rastlose Fortarbeiten des Mannes; ein litauisches Wörterbuch
Nehrungsforscher. 123
bereitete er vor und scheint an eine Neuausgabe der Dainos gedacht
zu haben. Aber leider ist nur weniges Handschriftliche aus seinem
Nachlats aufbewahrt oder doch in öffentlichen Bibliotheken einzusehen.
Ein tragisches Geschick hat den grofsen Wohlthäter halb vergessen
lassen. Kein Dichterlexikon kennt ihn. Sein Geschlecht erlosch mit
ihm. Ja, sogar sein Geburtsort ist verschwunden. Sein Heimatsdorf
war schon bei setner Geburt halb versandet, 1789 wollte man die
Kirche wieder aufbauen, 1796 wurden die letzten Kircheneinträge vor-
genommen, 1802 standen noch zwei Häuser und die Schule. Rhesa
sang von dem alten, weithin sichtbaren Weidenbaum Karwaitens (Pas-
sarge, Aus baltischen Landen, S. 288):
„Du alter Baum, du kämpfst noch mit den Winden,
Ein Eremit in dieser Wüste Sand,
Doch bald auch wird dein müdes Haupt verschwinden,
Und nichts sagt mir, wo meine Heimat stand. "
Aufser lateinisch geschriebenen Werken zur alten Kirchen- und
Philosophiegeschichte sei von seinen vaterländischen Werken noch die
Fortsetzung und Erweiterung der Arnoldtschen Presbyterologie Ost-
preufsens erwähnt, denen er die gleiche Arbeit für Westpreulsen bei-
fügte.
Merkwürdig ist, dals der Kure Rhesa nie von seiner kurischen
Abstammung spricht, sondern sich aus litauischem Geschlecht ent-
sprossen hält. Die sprachlichen Unterschiede hat er ganz sicher gekannt
und hat sie für nebensächlich erachtet. Er mochte vielleicht auch an
der Geringschätzung Anstofs nehmen, die man den Kuren bewies, die
sich ja selbst für niedriger als die Litauer halten.
Schrieb doch damals G. Merkel (Die Letten, vorzüglich in Liefland
am Ende des philosophischen Jahrhunderts, Leipzig 1799) über die
benachbarten kur- und livländischen Stammesgenossen, denen er alle
Liebe und Teilnahme zuwendet (S. 79): „Stupid und nervenlos tappt
der grofse Haufe derselben durchs Leben und kennt kein höheres Glück,
als eich bei un zerfetztem Rücken mit Spreubrot sättigen zu können;
keinen Mut als den, zum Grofsherrn aufzusehen; keine Weisheit, als
unertappt zu stehlen. Nur Sonntags sinnlos berauschtes Vieh zu sein,
gilt ihm für Tugend; für Ehre, nicht gepeitscht zu werden."
Als die Königin Luise 1806 nach der Schlacht bei Jena auf ihrer
Flucht über die Nehrung nach Memel von den Franzosen verfolgt
wurde, erhielten die Pillkoppener Fischer von der preufsischen Regie-
rung den Auftrag, die Kähne auszuliefern und nicht den Verfolgern
zur Verfügung zu stellen. Aber die Fischer lenkten die Kähne in die
versteckten, unzugänglichen Buchten der Ostküste, so dafs nun doch die
Verfolgung verzögert ward und die Königin verschont blieb. Passarge,
dem ich diese Notiz verdanke, berichtet auch von dem bedeutenden
äufseren und wirtschaftlichen Aufschwung. Kein Ort der Nehrung hat
sein altes Gepräge noch. Allenthalben stehen schöne Schulen und
124 Die Kuren: Ehemaliges lettisches Sprachgebiet in Deutschland.
Kirchen, die Häuser stammen fast alle aus der zweiten Hälfte des vorigen
Jahrhunderts. Als 1869 Nidden wegbrannte, sammelte Passarge in
Königsberg allein über 2000 Thlr. und ganze Säcke voll Kleider. Heute
wird das kurische Gebiet, besonders die Nehrung, fleitsig von Forschern,
Malern, Touristen besucht. Die scheinbar reizarme Gegend lockt
viele. Eine zahlreiche Literatur beschäftigt sich mit der Gegend, doch
hat man merkwürdigerweise das Volkskundliche etwas vernachlässigt.
Die wichtigsten Arbeiten über unser Gebiet führe ich an. — Der erste,
der mehr als vorübergehend bei den Nehrungern verweilte, war Hennen-
berger 1595. Hundert Jahre später schrieb Prätorius manches zur
Sprach- und Volkskunde der Kuren. Jachmann bot 1825 zuerst eine
zusammenhängende Beschreibung der Nehrung. Ihm schlössen sich
Wutzke, Berendt, Schumann, Schiefferdecker u. A. an, bevorzugten
aber mehr die Geologie, Archäologie und Dünenkunde. Hervorragende
Arbeiten, die auch der Volks-, Sprach- und Geschichtskunde gerecht
werden, lieferten in jüngster Zeit Passarge, Diederichs, Bezzenberger,
Lindner. Meine Aufzeichnungen gehen auf einen mehrmaligen Aufent-
halt bei den Kuren und auf Nachrichten der dortigen Pastoren und
Lehrer zurück.
n. Gebiet.
Im 13. Jahrhundert reichte Kurland nach Ostpreufsen hinein und
umfafste vom festländischen Gebiete die Umgegend von Memel, alles
Land an der Dange und rechts und links von der Minge, bis nach
Windenburg hin, wo der Atmattarm des Kufsstromes im Haff endet.
Die spärlich bevölkerte Gegend war von Letten bewohnt, die mit Litauern
untermischt safsen. Diese Letten hatten in ihrer Sprache noch manches
altkurisch-finnische Wort Wie weit aber die lettische Sprache selbst
auf der Nehrung und weiter südwärts reichte, wird kaum je erhellt
werden. Jene beiden kurländischen Landschaften, die auf heutiges
ostpreufsisches Gebiet hin überreichten , waren Megowe und südlich
davon Pilsaten. Witold überlief s sie im Frieden am Melnosee 1422
endgültig dem Orden. Pilsaten war schon 1338 abgetreten worden.
Um diese Zeit (1408 bis 1481) zeigt der Komtur zu Memel wiederholt
dem Hochmeister an, wie Kuren von Norden her im Ordensgebiete
Boden zu fassen suchten, dafs sie auf dem Strande ihre leichten Fischer-
buden aufschlügen und alles nähmen, was sie auf dem Strande fänden.
Diese Berichte wiederholen sich und finden ihre Entsprechungen in
allen Jahrhunderten. Sie belehren recht gut über die Art und Weise
der lettischen Besiedelung. 1543 wird über die zwei Kirchspiele Post-
nicken und Germau auf der Südseite des Haffs gesagt, dafs sich die
dortigen kurischen Fischerknechte der Kirche fernhalten, auch keinen
Dolmetscher oder Tolken halten, der ihnen die deutsche Predigt nach-
übersetze, und dafs sie Herumschweifende (vagi) seien, die nirgendswo
Eigenarten. 125
lange blieben. Auch die Namen Grofskuren, Kleinkuren, Kranzkuren,
Neukuren deuten anscheinend ehemalige kurische Bevölkerung an.
Um 1648 wohnen nach Einhorn bis fast an Danzig (Hist. Lettica,
S. 1, Dorpat 1649), um 1680 nach Prätorius in Samland „dahin
anlandende Curische Fischer". Im Jahre 1785 schrieb eine lebhafte
Schilderung der kurischen Lebensweise und Besiedelung der Kriegs rat
Heinz (Passarge, Kurische Nehrung, S. 29 f.). Die Sarkauer waren mit
den Bammelsvittern handgemein geworden, weil die ersteren nicht nur
ihr Kahnzelt auf Vittener und Karkelbecker Strandgebiet gebaut, son-
dern auch in den anliegenden Dörfern wie die Haben stahlen, im Meere
Raubfischerei trieben und sich um die bestehenden Gesetze wenig
kümmerten.
Der Schakener Erzpriester, Johann Friedrich Goldbeck, schweigt
über die Art und Weise der kurischen Lebensbethätigung und klagt
in seiner um 1785 erschienenen Vollständigen Topographie des König-
reichs Preulsen auf S. 11 nur über den kärglichen Erwerb der Fischer
auf der Nehrung. Lepner spricht von litauischer Bevölkerung im
Schakener Kreise; es ist fraglich, ob er dabei nicht lettische ein-
schliefst. Dem Augenblick lebend, hängen die Kuren weniger an ihrer
Hütte als andere Völker. Ist ein Ort besser zum Fischen geeignet und
bietet mehr Aussicht auf Erwerb, so wenden sie sich der neuen Heimat
zu. Auch Jachmann berichtet über die nomadisierenden kurischen
Fischer. Die spärlichen kurzen Berichte voriger Jahrhunderte geben
somit niemals recht an die Hand, wie weit je das kurische Gebiet in
Ostpreufsen reichte, und ob die jeweiligen Schilderungen einen dauernden
oder nur einen augenblicklichen Zustand schildern. Im Sommer fahren
vorpommersche Strandschiffer noch in unserer Zeit mit ihren Kähnen
die baltische Küste entlang bis Granz, ja bis Riga, die ihren Fang in
den anliegenden Städten verkaufen, bei geringem Ertrag immer weiter
nach Osten rudern und des Nachts im Kahn bleiben, den sie auf den
Strand ziehen. Im Herbst kehren sie in die Heimat zurück. Ganz ahn-
lieh ist ja Wutzkes Bericht (S. 307) von den ostpreufsischen Kuren:
„Die Bewohner der Nehrung, besonders aus dem Dorfe Sarkau,
schiffen sich bei der für sie zum Fischfang geeigneten Jahreszeit auf
ihren Fischerkähnen nebst ihrer Familie und den Haustieren, nämlich
jungen Schweinen, Hühnern und auch Hunden, welche sie teils mit Fischen
füttern, ein, landen an den für sie bestimmten Ufern, beziehen nun ihr
Lager und betreiben den Aalfang bis Memel hin. Ihr Zelt besteht nur
aus einem Segel, an einigen in die Erde oder Sand gesteckten Stangen
befestigt, zum Schutz und Obdach bei jeder Witterung, wo sie denn
das Segel jedesmal gegen den Wind stellen, für die ganze Familie, und
es erregt Aufmerksamkeit, diese Menschen hier noch so ganz im rohen
Zustande der Natur zu sehen. Während dieser Umherzüge auf dem
Haff und dessen Ufern bis zum Eintritt der kalten Herbstwitterung,
wo sie mit dem gelösten Gelde oder mit dem am östlichen Ufer des
1
126 Die Kuren: Der kurische Eid.
Haffs eingetauschten Korn für ihre Fische heimkehren, werden die ver-
lassenen Wohnungen von alten Leuten, welche Brot backen und Holz
nachschicken, bewohnt. Bis zur Wiederbesitznahme werden die ganz
leeren Wohnungen dadurch bezeichnet, dats die Fenster und Thüren
mit einem Brette verschlagen werden, und diese Schutz wehr wird von
den Einwohnern sehr geachtet, indem sie hierin noch einen unver-
dorbenen Sinn besitzen. Um diese Menschen einheimischer zu machen,
erhalten sie zu ihren Wohnungen freies Bauholz und auch seit einigen
Jahren auf meine Anträge bei der königl. Regierung Holz zu den
Bewährungszäunen und Gärten, welches auch günstig einwirkt. tf Wenn
wir freilich das Leben und Treiben unserer Euren mit dem ihrer
russischen Volksgenossen vergleichen, wie es Seume 1798 aus eigener
Anschauung schildert, so müssen wir die Nehrunger noch glücklich
preisen. Seume sagt (vgl. Planer und Reifsmann, Seume, S. 489):
„Ich bin doch unter den Huronen gewesen, aber ich erinnere mich in
meinem Leben nie eine wehmütigere Empfindung gehabt zu haben, als
da ich das erste Mal in lettischen Bauernhütten herumkroch, die kein
Fenster und kein Schornstein als menschliche Wohnung bezeichnet, t
wo mir aus einem Behältnis, in welchem Vieh und Mensch zugleich
wohnt, erstickender Dampf entgegenqualmte; wo gleich beim Eintritt
der Rauch die Augen zerbeizte, und wo die jungen, schmutzigen, wel-
kenden, erbärmlichen Menschengeschöpfe mit ihren Kotlappen sogleich
in den finstersten Winkel flüchteten, weil ich vermutlich den Rock und r
das Äufsere eines ihrer Peiniger hatte. Man wird von der ganzen Last
des traurigen Mitleids niedergedrückt, wenn man sich der Düne
nähert."
Da führen unsere Nehrunger doch ein freudigeres Dasein. Mag
der Wind noch so heftig die Sanddünen von der flachen Meeresküste
der steileren Haffseite zutreiben, mag das Haus noch so sehr vom
Flugsande bedroht werden und der sandige Boden die Ackerfrucht
versagen! —
Über den kurischen Eid geben Olearius, ferner Brand und sein '
Herausgeber Penin, einzelne Mitteilungen und vergleichen ihn mit dem ,
lettischen und esthnischen. Der Kure mutete mit dem linken Fufs auf
untergelegten Kieselstein treten und das rechte Knie auf die Erde legen. I
Die linke Hand hielt einen weifsen Stab, die zwei Finger der rechten }
Hand wurden emporgehoben. Auf dem Kopfe aber lag ein Stück Rasen.
Diese Äufserlichkeiten sollten bedeuten, dats der Schwörende beim ,
Meineide starr wie der Stein, steif wie der Stock, beim richtigen Eide
aber grün wie der Rasen sein soll Noch schärfere Bedingungen
sprechen der kaschubische und der slowinzische Eid aus. Ob diese ,
Eide auf der Nehrung gebräuchlich waren, ist nicht nachzuweisen. 4
Brand erwähnt (S. 74) bei den Kurländerinnen dasselbe weifse Kirchen-
laken, das die Kaschuben noch vor einigen Jahrzehnten hatten und die
Sorben noch heute gebrauchen. Auf der Nehrung war es nicht Mode.
I
Die lettische Bevölkerung
im März 1897 wie folgt:
Orte
Kirchspiel Sarkau (415 8.):
Sarkau (415)
Kirchspiel Bossitten (600 S.):
Pillkoppen
Kirchspiel Nidden (914 S.):
Nidden
Preil und Perwelk ....
Kirchspiel Schwarzort (400 S.):
Schwarzort
Kirchspiel Memelland (12 000 S.):
Bommelsvitte
Meineragen
Kirchspiel Deutsch - Krottingen
(4800 S.):
Karkelbeck (Seelsorgehezirk)
Immersatt und Nimmersatt
Abb.
Das lettische SprachgebU
Gebiet mit, kurisSur f\
Litcm
w n-.i^ Gebiet veneövoelter Km
T
"Ehemaliges Gebiet Ttre
^Stadl, tTGrthdorf, oDorf
o
Immersatt -Nimmersatts Entstehung. 127
Heute ist das kurische Gebiet Ostpreufsens auf den Strand von
Sarkau bis Nimmersatt beschränkt und zwar so, dafs in Sarkau und
Pillkoppen noch geringe lettische Spuren, in den folgenden Strand-
dörfern von Nidden bis zur kurischen Grenze aber noch ständige
kurische Bevölkerung wohnt. Die Kurendörfer seien in folgendem auf-
gezählt Karte, Abb. 32.
Im mersatt-N immersatt. Die Zahl der Letten dieses Grenz-
dorfes beträgt nur 15 (5 Proz.), doch verstehen 160 (57 Proz.) noch
die alte Sprache. Im übrigen herrscht die litauische Sprache vor. In-
folge der Landstralse, des zahlreichen Grenzverkehrs (Memeler Jahr-
markt), der Rettungsstations- und Grenzbeamten und der Nähe des
Seebades Polangen hat indessen gerade die Gemeinde ein recht zeit-
gemäfses und deutsches Gepräge angenommen. Sie besitzt eine Schule
mit 60 Kindern, die nur in deutscher Sprache Unterricht empfangen,
wie fast in ganz Litauen. Es hatte 1785 nur 12 Feuerstellen, welche
Zahl sich vervierfacht hat. 1848 hatte es 20 Wohngebäude mit 228
evangelischen, 9 katholischen und 3 jüdischen Bewohnern, 1885 schon
40 Wohngebände mit 185 Evangelischen, 3 Katholiken, 10 Juden»
Kirchlich gehört es zu Deutsch-Crottingen, dem nördlichsten preußischen
Kirchspiele. Dies ward 1654 von Memel abgezweigt und erhielt in
Johann Lehmann einen Pfarrer. Es zählt heute unter 5200 Seelen
nur 400 Deutsche, doch nimmt die Beteiligung am deutschen Gottes-
dienste, der allsonntäglich neben dem litauischen gehalten wird, stetig
zu. Rhesa singt von Nimmersatt:
Zu Nimmersatt am Baltenstrand
Bauscht früh und spat die Welle,
Da grünt kein Baum auf ödem Sand,
Kein Blümlein an der Quelle,
Und nimmer, nimmer wächst die Saat,
Wer hier auch ackert früh und spat.
Der Nachtigallen Lieder
Tönt Busch und Wald nicht wieder. —
Der Name Immersatt soll unter Friedrich Wilhelm III. entstanden
sein. Aus Rufsland kommend, kehrte er in der unfruchtbaren Gegend
beim Posthalter Mellien ein. Der bat ihn: „Ich bin immer satt, und
bitte meine Besitzung doch lieber so zu nennen. u Der König bewilligte
den Namen für die Posthalterei; Immersatt ist der Name der Post und
des Lembkeschen Gartenrestaurants, das den Goetheschen Hausspruch
trägt: Freundlich trete (!) herein und froh entferne dich wieder etc.
Es ist an der Straf se der südliche Teil der Gemeinde, jenseit der Straf se
umschlief sen aber die anderen Häuser Immersatt.
Karkelbeck. Hier wohnen 125 Letten (14 Proz.), bei der
Fischerei sprechen fast 772 (87 Proz.) die alte Sprache. Es hatte 1785
schon 44 Feuerstellen und schickt heute 135 Kinder zur Schule, der
ein Lehrer vorsteht. 1848 hatte es 73 Wohngebäude mit 549 evan-
128 Die Kuren: Karkelbeck. Meineragen.
gelischen und 10 katholischen Bewohnern, 1885 aber 93 Wohngebäude
mit 794 Evangelischen und 3 Katholiken. Kirchlich gehörte es zu
Deutsch - Crottingen. Der Südteil heifst Hoppen Michel. Das Dorf
liegt abseits der Strafse. Karkelbeck ist seit kurzem ein Seelsorge-
bezirk.
Meineragen. Das Dorf zählt 30 (4 Proz.) Letten, bei der
Fischerei verstehen ziemlich alle 548 (96 Proz.) lettisch. Es hatte
1885 schon 79 Wohnhäuser mit 463 evangelischen Einwohnern, 1861
nur 26 Feuerstätten mit 261 Evangelischen und 2 Katholiken, 1848
blols 23 Wohngebäude mit 171 evangelischen und 4 katholischen Be-
wohnern, und 1785 nur 7 Feuerstellen. 1846 ward eine Schule ge-
gründet, die damals 20, heute 90 Schüler zählt. Nacheinander wirkten
der verwickelten sprachlichen Verhältnisse wegen 18 Lehrer. 1862
ward eine neue Schule gegründet, das Gehalt bezahlt der Armut der
Gemeinde wegen der Staat. Die sechsjährigen Kinder können fast kein
deutsches Wort sprechen, deshalb ist der erste Religionsunterricht
litauisch. Bei der Schulentlassung sprechen die meisten Kinder fertig
deutsch, vergessen es aber allmählich wieder beim Fischerhandwerk.
Der Einflute des litauischen Hinterlandes ist auf die Umgangssprache
dieser wie der vorhin genannten Gemeinde ganz bedeutend. Ixi beiden
Orten wird das besonders von den Frauen gesprochene Litauisch noch
lange herrschen und dem Deutschen nicht Platz machen. Meineragen
zerfällt in zwei Teile (in die erste und zweite Meinerage), der erste
reicht 1 1/3 km vom Leuchtturm beim Haffausflufs nordwärts, dann folgt
fast eben so lang unbebaute Weide und dann 1 km lang der zweite
und ältere Teil. Die 377 Morgen Bodenbesitz verteilen sich auf
10 Feuerstellen in Meineragen II und 20 in Meineragen I, eine ist die
Schule. Als das Dorf angelegt ward, war die sandige Gegend eben.
Als der Gemeinde 1838 die erwähnte Morgenzahl zuerteilt ward,
mufste sie sich verpflichten, für Festlegung des anflutenden Seesandes
zu sorgen, der bis ans Holz des nördlich davon liegenden Seebades der
Station Försterei weht. Als die Memeler Molen erbaut wurden und
der aus der Haffmündung ausgebaggerte Sand nun von Meer und Wind
ans nördliche Ufer wehte, bildete sich infolgedessen eine Vordüne, die
festgelegt ward, um die Versandung der Häuser zu verhüten. Erst
besorgten die Fischer die Bepflanzung der Düne, dann nahm die
Regierung die Arbeit in die Hand, jetzt besorgt sie die Gemeinde gegen
eine Entschädigung. Durch Wegschaffen des Sandes vor den Häusern
hat man kleine Ackerstücke geschaffen, die geringen Ertrag an Kar-
toffeln, Roggen, Hafer, Gerste gewähren und auch Platz für einige
spärliche Kirsch-, Bim- und Äpfelbäume gewähren. Die arme Gemeinde
ist willig, auch für die Schule .etwas zu thun, man hat einen 13 X 20 m
grolsen Schulgarten angelegt und zum Schutze gegen den Seewind mit
Kiefern und Bretterzaun umgeben. 12 Obstbäume stehen darin. —
1897 begann man die Separation des Gemeindelandes. Kirchlich gehört
Bommelsvitte. 129
der grölste Teil zu Memel (Land), wo 3 Geistliche und 34 Lehrer an
24 Schulen wirken.
Bommelsvitte. Memels nördliche Vorstadt steht ja viel zu sehr
unter dem Einflüsse Memels und liegt nicht abseits der Stratse wie
Karkelbeck und Meineragen, so dafs sich hier das Lettentum nicht
hätte halten können. Es zieht sich nicht am Meeresstrande hin, wie
jene Dörfer, sondern am östlichen Haffufer, dem ja die Letten fehlen.
Auch die gegenüberliegenden Gebäude der Süderspitze und des Sand-
kruges auf der Nehrung mit ihren deutschen Bewohnern bröckeln das
Lettentum ab. Bommelsvitte hat heute nicht 1 Proz. (30 Köpfe)
Letten mehr, bei der Fischerei wenden hingegen noch ein Drittel der Be-
völkerung (1000) lettische Ausdrücke an. Die grobe Gemeinde hatte
1885 in 249 Wohnhäusern 3262 Einwohner, 1785 schon 50 Feuer-
stellen und erfreute sich ziemlicher Wohlhabenheit. Ihre Bewohner
sind nicht nur Fischer, sondern auch Schiffer, dienen in der Marine
und befahren die Meere. Die litauische Sprache überwiegt hier be-
deutend. Der Konfession nach sind 92 Proz. evangelische, 6 Proz.
katholische, 1,5 Proz. sonstige Christen und 0,5 Proz. Juden. Kirch-
lich gehört der Ort zur Memeler Landkirche, zu der 6000 Litauer und
ebensoviel Deutsche zählen. Der Gottesdienst findet hier wie in
Crottingen, Schwarzort und Nidden sonntäglich in beiden Sprachen
statt. Die Schule wird von sechs Lehrern besorgt; in Süderspitze
wirkte gleichfalls ein Lehrer, der zugleich Feldwebel war. Bevor er
seine Stelle antrat, beteiligte er sich in den 70 er Jahren sechs Wochen
am Seminarunterrichte zu Karalene bei Insterburg. Dann bekleidete
er die Doppel Stellung als Lehrer und als Feldwebel beim Süderspitzer
Artilleriedepöt und der Memeler Fortifikation. Die Schülerzahl der
70 Seelen zählenden Gemeinde war natürlich stets eine sehr kleine.
Nachdem die beiden militärischen Anlagen eingegangen waren, am
5. Oktober 1897, ist der Feldwebel als Lehrer um seine Pensionierung
eingekommen. Jetzt werden die wenigen Kinder der Gemeinde nach
Bommelsvitte oder Memel zur Schule müssen.
Bommelsvitte hat jetzt etwa 3300 Einwohner, zu gleichen Teilen
aus Fischern, Arbeitern, Handwerkern und Kaufleuten bestehend. Die
Häuser sind schmal, oft schiefwinkelig, einstöckig, aus Holz, mit Dach-
pfannen gedeckt und oft mit Teer bestrichen. Die Strafsen sind
unge pflastert. Die lettischen und litauischen Frauen tragen meist
dunkelfarbene Röcke, die Männer blaue Jacken und Hosen, die Mädchen
die Zöpfe ohne Wollband. Die Bewohner sind friedlich und harmlos.
Bei der Fischerbevölkerung ist das Schwefeläthertrinken nichts Seltenes.
Der Viehstand weist 9 Stück Rindvieh, 15 Pferde, 468 Schweine,
6 Ziegen, 269 Hühner auf, Obstbäume giebt es wenig. 50 Lachs-
kutter betreiben u. a. die Seefischerei.
Der Schutzpatron der Schule ist der Tauerlaukener Gutsbesitzer.
Die Schule ward 1830 gegründet, eine katholische 1865. An der evan-
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. g
130 Die Kuren.
gelischen wirken Jetzt sechs Lehrer in vier Klassen, in der katholischen
ein Lehrer. In Bommelsvitte ereignete sich bei der letzten Reichstags-
wahl der merkwürdige Fall, dals bei der Stichwahl die Sozialdemokraten
zum grolsen Teil für den Konservativen stimmten und der litauische
Kandidat im ersten Wahlgange (Kons. 86, Lit. 3, Freis. 49, Soz. 307)
noch nicht 0,7Proz., im zweiten noch nicht 32Proz. (von 382 Stimmen)
hatte. Die litauische Landbevölkerung aber brachte den litauischen
Kandidaten mit 7382 gegen 6085 konservative Stimmen durch. In
Tilsit siegte zu gleicher Zeit der freisinnige Kandidat gegen den der
Litauer und Konservativen mit ziemlich 4000 Stimmen Vorsprung.
Nichts kann klarer beweisen, wie schwach sich litauische Sondertüm-
lichkeit selbst in der abgelegensten Gegend zeigt.
Schwarzort. Dies Kirchdorf der Nehrung entwickelt sich zu-
sehends infolge seiner günstigen Lage, seiner Bernsteinschöpferei und
seines herrlichen Waldes zum Modebad. Hier war auch bis 1890 ein
Sitz der Bernsteinbaggereien von Stantien und Becker und infolge-
dessen ein reiches gewerbfleilsiges Leben. Die Arbeiter sind Deutsche
und Litauer. Die Schwarzorter Letten waren und bleiben Fischer;
ihnen gehört der Süden des Dorfes, jenen der Norden. Schwarzort
hatte 1785 nur 7, 1820 jedoch 20 Feuerstellen mit 160 Bewohnern,
1848 bereits 21 mit 219, 1861 noch 25 mit 222, 1867: 319 Seelen;
1871 wohnten in 32 Wohngebäuden schon 512 preufsische Staats-
angehörige, von denen nur 214 in Schwarzort geboren waren. 1885
bewohnten 851 Schwarzorter 53 Wohnhäuser und bezahlten mehr Ge-
bäudesteuer, Klassen-, Gewerbe- und Einkommensteuer als sämtliche
übrigen Nehrungsdörfer. Infolge Einschränkung des Stantien- und
Beckerschen Fabrikbetriebes ist zwar die Zahl wieder auf 400 ge-
sunken, doch wächst diese gemäfs der zunehmenden Beliebtheit des
Seebades stetig, über 2000 Badegäste besuchen es jährlich. Der Ort
wird im 16. Jahrhundert zuerst erwähnt, im 17. befand sich ein Krug
daselbst. Er ward nach hoher Vorschrift, wie in ganz Preufsen, nicht
mit einem „ Undeutschen u besetzt, da gerade der Krüger in den Strand-
dörfern die einflulsreichste Person ist. 1743 ward die Schule gebaut,
die neue verdankt ihre Errichtung dem Brande von 1853. Die schöne
neue Kirche wurde 1885 gebaut, nachdem die alte 1878 weggebrannt
war. Diese ward 1795 eingeweiht und war von Karweiten hierher
verlegt worden. Die Zahl der Kuren beträgt 180, der Litauer 20 und
der Deutschen 200; sonntäglich findet in beiden Orten Gottesdienst
statt. Der Name des Dorfes ist deutsch, dabei ist zu bemerken, data
die letzte Silbe im ursprünglichen Sinne als Spitze, Haken, Yorsprung
aufzufassen ist. Die lettische Art, Familiennamen mit angehängtem
Rufnamen als Dorf n amen zu verwenden, finden wir auf der Nehrung
nicht; vergl. Paupeln - Peter , Kindschen-Bartel, Paupeln - Jakob. Im
Litauischen setzt man den Rufnamen vor. Schwarzort hat Karweite ns
und Negelns Erbschaft angetreten, vgl. Rhesa 1797 (Prutena I, 45):
Schwarzort. Ludwig Bhesa: „Das versunkene Dorf. 131
Weil', o Wanderer, hier und schaue die Hand der Zerstörung!
Wenig Jahre zuvor sah man hier blühende Gärten,
Und ein friedlich Dorf mit selgen Wohnern und Hütten
Lief vom Wald herab bis zu des Meeres Gestade.
Aber anjetzt, was siehst du? Nur blofsen Boden und Sand. Wo
Ist das friedliche Dorf, wo sind die blühenden Gärten?
Ach, dem Aug' entfällt hier eine Thräne der Wehmut.
Siehst du dort die Ficht' und eine ärmliche Hütte
Vor dem Fall gestützt, mit grauem Moose bewachsen?
Dies nur ist der traurige Best von allem geblieben.
Hinter dem Wald empor hob steil ein Berg sich mit Flugsand,
Der die Tannenwipfel und weit die Flut überschaute.
Stürmend trugen die Wind* am Hang und Gipfel den Sand ab
Und bedeckten den Wald, des armen Dörfchens Umschattung.
Ach, kein sperrender Damm hielt jetzt den Vortritt des Berges,
Und allmählich verschlang er Teich' und Gärten und Häuser!
Neben dem Wald, im Dunkel und Graun vieljähriger Eichen,
Stand die Kirche des Dorfs, geziert nach älterem Volksbrauch,
Bings von Grabeshügeln umdrängt der friedlichen Toten.
Sieh, dort ragt eine Spitz' hervor, gerötet vom Spätlicht!
Hier versank die Kapelle. Doch rettete man die Geräte
Und den heil'gen Altar. Die frommen Bewohner des Eilands
Flohn zu anderen Dörfern mit den armseligen Besten,
Die sie dem Berg entzogen, zu bauen dort ihre Hütten.
Traurig erzählt der Sohn dem Enkel, was hier geschehen,
Weist die Statt' ihm noch, wo seine Väter gewandelt.
Tief versank ihr Gebein und droben grünet kein Frühling.
Hier ertönt nicht mehr im Busch der Nachtigall Mailied,
Keine Herde kommt voll Durst zum kühlenden Quell her,
Und kein Täubchen wohnt im Zweig der geselligen Linde.
Hier umarmt das Weib nicht mehr den liebenden Gatten,
Keiner Kinder Schar ersehnt am Ufer den Vater,
Wenn er von wogender See keimkehrt mit flatterndem Wimpel.
Wer wird deine Spur auch nach Jahrhunderten kennen,
Blühend Vaterland, wo meine Lieder erklangen?
Doch du trauriger Ort hier, immer werd' ich dich lieben,
Jeglichen Baum, der schwand, in meiner Seele noch tragen !
Denn hier war's, hier ging auch ich als schuldloser Knabe
Zwischen Garten und Teich, an Hand von Vater und Mutter,
Und hier ruhen sie, die mich wohl lieben noch jenseits.
In diesem Gedicht hat Rhesa schon einmal erfüllt, was Passarge
wünscht : ein Dichter möge sich einmal in der ergreifenden Darstellung
eines untergehenden Nehrungsdorfes versuchen.
Rhesa hat seinerseits wohl in den Gedichten des von ihm hoch-
geehrten Simon Dach eine Anregung zu solcher Behandlung gefunden.
Simon Dach besingt seine Vaterstadt Memel 1655:
„Seht, diesen Weg bin oftmals ich
Das Schlofs hinauf gegangen,
Woselbst mein frommer Vater mich
Mit aller Lieb' empfangen.
Mich auf dem Wall umhergeführt,
Dort, sprach er, schau doch, Lieber,
Ward vormals keine See gespürt,
Der Sandberg ging vorüber.
9*
132
Die Kuren.
Jetzt kannst du sie und Segel sehn
In ihren Wellen fahren;
Dies ist bei meiner Zeit geschehn
Nur inner 30 Jahren. —
Und so ist aller Ding ein Ziel.
Hier, hätt' ich dann gesprochen,
Ward jährlich um das Fastnachtsspiel
Geritten und gestochen.
Viel Gärten sind zu jener Zeit
Hier, dünket mich, gewesen;
Mars hat dies alles für den Streit
Sich nun zum Wall erlesen.
Wie dort auch, wo die Pfarrgebäu
Und Schule damals stunden;
Jetzt, seht ihr, wird nur Wüstenei
Und Erde da gefunden.
Die Meinen wohnten letztlich dort,
Wie hat es sich verkehret.
Das Feuer, seh1 ich, hat den Ort
Bis auf den Grund verzehret.
G'nug, wo mein Beim das Glück nur
Und wird nach mir gelesen, [hat,
Dafs dennoch meine Vaterstadt
Mein Memel ist gewesen.
Aufser Negeln und Karweiten sind noch die Dörfer Preden und
Lattenwalde völlig verschüttet worden. Ich habe die Dorfstellen auf
der Karte an den entsprechenden Buchten aufgeführt. Alle versandeten
Dörfer lagen wie die noch bestehenden an der Haffseite. Die Kuren
bauten sie der schützenden, bis 57 m hohen, Dünen und der heftigen
Westwinde wegen an die steile Ostküste, und weil die Hafffischerei
mindestens drei Teile des Jahres, die Seefischerei knapp einen Teil
dauert. Gute Brunnen sind auf beiden Seiten zn finden. Von den
verschütteten Dörfern lag Negeln (1726 bis ca. 1837) an der Negeln-
schen Bucht, Alt -Negeln (1486 bis ca. 1700) mitteninne zwischen
Negeln und Schwarzort. Karweiten (1519 bis ca. 1793) an der Kar-
weiten sehen Bucht befand sich etwa halbwegs zwischen Preil und Per-
welk. Von den untergegangenen Teilen Pillkoppen s lag Neu- Pillkoppen
(1748 bis ca. 1839) halbwegs bis zur Kreisgrenze, Neustadt aber das-
selbe Stück Wegs nach Süden , und ebenso viel nach Süden war Preden
zu finden. Alt-Kunzens (1579 bis 1825) spärliche Trümmerzeichen
gewahrt man südlich von Kunzen (1865), wo die Nehrung wieder
schmal wird, und die Lattenwaldes (1673 bis 1762) und Neu -Latten-
waldes an der Lattenwalder Bucht. In realistischer Schärfe mit Be-
tonung der kriminellen Seite hat Wiehert in seinen „ Litauischen
Geschichten u Verhältnisse im Schwarzorter oder Niddener und den
gegenüberliegenden litauischen Kirchspielen behandelt.
Preil und Per welk bilden eine Gemeinde. Jenes hat 25 Wohn-
häuser mit 166 Einwohnern, dieses 15 mit 100 Insassen. Aufser dem
Lehrer sprechen alle 265 lettisch. Nach der Versandung Negelns
suchten sich die bedrohten Bewohner neue Wohn platze und gründeten
um 1840 beide Orte. Diederichs giebt als erste Jahre, in denen die
Orte erwähnt werden, für Preil 1837, für Perwelk 1846 an. Die
Schule ward 1849 gegründet und ist die Fortsetzung der Negelnschen.
Damals gingen 12 bis 15 Schüler zum Unterricht, heute 40. Von
diesen entfallen 26 auf Preil und 14 auf Perwelk. Letztere müssen
täglich den 6 km weiten Weg zur Schule machen. Etwa 50 Jahre
besteht also die Schule, und obwohl der Unterricht rein deutsch ist,
haben schon neun Lehrer gewechselt, angeblich, weil diese beiden Orte
Kar weiten, Preil, Perwelk, Nidden. 133
zu den ödesten und verlassensten ganz Deutschlands gehören sollen.
Welch Interesse aber gerade diese Orte ausüben, erhellt aus der That-
sache, dals zahlreiche Gelehrte sommers über hier zu finden sind.
Im Sommer 1898 waren ein Professor, ein Maler, ein Landrat und noch
andere Herren da. Der erste Lehrer bezog neben freier Wohnung und
Feuerung nur 120 Mk. Gehalt, jetzt beträgt dies 1000 Mk., das der
Staat bezahlt, da die Gemeinde zu mittellos ist. Das hölzerne Schul-
gebäude hat Strohdach und ist von einer haushohen Düne umwallt, die
immer mehr nach den Wänden rückt und die Schule verschütten würde,
wenn nicht beschlossen wäre, in nächster Zeit die Düne festzulegen.
Auch die Dorfdüne überhaupt soll sehr bald bepflanzt und unter
Zuhülfenahme von Arbeitern aus der nächsten Strafanstalt zu einer
feststehenden Sandmauer umgewandelt werden. Der stetig zunehmen-
den Versandung des Haffs, infolge Vordringens der Wasserdünen und
Verschüttung der Nehrungsdörfer ist ein Damm durch die königliche
Regierung entgegengesetzt worden, die mit aller Kraft die Bepflanzung
der Nehrung in Angriff genommen hat. So öde der Boden ist, so hat
doch auch Preil -Perwelk stetig an Zahl wie an Kultur zugenommen.
1898 bewilligte die Regierung schon einmal eine Summe von 150 Mk.,
dals Keller und Hofräume vom vordringenden Sande befreit würden.
Die dabei thätigen Strafgefangenen aus Wartenburg, die sonst bei der
Dünenbefestigung beschäftigt waren, waren gleich in einer Preiler
Sommerbaracke untergebracht. Zwei Schienengleise reichten vom Sand-
berge bis zum Haffstrande, wo der Sand aufgeschüttet ward. Eine
gröfsere Sandfläche ward mit Rohr besteckt, um der Versandung Einhalt
zu thun. 1848 hatte die Gemeinde 12 + 5 Wohnhäuser, 1861 jedoch
16 + 8, 1871 bereits 18 -f 11, 1885 aber 23 + 14 und 1897 schon
25 -|- 15. Die Bevölkerung stieg in derselben Zeit so: 84 -|- 42,
88 -j- 44, 123 + 59, 133 + 97, 166 + 100. Kirchlich gehört es
zu Nidden.
Nidden. Dies hat 535 (70 Proz.) Kuren, doch nimmt das deutsche
Element stetig zu, schon weil Nidden Sitz mehrerer Beamten ist. Es
wird 1403 zuerst erwähnt, hatte 1529 einen Krug; 1709 wütete die
Pest hier wie in ganz Ostpreufsen. 1743 ward die Schule erbaut,
1785 hatte es 15 Feuerstellen, 1820 schon 31. 1847 erhielt es bei
355 Bewohnern einen Pfarrer, der wie der Schwarzorter zugleich erster
Lehrer ist. 1835 ward das Post- und Kruggebäude zur Kirche ver-
wandelt, 1888 aber eine neue steinerne gebaut; damals hatte es
66 Wohnhäuser, von denen 47 nach dem Brande von 1869 schön auf-
gebaut worden waren; seit 1879 steht der Leuchtturm, der den Haff-
schiffern als Wahrzeichen weithin entgegen strahlt. Die Schul- und
Umgangssprache ist deutsch, in der Kirche wird noch litauische neben
deutscher Predigt gehalten, obwohl kaum ein Dutzend Litauer hier
wohnen. Nidden besteht aus drei Teilen, deren zwei südliche Purwihn
und Skrusdihn heifsen. Nidden ist der südlichste lettische Ort. Die
Pillkoppen, Sarkau. Brands Nehrungsreise. 135
1080m lange Dorfstralse war früher nur Sand, jetzt hat man eine
schöne Lehmsträlse mit Kiesschüttnng hergestellt.
Aulser den erwähnten lettischen Dörfern, die ein geschlossenes
Gebiet am nördlichsten ostpreulsischen Strande bilden, finden wir nun
noch südlicher Spuren alter lettischer Bevölkerung. Im südlich an
Nidden ragenden Kirchspiel Rossitten (1403 zuerst erwähnt) herrscht
in Kirche und Schule vollständig die deutsche Sprache, doch verstehen
im nördlichsten Dorfe, Pillkoppen, noch sechs aus der Memeler
Gegend zugewanderte, eine Familie bildende Kuren ihre alte Sprache,
die gleiche Zahl sei fürs Kirchdorf Sarkau (zuerst 1497 namhaft ge-
macht) anzugeben, wo drei alte und drei jüngere Leute noch lettische
Worte verstehen, ohne die Sprache zu beherrschen. In Rossitten und
Kunzen erstarb der kurische Laut, südlich von Sarkau erinnert aulser
Ortsnamen nichts an die frühere lettische Bevölkerung. Die Bewohner
der untergegangenen Dörfer Preden und Lattenwalde siedelten nach
den benachbarten Orten über und teilten das Los der Bewohner.
Interessant ist der alte Reisebericht Johann Arnholds von Brand
(Reysen durch die Marck Brandenburg, Preulsen u.s.w., 1673, heraus-
gegeben von Hennin, Wesel, 1702, S. 48 bis 50), der das ganze kurische
Gebiet von Cranz bis Polangen vom 8. bis 13. Oktober 1673 durchfuhr.
Sonntag, den 8. Oktober, erreichte er mit seinen Begleitern das Ufer
des Baltischen Meeres, wo sie „auf die 200 Schritt lang unterschiedene
allda vergrabener Fischer entblöfste Totenkisten und Knochen" sahen.
Sie fuhren drei Meilen immer an der See hin, bis sie Sarkau erreichten,
wo sie Nachtlager hielten. Am 9. Oktober erreichten sie nach je einer
Meile Lattenwalde, Kunzen, Rossitten. Hier nächtigten sie wegen
Ungestümigkeit der See. Der Wirt erzählte, data man unlängst im
nahen Wäldchen einen Bären gesehen habe, der sich wegen der Seeluft,
„welche die Bären gantz nicht vertragen können, ahn einer dicken
umarmeten Eich ersticket hatte". Preden und Pillkoppen erwähnt
Brand nicht, am 10. erreichten sie in 21/2 Meilen Nidden, wo ein
französisches Kaufmannsschiff kurz vorher gestrandet war, futterten
and kamen nach 3 Vi Meilen nach Negeln, wo sie blieben. Schwarzort
nennt er nicht, ebenso wenig Karweiten vor Negeln, und den Sandkrug,
sondern nur die Fahrt übers Haff nach Memel, wahrscheinlich vom
Sandkrug aus. Die Entfernung von Negeln giebt er auf drei Meilen
an. Am 13. fuhren sie weiter und erreichten nach Zurücklegung der-
selben Strecke Polangen zu Mittag. Hier futterten sie bei einem Juden,
deren 50 im Flecken sein sollten. Die Dörfer am Strande läfst er
unerwähnt, desgleichen Näheres über Sitten und Gebräuche der Kuren,
während er zuvor die Litauer und später die Letten ausführlich
schildert.
136 Die Euren.
in. Haus und Hof.
Haus und Hof. Ein kennzeichnender Unterschied zwischen
den kurischen Häusern und den litauischen hinsichtlich der Anlage ist
nicht vorhanden. Die grölsere Ärmlichkeit, Einfachheit und räumliche
Beschränktheit ist eine Folge des kahlen, kargen Sandbodens. Dieser
charakterisiert die Nehrung wie den baltischen Strand, ihn haben die
wohlhabenderen Litauer den bescheideneren Kuren überlassen. Mit
der besseren Bebauung und Pflege des Bodens rückt auch die deutsche
Bevölkerung weiter vor. Der Sand liegt meterhoch über dem Lehm
und Mergel, und wo die letzteren beiden zu Tage treten, bat man
sofort angepflanzt, was zu pflanzen ging. Die Anpflanzungen in den
Sand sind erst neuerdings kräftig in Angriff genommen worden; doch
hat man es mehr auf Festlegung der Dünen mittels Nadelholzkultur
abgesehen, als auf Herstellung von Säe- und Gartenland, wie in den
Klucken, wo man mit Erfolg den Sand mit Grabenaus wurf mischte.
Im Jahre 1822 ward in Rossitten ein Brunnen gegraben; erst hatte
man 16m Sand, Geröll und Lehm zu durchstechen, dann folgte eine
10m tiefe Schicht grauer Mergel, den Sandadern durchzogen, gebettet
auf ein meterhohes Feldsteingebiet, das im Brunnenwasser stand.
Die alten Holz- und Schilfhäuser weichen auch schon bei den
Kuren den Steinhäusern neuer Art. Die Fischerkate ist meist zugleich
mit Stall und Schuppen zusammengebaut; es fehlt oft die Klete,
und grölsere Wirtschaftsgebäude sind selten. Die Häuser sind mit
dem Giebel nach der Haffseite, auf dem baltischen Strande nach der
Meeresseite zugekehrt. Bei einzelnen Häusern fehlt sogar die Quer-
wand der Hausflur. Die Balken sind „im Gehrsafs" zusammengefügt;
zuweilen auch „in Ständern mit Füllholz".
Die Preiler Häuser stehen 10 bis 20 m voneinander entfernt,
werden bei Hochstand des Haffs oft zerstört und dann verlassen.
Dieser Übelstand lälst Buhnenlegung wünschenswert erscheinen. Ein
einziges Haus ist das ursprüngliche. Das Gehöft hat sich z. B. in
Meineragen folgendermafsen entwickelt: 1. Hausbau, 2. Wegräumen
des Flugsandes und Anlegung eines Hofes, 3. Gartenanlage, 4. Hof-
gebäude.
Das Haus ist, wie das litauische und Kas ch üben haus , dreiteilig.
Zu beiden Seiten des Hausflurs ist ein Doppelzimmer, aus Stube und
Kammer bestehend. Abgesehen von äufserlichem Anbau kleiner Ställe
oder Schuppen wird eine Vermehrung der Wohnräume auf dreierlei
Art hervorgerufen, die natürlich auch wieder bei Anlegung gröfserer
Wohngebäude die Anfertigung des Risses bestimmt. Man hat nämlich
entweder die Stuben durch Wände geteilt (Abb. 34, 36, 37, 39), oder
man hat im Hausflur Vorzimmer angelegt (Abb. 40), oder man hat von
den Stuben Vorstuben abgeschieden (Abb. 41). Die Wände sind glatt,
selten zieren sie fromme Bilderbogen oder Familienbilder.
Hans und Hof. Kurische Häuser.
137
3ZZ1
E] H
Abb. 34.
II
8b
EI
Hh
6a
8a
03 Q]
4b | A
lb
8b
V]
li
Hl-
6a
HH
m
2a
OD
ILeh
Grundrifs eines Preiler Hauses.
(10 m lang, 8 m breit.)
Abb.
35
•
J
^
Vorderansicht eines Preiler Hauses.
Erkl ärung.
Haas (Nams, Troba, Bute), Wohnhaus (Maje, Mages, Giwenimas).
f> Fenster. — 1 1 Thür. — 1 a Hausflur (Bute, Buts, Namu, Nams) mit Hausthür. —
lb Küche (Kukne). — lc Vorstube (Priistuba, Priangis). — 2a Altsitzerwohnung
(Grieszeninke , Ischimtinings = Altsitzer). — 2 b Kammer oder Gesindestube (Kam-
buriß, Kamare). — 3 a Wohnstube (Istuba). — 3 b Kammer (Kamburis). — 3 c Ge-
sondertes Schlafzimmer. — 3d Speisekammer. — 3e Gute Stube. — 3f Vermietete
Stube. — 4 a Tisch (Galds, Stalas) und Stuhl (Krasze, Krase). — 4 b Feste Bank
(Benke); bewegliche Bank (Kreslis, Kreslas). — 5 Bett (Gulta, Gülte, Lowa). —
6 a Ofen (Krasne, Krosne). — 6 b Herd (Kamins). — 6 c Backofen. — 7 Koffer
(Szkirts, Lade). — 8 Kasten (Skrine). — 9 Uhr. — 10 Kinderwiege an einer
Schaukelstange.
138 Die Kuren.
Über den alten Bau der Häuser der preufsischen Kuren sind wir
nicht unterrichtet. Hingegen kennen wir verschiedene Berichte über
das kurische Haus überhaupt. So sagt Brand in seinen „Reysen durch
die Marck Brand, u. s. w.tt von den Kuren (S. 69 f.), sie wohnten in
elenden geringen Häuserchen, in denen meist nur Rauchstube und
Speicher vorhanden sei. Im Speicher werde ihr liebes Brot und
schlechter Trank, auch Gurken und Sauerkraut aufbewahrt. In der
Rauchstube sei ein von Kieselsteinen verfertigter Ofen, ähnlich einem
Backofen, der mit schwarzen Kohlen oder anderem Holz heftig geheizt
werde. In einer solchen Stube hielten sich Vater, Grofsvater, Enkel,
Kinder, Mutter auf und schliefen darin auf untergelegten Lumpen,
selten in einem Bette mit alten Tüchern und untergeworfenem Stroh.
Der übrigbleibende Raum sei für das spärliche Vieh, besonders für
Kühe, deren Milch die Kinder ernähren müsse. Die Häuserchen seien
von dickem Fichtenholz artig zusammen geschürzt. Auswendig hoble
man die Balken ab, inwendig lasse man sie rund. Die Fugen verstopfe
man mit Moos, das Dach decke man mit Stroh- oder Holzschindel und
füge des Haltes wegen Holzkreuze auf den First. Der Wind könne
nicht durch die Balken wehen. Neben dem Hause stehe die Scheune
oder Ryge, worinnen das Korn getrocknet wird. Das machen sie so,
sie legen über den Ofen Stangen, dazwischen richten sie Garben auf»
dann lassen sie das Getreide durch Pferde und Kühe austreten.
Merkel sagt 1797, die kurischen Häuser seien mit Stroh gedeckte
Hütten ohne Schornstein und Fenster und hätten so niedrige Thüren,
dafs man nur gebückt hineintreten könne. „Da wimmeln dann in
einer bis zum Ersticken in Rauch gehüllten Stube der Hauswirt und
seine Familie, die Knechte mit den ihrigen, und Hühner, Schweine und
Hunde um die in die Ritzen der Wand gesteckten Kienschieilsen, die
Erwachsenen in zerlumpten' Wämsern, die Kinder im Sommer und
Winter in ebensolchen Hemden, alle barfuls." — Sein Titelbild führt
ein solches lettisches Bauernhaus vor. Vor der IV2111 hohen Thür-
öffnung steht ein alter bärtiger Lette, er hat ein eng anliegendes Ge-
wand an, das bis auf die Kniee reicht und mit einer Hüftenschnur
festgehalten wird; an den Füfsen hat er pareskenartige Sandalen. Vor
ihm steht ein christianisierender Priester, der ihm mit der Rechten den
Kelch vor den Mund hält, mit der Linken aber das Dach anbrennt.
Hinter dem Priester aber steht ein Deutschritter und hält das Schwert
vor die Brust des Letten, dessen Holzwaffe zerbrochen zu Boden sank.
In der Linken hält der Ritter eine Kette. Die Hütte ist im Gehrsais
gebaut , etwa 2 m bis zum Dache , dessen Höhe und Giebelbreite auch
ziemlich so viel beträgt. Die Wände bestehen aus runden Baum-
stämmen, 22 liegen an der Breitseite, 34 nebst der Schwelle an der
Giebelseite übereinander. Am Hause steht ein Baum, an dessen Ast
eine kahnartige Wiege an den vier Enden zum Hin- und Herbewegen
aufgehängt ist. (Merkel, Die Letten, Weimar 1897/98.)
Hausbau. Kurische Hausgrundrisse.
Abb. 36.
+
+
139
a
«
Länge 4*84 m
Stube
Länge 4,46 m
I s
Länge 6 m
Stube
a
•o
3
"g
m
Länge 4,84 m
Stube
Ofen
Ofen
4
Länge 4,46 m
Küche
3 2
Ofen
Ofen
a
©
£
«
Hausflur
Länge 4,46 m
<**
2 a
Länge 6 m
Stube
+
+
a
1
Breite
1,60 m
a
g. §
I
Breite
1,60 m
a
* §
i §
*3
a
4
14,29 m lang
a
©
a
s
97 cm
_ a
CO
96 cm
a
©
m
t*4
a
©
97 cm
97 cm
98 cm
a
©
46 cm
■3
&
a
Vorderfront.
Bommelsvittener Haus.
Abb. 37.
Abb. 38.
Grundrifs zweier Preiler Stuben.
(Vergl. die Erklärung auf Seite 137.)
Aus derselben Zeit stammen die „Kosmopolitischen Wanderungen",
die (III, 117) folgendes berichten: Die kurischen Wohnungen seien
am Ende des 18. Jahrhunderts wie im 12. gewesen: elende, hölzerne
Baracken, die jeden Augenblick einzustürzen drohen. Man steckt, so
heilst es ungefähr, in einer gewissen Entfernung voneinander abge-
schälte Baumstämme in die Erde, füllt den Zwischenraum mit Moos
aus, und so ist ein kurischer Palast fertig. Das Strohdach reicht fast
140 Die Kuren.
bis zur Erde. Statt der Fenster dienen viereckige Locher mit Holz-
schiebern. Die Löcher führen das Tageslicht zu und, da man Schorn-
steine nicht kennt, den Rauch ab. Oft fehlen auch die Fenster. Nur
die Beamtenwohnungen seien besser. Gewöhnlich sei das Gebäude
zweiteilig, oft nur einteilig. Im grölseren Teile, dem Rauchhause, der
zugleich als Wohn-, Schlaf-, Backraum gelte, hausen Tiere und Menschen
friedlich zusammen. Der Gestank sei unerträglich. Abends stecke
man in die Wandritzen statt des Lichtes dünngeschnittene Eienspäne
(bei den livländischen Bauern auf der Nehrung war es auch so).
Betrachten wir nun einmal die heutige Hausanlage eines Nehrungs-
•hauses !
In Abb. 34 ist die Wand zwischen la und lb später eingesetzt,
2 a diente beim Fehlen des Altsitzers auch als Stall für Kühe und
Schweine. 6 b ist auf drei Seiten mit mannshoher roher Ziegelring-
mauer versehen. Das Haus selbst ist durchweg aus Holz, der Boden
hat keine Diele. Das Dach ist von Rohr, Stroh oder Binsen. Der
Schornstein fehlt Die Fensterläden sind blau angestrichen; die Holz-
wand ist innen und aulsen roh abgehobelt, aber nicht getüncht. Es
beträgt die Wandhöhe 2m, Breite 8m, Länge 10m. Die Giebelzier
ist pferdekopfartig. Das Wohnzimmer dient meist zugleich als Schlaf-
zimmer. Die Anlage (Abb. 34) ist vorherrschend, besonders auf der
Nehrung, nur dafs beispielsweise in Pillkoppen die Zahl der Thüren und
Fenster aufs äufserste beschränkt wird.
Abb. 39 kommt ähnlich in Meineragen auch vor, 2a und 2b sind
aber nicht durch eine Zwischenwand getrennt, sondern man hat an die
äufserste Ecke von 2 b zwei Kammern angebaut. 3 a hat man wie 3 b
geteilt und den entstandenen äufseren Raum zum Stall verwandelt.
Dies Melneragener Haus steht etwa 50 Jahre , ist 20 m lang und 6 m
breit. Rechts davon liegt in Entfernung einiger Meter ein Keller ohne
Aufbau, links schliefst sich an das Haus in gleicher Breite ein Gemüse-
garten, vor dem in der Vorderrichtung des Hauses ein Holzschuppen
sich befindet. An Haus und Holzschuppen vorbei führt der Weg zum
Gartenthore und zur Dorfgasse. Gegenüber der Vorderansicht des
Hauses ragt die Klete mit ihrer Säulenhalle. Die Klete ist dreiteilig,
ein Teil ist die Knechtekammer, die anderen dienen zur Aufbewahrung
von Kleidern und Wirtschaftsgegenständen. Zur Seite der Klete in
geringer Entfernung liegt gegenüber dem Keller ein Gebäude, dessen
nächste Hälfte Scheune mit Tenne enthält, während die zweite einen
Stall bildet. Der Scheune ist noch eine Kammer vorgebaut. Dies
Melneragener Haus gehört zu den Grundstücken eines wohlhabenden
Wirtes. Zwischen Scheune und Keller führt ein zweites Gartenthor in
die Felder. Das Gehöft ist umzäunt.
In Abb. 40 wird 2 a nicht immer als Altsitzerwohnung benutzt, da
in Meineragen der Altsitzer mit dem Besitzer bis auf einen Fall in
einer Stube wohnt. Aufser dem Wohnhause hat jeder Melneragener
Haasanlagen. Karische Hausgrundrisse.
Abb. 39. Abb. 40.
141
U
Hl
U
u™
II
u
2b :
■H
1
: 8a
8b :
: la
: sb
*.b
1
1
6a
ib:
5
2a :
8b
Sb
: c
D
8a
2a
: lc :
(\
Hl
•
ü
A
Hl—
n
Grundrifs eines Niddener Hauses. Grundrifs eines Melneragener Hauses.
Abb. 41.
-II-
i la
Hh
tr
lc ±
JE
£ lb ±
JL
•ö CT
4b
2b
6a I
2a
X> CL
8b
D 8b
Grundrifs eines Bauernhauses in Karkelbeck.
Abb. 42.
— II—
TT
TT
8a
8a
n
ü — | — ü
IT
TT
8a
8a
ü
Hf-
8b C
8b C
Hl —
Grundrifs eines kurischen Insthauses (Inamiu Buts).
(Vergl. die Erklärung auf Seite 137.)
am Strande einen Schuppen, in dem er Netze und Fischereigeräte auf-
bewahrt, um sie sofort bei der Hand zu haben.
Abb. 41 ist 8 m breit und 24 m lang. Die Breite jeder Stube be-
trägt 4m, nur 2b als Surinkimastube hat zu Ungunsten der davor-
liegenden kleinen Stube 5 m Breite. 3 a und 3 b haben 6,1m Länge,
lb und lc 3,15 m. Die Flur la nimmt von der Hauslänge 4m, die
sich anschließende Vorstube und Eüche je 3,75 m , die beiden anderen
Stuben je 7 m in Anspruch. Die Speisekammer ist 2 m breit und 3,5 m
142 Die Kuren.
lang. Die linke Haushälfte ward 1860, die rechte 1896 erbaut, jene
hat Strohdach, diese Schindelbedeckung; beide Hälften sind von Holz.
Vor und hinter dem Hause ist ein Garten, im hinteren ist der Zieh-
brunnen. 40 m hinter dem Hause steht parallel zu diesem ein Stall
von Lehm mit Strohdach, er ist 8 m breit und 23 m lang. Links vom
Hause, vor der Tiefseite von Haus und Stall, liegt die mit Strohdach
versehene hölzerne Scheune. Sie steht 10m vom Stalle, 30m vom
Wohnhause entfernt und ist von letzterem durch einen Zaun geschie-
den, der Haus und Garten umgiebt. Die Scheune ist 38 X 6 m grofs.
Drei Thore führen nach der Haus- und Stallseite, eines nach der gegen-
überliegenden. Rechts und links vom Hinterthore ist je ein Spreu-
raum. Yor der vorderen Kleinseite der Scheune liegt der 8 X 5 m
grofse Keller.
Die Elete ist hier, wie überall bei den preußischen Letten, die
grofse litauische Swirne mit mehreren Bäumen. Es ist eigenartig, dafs
sich die einteilige Klete nur bei den russischen Letten in ihrer alten Art
erhalten hat. Wie die Dichter des Wigalois und des Helmbrecht
schildern auch livländische Urkunden des 13. Jahrhunderts den „cleyt"
oder „clet" als ein festes hölzernes Vorratshäuschen. 1351 „lepen de
Kusen — to den cleten (in Nowgorod) und howen de up und nemen
wat darinne was neden und boven". Das unwohnliche „ Speicherchen u
war zu Brands Zeit aber auch schon Hochzeitsraum *)• Hupel
(Idiotikon 1795) unterscheidet: Kornkleete, Mehlkleete, Handkleete,
Leihekleete (für Gebietsbauern). Buddeus 2) nennt 1847 die in der
De8criptio 3) um 1600 geschilderten halb unterirdischen Vorratsräume,
*) Brand, 8. 77: Nachdem nun die Braut alda (im kurischen Bräu tigams-
hause) angelangt, wird der Bräutigam in einem dazu verordnetem stübchen,
bey ihnen Klete genant, hin geführet, und wird die Braut von erwehntem
befreundten alda bey den Bräutigam ins Bett geworffen, umb sich einander
alsdan auf die probe zu stellen, und werden also zwey stunde mit ver-
schlossener thür bey -einander gelassen; nach verflossenen stunden kommen
die verwandten zurück mit kurtzen stecken in der hand, öffnen die thür gar
gelinde, und mufs der Bräutigam, welcher gemeinlich in dem geräusch an
der thür sich geschwind ahn dieselbe verfüget, mit einem behänden sprunge
der geöffneten thür herauf s zwischen ihnen durch springen, oder im fall er
zu langsam ist, wird er mit den stecken wacker abgeschmieret : dan werden
sie beyde, der Bräutigam und die Braut fleifsig examinieret, wie sie sich gegen
einander im spiel verhalten : erfahren sie von der Braut, dafs der Bräutigam
zum werck untüchtig befunden, wird er auf anhalten der Braut wiederumb
von ihr geschieden , weil sie die end - ursach des heyraths , nemlich Kinder-
erziehung, worinnen ihre Wohlfahrt am meisten bestehet, nicht erreichen
können etc.
*) Buddeus, Halbrussisches I, 256: Der lettische Bauer brennt dem
deutschen Herrn sein Wohnhaus zwar nicht über dem Kopf zusammen, aber
er steckt die Kleete im fernen Wald an, worin die Ernte eines meilen weiten
Heuschlages liegt.
*) Preufs, S. 6: Alle Polen, Schwarzrussen, deren Hauptstadt Lemberg
ist, Masovier, Schlesier, Preufsen und etliche Litauer bringen das Getreide in
Lettische Klete. 143
die auch die Burgunder unter dem Namen screunia, srenia hatten,
Klete. Wie Hennenberger und Prätorius bei den Litauern, so hebt
Kohl (Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen II. Dresden und Leipzig
1841) die zahlreichen Gebäudchen oder Kleten auf einem einzigen
Gehöft hervor: „Wie alles bei diesem kleinlichen Volke, so zerfallen
auch ihre Wohnungen in eine zahllose Menge kleiner Abteilungen,
Kämmerchen und Winkel. Da ist ein enger Stall für das Hausvater-
pferdchen, ein Ställchen, so grofs wie ein Hühnernest, für die zwei
Pferde des Knechtes, ein Ställchen für die Kühe etc., ein kleines Häus-
chen, Kleete genannt, für die Kleider-, Leinwand-, Butter-, Flachs-
und Kornvorräte des Hausherrn, ein anderes Kleetchen für die des
Knechtes etc." Zuweilen ist aber auch die Klete mit dem Wohnhause
vereint, wie Busch ausführt (Ergänzungen der Methode zur Geschichte
und Statistik der evangelisch - lutherischen Gemeinde in Kufsland.
Petersburg und Leipzig 1867, I, 730): „Der Bauerhof des Letten
besteht aus dem Wohnhause, Pferdestall, Viehstall, Badehaus, der
Riege und Kleete. — Unter einem und demselben Dache mit dem
Wohngebäude befinden sich bisweilen Kleete und Scheune. tf Über die
heutige lettische Klete äufsert sich der hervorragendste lettische For-
scher, Dr. Bielen stein: „Der Name Swirne für Klete dürfte dem letti-
schen Volke ganz unbekannt sein, aufser vielleicht in litauischen
Grenzgebieten. — Mir ist dieses Wort niemals in solcher Bedeutung
vorgekommen. Unsere Klete hat bei ihrer älteren Form gern einen
Vorraum auf hölzernen Pfeilern als Aufbewahrungsort für mancherlei
Gegenstände im Schutz vor Regen und als Ort für mancherlei Be-
schäftigungen und Arbeiten. Neuerdings wird diese Vorhalle oft nicht
mehr gebaut (palparne = unter dem Flügel, das sagt man aber von
jedem Ort unter einem vorspringenden Dache). — Die alten lettischen
Gebäude waren sicher sehr klein. Der abgeteilte Raum für jede der
verschiedenen Kornarten im Speicher, aus dünnen Balken oder aus
starken Planken gebaut, heilst lettisch apzirknis (für älteres apzirtnis)
von zirft, hauen, mit dem Beil hauen. Der Kornkasten iBt also ein
Herumgebauter; diese Kornkasten wände sind etwa gegen 3 Fufs hoch,
an den Wänden der Klete. Die Klete dient dem Letten auch als Auf-
bewahrungsort von Kleidern etc., und sehr gern als Sommerwohnung
und als Privataufenthalt für die Familie bei intimen Angelegen-
heiten/
Schade verweist bei Klete auf die niedersächsische offene Hille, den
Scheunen oder grofse Haufen unter freiem Himmel. — Aber die Weifsrussen,
alle Moskowiter und die meisten Litauer bringen das abgemähte und aus-
gedroschene Korn sogleich auf den Speicher; einige in unterirdische Höhlen,
im Walde versteckt, die dazu ausgegraben und innen gut mit Baumrinde
ausgelegt sind. Ebenda verwahren sie auch andere Lebensmittel, ein-
gesalzenes Schweinefleisch, Gemüse und wertvollen Hausrat, besonders in
Kriegszeiten, vor Feinden — wie vor eigenen Truppen.
144
Die Kuren.
Schlaf- und Aufenthaltsraum des Gesindes über den Stallen seitlich der
Tenne. Wie die Litauer verlegen auch die Letten den Schauplatz der
Dainos, hier Singes genannt, gern in die Klete.
Der Besitzer des obengenannten Gehöftes besitzt 104 Morgen und
zahlt 6 Mk. Einkommensteuer. Die schöne Bauernwirtschaft ist mit
einem Zaun umgeben, wenigstens auf drei Seiten. Der Altsitzer macht
sich stets zu Hause nützlich, erhält Freitisch und Kleidung und lebt
mit seinem Sohne friedfertig im Gegen satze zu den Litauern, die öfter
untereinander Prozesse führen.
Abb. 43 deutet ein Melneragener Gehöft eines der bemittelten
Besitzer an. Es ist in der Anlage nicht erheblich von den litauischen
Abb. 43.
<*
I
TK
I
I
l
E
V —
8a 7
6
HI-
Sa
2b
4 h
lb
la ?
■If-
P2a
Hl^
2b
? 6c
ih
la ±
TT
T 8f
HK
lb
3e
-li-
la 7
Hh-
8f
— Q.
o b o
I
D I B
! l
Melneragener Gehöft.
A Wohnhaus (Mages, Gywenamoji, Giweniraas, Maje). — B Speicher (Klete) mit
Kleider-, Vorrats- und Knechtekammer. — C Keller (Kelderis) aus Stein, mit darüber-
gebauter Vorratskammer. — D Speicher des Altsitzers. — E Holzraum für Bretter
und Nutzholz. — F Brennholzhaus. — G Garten (Darsze), dahinter Wald (Mesz,
Girre). — H Zaun (Zugs, Sete, Twora). — I Stall (Staldis) mit Geschirrkammer b
und Scheune c (Skune, Skunesgals, Bertainis) mit Tenne (Klonas). — K Weg
(Zelsz, Kelis). — L Hof (Kiems, Ziems).
verschieden. Die preußischen Kuren haben ja als Fischer gar keine
Gehöfte. Die Ent Wickelung eines solchen hat die Lituanisierung zur
Voraussetzung. Gemeinsam ist den Gehöften am Strande die recht-
eckige Anlage; das Wohnhaus steht nie in der Mitte, sondern inmitten
einer Langseite, immer mit der Vorderseite nach dem Hofe (Kiems,
Ziems) gekehrt. So in Abb. 39, 41, 43. Merkwürdig ist Abb. 43 wegen
Unterschied zwischen den kurischen und den ihnen benachbarten Höfen. J145
des doppelten Hausflures. Abb. 43 hat die meisten Einzelgebäude in
Meineragen. Das Wohnhaus hat eine Gröfse von 25 X 8 m. Die
angebauten Stuben 2 a und 2 b sind jüngeren Ursprungs. Was diesen
Hof von dem schäm eitischen (siehe S. 125, Abb. 24) besonders unter-
scheidet, ist der Mangel einer selbständigen und grösseren Scheune;
der Grund ist in der Hauptthätigkeit der Euren gegenüber den Scha-
ni eiten zu suchen. Diese sind vorwiegend Ackerbauer, jene Fischer.
Dementsprechend mangeln Fleisch-, Mehl- und Milchkammer. Auch
das Fehlen der Badestube, des Flachstransportgestelles und des Rauch-
hauses fällt auf.
Ähnlich in der Anlage ist ein anderes gleich grofses Gehöft mit
weniger Gebäuden, auch in Meineragen. Ist Abb. 43 fünfmal parallel
der Kleinseite geteilt, so das andere sechsmal. Yon links nach rechts
sind die ersten zwei Zimmer vermietet, zu zweit folgt der dreiteilige
Hausflur, dessen Mittelteil zur Küche benutzt wird. Zu dritt reihen
sich Mietsstube und Kammer, zu viert ein ungeteilter Hausflur an, der
vor und hinter dem Hause in einem Vorflur (Priangis) endet. Die
fünfte schmale Zimmerflucht ist dreiteilig, der mittelste Teil ist eine
Küche, die beiden anderen sind Vorstuben zu den folgenden zwei
gröfsten Zimmern des Hauses. Vor dem Hause und Hofe (an Stelle
von D, I, B) liegt ein Garten, dahinter die Abb. 43 I entsprechende
Stallscheune. An Stelle von F steht eine dreiteilige Klete mit Knechte-
kammer, Holzstall und Netzraum. Der Keller steht auf derselben
Stelle wie Abb. 43 C. — Die Giebelzier wird immer seltener und unter-
scheidet sich wenig von der in Litauen, ja in ganz Nord- und Mittel-
deutschland gebräuchlichen; werden ja nicht selten diese Zieraten
von Handwerkern jenseits des Haffs hergestellt. Man verwendet
zweierlei Schmuckart, ein- und doppelteilige. Die einteilige hat meist
Urnen- oder Kreisform, auf der sich ein Kreuz oder ein Vogel erhebt;
sie ist in Preil vorherrschend (Abb. 44). In Pillkoppen ist neben dem
Doppelhorn (Abb. 47 g) der Fisch gebräuchlich, öfter auch als Wetter-
fahne.
Die zweiteiligen sind aus der noch in Preil vorhandenen einfachen
Grundform (Abb. 46 a), der Gabel ^ hervorgegangen. Die frei ge-
wordenen Enden hat man zu allerlei künstlichen Formen ausgebildet,
so zur Doppelhacke (Abb. 46 b), zur Katze mit Maus in Karkelbeck
(Abb. 46 c). Der Doppel vogel- oder Doppelpferdekopf ist die gewöhn-
liche Form und zeigt sich von der flachsten Gestalt an bis zur fein
geschmückten und mit Blumen, Kreuzen und Herzen gezierten.
An eigentümlichen Hausgeräten ist nichts Altertümliches mehr
vorhanden, man kennt weder die Kanklys und Truba mehr, noch
Kriwule, Karine u. dergl. Hingegen ist die Handmühle noch im Ge-
brauch, und der Name des Schulzenstabes hat sich auf die Gemeinde-
versammlung übertragen. Eigenartig haben sich jedoch die hölzernen
Grabkreuze und Grabplatten erhalten. Die Grabkreuze herrschen im
Tetsner, Die Slawen in Deutschland. jq
146
Die Kuren.
Abb. 44.
Preiler einteiliger Giebelschmuck. Nehrungsurne.
(S. Schieferdeckers Bericht.)
Zu Abb. 45: a b 100 bis 240, c d 61 bis 821, e f 109 bis 365, g h 39 bis 160,
k 1 180 bis 240 cm. — Wanddicke 12 cm.
Abb. 46.
Zweiteiliger Giebelschmuck,
a aus Preil; b aus Meineragen, 1835; c aus Karkelbeck.
Abb. 47.
W '*£?
£lg3
e
Giebelköpfe,
a Karkelbeck; b Preil; c Meineragen 1840; d Meineragen 1840; e Meineragen 1865;
f Kid den; g Pillkoppen.
Abb. 48.
=n=«ft ^h A A .
M
a b c d e f
Grabkreuze.
a Festland, Schwarzort, Im X Im; b Schwarzort, auch Nimmersatt, 75 X 50cm,
Bretter, 15 X 8 cm; c = b; d Nimmersatt, 0,75 cm lang, 0,50 cm breit, 2,15 cm
Verlängerung des Deckbrettes nach unten ; e Melnersgen ; f Preil.
Grabplatten.
Abb. 49.
147
ie
T
rä,
e
f 20 cm
1
m
g 20cm h 40 X 20cm i 100X30 cm k
Grabplatten.
Preil a, k, 1, n ; Rossitten m ; Nidden b, c, d, e ; Schwarzort f, g, h, i.
Abb. 50.
Grabzeichen für Männer
und Frauen.
Abb. 51.
Grabzeichen für Kinder
in Bommelüvitte.
A
<L
B. 30 cm
L
T«. Gr.
1892 L. 82
t
L. 82 cm^^
a
8
Grabschrift z. B. Teodor Graubschus Grabschrift z. B. A nicke Brenzis
t 1892. t 1894.
ganzen Gebiete, auf dem Festlande ausschlielslich , auf der Nehrung
haben sie zierlichere, kleinere Form angenommen. Die Enden sind oft
dreiteilig. Die Bedachung ist nicht mehr ausschließliches Kennzeichen
des weiblichen Toten. Die Grabplatten lassen sich auf zwei Grund-
formen zurückführen, auf das Blatt und auf die Urne (Abb. 49).
Die Nehrungsurne (Abb. 45) ist von Dr. P. Schiefferdecker 1873
in einem „Bericht über eine Reise zur Durchforschung der Kurischen
Gehrung in archäologischer Hinsicht" ausführlich behandelt, seine Er-
gebnisse sind unter Abb. 45 angegeben. Er sieht in ihr und überhaupt
in den Gräberfunden auf der Nehrung einen Beweis mehr, dals die
10*
148 Die Kuren.
ehemaligen Dünaanwohner und die Nehrunger demselben Volksstamme
angehörten. Diese Urne kommt in verändertem Schattenrifs gleichsam
mit aufgesetztem Deckel als Grabplatte in Nidden und Schwarzort
(Abb. 49 c, e, h, i) wiederholt vor. Die einfache Blattform als
Epheu (n), Eichblatt oder Löwenzahnblatt (g, d, b), andere spaten-
förmige und kreisrunde Blätter könnten auch anders gedeutet werden,
so haben k und m mit den Beinen tierartige Gestalt.
IV. Beschäftigung.
Landbau. Die ostpreufsischen Kuren kennen fast nur eine Be-
schäftigung, das ist der Fischfang; der Landbau tritt als zweite gänz-
lich zurück, noch mehr die Jagd auf Krähen. Ein Handwerk lernt
der echte Eure nie. — Auf dem Strande beut der Landbau vermöge
der ackerbauenden litauischen Anwohner schon mancherlei Frucht;
die Nehrunger hingegen kommen über den Versuch, Kartoffeln anzu-
pflanzen, nicht hinaus. Arbeiten, bei denen man nicht sofort Frucht
sieht, sind ebensowenig des Slowinzen wie des Kuren Sache. Künstliche
und saubere Kartoffelzucht überlälst man schon um deswillen den
Deutschen , weil der Sandboden in den Klucken wie auf der Nehrung
erst durch Mischung mit Moorstaub, Land und Dünger einigermalsen
fruchtbar wird. Das Festlegen der Wasserdünen auf der ganzen Neh-
rung, besonders bei Pillkoppen und Schwarzort, wird ja dem Landbau
bedeutenden Vorschub leisten. Schwarzort und Rossitten haben überdies
in ihren Wäldern und Waldwiesen weit eher günstige Vorbedingungen
als Nidden, Preil und Perwelk. Dies Kirchspiel weist z. B. in ganz
Preil und Per welk an Bäumen nur einige Obstbäume in Per welk im
Garten von Fr. Bastickis auf. Auch der Wies wachs ist hier äufserst
gering und beschränkt sich in Preil auf drei Besitzer. Im Sommer
nehmen die Preiler, um Milch zu haben, von Windenburg und Kinten
Kühe auf Ausfütterung. Aber wer seine Kuh auf die äuEserst magere
fiskalische Damm weide in Preil schickt, wo sie der Milch wegen im
Sommer „in Pension tf weilt, muls 1,5 Mk. an die Dünenbaukasse im
voraus zahlen. Eine Kuh giebt hier täglich 1 bis 2 Liter Milch. Man
findet an Küchengemüsen fast gar nichts im kurischen Gebiet; Weifs-
kohl, Mohrrüben und Wrucken holt man vom Markte. Auch die Zahl
der Blumen und Ziersträucher ist gering, in Meineragen giebt es Flieder
und Georginen. Auf den Äckern baut man hier Kartoffeln, Roggen,
Hafer, Gerste; als Dung benutzt man Seetang. Die Ernten sind spär-
lich. Jedes Haus hat sein ärmliches Gärtchen, als Obstbäume sind
daselbst hervorzuheben: Sauerkirschen, Pflaumen, Birnen, Äpfel,
Stachelbeeren. An Gartenpflege fehlt es, doch hat man der Schule
einen mit Kiefern und Bretterzaun umgebenen, 13 X 20m grofsen
Garten beschieden, den Sand weggeschafft und durch Lehm ersetzt,
12 Obstbäume zieren ihn.
Krähenfang. 149
Der immer deutscher werdende Badeort Schwarzort bietet aber
im Sommer alles, was das Festland hat. Am Strande und bei Schwarz-
ort treten neben Nadelbäumen besonders die Weide (Witulis) auf, die
als Schutz gegen den Sand überall gepflanzt war, aufserdem Birke
(Berse), Erle (Alksne), Espe (Apse). Getreidefelder fehlen, Kartoffel-
furchen sind selten vorhanden. Von Haustieren sehen wir: Pferd,
Kuh, Schwein, Schaf, Hund, Katze, Huhn. Preil besitzt beispielsweise
zwei Pferde, sechs Kühe und einige Schweine; im Winter erhöht sich
der Eisfischerei wegen die Zahl der Pferde auf sechs. Bommelsvitte
besitzt 9 Rinder, 15 Pferde, 468 Schweine, 6 Ziegen, 769 Hühner. Jede
Gemeinde hat ihren Hirten. So treibt der Preiler den ganzen Sommer
durch frühzeitig das sämtliche Gemeindevieh auf die Weide und bringt
es abends zurück. Er erhält 60 Mk. Jahreslohn und reihum bei den
Viehbesitzern Kost und Schlafstelle. Ihn kennzeichnet keine Trübe,
sondern nur Schäferstock und Brotbeutel, Brot und Fisch für Mittag
und Vesper enthaltend.
Krähenfang. „Wenn Giltine Wald und Gesträuch entblätterte,
wenn im Geäst statt Vogelgesang das Knarren der dürren Äste zu
hören ist, wenn das Elch entflohen und der Habicht seinen Raub ein-
gestellt hat, wenn der Herbst begann und sämtliche Freuden erstarben,
dann preisen nur noch die Krähen des greulichen Herbstes Freuden. u
So etwa singt Donalitius in seinem „Herbst" von Ostpreufsen, dem
Lande der Krähen. Warninken, Warninkehmen und zahlreiche andere
Orte haben ihren Namen von den unzähligen Krähen erhalten, die Ost-
preutsen bevölkern. Schon alte Schriftsteller gedenken des schwung-
haft betriebenen Krähenfanges, von dem uns Donalitius ein hübsches,
auf Tolminkemen bezügliches Bild liefert. Dotschys, der Erzlump,
hatte einem tölpelhaften russischen Knechte, Durrak, die Flinte gegeben,
damit er ein Dutzend edler Krähenbraten erhalte. Durrak schofs so
dumm, dals die Scheune in Brand geriet und er sich selbst verwundete.
Da kam der Amtsrat zufällig, liels den Dotschys in Eisenketten legen,
auf dem Schlitten ins Gefängnis fahren und in fünf Tagen vor zahl»
reichen Zeugen gegen ihn verhandeln. Dotschys stellte sich erbärmlich
und seufzte; als aber die Zeugen gegen ihn aussagten, stemmte er die
Hände in die Hüften:
,Was denn kümmert es euch", so sprach er, „ihr gnädigen Bichter,
Dafs ich, wenn mich einmal nach Krähenbraten verlanget,
Mir zu dem Mittagsmahl ein paar der Bestien schiefse?
Hat der König nicht seihst sie auszurotten geboten?
Unter den Litauern giebt's gar viele sehr protzige Bauern,
Viele der Knechte sogar, die solcherlei Speise verachten,
Aber mir ist's ganz gleich, hab' ich nur Fleisch auf der .Schüssel.
Wollet ihr einem Armen, wie mir, solche Bissen nicht gönnen?
Ist's nicht genug, dafs ich euch abliefre die Füfse der Krähen
Und, wie dem Bauer Pflicht, von zwölf gefangenen Spatzen
150 Die Euren.
Jährlich schleunigst die abgedrehten Köpfe euch bringe? —
Habt ihr Herren uns ja doch schon so von allem entblöfset,
Dafs nns hinfort zum Essen nur bleiben noch Hatten und Eulen. *
(Donalitius, Winter, 342 ff., übersetzt von Passarge.)
Zahlreiche Kanzelermahnungen gegen das Krähenschielsen wurden
nur der Feuersgefahr wegen erlassen, der Krähenfang ward gern ge-
sehen. Die Preiler sind beim Krähenfang äulserst fleilsig. Sie fangen
im Herbst oft an einem Tage je 150 Stück. Ein viereckiges Netz
führt mit langer Leine zu einer etwa 20 m entfernten Strobbude, die
gerade so grols ist, dals sich ein Mensch darin verbergen kann. Das
äufserste Netzende ist durch einen Pflock festgemacht und an der Erde
befestigt. Am Netze . liegen Stinte als Lockspeise , und ein lebender
Rabe ist als Lockvogel angebunden. Wenn man keinen hat, bedient
man sich eines schwarzen Huhnes. Sind eine oder mehrere Krähen
an den Stinten, so zieht der Fänger die Leine so derb an, dafs die
Gefangenen nicht unter dem Netze hervorkönnen. Dann beifsen die
Fänger den Krähen den Kopf ab, die anderen bedienen sich zur Tötung
einer Zange oder eines spitzen Messers. Zu Hause rupft man die
Federn ab, die zum Stopfen der Betten verwendet werden. Das Fleisch
wird gekocht und gegessen, der Vorrat wird in einem Pökelf afs für den
Winter eingesalzen. Die Nehrunger werden von den Litauern an der
anderen Seite des Haffs scherzhaft Krähenbeifser, jene von diesen
Kaulbarschpelze genannt.
Fischfang. Kein Volk ist mit solcher Zähigkeit, mit solchem
freudigen Fatalismus Fischer als die Kuren; nur ganz selten geht aus
ihnen ein Strandbedienter oder ein Gastwirt, ein Handwerker oder gar
ein Gelehrter hervor. Und wenn ihnen die See die Hütte wegspült
oder der Sand ihr Häuschen zuschüttet, wenn der Fischreichtum immer
kärger wird und drückender die Steuern: der Kure bleibt, was er ist,
mögen sich bessere Stellungen oder lohnenderer Verdienst bieten. Er
wird, wie Beispiele beweisen, unglücklich in einem anderen Verhältnis,
er verliert Ruhe und Sicherheit und kehrt gern zu seinem jahraus
jahrein gleich einförmigen Fischerhandwerke zurück. So rauh und
derb die Arbeit ist, so willig thut sie der Kure gleich dem Slowinzen
von früher Jugend an zu jeder Jahreszeit, — bis in die fünfziger Jahre
hinein. Dann tritt er den Schauplatz seiner Thätigkeit seinen Kindern
und Schwiegersöhnen ab. Er thut dies nach altem Gebrauch so früh
aus wirtschaftlichen Gründen; nur zeitige Heirat der Kinder und zeitige
Selbständigkeit in bester Manneskraft sichern die Erhaltung des gering-
wertigen Eigentumes und die Begründung eines möglichst reichlichen
Familienstandes, der sich bei allen Arbeiten nützlich erweisen mufs.
Die Alten werden, wie am Lebasee, Altsitzer; sie stricken Netze und
richten mit den Frauen und Kindern die zerrissenen wieder her. Sie
ziehen Leinen und setzen Angeln; alles hat immer mit den Netzen
zu thun.
Fischerei. 1 51
Man kann im allgemeinen sechs Arten Fischerei unterscheiden:
1. den Stint- und Kaulbarschfang, 2. die Winterfischerei, 3. den Lachs-
fang, 4. den Aalfang, 5. die Keitel- und 6. die KurrenfLscherei.
Der Stint- und Eaulbarschfang. Er dauert vom Dezember
bis zum Januar und wird auf dem Haff derartig ausgeführt, dafs man
in eine Wuhne ein 15 X lVam haltendes Kaulbarschnetz (Pukinnis)
einl&Ist; jeder Fischer gleichzeitig drei bis vier. Man fängt Kaulbarsche
und messerlange Stinte, die von Menschen gegessen werden und nicht
mit den kleinen Sommerstinten verwechselt werden dürfen, aus denen
man Schweinetrunk bereitet. Das Schock solcher Stinte verkauft der
Kure mit 50 Pfennigen. Obwohl die Auslagen zu dieser Fischerei, der
billigen Netze und der Mühelosigkeit wegen, gering sind und selbst
von den Ärmsten bestritten werden können, ist doch des spärlichen
Fanges wegen der Verdienst kaum nennenswerth und gewährt nur
knapp, dafs der Fischer mit den Seinen von der Hand in den Mund
leben kann. Viele machen gegen 100 Mk. Schulden im Winter. Und
der gilt als der Vornehmste, dem der Kaufmann am meisten borgt.
„Ein armer Fischer bin ich zwar" , gilt von den Kuren wie von den
Kluckenern. Der Kure spart nie, genau wie seine Genossen am Leba-
eee. Was soll das? Man mute ja doch jeden Tag hinaus aufs HaS
oder Meer fahren, das Geld in der Tasche ist wertlos, wenn es nicht
verwendet wird. Er bringt auch im Sommer nicht mehr auf, als dafs
er die alten Schulden bezahlt, den Tagesbedarf deckt, aber keinen
Heller für den Winter spart. „Ach was, der Kaufmann wird bei Heller
und Pfennig bezahlt, sobald ich's habe", ist des Fischers ehrliche Aus-
rede. Da aber oft zu viel Zeit bis zu diesem Zeitpunkte vergeht, rückt
öfter der Gerichtsvollzieher ein und ist so manchem von ihnen bekannt.
Die Wintergarnfischerei ist ein Vorrecht der bemittelten
Fischerwirte. Die Netze sind teuer, der Betrieb kostspielig, der Er-
folg ungewils, dafür ist ein glücklicher Zug aber auch lohnend genug.
Sie wird genau so von den Slowinzen betrieben und dauert auf dem
Lebasee wie auf dem HaS vom Dezember bis März. In Preil beteiligen
sich je acht Menschen mit zwei bis vier Pferden. Man fängt aufser
Stinten und Kaulbarschen noch Barsche, Hechte, Zander und zieht oft
für 300 und mehr Mark Fische heraus, die sofort von Händlern aus
Memel und Kinten gekauft werden. Auch hierbei „spendieren11 die
Händler reichlich Schnaps und Gigarren, um die Fischer weniger
„äulsern" zu stimmen und billige Ware zu bekommen. Die Pferde
müssen aufwinden. Das Netz, gestrickt mit Galdens und Saiwe, ist
360 X 5 m grols. Inmitten der beiden Flügel ist an der Heftung ein
4 m grofser Sack, dahin müssen die Fische schwimmen. Das Lachsnetz
(LachBwad) ist in Nidden 190, Strömlingswad 130 m breit. Klippnetze
(Nidden) sind oft kleiner und können von zwei Männern gezogen werden.
Ein Zug dauert einen ganzen Tag, kann aber auch auf mehrere aus-
gedehnt werden. Man hackt (s. S. 17) an zwei entfernten Stellen grolse
152
Die Kuren.
Löcher ins Eis und betrachtet diese als die grolse Achse einer Ellipse.
Auf der Peripherie hackt man nun in der Entfernung der Netzstange
kleine Löcher. Bann senkt man das grolse doppelteilige, rechteckige
Netz in das eine grolse Loch. An der oberen Seite sind Pappelborke-
stnckchen, an der unteren Steine befestigt, dals das Netz im Wasser
senkrecht steht. Am rechten und linken Ende sind etwa 6 m lange
AbU 52 Netzstangen angebracht. Biese
werden mit einer Gaffel ata nge
in die beiden nächsten kleinen
Löcher rechts und links vom
Achsenanfange geschoben. Von
da ab schiebt man weiter, bis
das Netz an dem grofsen Loche
am anderen Achsenende anlangt.
Die Lachsfischerei wird
im April und Mai auf der See
betrieben, des zweifelhaften Er-
gebnisses wegen nicht so allge-
mein. In Nimmersatt, wo man
sonst nur Dorsche fängt, sowie
Flundern und Strömlinge, dort
Heringe genannt, fahrt nur ein
einziges Boot auf den Lachsfang,
in Bommelsvitte thun's 50 Kutter.
Bie Netze müssen sehr genau
gearbeitet sein und sind doch oft
leer. Bas zur See gebräuchliche
Lachszugnetz heilst Wadus oder
Wadnetz und ähnelt dem Klipp-
ia nd Winterklippnetz.
Der Aalfang findet auf dem
Haß statt; er beginnt nach der
Lachsfischerei im Juni. Er ist
die einträglichste Art and bringt
beispielsweise den Preilern durch-
schnittlich 1000 Mk. ein. Mit ihren Händlerkähnen warten dieMemeler
und Kintener Fischhändler (Kupczelis) auf die heimkehrenden Boote
und bezahlen das Kilogramm mit 1 Mk.; die Fische werfen sie in den
Fischkasten (Potingis), der 2m lang. Im breit und 1/,1m hoch ist,
Haben sie eine Last beisammen, so fahren sie nach Hause und kehren,
nach Ablieferung, im Sommer mittels Kahnes, im Winter mittele Schlittens
sofort wieder nach Preü zurück. Oft kippt einer dieser nicht ganz
sicheren Kähne unterwegs um, und Weib und Kind, die zu Hanse
die Aale räuchern und später in Königsberg verkaufen, warten ver-
geblich auf des Vaters Rückkehr.
1 Stein, etwa 1
Ctr. «oh wer. —
2 Treib-
leine, kur
(plattd.) Driew
line. —
Baum,
liur. Boon
4 ßutti
. — 5
Flotten,
jilsitd. Fl
et, k
ur. Pluk>(
t. — t
Kleine,
faustgrofre
Steio
, kur. Akm
enig. — 7
Vorder-
teil, kur.
l'reka
ai. — 8
Achtelga
rti, kur.
Acktegarn
9 Schitke
, beliehen d aus
centnerEcli
werem
Stein. —
10 Kehle
Inkelis.
Netze.
153
Abb. 53.
Abb. 54.
[aulbarschnetz, kur. Pukinnis, 15m lang, lV8m
breit.
1 Leiue.
Dorschatigel (Kappel).
- 2 Eisenstäbe. — 8 Schnuren. —
4. Angel. — 5 Ring.
Abb. 55.
1 Driewlin, nur kur. — 2 Schwankten, nur kur. — 3 Kur. Schullmister, welcher 7 m lang und
Ton starkem Garn ist, damit sich das Netz beim Herumschleudern nicht abnutzt. — Flotten, plattd.
Fleet, kur. Plukstis, Plakate. — - 5 FaustgroXse Steine, kur. Akminig (Preil), Akmenis (Mein.). ■—
6 Oadder, kur. Leeks, ein sehr weitmaschiges, zu beiden Seiten des Kurrennetzes sich hinziehendes
Netz. Die Länge des ganzen Kurrennetzes beträgt 200 m , seine Breite 3m; in Meineragen hat
man vier Netze von je 65 m Länge zusammengebunden.
Abb. 56.
^.3
::::::::::::::::
":5:j:::::5"
360 m lang, 5 m breit. Winternetz, kur. Sziemos Tinklas, Siemestiklis.
1 Buttis, nur kur. — 2 Buttlien. — 3 Span. — 4 Kur. Metrische.
Abb. 57.
Abb. 58.
Abb. 59.
tt
^
)
Zese,
Zeise.
Kescher.
(Kesselis.)
Bernsteinkescher.
(Dsintarekesselis.)
Die Kurrenfischerei findet im Sommer und Herbst mit zwei
Kähnen und zwei Menschen statt. Zwei binden ihre Netze zusammen,
je 200 X 5 m grofs. Tag und Nacht dauert der Fang. Er ist wenig
lohnend. Die grolsmaschigen Netze schwimmen so wie das Winter-
netz; man segelt vor dem Winde. Erst zieht man die Netzenden,
dann das ganze Netz in den Kahn.
154 Bie Kuren.
Die Keitelfischerei beginnt im September und ist wenig er-
giebig, sie liefert wenig Aale, meist kleine Stinte. Auf einem Kahne
ist ein Fischer mit seinem Gesellen. Man lälst das Netz so ein, data
es wie ein umgestülpter Zuckerhut im Wasser steht. Unten wird das
Netz immer engmaschiger. Das Boot segelt mit halbem Winde Tag
und Nacht.
Ein charakteristisches Netz ist noch die Zese, ein sackartiges,
4 X 4m grofses, hinten immer engmaschiger werdendes Netz mit
Kehle in der Mitte. Die Dorschangel (Kappel) besteht aus einer Leine,
an deren Ende ein Ring mit zwei Eisenstäben hängt, die in je einer
Schnur mit Angel enden.
Fischnamen sind für Dorsch Menzas, Lachs Lasis, Flunder Plekste,
Hering Silke, Stint Stente, Zerte Sebbre, Seequappe Wegelis, Stör Sture,
Schnäpel Siks, Butterlachs oder Spezker oder Junglachs Pedsekis,
Zander Starks, Hecht Lideks, Aal Sutis, Brassen Kasche, Kaulbarsch
Pukis; selten sind Kanklys und Salats, eine kleine Maräne. Gemüse:
Weilskohl (Kapuste), Mohrrübe (Germule), Wrucke (Setene).
In Bommelsvitte hat man ein Strömlingstreibnetz zu 4 cm, ein
Staknetz zu 2,5 cm , ein Zugnetz zu 2,5 cm und einen Kescher zu 2 cm
Maschenbreite. Die Reuse (Wenter) ist 7,5 m lang und vorn 1 m
breit, der Kescher 1 m lang, das Staknetz 60 m, das Zugnetz 30 m, das
Lachsnetz 12 m, das Aalnetz 50 m.
Das Schaf nennt man Awe, das Lamm Gers, die Kuh Guwe, das
Pferd Sirge, das Schwein Cuka, den Hund Suns, Szu, die Katze Kake,
den Kater Runcis, das Huhn Wiste, Wiszte, den Hahn Gailis, Gaidis.
Der Kirschbaum heilst Wisznis, der Birnbaum Trauszis, der Apfelbaum
Obulis, Abulis, der Stachelbeerstrauch Buberei, der Pflaumenbaum
Plume.
V. Feste und Feierlichkeiten.
Sonn- und Wochentag. Die sociale Überlegenheit des herden-
begüterten Berglappen gegenüber dem armen Seelappen findet ihre
Entsprechung bei allen Stämmen am Baltischen Meere von Domesnäs
bis zum Lebasee. Die Slowinzen sind weit ärmer als ihre germanisierten
landsässigen Volksgenossen im Süden. Die Strandliven führen ein viel
ärmlicheres Dasein als die hinter ihnen hausenden lettisierten Kuren,
und ebenso ist das Verhältnis zwischen den Nehrungern und Strand-
kuren gegenüber den auf dem Lande wohnenden lettischen und litaui-
schen Brüdern. Alle die genannten ärmlichen Strandvölker haben
eine Eigenart in ihrem täglichen Schiff erleben entwickelt, die eher
unter sich als mit der ihrer ackerbauenden Nachbaren übereinstimmt.
Liegen ja bei den Strandleuten die gleichen Bedingungen des Bodens,
des Erwerbes, der Nahrung, der Witterung vor, die auf die Dauer
mächtiger als Volks- und Blutsbande wirken und ketten.
Wochen tagsarbeit. 155
Der Wochentag eines kurischen Fischers gleicht so ziemlich
dem des Slowinzen and Liven. Während aber jene in der Frühe ihr
Tagewerk beginnen, fängt es der Kure abends nach Sonnenuntergang
an. Da fahren die Fischer auf ihren Booten, jedes Dorf gemeinsam,
auf die Höhe des Haffs, des Meeres, des Lebasees. Am Morgen kehren
sie zurück, der Easchube aber viel früher. Der Kure richtet es so
ein, dals er gerade rechtzeitig nach Hause kommt, um den Fang nach
Kinten oder Memel auf den Markt zu bringen, gewöhnlich zu Boot.
Ist aber der Fang gering, so bedienen sich die kurischen Frauen der
Körbe, Karren und Handwagen zur Reise auf den Markt. Wer ein
Pferd hat, läfst die Frau fahren und verkaufen. Kurin wie Litauerin
gehen gleich geschickt mit dem Pferde um; Ostpreufsen war ein Pferde-
land, lange bevor die ersten preulsi sehen Könige die weltbekannten
Stutereien anlegten. Während die Kurin auf dem Markte handelt,
haben die Brüder und Männer zu Hause trockene Kleider angezogen,
beim schwarzen Kaffee ein derbes Frühstück von Fischen und Kartoffeln
eingenommen und sich dann schlafen gelegt. Die Kuren schlafen
schon, wenn die Litauer und Ostpreufsen, die ja in ganz Deutschland
das lange Schlafen lieben, noch liegen. Nun wird es allmählich
Mittag, die Frauen kehren zurück, ein zweites ähnliches Mahl folgt.
Mus mit Weizenmehlteilchen gilt als besonderer Genuls, doch ver-
schmäht man auch nicht rohe Fische mit Zwiebeln, Salz und Pfeffer.
Die Fische werden mit den Kartoffeln zusammen gekocht, ohne Butter
und Sahne, aber mit viel Zwiebeln, Pfeffer und Salz, den Lieblings-
gewürzen der Strandbewohner. Die Krähen wie die Fische werden
fast nur gekocht, selten gebraten oder gebacken gegessen. Im Sommer
ilst man zuweilen die gekochten Eingeweide der Aale. Im Winter
schlachten viele ein Schwein und bevorzugen Sauerkraut. Auch
Bohnen und Erbsen kocht der Kure gern.
Nachmittags werden die Netze in Ordnung gebracht und alles,
was man bei der Fischerei braucht. Die Männer stricken, die Frauen
flicken. Dann wird die nötige Arbeit in Haus, Hof und Kartoffelbeet
gemacht. Um 4 Uhr trinkt man Thee und ifst nochmals. Den Thee
geniefst man mit Zucker, wenn nicht ein Unwetter die Verbindung mit
Memel und seinen Kaufläden unterbrochen hat. Wenn die Nacht
stürmisch war und das Fischen nicht zuliefe, fährt man bei Tage auf
die Höhe. Am Abend beginnt der Fischfang aufs neue; einige feiern
am Donnerstag abend, andere am Freitag abend; insbesondere schweigt
da das Surren des Spinnrades.
Die Sonntagsfeier beginnt am Sonnabend um 6 Uhr. Man
fährt nicht auf den Fischfang, sondern wäscht den Oberkörper und
legt ein frisches derbes Hemd an. Die Nehrunger setzen sich dann
ruhig vor die Thür und unterhalten sich, wenn nicht etwa ein Gebets-
bruder eingetroffen ist und Gebets Versammlung abhält. Die Melne-
rsgener Kuren und ihre Nachbarn hingegen gehen meist nach Memel
156 Die Kuren.
in die Fischerkneipen und kaufen zuvor für den Haushalt dort Wirt-
schaftsgegenstände , Küchenbedarf, Leckereien ein. Früh morgens
gehen die Kirchdörfler in ihre Kirche ; die entfernten aber, so die Preil-
Per welker, versagen sich den 8 bis 14 km langen Weg. Die Slowinzen
wandern bekanntlich trotz ebenso grofser Entfernung regelmäßig in
die Kirche; die Preil-Perwelker kaum einmal im Jahre. Diese Kirchen-
besucher gehen nach dem Ende des Gottesdienstes nicht, wie die Slo-
winzen, in den Krug, sondern kehren bei Freunden ein, machen
Krankenbesuche und gehen dann nach Hause. Die kurischen Nicht-
kirchenbesucher aber nehmen ihr litauisches Gesangbuch zur Hand und
singen unter Leitung des Hausvaters nach dem Aufstehen einige lange
Lieder; die Länge soll vielleicht den Inhalt ersetzen oder von der un-
entwegt ausdauernden Frömmigkeit Zeugnis ablegen. Nach dem Früh-
stück nimmt der Vater die Postille und liest der aufmerksam lauschen-
den Familie nach gemeinsamem Gesänge eine Predigt vor. Dann folgt
der Gesang mehrerer Lieder bis zum Mittagessen, das am Sonntag
öfter KlÖfse mit Pflaumen oder Mus, Rindfleisch mit Reis und dergL
bietet. Nachmittags singt und betet man wieder, und gegen Abend
beginnt der Werkeltag mit der Ausfahrt der Netze und Fischerkähne.
Die Strandkuren besuchen am Sonntag auch zuweilen ihre Friedhöfe,
die Preiler nie, „man würde die Toten nur in ihrer seligen Grabesruhe
stören und ihnen Ungelegenheiten bereiten".
Eine neue Farbe verleiht dem Sonntage wie jedem übrigen Tage
das Erscheinen eines Reisepredigers oder Sakitojis. Die Wirksamkeit
der Maldininker oder Surinkimininker ist tiefgehend. Und mag auch
hier und da beabsichtigte oder unbeabsichtigte Heuchelei, selbstgerechtes
Mucker- und Schwindlertum mit unterlaufen, nach meinem Dafürhalten
ist bei den Jetzigen Verhältnissen der Nutzen der Gebets Versammlungen
grölser als der Schaden. Der Reiseprediger kehrt bei einem bestimmten
Fischer ein und wird aufs beste bewirtet. Wer nur kommen kann,
kommt in die niedrige Stube, wo alles dicht gedrängt sitzt. Die An-
dacht dauert sehr lange. An einem Tische sitzen die Laienprediger
und predigen abwechselnd. Mit lauter Stimme, etwas verworren, reden
sie und legen das Wort der Schrift aus, wie sie es verstanden haben,
und kommen dabei wie in Hebels Kannitverstan gewöhnlich vom
Irrtum zur Wahrheit. Denn überall lassen sie ihren Grundgedanken
durchblicken: „Ihr seid unbekehrt, seid Sünder, mülst besser werden.
Liebt eure Nächsten ; schändet den Sonntag nicht, sondern widmet euch
ganz göttlichen Dingen, thut Bufse!" Die Hörer folgen lauschend
dem mutigen Redner, der ja auch nur ihresgleichen ist, und spenden
ihm reichlich Beifall; seine Predigt dünkt ihnen verständlicher als
die des Pastors. Eins behalten sie: sie müssen sich bessern, und dieser
erzieherische Gedanke haftet mit aller Innigkeit.
Sonntags trägt der Kure bessere Kleider als Wochentags. Der
Fischer in Nidden hat Wochentags wollenes Unterhemd, breite blaue
Bonntagsfeier. 157
oder weifse Hosen, blaue Tuchweste, graue oder blaue Leinenjacke,
lange Wadenstiefel, einen Südwester, d.h. einen Sturmhut mit Nacken-
schutzleder oder eine Mütze aus gefirnifster weifser Leinwand; in Preil
ist die Leinen weste hinten mit roten Bändern versehen. Sonntags
geht er modisch; Mütze, Weste, Hose, Jacke sind aus marineblauem
Tuch; die Sommerhose ist weilsleinen; man merkt den Einflute des
Seesoldatendienstes. Die Euren auf dem Festlande haben sich schon
mehr der allgemein modischen Kleidung angeschlossen.
Die Frauen tragen alltags einen groben (Eedelis), sonntags kurze
schwarze, zuweilen gesprenkelte Faltenröcke; meist recht viele über-
einander, das soll die Wohlhabenheit andeuten. Die Litauerinnen
bevorzugen bekanntlich die gestreiften Röcke in ihrer vielartigen Bunt-
heit, schätzen indes grünseidene Kleider noch höher. Die ärmellose
Weste oder Miederjacke aus Baumwolle oder Sammet ist entweder
ausgeschnitten oder bis zum Halse zugehakt. Das Oberhemd, oben
fein und weite (Wirschupschis) , ist am Kragen und den Handenden
faltenreich und schwarz gestickt, die untere Hälfte von der Taille ab
(Sterbles) ist von Sackleinwand. Schürzen sind nach der verschiedenen
Gegend entweder bunt gestreift oder grünseiden; darunter hängt eine
schöne gestickte Tasche mit selbstgeflochtenem, buntem Taillenbande,
das grotse Quasten zieren. Die Tasche dient zur Aufbewahrung des
Tuches und der Börse. Bernsteinbroschen gelten als Schmuck. Das
Kopftuch ist verschiedenartig. Bei den Nehrungern haben die Mäd-
chen das Haar frei, die Zöpfe hängen herab oder sind kranzartig auf-
gelegt, zuweilen mit Moos- oder Rautenkränzen geziert. Binden sie
ein Kopftuch um, so müssen hinten ein Schwanz, seitlich zwei Zipfel zu
sehen sein. Die Frauen tragen einen richtigen Turban (Muturis), den
sie am Sonntag so winden, date die beiden Endzipfel lang hinten
herunterhängen. Sehr selten sieht man den früher gebräuchlichen
weiteen Shawl (Raischtas); man wand ihn so um den Kopf, dafs der
Scheitel frei blieb, der Knoten im Nacken safs und die Enden herunter-
hingen. Im Sommer gehen die Frauen gewöhnlich barfute und be-
dienen sich der Waden wickler (Aukles), sonst tragen sie weitee Woll-
oder Baumwollenstrümpfe und derbe niedere Lederschnürschuhe mit
Absatzstreifen, bei der Fischerei Männerstiefel. Die Füfse können sich
der kurzen Röcke wegen sehr frei bewegen.
Geburtstag. Kurz nach der Entbindung findet das Geburtsfest
statt. Früher nahm man möglichst das ganze Dorf zu Paten; jetzt
nur wenige. Die Gäste werden mit den übrig bleibenden Speisen be-
schenkt, wie früher in ganz Deutschland, als man jedem Gaste ein
Tuch mit Kuchen, Wurst u. dergL band. Besondere Gebräuche haben
sich sonst nicht erhalten. Man bevorzugt immer noch litauische und
lettische Ruf namensformen , so in Preil: Mickis, Hannis, Fritzus,
Mertiens, Adam, Willems; Anne, Maryke, Jette, Madie, Gatte, Else,
Dore, Jule. Noch beschränkter ist der Kreis der Familiennamen. In
158 Die Kuren.
Preil- Perwelk giebt es: Peleikis, Engelien, Leberen z, Freud, Radmacher;
in Karkelbeck: Patra; in Meineragen besonders Bastickis, Tydiks,
Jaudzems; in Nimmersatt. Koegst, Schuischel; inNidden meist: Sakuth,
Pietsch , Blöde. In Bommelsvitte sind die verbreite taten Rufnamen :
John, Martin, Michel, Wilhelm, Karl, Henry, Franz, Richard, Erich,
Albert, Johann, Jakob, Haus; Minna, Jenny, Marie, Maricke, Katryne,
Barbe, Friederike, Ilse, Eäte, Ottilie, Lina, Marinke, Gertrude, Therese.
Daraus erhellt, dals, abgesehen von den durch den Schiff ahrts verkehr
eingeführten englischen Namen, die deutschen Enabennamen allent-
halben gesiegt und nur bei den Mädchennamen die litauischen noch
nicht ganz verdrängt sind. Die Familiennamen gewähren natürlich
ein ganz anderes Bild. Wohl giebt es auch hier die Müller und
Schmidt, Vinke und Ewald, Scheffler und Meissner, Konstantin, Lorenz,
Behrendt, Pieper und Hinzke, die litauisierten Schedeit, Eiste reit Es
wiegen aber vor die: Dubbins, Doblies, Januschis, Kubillus, Obler,
Fornacon (!), Tydeck, Kioschus, Broscheit, Graetsch, Kalkowsky, Makweis,
Goyra, Radtke, Bagschas, Ziepa, Sakuth, Plennis, Kopschnofsky, Kawohl,
Lilischkies, Megallis, Kuljurgis, Karallus, Kairies, Perkams, Gootz,
Lunau, Karklin, Klaws, Tenz, Warna, Broschewitz, Kubbis, Palleit,
Schweistries , Kaminske, Bratz, Preukschat, Rimkus, Jakuscheit,
Romeike, Stroblies.
Hochzeit. Die Kinder bekommen, solange sie zu Hause weilen,
keinen Lohn. So bald als möglich suchen sie sich selbständig zu
machen, d. h. bei einem Fischer zu verdingen, dessen Tochter sie
heiraten wollen, oder alles zu Hause so vorzubereiten, dafs die Heirat
nach überstandener Militärzeit im väterlichen Hause stattfinden und
die Übernahme desselben vor sich gehen kann. Die frühe Heirat der
18 jährigen Mädchen und 25 jährigen Burschen hat nicht physische,
sondern wirtschaftliche Gründe. Nur die zeitige selbständige Bewirt-
schaftung giebt dem Kuren Gelegenheit, das ärmliche Besitztum in
kräftigster Manneszeit zu erhalten und bald wieder 'zu vererben x).
Vermögen, Schönheit und andere Begriffe der Kulturmenschheit kennt
der Kure bei der Brautwahl nicht, Gesundheit, Zugehörigkeit zum
Fischerstande und wirtschaftliche Tüchtigkeit sind beiderseits ausschlag-
gebend. Vermögen hat ja doch niemand, und die etwa anfängliche
Abgeneigtheit, sagt man, wird sich schon geben, wenn man zusammen
lebt. In der That führen die Kuren wie die Slowinzen Musterehen;
der Mann ist in der Regel der Frau unterthan, die Ehefrau ist fleilsig,
beider Sinnen und Denken ist gleich, ebenso beider Dienstfertigkeit
und eheliche Treue. Scheidungen sind ganz selten; beide Teile würden
dabei wirtschaftlich zu Grunde gehen.
l) Schon Brand sagt S. 76 über die Kuren, sie heirateten sehr jung,
auf dafs sie bei Zeiten viele Kinder bekämen, die ihnen bei der Arbeit helfen
könnten.
Hochzeit. 159
Am Verlobungsabend wirft der Bräutigam der Braut einen Thaler
in den Kaffeetopf, die Braut bindet dem Geliebten ein schönes, buntes
Halstuch um. Die Brautwerbung besorgt der Pirschlies oder Freiwerber.
Sind die Verhandlungen zwischen den beiden Familien zu Ende, so
werden eine Woche vor der Hochzeit die nötigen Waren eingekauft:
Bier, Likör, Schnaps, Fleisch, Mehl, Cigarren. Bei keinem Feste geht
es so hoch her, nie wird das Geld so verschwendet wie diesmal. Die
Eltern verbacken je 1 Ctr. Weizenmehl zu Piraggen und Rosinen-
fiädchen. Zwei Tage vor der Hochzeit gehen zwei junge Werber und
laden ein. Sie tragen einen künstlichen Blumenstrauls an der Brust,
daneben seidene Bänder in Grün oder Blau oder Schwarz und Rot.
Mit dem Werberstocke melden sie dem halben Dorfe: „Die Braut und
der Bräutigam (Namen) laden zur Hochzeit am 21. Oktober ein." Die
Geladenen danken, versprechen zu erscheinen und stecken dem Pirschlies
mit Nadeln Tücher an.
Am Hochzeitstage setzt die Braut den Myrtenkranz auf, die Gäste
werden mit Kaffee und Fladen, später mit Schnaps und Bier bewirtet.
Dann singt man im Brauthause einige litauische Giesmes, kniet nieder
und hört die lange christliche Traurede eines Verwandten an. Nun
erst beginnt der Kirchgang oder die Bootfahrt oder die im tollen Trabe
stattfindende Wagenfuhre. Die Fahrmittel sind mit Fahnen, Tannen-
reis und Blumen geschmückt. Vor Beginn macht der Kutscher mit
der Peitsche vor den Pferden ein Kreuz, dafs kein Unglück passiert.
Das ist sehr nötig, denn die tolle Wettfahrt der möglichst zahlreichen
Wagen läuft selten gut ab. Hat man das Kirchdorf erreicht, so zieht
man zuerst zur Stärkung in den Krug, dann folgt die kirchliche Trauung,
und dann geht es wieder in den Krug. Den Nachhausegehenden , die
meist zu gleicher Zeit aufbrechen, werden Hindernisse in den Weg
gelegt, deren Beseitigung erkauft werden mufs. Am Gartenthore, an
der Haus- und Stubenthür stehen des Dorfes Frauen und bieten dem
Brautzuge ein Gläschen Schnaps. In Preil wird daheim nun wieder
gebetet und gesungen und dann tüchtig gegessen und getrunken. In
Meineragen versteckt sich die Braut bis zum Abendbrot und wird dann
von der Pirschlene oder Freifrau dem Bräutigam zugeführt. Sie nimmt
ihr die Myrte ab und setzt ihr den Turban auf. Dafür legt ihr die
Braut ein Paar Strümpfe über die Schultern. Mangelt es an Speise
und Trank, so bekunden die Preiler Unwillen und zerschlagen die
Teller; nach dem Hauptessen verschwindet das Brautpaar. In Meine-
ragen nimmt der Pirschlies drei Lichte, steckt sie an, trägt sie zwischen
den Fingern und geht mit der Braut zum Zeichen des Aufbruches um
den Tisch herum. Die Gäste gehen in ein anderes Zimmer oder in
den Hausflur und hüpfen dort tanzend herum. Bei Beginn des Tanzes
hängt die dann abgehende Braut dem Werber ein Paar Handschuhe
um die Schultern, die Mädchen thun dasselbe bei ihrem Tänzer. Wer
zum erstenmal zu einer Hochzeit als Gast kommt, dem bindet man
160 Die Kuren.
einen Rischtuwas mit Handschuhen um, „der mufs eine Gans kaufen,
das bedeutet Schnaps".
Der zweite Hochzeitstag wird im Hause des Bräutigams gefeiert,
wie der erste in dem der Braut. Die Schwiegermutter empfängt die
nüssestreuende Braut mit Gruls und Kufs, nimmt ihr den Kranz ab
und bindet ihr das Tuch um. Dann beschenkt die Braut die Ver-
wandten, und wieder beginnt das Essen und Trinken. Danach schliefst
die Hochzeit. Früher dauerte sie acht Tage. Der Brautwagen ent-
hält gewöhnlich nicht viel, nie fehlt eine bunte Lade. Der Segen soll
erst kommen, das will das Nüssestreuen beim Betreten der Schwelle
besagen, wie es in Nimmersatt gebräuchlich ist Eigentümlich ist der
kurischen Hochzeit das Fehlen vonDainasang und Musik, Karten- und
Pfänderspiel. Man erzählt Abenteuer, singt meist deutsche Lieder,
wenn man überhaupt singt, und leistet sich höchstens eine Zieh-
harmonika. Wenn bei der Hochzeit oder einem anderen Feste ein
Teller oder Löffel mehr aufliegt, sagt man, es käme noch ein Gast.
Begräbnis. Der Tote wird in seinen besten Kleidern in einen
dunklen Holzsarg gelegt, Kerzen brennen in grofser Zahl. Die
Gäste werden eine Stunde vor dem Begräbnis zur Beerdigung münd-
lich eingeladen. Dann kommen sie, essen und trinken. Am Sarge
aber beginnt erneutes Klagegeschrei vor der aufgebahrten Leiche.
Diese Ilaudos lauten heute genau noch so, als die im 16. Jahrhundert
überlieferten. In den Kirchdörfern hält dann der Pastor eine Leichen-
rede; in Preil und Perwelk und auf dem Strande fehlt er, und ein
alter Fischer spricht den Nachruf, der von Grabgesängen eingerahmt
wird. Danach folgt die Schlielsung des Sarges und das Tragen zum
Gottesacker unter beständigem Gesänge. Wer zuletzt aus dem Hause
geht, wirft die Sargbank um. Das hölzerne Grabkreuz mit Vor- und
Zuname, Geburts- und Todestag wird mitgetragen und sofort ein-
gesetzt. In Nidden wird der Sarg vor dem Grabe nochmals geöffnet
und der Kopf des Toten zurechtgelegt. Ein langes Gebet schlierst die
Feier. Die Heimkehrenden halten einen langen Leichenschmaus bei
Kaffee, Kuchen und Bier. — In Preil wird der Friedhof ständig vom
Dünensande verweht, so dafs immer wieder ein neuer angelegt werden
mufs. Die nach Osten wandernden Dünen decken schlielslich wieder
den alten Gottesacker mit Staketen und Särgen auf und legen die
bleichen Gebeine blols. Im Schädel finden sich noch die Spuren des
Obolus, den der Verwandte dem Toten zur Reise ins Jenseits in den
Mund legte. In Meineragen bestimmen die Leute vor ihrem Tode die-
jenigen, die das Grab fertig machen, den Sarg einsenken und eingraben
sollen. Keiner darf sich der Pflicht entziehen, auch ältere Leute nicht,
und mülsten sie selbst aus fernen Dörfern herzukommen.
Kirchen feste. Sämtliche kirchliche Feste werden streng gefeiert;
die Talkos haben die Kuren wie die Litauer; beim Herausziehen des
Winternetzes vermilst man aber den freudigen Lärm wie beim Slowinzen.
Begräbnis. Kirchenfeste. 161
Zur Weihnachtszeit. Am Heiligen- und Sylvesterabend wird
immerwährend Licht gebrannt, die Familien bleiben bis nach 12 Uhr
auf. Man singt geistliche Lieder, läfst aber in den Zwölfnächten die
Arbeit am Spinnrocken ruhen. Zu Weihnachten bäckt man Fladen.
Wie die Liven, machen auch einzelne Kuren Kreidekreuze an die Thür
und werfen zu Weihnachten die Schuhe nach der Thür; ist die Spitze
nach der Thür gerichtet, so mufs der Werfer in dem Jahre sterben.
Die Träume der Zwölf nachte sollen eintreffen, was man ja auch in ganz
Deutschland glaubt. Zu Sylvester macht man für jedes Familien-
mitglied ein Häufchen Salz und stellt es auf den Ofen-, wessen Häufchen
zuerst schmilzt, der stirbt zuerst. Wenn man zu Neujahr eine Schüssel
mit reinem Wasser und ein reines Handtuch aufstellt, kommt der Ver-
storbene und wäscht sich. Wenn man einen Filzpantoffel nach der
Thür wirft und die Spitze fällt nach aufsen, so stirbt man bald, fällt sie
nach innen, so lebt man noch lange.
Zur Fastnacht wird meistenteils weifser Erbsbrei gekocht, zu
Ostern werden Fladen gebacken und Frühspaziergänge gemacht. Die
Liven stecken dabei Fichten auf die Dünen und geben beim Gange
nach dem Strande den Mädchen Ruten aus den Zäunen. Dann singt
man, „um die Vögel zu wecken" :
„Gute Vögel in unser Land, Ligo, Ligo,
Wölfe und Bären in fremdes Land, Ligo, Ligo,
Fette Butten in unsere See, Ligo, Ligo,
Magere Butten in fremde See, Ligo, Ligo,
Gute Burschen in unser Dorf, Ligo, Ligo,
Schlechte Burschen in fremdes Dorf, Ligo, Ligo,
Gute Mädchen in unser Dorf, Ligo, Ligo,
Schlechte Mädchen in fremdes Dorf, Ligo, Ligo,
Nun ist für euch Zeit, euch zu erheben."
Aus alter Zeit schildert Rhesa den Lindentanz am Laimatage und
meint wahrscheinlich das Johannisfest damit. Er singt (Prutena I, 97):
„Umtanzt die blühende Linde
Ihr Knaben und Mädchen geschwinde
Mit Elternlieb und mit Götterscheu.
Zu Ligos freundlichem Feste
Erscheinen oft himmlische Gäste,
Zu prüfen, ob Zucht in den Hütten sei."
Es bleibt merkwürdig, dafs sich aufser einigen Namen keine Er-
innerung an die lettischen Götter bei den ostpreufsischen Kuren er-
halten hat. Jenes Ligo, das Rhesa für den Namen eines Gottes hält,
hat man jetzt als einen Freudenruf erklärt, der nichts als das Hin- und
Herschwanken des Lichtes, der Fackeln, der Schaukeln, der Wiege
(linginelis) bedeutet (vgl. Ed. Wolter, „Was ist ligo?" Archiv f. slav.
Phil. VII, S. 629 bis 639).
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. u
162 Die Kuren.
Zu Pfingsten ziert man auch bei den Kuren die Stuben mit
grünen Zweigen, am liebsten mit Birken.
Zu Jobanni thut man dasselbe, schmückt aber die Böte ebenso;
aufserdem sammelt man Johanniskräuter. Das Mädchen nimmt dem
Burschen das Johann issträulschen weg, dann bekommt sie ihn zum
Mann. In Nidden werden des Nachts leere Teertonnen angebrannt,
man lätst sie wohl auch aufs Haff schwimmen. Auch die Litauer
zünden Feuerbrände an, besonders leuchtet über den Njemen des
Rombinus Feuerbaum. Genau wie die Kuren feiern die Liven den
Johannistag, statt der Teertonnen verwenden sie richtige Kähne. Am
Johannisfeuer aber singt das junge Volk:
„Johannia kommt, Johann i 8 kommt, wie nehmen wir ihn auf?
Wir backen Kuchen, wärmen Milch, Ligo, Ligo.
So nehmen wir Johannia auf, Ligo, Ligo.
Johannis ging Heu mähen mit drei Pelzen auf dem Bücken, Ligo, Ligo,
Er mähte nicht eines Halmes Last, nicht einen Bissen für den Schöps,
Ligo, Ligo.
Wer in der Johannisnacht schläft, bekommt nie einen Mann, Ligo, Ligo,
Junge Burschen, junge Mädchen, die schlafen nie in der Johannisnacht,
Ligo, Ligo.
Wer in der Johannisnacht schläft, dem mifsglückt der Boggen. "
VI. Aberglaube.
Weise Frauen und kluge Männer kennt der Kure so gut, wie alle
Völker. Und beide sind mit ihren Sprüchen ebenso unbestimmt und
ebenso trügerisch. Als einem Preiler einst 50 Mk. abhanden gekommen
waren, ging er zur Dorfpythia. „Hinterm Walde wohnt der Dieb."
Hinterm Preiler Holze wohnte nun gerade ein schlichter Tagelöhner.
Mifstraui8ch bewacht man ihn allerseits, zischelt und tuschelt, bis sich
das Geld in der zerrissenen Westentasche des abergläubischen Verlierers
zwischen Tuch und Futter fand. Im übrigen dreht sich fast aller
Aberglaube um Heilung, Fischglück und Feldglück. Da hat der
Kure eine Zahl Vorbeugungsmittel, Verhütungsmatsregeln , Zauber-
formeln; sie sind fast alle auch bei den Liven zu finden: das Tage-
wählen, der Glaube an Anzeichen, an den bösen Blick, an die Ursachen
des Fischerglückes, die Heilkraft des Schlangen wassers , die Heiligkeit
des Freitagabends. Gern läuft man zu den Pröplerinnen anderer
Dörfer, nicht des eigenen. So gehen die Melneragener nach Karkelbeck
und Bommelsvitte.
Heilung. Den fatalistischen Grundzug im Denken der Natur-
völker teilt der Kure völlig. Wird jemand krank, so hat Gott die
Krankheit geschickt. Er ist auch der Arzt. Erst thut man gar nichts
zur Heilung. Aber die Nachbarn und Nachbarinnen kommen, singen
und beten viel und lange. Hilft das Beten nichts, dann werden die
Aberglaube, Heilung. 163
Krankheiten besprochen. Neben dem Besprechen (Apskaityti) ist das
Hölzchenwerfen (Medukus mesti) und Kohlen werfen (Anglis mesti) im
Schwünge, Heilmoden, die teilweise in ähnlicher Weise bei der länd-
lichen Bevölkerung ganz Deutschlands und wohl aller anderen Staaten
gebräuchlich sind, unter dem Gespött des Jungen Nachwuchses meist
von alten Frauen gepflegt und mit den Worten „Hilft's nicht, so
schadet's nicht", und „ Spott' nicht, vielen hat's geholten", empfohlen
und auf die folgenden Geschlechter vererbt werden. Die kurischen
Pro pierinnen murmeln wie die deutschen ihre Sprüche und fahren
dabei mit dem rechten Daumen im Kreise von links nach rechts
leicht über die kranke Stelle, zum Schlufs drei Kreuze machend
„im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen
Geistes u. Beim Kohlen- und Hölzchenwerfen nimmt der Kranke ein
weilses Laken um, wird mit Kohlenwasser besprengt, und Kohlen
werden über ihn geworfen, oder er schleudert ein Hölzchen selbst
rückwärts über sich. In Mitteldeutschland glaubt man sich ähn-
lich schwieriger Krankheiten dadurch zu entledigen, dafs man am
Karfreitag mitternachts allein und ohne ein Wort zu sprechen an
einen Baum (Birke) geht und entkleidet dreimal den Baum um-
schreitet. Einige fordern noch, es solle rückwärts geschehen und müsse
unter Anrufung Gottes oder mit einer Zauberformel geschehen. Die
Kuren setzen nebenbei das Singen und Beten fort, und bald bringen
die Nachbarinnen Hausmittel herbei. So giebt man trotz aller ver-
nünftigen Warnungen Krähenaugen, nimmt erst ein halbes, dann
anderthalb, zuletzt fünf Stück. Das darin enthaltene Gift verschlimmert
natürlich die Krankheit. Unschädlich ist der Thee des wilden Thymians,
den man am Johannistage nach Sonnenuntergang einträgt und Johannis-
thee nennt. Gleich ungefährlich und^ allgemein verbreitet ist das Hasen-
fett, das auch Löwen-, Katzen-, Bären- und Schlangenfett genannt
wird. Im Schwünge ist der Aderlafs und das Räuchern. Letzteres
dient gegen Hundebifs, wenn man „sich dabei erschrocken hat". Da
werden Haare vom Genick und Schwanz des Hundes abgeschnitten,
und damit räuchert man den Betroffenen. Das Räuchern ist überhaupt
eine Lieblingsbeschäftigung in den kurischen wie den slowinzischen
Rauchkaten. An gewissen Tagen räuchert man die ganze Stube und
den Stall mit Wacholder aus, den Kehricht verbrennt man, die Netze
werden geräuchert, sogar das Hochzeitsbrot. Beliebte Krankheiten sind,
aulser dem „Verschrecken", wenn einer mit bösem Blick angesehen
und gebannt worden ist (Apscheweti) , oder einen der Teufel höhnt
(Weins pajuk), d. b. jemanden hörbar an furchtsamen Orten erschreckt.
Der Teufel läfst sich schaukeln, wenn man mit den Füfsen schaukelt.
Warzen soll man beim Glockenläuten mit Speichel bestreichen und
sagen: „Sie läuten den Toten zu Grab, und ich mache mir meine
Warzen ab.u Auch bedrückt man sie mit Fleisch und vergräbts dann.
Bei Zahnschmerzen muls man sich mit einem Totenfinger bestreichen,
11*
164 Die Kuren.
oder eines Verstorbenen Mütze an die Backe legen. „Wenn ein kleines
Kind sich erschreckt hat, so mufs man glühende Holzkohlen nehmen
und Eadeck darauf streuen und das Kind über dem Rauch lassen."
Kann einer nicht essen, so soll er in einen Topf mit Wasser glühende
Holzkohlen werfen; gehen sie unter, so hilfts. Hat jemand einen
schlimmen Hals, so soll man das Geschwür mit einer Gräte bewischen
oder dreimal mit Brot bedrücken und das dem Hund geben. Schmer-
zende Glieder wäscht man mit Osterwasser, das holt man schweigend
am Ost er morgen von der Quelle oder aus der katholischen Kirche,
wenn es gesegnet worden ist. Das Osterwasser trägt man zurück, das
Weihwasser hebt man auf und kann es das ganze Jahr gegen Krank-
heit trinken. Unters Kopfkissen legt man gern einen Straufs von
neun Sorten Blumen, die man am Johannistage auf dem Felde gepflückt
hat. Gegen Krämpfe verwendet man Asche von der linken Seite des
Hemdes und trinkt sie in Wasser.
Sind alle Hausmittel und Zaubereien vergeblich, so entschliefst
man sich auch wohl zu einem Arzte, setzt aber heimlich alle alten
Mittel fort und singt, betet und pröpelt weiter. Nur betet man jetzt
nicht mehr um Gesundung, sondern dafs Gott den Kranken, falls er
stürbe, in den Himmel nehme.
Feldglück. 1. Am ersten Tage des Düngerfahrens dürfen sich
die Arbeiter die Hände vor dem Essen nicht waschen, sonst geht die
Wirkung des Hegen s verloren.
2. Beim Säen der Frühjahrssaat nimmt der Wirt die Axt mit aufs
Feld und hackt damit in die Erde, dafs die Saat so stark wird, eine
Axt zum Abhauen zu erfordern.
3. Das Zug- und Nutzvieh darf man weder mit dem bösen Blick
beladen lassen, noch darf man versäumen, Vorbeugungsmittel gegen
den Alpdruck (Laumes Spaudimas) der Pferde und Kühe zu ergreifen,
welch letztere oft morgens matt und in Schweifs gebadet aus dem
Stalle geführt werden müssen.
4. Hat ein Tier einen Fehler, so verschwindet er sofort, wenn
man ihn beim Verkauf dem Käufer frei heraussagt.
5. In Träumen bedeuten Holz, Brot und grünes Gras: Glück und
Verdienst. Hunde sind böse Menschen.
6. Das Begegnen einer alten Frau, ein über den Weg laufender
Hase, eine krächzende Krähe auf dem First oder am Boot bedeuten
Unglück.
Fischglück. 1. Vom Schiff tau eines glücklichen Fischers oder
von einem Glockenstrang wird ein Stück abgeschnitten und ans Netz
gebunden, um Fischglück zu haben. Oder man schneidet aus dem
Netz eines glücklichen Fischers ein Stück in der Nacht, verbrennt es
und streut die Asche aufs eigene Netz. Guter Fang sicher! — wenn
der Geschädigte nicht ebenso klug ist und die beschädigten Stellen mit
der linken Hand flickt.
Feldglück. Fischglück. Charakter. 165
2. Kann man nichts derartiges vom glücklichen Fischer erwischen,
so nimmt man Rohr oder Stroh von dessen Dach und räuchert die
eigenen Netze damit.
3. Wird das Netz zum Fischen fertig gemacht oder „ eingestellt u,
so darf nichts aus dem Hause geborgt werden. Kommt trotzdem einer
borgen oder gar stehlen, so entwendet man ihm etwas Ähnliches. An
dem Tage müssen die Thüren verschlossen und verriegelt bleiben; man
darf nicht fegen und soll den Kehricht, wenn man trotzdem gefegt hat,
bis Sonnenaufgang im Hause liegen lassen.
4. Netze müssen bei Neulicht (zunehmendem Mond) eingerichtet
werden, und zwar wenn Fische, Zwillinge, Jungfrau, Wassermann
regieren. Am strengsten muls man dies bei der Lachsfischerei hand-
haben und ja an Krebstagen vermeiden, die Fischerei zu beginnen.
5. Die fertigen Netze werden mit Salz bestreut, dals allen Bösen
und Hexen die Augen versalzen werden. Auch räuchert man sie mit
allerlei Kräutern und bespritzt sie mit Schlangenwasser (!). Dann erst
trägt man sie ins Haff.
6. Beim Netzaustragen vermeide man, an Brunnen oder Wasser-
schöpfern vorbeizuwandern.
7. Beim Absegeln vom Lande wird vor dem Segelbespritzen zwei-
mal landwärts Wasser gegossen.
8. Kommen beim Winternetz, beim Einlassen in die Wuhne,
Fischhändler mit Schnaps vorbei und kredenzen solchen, so wird erst
etwas aufs Netz gegossen, dann wirds bekreuzt, dann erst trinkt man.
9. Der Vorbeigehende bringt Glück oder Unglück, und bekommt
etwas vom Fischsegen, wenn er Glück gebracht hat.
10. Vor dem Gebrauch bekreuze man stets das Netz!
11. Man fische nur bei Nacht, um dem bösen Blick zu entgehen.
(Man hat freilich längst angefangen, auch bei Tage zu fischen, im
Stillen will aber jeder dem bösen Blick ausweichen.)
VII. Charakter.
Der Kure hatte früher kein Bildungsbedürfnis. Er ist aber-
gläubisch religiös, hülfsbereit, sittlich. Die Strafe ändert ihn nicht.
Er feiert die Sonntage streng und ist Gott ergeben. Sein „Gott geleite
dich" („Diews palieds"), kann man immer und immer hören; er thut
alles „mit Gott" (su Diewu). Die Arbeit des Lehrers gilt ihm als
etwas Unnützes, der Unterricht als thöricht, soweit er über Religion,
Lesen, Schreiben und Rechnen hinausgeht. Verwerflich ist ihm das
Lesen von Märchen und das Singen deutscher Volkslieder, die ganze
Schule ist zwecklos. Die Kuren sind Fischer und wollen Fischer
bleiben; die Fischerei erfüllt ihr ganzes Leben, etwas Anderes zu
werden, wäre sinnlos. Man kann sich denken, welch schweren Stand
der Lehrer früher hatte. Mit zunehmender Germanisier ung und
166 Die Kuren.
Durchführung der Wehrpflicht wird hierin Wandel geschaffen, und
allmählich unterläßt man, der Schule nachzusagen, in ihr würden
auf eer Plunder nur Schlechtigkeiten gelernt. Alle Neuerungen be-
gegnen Milstrauen. Einst wollte der Preiler Lehrer, als das Alters-
und Invalidengesetz in Kraft trat, den Leuten einen kurzen Vortrag
über die nützliche Neuerung in der Schule halten. Keiner kam, „wir
lassen uns nicht beschwindeln u ; genau wie die Kluckener. Belehrung
und Überzeugung ist ihnen Wind, Autorität alles. Wie die Masuren
und Kaschuben haben sie einen heillosen Respekt vor aller Obrigkeit
und suchen ihr ebenso freudig ein Schnippchen zu schlagen, wenn sie
nicht erwischt zu werden glauben. In ihren Augen ist alles Gesetz
Willkür, aber unabänderliche Vorschrift. Hält man es nicht für gut,
so erkennt man es trotzdem äufserlich willig an, macht aber, was man
will, und umgeht, was einem Schaden bringt. Wird man erwischt, so
verteidigt man sich nicht, sondern steckt die arme Sündermiene auf.
Wird einer bestraft, so geht er willig ins Gefängnis und wird nach
seiner Entlassung von allen Dörflern jubelnd abgeholt und empfangen.
Man unterscheidet das Ungewöhnliche nicht, kommt höchster Besuch
oder ein bestrafter Meineidiger; man will Einzug feiern, komme Na-
poleon I. oder Ludwig XVHI. Im geschmückten Wagen hat man schon
den Dorfgenossen geholt und hält ihn für interessanter und wichtiger
als den Unbestraften. Die Preiler haben sich nicht der Landgemeinde-
ordnung und ihrer Steuerregulierung untergeordnet, sie sind bei der
alten geblieben: der Wirt oder Besitzer zahlt das doppelte des Kätners
und dieser das doppelte des Losmanns.
Mit Fremden machen sie nicht viel Federlesens, nehmen nie die
Mütze ab und beugen sich nicht der Schnoddrigkeit und Grofsmanns-
sucht; natürliche Autorität gilt. Im Gegensatz zu den Klucknern
avancieren die Kuren nie beim Militär und der Marine. So anstellig
sie sind, lieben sie doch zu sehr die Freiheit und hassen jede Stellung
als herbe Pflicht
Die Augen sind meist grau oder blau, die Haare dunkelblond, die
Gesichtsfarbe bräunlich, die Züge verwittert; Kartenspiel meiden sie,
Bier und Cigarren, wie Fusel schmecken ihnen. Gebräuchlich ist die
Prozelssucht um die nichtigsten Dinge und aus geringfügigsten An-
lässen. Der Staatsanwalt läfst oft die Anklage fallen, weil der Gegen-
stand der Anzeige nicht der Rede wert ist. Und weshalb werden sie
angezeigt? Da verrät einer den anderen, weil er mit verbotenen
Netzen gefischt hat, trotzdem der Kläger selbst mit verbotenen aus-
zieht. Ein anderer bietet sich dem Gericht grundlos als Belastungs-
zeuge an — um der Reisekosten willen. Diebstahl am Eigentum des
Nachbars ist fast unbekannt, ebenso Ehebruch. In Preil giebt es seit
Menschengedenken kein uneheliches Band. Aber um Kleinigkeiten
bringt man sich vors Gericht und giebt sich anderen Tags wieder
freundlich die Hand, um sich am dritten wieder anzuzeigen und am
Charakter. Sagen. 167
vierten zu vertragen. Körperliche Züchtigung kommt wohl vor, doch
schlägt der Eure wie der Esthe seine Frau nicht mit der Hand, sondern
mit dem Strick«
Die Jungfrau zeigt eine Anmut und Keuschheit, die ebenso naiv
als schön ist. Selbst im Scherz spricht sie kein irgendwie anstößiges
Wort und entflieht errötend, wenn sie eins hört. Arme und Brust
entblölst sie vor Fremden nie. Die jungen Burschen sind nüchtern,
zurückgezogen, still ; sie meiden den Krug und zeigen zeitlebens grofse
Anhänglichkeit an ihre Eltern und Geschwister. Wer bei der Marine
oder dem Militär ist, bekommt so viel Lebensmittel geschickt, dals er
wieder die Schenker beschenken könnte.
Die Eltern verhätscheln gern die Kinder mit Honig, Zucker und
anderem, was bei jedem Stadtbesuch mitgebracht wird. Den Diebstahl
der Kinder entschuldigen sie mit den Worten: „Das Kind hat noch
keinen Verstand.41
Wenn die Kinder das Haus übernehmen, müssen sie neben der
Schuldenlast auch noch Altenteil und „ Geschwisterliches a eintragen
lassen, wiewohl die Hütte ein Fremder nicht geschenkt haben möchte.
Auf den unvorteilhaften Handel aufmerksam gemacht, sagen sie: „Es
sind die Eltern und Geschwister/ Altenteil wird allerdings fast nie
geliefert, aber die Alten können doch etwas für sich kochen, wenn
ihnen das Zubereitete nicht schmeckt. — Aber sie arbeiten auch. Die
Leute unter sich sind hülfsbereit. Fährt jemand in Preil nach dem
Markt, so kommt das halbe Dorf. Der will ein paar Pfund Mehl, jener
Kaffee, dieser Kartoffeln, Butter, Salz. Da entzieht sich nun keiner
der Aufgabe, alle die Aufträge anzunehmen, redlich einzukaufen und
ohne Vorteil, bei Heller und Pfennig abzuliefern. Ein andermal muls
der Nachbar dasselbe thun.
Wer beim Eisgang in Lebensgefahr kommt, wird mit Hintansetzung
des eigenen Lebens gerettet und gepflegt, Einheimische wie Fremde.
Werden die grofsen Braddekähne geteert, so müssen sie zuvor aufs
Land gezogen werden, mindestens von 15 Mann. Der 'Schiffer ruft
blofs im Dorfe aus, dafs er seinen Kahn heraufziehen will. Er lädt
niemand ein, aber alle kommen und helfen.
viii. Sagen, Lieder und Sprüche aus dem preufsischen Lettlande.
A. Sagen.
Sie sind arm an Sagen und Märchen. Wohl deuten sie an, dafs
bei Pillkoppen ein altes Schlofs gestanden, hier und da ein Dorf ver-
schüttet, ein Postwagen mit Geld im Sande versunken sein soll, den
der und jener aufgefunden und daher seinen Reichtum genommen habe,
aber näheres und genaueres wissen sie nicht, auch die esthnische Sage
vom Thunder und vom Teufel, der als Ratte im Heuhaufen war, ent-
behrt der epischen Ausmalung, wie auch der Gedanke, dafs jede Stunde
vorher bestimmt sei.
168
Die .Kuren.
B. Sprachliches.
(Vergi. auch S. 177 bis 178.)
Gering auch ist die Zahl der Lieder. Aulser ein paar deutschen
und litauischen singt man einige lettische.] Im Inhalt weichen sie
nicht von den litauischen ab. In ihnen hallt der Gedanke wieder, data
das Schiffer- und Seemannsleben schön sei, dals die schönste Zeit des
Mädchens im Vaterhause war, dals der schlaueste Bursche nicht schlau
genug sei, ein Mädchen zu überlisten. Merkwürdigerweise wird ein
lettisches Lied (Nr. 20) viel gesungen, das auch in anderen Literaturen
wiederkehrt und die betrogene Geliebte zum Gegenstand hat, die ins
Kloster geht. Die Melodien je eines lettischen, litauischen und deut-
schen Liedes mögen den Gesang der Kuren veranschaulichen.
Die lettischen Lieder selbst muten wie Übersetzungen aus dem
Deutschen oder Litauischen an; sie weichen ganz von den kurzen
eigenartigen Gesängen der Letten in Kurland ab. Das 18. und 19. sind
Varianten und kommen in allen slavischen Literaturen wieder, dasselbe
gilt von den übrigen, die der Weltliteratur angehören.
Den Unterschied zwischen litauischer und lettischer Sprache auf
der kurischen Kehrung möge der Anfang einer Daina lehren, deren
erste Strophe deutsch so heifst: Ich fliege, flieg' ins Gärtelein, Pflücke
weifse Rosen, Pflücke, pflücke weifse Rosen, Flechte mir ein Kränzel.
Lettisch:
Letschu, letschu Darsinnä
Fluhtschu baltas Rohses
Pluhtschu, pluhtschu baltas Rohses
Pinnu Wainizinnu.
Litauisch:
Leku, leku, Darzuna
Skinu baltas Roz'es
Skinu skinu baltas Rozes
Pinu Wainikeli.
C. Deutsche Lieder.-
1. Marlboroughlied.
$
I
^^S^^^ÄP
E
Ein Fähnrich zog zum Krie-ge wi-di-bom ja ja juch-hei-ras-sa, ein
m
I
£
^
=fc
S
t
£
Fähnrich zog zum Krie - ge, wer weifs, kommt er zu - rück, wer
weifs, kommt er zu - rück.
Er liebt ein wunderschönes Mädelein, widibom ja ja juchheirassa,
Er liebt ein wunderschönes Mädelein, die war so wunderschön.
Deutsche Lieder.
169
Ach Fähnrich, liehster Fähnrich, widibom ja ja juchheirassa,
Ach Fähnrich, liebster Fähnrich, was bringst du neues mir?
Die Neuheit, die ich dir bringe, widibom ja ja juchheirassa,
Die Neuheit, die ich dir bringe, macht dir die Äuglein rot.
Dein Fähnrich ist erschossen, widibom ja ja juchheirassa,
Dein Fähnrich ist erschossen, ist tot und lebt nicht mehr.
Ich hab ihn schon begraben, widibom ja ja juchheirassa,
Ich hab ihn schon begraben, mit vielen Offiziern.
Der erste trug seinen Degen, widibom ja ja juchheirassa,
Der erste trug seinen Degen, der zweite sein Pistol.
Der dritte trug seinen Kürafs, widibom ja ja juchheirassa,
Der dritte trug seinen Kürafs, der vierte seine Krön.
Ueber sein Grab ward geschossen, widibom ja ja juchheirassa,
Ueber sein Grab ward geschossen, mit Pulver ohne Blei.
Da droben auf jenem Berge, widibom ja ja juchheirassa,
Da droben auf jenem Berge, da singt die Nachtigall.
2. Der Soldat.
Ich war "ein junger Bursche,
Kaum 18 Jahre alt:
Ich liebte die Soldaten,
Und dachte, das wäre fein.
Ich kam einst zum Gestelle,
Da zog man mich gleich ein.
Bekam ich Exerzieren,
So einst sechs Wochen lang,
Da könnt ich auch schon spüren,
Die Zeit war mir zu lang.
Bekam ich auch schon Strafe,
Weil ich über Urlaub blieb,
Da könnt ich mich ausschlafen,
Das war mir eben lieb.
Da bekam ich mehr kein Urlaub,
So einst sechs Wochen lang,
Da stand mein Liebchen lauernd,
Die Zeit war mir zu lang.
Ich stand bei Sturm und Hegen,
Bei finstrer Mitternacht,
Bei Blitz und Donnerschlägen,
Ganz einsam auf der Wacht.
Da kam zu mir mein Liebchen,
Und führte mich nach Haus:
Ich liefs mich überreden,
Und blieb bei ihr die Nacht,
Da wurd ich arretieret,
Und auf die Wach gebracht.
Der Leutnant sprach: Sie Schlingel,
Was bilden Sie sich ein,
Ich werd Sie tüchtig zwiebeln,
Sie kommen drei Tage rein.
So ging mirs alle drei Jahre,
Bis ich entlassen war,
Arrest hatt' ich wie Haare,
Bin dennoch ein strammer Soldat.
Denn wer nicht Soldat gewesen,
Und wer nicht das Leben kennt,
Der kann sich gar nicht denken,
Was man Matrosen (?) nennt
3. Die Bettung.
Ach Schiffsmann, du f einslieblicher
Mann,
Halt du das Schiff, so lang wie du
kannst.
Ich hab einen Vater, der liebet mich ;
Erretten wird er mich
Hier von dem schönen Schiff.
Und als der Vater gegangen kam,
Da sah er ihn so traurig an.
Ach Vater, versetz dein schwarzes
Bofs!
Erretten kannst du mich
Hier von dem schönen Schiff.
170
Die Kuren.
Mein schwarzes Bofs versetz ich
nicht,
Dein junges Leben errett ich nicht.
Ach Schifflein fahr zu Grund!
Es soll und mufs zugrund.
Ach Schiffsmann, du f einslieblicher
Mann,
Halt du das Schiff, so lang wie du
kannst.
Ich hab eine Mutter, die liebet mich;
Erretten wird sie mich
Hier von dem schönen Schiff.
Und als die Mutter gegangen
kam,
Da sah sie ihn so traurig an.
Ach Mutter, versetz dein schwarzes
Kleid!
Erretten kannst du mich
Hier von dem schönen Schiff.
Mein schwarzes Kleid versetz ich
nicht,
Bein junges Leben errett ich nicht.
Ach Schifflein fahr zu Grund !
Es soll und mufs zugrund.
Ach Schiffsmann, du feinslieblicher
Mann,
Halt du das Schiff, so lang wie du
kannst.
Ich hab einen Bruder, der liebet mich ;
Erretten wird er mich
Hier von dem schönen Schiff.
Und als der Bruder gegangen kam,
Da sah er ihn so traurig an.
Ach Bruder, versetz dein goldnes
Schwert!
Erretten kannst du mich
Hier von dem schönen Schiff.
Mein goldnes Schwert versetz ich
nicht,
Dein junges Leben errett ich nicht.
Ach Schifflein fahre zu Grund!
Es soll und mufs zugrund.
Ach Schiffsmann, du feinslieblicher
Mann,
Halt du das Schiff, so lang wie du
kannst.
Ich hab eine Schwester, die liebet
Erretten wird sie mich [mich;
Hier von dem schönen Schiff.
Und als die Schwester gegangen
kam,
Da sah sie ihn so traurig an.
Ach Schwester, versetz deinen
grünen Kranz!
Erretten kannst du mich
Hier von dem schönen Schiff.
Meinen grünen Kranz versetz ich
nicht,
Dein junges Leben errett ich nicht.
Ach Schifflein fahr zu Grund!
Es soll und mufs zugrund.
Ach Schiffsmann, du feinslieblicher
Mann,
Halt du das Schiff, so lang wie du
kannst.
Ich hab einen Schatz, der liebet
Erretten wird sie mich [mich;
Hier von dem schönen Schiff.
Und als der Schatz gegangen kam,
Da sah sie ihn so traurig an.
Ach Schatz, versetz deinen gold-
nen Bing!
Erretten kannst du mich
Hier von dem schönen Schiff.
Meinen goldnen Bing versetz ich ja,
Dein junges Leben errett ich ja.
Ach Schifflein fahr zu Grund!
Es soll und mufs zugrund.
4. Köln.
Köln am Bhein, du schönes Städt-
chen,
Köln am Bhein, du schöne Stadt.
Und darinnen mufs ich lassen
Dich, herzallerliebster Schatz.
Schatz, ach Schatz, du thust mich
kränken,
Yieltausendmal in einer Nacht,
Könntest du mir Freiheit schenken,
Bei dir zu bleiben eine halbe Stund.
Deutsche Lieder. Litauische Lieder.
171
Diese Freiheit sollst du haben,
Bei mir zu bleiben eine halbe
Stund,
Wenn du versprichst, mir treu zu
bleiben
Bis an die allerletzte Stund.
Droben am Himmel stehn zwei
Sternlein,
Die leuchten heller als der Mond,
Der eine leucht' nach meinem Schatz
Liebchen,
Der andere leucht1 meinem Schatz
nach Haus.
Pulver und Blei, das mufs man haben,
Wenn man Franzosen schiefsen will;
Hübsche junge Mädchen mufs man
lieben,
Wenn man sie einst heiraten will.
5. Der Seemann*
Der Seemann auf dem wilden Meer,
Er reist die ganze Welt umher.
Was nützt dem Seemann eine Braut,
Wenn er sie niemals wiederschaut?
Was nützt dem Seemann auch sein
Geld,
Wenn er damit zu Grunde fällt?
Die stürmisch wild bewegte See,
Sie hebt wohl Schiffe in die Höh.
Ihr unermeßlich tiefer Schlund,
Zieht sie hinab in tiefen Grund,
Die Menschen mit vom Erdenrund.
Der Seemann läuft ja wie der
Wind,
Er steiget auf den Mast geschwind.
Der ruft um Hülfe auch fürwahr,
Befindet er sich in Gefahr.
Das Schifflein leis und leiser sinkt,
Mit ihm der Seemann auch ertrinkt.
Versunken ist nun Mann und Maus,
Und jetzt ist auch mein Liedlein aus.
D. Litauische Lieder.
6. Der Soldat.
^fag
£
£5^3
t
fc£
B^TTTI
Asz wis wiens sal - nie - ru-kas asz wis wiens sal - nie - ru-kas i
Sol - dat nur bin und bleib ich, Sol - dat nur bin und bleib ich, und
u
ff^rSFB
Fffl^^
swie - ti -
mas
sza - lis
i swie -
■ ti -
mas
sza
- lis.
wei - le
nie
zu Haua,
und wei
- le
nie
zu
Haus.
Soldat nur bin und bleib ich
Und weile nie zu Haus.
Der Sohn hat den Vater verlassen,
Die Eich' im Garten draufs.
Die Eiche blüht im Garten,
Der Vater weint um ihn.
Er wird vergeblich weinen,
Ich mufs ja weiter ziehn.
Soldat nur bin und bleib ich,
Und weile nie zu Haus.
Der Sohn hat die Mutter verlassen,
Den Birnbaum im Garten draufs.
Der Birnbaum blüht im Garten,
Die Mutter weint um den Sohn.
Sie wird vergeblich weinen,
Ich mufs ja weiter schon.
172
Die Kuren.
Soldat nur bin und bleib ich
Und weile nie zu Haus. [lassen,
Der Bruder hat die Schwester ver-
Die Nelke im Garten draufs.
Die Nelke blüht im Garten,
Die Schwester weint um ihn.
Sie wird vergeblich weinen,
Ich mufs ja weiter ziehn.
Soldat nur bin und bleib ich
Und weile nie zu Haus.
Der Bruder hat den Bruder verlassen,
Die Bjone im Garten draufs.
Die Bjone blüht im Garten,
Der Bruder weint um ihn.
Er wird vergeblich weinen,
Ich mufs ja weiter ziehn.
Soldat nur bin und bleib ich
Und weile nie zu Haus.
Ich hab die Braut verlassen,
Die Böse im Garten draufs.
Die Böse blüht im Garten,
Die Braut weint immer fort.
Du wirst vergeblich weinen,
Ich mufs von Ort zu Ort.
7. Der Besuch.
Zwischen Johanni
Und Michaeli
Sprachen zwei Schwestern,
Zwei junge Mädchen:
Wo werden wir beide,
Bleiben am Abend?
Wir wollen wandern des Gutes Steg,
Steigen dann über den Zaun hinweg.
Dafs Hunde nicht bellen
Und Menschen erschrecken,
Wollen wir klopfen.
Vielleicht, dafs Peter,
Lauscht und öffnet,
Die Gäste begrüfsend.
Sitzen wir auf dem Stuhle dann,
Fangen wir zu erzählen an.
8. Die Waise.
Es flog die Amsel, es flog die Amsel,
Es flog die Amsel wohl über die Berge.
(In dieser gedehnten Weise werden 16 Strophen gesungen, die mit Ver-
meidung der Wiederholungen also lauten):
Es flog die Amsel wohl über die Berge,
Am Fufs des Berges wand sich ein Bächlein,
Mitten im Bächlein wirbelt ein Strudel,
Mittel im Strudel ein schwarzes Bötlein
Und in dem Schiff lein zwei junge Mädel,
Das eine Mädel kämmte die Haare,
Weniger kämmend, als bitter weinend.
Das andere Mädel flocht sich die Zöpfe,
Weniger flechtend, als bitter weinend.
Hab keinen Vater, Erbteil zu zahlen,
Hab keine Mutter, Aussteuer schaffend,
Hab keinen Bruder, die Bosse zu satteln,
Hab keine Schwester, das Kränzlein zu flechten.
Ein Wolf der Vater, Erbteil zu zahlen,
Ein Bär die Mutter, Aussteuer schaffend,
Ein Hase der Bruder, die Bosse zu satteln,
Ein Fuchs die Schwester, das Kränzlein zu flechten.
Litauische Lieder.
173
9. Kind und Eltern.
Lied.
O Ahornsträuchlein,
Du junges Bäumchen,
So lang du grünest,
So lang du schimmerst,
So lang du blühest
Und Sprossen treibst,
Hab ich entlassen
Mein liebes Söhnlein,
Den jungen Pflüger.
Komm nun wieder,
Mein junges Söhnlein,
Komm zum Pfluge,
Kehre zurück!
Nimmermehr, Vater,
Komme ich wieder,
Nimmer als Pflüger
Kehr ich zurück.
Hier ist für mich ja
Nimmermehr Eisen
Und Egge fürwahr.
Selber nun hab ich
Egge und Ochsen
Und stählernes Schar.
Gegenlied.
0 Ahornsträuchlein,
Du junges Bäumchen,
So lang du grünest,
So lang du schimmerst,
So lang du blühest
Und Sprossen treibst,
Hab ich entlassen
Die liebe Tochter,
Die junge Weberin.
Komm nun wieder,
Du liebe Tochter,
Komm zum Webstuhl,
Kehre zurück 1
Nimmermehr, Mutter,
Komme ich wieder,
Nimmer als Weberin
Kehr ich zurück.
Hier ist für mich ja
Zum Weben am Webstuhl
Nimmermehr Zeit.
Selber nun hab ich
Webstuhl und Webschiff,
Den Webkamm von Seid'.
10. Zurückgewiesen.
Auf der grünen Feldflur mähen
Junge Burschen weifsen Klee.
Stecken an die Mütze Blumen,
Blütenweifs, wie Schnee.
Locke nur, du lieber Knabe,
Lächeln im Gesicht.
Locke, macht es dir Vergnügen,
Doch ich mag dich nicht!
Merkst du nicht, du Schelmenbursche,
Dafs ich dich nicht will.
Setz dich auf dein Gockelhähnchen,
Beit zum Galgen still!
„Weifs ich doch, du liebes Mädchen
Wo du schläfst zur Nacht.
Wo man dir dein weifses Bettlein,
In der Swirne macht la
Mutter in der hohen Klete,
Hört und sieht wohl klar.
Zahlt für jedes deiner Worte
Mit der Birke bar!
11. Kein Brautschatz.
Drunten im Thale
Bauscht im Flusse
Der Strudel am Biff,
Am Bande segelt
Mit Seidensegeln
Ein schwarzes Schiff.
Und drinnen sitzen
Und strählen die Haare
Zwei Mädchen voll Leid.
Flechten die Zöpfe,
Winden sich Kränzlein,
Schmücken sich beid'.
174
Die Kuren.
Hab keinen Yater
Und keine Mutter,
Kein Brautschatz ist mein.
Kein Bruder zäumt mir
s' Röfalein, nicht hilft mir
Ein Schwesterlein.
Wer giebt als Vater,
Wer wohl als Mutter
Den Brautschatz mir,
Wer schirrt das RöTslein,
Wer steht zur Seite
Mir wohl und dir?
12. Abgeblitzt
Aus dem Hörnchen trinkend, hab
ich nachgedacht,
Wo doch soll ich bleiben diese
lange Nacht?
Vallerivallera, vallerallala,
Bleiben diese lange Nacht?
Wo doch soll ich weiden wohl
mein Rösselein?
Auf dem Bain? Ich geh zum
Mädchen mein?
Vallerivallera, vallerallala,
Ich geh zum Mädchen mein.
„Öffne liebes Mädchen, der Geliebte
harrt lu
Nein, die Schlüssel klirren, und die
Thüre knarrt.
Vallerivallera, vallerallala,
Schlüssel klirren, Thüre knarrt.
„Halte fest den Schlüssel, dafs er
stille wird,
Heb die Thür, dafs die Angel nicht
mehr klirrt.
Vallerivallera, vallerallala,
Dafs die Angel nicht mehr klirrt.11
„Mich zu lehren, Bürschlein, bist
du viel zu jung,
Doch dein Kofs zu zügeln, bist du
alt genung.
Vallerivallera, vallerallala,
Bofs zu zügeln, alt genung. *
„Lafs es trinken, an der Krippe
stehn,
In die Schwemme reiten, aber von
mir gehn.
Vallerivallera, vallerallala,
Schwemme reiten, von mir gehn.*
13. Befreiung.
Ich will die Magd zum Vater senden,
Er soll mich befreien aus fremden Händen.
Er kommt mit 100 Joch Ochsen daher,
Und kann mich erlösen doch nimmermehr.
Ich will die Magd zur Mutter senden,
Sie soll mich befreien aus fremden Händen.
Sie brachte 100 Ballen Lein,
Und kann mich doch nimmermehr befrein.
Ich will die Magd zum Bruder senden,
Er soll mich befreien aus fremden Händen.
Er kam mit 100 Bossen daher,
Und kann mich befreien doch nimmermehr.
Ich will die Magd zur Liebsten senden,
Sie soll mich befreien aus fremden Händen.
Kam sie mit ihrem Kränzelein,
Sie könnte gewifslich mich befrein.
14. Nicht zurück.
Lied.
Durch den Garten ging ich einst übers Rosenbeet,
Schrieb aufs schwarze Stieflein dort, wo die Baute steht.
Als ich auf das Böfslein sprang, fiel mein Mützchen nieder,
Komm, mein Vater, reich mir zu meine Mütze wieder.
Litauische Lieder.
175
Als er reichte, konnte er nicht den Thränen wehren.
Still, mein Vater, weine nicht, will zurück ja kehren.
Aber kehr ich auch zurück, wirst mich doch verlieren,
Denn mit meinem trauten Schatz geh' ich dann spazieren«
Gegenlied.
Durch den Garten ging ich einst übers Bautenbeet,
Schrieb aufs bunte Schühlein dort, wo die Baute steht.
Als ich auf den Wagen sprang, fiel mein Kränzel nieder,
Liebe Mutter, reiche mir doch mein Kränzel wieder.
Als sie's reichte, konnte sie nicht den Thränen wehren.
Still, o Mutter, weine nicht, will zurück ja kehren.
Aber kehr ich auch zurück, wirst mich doch verlieren,
Denn mit meinem Liebsten traut geh' ich dann spazieren.
15. Der irdene Krug.
Sprach die Mutter: Geh zum Strande,
Wasser hoP im Krug herbei. —
Bitt ein Beiter durch die Wiese,
Schlug den irdnen Krug entzwei. —
Beiter, Beiter! Warum schlug
Er entzwei den irdnen Krug?
Weine dir, du schmucke Nelke,
Nicht die Äuglein aus dem Kopf!
Einen halben Groschen geb' ich
Dir für deinen irdnen Topf. —
Beiter, Beiter 1 Ei, der Tropf,
Was zerschlug er mir den Topf?
Zarte Nelke, weine nimmer,
Dieses Gütlein geb' ich dir.
Ach behalte du dein Gütlein,
Was soll denn das Gütlein mir? —
Beiter, Beiter! Warum schlug
Er entzwei den irdnen Krug?
Liebe, schmucke, zarte Nelke,
Weine nicht, hier hast du mich.
Ach, ich will ein ganzes Krüglein,
Niemals will ich dich. —
Beiter, Beiter! Ei, der Tropf,
Was zerschlug er mir den Topf?
16. Die Schützerin.
Hohe Berge, ebne Wiesen, Blüten, weifs wie Schnee,
Auf den Blumen geht ein Mädchen durch den grünen Klee.
Und sie wandelt und sie windet wohl ein Kränzel sich.
Flicht ihn oder lafs das Flechten, flichtst ihn nicht für dich!
Werd' ich auch den Kranz nicht tragen, soll's nicht leid mir sein.
Will ihn meiner Schwester geben. Trag ihn, Schwesterlein !
Schmück das Haupt dir, wenn der Liebste, Schwester, kommt zu dir.
Will er dir den Kranz zerreifsen, komm' er nur zu mir. Bösen, Silber, daidaila.
17. Glücklich.
Ich armer Bursche
Im fremden Lande,
Kind guter Leut', ja,
Hopsa valera,
Im fremden Lande.
Geh ich des Weges,
Sing ich ein Lied mir,
Sitze im Krug, ja,
Hopsa valera,
Am Tischesende.
176
Die Kuren.
Am Tische sitz ich
Beim vollen Glase,
Beim Aluskrug, ja,
Hopsa valera,
Hab keinen Heller.
An Gold ein Bettler,
Beim Mädchen lustig,
Habe kein Heim, ja,
Hopsa valera,
Schlaf unterm Bänklein.
E. Lettische Lieder.
18. Die Nonne.
E§£
:*
i^SS
&
t
£
^^
Es staw ufs aukstiem Kalniem un skatus ju-rin-ga
Ich st and auf hohem Ber - ge und sah zum Meere hin,
es
ein
i
u
FffF**
fefefeüS
reds wieno Laiwing nakot,
Schiff lein sah ich fahren,
Ach Mädchen, schmuckes Mädchen,
So zierlich und so fein,
Ach dafs du reich doch wärest,
Mein eigen solltst du sein.
„Und willst du mich nicht nehmen,
Weil ich so arm nun bin,
So werd ich eine Nonne,
Und geh ins Kloster hin."
nakot, tur bus mans brutgamins.
fahren, mein Liebster safs darin.
Ach geh doch nicht ins Kloster,
Wo'8 keine Liebe giebt,
Ach denk doch, liebes Mädchen,
Wie wir uns einst geliebt.
„Ich denk an keine Liebe,
Ich denk an keinen Mann,
Ich denk an Gott alleine,
Der mich ernähren kann."
19. Das kurische Mädchen.
Hei, ich flieg ins Gärtchen klein,
Zupf mir weifse Blumen aus,
Pflücke frische Böselein,
Mache mir ein Kränzel draus.
Hab geflochten mir den Kranz,
Wind ihn in den blonden Zopf,
Geh entlang des Meeresstrands,
Grünes Kränzel auf dem Kopf.
Fliegen her zwei Täublein grau,
Graue Täublein sprechen klar,
Eine listig, klug und schlau,
Doch die andre, die spricht wahr.
Ach, es kam der böse Wind,
Warf den Kranz hinein ins Meer,
Wellen, werft mir doch geschwind
Werft mir wieder 's Kränzel her!
20. Der Kranz.
Werd ich in dem Gärtlein wohl
Weifse Bösen finden?
Möchte einen Blütenkranz,
Einen duftgen Blumenkranz,
Mir am Strauche winden.
Hei, wie steht das Kränzlein mir?
Nun hinab zum Strande 1
Ach, da fährt der Ostwind jach,
Über Wald und Feld und Bach,
Her vom fernen Lande.
Kränzlein schwimmt schon in der
Weinend mufs ich stehen, [Flut,
Und ich schaue auf und ab,
Und ich wandre auf und ab,
Kränzlein suchen gehen.
Strömt ihr Wellen, strömt herzu,
Strömt von Land zu Lande 1
Winde, werft mir's Kränzlein zu,
Strömt ihr Wellen, strömt mir zu,
Tragt's zum trocknen Strande.
Lettische Lieder und Sprichwörter.
177
21. Der Dienst.
Ich diente meinem Herrn ein Jahr,
Da bracht er mir ein Küchlein dar,
Das Küchlein legte Eierlein,
Zart und fein, fein und zart, zart
und fein.
Ich diente ihm ein zweites Jahr,
Da bracht er einen Hahn mir dar,
Der lief den Hennen hinterdrein,
Die Hennen legten Eierlein,
Zart und fein, fein und zart, zart
und fein.
Ich diente ihm das dritte Jahr,
Da bracht er mir ein Entlein dar.
Die Ente schrie pliru, plaru darein,
Der Hahn lief den Hennen hinter-
Die Hennen legten Eierlein, [drein,
Zart und fein, fein und zart, zart
und fein.
Ich diente dem Herrn ein viertes Jahr
Da bracht er eine Gans mir dar.
Die Gans schrie gicku, gacku drein,
Und pliru, plaru da» Entelein.
Der Hahn lief den Hennen hinter-
Die legten weifse Eierlein, [drein,
Zart und fein, fein und zart, zart
und fein.
Ich diente dem Herrn das fünfte
Jahr,
Da bracht er mir ein Schweinchen
dar.
Krunku, ruku grunzte das Schwein,
Die Gans schrie gicku, gacku drein,
Und pliru, plaru das Entelein.
Der Hahn Lief den Hennen hinter-
drein,
Die legten weifse Eierlein,
Zart und fein, fein und zart, zart
und fein.
F. Kurische Sprichwörter.
1. Schulden sind keine Wanden, sie heilen nicht.
2. Eine reiche Krankheit, eine arme Gesundheit.
3. Lafs nicht den Wolf die Schafe hüten t
4. Bevor du nicht wie ein Kalb geschrieen hast, wirst du nicht wie ein
Ochse schrein 1
5. Wer hinter der Thür horcht, macht sich selbst Schande.
6. Der Gleiche ist des Gleichen Freund.
7. Wie der Vater, so der Sohn; wie die Mutter, so die Tochter.
8. Das Schweigen ist teuer; wer viel spricht, schadet sich selbst.
9. Eignes behalt, Fremdes begehr nicht 1
10. Besser einen Sperling in der Hand, als zehn auf dem Dach.
11. Wer einem andern eine Grube gräbt, fällt selbst in diese.
12. Enthalt dich zu sprechen, und du weifst viel!
G. Bas lettische Vaterunser.
Das älteste Vaterunser in der rechten „Lyffländischen (Lettischen)
Sprache" bietet, nach dem „erfahrnen Johann Hasentödter, so manch jar in
Lyfflandt an den Herren Höfen und Cantzleyen gewesen und viel erfahren
hata, 1541, S. Münster (Texte abweichend in Ausgaben von 1550, 1559, 1598).
Die von alten Historikern gern gebrauchte Gleichstellung der in Ost-
preufsens Gegend ehemals erwähnten Hirri mit den Herulern, die ferner
beliebte Gleichstellung der Heruler mit den Letten und die u. a. von Lazius
(De gentium aliquot migrationibus etc. Basel 1557) beliebte Gleichstellung
der Heruler mit den Werlern, hat diesen veranlagst (S. 628), das lettische
Vaterunser mit einigen Fehlern als herulisches auszugeben. Vgl. auch Bur-
meister, Sprache der O bo tri ten -Wenden, 8. 16.
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 22
178 Die Kuren.
1, Lettischer Text nach Sebastian Münster (Basel 1598, S. 1154).
Tabes xnus kas tu es eckschkan debbessis. Schwetitz tows waartz,
Vater unser der du bist in Himmeln. Geheiligt werde dein Name.
enack mums tows walstibe, tows praats bus ka eckschkann Debbes,
Zukomme uns dein Reich, dein Wille geschehe wie in Himmeln
ta wursan semmes. Müsse denische Mftyse duth mums schodeen,
also auf Erden. Unser täglich Brot gieb uns heut,
pammate mums müsse grake ka mes pammat müsse parradueken.
vergieb uns unsre Schuld als wir vergeben unsern Schuldigern.
Ne wedde mums louna badeckle, pett passarga mums nu wusse loune.
Nicht einführe uns bösen Versucher, sonder behüt uns vor allem bösen.
2. Angebliches „herulisches" Vaterunser.
Tabes mvs kas tv es eckschan debbessis. Schwetitz tows vvaartoz. Enak
mvms tows walstibe. Tows praatz bvska eckschan debbes ta vwrsan
symmes. Mvsse denische mayse dvth mvms schoden. Fammate mvms mvsse
grake ka mess pammat mvsse patra dveken, ne weddemvms lovna badeckle.
Pett passarza mvms nv vvvysse lovne. Amen.
3. Das heutige lettische Vaterunser.
(Mitgeteilt von Dr. Bi elenstein- Doblen.)
A
Müfu Tews debefis, fwetits laj top taws wärds, laj näk pee mums tawa
walfbiba, taws präts laj nöteek, ka debefis, tä aridfan wirs fernes. Müfu
deenifchku maifi dödi mums fchödeen. Peedödi mums müfu greku paradus,
ka mes peedödam faweem parädneekeem , ne-eewed müs kärdinäfchana bet
atpefti müs no wifa launa, jo tew peeder walftiba, fpeks un gods müfchigi
müfcham.
4. Das lettische Vaterunser im Niddener Dialekt.
(Mitgeteilt von Pfarrer Jopp. Die ostpreuftischen Letten beten übrigens
litauisch.)
Taite musu, kui*s esi Danguj. Buk swetiz tawo wards. Lai nak tawo
karalyste. Lainusi düd tawo wale ka danguj ta ir uz zeme. Maise musu
dieniszka düd mums ir szüdien. Ir atlaid mums musu kaltes, ka ir mes
atlaidzam sawo kaltamjam. Ne wed mums is pagundima,. Bet ledze mums
nü wiso pikto. Nes tawo ir karalyste ir syla ir slawe nü amziü lidz amziü.
Amen.
5. Das lettische Vaterunser im Melneragener Dialekt.
(Nach Fr. Blöde.)
Anrede. Tehws musu debesis, 1. B. Lai swetits top tawe wards,
2. B. Lai nak pee mus tawa walstiba, 3. B. Taws prats lai noteek ta debesis
ka wirs seines, 4. B. musu deenisku maisi dod mums ir scho deen, 5. B. un
atlaid mums musu Skalas, ka mes atlaischam musu skalaneekams , 6. B. ir
newed mus eeksch pagundima, 7. B. bet isglab mus no launa.
Schlufs. Jo tew peeder ta walstiba, taws spehks un taws gods
muBchu mus cham. Amen.
DIE
WESTSLAWISCHEN VOLKSSTÄMHE
IN
DEUTSCHLAND.
(Masuren, Philipponen, Tschechen, Mährer, Sorben, Polaben,
Slowiiizen, Kaschuben, Polen.)
Die Masuren.
Literatur.
Braun: Alte und neue Bilder von Masuren. Bastenburg 1888.
Hensel: Masuren. Königsberg 1896.
Lucanus: Preufsens uralter und beutiger Zustand (1748). Lötzen 1901.
Schmidt: Mitteilungen der literarischen Gesellschaft Masovia. Lötzen
1895 ff. Bis 1900: 6 Hefte (1. Heft herausgegeben von Gerfs).
Toeppen: Geschichte Masurens. Danzig 1870. — Aberglaube aus Masuren,
2. Aufl. Danzig 1867.
Zweck: Masuren. Stuttgart 1900.
I* Das masurische Sprachgebiet in Deutschland«
Der Ausdruck „Masuren u wird so verschieden faltig gebraucht,
dals eine genaue Begriffsabgrenzung zur Beseitigung mancher Irrtümer
unerläßlich ist. Beispielsweise bezeichnen die einen alle Bewohner des
südlichen Ostpreulsens , gleichviel ob polnischer Herkunft und Sprache
oder germanisierter Abstammung, mit dem Namen und trennen die
angrenzende polnische Bevölkerung gleicher Mundart streng davon.
Diese gehen die Zahl der Masuren mit einer halben Million an. Andere
wieder berücksichtigen nur die Mundart, schliefsen mitunter die
slawische Bevölkerung des Osteroder und Neidenburger, wohl auch des
Ortelsburger Kreises aus und unterscheiden zwischen polnischen und
ostpreufsischen Masuren, letztere auf 200 000 bis 300 000 schätzend.
Eine dritte Ansicht stützt sich auf die eigenen Angaben der Bevölke-
rung in den Volkszählungslisten. Da haben nun willkürlich die näch-
sten Verwandten sich bald Polen, bald Masuren genannt, und nur so
war es möglich, dafs beispielsweise A. v. Fircks in seiner wertvollen
Arbeit im Johannisburger Kreise 36,96 Proz. Masuren und 39,59 Proz.
Polen namhaft macht, im Lycker 29,44 Proz. Masuren und 34,61 Proz.
Polen, im Ortelsburger 27,75 Proz. Masuren und 47,93 Proz. Polen,
im Neidenburger 19,8 Proz. Masuren und 54,37 Proz. Polen, im Sens-
burger 25,76 Proz. Masuren und 34,54 Proz. Polen, im Osteroder
3,98 Proz. Masuren und 48,44 Proz. Polen, im Lötzener 25,56 Proz.
Masuren und 22,37 Proz. Polen, im Oletzkoer 24,27 Proz. Masuren und
21,49 Proz. Polen, im Angerburger 3,12 Proz. Masuren und 4,03 Proz.
Polen, im Goldaper 0,83 Proz. Masuren und 1,35 Proz. Polen. Nach
182 Die Masuren.
A. y. Fircks leben in Preufsen 102 941 (48 623 männliche und 54 318
weibliche) Masaren und 5627 (2919 männliche und 2708 weibliche)
Personen masurischer und deutscher Nationalität. Diese Zahlen sind
denn auch in unsere Konversationslexika übergegangen, die überein-
stimmend etwa 105 000 Masuren zählen. Masurische Agitatoren da-
gegen reden von einer halben Million Masuren ; ja eine Zeitung rechnet
auf Ostpreufsen eine Million evangelische Masuren und 216 000 katho-
lische Polen.
Die Zahl der Polen, Masuren und der wenigen Easchuben in Ost-
preufsen zusammen giebt Neumann, wohl nach A. v. Fircks, mit
327 696 an. Von den ostpreulsischen Masuren fallen bei der Angabe
y. Fircks 34160 auf den Königsberger, 68 596 auf den Gumbinner
Begierungsbezirk. Unter diesen sind neben 101 792 Evangelischen
(96,25 Proz.) 2749 Katholiken (2,6 Proz.), 918 Baptisten (0,87 Proz.)
und 191 jüdische und Andersgläubige. Aulser 32 Bussen und 11
Österreichern und Ungarn waren alle Deutsche. 102 656 wohnten in
Ostpreufsen, 1800 in Westfalen, 236 in Westpreulsen, 207 in Berlin,
die Übrigen waren zerstreut. Auf den Königsberger Begierungsbezirk
entfielen 31375 evangelische und 1989 katholische, auf den Gumbinner
67 784 evangelische und 944 katholische Masuren.
Dafs jene willkürliche Nation alitätsangabe zur Feststellung der
Volkszahl ungeeignet ist, liegt auf der Hand und hat darum einzelne
Statistiker veranlalst, mit dem Namen Masuren die seit Errichtung des
Herzogtums im südlichen Ostpreufsen ansässigen evangelischen Slawen
polnischer und masurischer Zunge zu bezeichnen. Ihr Wohnsitz sind
die oben angegebenen Kreise; die wieder katholisch gewordenen oder
neu dazu gekommenen Masuren sind an Zahl gering. In diesem Sinne
ist hier von Masuren die Bede. Der Landschaftsname Masuren mag
daneben immer bestehen, wie der Preufsisch - Litauens. Zur Zeit des
Grofsen Kurfürsten bildete folgende Linie in Ostpreufsen die Grenze
zwischen der litauisch und polnisch sprechenden Bevölkerung: Königs-
berg, Preulsisch-Eylau, Bartenstein, Dombrowken, Angerburg, Buddern,
Benkheim, Szabienen, Goldap, Dubeningken.
Die fortgesetzte Germanisierung hat nicht nur die geschlossenen
Sprachgebiete mit deutschen Inseln durchsetzt, sondern auch einen
breiten Keil deutscher und germanischer Bevölkerung eingeschoben.
Die nördliche Linie dieses Keils bildet die litauische Sprachgrenze, die
südliche die masurische.
Die oben angegebenen Kirchspiele bedienten sich früher aller drei
Sprachen beim Gottesdienst, jetzt wird nur noch in Dubeningken jähr-
lich einigemale polnisch und litauisch gepredigt. Masurische Mundart
spricht nur das Volk; die Schrift- und Kanzelsprache ist polnisch. In
Bartenstein wurde beim Gottesdienst 1562 polnisch, preufsisch und
deutsch gesprochen, in Dombrowken erlosch 1824 die polnische, 1844
die litauische Sprache, in Szabienen 1849.
Volkszahl. 183
Folgende Nordgrenze schliefst jetzt das rein deutsche Gebiet von
der Landschaft ab, die ihren evangelischen Einwohnern neben der
deutschen auch polnische Predigt gewährt. Von Dubeningken zieht
sich die Linie westwärts über Gurnen, Grabowen, Benkheim, Buddern,
Angerburg und Engelstein bis an die Grenze des Gumbinner Regierungs-
bezirks. Im Königsberger Regierungsbezirk setzt sich die Linie in den
ziemlich reindeutschen Grenz kirch spielen Drengfurt und Rastenburg
fort und umfalst dann den gesamten Ortelsburger , Neidenburger und
Osteroder Kreis, nämlich nördlich bis Bischofsburg, Wartenburg, Locken,
Liebemühl, Provinzgrenze. In diesem masurischen Gebiete liegen (auf
Grund von Harnochs Aufzeichnungen) etwa 100 doppelsprachige
evangelische Kirchspiele mit cirka 455 000 Bewohnern, von denen etwa
40Proz. = 176 000 deutsch sind. Die Zahl dieser evangelischen
Masuren würde also 279000 betragen und 60 Proz. der Be-
völkerung ausmachen. Der nördliche Teil dieses Gebietes ist über-
wiegend deutsch und umfalst die acht Angerburger, die vier Heils-
berger, die drei Rastenburger, die drei Goldaper, sowie drei Osteroder,
fünf Lötzener und vier Oletzkower, zusammen dreifsig Kirchspiele mit
135 000 Seelen, von denen 29 000 (cirka 21 Proz.) polnisch sprechen.
Der südliche Teil des Gebietes ist überwiegend masurisch. Er
umfalst vollständig die Diözesen Neidenburg (zwölf Kirchspiele), Ortels-
burg (elf), Sensburg (zehn), Johannisburg (neun), Lyck (neun); aufser-
dem von Osterode zwölf, von Lötzen vier, von Oletzko drei Kirchspiele
mit zusammen 320 000 Bewohnern, von denen 250 000 (über 78 Proz.)
Masuren sind. Die Nordgrenze dieses Gebietes beginnt drei Stunden
südlich von Dubeningken beim Dorfe Mierunsken, läuft südlich bis
Wielitzken, westlich über Schwentainen nach Orlowen, südlich über
Jucha nachGrabnik, südwestlich über Arys nach Eckersberg, nordwest-
lich über Schimonken nach Rhein, südwestlich über Sensburg, War-
puhnen, Sorquitten nach Kobulten im Königsberger Regierungsbezirk.
Die Linie bleibt bis Rheinswein an der Grenze und wendet sich dann
südwestlich nach Mensguth, Passenheim, Kurken, Seelesen, nordwest-
lich nach Hohenstein, Manchenguth, Osterode und verläuft dann süd-
wärts an der Grenze.
In beiden Teilen wird regelmäfsig in beiden Sprachen gepredigt,
im nördlichen Teile aber findet infolge der Germanisierung der pol-
nische Gottesdienst immer seltener statt. Die Sprache weicht von der
polnischen nicht unbeträchtlich ab, besonders die Mundart östlich von
Kurken, Linden walde und Seelesen an der Osteroder Ostgrenze. Die
Bewohner sprechen fast sämtlich beide Sprachen, dort erhält sich das
Masurische weit zäher als das Litauische. In der Schule lernen die
Kinder ziemlich gut Deutsch; sobald sie der Schule entwachsen sind,
vergessen sie es alimählich mehr und mehr. Das liegt nicht etwa an
einer Abneigung gegenüber dem Deutschen. Der evangelische Masure
ist Deutscher und Preufse mit Leib und Seele und scheidet sich streng
184 Die Masuren.
von den katholischen Polen ab. Das liegt vielmehr an der Ab-
geschlossenheit der Gegend. Jetzt erst, seitdem Bahnen das Land
durchziehen und Masuren seiner landschaftlichen Schönheit wegen,
immer mehr von Deutschen besucht wird, nimmt unsere Sprache über-
hand. Sprachen doch beispielsweise im Kirchdorf Weilsuhnen 1897/98
von 197 schulpflichtigen Kindern bei der Aufnahme 173 nur polnisch
und 24 deutsch und polnisch. In Opalenietz standen 2000 Masuren
nur 50 Deutsche entgegen. Aulser der evangelischen Lehre ist der
Baptismus hier und da verbreitet, so in Neidenburg und Muschaken,
in Orteisburg und Schöndamerau, Theerwisch, Willenberg; in Osterode,
Borzymmen bei Lyck, Sorquitten, Dubeningken, Benkheim. In Monethen
(Oletzko) ist eine kleine Swedenborgische Gemeinde, in Sensburg eine
apostolische, in Johannisburg eine sozinianische. Als Insel mitten im
masurischen Sprachgebiet ist die russisch - sprechende philipponische
Kolonie zu betrachten.
Etwas anders gestaltet sich die masurische Sprachkarte, wenn wir
die Nachweise von Schiermann und Hirsch (1897) und neuere Nach-
richten zu Grunde legen, aus denen sich gleichzeitig ergiebt, wie schnell
trotz allen zähen Festhaltens am masurischen Volkstum deutsches
Wesen und damit deutsche Sprache überhand nimmt. Die alte Sprach-
grenze ist zwar im grolsen und ganzen geblieben, aber es hat sich zu-
nächst ein Streifen abgesondert, in dem die slawische Kirchensprache
erloschen ist. Danach würde die Sprachgrenze der gemischtsprachigen
Gemeinden den Verlauf haben, wie ihn unsere Karte (Abb. 60) andeutet:
Dubeningken, Grabowen, Kutten, Angerburg, Lötzen, Stürlack, Rhein,
Sensburg, Warpuhnen, Sorquitten, Kobulten, Grofsbartelsdorf, Allen stein,
Altschöneberg, Locken, Liebem ühl. Viel weiter zurückgedrängt worden
ist die Grenze des überwiegenden Masuren tums. Sie beginnt bei
Wielitzken, südöstlich von Marggrabowa, geht über Gonsken, Jucha,
Stradaunen, Ostrokollen, Baitkowen und Grabnick um Lyck herum,
dann über Arys, Eckersberg, Schimonken, Nikolaiken nach Sensburg.
Ein Stück deckt sich jetzt die Grenze des überwiegenden Masurentums
mit der Sprachgrenze überhaupt, in der Gegend Sensburg, Warpuhnen,
Sorquitten, Kobulten. Dann aber schneidet unsere Grenze weit nach
Süden über Rheinswein, Mensguth, Passenheim, Bartelsdorf, Kurken,
Seelesen, Mühlen, um Hohenstein herum nach Manchengut, Reichenau,
um Osterode herum, nach Kraplau, Schmückewalde, Leip, Geierswalde,
Marwalde, Gilgenburg, um Rausch ken und Neidenburg herum, über
Skottau, Muschaken, Saberau, Grofs- und Klein - Koslau , Schornau,
Soldau, Usdau, Grofs -Koschlau und Heinrichsdorf an der Landes- und
Provinzialgrenze. Unter etwa 443 507 Seelen des gemischt-
sprachigen Gebietes evangelischer Kirchspiele befinden sich 260 300
Masuren, knapp 59 Proz.
So gut wie erloschen ist das Masurentum im Kreise Rastenburg,
wo in den Kirchspielen Rastenburg, Bäslack und Schwarzstein unter
&
i u I
a 3 * *
i
1 ;
!
| '
i
w
in
1 -1 4
2 fä;
19 1
" IJI|I| j
«°I31^ S
; Off
186 Die Masuren.
17 071 evangelischen Bewohnern nur 92 Masuren, im Kreise Goldap,
wo unter 10450 Grabowenern und Dubeningkenern 270 Masuren und
im Kreise Alienstein, wo unter 6867 Allensteinern und Bartelsdorfern
500 Masuren wohnten. Nicht gezählt sind dabei 40 Masuren in Bischofs-
burg und Wartenberg und 30 in Gurnen. Ähnlich liegen die Verhält-
nisse im Kreise Angerburg, soweit er überhaupt gemischt ist; in diesem
Teile leben unter 19 170 Evangelischen 1060 Masuren, besonders in
Possessern (600), Kruglauken (250), Kutten (120) und Angerburg (90).
In den wirklich masurischen Kreisen leben in Orteisburg 53 082 (über
82 Proz.) Masuren, in Johannisburg 42 220 (über 81 Proz.), in Neiden-
burg 40138 (über 77 Proz.), in Lyck 34 750 (über 69 Proz.), in Sens-
burg 28 870 (über 63 Proz.). In der Minderheit sind die Masuren in
Osterode bei 31830 Masuren (über 49 Proz.), in Marggrabowa bei
14 080 (36 Proz.) und inLötzen 13 500 (über 32 Proz.). Im sprachlich
gemichten Teile Goldaps (drei Kirchspiele) sind etwas über 2 Proz., in
dem Allensteins (vier Kirchspiele) und in dem Angerburgs (vier Kirch-
spiele) etwas über 5 Proz. und in dem Rastenburgs (drei Kirchspiele)
über Va Proz. Masuren. Nach menschlicher Voraussicht werden also
in kurzer Zeit Rastenburg, Goldap, Angerburg und Alienstein rein-
deutsch, Lötzen, Marggrabowa, Osterode und Sensburg aber dem vom
Norden her vordringenden Deutschtum unterlegen sein. Orteisburg,
Johannisburg und Neidenburg könnten wegen des polnischen Hinter-
landes, der wenigen Eisenbahnen und grolsen Wälder länger Hoch-
burgen des Masuren tums bleiben, wenn auch die Kreisstädte bald über-
wiegend deutsch sein werden. Die Stadt Lyck, als Sitz eines Gymna-
siums und einer Garnison, ist jetzt schon eine rein deutsche Stadt zu
nennen; das Grenzkirchspiel Ostrokollen hat in kurzer Zeit, besonders
seit Ausbau der Bahnlinien, deutsches Gepräge bekommen, so dals das
von Nordwesten kommende Deutschtum an der Bahnlinie Lötzen-
Prostken, also bis zur russischen Grenze, bereits überwiegt. Es ver-
bleibt somit in Zukunft eine kleine Masuren -Insel östlich von Lyck
und eine grofse westlich an der Landesgrenze.
n. Zur Geschichte der Masuren.
Zur Zeit der Kriege zwischen den Preutsen und dem Orden lag
in der Gegend des heutigen Masuren s hauptsächlich die Landschaft
Galindien und Sudauen. Schon Ptolemäus erwähnt die Galinder. Wir
finden sie im ersten christlichen Jahrtausend im Kampfe mit Russen
und Polen. Ebenso rätselhaft wie die Verödung eines westpreufsisch-
polnischen Teiles vor der ersten polnischen Teilung ist die Zerstörung
des angeblich so volkreichen Galindien. Die Galinder waren zweifellos
preufsischen Stammes, doch scheinen frühzeitig aus dem südlicher ge-
legenen Masovien, der „Masau", Polen nach Norden gedrungen zu sein.
Die Galinder blieben wie ihre stammverwandten Nachbarn Heiden,
Besiedelung Masurens. 187
und es war genügender Grund zu steten Kriegen mit den christlich
gewordenen benachbarten Masoviern geboten. Der Herzog Konrad
von Masovien schenkte 1222 einen grolsen Teil des den Preulsen ab-
genommenen Landes dem Bischof Christian, und 1226 bestätigte Kaiser
Friedrich IL dem deutschen Orden dies Land und das noch zu erobernde
als Besitztum. Die aufreibenden Kämpfe schlössen mit der Unter-
werfung der Preulsen und der völligen Verwüstung der Landschaften
Schalauen, Nadrauen, Sudauen und Galindien. Dusburg sagt 1325:
„Und es ist jene Gegend bis auf den heutigen Tag eine Wüstenei ge-
blieben." Der Wald wuchs über den zerstörten Hütten und wucherte
weiter und weiter, jahrhundertelang. Nur selten war hier und da
eine vom Orden gelittene oder angelegte Niederlassung, aber die alten
Erinnerungen erhielten sich doch. Und als die Philipponen nach
Jahrhunderten in die Johannisburger Wildnis einwanderten und auch
das Dörfchen „Schlöf sehen" anlegten, behielten sie den alten Wald-
namen bei; früher hatte hier eine befestigte Anlage zur Zeit des
preußischen Besitzes bestanden.
Wenn die Wege durch die Wildnis auch nicht völlig menschenleer
waren, so konnte doch von einer wirklichen Bevölkerung nicht die
Rede sein. Nun baute der Orden seine befestigten Anlagen, aber die
Siedelungen lagen vereinzelt. Inzwischen suchten Masovier in der
Waldwüste Fuls zu fassen, und es kam deshalb zwischen den masovi-
schen Herzögen und dem Orden wiederholt zum Streit. Der Herzog
Johann von Masovien klagt von 1409 bis 1413 wiederholt, wie gewalt-
thätig seit 1370 der Orden mit Masoviern in unserer Masurei um-
gegangen sei. Der Orden berief sich zwar darauf, dafs das angegebene
Gebiet durchaus ihm gehöre, aber es ist doch aus den Verhandlungen
zu ersehen, dafs eine sichere Grenze zwischen den beiden Mächten
nicht bestand. Sie ward erst 1422 im Friedensschlufs am Melnosee
festgelegt und blieb seitdem im allgemeinen unverändert. Deutsche,
Preufsen und Masovier safsen hier meist bei kulmischem Recht; aber
die Slawen waren, wie aus allen Handfesten hervorgeht, in der Mehr-
heit. 1450 wird dem Hochmeister in polnischer Sprache gehuldigt,
1506 bis 1507 hat der Orden in Ostpreufsen „fast eitel Polen zuUnter-
thanenu. Man braucht seit dem 16. Jahrhundert die Ausdrücke Polen
und Masuren für die evangelischen Slawen des südlichen Ostpreufsens
nebeneinander, ohne an grofse Unterschiede zu denken. Das Polnische
gilt nur für das feinere, edlere, das Masurische für das gewöhnliche.
Herzog Albrecht läfst an „etzlichen Masuren u wegen Wilddieberei ein
Strafgericht ergehen. Die Lycker Fürstenschule ward nach Hennen-
berger „für die Polen und Masuren" angelegt, ihre Visitatoren be-
schlief sen an ihr „die verderbte masurische Sprache abzustellen und
dafür die reine polnische zu introduzieren". Dann kamen amtlich die
„polnischen Ämter" auf. Und erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts
wurde der Ausdruck Masuren allgemeiner. Toeppen meint, er sei
188 Die Masuren.
wohl zum Unterschiede von dem durch die polnischen Tetlungen neu-
erworbenen katholischen Polen gebraucht worden. Er trifft, wie das
Beispiel der Slowinzen und Lebakaschuben beweist, sicher das Richtige.
III. Masurische Wanderungen.
Bei der Bahnstation Gurnen, zwischen Insterburg und Lyck, be-
ginnen die polnisch - deutschen evangelischen Kirchspiele. Das land-
schaftliche Gepräge, Eeichtum an Seen, Wäldern und Hügeln, tritt
sofort scharf hervor.
Es ist im Hochsommer, der Kornschnitt ist vorüber, die Gerste
wurde eingefahren, mit dem Kranz zogen die Mäher vor das Haus des
Bauern. Das gegenseitige Wasserbegietsen endete mit Lärm und Lust.
Aus den Kirchen ertönt das mit Hochgefühl gesungene Leiblied der
Masuren: „Die Felder sind schon weilsu (Pola juz biale). Üppig
stehen Kraut und Kartoffeln, auf den Äckern tummeln sich Schweine-
herden. An den kleinen grünblauen Waldseen erheben sich Torf-
Bodenschichten. Dort bracht man eine Wiese, hier errichtet man ein
schönes steinernes Wohngebäude; neben der Stofsner holländischen
Windmühle steht eines jener im ganzen Osten heimischen Holzhäuser.
Im Gersafs gebaut, auf der einen Seite der Thür 6 m, auf der anderen
noch 2 m breit, hüben und drüben mit je einem Fenster versehen, liegt
es inmitten eines Gärtchens. Die Feuerleiter lehnt auf dem Schindel-
dach. Im Inneren ist links neben dem Hausflur die Wohnstube, rechts
hat man einen Wirtschaftsraum oder eine Altsitzerstube abgegrenzt.
Selten schmückt eine Holzzier den Giebel, wie in Westmasuren. Spärlicher
mit Kiefern bestandener Sandboden wechselt mit üppigen Lupinen-
feldern. Wo die litauische mit der polnischen Sprache kämpfte, hatte
die deutsche den Vorteil. Überall herrscht sie hier, an allen Orten ist
der Segen der Germanisierung zu merken. Und radebrecht man in
diesen Gegenden alle drei Sprachen, so ist doch unzweifelhaft, data aus
dem geradebrechten Deutsch noch ein wohlklingendes, richtiges wird,
östlich von Ko wählen liegt der Marktflecken Mierunsken, der in regem
Verkehr mit dem litauisch-polnischen Grenzorte Filipowo im Gouverne-
ment Suwalki steht. Hier ist schon mancherlei von den alten, immer
mehr absterbenden Gebräuchen der Masuren zu sehen. Freilich, das
Hauptkennzeichen, die masurische Frauenkleidung mit dem eigentüm-
lichen Kopfputz (vgl. Abb. 61), ist selten noch anzutreffen. Das Familien-
leben aber hat manches Eigene. Kirmes und Düngerfuhrschmaus giebt
es nicht, aber ein Fest nach dem .Roggenschnitt, wenn der Schnitter, der
„den Letzten tf bekommen hat, Kranz oder Krone zum Herrn schafft.
Das Wasserbegietsen findet in einigen Orten nach dem Schnitt, in
anderen nach der Einfahrt statt. Der den Letzten hat, wird begossen;
aber in manchen Gegenden begiefsen sich Mäher und Rafferinnen, ohne
an den Letzten zu denken, und wieder in anderen Orten giefsen die
Erntegebräuche. 189
Kinder des Gutsherrn mit einem Wassertöpfchen nach den Kran zbrin gern.
Die Herrschaft giebt dann ein einfaches Mahl, aulserdem Schnaps
und Bier, tanzt wohl auch bei dem folgenden Feste mit. Es ereignet
sich aber auch, dals die Feldarbeiter das harmlose Begiefsen von selten
eines Pastorensohnes mit Geschimpf nnd Schlägen vergalten, den alten
Brauch als nicht vorhanden kennzeichnen, aber ihren Endschnapa in
Katurin mit altem Kopfschmuck. (Nach Photographie von Echler - Lötzen.)
Empfang nehmen wollten. In Eckertsdorf wiederum ist es vorgekommen,
data die Mäher ihren Genossen, der den Letzten hatte, so lange in dem
Dulssee untertauchten, bis er im Wasser erstickte. Die Eckertsdorfer
Russensitte begnügt sich nicht mit Besprengen und Begiefsen, sondern
fordert Untertauchung. Der Taufgebrauch ist hier inafsgebend.
190
Die Masuren«
Kornblumenkränze bindet man auch zu Johanni, schmückt damit
die Stuben, sowie die Hörner der Rinder. An demselben Tage oder
vielmehr Abend brennt man wie in Litauen Ragos, umwundene Stangen,
an, oder errichtet Freudenfeuer mit Stroh und Teertonnen, man
sammelt Zauberkrauter, wirft Orakelkränze in die Bäume und singt die
eigentümlichen weichen Lieder, deren Gepräge die Mitte zwischen den
litauischen und polnischen hält.
1. Rockenlied.
i
t
iz=h
*
h-ft-h-ft
±
*=*
«*-#
*~> ♦
r*
ä 4 4~+
Gdy sniezek po - bie - li te zie - lo - ne po - la, te - dy Bi§ zej-
P=
h=h
^^TTf=¥
*=ä=±
dziemy wi - co-rem zkq-dze-lö, gdy kotka zawarco, niech sie, spiewy
m
tu
^
m
^3
^m
fc
f-"?
wznoso. Nid tniejsa nad iedwabb', to nasza ro - zko - sa.
Wenn der Schnee diese grünen Fluren bleicht, dann versammeln wir
uns zu Rocken. Wenn die Bädchen schnurren, lafst unsre Gesänge sich
erheben. Der Faden sei feiner als Seide, das sei unser Vergnügen.
w
*3
2. „Ich ging im Walde.'
fc
£
fr
fr
A kwia-tu-sek, wcieniu stal,
Blümelein im Schatten stand,
P=^=t
la la la la la la
fc=fc:
m
i
fc
m
V-
spojrzal, jakoj o-cki inial, o - cki miat, o-cki miaJ.
Sah, als ob es Äuglein hätt', Äuglein hätt', Äuglein hätt'.
2. Ghce go urwac, prosi sie. 2. Will es brechen, bittet sehr:
Ja ci zwiednje, nie rwij mie. „Ich verwelk dir, brich mich nicht."
3. Wiecem go zkorz§kiem wziöl. 3. Grub es jetzt mit Wurzeln aus,
Wsadzil, polal, az si§ 'joL
Pflanzt es, netzt es, bis es wuchs.
4. DziÄ w ogrodku, prosto drzwi 4. Heut im Garten vor der Thür,
Bosnie, kwitnie, pachnie mi.
Wächst es, blüht es, duftet mir.
(Mitgeteilt von B. Börne r-Jerutten.)
Volkslieder. 191
3. Die Jungfrau.
Mägdlein hütet im Thal die Herde,
Bis der Abend sinkt zur Erde.
Treibt in der Ferne und kann nicht sehn,
Wie ihr die Stiere verloren gehn.
„Wer mir die Stiere bringt zur Stund,
Ich würde ihn küssen aus Herzensgrund!"
Hanschen hört's und eilt zu Thal,
Bringt ihr die Stiere allzumal.
„„Gieb mir zum Kufs dein Mündchen herluu —
„Ach, ich fürchte die Mutter so sehr!"
„„"Wie kannst du fürchten die Mutter dein?
Ewig werd ich treu dir sein!"" —
„Ach meinem Glauben ward schlimmer Lohn,
Meine Wangen erbleichen schon!"
„„Trink du Wasser, dafs wieder erglühn,
Deine Wangen in rosigem Blühn!a"
„Und färb ich mit Bösen selbst mein Gesicht,
Was einst ich gewesen, das werde ich nicht!"
4. Untreue.
„HänBchen, wohin auf dem hellbraunen Pferd?
Komm und kehre doch bei mir ein!"
„Am Fenster vorüber, ich weile nicht,
Es fangen mich sonst deine Äugelein!"
„Du hieltest sicherlich bei mir Bast,
War deine Liebe erloschen nicht!"
„Ich habe dich ja nie geliebt,
Das sag ich dir ins Angesicht."
„Du sagtest nur Lügen worte zu mir,
Und hast mich bethört die ganze Zeit.
Nun mufs ich sterben, es bricht mein Herz
Vor Weh und Gram und bittrem Leid."
5. Fundgeld.
„Tier der Jahre dient ich treulich einem Ackerwirt,
Selber weifs er, wie schon früh das Häckselmesser klirrt. —
Alles that ich, weil fürs Liebchen ich in Lieb gelebt.
Und wie Harz war mir mein Herzlein fest an sie geklebt.
Nimmer wagt ich sie zu fragen, ob sie gut mir sei.
Ihre Mitgift war zu stattlich: Küh und Oohsen zwei,
Ein mit Gold gezierter Becher, auch ein Bingelein,
Eine Schürze, silberfädig, buntgewoben fein. —
Sieh, da trag sich auf der Wiese einst ein Unfall zu,
Als mit Jakob ich geweidet draufsen Ochs und Kuh.
Außer Atem kam gesprungen, sie, mein süfses Lieb:
„Stachus, hilf, die Herden sprengte mir der Wolf, der Dieb.
Stachus, ach, ich sterb vor Ängsten." Und da fragte ich:
„Welches Fundgeld willst du geben?" „Ich, ich geb dir mich!
Willst du, nimm mich und den frischen Kranz von Bosmarein,
Oder willst du mehr von einem armen Mägdelein?"
192 Die Masaren.
Dies Lied kommt in allen Sprachen und Dialekten des slawisch-
deutschen Westens vor, es entstammt der Zeit, da der Wolf noch ein
vielgesehener Gast der masurischen Wälder war. Die schalkhafte
Frage nach dem Fundgeld ist für die dortigen Verhältnisse nicht un-
zart gemeint und kehrt in Dainos und deutschen Volksliedern öfter
wieder. Eine andere Fassung des Liedes endet mit der Untreue des
Geliebten und der Klage des verlassenen Mädchens. An solchen
Tönen ist die masurische Liederdichtung reich, wie auch das folgende
zeigen mag.
Mägdelein klagte sehr, wo doch ihr Häuschen war,
Stand drin im Gärtelein: „Kam doch das Hänschen mein!*
Ach, da bemerkt sie ihn zu einer andern ziehn,
. Weinte das Mägdelein, ward ihr das Herz zu Stein.
Kummer erfüllt den Sinn, stirbt voller Sehnsucht hin.
Wo sich die Birke wiegt, drüben das Mägdlein liegt.
Trauer und Klaglaut klingt, dort, wo das Vöglein singt.
An Gesang sind auch die übrigen Festtage reich. — Zu Pfingsten
setzt man Birken ins oder vors Haus, zu Ostern färbt man Eier. Das
Flachsbrechen findet gemeinsam statt, und zwar nimmt es die erwach-
sene Dorf jugend erst einen oder zwei Tage bei dem ersten, dann bei
dem zweiten Bauer vor, bis alle durch sind. Der Masur hat ein mehr-
deutiges Sprichwort vom Flachs, das lautet: „Je länger man fährt,
desto länger wächst der Flachs. u Hier seien noch einige andere Sprich-
wörter erwähnt: Wie der Verstand, so die Seligkeit. Verheilsung
tröstet, den Dummen erfreut sie. Nicht immer ist St. Johannis
(24. Juni, Festtag). Bartholomäus (24. August) habe den Samen.
(Man säe um diese Zeit.) Michael (29. September) stöfst die Leute
hinaus (Wohnungswechsel). St. Adalbert (24. April) des Ochsen Freude
(Ruhetag). Zu St. Matthäi (24. Februar) legen die Gänse Eier. Zu
St. Gregor (12. März) geht der Winter zum Meer. Mit der Grütze
ängstigt man die Kinder. Sag nicht hopp, wenn du nicht über-
gesprungen bist. — Der Glaube an den Kobold (Kolbuk) *) , an die
kleinen, weilsen Leutchen (Graumännchen), an den schwarzen Mann,
an Wassernixen, an Mar, Alp und Roggengespenst, an Herzwurm (Macica)
und Werwolf, an das Todankündigen, an Vampire und bösen Blick,
an die Versprecher, Behexer und Verzauberer ist noch allgemein, und
mittels der Bibel und des Erbschlüssels will man auch hier Diebe ent-
decken, mit Zauberformeln Krankheiten vertreiben und Bösewichter
festmachen. — Hinterm Wirbelwind steckt der wilde Jäger und die
Windsbraut, hinterm Irrlicht und Flammenschein luttert Geld. Der
Glaube an geheimnisvolle Mächte, die das menschliche Leben in allen
Einzelheiten beeinflussen, herrscht weit und breit. Das Tagewählen»
l) Vergl. auch Sembrzycki: Über masurische Sagen. Altpr. Hon.
23, 601 bis 612. — Sitten und Gebräuche, ges. in Burdungen. Altpr. Mon.
21, 662 bis 673. — Heyer: Masurische Volkslieder. Altpr. Mon. 1877, 1879.
Aberglauben. Baudos. 193
das Beseitigen unheilbedeutender Zeichen beim Beginn eines Werkes,
das Ausdeuten gleichzeitiger Zufälligkeiten und noch andere ähnliche
Arten des Aberglaubens fehlen in Masuren ebensowenig als anderwärts.
Auch Sonne und Mond üben im Glauben des Volkes bedeutenden Ein-
flute auf die Menschen ein. Eine Sache, die gefördert werden soll,
wird man immer bei zunehmendem Mond vornehmen, eine allmählich
zu endende bei abnehmendem Lichte. — In den Geschichten und Er-
zählungen, die in den Spinnstuben heimisch sind, spielt der dumme
Hans, der sich schlief slich „schlauer als der Teufel u entpuppt, eine
grofse Rolle, List und Schlauheit sind gepriesene Eigenschaften. Von
harmloseren Erzählungen sind die verschiedenen Tiergeschichten, voran
die Vogel hoch zeit, zu erwähnen.
Ähnliche Freuden wie das Flachsbrechen und Spinnen gewährt
die Fastnacht, nur ruht an dieser jede Arbeit. Am Fastnachtsdienstag,
das ist der Feiertag der Herrschaft, bäckt man Krapfen, am Mittwoch,
dem Feiertag der Bauern, Puffer. Da besuchen sich die Bauern gegen-
seitig und schmausen. In den Zwölf nachten herrschen, wie überall,
eigentümliche Gebräuche. Der Spinnrocken mufs ruhen, es darf nichts
gedreht werden, die Bäume werden mit Strohseilen umwunden, Kreuze
werden an die Thürsch wellen gemacht; es wird Blei gegossen, und in
eine Wasserschüssel wirft man Holzkohlenstückchen und dreht die
Schüssel. Kommen die Stückchen zusammen, so verheiratet sich der
Orakelfrager in dem Jahre. — Nach dem 6. Januar beginnt die Spinn-
stube. — Die Taufe, zu der in der Regel vier Paten gezogen werden,
dauert zwei Tage, ebenso die Hochzeit. Der Hochzeitsbitter erscheint
hoch zu Rofs und ladet den einen Tag zur Braut, den anderen zum
Bräutigam ein. Der Totenschmaus findet noch so ausgeprägt wie
möglich statt. Man glaubt der Ehre des Toten ein ganz besonderes
Fest schuldig zu sein. Das Gejammer und Geklage am Todestage und
vor der Beerdigung steht im lebhaften Gegensatze zum darauf folgenden
Schmaus. Während der Totenschau brennen beständig Lichter, und
alle Verwandten, Freunde und Nachbarn kommen, klagen, weinen und
sehen, wie schön die Leiche ist. Die im frühen Mittelalter aus jener
Gegend gemeldete Rauda der Angehörigen lautet: „Ach, warum bist
du nur gestorben und von uns gegangen, du hattest es doch so gut, es
fehlte dir an nichts, du hattest eine so gute Frau und einen Stall
voller Rinder u. s. w.tf ; diese und ähnliche Raudos durchhallen jeden
Trauerraum.
Beim Tode einer Mierunskener Bauerntochter schlachtete man
kürzlich ein Rind, zwei Schafe und zwei Schweine; Bier, Schnaps und
Brot waren in Fülle vorhanden. Man meinte, das Mädchen müsse
sein Erbteil bekommen.
Die erste Stadt im masurischen Grenzgebiet ist Oletzko oder Marg-
grabowa, eine Gründung des Herzogs Albrecht, der der Stadt 1560
den Namen gab. Wie das Litauische aus Goldap, so ist v das Masuren*
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. J3
194 Die Masuren.
tum aus Oletzko fast vollständig verschwunden. Marggrabowa liegt
an dem langen Oletzkoer See und ist eine alte Ordensburg, in der An-
lage wie Allenstein, Gnesen, R. Crottingen. Auf dem Burgberge erhebt
sich die Kirche. Rund um den Berg herum zieht sich ein breiter Ring*
jenseits dessen die eigentliche Stadt mit einem Häuserkreis und strahlen-
förmig vom Marktring ausgehenden Strafsen liegt. Auf dem Ring
finden die grolsen Wochenmärkte statt, zu denen die Bauern der
ganzen Umgegend erscheinen. Die kleinen zierlichen Häuser in den
Gassen stehen meist mit dem Giebel nach vorn, haben Seiteneingang
und Hausstufen. Die weilsgetünchten starken Mauern sind mit welligen
Dachziegeln gedeckt. Die Treppe im Erdgeschols, unweit des Bausflurs,
führt auf einen kleinen Dachkammerraum.
Marggrabowa mit seinen eingepfarrten Dörfern hat etwa 10 000
Einwohner, darunter drei Fünftel Deutsche. Aulser der evangelischen
Kirche hat es eine katholische. Die kleine Gemeinde ist aber doch noch
stärker als die 100 Seelen zählende des Kirchspiels Mierunsken, das
im übrigen dieselben Verhältnisse bei halber Einwohnerzahl aufweist.
Die kleinen Landstädte und Marktflecken sind trotz ihrer geringen
Bewohnerzahl des regen Marktverkehrs wegen weit wichtiger als
gleich grolse Städte im Industriegebiete Mitteldeutschlands. Marg-
grabowa hatte, wie fast ganz Masuren, 1656 unter den einfallenden
Tataren sehr zu leiden, auch der Beginn des Siebenjährigen Krieges
war hier blutiger und schrecklicher als im übrigen Ostpreufsen. Später
blieb die Gegend von gröfseren Drangsalen verschont.
Ein wichtiges Kennzeichen, wie weit sich eigentümliches Volkstum
gegenüber der von Bazaren und Fabriken begünstigten Gleichmacherei
erhalten hat, bieten die Kirchhöfe mit ihren Grabplatten und Inschriften.
Mögen die letzteren auch deutsch sein; wie kehrt sich aber in Glowitz,
Schwarzort, Bitehnen, D. Crottingen, Eckertsdorf Eigenartiges hervor
gegenüber den städtischen Fabrikserzeugnissen auf den Gräbern aller
deutschen Städte und der meisten Dörfer. Auch Oletzko, Lyck und
andere masurische Orte bieten keine Ausnahmen; dieselben steinernen
Grabplatten und schwarzen Eieenkreuze wie überall. Einige Grab-
inschriften aus Oletzko lauten: „Der Glaube, den mich Gott gelehrt,
die Hoffnung, die mein Herz verehrt, und Liebe, welche ewig währt,
die leiten mich an treuer Hand, durch Welt und Zeit ins Vaterland. " —
„Das Höchste, was ein Mensch auf Erden sich erwirbt, das ist ein Grab,
betaut mit Liebesthränen." — „Dir ist das beste Los beschieden,
drum ruhe sanft in Gottes Frieden." In Lyck las ich folgende: „Dort
auf jenen lichten Höhen giebt es ein frohes Wiedersehen." — „Zu früh
für uns entschliefest du, Gott geb uns Trost, dir süfse Ruh."
Vier Stunden südöstlich von Marggrabowa, ebensoweit nordöstlich
von Lyck, liegt Kalinowen, der Wirkungskreis Pogarzelskis.
Lyck, die Hauptstadt Masurens, spiegelt sich in einem lang-
gestreckten See. in den sich der Vogelsche Garten herrlich halbinselartig
Lyck. 195
vorschiebt. Lyck ist eine Ordensanlage, ward 1398 gegründet, hat
10 000 Einwohner und besitzt Garnison, verschiedene höhere Lehr-
anstalten, Behördensitze und einen reichen Marktverkehr. Das Kirchspiel
hat 14 000 Einwohner, von denen ziemlich die Hälfte deutsch ist. —
Als der Komtur von Balga, Ulrich von Jungingen, das Schlots Lyck
inmitten der Waldwüste baute, war noch lange nicht an eine Stadt zu
denken. Aus einzelnen Ansiedelungen entstand schlielslich ein Dorf
und später die Stadt. 1472 finden wir eine Pfarre hier. Paul Speratus
sorgte mit Beginn der Reformation für eine neue, schönere Kirche; in
ihr ward 1551 das erste Mal gepredigt. Der Gottesdienst war damals
der rein masurischen Bevölkerung wegen rein masurisch, erst 33 Jahre
später verstand man sich auch zu deutschen Predigten. Als 1656
nach der Schlacht bei Prostken die Tataren einfielen, wurde die Stadt
niedergebrannt und die Bewohnerschaft gefangen fortgeführt. 1710
wütete die Pest, 1757 der Krieg, Ende des Jahrhunderts aber blühte
die Stadt unter dem trefflichen General Günther in jeder Weise auf.
Um jene Zeit lebte Lycks bedeutendster Sohn, der Geschichtschreiber
Baczko.
Lyck hat viel Verkehr, aber es mangelt die Industrie. Als ich
abends 10 Uhr die Stadt betrat, brannte nirgends eine Straßenlaterne;
still und ruhig lagen die Gassen, nur zuweilen tönte ein Trompetensignal
aus der Kaserne. Mit Interesse verfolgte ich anderen Tages das Leben
und Treiben auf dem Marktplatze und auf der Hauptstralse. Kleine,
gurtgeschirrte, braune Rosse an unschönen Wagen mit niedrigem, oben
sehr breitem, vierseitigem Korbe kamen von allen Landstraßen daher-
getrabt. Die Landleute stellten die Wagen auf der Hauptstrafse dicht
nebeneinander auf, und zwar auf beiden Seiten so, dafs die unaus-
geschirrten Pferde nach der Häuserseite, die Wagen nach der Straf sen-
mitte zu standen. Die Bauern verblieben als Verkäufer auf dem Wagen,
der Käufer tritt von der Hinterseite hervor. Von dem, einem Kälberwagen
ähnlichen Gefährt nimmt der Besitzer einen Ständerkasten mit einem
Gemengsei von Heu, Gras, Klee, Stroh, Spreu und stellte ihn vor das
Pferd. Die weifse, grofsdachige Mütze auf dem Kopf, den langen,
grauen Feldrock oder die kurze Joppe zugeknöpft, lange Stiefel an
den Fülsen, wartet er eine Weile und geht dann in den Krug oder in
den Geschäftsladen. Währenddessen verkauft die Ehehälfte die Ladung:
Sauerkirschen, das Liter zu 10 Pfennigen, Butter, Eier, Geflügel,
Küchengemüse.
Mit ihren weifsen Kopftüchern, langen, dunkelfarbigen Röcken,
dunkelbunten Leibchen, buntkantigen Schürzen unterscheiden sie sich
wenig von den deutschen Bauernfrauen überhaupt; viel mehr von den
modisch gekleideten feinen Stadtdamen.
Auch Schweine und Hühner, Torf und Holz, Heu und Kartoffeln,
Fleisch und Obst wird feilgeboten. Haben die Bäuerinnen ihren Vorrat
verkauft, so gehen auch sie in die Bazare und Verkaufsläden, Gegen-
13*
196 Die Masaren.
stände einhandeln. Da giebt es gleich auf dem Markte: Muschelkörbe
und Besen, Kleider und Hüte, Küchengeschirr und Möbel, Zierat und
Schmuck. Und an den Handwerkerhäusern bekundet ein Schild mit
Brezeln den Bäcker, mit Fleischstücken den Fleischer, mit Sarg den
Tischler, mit Schuhen den Schuhmacher, mit Mütze den Mützenhändler.
Ein Bad auf einer Stange, mit Gläsern behangen, kündet den fleilsig
besuchten Reihausschank, ein paar hebräische Zeichen den Treffpunkt
der Juden an. Neben dem zuweilen angebrachten „Schritt fahren" steht
po woli, wie auf manchen Grabplatten die Bezeichnungen für geboren
und gestorben in polnischer Sprache zu lesen sind; sonst sieht man
deutsche Strafsenschilder, deutsche Anschläge. Die masurische Sprache
selbst ist mehr Familiensprache. Sie tritt auf dem Markte zurück und
macht dem neugelernten Hochdeutsch Platz. Dies klingt mild und
einschmeichelnd, fast unterwürfig, und ganz anders wie die rauhe un-
metallische südwestlichere Mundart. Sie tönt singend, der letzte und
vorletzte Ton sind eine Sexte voneinander entfernt. Die dumpfe ost-
preulsische Aussprache (a für e): Barg, meine Harren, hat etwas
Patriarchalisches angenommen. — Durch die Stadt ziehen die Ulanen
mit Gesang zum Feldmarsch; hier sehen wir Kinder in die Beeren
gehen, dort fahren Bauernwagen aufs Dorf zurück; an die Pumpbrunnen
klebt man Ankündigungen. — In den Buchläden sieht es wie in allen
mittleren Städten aus. Ein paar Gymnasiastenschulbücher, einige Probe-
nummern, Geschäfts- und Gesangbücher, Patenbriefe und Ansichts-
postkarten decken das Bedürfnis der Leute, selbst provinzielle Literatur
fehlt fast ganz.
Von Lyck geht der Weg durch fruchtbare Felder nach Johannis-
burg. Diese am Pissekflusse liegende, 1345 angelegte Burg ist erst
im 16. Jahrhundert Stadt geworden und ist die einzige, die dem
Tatareneinfall erfolgreich begegnete. Heute sind die Festungswerke
nicht mehr sichtbar. Seit der Aufgabe der Garnison, deren Befehls-
haber 1797 bis 1799 York war, hat die Stadt ihre Bedeutung verloren.
Sie zählt heute etwa 3000 Einwohner, das Kirchspiel 12 000, von
denen ein Drittel Deutsche sind. Als die Philipponen im Johannis-
burger Forst Fufs fafsten, bestand für deren geistige Bedürfnisse eine
russische Druckerei in der Stadt; jetzt ist sie eingegangen.
Unsere westliche Fahrt führt uns nun durch die grofse Johannis-
burger Heide, die ziemlich 1000 qkm grols ist und 14 Oberförstereien
umfatst. In Rudczany verlassen wir die Eisenbahn, um diesen merk-
würdigen Ort zu betrachten, der uns mitten im Urwalde wie ein Stück
„im wilden Westen Nordamerikas" anmutet. Der Ort ist herrlich
zwischen dem Nieder- und dem Guszinsee gelegen. Wie es hier vor
Regulierung der Seen und vor Einführung der Bahn ausgesehen haben
mag, davon zeugen noch einige der ärmsten masurischen Holzhäuschen.
Auch der Bahnhof ist noch einfach und nicht vom Puppener oder
Schwentainer unterschieden, in welch letzterem Orte er den Glanzpunkt
Kudczany. Nieden.
197
Abb. 62.
d < ' ( ► d
* T
b £
d" » d
c
bildet. In Rudczany aber liegt gegenüber dem Bahnhof schon ein
richtiges Touristenhotel mit allen Bequemlichkeiten. Daneben baut
man steinerne Häuser, und unweit der Holzschneidemühlen und Bretter-
schrägen glänzen inmitten zierlicher Gärten die schönsten Villen. Ein
Ausflug in den Forst führt uns in die echte Masurei. Wir wandern
auf sandigem Wege durch den Wald nach Nieden. Kiefern und Laub-
bäume stehen durcheinander, Wacholdersträuche, wie kleine Cypressen
aussehend, machen das niedere Holz
aus. Die Menge der lockenden Erd-
und Schwarzbeeren wird von den
Dörflern wenig beachtet. Stein- und
Holzfahrer begegnen uns, bald wird
der Wald lichter, wir sehen Felder
mit jenen eigentümlichen Stroh-
feimen (Abb. 62), wie sie in ganz
Ostdeutschland heimisch sind. In
die vier Winkelpunkte eines etwa
8 m langen Quadrates sind 8 m hohe
Holzstämme eingerammt. Ein Holz-
oder Schindeldach ist so befestigt,
dafs es auf und nieder geschoben
werden kann und immer auf dem
Stroh aufliegt. Das auf Berg und
Hügel, im Thal und am See ge-
legene Dorf Nieden breitet sich vor
unseren Augen aus. Alle Häuser
sind von Holz, denn das ist hier das
billigste Baumaterial; meist sind
acht bis zehn glattgehobelte Stämme
im Gersats übereinander gelegt Giebelfenster in Munnm.
Am Schindeldach prangt als Giebel-
zier ein Kreuz, Stern, Gesicht, Reichsapfel, Eichen blatt, eine Krone
oder ein einfaches Brett (vergl. die Abbildungen 63, 64 und 70),
Vor den gedielten, reinlichen Häusern, denen die Wolkenvorhänge
selten mangeln, ist ein Gärtchen mit Kartoffeln, Bohnen, Mohn
(zu Mohnstriezeln), Blumen gelegen, ein Bretterzaun umgiebt es. —
Das Gerüst der Heufeime besteht aus drei pyramidenartig zu-
sammengestellten Stangen. Die Feldeinfassung ist einfach; in Ent-
fernung von etwa 8 m sind ll/2 m hohe Pfähle eingesetzt, die
mit zwei Latten oder Schwarten untereinander verbunden sind. Bei
den Zugängen stehen Zwieselpfähle enger, und man kann aus den
Gaffeln die Latten herausnehmen. Auf den Wiesen grünt üppiger
Klee, die Sommersonne liegt über der Flur; Königskerzen und Pech-
nelken, Glockenblumen und Fingerhut, Katzenpfötchen und Löwenzahn,
Klee und Schafgarbe, Gänseblume und Rainfarn färben den Wiesen-
Masurischer Strohspeicher.
a b steinerner Unterbau , 4 ra lang
und breit. — a Raum für Wagen
und Gerät. — b Kuhstall. — c an-
gebauter hölzerner Schuppen. —
d 6 m hohe Holzstämme mit auf-
schiebbarem , pyramidenförmigem
Dach.
Abb. 63.
198
Die Masuren.
teppich. An Kartoffelfeldern vorbei gelangen wir an den idyllischen
Niedersee. Inmitten prächtiger Laub- und Nadelwaldungen gelegen,
zieht sich dieser sichelförmig mehrere Kilometer lang durch den Forst.
Die gewaltige, ungestörte Ruhe, die grüne, blühende Umgebung, die
malerischen Wald in sein machen den fischreichen See zu einem beliebten
Ausflugsorte. Im Sommer befährt ein Dampfer allwöchentlich den See.
Die Fischerei, die sich besonders auf Maränen erstreckt, ruht in den
Händen eines reichen philipponi sehen Pächters, der den gewonnenen
Segen in die Umgegend und nach Polen verkauft. Nach Norden steht
der Niedersee durch eine Schleuse mit dem Guszinsee in Verbindung,
an dem das freundliche Guszianka mit seinen Schneidemühlen liegt.
Unter jenen Königseichen weilte einst Friedrich Wilhelm IV. und er-
Abb. 64.
Masuriflche Giebelzier in der Sensburger Gegend.
freute sich der lieblichen Gegend. Ein Ausflug in die Philipponen-
dörfer, jene eigentümlichen russischen Kolonieen, die vor 60 Jahren wie
ein Paradies aus der Waldöde entstanden, bringt viele Merkwürdig-
keiten. Ein Holzfahrer nimmt mich mit auf sein schütterndes Gefährt
und erzählt mir, wie dereinst hier alles undurchdringlicher Wald ge-
wesen sei, wie dann unter Friedrich Wilhelm IV. jene russischen Siedler
kamen, denen Ausübung ihres vom griechisch-katholischen nur wenig
abweichenden Glaubens zugestanden ward. Sie legten auf die Adiaphora
aber einen solchen Wert, dafs Streitigkeiten unvermeidlich waren. In
der Nähe sah ich ein seltenes Naturschauspiel. Ein 3 bis- 4 m hoher
und breiter Stein ist in der Mitte durchsprengt; eine Linde hat sich,
die Spalte erweiternd, ihren Weg gebahnt, hat das Licht erreicht und
den Stein durchwachsen. Der Stein ist ein erratischer Block, den die
skandinavischen Gletscher in der Eiszeit nach Masuren beförderten.
In der Umgegend von Weifsuhnen und von Lyck spielen auch
die Novellen Skowronneks. Wie Wiehert die Litauer, so hat Skowronnek
Charakter. 199
die Masuren mit Meisterschaft gezeichnet. Sie haben beide mehr
die Schattenseiten ihrer Völker gesehen, aber sie sind doch Künstler
genug, den Hintergrund getreulich abzumalen. Und Skowronnek hat
ja Beine Jugend im Masurenlande zugebracht (Fritz Skowronnek,
Masurenblut, 1899. — Polska Maria, 1888 etc.). Da sehen wir,
wenn wir seine Novellen lesen, den alten wackeligen Wegweiser an der
Stratsengabelung. Die Kinder machen daselbst Kreise oder Kaulchen
und spielen Klippe oder schlagen an, — um Knöpfe. Wer kleine
Hände und kleine Spannen hat, verliert natürlich leichter, und alle
feinen vergoldeten Glücksknöpfe, die das 30 fache der gewöhnlichen
gelten , gehen flöten. Der Knabe bekommt , da er die Knöpfe von den
Kleidern abgeschnitten hat, zu Hause noch den Strick zu kosten.
Dann macht man Räuber und Soldaten oder Indianerkampf in den be-
nachbarten Wäldern, fischt auch und legt Reusen. Mit zärtlicher
Liebe hängen die erwachsenen Kinder an den Eltern, selbst wenn sie
Geld zu Schnaps von den Kindern beanspruchen und von ihnen ernährt
sein wollen. Die Alten suchen die Arbeit gern zu meiden, gehen lieber
als Schäfer mit Schalmei und Klingerstock oder sitzen am Rande und
singen geistliche Bettellieder um Geld, Speck, Schnaps, Brot. Der
Schnaps ist natürlich eine Hauptlabe; jung und alt, Mann und Weib
trinken ihn in Masse, denn „Gott hat ihn geschaffen, und weshalb ist
der Winter so kalt und der Weg so weit?** Holz- und Felddiebstahl
ist keine Sünde und ein paar Wochen im „ roten Haus" keine Schande.
Die Subalternbeamten sind kleine Götter und dünken sich gleich den
alten Panen wie Herren über Leben und Tod, weniger die „Herren Wohl-
thäter". Aber der Masur weifs sich zu helfen. Mit einer slawischen
Unterwürfigkeit küfst er die Hand des Herrn Wohlthäters und thut
ganz zerknickt und bittet schliefslich doch um eine Wohlthat und dreht
dann hinterm Rücken dem Herrn Wohlthäter eine Nase, maust ihm
seinen Hund, verkauft das dem Herrn gestohlene Holz und kommt den
anderen Tag mit genau derselben Unterwürfigkeit zum Herrn Wohl-
thäter, und auch vier Wochen danach wieder, nachdem er gesessen hat.
In seiner bilderreichen Sprache häuft der Masur Sprichwort auf Sprich-
wort und dichtet Redensart auf Redensart mit den anheimelnden Ver-
kleinerungssilben, mein Gottchen, mein Pferdchen. Sein ganzes dürftiges
Wissen ist eigentlich nur eine ziemliche Menge Schlauheit und Unver-
frorenheit, aber er hält sich für hoch erhaben gegenüber dem Polen von
drüben her; er flieht niemals hinüber, wohl aber kommt mancher von
drüben zu ihm. Das junge Mädchen wird wie die Blume verehrt, das
alte Weib gescholten, geschlagen, scheufslich behandelt und mit Arbeit
belastet. Aber das alte Weib ist schlau und witzig genug, mit dieser
Thatsache zu rechnen, sie weifs ihren Vorteil trotzdem zu ziehen, ein
Kleid zu erangeln, unbeobachtet zu faulenzen, die Kohlen für sich aus
dem Feuer holen zu lassen und — Schnaps zu trinken. Für eine
Beleidigung würde es die alte Jungfer ansehen, kein Kind in der
200 Die Masuren.
Jagend gehabt zu haben, im Gegenteil, „einen Jungen Edelmann" und
„ich bin doch nicht etwa so hälslich gewesen, dals mich keiner gemocht
hatte". Da ziehen sie vor uns vorüber: das Nähmädchen, die allmäh-
lich in allen Familienklatsch und in alle Familiengeheimnisse der klein-
städtischen Gesellschaft eingeweiht wird und dem geistigen Hochmut
und der Cliquenwirtschaft ihrer Brotgeber ebenso gewachsen ist wie
deren Prüderie; die alte Bettelfrau mit der Schnapsflasche im Brotkorb,
die sofort zu singen aufhört, wenn der Vorübergehende keinen geber-
haften Eindruck erweckt; der tödlich beleidigte Vater, der nur im Mord
des Todfeindes die rechte Rache sieht; die Sekte des Gromadki und
der Wassertrinker, die mit ihren guten Grundsätzen mehr Schaden als
Nutzen anrichten und den alten Adam nicht einmal in ihrer eigenen
Haut mit allen Sünden und bösen Lüsten ersäufen können; der ver-
bummelte Akademiker, der hülfbereite Oberförster, die kulturbringenden
Chausseebauer, der milde Herr Pastor, der nie die Hoffnung aufgiebt»
Wir sehen die undurchdringlichen Wälder, durchheult von der Winds-
braut („der Eilung"), die fischreichen Seen, wir sind zugegen beim
Erntefest. „Es war doch von alters her Brauch. Einige Schüsseln
mit geschmortem Fleisch, ein Berg Kartoffeln dazu. Dann kam das
Hauptgericht: Fisch. Es gehörte aber eine gewaltige Menge Fische
(die „Erntefische") aller Art dazu, um diesen Gang zu bestreiten, denn
es waren immerhin 10 bis 12 Familien, natürlich einschlief slich sämt-
licher Sprossen, die satt gemacht werden mufsteu. Zum Scblufs gab
es noch ein paar mächtige Schüsseln Reis mit Zimt und brauner
Butter. Brot, Kuchen und Schnaps vervollständigten das Menü. —
Und dann wurde auf dem glatten Boden des Hofes nach dem Klange
einer Fiedel oder Handharmonika getanzt. tt — Wir sehen die Weiber vor
einer eben vom Blitz erschlagenen Frau. „Strafe Gottes, Frau Wohl-
thäterin, Strafe Gottes! Haben Sie nicht gesagt: Geht nicht voraus,
wartet das Gewitter ab? Aber Frau Wohlthäterin , das war ihr be-
stimmt, sie mufste gehen, der Schwarze wartete schon auf sie. Der
liebe Gott hat sie gestraft, alle drei! Der Pietsch sitzt, der Burdeyko
fault in Frankreich" (1870 gefallen), „und sie hat der Blitz erschlagen."
Nun war der Strom entfesselt: Die eine hatte gesehen, wie eine grofse
schwarze Kugel von dem Munde der Toten blitzschnell, als der Wagen
hielt, über die Straf se rollte und in der Schonung auf der anderen
Seite verschwand; eine andere behauptete steif und fest, das wäre ein
Tier gewesen, wie ein Eichkater so grofs, aber von der Gestalt einer
Eidechse; die dritte versicherte, deutlich gesehen zu haben, wie die
Tote sich kurz vor den Pferden ganz umgedreht hatte. Wir sehen
den Masuren bei der Sonntagstoilette. „Jan Gerlitzki hatte sein
Rasiermesser auf dem Leibriemen geschärft und ging gegen die 14 Tage
alten Bartstoppeln so energisch vor, dals er sich das Gesicht mit
Schwammstückchen bekleben mufste. Dann schmierte er die langen
Stiefel mit Thran, dafs sie glänzten, band sich ein schwarzes Tuch
Skowronneks Masurenblut. 201
um den Hals and zog sich den langen, grauen Wandrock an. — Sie
warf das schmutzige Kopftuch ab, salbte die grauen Haarsträhne mit
Fett und zog sich einen Scheitel. In düsterem Schweigen wanderte
das Paar zur Försterei. — Das wäre so eine Schonung für dich, wenn
du mit einem Stof Schnaps schlafen gehen willst (sprach er). — (Sie:)
Du kannst recht haben. tf
Wir sehen auch den verkommenen Reichen, den Tagedieb, sterben,
wie er erat Männerchen tanzen sieht und, bevor sie ihn nach der An-
stalt bringen, sich am Halstuch an den Nagel hängt.
Und dann steht der Schweinedieb wieder vor uns, der eben ab-
geführt werden soll. „Onkelchen (sagt Jan), wohin führen sie den
Vater?" — Das ist ja nicht dein Vater ... der ... — Da ging's los:
„Lieber Herr Wohlthäter, weshalb schlagen sie den Jan? Der Jan,
das ist ein dummer Junge ... nicht wahr, Frau Bobrowska? Das hab
ich ja immer gesagt, der Jan, der wird noch einmal mit dem Kopf
gegen die Wand rennen. Aber Herr Wohlthäter, ein blindes Huhn
findet manchmal auch ein Korn, und der dümmste Ochse giebt auch
einen Braten ab. Und, Herr Wohlthäter, ich bitte viel tausendmal um
Entschuldigung , weshalb soll der Junge nicht sagen, was alle sagen?
Jan, küls dem Herrn Wohlthäter die Hand, er wird dich das nächste
Mal nicht aufschreiben, wenn du Holz geholt hast ohne Zettel." Es
ist zwar kein erfreuliches Bild, was Skowronnek in seinem „Masuren-
blut" und in anderen Novellen von seinen Landsleuten entwirft, aber
ein farbreiches und durchaus kein abscheuliches, wenn man bedenkt,
dals er im allgemeinen die untersten Schichten zeichnet.
Das Kirchspiel Altukta ward erst 1846 gegründet, ist also
jünger als die Philipponenkirchen, und die häfslichen Streitigkeiten, die
der so wackere Pfarrer Kandziora mit den fremden Glaubensgenossen
über den Dezem führte, wären gewifs nie zu solcher Höhe gediehen,
wenn die Ansiedelungsbedingungen sicherer festgelegt worden wären.
Wenn auch das Endurteil gesetzlich gegen die Philipponen entschied,
so konnte es ihnen doch nicht einleuchtend sein. Sie hatten keine
Ahnung von einer Klausel, die ihr selbst gegründetes Kirchspiel einem
später gegründeten evangelischen unterordnen würde.
Unser Dampfer aber trage uns weiter über den Beldabnsee zu den
Örtchen Wigrinnen und Schwignainen. Gegenüber liegen die ersten
philipponischen Gründungen Piasken und Onufrigowen. Den ganzen
Süden der benachbarten Kreise füllen grolse Waldungen aus; einzelne
Kirchspiele zählen aulser den paar Beamten fast nur Masuren, so an
der Grenz« Opalenietz bei Willenberg. Unter 2045 Seelen sind 1993
Masuren. Das Kirchspiel hat fünf Schulen mit sieben Lehrern. Einige
Gebräuche, wie sie gerade hier herrschen, seien erwähnt. Hier gehen
noch überall ein oder zwei Hochzeitsbitter, oder sie reiten, die Mütze
mit Bändern geschmückt, um ihre Einladungsverse herzusagen. Bei
der Braut fahrt sitzt der Bitter auf dem letzten Wagen und knallt
202 Die Masaren.
mächtig mit seiner Bänderpeitsche. Beim Hochzeitsmahle sorgt er
dafür, dals jeder gut bewirtet wird.
Bei Begräbnissen legt man eine Axt vor die Schwelle der Haus-
flur. Das Leichenwaschwasser wirft man mit dem Gefäls gegen das
Rad des Leichenwagens oder läfst es überfahren. Beim Leichenf ort-
fahren läfst man des Verstorbenen Haustiere aus den Ställen.
In der Adventszeit gehen die Dorfbewohner auch hier mit dem
Stern. Eine bewegliche Papierlampe in Sternform, mit rotem oder
buntem Papier beklebt und durch eine Schnur zum Bewegen geeignet
gemacht, wird an einem Stängchen getragen. Zwei bis sechs Personen
ziehen mit einem solchen Stern vor das Schulhaus, begleitet von einer
Menge Menschen. Auf dem Zuge singt man geistliche Lieder und
ebenso vor der Schule. Dort hält wohl der Lehrer noch eine Ansprache;
dann werden die Lämpchen ausgelöscht und es geht nach Hause.
Vom Beldahnsee gelangen wir in den grofsen Spirdingsee und nach
dem malerischen Nikolaiken, das die besten Maränen in den Handel
bringt. Es hat 2500 Einwohner, das Kirchspiel 8000, die Hälfte ist
deutsch. Hoch sind die Ufer des Sees, an den sich die kleinen Häus-
chen anschmiegen.
Vom Taltersee erreichen wir, durch den Löwentinsee fahrend,
Lötzen. Dies kann als Mittelpunkt des Seengebietes gelten. Von hier
aus gehen die Veranstaltungen, Masuren dem Fremdenverkehr zu er-
schlief8en.
1337 wurde in dieser Gegend eine Ordensburg gegründet, nach
anderen wurde das Schlots schon 1285 erbaut. 1361 brannte Grols-
fürst Keistutt von Litauen die Stadt nieder, 1573 erhielt sie Stadtrecht.
Von den Tataren und der Pest blieb sie ebensowenig verschont wie
die anderen Städte, dann aber blühte Lötzen auf und hat gegenwärtig
7000 Einwohner, das Kirchspiel 11 000, davon sind zwei Drittel Deut-
sche. Progymnasium, Präparandenanstalt und Militär heben die an-
genehm gelegene Stadt noch mehr. — Bei einer Fahrt durch den
Mauersee mit seinen lieblichen Inseln erblicken wir die Angerburger
Türme. Hier sind nur noch Reste des Masurentums zu finden. Auch
das Litauische ist vollständig verschwunden, der Gottesdienst wird
nur noch selten in polnischer Sprache abgehalten. Die Stadt hat
etwa 5000 Einwohner, ist gleichfalls eine alte Ordensburg und nennt
den Gelehrten Georg Andreas Helwing unter seinen berühmten
Söhnen.
Ein Ausflug nach der masurischen Schweiz und dem Tannen-
berger Schlachtfelde führt uns über Kutten, wo Pogarzelski als
Rektor wirkte, und über Pillacken nach dem 200m hohen Turmberge.
Hier überblickt man das schöne, seenreiche Land.
Pogarzelski geniefst nicht den literarischen Ruhm eines Dona-
li tius oder Rhesa, aber er ist bei seinen Landsleuten noch heute
volkstümlich. Deshalb sei einiges über ihn mitgeteilt
Pogarzelskis Jugend. 203
Michael Pogarzelski wurde am 4. September 1737 zuLepaken,
eine Meile westlich von Lyck, zwei Meilen östlich von seinem späteren
Wirkungskreise Kalinowen, geboren. Das Geschlecht der Pogarzelski
oder Pogarselius hatte dem Lande schon mehrere Priester gegeben.
So unterschrieb einer, Hieron ymns, 1579 die Eonkordienf ormel , ein
anderer, Nicol, starb 1602 als Angerburger Diakonus, ein dritter,
Johannes, war 1625 Pfarrer in Wielitzki. Nach der Sitte jener Zeit
hatte er viele Taufzeugen, nämlich sechs, darunter war der Landschöffe
Roggon, der Student Wengoborski und andere Bekannte und Ver-
wandte, die am 8. September, am 12. Trinitatissonntage, der Taufrede
des Pfarrers Andreas Wedeke in der Grabniker Kirche lauschten. Die
Mutter hiefs Maria Dolenga ; der Vater, von dessen Nachkommen noch
kürzlich einer in Lepaken lebte, führte den Namen Albert und war
ein Eölmer oder Freibauer. Freilich war er ein armer Eölmer, wie des
Donalitius Vater. Wenn auch frei von drückenden Abgaben und dem
lästigen Scharwerk, bewirtschaftete er doch mit eigener Hand sein Gut
und pflegte wie die unbemittelten kaschübiscben Pane und litauischen
Bojaren seine Scholle, um dem ärmlichen Boden mit jedem neuen Jahre
kärglichen Ertrag zur Fristung des Lebens abzugewinnen. Die Einder
wuchsen in der Wirtschaft und beim Vieh ohne Schulunterricht auf,
und nur ein höheres Streben hat den oder jenen Eölmersohn vermocht,
die Schranken kleinlicher Verhältnisse zu durchbrechen und die ge-
bildete Welt um ein brauchbares, kräftiges Glied zu vermehren. Wie
schwer damals diese Schranke zu überwinden war, lehrt ein Hinblick
auf die gesamten wirtschaftlichen und geistigen Verhältnisse Masurens.
Das südliche Ostpreufsen, Masuren, war im allgemeinen immer noch,
was es zur Ritterzeit war, eine grofse Wald wüste. Als Friedrich
Wilhelm L 1723 hier Posten einrichten wollte, stellte das Generalfinanz-
direktorium vor, dies sei kaum möglich: „In den öden von Raubtieren
durchstreiften Heiden sei oft auf 10 bis 12 Meilen Weges kein Haus
anzutreffen, an ordentlichen Straf sen, Brücken und Dämmen gebräche
es fast gänzlich, Raubgesindel mache namentlich in der Nähe der polni-
schen Grenze die Gegenden unsicher, und die Posten in den pfadlosen
Dickichten und Sümpfen bei Nacht gehen zu lassen, daran sei gar
nicht zu denken. " Aufser wenigen Strafsen führten durch die Wildnis
nur Wege, die wenig betreten und schwer zu finden waren. Wenn
sich auch nicht mehr ganze Heere, wie zur Ordenszeit, in den Wäldern
verirren und nach mehrtägigem ziellosen Wandern mit Feinden, Wege-
lagerern, Strutern zusammengeraten konnten, so vermochte doch auch
jetzt der einzelne nur schwer fortzukommen, Lebensmittel mufste man
für Tage mitnehmen und war immer dem Überfall von Räubern und
Raubtieren ausgesetzt. Nachdem man in den Waldlichtungen Stubben
gerodet, Teer geschwelt, Eohlen gebrannt und das Land geebnet hatte,
gab es wohl Feldgrundstücke; aber noch 1817 berichtet Rosen wall, der
Boden sei doch durchaus schlecht, bringe nur Roggen, Hafer und
204 Die Masuren.
Heidekorn hervor, Vieh und Pferde seien sehr klein. Die Dörfchen
selbst lagen meilenweit auseinander, und ein Kirchspiel war mehrere
Quadratmeilen grofs.
So unwirtlich der dichte Wald für den Menschen war, so wohl
fühlte sich die Tierwelt darin. Und wie reich war diese. Wilde Pferde
werden ein Jahrhundert vorher noch erwähnt, die letzten sollen erst
vor 100 Jahren gefangen worden sein. 1883 ward noch ein Aueroch s
an der Szeszuppe, 1804 ein Bär im Puppener Forst, 1869 ein Luchs
bei Jakunowken erlegt. 1819 wurden noch viele Wölfe in Ostpreulsen
geschossen, und auch heute verirrt sich wohl einmal noch Freund
Isegrim von den polnischen in die masurischen Wälder. Die Elche
sind zwar nicht mehr Jagdtiere, werden jedoch noch in einer Stärke
von 400 Stück in ostpreufsischen Wäldern gehegt. Im achtzehnten
Jahrhundert aber waren alle diese Tiere noch in Hülle und Fülle
vorhanden.
Unter Friedrich Wilhelm I. war nun allerdings viel für die Kultur
Masurens und ganz Ostpreufsens geschehen. Wie er trotz des oben
erwähnten ungünstigen Berichtes Posten in Ostpreulsen einführte, so
war er auch unermüdlich darauf bedacht, neue Ansiedler zur Kultivie-
rung des Landes herbeizuziehen, sie durch Steuererlafs , Zuwendung
von Ackergeräten, Samen, Freiholz im Lande festzuhalten und ihnen
Teilnahme an den Segnungen der Kultur zu erleichtern. Der Schaden,
den die Tatareneinfälle 1656 brachten, war schon teilweise überwunden,
die Verluste im Pestjahre 1709/10 wurden durch Herbeirufung der
Salzburger wett gemacht; für den Unterricht des masurischen Volkes
und zur Gewinnung von Predigern und Lehrern hatte er 1728 das
polnische Seminar in Königsberg gestiftet; Friedrich der Grofse weilte
als Kronprinz oft mit seinem Vater in Ostpreulsen.
Pogarzelski wuchs nun im väterlichen Hause auf. Noch erinnerte
ein Tatarenpfeil in der Kirchenfahne an jene trostlose Zeit, wo die
wilden Horden Tausende um Hab und Gut, Eltern und Heimat brachten.
Michael selbst sollte bald ähnliche traurige Zeiten sehen; vorläufig
ging es ihm ja gut. Der Pfarrer Drigalski in Stradaunen, der seine
musikalische Begabung und seinen Lerneifer erkannte, setzte es durch,
dafs der Knabe in die Lycker Schule gehen konnte. Diese Schule,
1546 gegründet, 1707 neu aufgebaut, bereitete zur Universität vor
und pflegte neben klassischen besonders die polnische Sprache. Ljck
war schon damals der Mittelpunkt Masurens. Bei Einführung der
Reformation durch Paul Speratus war die Bewohnerschaft noch ganz
polnisch, erst 1584 wurde deutsche Predigt neben polnischer eingeführt.
„Es ist ein offener und schlecht gebauter, aber doch nahrhafter Ort",
sagt Hartknoch 1684. Nach der Pest 1710 hatte es von 2000 Ein-
wohnern nur noch 700, aber trotz mehrerer Feuersbrünste hob sich
die Stadt, die einen reichen Marktverkehr hat, bald wieder. Pogar-
zelski selbst hat über seinen Lycker Aufenthalt nichts erwähnt. Er
Pogarzelski in Königsberg. 205
wird wohl freudvoller gewesen sein als der Königsberger, von dem er
erzählt: „Nach dem Tode meines Yaters begab ich mich aus inner-
lichem Triebe nach Königsberg. Zuerst war ich bei den Studenten
auf dem Collegio Albertino, all wo ich viel Not ausstehen mulste, her-
nach kam ich in das Altstädtische Pauperhaus und im Jahre 1761 qua
civis Academ. inscribiret h. t. Rector Acad. fuit Prof. Roescias Bock u.
Theol. Decanus Herr Consistorialrath Bock." Dem Lepakener Kölmer-
sohn ging es wie dem Lasdinehlener. Die geistige Metropole Ostpreulsens
übt einen unwiderstehlichen Zauber aus. Das Collegium Albertinum
und das Pauperhaus bietet beiden so wenig körperliche und so viel
geistige Nahrung; wahrscheinlich gaben beide Privatstunden , denn es
bleibt doch eigentümlich, dafs sie die Universität so spät bezogen.
Pogarzelski hat sich übrigens in seinen Aufzeichnungen geirrt, der
Immatrikulationsvermerk lautet wörtlich: „25. Aug. 1762. Michael
Pogarzelski Lycca Bor." Die Studienzeit unseres jungen Theologen
fällt also in jene Jahre, die Hasenkamp in seinem Werke, „Ostpreufsen
unter dem Doppelaar" so trefflich geschildert hat. Der russische
Doppeladler prangte an den öffentlichen Gebäuden, das Volk feierte
auf Befehl des Petersburger Hofes die russischen Siegesfeste und
Familientage der kaiserlichen Familie, die Königsberger Gesellschaft
fühlte sich im Umgang mit den russischen Offizieren geschmeichelt und
ertrug das milde Regiment des Eroberers, wie Friedrich derGrofse meint,
lieber, als dafs es zu seinem angestammten Königshause gern zurück-
gekehrt wäre. So vorteilhaft auch die Lage des im Frieden befind-
lichen Landes gegenüber den anderen, den Kriegsunfällen ausgesetzten
Provinzen war, so fanden sich aber doch auch in Preufsen und in
Königsberg genug Leute, die im Herzen und auch öffentlich ihrem
Könige die Treue wahrten. Das Beispiel von Donalitius ward bereits S. 53
erwähnt. In Königsberg selbst predigte am 22. August 1759, den die
Russen als Sieg von Kunersdorf feierten und der in Königsberg durch
Gottesdienst begangen werden mulste, der Hofprediger Arnold über
die Pflicht der Sieger und Besiegten, warnte jene vor Trotz, letztere
vor Verzagtheit und rief aus: „Freue dich nicht, meine Feindin, dafs
ich daniederliege." Als er widerrufen sollte, schrieen die Studenten
bei Beginn des Widerrufs in der Kirche „Feuer!" und alles flüchtete
aus der Kirche, so dafs der Widerruf unterblieb. Drigalski rottete sich
sogar mit seinen Stradauner Bauern zusammen, um die Plünderer zu
vertreiben.
So fleifsig Pogarzelski studierte, die deutsche Sprache erlernte er
nie richtig, er radebreche fort und fort und erhielt trotz vollendeten
Studiums, da er nur polnisch verstand, keirife Pfarre. Da nahm er
1769 die Ragniter Organistenstelle an. Weil er besser Orgel spielte
als der Kantor und ein geschätzter Unterhalter war, konnte er die
brotlose Stelle leicht ertragen. Drigalskis Schwager, der Erzpriester
Fiedler in Ragnit, der selbst eine Masurin zur Frau hatte, verschaffte
206 Die Masuren.
ihm Freitische. Mit der Frau Erzpriester konnte er nach Herzenslust
masurisch sprechen, und die deutsch- litauischen Ragniter ergötzten sich
über seine Schnurren. Er äufserte einmal, saurer Kumst, die masurisch e
Nationalkost, sei seine Lieblingsspeise. Überall, wohin er nun kam,
setzte man ihm Sauerkraut und Schweinefleisch vor, und der Organist
langte wacker zu. „Anno 1769 im Januar erhielt ich die Vokation
als Schulcollega und Organist nach Ragnit, von da wiederum 1772 qua
Rector wider meinen Willen durch falsche Briefe nach Kutten bei
Anger bürg versetzt."
Es ist merkwürdig, dafs er die Kuttener Berufung durchaus nicht
freudig erwähnt. Hier gerade entfaltete er sein Masurentum ganz,
hier sprach man noch durchaus seine Muttersprache. Hat ihm vielleicht
die höhere deutsche und städtische Kultur in Königsberg und Ragnit
nicht doch besser gefallen?
Als Pastor hatte hier B. Drigalski, wohl ein Verwandter des
Stradauner Pf arrers, seines Gönners, gelebt. Noch erinnerte ein Epitaph
an ihn, das er seinen drei Frauen hatte setzen lassen, noch war im
Chor jenes eigentümliche Bild zu sehen, das Drigalski zum Andenken
an seine während der Pest verstorbene Frau hatte malen lassen. In-
mitten frisch gegrabener Gräber und zahlloser Leichen reitet der Tod
mit der Sense auf hohem Rots; ein Leichenzug daneben erhöht den
grausigen Eindruck.
Neben seiner Schulthätigkeit predigte Pogarzelski vielfach und
versah auch die Wirtschaft. Im Winter, Spätherbst und Frühling war
der Verkehr mit der Auf sen weit so ziemlich abgeschnitten. Man darf
selbst jetzt bei schlechtem Wetter nur einen masurischen Dorfweg im
Herbst sehen, und man wird die Verse des Dichters Wort für Wort
nachempfinden, der um jene Zeit von den Dörfern an der Rominter
Heide sang:
Seht, wie die Sonne, von uns sich wieder entfernend, dahinrollt,
Und sich weiter und weiter von uns zum Abend hinabsenkt.
Seht, mit jedem Tage verbirgt ihre Strahlen sie mehr uns,
Und es strecken die Schatten mit jedem Tage sich länger.
Schon beginnen die Winde allmählich die Flügel zu rühren,
Fegen das letzte von Wärme hinweg, hohl sausend und brausend,
Also dafs auch die Milde der Luft gar schnell sich verlieret,
Und es das Alter mahnt, hervor die Pelze zu suchen.
Mütterchen schickt's mit dem zitternden Greis an den wärmenden Ofen.
Andre auch treibt die Kälte hinein in die trauliche Stube,
Um sich an warmer Suppe und anderem Heifsen zu laben.
Überall ist die Erde durchweicht, und Thränen vergiefst sie,
Reifsen ihr unsere Räder entzwei den wäfsrigen Rücken.
Wo vorher zwei Klepper bequem fortzogen die Lastfuhr,
Ist es zur Zeit nicht eben leicht zu fahren mit Vierspann.
Knarrend dreht sich das Rad auf der Achse schwer und mühsam,
Reifst zähflüssige Stücke heraus und läfst sie dann fallen.
Sehet, die Ackerrücken sind ganz im Wasser verschwunden.
Schwere Tropfen des Regens zerklopfen den Leuten den Rücken;
Pogarzelskis Dichtweise. 207
Bastschuh und alte Stiefel saugen von Wasser sich voll ganz
Und durchkneten den Kot wie Teig beim mühsamen Schreiten.
(Donalitius, Gaben des Herbstes, V. 1 ff. — Passarge, 8. 83 f.)
So sah es auch 1778 in Kutten aus, als der vierspännige Wagen
eines inspizierenden hohen Beamten im ellentiefen Morast des dortigen
Dorfweges stecken blieb und zerbrach. Pogarzelski sprang herzu,
besserte das Bad aus, bewirtete den Herrn, unterhielt ihn in seiner
originellen Derbheit und bekam dann Anwartschaft auf eine Pfarre.
Schon als Rektor predigte er und dichtete für sein Volk. Die masurische
Volksliederdichtung ist nicht umfangreich, weist aber dennoch eine
Anzahl hübscher Lieder auf. In ihrer weichen Art stehen diese mitten
inne zwischen den litauischen und polnischen. Die zahlreichen Ver-
kleinerungssilben, die Bilder aus dem Tierleben und den einfachen
Vorgängen in Haus und Hof verleihen diesen Liedern einen natürlichen
Reiz. Wenn der Masure die Vogelhochzeit oder die zurückgewiesene
oder angenommene Werbung schildert, wenn er eine Entführung, die
Untreue oder den Verlust der Geliebten besingt, klingt überall das
weiche zurückhaltende Gemüt durch die bilderreiche Sprache. Im
Gegensatz zur Volkslieddichtung ist die poesiereiche deutsche Dichtung
des masurischen Präzentors unbeholfen. Man vergleiche die folgenden
Dichtungen! Im richtigen Gebrauche der deutschen Grammatik sind
diese zweisprachigen Grenzbewohner sehr schwankend, und selbst
studierten Leuten ist bei langem Leben inmitten der masurischen Land«
bevölkerung das gute Deutsch verloren gegangen. Zum Sprachen-
gemisch gesellt sich eine eigene Verquickung der Konfessionen. Pogar-
zelski läfst ruhig den heiligen Xaverius, den Genossen Loyolas, eine
Rolle bei der Auferstehung spielen. Der Gottesdienst ist ceremonieller,
das Einhalten der Heiligentage war früher an der Tagesordnung, und
1834 benutzten beispielsweise Evangelische und Katholische in Orteis-
bürg dieselbe Kirche. — Es folgen nach zwei Volksliedern Dichtungen
Pogarzelskis.
Verlangen.
„Schönes Mädchen, ich liebe dich,
Bleib bei mir, erhöre mich."
„Als goldne Ente entflieg ich dir,
Und such ein Nest im Walde mir.u
„Ich folg dir als goldner Enterich bald,
Zum fernen Nest im düstern \Vald.u
„Ich fahre als Fisch in den See hinein,
Ich kann ja nimmer die Deine sein.**
„In einen Fischer verwandle ich mich,
Mit Netzen und Angeln fang ich dich ! M
„Ich springe als Hase im schnellen Lauf,
Das Thal hinab, den Berg hinauf."
„Ich folg dir als Windhund hinterdrein,
Denn mein, o Mädchen, mufst du doch sein!"
208 Die Masuren.
Hans und Käte.
Aus fremdem Lande kam er herein,
Bethörte so schnell ein Mägdelein.
Sie spannt die Rosse dem Wagen vor,
Die aber wollen nicht durchs Thor.
„Und nimm des Silbers in Fälle, o Maid!" —
Sie zogen wohl 30 Meilen weit.
Sie zogen wohl 30 Meilen fort
Und sprachen nicht ein einziges Wort.
»Ist denn dein liebes Ländchen noch weit?«
Sprach Kätchen zu Hänschen voller Leid.
„Was fragst du nach dem Ländchen mein?
Bald wirst du im Röhricht der Donau sein!"
Da kamen sie an im neuen Haus,
„Nun zieh den fränkischen Putz mir aus!"
Und er nimmt ihr den Ring vom Fingerlein,
Und wirft sie in die Donau hinein.
»Hilf, Hänschen«, so ruft sie mit jammerndem Mund.
„Ich warf dich ins Wasser, nun mifs mir den Grund!" —
Das hört auf dem Schlofs ihr Bruder nur,
Der läfst sich herab an seidener Schnur.
„Was hast du gethan, o Schwesterlein,
Entflohest dem Yater, der Mutter dein?"
»Ach, bricht die ganze Welt nicht ein,
So kehr ich noch heute zum Mütterlein.«
Leichenpredigt Pogarzelskis 1).
O weh dir, Ortelsburgs Gemein!
Du hast verloren den Pfarrer dein!
Maul zu, was hat gelehret Gott,
Geschlossen ist das Auge, tott.
So blüht im Garten Rosenstock,
Springt zu, frifst ab der Ziegenbock :
So frafs auch mittn im Lebenslauf,
Der Tott den seeigen Pfarrer auf.
Nun liegt er da auf Gottesacker,
Pfui, Tott — du Rackjer!
Kreuz Jammer und Hellend sind die drei Windhund menschlichen
Lebens, mit was wird Mensch geätzet und gejaget, wie Äsen auf
Bartolomäus Jagd. Sobald uns Feuermörser mutterlichen Leibes an
das Welt schmeifst, so lassen wir vor uns hergehen Klagen und Angst-
trillers; da laufen die Thränen von Dachrinnen unserer Augen, wie
Buttermilch aus zerplatzt Butterfals, und wenn wir sich haben lang
genug wie kleines Maulskätzchen gewärmt an Feuerherd dieser Erde,
kommt zuletzt Koch Tott, schmeifst uns in Kessel des Grabes, wie
polnische Krebse, da wir müssen so lange verkuliren, bis nicks mehr
is von uns wie And voll Dreck.
Quid est vita humana? Was ist menschlich Lebben? Menschlich
Lebben is Wind zu, Pur ! consummatum (!) est. — Quid est vita
l) Leichenpredigt für Pfarrer Ragowski in Orteisburg (f 9. April 1780).
Vgl. Neue preufs. Prov. Bl. V, 185. Königsberg 1848.
Leichenpredigt Pogarzelski*. 209
humana? Was ist mentschlich Lebben? Menschlich Lebben is Theer-
pudel am Wagen: schlicker an schlacker, schlicker an schlacker: Bums!
liegt auf Erde. Item quid est vita humana? Was is menschlich
Lebben? Menschlich Lebben ist baufällig Strohdach, kommt Wind,
berdaucks fällts um.
Lenken wir unsere Gedanken zu selig verstorbenen» was Wunder
wenn wir lassen halb Battaljon Seufzer aufmarschieren aus Corps de
Garde unseres Herzens. War er gleichsam Wegweiser auf Kreuzweg
des Lebens schmalen Weg zeigend, und sein purpurfarbiges Antlitz
glänzte wie Pamuchelskopf im Mondschein. War er gleichsam Last-
haus von unsere Gemein, darinn wir sich kannten nach herzenslust
verlustieren. War er gleichsam Brotpfanne, darein das feine Mehl
wahren Glaubens wurde gebacken; er erhob seine Stimme wie alter
Garnisons Drummel, und seine Worte durchdrangen alle Ohren, wie
schön ausgespieltes Brummtopf. Nun lassen wir unsern selig Ver-
storbenen in seinem hölzernen Schlafrock, wie ein Eatz im Windel-
hemde, so lange ruhn, bis heiliger Xaverius ihn reilsen wird mit den
Zangen des Verdienstes aus seinem düsteren Grabe. Amen. —
Humorvoll zeigte er sich auch beim Bewerbungsgesuch und
Examen.
Im Todesjahre des Donalitius, am 5. September 1780, wurde
Pogarzelski, nach seinen eigenen Aufzeichnungen, als Pfarrer in Kali-
nowen vom Erzpriester Gisevius im Beisein verschiedener Pfarrer der
Umgegend und des Deputierten vom Justizkollegium eingeführt. Mit
einem kurzen Gebet bittet er in der Kirchenchronik, Gott möge ihn in
seiner Güte erhalten und schreibt ins Trauregister die Verse:
Zuvor gethan, hernach bedacht,
Hat mancher viel davon geklagt.
Drum eile nicht, erwäge doch,-
"Wenn du schon gehst, so sinne noch:
Ist auch die reine Liebe da?
Ist das? Bo sag mit Freuden ja.
Das Sterberegister 1781 beginnt er mit den Worten:
„Kein Kraut vorm Tod gewachsen ist,
Bedenk dies, o mein treuer Christ,
Und schicke dich zum Sterben an,
Bo hast du gut und wohl gethan."
Diese wenigen Zeilen beweisen, dafs Pogarzelski auch gut deutsch
schreiben konnte, und dafs bei den angeführten Stücken die Aussprache
und die mündliche, fortgesetzte Überlieferung ihr Teil beigetragen
haben, den Worten des Pfarrers eine neue Schattierung zu geben.
Kalinowen war damals fast rein masurisch, es werden noch heute,
da doch der Ort nahe an die Sprachgrenze gerückt erscheint, unter
13 890 Bewohnern 7200 Polen gezählt. Aufser dem Kirchendienst
hatte er auch der Oberaufsicht über die Schulen zu genügen, deren
Tetzner, Die 81awen in Deutschland. 14
210
Die Masuren.
Zahl jetzt auf 22 gestiegen ist. Die Einnahme bestand in den Ertrag-
nissen des grolsen Pfarrgutes, das 69ha und 20a umfafst, so dafs
leicht ersichtlich ist, wie eifrig der neue Pfarrer nicht nur geistlich,
sondern auch in platter Wirklichkeit Säemann sein mulste.
Die Ealinowener Kirche hatte ihre Geschichte. Sie stammte aus
der katholischen Zeit, Markgraf Albrecht dotierte sie 1561 reichlich,
1656 brennen sie die Tataren nieder und führen den Pfarrer Bara-
novius mit Familie fort. Sie sollen ihm die Kopfhaut herunter-
geschnitten, eine Schafbockskopfhaut mit Hörnern aufgenäht und ihn
zum Schafhirten bestimmt haben.
Fürst Radziwill soll ihn auf einer Reise nach Konstantinopel ge-
troffen und in seine Dienste genommen haben , die Hörner aber habe
Baranovius zeitlebens behalten. Nach anderen ist Baranovius auf
Kreta als Sklave gestorben. Der damalige Lehrer Zaborovius entkam
der Gefangenschaft der Tataren und wurde Pfarrer in Kalinowen. Ein
spaterer Amtsgenosse, Bernhard Rostock (1730 bis 1759), ist als polni-
scher Liederdichter bekannt. Welcher Art die Gedichte unseres Pogar-
zelski waren, möge das folgende zeigen. (Neue Preufs. Prov.-Bl. V, 184
bis 186. Königsberg 1848.)
Ich saus in Dunkelheiten
Und dacht an Ewigkeiten,
Da kam ein Wanzker bunter,
Ganz kühn an Wand herunter;
Kam nah mir vors Gesicht,
Da macht1 ich dies Gedicht.
Wir Menschen sind, wie Wanzker,
Oft keck, oft kein Courage,
8ind oft recht dumme Hansker,
Und doch von hoch Etage:
Sich gerne mögen zeigen,
Als wärens Wunder was;
Und ist doch still zu schweigen
Von solchem Hoheits (Hochmuts?)
Spafs.
Heifst mancher groß und edel,
Gar stolz herumspaziert
Und hat doch nichts im Schädel,
Von Tugend nicks passiert;
Denn wenn man recht drauf achtet:
Igt kein Johann'swurm nicht!
Vielmehr nahbei betrachtet,
Kommt Wanzker vors Gesicht.
Drum lafstEuch gar nicht blenden
Von solcher Gloria;
Merkt ab, bis sich wird enden,
Die ganz' Historia.
In kurzem gehts bergunter,
Denn Menschenleben rennt,
Oft ist man fix und munter:
Und wie siehts aus am End?
Moral.
Einst kommen Ewigkeiten!
Wohl dem, der, wenn Tod winkt,
Hat gut Geruch bei Leuten
Und nicht wie Wanzker stinkt.
Von der Predigtart Pogarzelskis legt auch der Anfang einer Predigt
Zeugnis ab, der erhalten geblieben ist: „ Liebe Gemeind! Ich will
euch heute predigen von Nuts, nicht von Haselnuts, auch nicht von
Wallnuls, auch nicht von Betrübnuls und Ärgern ufs und Kümmernufs,
sondern vom heiligen Johannus."
Über 18 Jahre wirkte Pogarzelski in seiner Gemeinde. Er wurde
von seinen Bauern über alles geliebt und geehrt, denn er verstand,
ihre Herzen auszuforschen und ihnen die rechte geistige Nahrung zu
Pogarzelski. Vaterunser. 211
reichen. In einem Alter von 60 Jahren und 7 Monaten starb er, nach
halbjährigem, schwerem Krankenlager, am 29. April 1798. Der Schlag
hatte ihn gerührt, darauf folgte Wassersucht. Er hat es noch erlebt,
dafs die Grenzen seines Vaterlandes weit über Polen hin ausgedehnt
wurden. Es gab überhaupt kein Polen mehr, und preußischer Krieger-
schritt erhallte am Mittellauf der Weichsel und des Njemen. — Die
darauf folgende vaterländische Schmach erlebte Pogarzelski nicht mehr.
An einem Bettage, am 5. Mai, bei herrlichem Wetter, bei Lerchen-
geschmetter und Blütenduft unter dem Zulauf einer grofsen Menschen-
menge wurde er bei der Sakristei begraben. Noch heute, nach
100 Jahren, lebt er im Herzen seiner Volksgenossen, und wer seine
Schritte einst nach den herrlichen Wäldern und Seen Masurens lenkt
und abseits der Gasthöfe sich mit der Eigenart der Bevölkerung ver-
traut machen will, wer in Kutten und Kalinowen, Grabnich und Anger-
burg von alten Sitten und Begebenheiten hören will, der wird bald
auch den Namen des Mannes vernehmen, den seine Gemeinde einst so
liebte.
IV. Das masurisehe Vaterunser.
1. (Mitgeteilt vom Superintendenten Schulz-Lyck.)
„Das masurisehe Vaterunser wird im allgemeinen genau nach Matth. 6,
9 — 10 gebetet. Soweit kleine Varianten (aufser der abweichenden Aussprache
der Zischlaute) gebräuchlich sind, beschranken sie sich auf folgende unwesent-
liche Veränderungen:
Oycze nasz, ktorys jest w niebiesiech, 6wi§6 sie. imie, twoie; przyidz
(Panie) krolestwo twoie; bqdz wola twoia (swieta), jako w niebie, tak i na
ziemi; chleba naszego powszedniego day nam dzisiay; i odpuÄd nam nasze
winy, jako i my odpuszczamy, winowaycom naszym; i nie w wodz' nas na
pokuszenie, ale nas wybaw ode (wszego) zlego. Albowiem twoia jest krolestwo
i moc (i czesl) i chwata (od wilkow) az na wieki. Amen."
2. (Mitgeteilt vom Pfarrer Rogalsky-Alt-Ukta.)
Oycz nasz» ktorys" jest w niebiesiech. Swiec sie imie Twoje. Przyidz
Panie krolestwo Twoje. Badz wola Twoja, swieta, jako w niebie, tak i na
ziemL Chleba naszego powszedniego daj nam dzisjaj. I odpus6 nam nasze
winy, jako i my odpuszczamy naszym winowojcom. I nie w wodz nas na
pokuszenie, ale nas zbaw ode zlego. Albowiem Twoje jest krolestwo i moc
i czesc i chwala odtad az na wieki. Amen.
14*
Die Philipponen.
Schulz: Einiges über die Philipponen und deren Ansiedelung in der
Nikolaiker und Crutinner Forst. PreuTs. Prov.-Bl. 1883, 661 bis 668.
Gerfs: Mitteilungen über die Philipponen im Kreise Sensburg. Neue preuls.
Prov.-Bl. 1849 H, 50 bis 68; 1850 I, 376.
Titius: Die Philipponen im Kreise Sensburg. Neue preufs. Prov.-Bl. 186*,
192 bis 215; 1865, 1 bis 50, 281 bis 320, 385 bis 421; 1866, 449 bis 484.
Umfänglichere eigene Notizen bieten ferner; Beheim-Schwarzbach,
Hohenzollernsche Kolonisationen. Leipzig 1874, S. 463 bis 475.
v. Saltzwedell: Statistische Barstellung der Kreise Sensburg; gefertigt im
Jahre 1865. Königberg 1866, S. 6 bis 16.
Toeppen: Geschichte Masurens. 1870.
Gerfs: Etwas über die sogenannten Philipponen in Masuren. Von der Ver-
heiratung und der Ehe. In „Beiträge zur Kunde von Masuren". 1895,
S. 35 bis 46. (Ist für die Zeit der Einwanderung zutreffend.)
Hensel: Masuren. Königsberg 1896, S. 32, 101, 102, 104 (Aburteilend).
Weif s : Preufsisch-Litauen und Masuren 1878/79. S. 180 ff.
Zweck: Masuren 1900. B. 180 bis 189.
"Wertvolle handschriftliche Arbeiten von Gerfs, in meinem Besitz, sind:
Die Philipponen 1836. X u. 400 u. 19 Seiten, 28 Kapitel.
Die Philipponen 1839. XVI u. 424 Seiten u. 5 Blatt Abbildungen der
Trachten, 38 Kapitel. Daraus gedruckt: die obigen Arbeiten und eine
solche im „Boten aus Preufsen 1838".
Die Philipponen 1849. 34 Kapitel. Ohne Seitenzahlen, aber stärker als
die vorigen; das Konzept dazu weicht hier und da ab. Diese drei Be-
arbeitungen desselben Stoffes sind von einem gründlichen Kenner und
Beobachter. Die letzte Umarbeitung geht besonders auf die Dogmatik
und Liturgie auf Grund der heiligen philipponischen Bücher ein. Die
ethnographischen Ausführungen sind deshalb so wertvoll, weil sie für
die heutige Zeit in den meisten Punkten nicht mehr zutreffen. — Außer-
dem hat Gerfs folgende Arbeiten geschrieben, abgesehen von Auszügen
aus historischen Werken und Akten über die Philipponen:
^Auszüge und Übersetzungen aus dem Buche des Cyrillus."
„Übersetzungen aus dem Potrebnik."
„Auszüge und Übersetzungen aus der slawonischen Bibel."
I. Geschichte.
Die Philipponen haben ihren Namen von dem Zellenaufwärter
Philipp Pustolwiät, der um 1700 aus dem grolsen Pomorianer-
kloster am Wygfluls, unweit des Weifsen Meeres, mit 50 Mönchen aus-
wanderte und ein neues Kloster in der Nähe gründete. Jenes Porno-
Geschichte der Fhilipponen in Bufsland. 213
rianerkloster war von einem Teile der Starowierczen erbaut worden,
die 1666 gegen die Nikonischen Verbesserungen der altslawischen
Liturgie und Bibel auf der Moskauer Kirchen Versammlung protestierten
und dann in Gegenden auswanderten, die den Behörden die Nach-
stellung erschwerten.
Wie die nach Polen geflohenen Raskolniken, von denen die meisten
unserer ostpreulsischen abstammen, zu dem Namen der Philipponen
kommen, ist nicht völlig aufgeklärt. Einige derselben meinen, Philipp
sei ein erfolgreicher Gegner Nikons gewesen und verwechseln ihn wohl
mit Nikita Pustolwiät, den bedeutenden Wortführer der Opposition.
Er ist als starowierczische Autorität neben Bischof Paul von Eolomna,
Erzpriester Neronow von Moskau und Priester Awakum von Tobolsk
der am meisten genannte Glaubensheld. Andere sagen, Philipp sei ein
gewöhnlicher Bauer gewesen und habe die Auswanderung von Bufs-
land nach Polen geleitet. Von jenem Philipp Pustolwiät aber, den
man nicht für würdig hielt, Nachfolger des gelehrten- pomorianischen
Klostervorstehers Andrei Denisow zu werden, wissen sie nichts. Es
steht fest, dafs die strengen Altgläubigen, infolge Annahme der fanati-
schen Forderungen Philipps, von den Umwohnern den Namen Philip-
ponen erhielten.
Philipp war ein Feind der Popen und der Priesterweihe, er trat
für die freie Predigerwahl ein, verwarf Eid, Ehe, Kriegsdienst, Gebet
für den Czaren, Theater, Kaffee, Thee, Tabak, Medizin, Verkehr mit
Andersgläubigen, die Führung von Geburts- und Totenregistern, — alles
auf Grund der Bibel und Kirchenväter. Er empfahl Fasten und Beten
und pries den Märtyrertod, den er dann selbst im Feuer wählte. So
fanatisch anfänglich seine Anhänger an allen diesen Forderungen fest-
hielten, so gaben sie dieselben in der nun einmal bestehenden „Welt
des Antichrists", die trotz, aller Hoffnung auf Untergang ruhig fort-
bestand, allmählich bis auf Fasten- und Betgebräuche auf. Sie unter-
scheiden sich also bis auf einige Äufserlichkeiten , wie die Kreuz-
inschrift, nicht von den Altgläubigen, deren Glaubensgenossen sie sich
nennen.
In Ostpreufsen führen sie den Namen Philipponen, in der Bukowina
Lippowaner, in Polen Kaczagy. Als ein Glied im ostpreutsischen
Völkerreigen haben sie ihre Eigenart gehabt und eine neue entwickelt.
Ihr Gebiet liegt inmitten des masurischen Teiles von Ostpreutsen. Die
Philipponeninsel reicht nicht in das Gebiet hinein, wo die Deutschen
überwiegen.
Nach Einführung der Nikonischen Verbesserungen und Unter-
drückung des Strelizenaufstandes flohen 1676 in den niko manischen
Verfolgungen zu Moskau viele Starowierczen in das Witebsker Gou-
vernement, besonders in die Gegend von Rzeczyca und Lojewo, wo sie
als fleilsige Arbeiter sehr geschätzt wurden. Später kamen auch solche
hierher, die sich erst nach der Insel Wjetka und in die Gegend von
214 Di© Philipponen.
Olonez und vom Wygfluls gewandt hatten. Andere waren nach Sibirien,
nach der Bukowina und nach Polen, in die Gegend von Lomza, Suwalki,
Augustowo, Sieny gezogen. 1733 bezeichnet Kulczynski, der Philipp
Pustotwiät mit Nikita Pustolwiät Ter wechselt, die Starowierczen mit
dem Namen Philipponen. Nach und nach entstanden bedeutendere
Gemeinden und Klöster in Moskau, Petersburg, Kiew, Wilna, Minsk,
Riga, Jakobstadt und in vielen Orten Polens, die alle untereinander
in Verbindung stehen. Als ein Teil Polens neuostpreufsisch wurde,
fühlten sich die neuostpreufsischen Philipponen, die ihre alten fanati-
schen Sitten längst aufgegeben hatten, besonders glücklich. 1798
waren 955 philipponische Familien unter preufsischer Herrschaft, wie
Jackstein in der Neuesten Berliner Monatsschrift 1799 (S. 408) in
einer Arbeit über sie hervorhebt. Ihre Hauptsitze waren die Kirch-
spiele Pogorzelice und Glebokirow bei Suwalki. Da sie nach dem
Tilsiter Frieden polnische Unterthanen wurden und nun Personal-
register führen und 1821 Kriegsdienst leisten sollten, hielten sie ihre
Religion für gefährdet und gedachten mit Sehnsucht der glücklichen
Zustände vor 1807, wo man sie vorläufig unbehelligt gelassen hatte.
Als dazu der Pogorzelicer Geistliche sich auf Seite der Regierung stellte
und von ihr Sold bekam, der Glebokirower aber, Jafim Borissow, der
Bruder des späteren Eckertsdorfer Schulzen, Druck und Verfolgung
Über sich ergehen liels und in keine Neuerung willigte, stellten sich
die meisten Philipponen auf Seiten des glaubensstarken Fanatikers
Jafim Borissow, der sich einen Freund des preufsischen Königs nannte.
Man knüpfte 1824 Unterhandlungen mit der preufsischen Regierung
behufs Einwanderung in Ostpreufseh an. 1825 genehmigte der
preulsische König dieselbe, und zwar „auf unkultivierten Grund und
Boden u in Litauen oder Ostpreutsen unter Erlats des Kriegsdienstes
für die erste Generation und gegen Beibringung der Pässe. Infolge
Schwierigkeiten der polnisch - russischen Behörden zog sich aber die
Einwanderung in die Länge. Das zuerst ins Auge genommene Gut
Schnittken wurde anderweit verpachtet. Der erste Pals wurde im
August 1827 für Onufri, die meisten anderen von 1829 bis 1832 aus-
gestellt. Von 1828 bis 1832 wanderten nach abgeschlossenen Kon-
trakten 38 Familienoberhäupter mit den ihrigen (213 Köpfe) ein, er-
hielten aulser den oben erwähnten Zusagen die Gewährung von sechs
Freijahren, von freier Religionsausübung und mancherlei Erleichterung
und bekamen Landstrecken im Nikolaiker und Crutinner Forst zu-
gemessen, auf denen sie die ersten Dörfer Onufrigowen, Piasken,
Kadzidlowen, bis 1832 noch Eckertsdorf, Schönfeld, Schlölscben, Gal-
kowen, Nikolaihorst, 1833 Fedorwalde, Peterhain, in den 1840 er Jahren
Iwanowen gründeten. Vgl. Abb. 65 und statistische Tabelle S. 217.
Die Einwanderer stammten aus dem Witebsker und den an Ost-
preufsen angrenzenden Gouvernements. 1832 kamen die meisten
Kolonisten, 1833 entwirft Schulz ein lebhaftes Bild ihres Fleifses, und
Geschichte in Preufsen. 215
1836 schrieb Gerts sein erstes Werk über ihre bürgerlichen, religiösen
und volkstümlichen Verhältnisse. 1837 ward der Zengeneid eingeführt.
1838 am 16. Juni besuchte Kronprinz Friedrich Wilhelm Eckertsdorf,
wurde mit „Vivat, es lebe der König" und Gesang und unter Dar-
reichung von Brot und Salz begrüfst und besichtigte dann unter
Glockengeläut die Betstube mit den Heiligenbildern. Er hinterliefs
den freudigsten Eindruck und wurde von den berittenen Philipponen
bis zum Wigrinner Wäldchen begleitet.. Der Starik aber sagte heimlich
zu Gerfs: „Ich dachte, er würde mir ein Sümmchen zum Bau der
Kirche geben. tt Die Eckertsdorf er Kirche wurde erst später gebaut;
Jedoch galt Eckertsdorf als das Kirchspiel, obwohl Schönfeld sich schon
1837 ein Gotteshaus errichtet hatte. 1839 wurden die Registranden ein-
geführt, trotzdem verbargen sich noch immer polnische Militärflüchtige
und mehr oder minder zweifelhafte Elemente von drüben bei den An-
siedlern; ein fortwährendes Wandern herüber und hinüber fand statt,
bis 1842 in Altukta ein besonderer Polizeikommissar, Schmidt, der
Philipponenkönig , angestellt ward. Der unerschrockene, tüchtige
Mann brachte mit liebenswürdiger Strenge Ordnung in die Kolonie;
es wurden die Verhältnisse betreffs Ehescheidung, Volljährigkeit, Vor-
mundschaft, Kuratel, Erbteilung geregelt, in die früher die Philipponen
keinen Fremden sehen lassen wollten, bis sie sich selbst vom Werte
strenger Gesetze überzeugt hatten. 1843 fand die erste Militär-
aushebung statt, 1847 wurde der Schulbesuch der Mädchen durch-
gesetzt, in demselben Jahre ward das Eckertsdorf er Kloster gegründet
und die evangelische Kirche in Altukta gebaut, die jenen erbitternden
Streit hervorrief. Die Ansiedelungskontrakte, die von den des Schreibens
unkundigen Philipponen mit drei Kreuzen unterzeichnet waren, be-
sagten u. a., dafs sie ihre Kirchen, Pastoren, Lehrer selbst zu bezahlen
hätten und redeten von einem Kirchspiel Eckertsdorf. Bei Umgrenzung
des Altuktaer Kirchspiels lagen nun auch die meisten Philipponendörfer
darin, und der Uktaer Pfarrer verlangte von ihnen den Zehnten. Sie
protestierten: 18 aus Eckertsdorf, 5 aus Schlöfschen, 1 aus Iwanowen,
5 aus Nikolaihorst, 4 aus Galkowen, 1 aus Kadzidlowen, 9 aus Schön-
feld, 5 aus Fedorwalde, 5 aus Peterhain. Onufri, der überall Vertrauen
genofs, entgegnete, sie hätten die Wälder für sich, nicht für fremde
Kirchspiele gerodet, sie bildeten ein eigenes Kirchspiel, hätten nicht
für fremde Priester zu sorgen; als der König bei ihnen gewesen sei,
habe er keine Verpflichtungen gegen benachbarte, zu errichtende Kirch-
spiele gekannt. Darum ersuchte die Behörde den Pastor, die Klage
zurückzuziehen, und die Philipponen, die Entscheidungskosten zu
tragen. Hierauf ging keine Partei ein, der Streit dauerte fort, am
2. Juli 1849 ward er zu Ungunsten der Philipponen entschieden; das
allgemeine Landrecht setze „ Realzehnte, grofse und kleine Kaiende
ohne Rücksicht auf die Verschiedenheit des Glaubens u fest und „Kirch-
spiel Eokertsdorf" sei nur lokal, nicht gesetzlich, am wenigsten gleich-
216
Die Philippontra.
berechtigt gemeint. Dumpfer Groll erfüllte die Gemüter, man glaubte,
betrogen worden zu sein; aber allmählich legte sich die Unlust. Man
lernte einsehen, dafs die Staatsgesetze doch grofsen Schutz gewährten,
besonders als im Reyolutionsjahre 1848 auf ständische Begehrliche nach
den Gütern der reichen Philipponen blickten und ernten wollten, wo
die fleifsigen Hände Jener gesäet hatten. Waren ja auch mit Über*
nähme des Klostergrundstücke? durch den gelehrten Krakauer Geist-
Abb. 65.
t Kirchs., *PhJlipponuc.
klarster
&£ Kantigen. Phi-
UpponmdSrttr sütdß
twmünsl.dit früheren,
eüuwtl untsrttrükcit* .
Die ostpreufsischen Philipponendörfer.
liehen Chowronin, der später zugleich Starik von Eckertsdorf wurde,
und mit der Auswanderung der fanatischen und reichen, angesehenen
Unruhestifter Sidor Borissow und Fama Iwanow die Häupter des Wider-
standes gewichen. Denn wenn diese auch bitter enttäuscht zurück-
kehrten, so war doch ihre Autorität geschwunden.
1853 wurde die Impfung, 1857 das Aufgebot eingeführt. 1864
Statistischen über die Plüipponendörfer.
1 - 1
II
i
1
s
ä
s
OHJBOOOBJO
3
8
MHSBJli;
.6.
So
1
sss|ssfsss
li
1
"S3«S"«
4
1
saaasasssa
i
1
SSSS323SSS
i
1
sa3S32sass
i
1
3 1 II 1 1 1 1 1 1
i
1
1 1 1 1 1 1 1 1 1 1
s
1
S 1 1 1 1 1 1 1 1 1
1
1
1||||||S||
1
li
1 •
1
D
I
1
SS53SSS-SS
s
IMS»""
|
jl
S 'sliall gl
[ i
s
m m 5 *£5 cd
"
ÜsSslüs
0
1
*3
8 SS
l
............
- - 2 =22 S
ja
pq
a
1
1
s ä
1
0-
S 3 1 IH 1
1
3 3 3
B'fi b£ »'<£
218 ™e Philipponen.
bis 1866 geben der Rektor Titius und der Landrat v. Saltzwedell
umfassende Nachrichten von den Philipponen. Seit 1878 besuchen
die Kinder die Staatsschule, den Religionsunterricht erteilt das Haus.
1884 verlassen die Mönche das Kloster, das von den Maudanner Nonnen
erworben und noch jetzt bewirtschaftet wird. 1887 findet die Aus-
weisung nichtdeutscher Staatsangehöriger aus den Kolonien statt. Im
folgenden Jahre schildert Skowronnek in seinen masurischen Dorf-
geschichten wiederholt unsere Kolonien. 1895 trennt sich ein Teil
der Peterhain-Fedorwalder Philipponen von den Eckertsdorfern, indem
sie eine eigene Betstube errichten und alljährlich ein- oder zweimal
das Abendmahl aus der Hand des kaiserlich russischen Gesandtschafts-
propstes A. v. Maltzew mit Gottesdienst nach vornikonischem Ritus
geniefsen. Nach Angabe desselben sind die Eckertsdorfer „richtige
Philipponen, bezw. Bespopowzi" (Priesterlose), die Fedorwalder aber
„ Altgläubige a schlechthin. Der Eckertsdorfer Geistliche nennt seine
Pfarrkinder „griechisch - katholische tf , die Fedorwalder „ russisch-
katholische u.
Ich war im Juli 1897 in den Philipponer Kolonien und schildere
in den folgenden Abschnitten auf Grund von eigener Anschauung, von
Mitteilungen der dortigen evangelischen und philipponischen Beamten
und Privatleute, insbesondere des Eckertsdorfer Popen.
Der letzte Philipponenforscher, Martin Gerfs, veröffentlichte leider,
der ungünstigen Verhältnisse halber, nur wenig von seinen Studien.
Gerfs wurde am 23. Oktober 1808 in Kowalken im Goldaper Kreise
geboren, sein Yater war Hirt ; der Knabe wurde, wie Rhesa, beim Lesen
angetroffen, als er sein Vieh hütete, und erhielt vom Pfarrer und vom
Schulrevisor Mittel und Wege gewiesen, das Lehrerseminar in Karalene
besuchen zu dürfen. Er war dann Kantor in Nikolaiken (1828 bis
1835) und machte hier seine umfassenden Philipponenstudien , dann
war er in Seehesten und 1838 bis 1848 Rektor in Grofs - Stuerlack.
Politische Gründe veranlassten die Aufgabe seines Amts; er lebte nun
in Lötzen seinen Studien und seiner Arbeit. Er war langjähriger
Stadtverordnetenvorsteher, Gründer des Vereins für Kunde Masurens
und starb, allseits geehrt, am 25. März 1895. Autser polnischen
Schriften und einem deutsch - polnischen Lexikon schrieb er noch
chronikalische Arbeiten und Gedichte.
n. Besiedelung.
1. Anbau. Die Philipponen durften ihre Geräte zollfrei ein-
führen. Sie brachten gute Wirtschaftsgegenstände mit, errichteten
sich Hütten in einfachster Form, nachdem ihnen ihr Land zugemessen
war und gingen dann sofort an die Urbarmachung. In lebhaften
Farben schildert diese Schulz. Man hatte ihnen bis zum Frühjahre
1833 5047 Morgen Land zugewiesen; die Wege und Strafsen waren
Feldgeräte. 219
Öffentlich; die Zahl der Mitglieder betrug 274. „Sobald den Philip-
ponon das Land vermessen ist, so beginnt die Urbarmachung den
Bodens mit einer Thatigkeit und Schnelligkeit, die fast ans Unglaub-
liche grenzt. Mit ihrem einfachen, mit einem Pferde bespannten Pfluge
(vgL Abb. 66) stürzen sie zwischen vielen noch vorhandenen Stabben
Abb. 66.
Alter Philipponenpflng (1833), Saiten- und Oberanaicht. Gabel.
(Nach Zeichnungen von Gerls.)
den wild durchwurzelten Boden, machen ihn durch einfache, von
Tannenzweigen verfertigte Eggen mürbe und besäen den Acker mit
Sommergetreide, so dafs nach vier bis fünf Wochen mehrere hundert
Morgen mit grünen Saaten bedeckt sind. Nach diesen für den Lebens-
unterhalt getroffeneu Torrichtungen schreiten sie zur Bearbeitung des
Holzes behufs Erbauung der Wohnungen, die sie tüchtig zu erbauen
verstehen." Heute bietet der Feldbau nichts charakteristisches , die
alte Ergiebigkeit hat abgenommen, da nicht gedüngt ward.
2. Beschäftigung. Sie kamen alle als Landbauer her, und
erzielten anfangs reichen Ertrag. Dieser verminderte sich aber, da sie
den Boden nicht düngten. Jetzt hat der Eifer in der Feldwirtschaft
nachgelassen. Sie lenkten übrigens gleich anfangs ihre Aufmerksamkeit
auf Obstbau, Fischerei , Waldwirtschaft, Gärtnerei, Badmacherei, Brett-
220 Die Philipponen.
Schneiderei, Teerschwelen, Strafsenbau. Da sie gleich auf freiem Felde
aus den Stubben Teer brannten, hatten sie zunächst mancherlei Klagen
von den Umwohnern zu hören. Beim Eunststrafsenbau waren sie
äufserst tüchtig. Ein gewisser Malowany beschäftigte als Leiter bei
einem solchen Bau in den ersten Jahren 300 Arbeiter, teils in Polen,
teils in Preufsen. Mäfsigkeit und Verabscheuung des Genusses machte
alle wohlhabend. Aber sie waren fortwährend auf der Wanderschaft.
Noch jetzt findet man im Sommer in Eckertsdorf mehrere Häuser mit
zugenagelten Fenstern und Thüren. Die Insassen sind mit Kind und
Kegel nach Osten, wohin sich jedes Philipponen Blick lenkt. In der
Lycker Gegend haben sie Obstgärten und Alleen gepachtet. Im Herbst
kehren sie zurück, oft bringt eine einzige Familie 1500 Mk. Gewinn
mit. Die Vorliebe für Obstbau und Gärtnerei ist ja auch an jedem
Garten zu sehen, der freundlich in Blüten- und Fruchtschmuck prangt;
Bienenstöcke besitzen die meisten Häuser.
Die Liebe zum Walde und zum Forstwesen zeigen schon ihre
Spaziergänge. Und den See wissen sie sich nutzbringend zu machen.
Die gesamte Fischerei ist in den Händen der Philipponen, die sie von
den besitzenden Ständen als Höchstbietende gepachtet haben. Krebse
und Maränen sendet der Philippone nicht nur in die Umgegend, son-
dern auch nach Polen, wo sie willkommene Fastenspeise für die Katho-
liken sind.
III« Haus und Hof«
1. Haus und Hof. Die ersten Hütten ragten nur wenig über den
Boden hervor; man hatte durch Ausschachten reine Kellerwohnungen
geschaffen. Sobald die Felder in Ordnung waren, begann man mit
dem wirklichen Hausbau. Man baute auf Stubben oder Steinen im
Gersats. Während der gröfste Teil der litauischen Häuser südlich
vom Njemen in Ständern mit Füllholz errichtet ist, bevorzugt das süd-
liche Ostpreufsen die gegenseitige Verschränkung der Balken an den
Eckseiten (Abb. 67). Die Balken sind meist vierkantig behauen, doch
Abb. 67. Abb. 68.
V^
Gersafs- Firsthalter (ll/am lang),
balkenende. a mit Nagelung; b mit Kehle.
bieten ältere Häuser auch noch Rundholz. Sechs bis zehn Balken
liegen übereinander. Das Schilfschindeldach ist ebenso hoch als die
etwa 3 m hohe Wand. Die Schindeln werden mit eigentümlichen Holz-
winkeln festgehalten, die dem First aufgedrückt sind und Im lang zu
Haus und Hof. Giebelzier.
221
beiden Seiten des Daches herunterliegen (Abb. 68). Eine ähnliche
Stroh Verflechtung, wie sie beispielsweise in Litauen und in der Kaschubei
den First festklammert, sieht man hier nicht. Eine Feuerleiter, eine
Wetterfahne in Fisch- oder Pfeilgestalt, eine Giebelzier in Kreuz-,
Reichsapfel-, Kopf- und Horngestalt fehlen selten (Abb. 69). Die
Abb. 69.
ö§A8
Giebelzier im philipponischen Gebiete bei Philipponen und Masraren.
Giebelzier hält die beiden Dachgiebelbretter (Abb. 70), die mit ver-
schiedenen Schmucklinien (Abb. 71) ausgeschnitten sind. Das Holz
Abb. 70.
'Giebelzier (a) mit Giebelbrett (b).
ist naturfarben, die Balken sind oft mit Moos verstopft und innen
weifs getüncht. Vor der Thür ist meist ein Laube nvorbau mit Stufen
Abb. 71. Abb. 72.
Abb. 73.
\/v
WVWNW
Drei Zierschnitte der Fischerhütte.
Giebelbretter. a Schilfdach; b offene Seite.
Keller.
und Bänken; diese Laube ist, wie das Haus, mit Blumen oder Schling-
pflanzen umrankt. Das einfachste Wohnhaus ist zweiteilig (Abb. 74,
S. 223). Man tritt zur einteiligen Hausthür in den geräumigen Haus-
flur ein, von diesem führt links eine Seitenthür in die Stube, nach
hinten eine in den Hof, nach oben die Treppe. Daneben ist der Herd
zum grofsen Ofen in der Stube.
222 Die Fhilipponen.
Diesem Zustande des Hauses ging, abgesehen von Hütte und
Keller (Abb. 72 und 73 a. v. S.), ein anderer vorher, wo Hausflur
und Stube ungetrennt waren, ihm folgte der jetzt am meisten ver-
breitete, nämlich die Dreiteilung des Hauses, in der Art, dafs der
lichtlose Flur nochmals in der Richtung der beiden Thüren geteilt und
so Raum für den Altsitzer oder den Stall geschaffen ward. Die hoch-
malige Teilung der Stube in Stube und Kammer (Abb. 75 bis 79) ist wohl
Regel, doch wird die Stube als Wohn- und Schlafraum, die Kammer als
Web- und Arbeitsraum benutzt. Die Hausthür und das Fenster sind
der Strafse zugekehrt Die Stube (Abb. 80, 81, S. 224) ist gedielt und
sehr reinlich gehalten. An den Deckbalken ist das Ende einer langen
Stange befestigt, die von einer Strickschlinge in einiger Entfernung
so gehalten wird, dafs sie federn kann. Am dünnen Stangenende ist
an einem vierteiligen Seile ein Wiegenkorb angehängt, in dem die Kinder
geschaukelt werden. Zur linken Seite (Abb. 80) steht ein riesiger Koffer
zur Aufbewahrung der Kleider, darüber ein Bücherbrett mit russischen
Gebetbüchern, deutsche sieht man nicht. Der Wandsohmuck ist eigen-
artig, aufser Familienbildern trifft man die Bilder unseres und des
russischen Kaiserpaares, daneben heilige Bilderbogen, die meist die
Hölle mit den Höllenqualen, Teufeln, Verdammten und allem Beiwerk
in grellen Farben darstellen und aus Rufsland bezogen werden. Es
berührt eigentümlich, gerade Fürsten- und Soldatenbilder zu finden,
zumal die Philipponen abgesagte Feinde der Herrscher und des Militärs
waren. Zuweilen führt eine Bank an der Wand hin, jetzt sind ver-
setzbare Stühle und Tische, sowie daneben ein schmuckes Himmelbett
mit schneeweifsem Linnen und bunten russischen Decken der schönste
Schmuck des Hauses. An irgend einer Wand, nicht gerade der Ost-
wand, ist ein Heiligenschrank mit einem Heiligentisch angebracht. In
jenem hängen Marien- und Heiligenbilder, von Papierblumen umkränzt,
ferner Messingkreuze, Öllämpchen etc.; ein Weihrauchkessel fehlt nie,
sein Duft giebt dem ganzen Philipponenhause ein stockiges Aroma.
Auf dem Heiligentische aber steht neben einer prächtigen gold- oder
messingbeschlagenen Bibel noch ein Evangelien- oder Perikopenbuch,
daneben liegt ein Rosenkranz (Bet- Rechen; Lesinka. Abb. 82). Eine
Menge grofser und kleiner Wachslichter befindet sich an den Wänden
und wird bei Gebeten und Festlichkeiten in grötserer oder geringerer
Anzahl angebrannt. Am Heiligenschranke erscheint der gläubige
Philippone mindestens dreimal, beim Aufstehen, Schlafengehen und zu
Mittag und hält seine Andacht. Ich habe beobachtet, wie einer früh-
morgens etwa zwei Stunden lang Gebete sagte, Rosenkränze abbetete,
aus den Büchern las, niederfiel, sich unter Verneigung bekreuzte
(Abb. 83), wieder aufstand, die Kleider wechselte und wieder aufs neue
las; abends dauerte seine Andacht nur eine halbe Stunde. Die gelben
Lichter fertigt der Starik und verkauft sie für je einen Groschen.
Die Rosenkränze (vgL auch Abb. 86, S. 227) werden wie die Heiligen-
Hausgrundrisse.
223
bilder jetzt aus Rufsland bezogen, sie bestehen aus 109 kleinen Leder-
rippen oder Lederstiften, Ledas, auf einem breiten Lederbande und
enden herzförmig oder in einem Dreieck. Die 2., 16., 55., 89. und
108. Rippe ist stärker. Sie haben auch selbstgemachte, aus Perlen
Abb. 74. Abb. 75.
Schaluppe.
Dg
Ah
a
Ah
Wohnhaus.
TT
a
Abb. 76.
HK
D
_L a
Ah
HK
Wohnhaus mit niedrigem Anbau.
Abb. 77.
Ah
AT
O
Ah
b ±
Hh-ö-
Wohnhaus mit hohem Anbau.
Abb. 78.
Abb. 79.
Kleines Gehöft.
f
■ ■
+ +
m
1
d
e
« :
c
G
: f
^ "
X
■ 1
* :
»A
U
0
1
Dg |
k
c
a
0
■ i
0
•j
b
A
b
A
h
1 i 1
Gröfseres Gehöft.
Abb. 74 bis 79. Philipponenhäuser. & Hausflur; b Stabe; c Kammer; d Stall;
e Abort; f Wirtschaftsraum; g Treppe; h Vorbank; i Hausstufen; k Mohngarten;
1 Lindengarten ; m Bienenstöcke ; n Keller ; o BrunneD.
zierlich geflochtene Rosenkränze, die gleichfalls morgens, mittags,
abends, nachts gebraucht werden. Rechts von der Stubenthür stehen
meist die geräumigen Öfen, schöne Kachelöfen mit einer grofsen
oberen Fläche, auf der Holz getrocknet wird und die Kinder und
Alten schlafen. Neben dem Ofen fehlt nie der Samowar und ein
224
Die Philipponen.
Schrank oder Brett mit Tischgerät. Ein eigentümlicher, messingener
Handwaschapparat (Rukomojka = Handwäsche) vervollständigt das
Hausgerät. Dieser kleine praktische Kessel ist etwa y4 m hoch und
Abb.
80
•
f
d
b
0
gD
e
C
a
Hh
b
Abb. 81.
Abb. 82.
Abb. 83.
Hand beim Kreuz-
schlagen 1).
Philipponenstuben.
a Ofen; b Bett; c Tisch; d Topfbrett; e Heiligenschrank; f Koffer oder Schrank;
g Stuhl ; h Spinnrad ; i Nähmaschine.
knapp so breit, er ist an einem Messinghaken an der Wand be-
festigt, welcher das Seifennäpfchen trägt. Unten endigt er in einem
Stifte, den man so in
die Höhe schiebt, dafs
man Wasser in die Hand
bekommen kann. — Dort
steht friedlich die Näh-
maschine neben dem
Spinnrade. Im Hausflur
ist noch manches eigen-
tümliche Gerät zu finden, beispielsweise die auch
bei Litauern und Easchuben verbreitete Schrot-
mühle, auf der Schrot und Brotmehl hergestellt
werden, ferner eine 2 m lange Ofengabel (Uchwat,
ähnlich Abb. 66, S. 219) zum Herausholen der
Töpfe, sodann eine eigentümliche Kartoffelstampfe
(Lewetjof). Ein Baumstamm in 1 m Höhe und
1/4m Dicke wird nach unten abgeschrägt und
mit einem Fufse versehen, oben wird er bis zu
0,5 m Tiefe ausgehöhlt. Mit einem Stempel
werden die gekochten Kartoffeln zermalmt, zur
Herstellung von Piraggen. Ein Deckel ver-
schliefst die Öffnung. Merkwürdig ist, dafs im
Yogtlande die Piraggen als Paroggen-Hans (vgL
Oldenburgisch Bokweetenjanhinerk = Buchweizenhansheinrich = Pfann-
kuchen) wiederzufinden sind. Daneben steht die Flachsbreche, auf einem
Bosenkranz
der Philipponen.
l) So aus einem philipponischen Buche mitgeteilt von Iwan Borischewitz.
Es folgen von unten nach oben : Daumen, fünfter, vierter, dritter, zweiter Finger.
Gehöft. Gerät Hausbau. 225
Kreuzbein liegt ein starker Klotz, der oben mit einer Kante zwischen
zwei Fugen versehen ist. Wo der Klotz auf der Erde auf trifft, ist ein
in die Fugen kommendes Brett befestigt. Mit dem Griffe auf Seiten der
Kreuzbeine kann das Brett auf und nieder gehoben und der darunter
gelegte Flachs gebrochen werden.
Zum Wasserholen dient ein Vs m hohes, kegelstumpfförmiges
Bügelgefäfs aus Holzdauben. Ein geflochtener Kober wird als Brot-
korb von den Leuten benutzt, die im Freien arbeiten. Er ähnelt der
kaschubischen Lischke, ist aber höher und schmäler. Alte hölzerne
Salzgefäfschen in Gestalt unserer Pfeffermühlen zieren jeden Tisch.
Vor dem Hause lehnt wohl auch ein auf Kufen befestigtes 1 m
hohes Fafs, das bei ausbrechender Feuersgefahr zu Händen sein mufs.
Im Hofe aber steht der hochrädrige, mit niedrigem Sitzkorb versehene
Wagen. Der Hinterseite des Hauses gegenüber liegen die Wirtschafts-
gebäude und die Stallungen, das Gehöft wird teilweise mit Planken
umgeben, die Planken sind meist oben zugespitzt. Sonst dient zur Ab-
grenzung gröfserer Stücke ein einfacher Bretterzaun, bestehend aus
Schranken, die aus je zwei Pfählen mit je zwei angenagelten Quer-
brettern zusammengesetzt sind. Der Eingang erfolgt, indem man die
zwei Latten aushebt.
Der Hausbau blieb nicht auf derselben Stufe stehen. Zunächst
war ja schon ein Unterschied zwischen Reichen und Armen geboten.
Die Grölse und Vielteiligkeit der Wohnung gründete sich darauf, an-
fänglich; nicht das Baumaterial. Holz war und ist in diesem Waldlande
billig und leicht zu bekommen, das Herbeischaffen der Feldsteine
kostete gröbere Schwierigkeiten. Heute giebt es schon hier und da
schöne philipponische Steinhäuser. Ich habe die Anordnung einiger
älterer Philipponenhäuser aufgezeichnet. Abb. 74 hat rechts Hausflur,
links Stube; dies ist eine einfache Schaluppe, Abb. 75 hat in der Mitte
Hausflur, rechts Stube mit Kammer, links Stall. Abt) 84
Abb. 76, rechts Hausflur, links Stube mit Kammer.
Rechts vom Hausflur ist Stall mit Abort angebaut.
Ähnlich ist Abb. 77. — Abb. 78 hat rechts Hausflur,
links Stube mit Kammer, gesondert findet sich hinten
gegenüber der Stall, zur rechten Seite des Hofes der
Wirtschafsraum. Abb. 79 hat hinten gegenüber die
Wirtschaftsräume, links vom Hofe den Stall, in der
Mitte des Hofes Ziehbrunnen mit Kette, daneben den TT ___
_^. Heuschutzer.
unentbehrlichen Mohngarten, der sich als Blumen-
und Gemüsegarten ums ganze Haus herumzieht, b Verschiebba'
rechts vom Wirtschaftsgebäude stehen Linden. Vor Schindeldächer.
den Fenstern sind Bänke angebracht. Eigenartig
ist, wie bei so vielen Philipponenhäusern , der seitliche Eingang, der
sogar hier Laubenvorbau aufweist. Hinter den Linden sah ich Bienen-
körbe, puppenförmig aus Stroh gebaut. In einiger Entfernung steht
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. J5
226 Die Philipponen.
der eigentümliche dachförmige Keller (Abb. 73, 79 n); dahinter der
Garten mit dem hölzernen Badehaus (Banja), im Felde hinten das in
ganz Ostdeutschland gebräuchliche Feimgestell : bestehend ans vier
Holzsftulen auf quadratischem Grundrifa, ungefähr 3 m entfernt, 6 m
hoch, darauf ein ab- und aufschiebbare* Dach (Abb. 84 a. v. S.)-
2. Klöster. Klöster gab es drei. Das Onufrigowener Mönchs-
kloster brannte nieder. Das Maudanner Nonnenkloster wurde von
den Nonnen verlassen, weil diese das schönere Eckertsdorfer Mönchs-
kloster, dessen Mönche nach Rufsland gingen, inzwischen erworben
hatten. Das Eckertsdorfer besteht noch and hat seine Geschichte, es
ist das erste und letzte I'hilipponenkloster in Deutschland. Kurz nach
der Einwanderung ward am malerischen Dulssee eine Einsiedelei auf
einem Hügel erbaut; echtes Mönchskloster wurde es erst, als 1847
Chowronin mit seinen Genossen kam. Aber der Zuwachs blieb aas.
Schließlich vermachten es die' Mönche einem ihrer Wohlthäter, der es
für 40000 Mk. an die Maudanner Nonnen verkaufte und nach Kulinowen
Abb. Bö. zoS- Der früher bei den Nonnen thätige
Pope ward später entlassen und wohnt
jetzt in Fedorwalde. Kürzlich erhielt
ich das Bild eines neuen (Abb. 85).
Das Kloster liegt abseits des Weges
Eckertsdorf-Maudannen. Wir gehen bei
ein paar Pbilipponenhäusern rechts ab
und sehen inmitten des Obstgartens ein
Steinkirchlein mit zwei Glocken. Rechts
davon befindet sich das von einer Mauer
umgebene Klostergehöft. Über dem Thore
ragt ein Muttergottesbild. Man öffnet
die Pforte und befindet sieb in einem
Vorhofe. Wütend bellen uns zwei Hunde
als Wächter entgegen ; einige Schritte
vorwärts, und wir gelangen auf einen
gr olsen Hof mit elenden Holzhäusern,
Ställen und Wirtschaftsgebäuden, links
ragt ein ärmliches Holzhaus hervor. Auf
einer Seitenstiege gelangt man an die
Thür. Eine 60 Jahre alte Nonne empfängt
uns freundlich, da sie aber nur russisch
spricht, ruft sie die jüngere Irina. Ein
(Nach *\nn Photographie von paar „j^ Nonnen liegen — es ist nach-
Oebhardi-Sensuurg.) mittags 3 Uhr — im Bett. Vor der
Hausthür sonnt sich ein lehensmüder Greis auf einer Matte; ein anderer
Klosterinsasse, dem die Nonnen Aufnahme gewährten, hütet draufsen
auf dem Felde die Kühe. Die Nonne fühlt uns in das schmuck aue-
sehende Kirchlein, das, wie jede Pbilipponenkirche , mit zahlreichen
Kloster, Kirchhöfe. 227
Heiligenbildern geziert ist. Drinnen predigt zuweilen eine rassische
Nonne ; mit einem männlichen Priester hatte man schlechte Erfahrungen
gemacht nnd ihn abgesetzt. Die Zahl der Nonnen soll 8, die oller zum
Kloster gehörigen Personen etwa 25 betragen. Die Nonnen (Abb. 86)
legen nicht immer ihre Trachten an ; sie arbeiten in der Wirtschaft,
in den Ställen, auf dem Felde, meist barfufs. Zum Eintritt in das
PhilipjKrait), philipponisnhe Nonnen mit Rosenkranz.
Bekreuzigung des Philippinen.
(Nach' einer Photographie voo Gebharni-Sennburg.)
Kloster gehört nur der gute Wille; wer nicht bleiben will, kann wieder
aastreten. Gelübde und bindende Ceremonieen giebt es nicht Der
Andrang ist nicht grofs, der Philippone liebt doch zu sehr die Freiheit.
Die Nonnen bauen wenig Getreide und suchen einen Käufer für ihr
Grundstück. Jetzt sollen sie wieder einen Popen haben (Abb. 85).
3. Kirchhöfe. Meist besitzen die Philipponendörfer zwei Gottes-
äcker, einen evangelischen und einen philipponischen. Die evangelischen
sind besser gepflegt (Abb. 87 a. f. S.). Der Eckertsdorfer philipponische
Friedhof befindet eich rechts vom Klostereingang und ist notdürftig
in der Weise eingefriedigt, dafs Pfähle in größerer Entfernung
rundum eingeschlagen sind, die durch zwei schwache Querlatten ver-
bunden werden. Ähnlich ist es auch in Schönfeld und Onufrigowen.
Diese Kirchhöfe liegen auf Hügeln , sind von hohen Birken , Föhren,
Kirschbäumen und zahlreichen Sträuchern bewachsen, so dals sie ziem-
15*
228
Die Philipponen.
lieh verwildert erscheinen. Die Reihen sind schwer zu erkennen,
dichtes Gestrüpp wuchert. Auf den meisten Gräbern liegen Granit-
steine, die in Masuren nicht mangeln. Hier und da erhebt sich ein
Abb. 87.
a b c d
SZ
«C=^
JL-Ä
C=X=3
Evangelischer Grabschmuck in Philipponendörfern.
a, b, c von Holz , ähnliche auch von Eisen. — d (% m hoch) Seitenschliff eines
schwarzgefärbten weifsrandigen Feldsteins; g Name und Lebenszeit.
Philipponenkreuz , einigemale ist es bedacht wie in Litauen. Kleine
Kreuze von 0,5 m und 0,10 m Breite und Stärke wechseln mit solchen
von 2 m Länge. Sie sind naturfarben oder blau angestrichen und
tragen weifse, russische Inschriften, wie „Jesus Christus, König der
Ehren u , „Der König der Könige ist Gottes Sohn. — Iwan Bobagai",
„Herr der Welt, Jesus Christ, der Sohn Gottes. — Iwan, ein Kind, 1897".
Ein weifses Kreuz mit brauner Inschrift giebt auch Geburts- und
Todestag an (Abb. 88 a bis c). Ein vorn abgeschliffener Feldstein weist
ein eingemeißeltes Kreuz auf (Abb. 88 d). Blumen und Immergrün
Abb. 88.
a b c d
Philipponischer Grabschmuck.
a 2 m hoch von Holz. — b % m hoch von Holz, 1cm breit und dick., —
c 2 m hoch von Holz (a Gottes Sohn, König der Ehren; b Name, Geburts-
und Sterbetag). — d Seitlich geschliffener Stein mit eingraviertem Kreuz. —
a, d Eckertsdorf; b Schönfeld; c Onufrigowen.
ist nur auf wenigen Gräbern zu sehen. Die Kirchhöfe sind alle sehr
schön gelegen, der prächtige Dufssee und der liebliche Crutinnenflufs
rauschen am Fulse des Eckertsdorf er, ein herrlicher Wald am Bande
des Onufrigowener, eine belebte Landschaft liegt am Fulse des Schön-
felder Gottesackers.
Reicheren Schmuck an Gold- und Marmorkreuzen sollen die
russischen Philipponenfriedhöfe aufweisen.
Grabuchmuck, Kirchen.
230 jDi« Philipponen.
Das philipponische Kreuz hat Aber dem Querbalken noch einen
kleineren , und einen eben Bolchen , nur meist von links nach rechts
aufsteigenden, auch noch am unteren Ende. Die Philipponen legen
Abb. 80.
yL,
» *MrxfaMiMMif*Mn.'*isiitm
Vorderseite der rlckertadorfer Philipponenkivetae.
(Nach einer Zeichnung des Popensohne* lw»D BoH.chewiti.)
auf diese Kreuzform, wie alle Altgläubigen, einen grofsen Wert. Auch
die Inschrift haben sie zum kennzeichnenden Merkmal gemacht; sie
lautet niemals „Jesus von Nazareth, König der Juden", sondern, wenn
sie Aberhaupt vorhanden ist, etwa: „Isbus Christus, König der Ehren".
Kirchen.
231
Abb. 91.
Dabei wird noch besonderes Gewicht darauf gelegt, dafa Schrift und
Aussprache von Jesus nicht die allgemein gültige ist, sondern Issus
lautet Auch hierüber, wie über die drei Holzarten, aus denen eigent-
lich die Kreuze bestehen
müfsten, haben sie be-
sondere Lehrsätze in
ihren Glaubensbüchern
aufgestellt. Die bei den
ostpreufsischen Philip-
ponen gebräuchlichen
Kreuze sind meist von
Holz, selten vergoldet;
die gewissermafsen als
Amulette geltenden sind
von Messing. In Rufs-
land soll man auch Gold-
kreuze haben.
4. Kirchen. Die
Philipponen haben fünf
Kirchen. Erwähnt ward
schon die Klosterkirche.
Die Fedorwalder Kirche
ist ein einfacher Betsaal
im massiven Hause eines
reichen Philipponen und
den eigentlichen Kirchen
nicht zuzuzählen. Da-
gegen sind die anderen
Holzkirchen zu Eckerts-
dorf, Schönfeld (Abb. 89)
und Onufrigowen wirk-
liche Philipponenkirchen.
Sie ähneln sich sehr, nur
fehlt der Onufrigowener
der Glockenturm, auch
dient die rechte Hälfte
derselben einer Familie
als Wohnung. Regel-
mäfsig benutzt wird nur
die Eckertsdorf er Kirche,
die beiden anderen halb-
verfallenen ausnahms-
Grundrifs der Eckertsdorfer Fhilipponenkirche.
a Holzstufen ; b Glockenturm ; c Vorhof; d Heiliges
(für die Gemeinde); e Allerheiligstes (für den Prediger);
f Sitzbänke; g Polsterbänke für Bücher; h Ofen;
i Altartisch; k Bilderwand; 1 Lesepult für den Kniznik;
m Leuchter ; n Gartenraum vor der Kirche ; o Fenster ;
p Thür; q Schlüsselschrank; r Aufgang zum Turm;
s Kleiderwand ; t alte Glocke.
weise in der Not oder bei grofsen Festen. Die Philipponen machen
gern den weiten Weg nach ihrem Mekka. Die Eckertsdorfer Kirohe
(Abb. 90, 91), von einem verschlossenen Garten umgrenzt, ist ein Holz-
232 Die Philipponen.
haus im Gersafsstil mit Ziegeldach, die anderen Kirchen haben Schindel-
dach. Sie ist 6m breit» 10m lang, Dach und Wand sind je 5m, der
Glockenturm 12 m hoch. Er wird von einem Kreuz gekrönt; ein solches
findet sich atrdr auf dem Dachfirst in der Gegend des Altartisches. Der
Glockenturm besteht aus vier senkrechten Balken, zur Thur führt eine
dreistufige Holztreppe. Auf dem Glockenstuhl des Turmes hängen drei
kleine, schön klingende Glocken, eine grofse liegt zerbrochen im Vorhof.
Jede Kirche hat einen kleinen Vorhof mit Treppe zum Glockenstuhl.
Im Vorhof hängen Kleider, Geräte und ein Schlusselschr&nkchen. Die
eigentliche Kirche ist noch 8m lang. Das Heilige, für die Kirchen-
besucher, ist vom 3 m langen „ Allerheiligen u durch eine meterhohe
Planke getrennt, eine Stufe führt hinan. Hier walten die Priester und
Lektoren ihres Amtes; im Laienraum aber versammeln sich an der
Thür die Verheirateten, an der Stufe die Jugendlichen. Das Heilige
hat drei feste Bänke an den weifsgetünchten Wänden, und in der Nähe
des Einganges einen schönen Kachelofen. Im Allerheiligen steht in
der Mitte ein Altartisch. Drei 1,5 m hohe Leuchter, zwei aus Kupfer-
blech, einer aus Holz stehen davor. An die starken Wachskerzen sind
dünnere geklebt, die an gewöhnlichen Sonntagen brennen. Hinter dem
Altartische ragt ein 2,5 m hohes Kreuz mit einem Lämpchen davor.
Auf dem Tische steht eine Bibel mit metallverziertem Deckel; sie
ward bei der Einwanderung aus Rufsland mitgebracht. Der Tisch ist
mit bunten Decken bedeckt, ihm zur Seite sind Marienbilder, reich
mit Gold und Glasmalerei verziert. An der Hinter wand zieht sich ein
Sims mit Lichtern hin, über denen etwa 24 grofse und 15 kleinere
Heiligenbilder hängen. Diese Heiligenbilder stellen zum gröfsten Teil
biblische Scenen vor; auf den meisten sind Christus und Maria mit dar-
gestellt; einige wenige beziehen sich auch aufs alte Testament, so der
Besuch der drei Männer bei Abraham. Aus dem Heiligenleben ist nur
selten ein Vorwurf genommen. Der heilige Georg und Nikolaus, der
Schutzheilige der Philipponen, werden gern dargestellt; niemals aber
Philipp, nach dem sie sich nennen. Diese Bilder sind sämtlich von
Philipponen gemalt, durften ehemals von keinem Andersgläubigen
berührt werden und stehen noch jetzt in hohem Werte. Jede Familie
besitzt in ihrem Heiligenschranke solche Bilder, verwehrt aber keinem
Freunde die genaue Betrachtung. Die Lichter und ölgläser vor den
Bildern werden in ihrer Gesamtheit nur an grofsen Festen angebrannt,
desgleichen der grofse zwölf armige vergoldete Deckenleuchter, dessen
Preis mit Stolz auf 75 Mk. angegeben ward.
Auf den Seiten bänken des Allerheiligen liegen Kniekissen für die
Beter, Weihrauchkessel und zahlreiche Bücher. Die meisten dieser Bücher
sind sehr wertvoll, ihres Alters, ihrer Ausstattung und ihrer Seltenheit
wegen. Aufser den Büchern, die man aus Rufsland mitbrachte und
noch jetzt dort hält, hat man solche aus der früheren russischen
Buchdruckerei zu Johannisburg und aufserdem feine, in Mönchs-
Inneres der Kirchen, Pope. 233
weise von Philipponen geschriebene Bücher. Aufser vornikonischen
giebt es nachgedruckte vornikonische und einige wenige nach-
nikonische von Altgläubigen abgefafate, den Glauben und die
Glaubensgeschichte der Starowierczen darstellende Werke Jene sind
sämtlich in kirchenslawischer Sprache geschrieben. Sie sind aus sehr
starkem Papier hergestellt und dauerhaft gebunden , die Blätter haben
seitlich kleine Streifen zum Umblättern. Die wichtigsten Bücher sind
die Ostrogsche Bibel (1581), daraus die Evangelien (1596), der Psalter
und die Apostel ( 1596); besonders die Evangelienerklärung des Johannes
Chrysostomus oder Zlotoust (1629); das einem Katechismus gleichende,
aber von Schmähungen gegen Andersgläubige erfüllte Buch des Kyrill
(1644); der Poirebnik oder die Ordnung für Taufe, Beichte und Be-
gräbnis; das Stundengebetbuch, Lobgesangbuch, Fasten- und Verbeug-
gesetzbuch; die Geschichte von den Vätern und Märtyrern vonSolowick.
Es mögen 40 heilige Bücher sein. Jedes Haus hat eine Anzahl selbst;
weltliche Bücher hielt man früher für ketzerisch; jetzt sind polnische
und deutsche Schul- und Lehrbücher, Unterhaltungswerke und Zeit-
schriften nichts Seltenes.
Meist kommen nur Erwachsene zur Kirche, doch fehlt auch die
Jugend nicht ganz. An gewöhnlichen Tagen erscheinen 20 bis 30, an
Festtagen die zehnfache Zahl. Das Innere der Kirche ist sehr sauber,
die Diele ist schön gescheuert, im Allerheiligen sind zu beiden Seiten
Fenster, denen nie Wolkenvorhänge fehlen. Der Vorraum hat eben-
falls zwei kleine Fenster. Die Schönfelder Kirche mit ihrem morschen
durchlöcherten Strohdache ist, wie die Onuf rigowener , ganz ähnlich
eingerichtet. Aber die viereckigen Balken dieser ältesten, schon 1837
gebauten Kirche sind noch echt russisch, an den Kanten hervorragend.
Das Haus ruht auf vier Ecksteinen, der Giebelschmuck ist kelchförmig,
das Giebelbrett mit hübschen buchtigen Ornamenten ausgeschnitten.
Ich zählte darin sechs Altartische und 14 Heiligenbilder, die, wie
überall, mit Papierblumen umkränzt sind. Das' Innere war mit Kalk
beworfen. Die Onuf rigowener hat die gleiche Zahl Heiligenbilder.
Findet in den letzteren Kirchen Gottesdienst statt, so kann er als
privater gelten. Anders in Eckertsdorf, das noch seine Staryks und
Knizniks hat.
Früher nannte man den Geistlichen Staryk, jetzt nennt man ihn
Pope. Die Popen waren immer Laien, doch fängt man schon an, den
Vorzug gelehrter Priester einzusehen. Damit verläfst man aber auch
die alte Forderung Philipps. Die Fedorwalder, deren Oberleitung einem
orthodoxen Propst zuerkannt worden ist, nennen sich aber doch noch
Philipponen, der alten Bücher und Riten wegen. Aber auch die eigent-
lichen Philipponen sehen es gern, wenn ihr Pope reich an Wissen ist.
Er wird von seiner Gemeinde gewählt, meist aus ihrer Mitte. In
älterer Zeit liefs man ihn auch aus Rufsland kommen. Er mufs un-
bescholten, in der Schrift bewandert und von vorbildlichem Lebens-
234 Die Philipponen.
wandel sein. Ehemals durfte er kein Fleisch genossen, kein be-
rauschendes Getränk getrunken, keinen Tabak geraucht, kein Weib
berührt haben. Der jetzige, Mikifer Borischewitz, 1833 in Eckertsdorf
geboren, ist verheiratet. Er ist trotz aller Religiosität nicht gegen
gute Neuerungen, meidet aber wie alle alten Philipponen Tabak und
Spirituosen. Eine besondere Tracht hat er nicht, bezieht auch kein
festes Gehalt, sondern bekommt für seine* Diensthandlungen freiwillige
Gaben, die aber nicht karg bemessen werden. Predigten im evangeli-
schen Sinne giebt es nicht. Den Hauptteil des Gottesdienstes bilden
die Vorlesungen aus einigen der oben erwähnten Bücher. Ehemals
erteilte er den religiösen Unterricht, jetzt liegt er in Händen der Familie.
Er hält Gottesdienst Sonnabends von 4 bis 6 Uhr, Sonntags von 7 bis 9
und 5 bis 6 Uhr. An allen gröberen Festtagen ist nachts Gottesdienst
von 12 bis 4 Uhr, zu Ostern die ganze Nacht. Er leitet die Taufe,
das Begräbnis und nimmt die Beichte ab.
Der philipponische Schulze in Eckertsdorf hat jetzt dieselben
Obliegenheiten wie jeder ostpreufsische Dorfschulze.
Der Kniznik oder Beter übernimmt beim Gottesdienst einen
Teil der Vorlesungen; bei den langen Gottesdiensten wechseln sich
mehrere ab. In Eckertsdorf sind sechs Kniznik s.
Philipponische Lehrer giebt es seit Einführung der Staatsschulen
nicht mehr. Der letzte war der jetzige Pope. Die früheren Lehrer
zogen von einem Gehöft zum anderen, unterrichteten die freiwillig
kommenden Kinder und erhielten jährlich für jedes Kind drei bis vier
Thaler, und Kleidung, Nahrung, Wohnung in der Familie. 1835 legte
einer sein Amt nieder und handelte mit Teer, weil das einträglicher
war. Als die Schule in Eckertsdorf gebaut ward, wurde Unterricht
in Religion, Lesen, Russisch, Polnisch erteilt.
5. Dörfer. Der Mittelpunkt der philipponischen Kolonieen war
von Anfang an Eckertsdorf. 1832 zog hier Isidor Borissow, der Bruder
des fanatischen Glebokirower Stariks Jafim Borissow, an der Spitze
mehrerer Glaubensgenossen ein. Dieser thatkräftige Führer ward
Schulze im neuen Ort und hat neben Fama Iwanow nachmals meist
die Forderungen der Behörden als nicht im Einklänge mit dem philip-
ponischen Glauben bezeichnet, so dafs Eckertsdorf immer als Sitz der
Unzufriedenheit galt. Borissow nannte den Ort Weynowo nach seinem
im Gouvernement Witebsk bei Rzeczyca gelegenen Geburtsorte, die
Kolonisten hielten an dem Namen fest, obgleich der die Einwände*
rung beaufsichtigende Forstmeister Eckert das Dorf Eckertsdorf
(Eckertowo) taufte. Heute ist der letztere Name durchgedrungen.
Die Ansiedler waren wohlhabend, Famas Haus war gleich damals
mit Dachziegeln gedeckt worden. Dieser Fama war auch der einzige,
der deutsch verstand, er war nicht wenig stolz und sagte zu dem
reichsten Masuren ruhig: „Wenn der König uns beide trifft, wird
er dich kaum ansehen, mit mir aber ein längeres Gespräch führen. u
Eckertsdorf, Onufrigowen. 235
Dem Dorfe waren 1504 Morgen für 3072 Thaler zugemessen worden,
und es hatte 1837 schon 12 Grundbesitzer, 23 Familien, zusammen 126
Einwohner, 70 männlichen und 56 weiblichen Geschlechts. Man zählte
36 Pferde, 51 Rinder, 121 Schweine, 30 Schafe. Die Gebäude waren
recht hübsch gebaut und setzten sich aus 20 Wohnhäusern, 15 Scheunen,
8 Ställen und mehreren Badehäusern zusammen. Da eine Kirche noch
nicht gebaut war, wurde in eines Besitzers Sommerstube der Gottes-
dienst abgehalten. Ein Geistlicher und ein Lehrer wirkten gleich von
Anfang an.
Die Einsiedelei ward 1836 angelegt, die Kirche in den vierziger
Jahren gebaut. In dieser Zeit fanden die Prozesse mit dem Staate
wegen Entschädigung statt, weil die Behörde das Holz nicht weg-
geschafft und so den Verdienst der Philipponen geschmälert hatte.
Dazu kamen die Klagen wegen Aufnahme von Verbrechern und militär-
pflichtigen Polen, so dafs 1847 halb Eckertsdorf auswanderte. Der
ruhigen Entwickelung, die im behaglichen Sichausleben des Philipponen -
tums in den folgenden Jahrzehnten sichtbar ward, folgte die Zeit der
zunehmenden Verdeutschung. 1895 zählte es 481 Einwohner in 90
Haushaltungen, von denen die grölsere Hälfte deutsch ist. Die Vieh-
zählung wies 1897: 64 Pferde, 109 Rinder, 14 Schafe, 119 Schweine,
2 Ziegen, 29 Gänse, 30 Enten, 400 Hühner auf.
Den Mittelpunkt bildet, abgesehen von der deutschen Schule, die
Kirche, zu der sich nach Angabe des Popen aus Eckertsdorf etwa 25
Familien halten, fünf gehen nach Fedorwalde. Aulserdem kamen aus
Fedorwalde 2 (2 nach F.), aus Schönfeld 8 (7 F.), Nikolaihorst 15 (1 F.),
Galkowen 20 (3 F.), Kadzidlowen 3 (1 F.), Iwanowen 4, Kulinowen 2,
Piasken und Onufrigowen 17, Peterhain 0 (3). Die Philipponen von
Schlöfschen haben vor 15 Jahren ihre Güter verkauft und sind nach
Polen zurückgewandert.
Von Äufserlichkeiten, wie der Kreuzinschrift, abgesehen, giebt es
keine Unterschiede zwischen den Philipponen und übrigen Altgläubigen.
Onufrigowen, das Skowronnek in seinen masurischen Dorf-
geschichten wiederholt erwähnt, liegt idyllisch neben dem Walde
zwischen Piasken und Weilsuhnen. Charakteristisch ragt besonders
das mit einem Postkasten versehene Haus auf. Schule und Wirtshaus
fehlen, eine breite moorige Strafse führt nach dem Kirchdorfe Weils-
uhnen. Die Holzschaluppen liegen zu beiden Seiten der Stralse, von
kleinen Gärtchen umgeben, in denen Mohn und Blumen blühen. Die
Onufrigowener und Piaskener Philipponen schicken 18 Kinder in die
Weifsuhner Schule, fünf erhalten zu Haus Religionsunterricht. Ins-
gesamt verstanden bei der Aufnahme 173 nur polnisch, 24 deutsch
und polnisch. Eine Mutter, die einen Philipponen heiratete, hat es
durchgesetzt, dals die Kinder evangelisch getauft worden sind.
Einer der dortigen Philipponen erzählte mir, wie 1830 sein Vater
3/4 Meilen von jenseits der Grenze eingewandert sei, nicht des Glaubens
236 Die Philipponen.
wegen, sondern weil Platz hier war. Früher sei auch eine philippo-
nische Schule gewesen, da habe man russisch und polnisch gelernt,
seit Einführung der deutschen Schulen radebreche jeder alle drei
Sprachen, aber keiner spreche eine richtig. Singen und tanzen könne
jeder, aber der alte Glaube zerbröckele.
Daneben wohnt der reichste Philippone, „der hat Jeld jenugu.
Ein rittergutähnliches Landhaus mit Samtmöbeln und Zierat, Pracht-
gärten und Glaskugeln, Steingebäuden und Zäunen wird sichtbar.
360 Morgen Land gehören dazu. Des Besitzers Vermögen schätzten
die einen auf l/ß Million, die anderen auf eine ganze. Er fuhr gerade
in einem einfachen Kälberwagen an. Ein wohlbeleibter graubärtiger,
rüstiger Mann hielt vor mir. Er kam von den masurischen Seen,
deren Fischereipacht er übernommen hat. Er wulste ganz genau zu
erzählen, wie sich die Geschichte der Philipponen abspielte, wie Nikon
die Spaltung veranlagt und im Jahre 1829 Onufri als erster Siedler
hier Onufrigowen angelegt habe; wie dieser in hoher Achtung bei
seinen Glaubensgenossen und auch bei den Behörden gestanden« viel
Herzeleid an einem seiner Kinder erfahren und endlich nach Eckerta-
dorf übergesiedelt sei. Nach ihm hat der Ort seinen Namen, nach
seinen Aussagen regelte die Behörde ihre gesetzlichen Maisnahmen
im Verhalten gegen die Philipponen. Er ist auch der Mitbegründer
Piaskens. Er konnte weder schreiben noch lesen und hatte über die
Bildung dieselben Ansichten wie unser Erzähler, der im Offizierburechen
sein Bildungsideal, in der Kenntnis des Deutschen neben dem Russi-
schen und Polnischen genug Wissen sah. Wer militärischen Gehorsam
und Schnitt gelernt hat und Eingaben selbst schreiben kann, dem
steht die Welt offen. Unweit seines herrliehen Obstgartens mit dem
Badehause erhebt sich die verfallene Kirche. Onufrigowen hat heute
rund 150 Einwohner.
Piasken besitzt neben einigen Schaluppen auch ein schönes
Steingebäude unweit des Beldahnsees. Es gehört dem Philipponen
Schlachziz, dem angesehensten unter den 200 Bewohnern. Er ist 1822
bei Sieny geboren, wanderte 1832 als zehnjähriger Knabe mit nach
Eckertsdorf, wurde Lehrer, 1891 bis 1896 Prediger in Jakobstadt
bei Riga und kehrte dann ins preufsische Philipponenland zurück, wo
er noch jetzt in Onufrigowen zuweilen Gottesdienst hält. Eine mar-
kante Gestalt (Abb. 92) in alter Philipponenart, mit langem Haar and
Bart, beweglich und stolz, fromm und gastfrei Gewöhnlich ist er mit
dem langen schwarzen Mantel bekleidet. Seine Wohnung ist auf dem
linken Teile seines Gebäudes; den rechten bewohnt sein Sohn, der
auch schon wieder grofse Kinder hat, und, wie alle besseren Philip*
ponen, einmal Rutsland besucht hat. Seine Wohnung ist ein kleiner
Tempel, rein und schön, mit drei Heiligenbildern und einigen Bücher-
brettern verziert. Die 30 Bücher rühren zum guten Teil von der
Hand des Besitzers her. Einige sind in der Art der Mönchshand-
Gastfreundschaft. 237
Schriften auf Pergament ausgeführte, mit Initialen verzierte, schön ge-
bundene Codices, deren geringsten er nicht unter 30 Mk. verkaufen
wollte. So andauernd, inbrünstig und fromm habe ich selten Rosen-
kranz beten sehen. Er legte bei der Andacht ein Kissen (Patruschnik)
auf den Boden, dals er nicht die Erde berühre, dann bekreuzte er mit
drei Fingern Stirn, Mund, rechte und linke Brust, fiel auf die Knie
und berührte mit den Händen das Kissen, den Kopf bis zur Erde
beugend.
Am Abend wollte man mich des Windes wegen nicht über den
See setzen, sondern lud mich zu bleiben ein; ich blieb. Freilioh be-
deutete man mir, es sei Fasten. Aber ich bekam Brot, Schwarzbeeren,
Milch,' zwei gekochte Eier, Thee mit Rum, Zucker und Erdbeersaft.
Er selbst genofs nur Thee und Brot Milch, Butter, Fische, Fleisch
sind beim vierzigtägigen Fasten verboten, nur öl ist am Dienstag,
Donnerstag, Sonnabend, Sonntag gestattet. An den übrigen Tagen
werden Kartoffeln , Brot , Salz genossen , Bier und Schnaps eigentlich
nicht. Mittwoch und Freitag sind stets Fasttage. An gewöhnlichen
Tagen gelten als Hauptspeisen: Kartoffeln und Brot, ebenso derb, fest
und schwarz, als kräftig; Hafermus und Milchgrütze; Hering und See-
fisch; mit Weizen abgequirlte Milch und frischer Quas, der aus gegoh-
renem Brot gewonnen wird; Piraggen, kleine Röhrenkuchen aus Kar-
toffeln oder Mehl, gefüllt mit Quark oder geriebenen Möhren, Sauerkraut
oder Fruchtmus.
Als ich mit Lächeln meinen Thee mit Rum trank, den mir die
liebenswürdige Wirtin in Toleranz gereicht hatte, und dem Staryk,
mit dem Finger fächelnd, bedeutete, dafs ich Ja vollständig am philip-
ponischen Leben und Fasten teilnehmen wolle, lächelte er selbst; das
nächste Glas Thee aber war ohne Rum. Er erzählte mir, wie er
wiederholt von Forschern aufgesucht, befragt und mit den Seinen
photographiert worden sei. Er wollte jedem seinen Glauben lassen und
bedauerte nur, dats die philipponischen Kinder ohne Religionsunterricht
aufwachsen.
Jeden Morgen, Mittag und Abend betete er wiederholt den Rosen-
kranz ab : Gott, Vater, Sohn und heiliger Geist möge ihn nicht strafen.
Vor dem Essen bekreuzte er sich vor dem Marienbilde.
Als Nachtlager bezog ich ein Himmelbett, er den Ofen. Schönes
Hausgerät, russische Decken und Gefälse, ein eichener Naturspazier-
stock, reinliche Dielen zierten die Stube.
Beim Bekreuzen legte er nach philipponischer Sitte die Finger-
spitzen des ersten, vierten und fünften Fingers der rechten Hand zu-
sammen, der zweite und dritte Finger bleiben leicht gebogen. Bei der
Ansiedelung wurde nach staatlicher Regelung in Preulsen dieselbe Art
des Handhebens bei den Philipponen eingeführt, wobei „Ja, ja" einzig
und allein zu sagen war; jetzt ist nach Angabe des Alt uktaer Gemeinde-
vorstandes der Eid genau wie von Deutschen zu leisten. Die Finger-
238 Die Philipponen.
haltung gilt als philipponisches Kennzeichen; sie ähnelt der armeni-
schen, nur gilt bei dieser der zweite und dritte Finger.
Wie Onufrigowen (poln. Onufriewo) haben noch andere Philipponen-
orte ihren Namen nach dem ersten Besiedler, so Fedorwalde (poln.
Fedorowo; 315 Einwohner), Peterhain (poln. Pietrowo; 131 Einw.),
Iwanowen (poln. Iwanowo), ein erst in den vierziger Jahren ent-
standener Ausbau, der wie Maudannen, Kulinowen und Eadzidlowen
nur wenige Wohngebäude und mit diesen zusammen nur etwa 100 Be-
wohner zählt. Wie Piasken (poln. Piaski = Sandort), das ein alter
Forstname ist, hat man auch für einige andere Philipponenorte diesen
beibehalten, so für Schlöfschen (poln. Zamczysko), Galkowen (poln.
Galkowo; 289 Einw.), Kadzidlowen (poln. Kadzidlowo = Weihrauch-
ort), Kulinowen (poln. Kulinowo); Nikolaihorst (poln. Nikolaiewo;
133 Einw.) hiets ursprünglich Moszczysko nach dem Forstort, dann
Ignaszewo nach dem ersten Besiedler. Nach dem die Einwanderung'
leitenden Forstmeister Eckert ist Eckertsdorf, nach dem Forstrat
Schönfeld das Dorf Schönfeld (poln. Ladnepole; 403 Einw.) genannt.
Letzteres Dorf ist von der breiten Landstrafse seitwärts gelegen und
zeichnet sich durch schöne Steinwohnungen aus. Alle diese Dörfer sind
Längsdörfer und sind so angelegt, dafs die Häuser mit der Vorderseite
nach der Straf se gerichtet sind.
Bei Wanderungen durch die philipponischen Orte ist man der
Gnade der Dorfbewohner ausgeliefert, da manche Orte überhaupt gar
kein Gasthaus besitzen. In Eckertsdorf, Schönfeld und Fedorwalde
giebt es solche. Wie alle slawischen Krüge im Deutschen Reiche,
zeichnen sich auch die philipponischen durch Wohlhabenheit aus. Die
Besitzer sind reiche Leute, verhandeln aufser Spirituosen auch Material-
waren und hunderterlei Bedürfnisse des täglichen Lebens. Treten
wir in einen ein. Äulserlich durch das Wort Gastwirtschaft oder durch
ein paar roh angepinselte Gläser und Flaschen kenntlich gemacht, er-
hebt sich das Haus unauffällig neben den anderen. Wir steigen die
drei Stufen des Lauben Vorbaues hinauf, lassen links die Wohnstube
liegen und treten vom kleinen Hausflur rechts in die Gaststube ein.
Zur Linken steht die bekannte lange Tafel, davor eine Bank, auf der
die Zecher, der Tafel abgekehrt, sitzen. Früher besuchten nur die
Masuren die Krüge, jetzt fangen auch einzelne Philipponen an, den
Spirituosen Geschmack abzugewinnen. Wenn aber ein Reiseführer
sagt, jene seien arge Trunkenbolde, so hat er ebenso unrecht wie die,
die sich leider auf ihn berufen. Zur Rechten läfst sich ein quadrati-
sches Dielenstück ausheben; in der Tiefe des kleinen Kellers können
Bierflaschen und der Kühlung bedürftige Nahrungsmittel aufbewahrt
werden. Der Thür gegenüber prangt die Ladentafel, dahinter sind
Schränke mit Kolonialwaren. Eine Thür führt seitwärts in eine
Nebenstube. An den Wänden hängen die mit Papierblumen umwun-
denen Bilder des Kaiserpaares und eine Geige. Da tritt ein Jude ein
Gasthaus. Kleidung. 239
and verzehrt auf einer abseits stehenden Bank, was er in seinem
Doppeltopfe mitgebracht hat: Kartoffeln und Fisch. Er kommt von
Polen herüber, um. Wolle und Federn zu verhandeln. Der Wirtin
wendet er nicht viel zu. Den Unterschied zwischen Masuren und
Deutschen kennt er nicht, die Philipponen nur sind ihm Russen.
Im Gärtchen nebenan hängt an einer 4 m hohen Stange eine auf-
gehängte Krähe.
Gegen Abend kommen Gasthausbesucher, um bei Lärm und Ge-
spräch des Tages Mühe zu vergessen. Als ich abends l/29 Uhr im
Fedorwalder Kruge anlangte, verweigerte man mir, wie einst in den
abgelegensten litauischen und slowinzischen Winkeln, Unterkunft. Man
rief mich zwar voller Entschuldigungen zurück, ich aber war schon
auf dem Wege nach Ukta. In einem solchen Kirch dorfe ist natürlich
ein anderes Unterkommen zu finden. Da giebt es eine oder mehrere
gute Stuben, der vornehme Fremde wird ins Herren stubchen geführt,
wo Pastor, Lehrer, Apotheker, Schneidemühlenbesitzer und Forst-
beamte zusammenkommen. Da giebt es schöne Gastzimmer, reinliche
und gute Speisen, Kultur und erhöhte Preise.
In einer Gegend, wo vor 200 Jahren nur schmale Pfade Beutnern,
Jägern und Händlern durch den Urwald sich boten, ragen in fried-
lichen Dörfern neben Villen und Schneidemühlen schon Modehotels
und Bahnhöfe. Die Einsamkeit des Waldes durchhaut das Signal des
Salondampfers und der Pfiff der Lokomotive.
Die ganze philipponische Gegend bietet in ihrer Abwechselung
von Berg und Thal, Föhren und Laubwald, Garten und Feld, See und
Flufs so viele Naturreize, dafs ihr Besuch in trockener Jahreszeit jeden
belohnt. Herbst und Frühjahr freilich machen mit den masurischen
Sümpfen vertraut.
IV. Gebräuche.
1. Kleidung. Heute unterscheidet sich der Philippone vom
Deutschen und Masuren nicht mehr hinsichtlich der Kleidung, bis auf
wenige alte Leute. Ehemals hielt man sehr streng an der Tracht fest,
Abweichung galt für Abfall vom Glauben. Gerfs hat im Jahre 1839
nicht weniger als 16 Typen philipponischer Tracht gezeichnet An
keinem Gewandstück war ein Knopf, Knöpfe hielt man für Teufels-
augen. Man band, da alles Mäntel trug, die Kleider über der Hüfte
mit einem Gurt. Pope, Kniznik, Einsiedler, Mönch und Nonne trugen
keinen Gürtel, sondern Heftel; ihr Mantel reichte bis an die Knöchel.
Mönch und Nonne hatten aulserdem eine Art Kaputze oder Skapulier.
Auch der Winterpelz reichte bis beinahe zur Erde. Die Kopfbedeckung
der Männer war barettartig, die Frauen trugen Kopftücher. Heute ist
der Rock der Frauen lang und schlicht, nicht vielfarbig. Ich sah blau-
und weifsgestreifte , aber auch einfarbige. Sie gleichen offenen breiten
240 Die Pbüipponen.
Säcken mit zwei Ach Salbändern. Ein Leinengürtel wird am die Hüfte
geschlungen, so data die Hemdärmel frei sind; um den Kopf ist ein
russisches Tuch geschlungen. Farbige Bauschröcke sieht man nie,
ebensowenig die breiten, fast rockähnlichen Schurzen, wie sie in Litauen
und der Wendei Mode sind. Die bunte schmale Schürze und das
bunte Kopftuch herrschen vor. Der Mann hat kurze Leinen- oder
Tuchhosen an , die beim Marsch in langen weichen Stiefeln stecken.
Das weifse Hemd reicht offen über die Hosen weg und ist entweder
Abb. 92.
Phi lipponen haua. Philipponen in jetziger Tracht.
(Nach einer Photographie von Professor Dr. Schmid t- Lätzen.)
mit einem Gürtel an den Hüften befestigt, oder es wird die Hose allein
festgeschnallt und eine Weste über das Hemd gezogen (Abb. 92), Die
Zipfel des Shawls gucken dann kreuzweise unter dem unteren Westen-
Baume hervor. Ein guter langer schwarzer Rock wird bei festlichen
Angelegenheiten gebraucht. Haar und Bart tragen nur noch die
Alten lang.
Die Gestalt ist grofs und kräftig, die Haarfarbe blond, die Augen
sind blau, die Haut ist zartrot. Die Kinder und Madchen sehen aus
wie Milch und Blut Die Masuren dagegen sind klein , braun , von
kräftiger Hautfarbe.
2. Taufe. Die Taufe ist das wichtigste Sakrament. Sie weicht
in ihren Formeln etwas von der russischen ab und wird in der Regel
40 Tage nach der Geburt vollzogen, bei schlechtem Wetter in der
Kirche unter Gebrauch eines Holzgefafsea , bei schönem Wetter in den
Taute, Hochzeit. 241
Fluten des Crntinnenfluasea, des Beldahn- oder Datssees. Das Wasser
wird dreimal mit Weihrauch gesegnet. Der Pope, die Eltern und
Taufzeugen begeben sich an den Taufplatz. Nach Gebeten und Be-
kreuzigungen, Gesangen und Vorlesungen, bei denen der Taufpate den
Knaben , die Patin das Mädchen auf dem Arme hält, stellt der Pope
dreimal die Frage: „Entsagst du dem Teufel und allen seinen Werken,
seinem Dienst, seinen Engeln und allem Bösen?" Die Paten oder der
erwachsene Täufling bejahen dies und spucken den Teufel dreimal an.
Dabei hat der Täufling die Hände gehoben und das Gesicht nach Osten
gewendet; das Haar der Madchen darf nicht geflochten sein. Dann
dreht der Pope den Täufling nach Osten, spricht — oder die Paten
sprechen für ihn — dreimal das Glaubensbekenntnis und der Pope
ruft dann aus: „Der Knecht (die Magd) Gottes N. N. wird getauft im
Namen des Taters, des Sohnes nnd des heiligen Geistes. " Dabei hält
der Priester den Täufling nach Osten, sich zugekehrt, und taucht ihn
dreimal unter das Wasser, ihm den Mnnd zuhaltend. Dann heftet er
ein neues Messingkreoz (Abb. 93) an schwarzem Äbb 93
Bande auf das neue Tanfhemd. Beides sind
Fatenge schenke, das Kreuz trägt der Philippone
zeitlebens. Es folgeu wiederum Spruche, Gebete
(32. Psalm; Bdm. 6, 3 bis 11; Matth. 28, 16
bis 20), kurze Gesinge und ein Schluls Spruch.
Dann beginnt ein kleines Gastmahl. Wieder-
taufe giebt es nicht, wie Skowronnek in seinen
masurischen Dorfgeschichten glaubt Wer Phi-
lippone werden will, mufs aber aufs neue ge-
tauft werden. Das kommt jetzt sehr selten vor.
Auch die evangelischen Mädchen, die einen
Philipponen heiraten, bleiben meist ihrem alten
Glauben treu. Patenkreuz
Die genaue Tauf handlung ist im Potrebnik d« Pniüpponen.
aufgezeichnet, das Glaubensbekenntnis unterscheidet sich nicht viel
vom nicäi sehen.
Taufnamen sind: Onufri, Iwan, Mikifer, Gregor, Fedor, Piotr,
Fama.
Die Namengebung weicht jetzt nicht von der deutschen ab. Ehe-
mals wechselten bekanntlich die Philipponen ihre Namen nach Bedarf,
die Frauen trugen des Mannes Namen und hängten die Endung a, die
Knaben die Endung wiez an.
3. Hochzeit. Tor der Hochzeit setzt man die Brant auf einen
Stuhl, dann teilt man ihr die Zöpfe, und legt unter Gebet ein Brot
auf ihren Schots. Das soll bedeuten, in der Wirtschaft soll nie
Mangel sein. Beim Einzüge werden die Neuvermählten nach russischer
Sitte mit Brot und Salz empfangen. Die standesamtliche Vermählung
erfolgt einige Tage vor der kirchlichen Einsegnung. Wagenfahrten
242 Die Philipponen.
und Gastmahle, Brautgeschenk und Beglückwünschung sind auch hier
Kennzeichen. Dagegen ist die Zeit des Brautraubes vorüber. In den
ersten Jahren kam er noch hier und da vor. Auf Jahrmärkten trafen
die Burschen die jungen Mädchen. Einigemal fuhr der Jüngling im
Einverständnis mit der Braut ins väterliche Haus, die Eltern des
Mädchens erhoben zwar bei der Behörde Widerspruch; es stellte sich
aber heraus, dafs alles abgekartet war und die Eltern des Mädchens
gern nachgaben.
4. Begräbnis. Wenn ein Erwachsener stirbt, so wird ein
Kniznik ins Haus geholt. Er betet nicht frei, sondern liest Gebete
vor dem Heiligen schranke ab. An Festtagen brennen Olivenöllampen
samt Kerzen. Das Beten geschieht Tag und Nacht ununterbrochen.
Alle zwei Stunden erfolgt Ablösung. Die Nachbarn der Umgegend
kommen alle ins Sterbezimmer und beten halb singend aus Buchern.
Häufig hört man „Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und
des heiligen Geistes u, „Gott sei mir Sünder gnädig", „Herr, erbarme
dich". Am dritten Tage vormittags ist das Begräbnis. Da kommt
der Pope mit dem Myrrhen weihgef als , betet kurz, bekreuzt mit dem
Weihrauch die Leiche, die dann in weifses Linnen gehüllt und in einen
einfachen rohen Brettersarg gelegt wird. Alles ist schlicht, auch die
Kleidung der Leidtragenden und des Predigers, die Nichtigkeit des
Irdischen soll auf serlich veranschaulicht und bekundet werden. Dann
giebt der Pope ein Zeichen mit dem Rauchgefäfs; da nehmen die An-
gehörigen klagend Abschied, küssen den Toten, schliefsen den Sarg,
und unter kurz abgerissenen Gesängen tragen die Frauen den Sarg
einer Frau, die Männer den eines Mannes. Auf dem Friedhofe segnet
der Pope die Gruft mit Weihrauch. Der Sarg wird eingesenkt; drei
Hände voll Erde darauf; Zuschüttung. Gesungen wird dabei nicht;
die Angehörigen verteilen Geld an die ärmeren Glaubensgenossen vor
ihrer Thür; die Verwandten und Freunde werden zu einem einfachen
Mahle eingeladen. Die Philipponen sitzen an einem besonderen Tische.
Spirituosen meidet man.
5. Beichte. Die Beichte geschieht wie die Taufe und das Be-
gräbnis genau nach dem Potrebnik. Das Formular ist so raffiniert
ausgedacht und bezieht sich auf eine solche Menge der Hauptsache
nach geschlechtliche Verirrungen, dal s die Philipponen selbst behaupten,
sie kennten viele der daselbst angeführten Sünden gar nicht. Die
Ohrenbeichte ist jedenfalls, selbst im Dienste eines einwandfreien Popen,
eine heikle Angelegenheit, und die Fragen müssen jedem ernst Denken-
den ein Kopf schütteln , jeder nicht völlig verdorbenen Frau Schamröte
erwecken. Gewöhnlich hält man die Beichte in der Kirche, bei Kranken
auch zu Hause ab. Eine Sündenvergebung hat nicht statt, sondern
die Zuerteilung einer Strafe, bestehend in Fasten und Beten. Mit der
Abbüfsung der Strafe glauben die Philipponen Sündenvergebung erlangt
zu haben.
Feste, Feiertag. 243
6. Feste. Dreimaliger Gottesdienst und Sonntagsruhe kenn-
zeichnen alle philipponischen Feste: Maria Geburt 8. September, Kreuz-
erhöhung 14. September, Johannes Ev. 26. September, Maria Weihung
1. Oktober, Demetrius 26. Oktober, Michael 8. November, Chrysostomus-
Zlotoust 13. November, Maria Opferfest 31. November, Maria Erschei-
nung in Nowgorod 27. November, Nikolaus 6. Dezember, Weihnacht
25. und 26. Dezember, Neujahr 1. Januar, Hohes Neujahr 6. und 7. Januar,
Basilius Gregorius und Chrysostomus 30. Januar, Bettag 2. Februar,
Maria Verkündigung 25. März, Georg 23. April, Johannes Ev. 8. Mai,
Nikolaus Wunderwerk 9. Mai, Johannes der Täufer 24. Juni, Peter
Paul 29. Juni, Elias 20. Juli, Allerheiligster Festtag 1. August, Ver-
klärung 6. August, Verehrung Maria 15. August, Von keiner Menschen-
hand ist Jesu Bild gemacht 16. August, Enthauptung Johannes
29. August, Ostern (6 Tage), Himmelfahrt und Sonntage.
Gegenüber dieser Feststellung von Saltzwedell werden in Eckerts-
dorf folgende Feste gefeiert aufser den Sonntagen, dem sechstägigen
Oster-, Pfingst-, Weihnachts- und zweitägigen Hohen Neujahrsfest: 13.
und 18. Januar, 6. April, 20. und 21. Mai, 16. Juli, 18. August, 20.
und 26. September, 13. Oktober, 25. November; Himmelfahrt.
Zu Weihnachten beten sie 8 Tage lang. Konfirmation und Abend-
mahl giebt es nicht. Gefastet wird sechs Wochen vor Ostern und
Weihnachten und jeden Mittwoch und Freitag. Die alten strengen
Fastgebräuche, nach denen an einzelnen Tagen überhaupt nichts ge-
nossen ward, sind milder geworden. Gottesdienst ist am Vorabend
von 4 bis 6, am Festtage von 7 bis 9 und von 5 bis 6, an den grofsen
Festtagen von 12 bis 4 Uhr. Das Osterfest wird ganz in russischer
Weise gefeiert, der Gottesdienst dauert die ganze Nacht, früh ruft man
sich zu: „Christus ist auferstanden !a „Ja, er ist wahrhaftig auf-
erstanden 1"
Während der freien Zeit besichtigen sie ihre Fluren, gehen in den
Wald oder versammeln sich vor ihren Thüren. Sie ziehen auch auf
die nächsten Dörfer bei Gesang deutscher und russischer Lieder, wie:
„Es schwankt eine Blume im Winde u , „Es flogen drei Tauben wohl
über ein Thal". Wie andernorts, sind auch hier die Mädchen Träger
des Gesanges. Ihre zu grolse Schüchternheit erschwert die Aufzeich-
nung ihrer Lieder. Solche gemeinschaftlichen Ausflüge werden be-
sonders zu Jahrmarktstagen unternommen. Am 24. Juni bindet man
den Kühen Kornblumenkränze aufs Haupt, hängt auch solche in die
Stube. Am Schlüsse des Roggenschnittes bringt der letzte Schnitter
der Herrschaft den Kranz und wird mit Wasser begossen. Das geschieht
mit solcher Ausgelassenheit, daEs man einst ein Bürschchen gleich in den
Dufssee führte und so lange untertauchte, bis es ertrunken war. Am
Andreasabend wird Blei gegossen. Zur Fastnacht wird allerlei Scherz
getrieben. Im Sommer macht sich die Jugend Schaukeln im Walde,
an den Bäumen oder auf Stämmen, auf die man quer ein Brett legt.
16*
244 Die Philipponen.
Die Kinder aber spielen Sachen and Verstecken. Auch stellen sie
einen hölzernen Rehbock auf, und einer, der auf den Schultern eines
anderen sitzt, mufs ihn zu treffen suchen. Oder man schlägt sieben
oder neun Pfähle ein und wirft aus der Ferne danaoh. Wer die meisten
herausschlägt, hat gewonnen.
Man grüfst: „Gott gebe dir guten Abend!" „Seid gesund!"
„Gott gebe dir Glück!" und erwidert: „Danke!" „Gott vergelts!"
Freunde begrülst man deutsch „Gun Abend" mit Betonung auf der
letzten Silbe. Dieser Grufs wird zu jeder Tageszeit gebraucht.
In der Spinnstube aber erzählt man aufser den täglichen Ereig-
nissen auch alte Fabeln und Geschichten.
7. Unterschiede von der russischen Kirche. Man verwirft
die Priesterweihe, weil Nikon nicht von einem lebenden, mit Bewußt-
sein begabten Patriarchen geweiht und damit fürderhin die Fähigkeit,
zu weihen und als wirklicher Priester zu walten, verwirkt worden war.
Von den Sakramenten erkennt man nur Taufe und Beichte an, weil
aus eben jenem Grunde nur diese beiden von Laien verwaltet werden
dürfen. Kreuz und Kreuzesaufschrift, Art der Bekreuzung und Eid
wurden schon früher erwähnt. Beim Kreuzmachen sagt man nicht:
„Jesu Ghriste, unser Gott, erbarme dich unser!" sondern „Issus
Christus, du Sohn Gottes, erbarme dich unser." Die alten Riten, so
der Gesang des doppelten Halleluja statt des dreifachen, der Mangel
der Predigt, der Sängerchöre, Feierkleider, Prozessionen, Segnungen,
die Benutzung der alten Agende und Kirchenbücher gestalten den
philipponischen Gottesdienst einfacher. Einzelne Festtage, wie der 6.
und 18. Oktober, der 30. November u. s. w. fehlen.
V. Geistiges Leben.
1. Charakter. Die alten Philipponen waren stolz, besitzfroh,
mäfsig, arbeitsam, intelligent, religiös, glaubenstreu. Lebenskraft und
strotzende Gesundheit zeichnet alle noch heutigen Tages aus. Ihrem.
Glauben bleiben sie mit wenigen Ausnahmen treu. Das altgermanische
blühende Äulsere ist auch den Jungen geblieben, aber diese schneiden
den Bart und das Haar, wollen Soldaten sein, bezeichnen die polnischen
Überläufer als Verbrecher und befördern die widerspenstigen einfach
über die Grenze. Sie gehen zum Arzt und glauben nicht mehr, dals
dies Sünde sei. Und obwohl sie noch fasten und beten und Tabak
und Spirituosen verschmähen, halten sie diese Adiaphora doch nicht
für Glaubenssätze, wie die Alten. Sie wissen den Wert der Bildung
in forstlichen und öffentlichen Angelegenheiten zu schätzen und kehren
nicht den fanatischen Pharisäer heraus, der jeden Fremden für unrein
hielt, und mit dem zu essen Schande war. Sie wollen im Gegenteil
nicht Anstofs erregen und essen mit, wenn man sie bittet. Sauberkeit
und Kunstliebe zeichnet sie aus. Gern gehen sie einmal nach Rufs-
Vermögen. Geschichten. 245
land und suchen sich Stellen, die etwas einbringen. Ein Gelehrter
oder Künstler ist aber noch nie aus ihrer Mitte hervorgegangen.
Die alte Gewalttätigkeit ist ganz gewichen. Als sich mancherlei
Gesindel in den vierziger Jahren in die Kolonie hineindrängte, muteten
die Behörden natürlich die Besitzer verantwortlich machen. In den
gegenseitigen Reibereien nun hatten die Philipponen oft Strafe zu er-
leiden. Es mag dabei ihr Rechtsgefühl manchmal gekränkt worden
sein; sie mögen geglaubt haben, nun auch ihrerseits nach Belieben
handeln zu können. Jedenfalls sind heutzutage geordnete Zustände
eingezogen. Wenn es in einem Buche heilst, sie seien die gröfsten
Diebe, so ist die Behauptung für die Allgemeinheit unwahr. Der
Philippone würde nie mit dem Diebe, der aus dem Hause des Nachbars
Eigentum stiehlt, etwas zu thun haben wollen. Holz- und Wilddieb-
stahl aber herrscht überall, wo Holz und Wild ist. Wenn einmal ein
philipponischer Bursche einer Mutter einen Topf ins Gesicht warf, oder
der Schwiegersohn den Schwiegervater zum Schlachtfest einlud, nach-
dem er ihm zuvor das Schwein dazu gestohlen hatte, so sind das wohl
schlimme Einzelfälle, aber die Allgemeinheit kann dafür nicht ver-
antwortlich gemacht werden. Ehemals liefs man keinen Fremden in
der eigenen Pirte baden, liefs ihn kein Buch berühren, sah ohne Mit-
hülfe sein Haus verbrennen, verbat sich die Schlichtung der Nachlafs-
streitigkeiten und Beaufsichtigung durch die Behörden, heute aber hat
man sich willig den deutschen Gesetzen gefügt. In einem Reisehand»
buch sind sie der Lässigkeit in der Bewirtschaftung ihres Eigentums
geziehen, „die sie auf keinen grünen Zweig kommen läfstu. Die reichen
philipponischen Besitzer, die angesehenen Bauern, fleitsigen Pächter
und Wirte bekommen das freilich nicht zu lesen. Ich weils nicht, ob
der Beurteiler die Besitztümer der Krymof, Malenka, Kolasznik,
Slowikof, Kraszowski, Jakobowski, Danowski, Borische witz, Philipp-
kowski, Szirpalkowski, Jaroch u. s. w. gesehen hat.
2. Geschichten. An erster Stelle seien hier die Geschichten
erwähnt, die nicht von den Philipponen herrühren, sondern über sie
geschrieben worden sind, ich meine Skowronneks masurische Dorf-
geschichten. Skowronnek schildert die Philipponen vom Standpunkte
des herabblickenden Deutschen aus. Wie der fremde Stolz lieber die
eigenen Tugenden überschätzt und die Fehler der Nachbarn im schlech-
teren Lichte sieht, so hat auch der Dichter geschildert. Es seien
einige charakteristische Stücke angeführt, die nach Berücksichtigung
des obigen wohl beachtenswert sind: „Ulas Jawor war sozusagen
aus der Art geschlagen. Früh verwaist, war er vater- und mutterlos
in der Philipponengemeinde aufgewachsen, hatte bei den Bauern die
Schweine gehütet und in dem königlichen Forst Holz gestohlen, just
wie die anderen auch. Eines Tages war er jedoch dem Schulmeister
des Nachbardorfes W. in die Hände gefallen, und dieser hatte an dem
aufgeweckten und hübschen Burschen Gefallen gefunden. Er nahm
246 Die Philipponen.
ihn zu sich und lehrte ihn — ; es genügte, um Dias die Anschauung
beizubringen, dafs der Mensch nicht erst beim Philipponen anfange,
wie er es zu Hause vom Patriarchen in der Kirche gehört hatte, der
alle Andersgläubigen kurzerhand für unreine Schweine erklärte. So
war er denn nach dem Tode seines Wohlthäters nicht wieder nach
Onufrigowen, der Siedelstätte seiner Glaubensgenossen, zurückgekehrt,
sondern hatte in der weiten Welt sein Glück versucht, erst als Brett-
schneider und schliefslich als Arbeiter an der neuen Eisenbahn, der
ersten, die in Masuren gebaut wurde. Schliefslich kam es, dafs er sich
als Flöfser verdingte und nun von einem Ende des grofsen Spirding-
sees zum anderen fuhr (um seiner Jugendgespielin näher zu sein).
Eines Tages hatte er von dem Patriarchen die Weisung erhalten, sich
für den ersten Osterf eiertag in der Gemeinde zu stellen u. s. w.a „Die
Leute erzählten, dafs der oberste von den Philipponen, der eigentliche
Pächter in 0., ein grofses Hofgut haben sollte, aber der Mensch war
schmutziger in Beinern Geiz als ein Gewürzkrämer. Er zählte beim
Zuge förmlich die Stinte und scharrte aus den Flügen jeden Fisch, der
doch eigentlich den Netzschleppern gehört, mit dem Kescher zurück,
und im Sommer und Herbst, da zog er im Lande umher und verhökerte
die Äpfel und Birnen metzen weise." „Es half auch nichts, dafs das
ganze Philipponendorf vor Gericht geladen wurde. Die Leute hängen
zusammen wie die Kletten, und es war aus ihnen nichts herauszu-
bringen. Schliefslich, nachdem fast ein halbes Jahr vergangen war,
kam der Russe vor die Geschworenen. Sie sprachen ihn aber frei, da
ihm nichts bewiesen werden konnte."
Die von den Philipponen erzählten Geschichten entstammen meist
ihren Religionsbüchern, so folgende:
Vom Bart. Früher trugen auch die Katholiken Barte. Da
verliebte sich ein Papst in ein schönes junges Mädchen, die aber wies
ihn zurück und sprach: „Wie kann ich dich lieben, du mit deinem
langen Barte. u Da schnitt sich der Papst den Bart ab. Das Mädchen
aber sprach: „Nun kann ich dich ja erst recht nicht lieben, da du das
Gesetz übertreten hast" (Dabei belachen sie die Schlauheit des Mäd-
chens und rechtfertigen das Barttragen.) „Der Papst aber überredete
nun alle, die Barte abzulegen. tf (Cyrill.)
Vom Hopfen und Tabak. Als Gott die Welt schaffen wollte,
sprach er zu dem obersten Engel: „Hol mir die Erde aus der Tiefe
des Wassers." Nach drei Tagen brachte dieser eine Handvoll und hatte
auch ein wenig in den Mund genommen, denn er wollte sehen, was
Gott thäte. Gott streute sie aus und sprach: „Es werde!" Da wuchs
die Erde im Munde des Engels. Er schrie, bat Gott um Hülfe und
spie auf Gottes Wunsch die Erde aus. Daraus aber erwuchs Tabak
und Hopfen.
An legendarischen Stoffen ist der philipponische Yolksmund
reich.
Lieder, Sprache.
247
3. Lieder. Die Philipponen singen meist rassische Lieder, in
der Schule lernen sie die deutschen Volkslieder, hier und da wird auch
ein masurisches gesungen. Sie singen im allgemeinen nicht häufig,
nur in der Spinnstube und bei Ausflügen kann man ihre weichen
Gesänge hören. Auch eigene geistliche Gesänge haben sie. In der
Kirche brauohen sie kein Musikinstrument, zu Hause vereinzelt eine
Ziehharmonika oder eine Geige; ältere Instrumente habe ich nicht
gesehen.
I.
Trauergesänge.
1. /
Des Propheten Wort gedachte ich : Sieh, ich bin Staub und Asche.
Das Grab habe ich betrachtet und sah die Gebeine des Fleisches bar.
Und ich sprach: Ist das ein König oder Bettler, ein Armer oder
Reicher, ein Frommer oder ein Bösewicht? Herr! gieb deinem Diener
Buhe unter den Gerechten.
2.
Es beut des Lebens kurze Zeit
Zur Freude Zwist und Traurigkeit.
Und aller Erde Ruhm und Glanz
Ist Traum, welkt gleich dem Blumenkranz.
Das Grab ist aller Welt Gewinn,
Es kommt der Tod und mäht uns hin.
Mit den Erwählten, Herr mein Licht,
Führ du mich vor dein Angesicht!
3.
Mufs klagen und mufs weinen,
Gedenk ich an den TodI
Du warst vor wenig Tagen
Noch morgenfrisch und rot.
Da liegst du nun im Sarge,
Und Ruhm und Schönheit schwand,
Du Ebenbild der Gottheit
Aus seiner Schöpferhand.
Es ist ein wunderbares
Geheimnis, riesengrofs:
Des Schöpfers Werk vermodert
Im dunkeln Erdenschofs.
Das macht, er hat verkündet,
Dafs nach des Lebens Zwist
Noch eine Buh vorhanden
Dem Volke Gottes ist.
n.
Der Kosak und sein Mädchen.
„War zur trüben Donau Wogen
Ein Kosak zu Rofs gezogen,
Reitet noch einmal zum Liebchen,
Sagt ihr Lebewohl."
„Ach, Kosak, reit nicht von hinnen,
Deines Mädchens Thränen rinnen.
Wenn ich hier verlassen bleibe,
So gedenke mein."
„Ringe nicht die weifsen Hände,
Mach dem Weinen nun ein Ende,
Ruhmbeladen kehr ich wieder
Aus dem Kampf zu dir."
„Keinen Ruhm darfst du mir bringen,
Kann ich, Trauter, dich umschlingen,
Möge alles rings vergehn,
Bleibst du mir nur treu."
248
Die Philipponen.
„Kriegespflicht, der Dienst des Czaren,
Ruft zur Weichsel unsere Scharen,
Um zu schützen unsere Grenzen
Vor dem wilden Feind."
„Bleib, es werden unsere Feinde
Leicht besiegt durch deine Freunde,
Ziehe, Liebster, nicht zum Streite,
Ach, verlafs mich nicht."
„Darf ich solchen Frevel wagen?
Würden die Kosaken sagen,
Dafs ich schändlich meinen Kaiser
Und mich selbst verriet."
„Zieh, Geliebter, wenn der Himmel
Es gebietet, ins Getümmel,
Schlage wacker unsere Feinde,
Doch vergifs mich nicht!"
„Dein vergessen werd ich nimmer,
Denke dein beim Sternenschimmer,
Doch, wenn ich im Kampfe falle,
Dann beweine michl"
„Thränen werd ich dir nicht weihen.
Fällst du in der Krieger Reihen;
Denn der Stahl, der dich einst tötet,
Trifft zugleich mein Herz.''
(Von Gerfs mitgeteilt.)
VI. Philipponißches Vaterunser.
1. (Mitgeteilt von Dr. Lggowski.)
Otcze nasz, ize jesji na njebjesjech, daswjatcji sja imja twoje, daprydjet
cantwije twoje , dabudjet wolja twoja jako na njebjesji i na zjemli. Chljeb
nasz nasuszczny dazdz nam dnjes i ostawi nam dotgi nasza, jakoze i my
ostawlajem dolznikom naszym i nie wjedzi nas wojskuszenije, no izbawi nas
ot lukawago.
2. (Mitgeteilt von einem Philipponen aus Eckertsdorf.)
Otcze nasz, jze iesi nanebesiech, daswiacitsia imia twoie, daprydet
carstwiie twoie, dabudet wola twoia jako nanebesi j nazemli, chlieb nasz
nasuszczny dazdz nam dnes, j ostawi nam dotgi nasza, jakoze j my ostawlaiem
dolznikom naszym, j newwedzi nas wojskuszeniie, nojzbawi nas otlukawago.
S. (Mitgeteilt vom Propst A. v. Maltzew.)
Ottsche nasch, ige*) jessi na nebessjech, da swjatitsja imja twoje, da
priidjet zarstwije twoje, da budjet wola twoja, jako na nebessi i na semli.
Hieb nasch nassustschnij daschd nam dnjess, i ostawi nam dolgi nascha,
jakoge*) i my ostawlajem dolschnikom naschim, i nje wwjedi nass wo isku-
schenije, no isbawi nas ot lukawaho. — Jako twoje jest zarstwo i sila i
slawa otza i syna i sswjatoho ducha, nynje i prisono i wo wjeki wjekow.
Amin.
*) In den Worten ige und jakoge mufs man g als das französische g
aussprechen. Zwischen der orthodoxen und der philipponischen Form des
Vaterunsers giebt es keinen Unterschied. A. v. Maltzew.
Die Tschechen.
Literatur.
Lutsch: Beschreibendes Verzeichnis der Kunstdenkmäler Schlesiens. I. bis
IV. Breslau 1886—94. — Das Wohnhaus der Grafschaft Glatz. Central-
blatt für Bauverw. 1887, S. 358 bis 376.
Maetschke: Geschichte des Glatzer Landes. Breslauer Dissertation 1888.
Part seh: Schlesien. Breslau 1895 ff.
Schematismus des Bistums Breslau. Breslau 1895.
Schlesische Provinzialblätter. Neue Folge.
Schroller: Schlesien. Glogau (ohne Jahr).
V
Die Cechen in Preufsisch-Oberschlesien. Stimme eines Buf enden aus Preufsisch*
Oberschlesien. Von einem Slauen. Prag 1875.
Volk mar und Höh aus: Vierteljahrsschrift für Geschichte und Heimat-
kunde der Grafschaft Glatz. 1888.
v. Ze schau: Die Germanisierung des vormals tschechischen Glatzer Landes
im 13. und 14. Jahrhundert. Vierteljahrsschrift VII. 1887/88.
I. Zur Geschichte der Tschechen und ihrer Siedelungen«
1. Die oberschlesischen Slawen geben ihren böhmischen und den
ans Böhmen eingewanderten Stammesgenossen den Namen Tschechen;
sie belegen die verwandten Slawen im Süden der Kreise Leobschütz
und Ratibor nach deren ehemaliger Landeszugehörigkeit mit dem Namen
Mährer und nennen die gleichfalls nahe verwandten nordungarischen,
meist evangelischen Slawen Slowaken. Die sprachlichen Unter-
schiede der drei Stämme sind nicht bedeutend, nur das Tschechische
hat sich in seiner Entwickelung zur Literatursprache von den Volks-
sprachen entfernt. Bedeutender sind die durch dio Geschichte und die
geographische Lage bedingten Sondertümlichkeiten. In Schlesien —
und damit in ganz Deutschland — wohnen nur Bruchteile von tsche-
chischer und mährischer Bevölkerung in Gemeinden. Die tschechischen
Sitze liegen verstreut, höchstens ein katholisches Stück der alten
Hummelsherrschaft kann als alter Tschechensitz gelten; der üauptteil,
die evangelischen Eolonieen, sind im grofsen und ganzen Schöpfungen
Friedrichs des Grofsen. Die mährischen Gebiete grenzen nicht an die
tschechischen, sie bilden im Südwesten Schlesiens eine Insel, die mit
Mähren zusammenhängt. — Die Literatur über diese Tschechen und
Mährer ist nicht grofs und geht kaum über gelegentliche Äußerungen
in größeren Werken hinaus.
250 Die Tschechen.
Die tschechische Bevölkerung Deutschlands zerfällt in drei Teile.
Die gröfste Zahl lebt vereinzelt und im Reiche zerstreut; sie kamen
als Sachsengänger, machten sich nach einem oder mehreren Gängen
sefshaft und bilden in manchen Klein- und Grofsstädten ansehnliche
Bruchteile der Bevölkerung. Noch jetzt wandern im Frühjahr aus
Böhmen Maurer und auch Landarbeiter in Scharen nach Deutschland,
viele kehren im Herbst zurück und bringen im folgenden Lenze neue
Bekannte mit. Die Menge dieser zäh an der Sprache haltenden
Tschechen ist unbekannt. Langhans schätzt 1890 die Zahl der Tsche-
chen und Mährer zusammen auf 0,06 Millionen; die Schätzung ist zu
niedrig. A. v. Fircks giebt für Preufsen allein 76 078 Tschechen und
Mährer an, von denen er 17 670 zu den Tschechen zählt. »Leider
fehlen die Angaben für die einzelnen Kreise. Etwa 4300 davon wohnen
aulserhalb Schlesiens, in Berlin allein 719, in Westfalen 538, in Sachsen
568, in Brandenburg 665. Von den 13 369 Tschechen Schlesiens ent-
fällt immer noch ein ziemlicher Teil auf die zerstreut lebenden, kürz-
lich eingewanderten Tschechen, so die 1246 des Liegnitzer Regierungs-
bezirkes und die in Breslau lebenden.
2. Den zweiten Teil der Tschechen bilden die alten, bodensässigen
slawischen Bewohner der Hummelsherrschaft in der Grafschaft Glatz.
Sie sind wie der erste Teil katholisch und besitzen heute noch ein
Kirchspiel, Tscherbeney, mit dem abgezweigten Brzesowie. Die Zahl
dieser katholischen Tschechen der Hummelsherrschaft beträgt 5000.
Ihr Gottesdienst in Tscherbeney ist deutsch und tschechisch.
3. Der dritte Teil der Tschechen setzt sich aus einer Anzahl alter
„hussitischer" Kolonieen zusammen, die inmitten deutscher, polnischer
und tschechisch-katholischer Umflutung ihre Sprache und ihren Glauben
bis heute bewahrt haben. Ihre Anfänge gehen auf die husBitische Be-
wegung zurück. Die Einwohner jener Kolonieen sind meist Nach-
kommen böhmisch-mährischer Brüder oder doch vertriebener Evangeli-
scher aus Österreich- Ungarn, die unter Friedrich dem Grotsen Aufnahme
in Schlesien fanden. Die alten evangelischen Kolonieen liegen weit
voneinander entfernt. Die älteste Gemeinde, Straulseney, grenzt im
Süden an Tscherbeney. Sie ist hussitischen Ursprungs und war schon
1465 vorhanden (Anders, Kirchliche Statistik von Schlesien, S. 195),
wie Herr Pastor W. Poppe von dort mitteilt. Merkwürdigerweise
scheint sie bald überflügelt worden zu sein, da nach Beheim- Schwarz-
bach zur Zeit der fridericianischen Besiedelung der böhmische Prediger
aus Hußsinetz jährlich nur zweimal daselbst predigte. Die anderen
fünf Kirchspiele sind Grofsfriedrichstabor im Grofswartenberger Kreise,
Friedrichsgrätz mit der Filiale Sacken bei Poppelau im Oppelner und
Hussinetz im Strehlener, Petersgrätz im Grotsstrehlitzer Kreise. Die
tschechische Bevölkerung dieser fünf Kirchspiele mag reichlich 7000
betragen. Vgl. Abb. 94.
4. Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, die zerstreut und
I
Sachsen ganger, Hummalherrschaft. 251
als Sachsengänger im Deutschen Reiche lebenden Tschechen mit
zu schildern. Es verlohnt sich nur, im allgemeinen darauf hinzu-
weisen, data die Zahl der
evangelischen Tschechen
in Preulsen nach A. von
Fircks 7932 (44,89
Proz.), die der katholi-
schen 9593 (54,28 Pros.),
die der jüdischen 123
(0,69 Proz.) betragt,
and dafs zwei Drittel
deutscher , ein Drittel
österreichisch - ungari-
scher Staatsangehörig-
keit sind, die mit den
Mährern im Grofs war-
ten berger Kreise 2,57,
im Strehlener 8,09, im
Glatzer 5,55, im Oppel-
ner 1,66 Proz. der Be-
völkerung ausmachen,
auch dafa in diesen
Kreisen dieselbe Zahl
für die Muttersprache
der Schulkinder gilt.
Ton diesen konnten im
Grofs warte nberger
Kreise alle deutsch, im
Strehlener von 536 nur
100 auch deutsch, im
Glatzer von 665 tsche-
chischen Schulkindern
234, im Oppelner von
94 keines; imGrofsatreh-
litzer, der keine ein-
zige Gemeinde mit über-
wiegend tschechischer
Bevölkerung besafs,
sprach von 157 tsche-
chisch - mäbri sehen Kin-
dern , wohl der Peters-
grat zer Gemeinde, keines
deutsch.
5. Die Frage: „W:
Tschechentum so lange
'").
1/
kommt es, dafs sich das katholische
l der Hummel sherrschaft erhalten hat?" ist
252 Die Tschechen.
leicht durch einen Blick auf eine historische und physikalische Karte
zu beantworten. Auf der böhmischen Seite des trennenden Heuscheuer-
gebirges gelegen, ein Anhängsel des grofsen tschechischen Hinterlandes,
geschäftlichen und familiären Verkehr und immer neue Zuflutung der
slawischen Grenznachbarn vermittelnd, bot dies Gebiet keine Gelegen-
heit, dafs die deutsche Sprache gunstigen Boden fassen konnte. Ge-
schichtlich aber war ja gerade dio Hummelsherrschaft Sitz tschechisch
gesinnten Adels, Sitz hussi tischer Gesinnung. Vom 10. Jahrhundert
bis 1742 war das Land meist böhmisch und in kirchlicher wie politi-
scher Hinsicht mehr oder weniger von Prag abhängig. Ob jenes grolse
Waldgebiet ursprünglich germanische Bevölkerung besals, wird kaum
zu entscheiden sein. Glatz wird erst 981, Lewin um 1200 erwähnt,
und das Licht der Geschichte fällt auf die Gegend erst im 13. Jahr-
hundert. Schlesien hatte eigene Fürsten bekommen, die bald auf
böhmischer, bald auf polnischer Seite standen, der Germanisierung aber
kräftig Vorschub leisteten. Auch die Böhmenkönige Wenzel I. (1230
bis 1253) und namentlich Ottokar IL (1253 bis 1278) waren deutsch
gesinnt. Sie führten deutsche Gerichts- und Umgangssprache ein und
öffneten Siedlern aus Meifsen und der Lausitz, Minoriten und Johannitern,
Rittern und Bürgern freudig Thür und Thor. Sie besetzten namentlich
die wichtige Stratse von Polen nach Böhmen über Glatz mit ergebenen
deutschen Rittern und machten so die Pässe im Glatzer, wie im Trau-
tenauer und Elbogener, Gebirgslande deutsch. Berthold v. Regensburg
predigte 1262 auf freiem Felde bei Glatz deutsch, ein böhmischer
Minorit, Peter Odranez, machte den Tolken für die slawischen Zuhörer»
Schon der erste Besitzer von Glatz, der mächtige Gallus von Lemberg,
scheint die deutsche Einwanderung begünstigt zu haben. Nachdem
Ottokar das Gebiet aus der Hand des slawischen Edelings zurück-
erlangt hatte, safs 1278 zu Glatz sogar ein deutscher Burggraf; es
waltete ein deutscher Landrichter; drei deutsche Pfarrdörfer werden
schon 1269 aufgeführt. Die Germanisierung und Kultivierung dauerte
unter den Premysliden fort; für die Grafschaft Glatz gilt die folgende
Zeit bis mit Karl IV. geradezu als goldene. Weniger Fortschritte
machte das Germanentum im südwestlichen Teile der heutigen Graf-
schaft, jenseits des Gebirges, in der Nordhummelsherrschaft. Ihre von
Glatz ziemlich unabhängigen Besitzer, die v. Pannwitz (seit 1322) und
v. Janowitz (seit etwa 1400), waren eifrige Tschechen.
Zwar lief sen auch sie roden und siedeln. Die Bauern von Lomnitz
sollten beispielsweise in eine mit Gestrüpp bedeckte Wiese so weit
hineinroden, bis ihre Hufen so lang als die der anderen wären; auch
suchte die fränkische Haus- und Dorf anläge siegreich Raum neben
der slawischen. Aber Johann, der 1346 bei Crecy fiel, und Karl IV.
hatten in ihrem Bestreben, deutsche Bürger, Ritter und Bauern gegen
den slawischen Adel zu schützen, nicht so viel Gewalt, zwingenden
Einflufs auf die Hummelsherren auszuüben. Diese suchten im Gegenteil
Tscherbeney, Straufseney. 253
die Bauern in völlige Unterthänigkeit zu bringen. Titzko v. Pannwitz
setzte 1350 bei den deutschen Priestern durch, dals die Tschechen
bedeutende kirchliche Rechte erlangten. Aus dem deutschen Reinerz
(Reinharcz 1324) wurde 1366 ein tschechisches Dussnik, Tscherbeney
(1354 Zrmney) wurde tschechisch benannt, Schlots Landfriede (Land-
frede 1366) wurde zur Ilomole der Hummelsherrschaft. Einer von
den Reinerzer Geistlichen mufste des Tschechischen kundig sein,
Dittrich von Janowitz machte zu diesem Ziele im Jahre 1406 eine
Stiftung.
Dietrich von Haugwitz setzte die Tschechisierung mit aller Kraft
fort. Jobst von Mähren begünstigte sie aufs neue. Wohl schufen die
Glatzer Bürger durch ihr deutsches Schöffengericht, dem sich auch die
Bewohner der Hummel zuweilen unterwarfen, ein Gegengewicht. Aber
die Abgeschiedenheit des Landes, das fremdsprachige böhmische Hinter-
land, der tschechische Adel lielsen das Deutschtum nicht aufkommen.
In das dichtbewaldete Gebiet riefen sie von Böhmen Siedler. Diese
gründeten eng zusammengebaute, selten von grösseren Höfen und
Gärten umgebene Gehöfte, die an schmalen, gewundenen Strafsen zu
beiden Seiten des Dorfbaches lagen. Vom Dorfplatze aus gehen
mehrere Straf sen und verzweigen sich, meist die Gehöfte umklammernd.
Die handtuchartige Waldhufenflur kannten die slawischen Ankömmlinge
nicht, ihre Äcker lagen in Gewannen.
Im Hussitenkriege hausten die kriegerischen Scharen auch in
unserer Gegend. Hynko Erussina von Lichtenberg wurde sogar Herr
von Glatz, das 1453 der neue hussitische Besitzer, König Georg Podie-
brad, zur Grafschaft erhob. Die Gründung der Hussitengemeinde
Straufseney fällt in seine Zeit. — Nun teilte die Hummel die Geschicke
des Glatzer Landes, das 1471 wieder katholisch, 1526 durch Graf
Johann von Bernstein lutherisch und 1630 nochmals katholisch ward.
Die Hummelsburg war ein altes Raubnest gewesen und diente zur
Beunruhigung Schlesiens, bis am Ende des 15. Jahrhunderts mit dem
Sachsen Hildebrand von Kauffung, dem Lehnsmanne König Georgs,
ruhige Zeiten eintraten. Seit 1595 liegt die Burg wüst.
1742 am 20. Februar leisteten die Stände Friedrich dem Grofsen
den Eid der Treue, 1763 kam das Land endgültig in seine Hand. Ein
neuer Aufschwung begann, besonders für die Evangelischen. Aber die
Tscherbeneyer Gemeinde erhielt sich auch. Zu ihr gehören Jacobowitz
und Bad Gudowa. Sie zählt etwa 5300 Seelen. Jetzt ist ein deutscher
Kaplan thätig, der indes auch tschechische Beichte abnimmt, so dals
das Verlangen nach einem Tschechen unnötig war. Die Schulsprache
ist deutsch. Es gehören zur Kirche 2748 Katholiken aus dem Kirch-
dorf e, aus Jacobowitz und aus Bad Cudowa, 347 aus Straufseney mit
Bukowine, 812 ausSchlaney, 476 aus dem nun abgezweigten Brzesowie
mit deutschem Gottesdienste. Aber aufser den Beamten und Geschäfts-
leuten spricht der gewöhnliche Mann zu Hause noch tschechisch; dies
254 Die Tschechen.
wird durch die Heiraten über die Grenze noch mehr begünstigt. Das
Deutschtum gilt eben überall als das Höhere und Erstrebenswerte. Es
wurzelt fest, trotz der kirchlichen Zugehörigkeit zu Prag. Die Zeit
scheint nicht mehr fern, dals die ganze Hummel wieder deutsch ist,
und dafs die letzten Trümmer der Ruine Landfried den fremden Namen
überleben und das alte deutsche Wesen völlig hergestellt sehen.
6. Die Geschichte der evangelischen Tschechen beginnt da, wo
die der katholischen aufhört. Die hussitische Gründung Straulseney,
zu der 426 Evangelische aus Straulseney mit Bukowine, 157 aus
Tscherbeney, Jacobowitz und Cudowa, 16 aus Schlaney, 6 aus Brzeso-
wie, insgesamt aber über 600 Seelen gehören, ist heute rein evangelisch,
auch die alte Gemeinde Mehltheuer hat sich der evangelischen in
Podiebrad-Hussinetz untergeordnet.
a) In Straulseney wird alle 14 Tage tschechischer Gottesdienst
abgehalten. Die neue Kirche ward 1848, Schule und Pfarre 1876
erbaut, das evangelische Pfarramt 1830 eingerichtet. Die evangelische
Schule zählt 85, die in Cudowa 19 Kinder. Zuerst siedelten nur vier
hussitische Ankömmlinge, deren Name noch heute vorherrscht, später
kamen vier böhmische Familien hinzu, schliesslich wurde die Gemeinde
stärker. Der jetzige Pfarrer ist deutsch, sein Vorgänger war Tscheche
und arbeitete angeblich dem Deutschtume entgegen. Die Namen sind
größtenteils tschechisch, so die Ortsnamen Straufseney von strouzinka
= Bächlein, Bukowine von buk = Buche, Cudowa von chudoba =
Armut, Tscherbeney von cerveny = rot, Schlaney von slany = salzig,
Brzesowie von breza = Birke, Jacobowitz von Jacob, Nauseney von
nouze = Not.
Die übrigen Kolonieen sind Schöpfungen Friedrichs des Grofsen.
Dieser nahm zunächst bedrängte Evangelische aus den Landen der
Maria Theresia einzeln auf; in Rixdorf bestand unter dem Prediger
Liberda eine blühende Kolonie. Der grofse König hatte den Wunsch,
solche Kolonieen auch in Schlesien zu gründen und betraute jenen
Prediger mit den ersten Aufgaben. Ihm gelang es, dals 1742 gegen
1200 evangelische Böhmen und Mährer nach Münsterberg kamen.
Dieselben Unzuträglichkeiten, die zwischen Salzburgern und Litauern
erwuchsen, begegnen uns auch hier. Dazu kam, dafs Friedrich zwar
den guten Willen seines Vaters, aber nicht dessen reiche Mittel besafs.
Im August 1742 wurden 190 Familien mit 6 14 Köpfen über 30 Dörfer
des Münsterberger und 6 des Strehlener Kreises verteilt. Von den
Zurückbleibenden wurde ein Teil in den Grolswartenberger, ein anderer
in den Tarnowitzer Kreis berufen.
Der schlechte Boden aber sagte niemandem zu, und viele entflohen
vom lästigen Geschenke. Durch Sammlungen in Holland und der
Schweiz kam eine Summe zusammen, von der man zwei Strehlener
Vorwerke am 2. Juli 1749 kaufte. Das ward die lebensvollste An-
siedelung. Im ganzen haben sich fünf solche deutsch - tschechische
Hussinetz, Neupodiebrad. 255
Kirchspiele erhalten und entwickelt, die auf Friedrich den Grolsen
zurückgehen. Im „Schematismus des Breslauer Fürstbischofs 1895"
werden die Strehlener „ Protestanten a genannt, die von Grofsfriedrichs-
tabor „Taboriten", die Friedrichsgrätzer „Hussiten". In Wirklichkeit
sind die Taboriten Reformierte und die Friedrichsgrätzer Lutheraner;
alle aber erzählen ihre Geschichte mit leuchtenden Augen, wie die
Salzburger in Litauen. Man habe ihren hussitischen und evangelischen
Glauben mit Füfsen getreten, Arnos Comenius sei ihr letzter und
tüchtigster Bischof gewesen, unter der Kaiserin Maria Theresia sei ihr
Los immer härter geworden, und der grolse Friedrich habe ihnen eine
neue Heimat gewährt.
b) Die wichtigste und stärkste Kolonie ist das Kirchspiel Hussi-
netz, deren Pastor Cblumsky heilst. Sie liegt im Presbyterat Strehlen,
das neben 14193 Protestanten 2981 Katholiken zählt. Die Umgebung
ist also stark evangelisch. Die Seelenzahl beträgt 4000 und setzt sich
aus den deutschen und tschechischen Evangelischen der Orte Hussinetz,
Ober-, Mittel- und Niederpodiebrad, Mehltheuer, sowie den Tschechen
aus Strehlen und Umgegend zusammen. Auf Hussinetz entfallen 1502,
auf Mehltheuer, das schon vor der neuen Einwanderung als tschechische
Kolonie bestand, 121, auf Podiebrad 928 Evangelische. Mehltheuer
liegt mit dem Schulorte Mittelpodiebrad im Gemenge. Die Bewohner
entstammen mit Ausnahme der alten Mehltheuerer dem Czaslauer und
Braunauer Bezirke. Sie flohen im fünften Jahrzehnt des 18. Jahr-
hunderts ohne obrigkeitliche Genehmigung und kamen ganz arm in
Schlesien an. Wo ihre hussitischen Ahnen 1429 als Feinde vor
Strehlen lagerten, bauten sie 1749 ihren Herd in der neuen Heimat,
sie nach ihrem ersten Reformator benennend. Am 8. Juni 1749
predigte ihr Pastor Blanitzky das erstemal in ihrer Sprache zu Strehlen
in der uralten Altstädter Marienkirche. Die Gemeinde gedieh, der
Zuwachs ward stärker, so dals das Vorwerk Mehltheuer 1764 die An-
kömmlinge aufnehmen mulste. Dies geschah so. Die Hofgärtner
wurden abgelöst und bildeten eine Gemeinde, der Wald blieb königlich
und machte einen neuen Forstgutsbezirk unter dem alten Namen aus.
Das übrige Land bekamen die Böhmen in Erbpacht. Die wichtigsten
Punkte des Vertrages vom 7. April 1766 bestimmten: „Die Königl.
Kriegs- und Domänenkammer giebt den 70 böhmischen Familien, die
sich bittweise an dieselbe gewandt haben, das Königl. Vorwerk Mehl-
theuer mit sämtlichem Inventar in Erbpacht. Das Vorwerk ist 1014
Morgen grofs. Der Acker ist vollständig bestellt, und es wird sowohl
für die Bestellung, als auch für den vorhandenen Viehbestand keine
Entschädigung gefordert. Jede Familie erhält zum Bau der nötigen
Gebäude 20 Stämme Bauholz aus dem Königl. Walde. Bausteine
können dem auf dem Vorwerke vorhandenen Bruche entnommen
werden. u Das neue Dorf sollte Neupodiebrad heifsen, aber man legte
der Ausdehnung wegen drei Dörfer an.
256 Die Tschechen.
Für die Realitäten waren 1315 Thaler 8 Groschen an das Streh-
lener Amt zu zahlen, sonst waren die Ansiedler frei von Steuern und
Frondiensten. Bei der Wahl der Schulmeister sollte auf eine Person
gesehen werden, die das Spinnen und Wirken kannte und alle Tage
darin unterrichten mufste. Die Richter und Ältesten muteten die Be-
wohner zum fleilsigen Spinnen anhalten und mit gutem Beispiele
vorangehen. Bis zur Einführung der allgemeinen Wehrpflicht waren
sie vom Militärdienste befreit, doch sollen sie sehr wenig von diesem
Vorrechte Gebrauch gemacht haben, da alle gern, eingedenk hussitischer
Tapferkeit, Soldaten und — preulsische Patrioten waren. Die Mutter-
sprache aber erhielt sich, weil Heiraten nach autsen selten stattfanden.
Erst in neuer Zeit, da sich auch Deutsche bei ihnen einbürgern, die
Schul- und Geschäftssprache deutsch, die Kirchensprache wenigstens
an jedem dritten Sonntage deutsch ist und die wirtschaftliche Ab-
hängigkeit von der Kreisstadt deutsche Umgangssprache bedingt, ist
die völlige Germanisierung nur eine Frage der Zeit. Schon nimmt
die Familiensprache Worte wie „spazirowat" auf, und mengt deutsche
Worte mit slawischen Endungen ein, schon versteht jeder Erwachsene
beide Sprachen. Als der jetzige Hauptlehrer in Mittelpodiebrad vor
17 Jahren sein Amt antrat, wurde wöchentlich noch zwei Stunden im
böhmischen Gesangbuch gelesen. Früher war der ganze Religions-
unterricht tschechisch, seit 16 Jahren ist aber die deutsche Schul-
sprache völlig durchgeführt. Ein deutscher Gesang- und Unterhaltungs-
verein, ein Darlehnskassen verein nach dem Muster RaiSeisen, deutsche
Vorträge des Lehrers sind Zeichen zunehmender deutscher Kultur. Die
Beschäftigung ist neben Ackerbau Ziechen-, Leinwand-, Kattun-, Inlett-,
Schürzen- und Roishaar weberel
Ihre ehemalige Leidensgeschichte muls sie natürlich von den alten
Sprachgenossen trennen. Und selbst die unverständige, grundlose Auf-
reizung, wie sie „von einem Slauen" 1875 in Prag unter dem Titel
„Die Cechen in Preufsisch - Oberschlesien" ins Werk gesetzt ward,
machte an diesen braven Leuten Halt und fand überhaupt keine Narren.
Der „Rufende aus Oberschlesien u meint, mit Anstrengung und allen
Mitteln habe die Regierung die schlesischen Tschechen und Mährer
vergewaltigt; das Gegenteil ist wahr, sonst wären ja die zerstreuten Ge-
meinden längst germanisiert. Aus „bekannten Tendenzen" trenne man
Mährer und Tschechen. Schade, data der „Slaue" nicht die bekannten
Tendenzen angegeben hat. Die Mährer im Ratiborer und Leobschützer
Kreise haben sich 1900, da die tschechische Agitation ja überall an-
gepocht hatte, immer als mährisch, nie als tschechisch bezeichnet,
soweit ich hören konnte. Der „Slaue" verlangt tschechische Ortho-
graphie der südschlesischen Ortsnamen und verweist au! die redlichen,
nüchternen slowakischen Drahtbinder; er scheint nicht zu wissen, dals
die Orte ihren Ursprung und Wohlstand zum gröfsten Teile deutscher
Thatkraft, deutschen Fürsten, deutschen Bauern, deutschen Verhält-
Tschechische Kirchspiele. 257
hissen verdanken. Die „wohldenkenden oberschlesischen" Slawen aber
haben den „Slauenu weder vor-, noch nachher zu ihrem Vertreter ge-
macht. Er sagt auch: „Die Bildung macht nicht nur keinen Fort-
schritt, im Gegenteil, sie sinkt immer tiefer herab ; die oberschlesischen
Tschechen sind so beschränkt, dafs sie bei den politischen Wahlen stets
mit den Feinden gegen ihr eigenes Wohl stimmen." Nun läfst sich
zwar immer über politische Reife streiten, dafs aber die Tschechen
besser wufsten, woher ihnen Wohlstand und Vorteil kam, brauchte
jenen nicht zu der Klage zu stimmen: „Sie vegetieren ohne Leben. u
Aus eigener Anschauung kann ich mit Freude bekunden, dats ich von
einer Beschränktheit nichts gemerkt habe, dafs aber mit zunehmendem
Deutschtume die Dörfer immer freundlicher, reinlicher, sauberer, licht-
voller werden. Übrigens scheint unser Oberschlesier, „der Slauea, die
Tschechen seiner Heimatsprovinz gar nicht gekannt zu haben. Sein
ganzes Buch bezieht sich trotz des Titels auf die Mährer.
c) Grofsfriedrichstabor ward von Friedrich demGrofsen 1749
angelegt unter ähnlichen Umständen. Ein Graf Wrtba war 1770 bis
1777 Kantor, er soll von der Kaiserin Maria Theresia seines Glaubens
wegen der Güter verlustig erklärt worden sein. Da sich der Boden
als ungenügend erwies, fand vor einigen Jahren eine Verlegung des
Dorfes % Meilen weiter südöstlich hinter den Wald statt. Das ist
noch nicht auf allen Karten vermerkt. Zu beiden Seiten der sehr
breiten Dorf wiese stehen nun die Häuser, am Ende die schöne neue
Kirche mit der Pfarre und dem Schulhause. Der Pfarrer, dessen Vater
schon im Dienste dieser versprengten Glaubensgenossen stand und aus
der Königgrätzer Gegend stammt, wufste durch Bitten die Unter-
stützung der Evangelischen für eine würdige Kirche zu erhalten. Denn
die arme Gemeinde hatte ein Drittel der Kosten zu zahlen, der Patron
der Kirche, Biron von Kurland, zwei Drittel. Wenn der Boden auch
besser ist, so sind doch die meisten Einwohner Sachsengänger.
Zur Zeit meiner Anwesenheit, Palmsonntag 1900, war die Kirche
mit Blumengewinden seit der letzten Kircheninspektion geschmückt
und der Boden mit Tannenzweigen, des Palmsonntages und Einsegnungs-
tages wegen, bestreut. An Stelle des Giebelschmuckes befindet sich
ein Stern. Ein Kelch durfte vielleicht im Gedenken an die Hussiten-
kriege, ein Kreuz in Hinsicht auf den gleichen Schmuck der dortigen
katholischen Kirchen nicht gewählt werden. Denn die Leute halten
fest an ihrem reformierten Glauben. Das Kirchspiel zählt 1500 Seelen,
etwa 800 aus Grofs- und Kleintabor, über 500 aus Tschermin, die
anderen aus Veronikenthal und der übrigen Umgegend. Monatlich
wird einmal deutsch gepredigt, die Schule ist ganz deutsch. Die Nähe
der Städte Bralin, Wartenberg, Kempen wird sicher auch hier bald die
fremdsprachige Insel überfluten.
d) Das Friedrichsgrätzer Kirchspiel im Kreise Oppeln ist 1752
von Friedrich dem Grofsen angelegt worden und zählt 1700 Seelen.
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. yj
258 Die Tschechen.
Die Dorf anläge ist wie in Grolsfriedrichstabor: eine sehr breite Wiesen-
strafse wird yon einer schmäleren durchquert. Die Gehöfte liegen eng
aneinander und haben eine Art Vorhaupt. Der Friedrichsgrätzer Pastor
Matthias Kmet, ein evangelischer Slawe aus Ungarn, hält abwechselnd
in beiden Sprachen Gottesdienst. Als Filiale ist Sacken bei Poppelan,
zu betrachten, wo der Friedrichsgrätzer Pastor bei 400 Kirchengenossen
bis zu diesem Jahre noch dreimal tschechischen Gottesdienst jährlich
hielt.
e) Petersgfätz im Kreise Grotsstrehlitz aber hat sich unter dem
Pastor Peter Schikora schon länger selbständig gemacht. Er wanderte
1830 aus Friedrichsgrätz ein. Jährlich wird hier achtmal in der Mutter-
sprache gepredigt.
f) Auf der Sprachenkarte von A. v. Fircks befindet sich rechts
yon der Oder am Nordende der Stadt Ratibor eine mährische oder
tschechische Sprachinsel. Ich habe bis jetzt nicht erfahren können, ob
sie noch besteht.
IL Sitten und Gebräuche.
Die Tschechen bilden sämtlich nur Inseln im Deutschtume, die
allmählich überschwemmt werden. Damit gehen auch die alten Ge-
bräuche verloren. Am ehesten halten sie sich bei den Katholiken, über
deren Sitten ich besonders in Schlaney mancherlei erfahren konnte.
Die Leute sind alle kleine Bauern und Weber.
1. Hochzeit Die Tschechen führen, wie es im „Führer durch
die Grafschaft Glatzu heilst, ein einfaches, treuherziges, fleilsiges,
frommes, bescheidenes, ärmliches Dasein. Dementsprechend sind ihre
Sitten.
Haben sich Bursche und Mädchen über die Heirat geeinigt, so
wird eine Verlobung gefeiert, bei der auch ein Druschba des Bräutigams
als Redner thätig ist. Am ersten Sonntag oder Donnerstag des Auf-
gebotes, meist 14 Tage vor der Hochzeit, laden Bräutigam und Druschba
die Junggesellen und Jungfrauen, dann den letzten Sonntag vor der
Hochzeit die gewöhnlichen Gäste ein. Die Braut wählt sich eine
Hochzeitsfrau (Starosvatka). Am Hochzeitstage holen nochmals die
Junggesellen die Gäste, die schon vorher Kaffee, Butter, Gänse, Eier,
Fleisch zur Bereitung des Hochzeitsmahles geschickt haben. Bei der
Bereitung der Hochzeit sspeisen helfen Braut und Bräutigam nicht mit.
Früh sammeln sich nun die Hochzeitsgäste im Brauthause zum Kaffee;
vermögende Bauern haben 10 bis 15 Paare eingeladen. Nach der
Trauung kehren sie zurück in das Brauthaus zu einem Frühstück, zu
dem auch die Nachbarn kommen. Auf dem Nachhausewege aber hat
der Brautzug erst die Schnurzieher zu überwinden. Ein oder zwei als
Narren angezogene Vermummte mit verschiedenfarbigen Rockärmeln
und Hosenteilen, mit Haarschweif und Bänderschmuck halten die Schnur
Hochzeit. Taufe. Begräbnis. 259
oder stehen vor einem Ehrenthore und suchen mit scherzhaften Abweis-
gründen den Zug zurückzuhalten. Der Druschba mufs schlagfertig auf
die Reden erwidern. Nach Zahlung einer Summe wird der Zug durch-
gelassen.
Die Burschen setzen sich nun in den Brautwinkel, und der
Druschba, der wie bei den Sorben mit Bänderstock, Rockschleifen und
Rosmarinzweig geschmückt ist, mufs allen seinen Witz aufwenden, um
den Platz für das Paar freizukaufen. Die Braut hat beim Essen zwei
Teller aufeinander stehen; „was das bedeuten soll, verstehe ich nicht,
aber alle machen es so". Es wird vom Essen etwas für die Armen
geschickt, auch geht eine Büchse für die armen Schulkinder, ferner
für die Köchin und endlich für das Paar herum.
Nach dem Essen kommen die Musikanten, spielen erst draufsen,
dann drinnen, nun dem Brautzuge nach, hin zum Tanzsaale. Bis nach
Mitternacht dauert der Tanz, bei dem getrunken und gegessen wird.
Auch die Zuschauer bekommen ihren Teil. Schlief slich bezahlt der
Druschba die Kosten, zu denen der Bräutigam die Hälfte, die Jung-
gesellen und Jungfrauen ein Drittel und die Gäste den Rest bezahlen.
Zur Mitternacht geht die Hochzeitsfrau mit ein paar Jungfrauen und
dem nötigen Branntwein in eine Stube, sie nehmen der Braut den
Kranz ab und setzen ihr die Haube auf. Dann tanzt sie drei Stücke,
und das Paar verläfst den Saal, während für die anderen der Tanz
fortdauert, auch nachdem die lange Schleife des Druschba verschwunden
ist. Die Hochzeit ist meist Dienstags, nie Freitags.
Nach der Hochzeit erst wird die Brautausstattung gemacht. Und
es soll oft vorkommen, aber doch meist jenseits der Grenze, dafs von
den versprochenen schönen Ausstattungssachen der Bräutigam nicht
viel zu sehen bekommt. Auf einen bekränzten Leiter- oder Rollwagen
wird die Gerätschaft gepackt; Jungfrauen und Gäste gehen mit dem
Hausrat, Töpfen, Äschen, Geräten nebenher. Die Braut wird im neuen
Hause willkommen geheifsen, und nun erst ist das Paar dauernd
vereint.
2. Taufe. Man wählt gewöhnlich vier Paten, zwei Männer und
zwei Frauen. Aufser dem Patenbriefe legt man etwas Geweihtes in
die Täuflingshülle, einen Rosenkranz, geweihten Zweig u. dergl. Die
Mutter mufs den ersten Schritt über die Gasse nach der Kirche thun
und darf nach Sonnenuntergang nicht ausgehen, sonst laufen ihr die
bösen Geister nach, und das Band stirbt. Geweihte Kräuter sind immer
im Bettchen; sie halten Krankheiten zurück. Diese Kräuter hat man
am Johannisvorabend gesammelt, unter den Tisch gelegt, einen Tag
darauf getrocknet und dann zum Teil aufbewahrt, zum Teil dem Vieh
zu fressen gegeben. Oder man hat am Fronleichnamsfeste Rosen und
andere Pflanzen in der Kirche weihen lassen, oder man bedient sich
geweihter Osterzweige.
3. Begräbnis. Wer sein Ende nahen fühlt, begehrt neues Stroh
17*
£50 Die Tschechen.
und lätst die Unterbetten entfernen. Die Leiche legt man auf ein
Brett, besprengt alles mit geweihtem Wasser, macht mit dem Brette
auf der Schwelle dreimal das Zeichen des Kreuzes und sagt dem Vieh:
„Der Wirt ist euch gestorben." Ledige begräbt man mit der Bahre,
Verheiratete mit Wagen. Die Leichenbank wird umgeworfen, „dafs
man ihn eher vergifst, und dafs die Trauer nachläfstu. Drei Hände
voll Erde und einmalige Bekreuzigung gelten als letztes Lebewohl. Ein.
grofses Totenmahl und sofortige Nachlafsteilung folgen.
4. Weihnachten. Die Niklasumgänge am 5./6. Dezember sind
verboten worden. Doch erscheint zuweilen der alte Weihnachtsmann
in Stroh oder in einen umgekehrten Pelz gehüllt und maskiert. Auch
den Schimmelreiter und Bärenführer sieht man. Echte Volksmusik
folgt ihnen, erzeugt auf Blechstürzen, Blechtöpfen, Giefskannen, Kämmen
mit Papierblatt, Rumpelhölzern, Bch malen, brummbafsartigen Instru-
menten, Pfeifen und Tuten. Die Nacht vom 23. zum 24. Dezember
heilst die lange Nacht, da bäckt man Mohnstriezel , schmückt den
Christbaum, und junge Leute werfen mit Jauche gefüllte Töpfe, etwa
wie beim Polterabend, in die Gehöfte. Am 24. früh gehen die Kinder
mit Holzscheiten von Haus zu Haus an die Obstbäume und singen in
ihrer Muttersprache:
Bäumchen, steh auf!
Gieb Obst, gieb Frucht!
Wasch dich ab, zieh dich an,
Christabend ist da.
Am heiligen Abend werden viele Speisen gekocht und, was das
ganze Jahr nicht vorkommt, der Tisch gedeckt. Die Menge der Speisen
soll vorbedeutend für den Überfluls des folgenden Jahres sein : es muls
viel übrig bleiben. Vom 24. bis 26. Dezember früh wird nicht ab-
geräumt, die Brocken bleiben liegen und werden am letzten Tage für
die Vögel zu den Bäumen mit den Worten getragen:
Bäumchen, hier hast du vom Christfest ein Stück,
Gieb es uns wieder, und bring uns Glück!
Wie fast in ganz Deutschland, beschert man jetzt auch beim
Lichterbaume; ältere Leute halten die Gebräuche der Zwölf nachte,
nicht zu dreschen, drehen, waschen, ringen, und glauben an die Zwölften
als Wetter- und Glücksboten. Zu Sylvester wird viel getrunken. Am
2. Januar, dem Umzugs- oder Stürztage, ist das Fest der Dienstboten.
Am Dreikönigstage kommen die drei vermummten Könige, „wenn es
der Gendarm nicht sieht", und singen in ihrer Sprache:
Wir heiligen drei Könige kommen zu euch,
Glück und Gesundheit wünschen wir euch,
Glück und Gesundheit in langen Jahren.
Wir kommen aus weiter Ferne gefahren,
Und weit ist noch unser Weg von hier,
Nach Bethlehem weiter wollen wir,
Und wenig Pfennige haben wir. —
Kirchenfeste. 26 X
Du Schwarzer hinten, was kommt dir in' Sinn?
Stöfst auf uns dein kohlschwarzes Kinn?
Wärst du nicht über die Sonne gerannt,
Hättst du die Backen dir nicht verbrannt.
Hier bin ich, Schwarzer, und trete zu euch,
Ein glückliches neues Jahr wünsch ich euch.
Die Sonne ist ein teurer Stein,
Es ward geboren das Christkindlein.
Borgt doch Windeln der Mutter Marie,
Wir wollen das Kleine einbinden für sie,
Wir haben es oft schon gebunden und gepflegt
Und haben es in die Krippe gelegt.
Jesulein, schlaf in Gottes Namen,
Von heut bis in alle Ewigkeit! Amen.
5. Ostern. Der Mummenschanz der Fastnacht mit dem „An-
führen" und den verkleideten Fastnachtsnarren, mit Musik und Gesang
besteht wie bei den Sorben. Am Palmsonntag findet die Palmenweihe
statt. Man bindet aus 20 bis 30 meterlangen Weidenkätzchenruten
ein Bündel, und grols und klein lälst dies weihen, steckt einzelne
Ruten auf das Feld, andere an den Spiegel und in die Stube. Die
Ruten sollen vor dem Blitz schützen, wie auch die mit Kreuzchen
versehenen Hölzer. Am Palmsonntag oder zu Lätare gehen auch die
Mädchen singend von Haus zu Haus mit geputzten Bäumchen und
singen deutsch:
Sommer, Sommer, Sommer
(oder: Ich komm' und bring1 den Sommer)
Ich bin ein kleiner Pommer,
Ich bin ein kleiner König,
Gebt mir nicht zu wenig!
Lafst mich nicht zu lange stehn,
Ich mufs ein Häusel weitergehn.
Die Mädchen bekommen dann Zuckergebäck. Am Montag gehen
die Knaben mit Weidenruten schmackostern und bekommen gefärbte
Eier.
Am Gründonnerstag hat früher in Lewin und Tscherbeney der
Pfarrer dem Kaplan vor allem Volk die Füfse gewaschen. Jenseits der
Grenze, so in Nachod, besteht natürlich die Sitte noch. Die Scharen
der Klapperer und Schnarrer ziehen auch hier zwischen Gründonnerstag
und Karfreitag durch die Stratsen. Am Sonnabend legt ^b. 95
jeder ein schönes, geweihtes Scheit bei der Kirche auf die
vorhandenen im Viereck, in der Mitte brennt ein Feuer
(Abb. 95). Der Scheiterhaufen verbrennt und soll die
Strafe für den Verräter Judas bezeichnen. Am letzten
April macht man Kreidekreuze gegen die Hexen mit ge-
weihter Kreide an Thür und Fenster.
6. Pfingsten und andere Feste. Man schmückt zu Pfingsten
Thüren und Fenster mit Lindenästen und setzt am 1. Mai den Mai-
262 Die Tschechen.
bäum auf den Düngerhaufen oder das Bach. Ben Maibaum hütet man,
da er scherzweise zu stehlen gesucht wird. Am Johannisvorabend ist
aulßer dem Kräuterholen noch das Ausziehen mit feurigem Besen be-
liebt, das Schmücken der Gräber hingegen findet nur am Allerseelen-
tage statt. Erntefeste und Erntebrauche haben sich nicht entwickelt,
da die Feldmarken sehr klein sind. Bie Kirmes wird zwei Tage lang
gefeiert. Bie Kuchensinger mit ihren schönen Gesängen über die Be-
standteile des guten Kuchens kommen in Mengen.
7. Spiele. Beliebt sind bei den Kindern: Klippe, Suchen, Fangen,
Vogel verkauf en , Anschlagen mit Knöpfen, Lochkugeln, Knopf werfen,
Bohnenauskugeln. „Es regnet auf der Brücke u , „Seht euch nicht um,
der „Brummsack" geht um, er geht um den Kreis, dafs niemand was
weif s u , Herstellen von Farzen (Frgatschki) und Dudelsack (Budi) aus
Weidenrinde, Backen yon Hörnchen und kleinen Kuchen, Titschkerle.
Man spielt dabei bis zu einer gewissen Zahl; wer einen Wurfgegen-
stand mit beiden Händen auffängt, hat 10 gut, wer mit der rechten:
20, mit der linken: 30, mit der Mütze: 5 u. 8. w. Wer die Zahl 500
oder 1000 zuerst erreicht, hat gewonnen. Rädchen wirft eine Partei
der anderen, die in drei oder vier Paaren in Abständen hintereinander
steht, zum Parieren entgegen. In Grofsfriedrichstabor spielte man dies
gerade am Palmsonntag-Nachmittag auf der Dorfstrafse.
8. „Hussitische" Abweichungen. Bie Festgebräuche sind
bis auf die hochzeitlichen meist geschwunden. In Podiebrad wird um
Mitternacht bei der Hochzeitsfeier der Bräutigam unter irgend einem
Yorwande vom Hochzeitsdiener herausgerufen. Inzwischen wird der
Braut Kranz und Schleier abgenommen und ein Häubchen aufgesetzt.
Sie setzt sich nun unter die Frauen, und an den Brautplatz geht ein
altes Weib. Wenn der Bräutigam kommt, muls er die Braut unter
allgemeinem Ergötzen suchen. Am zweiten Tage gehen die Jung-
gesellen und Jungfern mit dem zuletzt folgenden Brautpaar im Borfe
spazieren, möglichst in Hemdärmeln und ohne Jacke. Bie Mädchen
haben ein grofsblumiges Shawltuch um. Biese blumigen Tücher sind
bei den Tschechen allerwärts verbreitet. Man singt beim Umzug
religiöse Lieder. Am Nachmittag hilft die ganze Hochzeitsgesellschaft
räumen, jeder trägt etwas, zuletzt kommt die bekränzte Kuh. An
Winterabenden finden Federbälle statt. Auf Einladung einer Hausfrau
versammeln sich bei ihr befreundete Jungfern. Sie setzen sich an den
Tisch mit blofsen Armen und bunten Shawltüchern um die Achseln.
Bie Hausfrau bringt Federn zum Schleusen. Dabei wird gesungen.
Zu Mitternacht wird Kaffee getrunken. Dazu giebt es Dolky, eine Art
Pfannkuchen. Wenn noch junge Burschen kommen, werden Pfänder-
spiele gemacht.
Hausbau.
263
HI. Haus.
1. Hausbau. Rechts und links des Dorfbaches liegen in zwei
Teilen die Gehöfte, vor denen sich ein Pfad befindet Zwischen den
Gehöften durch führen schmale Zugänge zu der abseits liegenden Land-
strafse. Die Gehöfte sind den fränkischen Anlagen nachgebildet, hier
und da mit Bretterzaun umgeben. Häufig aber sind auch unter einem
Dache nebeneinander Wohnung, Stall und Scheune vereinigt (Tabor,
Schlaney, Abb. 96). Oftmals ist, besonders in der Strehlener Gegend,
Abb. 96.
HH
n
e
TZI
f
4i
o
1h
h Qk
T
n
J
g
Haus in Schlaney.
a Tenne, b Schuppen, c Stall, d Stube, e Abort, f Bank, g Scheite, h Dorfweg,
i Hausflur, k Kettenziehbrunnen.
wo Steinbau vorherrscht, auch die Wohnung seitlich an Stall- und
Scheuerraum vorgebaut (Abb. 97). Auch hier walten Gersafs- und
Abb. 97.
b .
d
e '
a 1
0
d
0
1 A
b
Podiebrader Häuser,
a Stube, b Kammer, c Flur, d Stall, e Scheune.
Ständerbau mit Füllholz vor. Brett- und Strohschindel werden von
den Ziegeln überall verdrängt. Ein kletenartiger Schuppen steht hinter
dem Hause. Das Dach hängt ohne Zier meist an allen Seiten etwas
herüber, so dafs ein regenfreier Umgang vor dem Hause entsteht. Ist
das Giebelende abgeschrägt, so fehlt natürlich die seitliche Decke. Mehr
als ein Dachfenster einzufügen, ist nicht beliebt. Unter den hinteren
Wohnfenstern (Schlaney) sind Holzscheite aufgeschichtet, darüber ist
unterm Dach ein Taubenschlag. Zwischen Haus- und Stallthür steht eine
Bank mit Stötzen und Eimern. Zwischen Stallthür und Scheunenthor
blinkt ein Fensterchen. Ans Scheunenthor ist gewöhnlich ein Holz-
kreuz angenagelt. Gegenüber der hinteren Stallthür liegt der Dünger-
platz, daneben stehen Kirschbäume und eine Reihe grüner Reisigbündel
neben dem Gartenzaun. Die Stuben haben den Eingang von der Haus-
264
Die Tschechen.
Abb. 98.
n
dD
bQ kD
— TJ — T"
Schlaneyer Wohnstube.
a Glasschrank, b Stahl, c Bank,
d Wiege, e Webstuhl, f Bett,
g Kachelofen mit Bank, h Haus-
flur, i Dorfseite, k Tisch.
flur aus, und die Geräte sind so angeordnet, dals rechts von der Thür
der Glasschrank, links der Kachelofen mit Ofenbank und Gerät brett
und das Bett stehen. Dem Glasschrank
gegenüber befindet sich der Tisch, dem Ofen
fTl rif | |e gegenüber der Webstuhl, zwischen Webstuhl
L-J U und Tisch: Wiege und Spulrad (Abb, 98).
Die Wandbänke sind fest oder beweglich;
in dem einen Falle hatte die Vorderseite
^ ,_,,-, zwei, die hintere ein, die Giebelseite drei
T b D k □ .
I » I <= Fenster. Spiegel und Bilder waren in der
Nähe von Glasschrank und Tisch. Die
Häuser mit ihrer Umgebung sind im all-
gemeinen reinlich und sauber gehalten und
stechen vorteilhaft von denen über der
Grenze ab.
2. Gerät und Zierat. Das Haus-
gerät zeigt nichts Abweichendes. Wand-
bänke, Holzstische und Holzstühle, Wiege und Bett, Handmangel und
der unentbehrliche Webstuhl sind wie in ganz Ost- und Mittel-
Abb. 99. deutschland. Neben dem Kachelofen hängen
__ ^ ^ an einem Eisenstabe die Trichter, Nöfsel, lleib-
K y$ f \ eisen, Löffelgestecke. Ein Brett trägt Tisch-
<Jk /Gem. SACaiujj \ gerät. Heiligenbilder und geweihte Zweige
zieren die Wand. Der Schulze ist im Besitze
zweier Stöcke. Der Schulzenstock (Richtaro wa
hui) ist ein 1,5 m langer brauner Rohrstock
Knopfinschrift mit einem Messingknopfe, der eine Inschrift
des Schlaneyer trägt Auf dem Schlaneyer steht Gem. Schlaney.
Schulzenstocks. Qr.-Glatz (Abb. 99).
Der Schulze trägt ihn als Abzeichen bei Feierlich-
keiten, so der Einführung von Lehrern und Pastoren. Der
Gemeinde stock (Obecni hui) ist verschieden gestaltet.
In Schlaney hatte man nach Abschaffung des mehrfordern-
den Gemeindedieners einen neuen aus Buchenholz für
1 Mark machen lassen, es folgt hier seine Abbildung
(Abb. 100). Der in Sackisch hat dieselbe Form.
Giebelzier verwendet man nicht, da der Giebel meist zurücktritt
oder das Dach über den Giebel hervorragt.
Auf den Kirchhöfen herrscht das Kreuz (Abb. 101). Auf einem
Grabe standen zwei naturf arbene , zwei blaue und zwei grüne 25 cm
hohe Holzkreuzehen, die am Ende wieder kreuzförmig gestaltet waren,
daneben ragte noch ein 75 cm hohes schwarzes Zierbrett mit Porzellan-
scheibe und der Inschrift : Hier ruht in Gott unser lieber Sohn Paul R.y
geb. d. 26. Juni 1885, gest. d. 31. Juli 1897.
Schulzen
stock.
Gerät und Zierat. 265
Als ich kam im zwölfte Jahr
Und der Eltern Freude war,
Legt mir Gott ein Kreuzlein auf
Und nahm mich in den Bimmel auf.
Sechs solcher Kreuzlein stehen zuweilen auf einem Grabe, auch
ähnliche Zierplatten; doch machen sich allenthalben modische Marmor-
Abb. 100.
platten und -kreuze Platz. In Podiebrad überwiegen die schrägen
Marmorplatten, in Tabor Holzkreuze und -säulen. Hier herrschen die
tschechischen Inschriften vor. Ein paar deutsche lauten: „Hier ruhen
in Jesu Christo unsere lieben drei Kinder Wilhelm, geb. 18. Mai 1892,
gest. 18. Febr. 1898, Erich, geb. 7. Febr. 1895, gest. 22. Febr. 1898,
und Toni Hetmanek, geb. 30. Jan. 1897, gesb 5. März 1898. Ich
weils, data mein Erlöser (u. e. w. bis) auferwecken. Hiob 19, 25."
266
Die Tschechen.
„Hier ruht in Gott Sehna Kortinek, geb. 1. Novbr. 1890, gest.
23. März 1898.
Ein Mensch ist in seinem Lehen (u. s. w. bis) Felde. Ps. 103, 15.
Bückseite :
Dn Blume Gottes, wie so früh brach dich des Schöpfers Hand,
Er brach sie nicht, er pflanzte sie in besseres Land."
t
Abb. 101.
118
A6
a Ein l/4m hohes, naturfarbenes , blaues oder graues Grabkreuz; b schwarze Holz-
platte mit Porzellanschild (c) und Inschrift, Sackisch. (lY9m hoch); d Grabnummer
an Grofsfriedrichstaborer Gräbern (l/4m hoch); e Grabplatte mit Halter (f) und
Nummer (g) in Grofsfriedrichstabor; Anstrich schwarz, Schrift weifs. Bei e steht:
Marie Taube narozena 20. Dez. 1828, zemrela 15. Jan. 1898; muejestziwu byti
Kristosa umriti z. Filipenskym 1,21; h l/2m hohe schwarze Holzplatte mit Inschrift:
„Hier ruht unser Vater Friedrich Tesars, geb. 11. Dez. 1831, gest. 31. Juli 1890.
Grofsfriedrichstabor"; i halbmeterhohe, quadratische und elliptische Blecbplatten;
k vgl. h; 1 Giebelzier daselbst.
IV. Volksdichtung.
1. Einige Volkslieder in Übersetzung mögen die poetische
Befähigung des Völkchens darthun. Zuvor seien die wichtigsten Namen
der 183 Steuerpflichtigen Schlaneys erwähnt: Skoda, Soutschek,
Kopatschek, Sammeck, Eutschek, Wieteck, Schrutek, Hrudik, Jedeck,
Lelleck, Watzeck, Flouseck, Tschap, Tschöpe, Tluk, Micksch, Posch,
Wieth, Tautz, Welzel, Eatscher, Kurschatke, Staara, Eudelka, Baudisch,
Janda, Lanta, Prause, Pitschinetz, Bartack.
Auf der Schlaneyer Brücke.
Auf der Schlaneyer Brücke
Wächst wohl Bosmarein,
Es braucht ihn keins zu begiefsen,
Er wächst und blüht allein.
Auf die Schlaneyer Brücke
Geh ich, es kommt die Zeit,
Da will ich begiefsen und pflücken,
Wenn der Bursch sein Mädchen freit.
Hänschen.
Hänschen, welch ein Narr du bist,
Der mit Anna gangen ist,
Jagst mit ihr zum Scheunenthor,
Nahmst noch Zuckerzeug hervor.
Volkslieder. 267
Musiki
Ihr Herren Musikanten da!
Nun spielt mir hochl Hurra.
Wie war mein Herz mir doch so schwer,
Ich mußte fort zum Militär.
Mein Lieb liefs ich zurück in Schmerz,
Und niemand tröstete mein Herz.
Das kann ja nur das Liebchen mein
Mit ihren blauen Äugelein.
Ihr Herren Musikanten da,
Nun spielt mir hochl Hurra 1
Volkstümlich ist das folgende Lied:
Die Waise.
,Wo ist meine Mutter, o Vater mein?
«
Die Mutter liegt im Grabesschrein. Ba
»
Da eilt das Kind mit Hacke und Stab
Und will zu seiner Mutter ins Grab.
Es gräbt und weint am traurigen Ort,
„0 liebe Mutter, o sprich ein Wort!8
„„Mein Kind, mich deckt die Erde zu,
Störe nicht meine Grabesruh!
Auf meinem Herzen brennt ein Stein,
Hast ja ein neues Mütterlein. BB
„0 Mutter, du gabst mir Butterbrot,
Jetzt mufs ich leiden bittre Not.
Du strichst mir die Haare und warst mir gut,
Jetzt flief8t vom Kamm herab mein Blut."
»»
uu
O geh nach Haus und bete zu Gott,
Er wird nicht leiden Sund und Spott.
Und will er erfüllen dir deine Bitt\
Dann schickt er mich, und ich nehme dich mit.
Das Kind, es stöhnte den ganzen Tag,
Bis dafs es am Abend ruhig lag.
„0 Vater, gieb mir das Festkleid mein,
Ich will zu meinem Mütterlein !a
Es glühte das lichte Morgenrot,
Das Kind lag verklärt und bleich und tot.
Am meisten singt man bei den Evangelischen folgende bekannten
Lieder tschechisch: „Wo findet die Seele die Heimat, die Ruh' a, „Harre
meine Seele tf. Ältere Leute singen gern das goldene ABC. Die Buch-
staben B (Bedline-) und T (To-) lauten: „Beschütz fleilsig deine
Ehrbarkeit, thu keine Sünde, sei Gottes Tempel ; wer einmal seine Ehr-
barkeit verliert, der wird sie nie zurückgewinnen", „Thu immer, was
recht ist, wenn du auch nicht dafür gelobt wirst, niemand kann alles
so thun, dals es jedermann gefällt".
Beliebt ist auch:
268
Die Tschechen.
„Die Böse von Saron.1
Vimt je - dnu rü - zi spa - ni - lou, kras - nej - äi ne • ma
Ich weifo ein herrliches Bö -se- lein, wie sonst auf Er- den
ffl U i- 1 jg ji^^^=?
3^3
svet, v-pokor-nych srdcich pu-ci-va li - he - zny je-ji
nicht! Den keuschen Herzen erschließt' s allein sein herrliches Blüten-
fefca^i^^^E^
i
£*33
kvet. Bü - zi - cko ctna, rü - zi - cko ctna, sa-ron-ska ruze,
licht. Wärest du mein, o Bö - se - lein, Bo-se von Saron,
kez jsi ty ma, sa-ron-ska ruze, kez jsi ty mal
o wärst du mein, Bo - se von Saron, o wärst du mein 1
Der Inhalt der anderen Strophen lautet etwa: Die Rose verwelkt
und vertrocknet nicht und sticht auch nicht den Sucher. — Engel
freuen sich ihres Duftes, Menschen sehnen sich nach keiner anderen,
wenn sie die Böse kennen. — Sie blüht in allen Ländern der Welt
herrlich, denn Christus selbst ist die Rose von Saron.
2. Tschechische Sprichwörter und Redensarten aus
dem Kirchspiel Tscherbeney. Mit Gott fang jede Arbeit an, sie
bringt dir reichen Segen. — Gott gab das Leben, Gott giebt auch
Gesundheit. — Wo sich der Mensch befleifsigt, hilft ihm Gott. —
Wenn sich zwei Brüder ein Jahr nicht gesehen haben, sind sie doch in
fünf Minuten mit reden fertig. Wenn zwei Frauen zusammenkommen,
die sich täglich treffen, können sie einen Tag lang reden. — Der Hecht
ist tot, die Zähne aber sind geblieben. — Selbst das Pferd springt
nicht über die Kraft. — Das Pferd hat vier Füfse und stürzt doch. —
Das mutige Pferd ermüdet bald. — Den Löwen und den Bären erkennt
man an den Tatzen. — Das durstige Pferd ist im Wasser nicht
wählerisch. — Schutt dem Pferde Körner, so geht's mit dir ferner! —
Jedes Lebewesen hat seine Weide. — Der kleine Wurm verzehrt die
grofae Eiche nicht deshalb, weil er sehr beifst, sondern weil er oft
bohrt. — Nicht einmal das Huhn scharrt umsonst. — Am Singen er-
kennt man den Vogel. — Selbst die Fliege wehrt sich. — Niemand
kann der ganzen Welt Kuchen backen. — Schlechter Lohn, wenig
Arbeit. — Nach dem Gefäfs erkennt man den Handwerker. — Wohl
dem Schmied, der mit beiden Händen schmiedet. — Mahle, solange da
. Sprichwörter. 269
Wasser hast. — Selbst der Meister Zimmermann hackt sich. — Führt
der Blinde den Blinden, so fallen beide in die Grube. — Wer dem
Feld nehmen will, muls dem Feld geben. — Gäb's keinen Acker, gab's
keinen Reichen. — Wo die Sonne nicht hingeht, geht der Arzt hin. —
Begieb dich nicht ohne Ruder aufs Meer! — Rasche Arbeit fällt aus
der Hand. — Selbst der alte Weber verwirrt manchmal den Faden. —
Reifes Korn fällt selbst aus der Ähre. — Nach welcher Seite sich der
Stamm neigt, nach der Seite fällt er. — Dem Hungernden schmeckt
selbst das Haferbrot. — Am Dornstrauch wachsen keine Feigen. —
Lösche das Feuer nicht mit Öl! — Schönes Wort öffnet eisernes Thor.
— Wo du nicht geladen bist, da dränge dich nicht ein! — Der Diener
ist seiner Speise wert. — Weiches Brot ifst die Tasche aus. — Früher
Sprung aus dem Bett führt zum Reichtum. — Wo viel Gastmähler, ist
der Hunger nicht weit. — Wenn auch das Häuschen hölzern, wenn
nur das Herz gesund. — Was zu Hause gekocht wird, soll auch zu
Hause gegessen werden. — Die hälsliche Wange liebt den Spiegel
nicht. — Kleines Feuer verbrennt den grofsen Wald. — Die Wahrheit
bedarf keiner Überlegung. — Rost frifst Eisen, und der Neider stirbt
vom Neid. — Gewöhn dich ans Gute, so kommt dir nichts Böses in
den Sinn! — Gutes Betragen ist Reichtum wert. — Thue gut, und es
wird gut! — Schwindel und Betrug verraten sich selbst. — Tugend
und Glück hängen an einem schwachen Faden. — Ehre, Gesetz und
Auge dulden keine Spälse. — Die Wahrheit ertrinkt nicht im Wasser
und verbrennt nicht im Feuer. — Für die Wahrheit ärgern sich oft
die Menschen. — Die Wahrheit lobt jeder, aber nicht jeder verteidigt
sie. — Wer das Fremde begehrt, kommt um das Seinige. — Die
Tugend überwältigt die .Kraft. Die Tugend lobt sich selbst. —
Armut ist die Erbin der Verschwendung. — Halt den Groschen,
damit der Gulden nicht fortläuft! — Rühre die Hände, von selbst wird
nichts! — Spare nicht den Nagel, dals du das Hufeisen nicht verlierst!
— Je höher du steigst, desto breiter die Aussicht! — Das Elend findet
den Menschen selbst nach Sonnenuntergang. — Wer gestern gelogen hat,
dem glaubt man auch morgen nicht. — Die Schuld ist kein Bruder. —
Wem Gott gönnt, dem kommt's im Traume, wem Gott m iisgönnt, dem
fällt's vom Löffel. — Im Traum gekommen, im Traum verschwunden.
— Das Unglück kommt zu Pferde und geht zu Fufse. — Der Tod
schont weder den Bettler noch den Kaiser. — Wer für weniges nicht
dankt, dankt auch für vieles nicht — Pflege die Arbeit, solange du
Kraft hast, damit ein Andenken bleibt! — Der Narr sätse unter den
Weisen, wenn er schweigen könnte. — Öftere Übung, sicherer Fort-
schritt. — Verkaufe nicht eher das Leder, als du den Löwen getötet
hast. — Was liegt dem am Monde, dem die Sonne scheint. — Das
Glück ist wankend. — Die Hand wäscht die andere. — Die Fremde
schärft den Verstand. — Die Gewohnheit hat ein eisernes Hemd. —
Der Sparsame fürchtet nicht die Not. — Wenn das Spiel am schönsten
\
270 Die Tschechen.
ist, hör auf ! — Verrater des Geheimnisses verdirbt das Vertrauen. —
Wen der Verstand nicht führt, den führt der Schaden. — Schlimm ist,
wenn die Zunge yor dem Verstände flieht. — Stilles Wasser ist ge-
wöhnlich tief. — Die Augen sind unersättlich. — Das Gesicht ist des
Menschen Verräter. — Wer sich seiner Zunge schämt, verdient von
allen verachtet zu werden. — Aus dem Kot kann man kein reines
Wasser schöpfen. — Wie man sich bettet, so liegt man. — Wie man
milst, so wird einem wieder gemessen. — Wer uns nützlich ist, dem
kommen wir aus dem Gedächtnis. — Salze nicht die fremde Speise! —
Es ziemt sich, bei gutem Mals zu bleiben. — Herr ist jeder in seinem
Hause. — Die Nadel im Sack kann sich nicht verheimlichen — Eisen
schärft Eisen. — Den Verstand schärft die Übung. — Verschwiegenheit
macht der Zunge keine Schmerzen. — Das Darlehn kommt mit Thränen
ins Haus. — Je mehr man hat, desto mehr will man haben. — Nie-
mand sieht seine eigenen Fehler. — Lafs aus dem Lied kein einziges
Wort aus. — Sprechen ist Silber, Schweigen Gold. — Bei gutem Wetter
denke an den Sturm! — Am heiligen Tage soll die Arbeit schlafen. —
Was du nicht hast, damit prahle nicht! — Grofser Streit schadet der
Wahrheit. — Verlasse nicht die Strafse einem unsicheren Fufspfad
zuliebe! — Nicht jedem dient das Glück. — Das Vermögen kommt
fädchenweise. — Ehrlichkeit währt bis in alle Ewigkeit. — Ob das
Feuer dem Wasser widerwärtig ist. — Rühre nicht mit fremden Sparren!
— Prahle nicht mit fremden Federn! — Hinterm Glück gehen die
Freunde. — Fremdes Gut macht nicht reich. — Jede Wissenschaft
kommt jederzeit zu statten. — Wie der Wind weht, so weht der Mantel.
— Das Recht bleibt Recht — Der Gesunde glaubt dem Kranken
nicht. — Jeder zahlt dem Tod seinen Tribut.
3. Geister. Das Volk nennt und kennt in seinen Geschichten
und Sagen den Tschert (Teufel), Djas (dämonisches Tier), Trak (Drache,
wildes Tier), Plynik (feuriger Luftdrache), Hastermann (Wassernix),
Palitschek (Däumling), Matthäus (er kommt, wenn ein Verschlafener
oder Hühnerblinz einnicken will), die Melusine (Windsbraut, ein ver-
wünschtes Mädchen), Mura (Alp), Morawa rana (Pest), Smertnitza
(Tod als Gerippe mit der Hippe, oder graue Frauengestalt, die sich
drei Tage vorher anmeldet).
V. Tschechisches Vaterunser«
Mitgeteilt vom Pastor Ohlumsky in Husainetz.
Otce näs kteryz jsi v nebesich; Posvet se jmeno tv6; Prijd' kralostvi
tv4; ßud' vüle tvä jako v nebi tak i na zemi; Chleb näs vezdejsi dej näm
dnes; A odpust' näm nase viny, jakoz' i my odpoustime nasim vinniküm;
J neuvod' näs v pokuseni, ale zbav näs od zlelio. Nebo tv£ jest krälovstvi
i moc i släva (az) na veky (vekäv). Amen.
Die Mährer.
Literatur.
Drzardzynski: Die slawischen Ortsnamen des Kreises Leobschütz. Gym-
nasialprogramm 1896.
Kleiber: Geschichte der Stadt Leobschütz. Gymnasialprogramm 1864.
I« Zur Geschichte des Volkes und seiner Siedelungen.
A. t. Fircks giebt die Zahl der Mährer in Preutsen mit 58408
an, von denen 56 964 auf Schlesien und davon 56 318 auf den Regie-
rungsbezirk Oppeln kommen. Von den letzteren sind 25 637 Männer
und 30 689 Frauen. Von den preulsischen Mährern überhaupt be-
zeichneten 26 343 männliche und 30 859 weibliche Personen ihre
Muttersprache als mährisch, 1327 männliche und 1085 weibliche als
mährisch und deutsch. In Wirklichkeit sind wohl alle zweisprachig.
Der römisch-katholischen Kirche gehörten 57 487, der evangelischen
nur 863 an, autserdem zählte man 53 mährische Jaden. Die deutsche
Staatsangehörigkeit besalsen 56 895, die österreichisch-ungarische 1510.
Die meisten sind im Gegensatz zu den Tschechen setshaft und be-
wohnen den Süden des Ratiborer und Südosten des Leobschützer
Kreises, woselbst sie 34,68 bezw. 10,48 Proz. der Bevölkerung aus-
machen. Von den Schulkindern gaben am 25. Mai 1891 im Ratiborer
und Leobschützer Kreise 9668 ihre Familiensprache als mährisch oder
tschechisch und 971 als zweisprachig an. Der Leobschützer Kreis
weist eine zunehmende Germanisierung auf, der Ratiborer eine lang-
samere. Im Ratiborer Kreise hatten noch 76 Gutsbezirke, Land-
gemeinden und die Stadt Hultschin, im Leobschützer noch 14 Gemein-
den über 50 Proz. mährische Bevölkerung. Die lange Dauer der
mährischen Sprache in Deutschland hat ihren Grund in geschichtlichen
Verhältnissen. Das Sprachgebiet umfatst den nördlichen Teil des alten
Oppalandes und des Olmützer Erzbistumes seit 1063. Die Kreisgrenzen
decken sich nicht mit den historischen oder sprachlichen.
Der nördlichste Teil des Ratiborer Kreises ist noch heute polnisch,
die Grenze bildet im allgemeinen die Zinna und dann die Oder. Der
Oberlauf bis Bauerwitz liegt im Oppaland selbst, die kirchliche Grenze
scheidet Wernersdorf von dem zu Breslau gehörigen Ditmerau. Die
272 Die Mährer.
älteste Zeit des Landes gehört der mährischen Geschichte an. 1107
machte Herzog Otto von Olmütz am Flusse Hotzenplotz im Bezirke
„nach Glubcicich hin" eine Schenkung zur Erbauung der Kirche des
heiligen Wenzel in derOlmützer Burg. '1131 gehörte unser Leobschütz
schon unter die Prerauer Kirche im Olmützer Bistum. 1233 bildete
die Gegend von Hotzenplotz die Grenze zwischen Mähren und Schlesien.
Mährische und böhmische Fürsten gaben Gesetze, niemals polnische.
Leobschütz, das den böhmischen Löwen im Wappen führt, gehörte zur
Provinz Holaschice, dem späteren Troppauer Lande (Ende des 1 3. Jahr-
hunderts), auch Opa via geheilsen. Boleslaus Chrobry, der um 1000
die Krakauer und Breslauer Diözese bildete, von denen sich 1088
(1063) die Olmützer abzweigte, machte sich 1003 zum Herrn von
Böhmen und Mähren. Während sich die Böhmen mit Hülfe der Deut-
schen wieder frei machten, blieb Mähren bis 1029 polnisch.
Dann eroberte es Brzetislaw zurück. Der Sohn des Böhmenherzogs
Ulrich nannte sich 1037 Herzog von Mähren, und nun war das Land
ein Teilfürstentum für die jüngeren Söhne des böhmischen Herrscher-
hauses, 1197 ward es zur Markgrafschaft. König Ottokar IL besals
sie als Markgraf Premysl und gab der Stadt Leobschütz am 28. August
1270 in einer deutschen Urkunde deutsches, mit den flandrischen
Stadtrechten nahe verwandtes Recht. Die Germanisierung und Siedel-
arbeiten des Königs sind bekannt. Ihnen ist nur aus der späteren
Geschichte dieser Gegend die Thätigkeit des hohenzollernschen Mark-
grafen Georg von Brandenburg - Ansbach an die Seite zu setzen, der
seit 1323 die bedrückten Bauern gegen den Adel schützte, vertriebene
Zipser Protestanten zur Rodung herbeirief und die deutschen Städte
begünstigte. Als Ottokar am 26. August 1278 im Kampfe gegen Rudolf
fiel, kam Mähren nach längeren Thronstreitigkeiten in die Hände eines
natürlichen Sohnes Ottokars, Nikolaus. Dessen Sohn, Herzog Nikolaus IL
(1318 bis 1365) fand Anerkennung von Seiten des Böhmenkönigs.
Durch Heirat mit einer Ratiborer Herzogstochter war Ratibor mit dem
Oppaland verbunden worden und ist seitdem schlesisch geblieben. Die
Trennung des Oppalandes von Mähren fällt ins Jahr 1348. Als im
16. Jahrhundert die Ansbacher Hohenzollern über das Fürstentum
Jägerndorf mit Leobschütz herrschten, wurde die ehemalige mährische
Zugehörigkeit völlig verwischt. Bei Schlesien blieb das Oppaland auch
nach Friedrichs des Grofsen Erwerbung.
Über die sprachlichen Verhältnisse urteilt Hans Lutsch (IV, 149)
etwa so: Dieser Umstand (die Zugehörigkeit zum Olmützer Bistume)
erklärt sich aus der früheren Zugehörigkeit des Gebietes zu Mähren
und aus dem ihr zu Grunde liegenden Stammesverhältnisse der Ein-
wohner, die namentlich im südlichen Teile und in der Richtung auf
Ratibor, nach einer etwa von Branitz bis Katscher und von da ab
nordwärts verlaufenden Linie ihrer mehr und mehr verschwindenden
Sprache sich bedienen. Im übrigen Teile des Kreises wird neben dem
Sprachgrenze. 278
überwiegenden Deutsch ein mit deutschen Ausdrücken stark durch-
setztes Polnisch gesprochen, sogenanntes Wasserpolnisch. Schon am
Ausgange des 18. Jahrhunderts war das südlich der (nach Triests An-
gaben) festgesetzten Grenze gelegene Gelände auch von Polen und
Deutschen bewohnt Kleiber h< die Zinna für die Sprachgrenze,
Idzikowski gar die Oder. Im 16. Jahrhundert fühlte sich, wie u. a.
auch Grabsteininschriften darthun, der Adel noch nördlich der Sprach-
grenze im Gegensatze zu den Städten tschechisch, dort wurde die
Standes willkür begünstigt. Das geschah im Gegensatze zu dem deut-
schen Markgrafen Georg. „Machte doch auch manchmal der tolle,
durch SchweinichenB Tagebuch bekannte Herzog Heinrich von Liegnitz
von seiner sonderlichen Zuneigung zu den Polen kein Hehl, weil ihre
fürstlichen Gnaden aus dem löblichen Stamme der Polen wären. u Die
Stände des Fürstentumes weisen denn auch 1564 das Begehren des
Herzogs Georg von Brieg, des Vormundes des Markgrafen Georg
Friedrich (1543 bis 1603), in ihren Verhandlungen sich der deutschen
Sprache zu bedienen, zurück, denn das Fürstentum gebrauche die
mährische Sprache, auch wäre ihrer eine grofse Zahl, die entweder gar
nicht, oder nur wenig deutsch könnten und verständen ; und so setzten
sie denn auch durch, dafs weiter in beiden Sprachen verhandelt werden
durfte. .Und an Markgraf Georg Friedrich selbst berichten sie, dafs
unter den Landsassen keine zwei Personen der deutschen Sprache, be-
sonders wie sie von den Rechtsgelehrten gesprochen würde, kundig
wären. Erst im Jahre 1662 erklären sie, dafs die mährische Sprache
im Fürstentume immer mehr und mehr abnehme, weshalb sie bei ihrem
derzeitigen Landesherrn, dem Fürsten von Liechtenstein, um Einführung
der deutschen Sprache als Verkehrssprache einkommen; ihre Verdrän-
gung aus den Kanzleien zu Gunsten des Tschechischen hatte sich im
1 5. Jahrhundert in Ratibor, Troppau und sogar in Oppeln vollzogen. —
Die Städte waren zwar Horte deutscher Kultur, ragten aber „noch
lange wie Inseln aus unkultiviertem Gelände" heraus. Der Holzbau
der Bauernhäuser war auf die Kirche übertragen worden. Für die
Germanisierung sorgten um 1 204 besonders die Johanniter bei Gröbnig,
sie erwirkten ihren Siedlern Befreiung von dem slawischen Recht-e.
Grofse kulturelle Thätigkeit entfalteten auch die Augustiner des Bres-
lauer Sandstiftes und die Cisterzienser im 13. Jahrhundert. Vorher
gab es im grofsen Waldgebiete nur wenig vom hölzernen Hakenpfluge
der Slawen durchfurchtes Ackerland. Als in dem 15. Jahrhundert das
Tschechentum immer anmafsender wurde, verschwanden sogar aus den
deutschen Städten die deutschen Urkunden. Ja, im Gebiete der pol-
nischen Sprache (Kloster Räuden) wurde in tschechischer Sprache ge-
schrieben, nicht in polnischer. Die Oppelnsche Landesverordnung 1565
bestimmte, dafs die Dokumente in beiden Sprachen abgefatst würden.
Herzog Nikolaus von Oppeln, der 1497 enthauptet wurde, „war des
Deutschen nicht mächtig ". „Die alten oberschlesischen Häuser aus
Tetsner, Die Slawen in Deutschland. jg
274
Die Mährer.
Schrotbolz, oft nur aus Stube, Kammer und schornsteinloser Küche
bestehend, machen erst seit kurzem Steinhäusern völlig Platz."
Das mährische Sprachgebiet gehört drei Dekanaten des Olmützer
Erzbistums an. Im Dekanat Leobschütz ist die mährische Kirchen-
sprache völlig erloschen, auch in den Dekanaten Hultschin und Katscher
fristet sie ihr Dasein nur als Familien spräche , weil sie noch durch die
Abb. 102.
/
~J
c
Ltobsckütx WtmtrsdorP
° o
WöT
V
^
VJ"
s
1
\߀SSi& ihjtSiM ßintoid
sypn.
Rösnitx,
' — ^
cuarwito
\^\,'%
Mährisches Sprachgebiet.
Mafsstab 1 : 500 000.
Odtrsoi *JSI*rmt*.
Die mährischen evangelischen ( ) and katholischen ( ) Gemeinden
Oberschlesiens.
Kirche gehalten wird. Überall predigt man aber auch deutsch; in
einzelnen Gemeinden herrscht die deutsche Sprache ganz allein. Im
Hult8chiner Dekanat wird noch in folgenden Orten mährisch gepredigt:
Hultschin, Haatsch, Piszc, Kranowitz, Beneschau, Bolatitz, Köber-
witz, Deutschkrawarn, Grofshoschütz, Odersch, Zauditz, Grofspeterwitz;
aufserdem im evangelischen Kirchspiele Steuberwitz, dessen Filialen
schon rein deutsch sind. Im Dekanat Katscher beschränkt sich die
mährische Predigt auf Katscher, Putsch, Nassiedel mit Hochkretscham,
Liptin, Jakubowitz, Branitz, Bauerwitz, Posnitz (Abb. 102).
Seit 28 Jahren ist die Beichte überall deutsch. Der Unterschied
zwischen tschechischer und mährischer Sprache ist im allgemeinen so
anzugeben, dato die mährische altertümlich und einfach geblieben ist.
Kirchdorf- Namen. Sitten und Gebräuche. 275
wohl aber deutsche Worte aufgenommen hat, während die tschechische
sich durch Aufnahme neuer Abstrakta und Fachausdrücke weiter
entwickelt und die kleine Kluft gegenüber dem Mährischen vergrößert
hat. Die Namen der Gemeinden sind zum grölsten Teile nach den
ersten Bewohnern benannt und haben die Verwandtschaftsendung
der Sippe, so Leobschütz (von einem Namen mit klup = stultus),
Bauerwitz (1296 Baurwitz von Bawor = Bayer), Jakubowitz (1377
von Jakob), Peterwitz (1267 Petrowitz von Peter), Bratsch (1377
Bratisch, zu Bruder), Posnitz (1377 Posenticz, von sut = zerstreut),
Branitz (1278 Branicz, von einem Namen mit bran = Kampf oder
brana = Thor), Luptin (1262 Luptyn, von einem Namen mit ljub =
geliebt), Eatscher (1266 Ketscher zu kaozer = Enterich). Andere
sind Flurbezeichnungen, so Putsch (1185 Belchiz = kleines Feld),
Nassiedel (1253 Nasile = bei der Siedelung), Mocker (1377 Mocre =
feucht), Hochkretscham (hohes Gasthaus) hiels 1223 Vduboue = Dom-
bowa (Eichwasser).
II. Sitten und Gebräuche.
Die Leute sind höflich und zuvorkommend. Gern sprechen sie
den Fremden wie zum Grufse im Vorübergehen auf der Landstralse
an. „Wenn die Finken schlagen, wird's nun doch mal hübsch werden. tt
„Das Wetter will sich doch gar nicht ändern." „Falb behält Recht."
Das kurze, glattrasierte Gesicht der Männer hat einen Zug von
Unterordnung. Neben der Weberei wird viel Ackerbau getrieben.
Einzelne Dörfer halten sich ihre Dreschmaschinen.
Die Feste unterscheiden sich kaum von den in ganz Schlesien
eigentümlichen. Einige hervorstechende Züge will ich schildern.
1. In der Fastenzeit ziehen Schimmelreiter und Bärenführer
herum, als Vermummung nimmt man Erbsenstroh, ein Schwärm folgt
hinterher. Die Rockenstuben haben mit dem Eingehen des Flachs-
baues aufgehört. Zu Judica ist das Oster- oder Frühlingssingen ge-
bräuchlich. Ärmere Kinder haben Tannenbäumchen mit bunten Bän-
dern und bemalten ganzen Eierschalen behängt, gehen von Haus zu
Haus, singen Frühlings- und Osterlieder und empfangen Eier und
Zuckergebäck. Dieser Feier geht selbigen Sonntags oder zu Lätare
hier und da das Todaustreiben voran. Die Mädchen tragen zwei
menschengrotse Puppen, die eine ist wie eine Braut, die andere wie
eine Kränzel Jungfer geschmückt. Von den Gewändern und dem Haupt-
schmucke wallen bunte Bänder; die Knaben tragen eine Mannspuppe.
Eine solche Puppe heifst Mafenka. Nun bewegt sich der Zug die
Dorfstrafse entlang und singt: „Wir danken dir, o Jesus Christ, und
erweisen dir Lob und Ehre u. s. w.u Früher zerrifs man die Puppen
am Bache, jetzt trägt man sie wieder nach Hause.
18*
276 Die Mährer.
2. In der Karwoche ist alles ruhig. Am Gründonnerstag um-
wickelt man die Bäume mit Strohseilen und schüttelt sie am Karfreitag,
„das soll eine gute Obsternte versprechen". Am Karfreitag gehen die
Anwohner früh in die Zinna und waschen sich daselbst. Früher trieb
man die Pferde und alle Haustiere auch in den Flufs. Wenn die
Kinder in die Kirche gehen, das Kreuz Christi zu küssen, finden sie ein
kleines Geldstück darunter, das von den Eltern natürlich erst dahin
gelegt ward. Da die Glocken nicht tönen, ziehen die Knaben mit
Schnarren (Cerkotka) und Klappern (Klapotki) (vgL Abb. 147, S. 342)
durch das Dorf, um die Stunden zu verkündigen.
3. Am Ostersonntage ging man früher mit acht- bis zehnfältig
geflochtenen Ruten, an deren Spitze eine bunte Seidenschleife war, um
zu schmackostern. Kinder und Geliebte suchten sich im Bette zu
überraschen und mit der frischen Grünen zu berühren. Später zeigte
man nur noch die Rute vor und beschränkte die Sitte auf Paten und
Familienangehörige. Dann wurde die Sache ein Vorrecht bettelnder
Knaben, endlich legte sich die Polizei ins Mittel, und dann verschwand
die Sitte.
4. Am Ostermontage macht jeder einen kleinen Spaziergang zum
Andenken an die Reise der beiden Jünger nach Emaus. Die Besitzer
aber reiten mit Kreuz und Kirchenfahne unter frommen Gesängen und
Gebeten um die Gemeindefeldmark. Früher stand in Grofspeterwitz
der Kaplan, später ein Ratiborer Religionslehrer, an der Spitze der
Osterreiter, jetzt keiner von beiden. Am Ostermontage begiefst die
männliche Jugend die weibliche. Dabei bedienen sich die Knechte
gegenüber den Mägden der Wasserkannen, die gewöhnlichen Knaben
der blechernen Spritzen, die während der Zeit überall — wie die
Schnarren und Klappern — zu kaufen sind. Knaben aus besseren
Familien benutzen Flaschchen mit wohlriechendem Wasser.
5. Am Dienstage spritzen die Mädchen auf die Burschen. Wäh-
rend der Osterzeit ifst man gern in Brot eingebackenen Schinken (Pleco).
6. Am Vorabend des l.Mai pflanzen die Burschen nachts vor dem
Hause der Geliebten auf dem Düngerhaufen ein Tannenbäumchen, ge-
schmückt mit Bändern und Papierblumen. Die einen binden das
Tannenbäumchen an eine hohe Stange fest, die anderen begnügen sich
mit dem Bäumchen selbst, wieder andere bevorzugen grüne Weiden-
ruten. Die bevorzugten Dorf schönen finden oft mehrere Bäumchen auf
ihrem Hofe, dann ist die Eifersucht der Freundinnen grofs.
7. Zu Pfingsten schmückt man neuerdings das Haus mitPfingBt-
maien. Im Dorfe Ellgoth findet das Königsjagen (Kralahonic) statt.
Auf einer grolsen Wiese wird eine Stange aufgestellt und ein Tuch
daran befestigt. Hoch zu Rofs jagen die Bauernsöhne an der Stange
vorbei und suchen das Tuch im Fluge zu erfassen und dann in die
nahe Oder zu tauchen. Wem das gelingt, der wird zum König aus-
gerufen.
Feste. Hochzeit. 277
8. Zu Johanni sammelt man Löwenzahn, Spitzwegerich, Linden-
blüten and andere heilbringende Kräuter. Die Jugend zieht am Abend
mit brennenden Pechbesen und langen, am Ende brennenden Stroh-
stangen herum. In Eatscher errichtet man einen grolsen Haufen von
Holz, Stroh, Pechbesen und brennt ihn an.
9. Neben der jungen oder kleinen Kirmes, die einen Sonntag
dauert, feiert man eine dreitägige grofse zu Martini. „Da kommt viel
Bettel volk." Das Erntefest ist ein reines Familienfest.
10. Am 5. Dezember abends geht der Niklas herum, eine schön
angezogene Frauens- oder Mannsperson, die sich vermummt hat und
Geschenke oder die Rute, je nachdem die Kinder gefolgt haben, verab-
folgt. Zu Weihnachten aber bürgern sich allmählich die deutschen
Sitten mit Lichterbaum und Geschenken ein. Am heiligen Abend wird
geschossen, sobald es dunkel geworden ist. Man itst gern am heiligen
Abend Fische und Mohngebäck, steckt auch eine Kruste Semmel und
Brot an ein Messer und läfst dies, in ein Tuch gehüllt, eine Nacht
liegen. Wenn die Semmel einen gröfseren Rostfleck verursacht hat,
gedeiht der Weizen weniger gut, wenn das Brot mehr Rost bewirkt,
soll das Korn nicht geraten. — In besonderer Tracht ziehen drei 12-
bis 16 jährige Knaben als Hirten aus Bethlehem in der Weihnachts-
woche von Haus zu Haus, singen Weihnachtslieder und empfangen
eine kleine Gabe.
11. Am Epiphaniasfeste kommen, wie bei den Tschechen, „die
drei Könige aus dem Morgenlande tt, einer trägt den bunten erleuchteten
Stern, eine Art Papierlampe, voraus.
12. Die Hochzeiten finden meist zu Fasching und nach Ostern,
vor der Ernte und im Herbste statt, fast nie in der Advents- und Fasten-
zeit. Auch bei den Mährern waltet der Hochzeitsbitter und Druschba
seines Amtes, oft zu Pferde. Sind die Einladungen ergangen, Kränzel-
herren, Brautbeistand (Starosta) und Brautfrau (Starosvatka) gewählt
— die letzteren beiden gewöhnlich die Paten — , so schicken die Ge-
ladenen Brot, Fleisch, Milch, Butter, Wild, Eier ins Hochzeitshaus,
Mehl nicht. Im Braut- wie im Bräutigamshause wird gebacken, meist
zwei Tage vor der Hochzeit. Da fahren dann die Bäckerinnen auf
geschmücktem Wagen mit Fahne vom Braut- zum Bräutigamshause
und umgekehrt, zu kosten. Die Verwandten beteiligen sich, um zu
sehen, ob alles wohl geraten ist. Hochzeiten zu 100 Gästen mit Musik
und Gesang sind nicht selten.
Am Vormittage des Hochzeitstages wird der Bräutigam mit Musik
von den Druschben abgeholt und ins Brauthaus gebracht Aber die
Thür ist verschlossen, und drinnen fragt der Starosta, was denn los
sei. Der Bräutigam sagt in herkömmlichen Versen: „Ich suche eine
weifse Taube. u Der Starosta geht zurück und holt irgend ein Mädchen
oder eine alte Frau, die zur Hochzeit eingeladen ist. Der Bräutigam
sagt: „Das ist die Taube nicht. tt Nach scherzhaften Verhandlungen
278 Die Mährer.
holt der Starosta die Braut gegen ein Trinkgeld. Wer vom künftigen
Ehepaare nun das andere zuerst erblickt, hat die Herrschaft in der
Ehe. Unter den Klängen der Dorfmusikanten zieht der Hochzeitszug
in die Kirche. Da erschallen auf dem Wege langgezogene Juchzer,
und unter bekannte Zuschauer verteilt man Kuchen und Backwerk.
Vermummte Individuen verlegen den Weg mit einer Querschnur, die
nur gegen ein Trinkgeld weggenommen wird. Gewöhnlich werden
Bettler und Vagabunden dazu angestiftet. Starosta und Starosvatka
sind die Trauzeugen, letztere legt die an Stelle der Trauringe üblichen
Myrtenkränzchen den Brautleuten aufs Haupt. Nach der Trauung
geht es sofort ins Wirtshaus zum Tanze, der zwischen 3 und 5 Uhr
zum Hochzeitsmahle unterbrochen wird und bis Mitternacht dauert.
Das Paar sitzt beim Mahle in der Hochzeitsecke ; auch bei den Mährern
gilt es als besonderes Kunststück, der Braut den Schuh zu stehlen, den
sie dann auslösen mufs. Den Dorf genossen wird vom Hochzeitsmahle
geschickt, wie auch die Gäste Hochzeitstorte mitnehmen müssen. Um
Mitternacht wird der Schleier zerrissen, durch die Starosvatka der
Kranz abgenommen und die Haube aufgesetzt. Am anderen Tage
kehren die Gäste nach Hause zurück, die Jungen Leute aber feiern
auch noch einen dritten Tag. Da gehen sie verkleidet im Dorfe herum
bei denen, die mit eingeladen waren, und fangen Hühner und Kaninchen
weg, um sich selbst noch eine Nachfeier mit Festmahl zu gewähren.
Die Deutschen machen dies übrigens auch und nennen den zweiten
Tag den des Hühnererschlagens.
13. Bei Kindtaufen wird immer ein Paar zu Paten genommen.
Vor dem Tauf gange sagen die Paten: „Einen Heiden nehmen wir mit und
bringen einen Christen wieder. tt In den Patenbrief legt man Geld und
steckt ihn ins Taufbettchen, legt auch Zuckerzeug für die Geschwister
bei. Die Wöchnerin soll den ersten Gang aus dem Hause in die Kirche
thun und das Kind sechs Wochen lang nicht ohne eigene Aufsicht
lassen, sonst kommt die Hexe (Tscharotenitza) , nimmt das Kind und
legt einen Wechselbalg (Podhodek) dafür hin. Und man zeigt auf
verkrüppelte, wasserköpf ige , triefäugige Menschen mit den Worten:
„Den hat die Tscharotenitza vertauscht. u Den Kindern giebt man
allerwärts gute Regeln: „Wisch dir nicht die Nase mit der Hand,
sonst wird sie krumm", „setze dich nicht auf den Tisch, sonst be-
kommst du Schwären a.
14. Bei Todesfällen sagt man wie vielerorts den Bienen und
dem Vieh, dafs der Besitzer gestorben sei, „sonst stirbt es". Abends
singen die Nachbarn Sterbelieder und beten den Rosenkranz. Die
Plachta ist seit 30 Jahren nicht mehr vorhanden. Die Altersgenossen
tragen den Verstorbenen zu Grabe, an manchen Orten sogar die Jung-
frauen eine gleichalterige Abgeschiedene. Nach dem Begräbnis geht
es sofort ins Wirtshaus, die Begräbnisschmäuse sind sehr wenig im
Schwang. Stirbt eine junge Frau, so setzen sich die jungen Mädchen
Kinderspiele. Häuser.
279
auf die Mohnstampfe; „wer es zuerst macht, bekommt den jungen
Witwer u. Bei Eltern trauert man ein Jahr, sonst Je nach Umständen.
15. Von Einderspielen habe ich am häufigsten die Klippe
gesehen, ferner Anschlagen, Lochkugel werfen auf eine andere Kugel,
Abschlagen des dritten, Plumpsack, Hirsestampfen („wird auch gegen
Hexenschufs angewendet ")• Bei letzterem henkeln zwei Knaben Rücken
gegen Rücken die Arme ein und heben sich gegenseitig.
m. Wohnung, Kleidung, Kunst, Volksglauben.
1. Die Häuser sind meist aus Stein. Auch hier hat man alles
gern unter einem Dache (Abb. 103). In einzelnen Gegenden, so in
Abb. 103. Abb. 104.
f
»li-
tt -r
0 0
■*>
■41-
A
d
Hh
,[t
g
TT
TT- 1
l
dO
D
G
e
"II-
Hh
i b
Haus bei Peterwitz.
a Wohnstube, b Stall, c Tenne, d Scheun-
thor, e Gärtchen, f Hundehütte, g Abort,
h Kammer, i Flur.
Saal in Grofspeterwitz.
a Eingang aus der Hausflur,
b Ausgang zur Küche, c Bier-
ausgabe, d runder Tisch, e Eck-
tisch, f Musikantenecke.
Dirschkowitz, herrschen bei Schieferdächern am Ziegelgiebel eigenartige
kreisförmige Öffnungen und Abschrägungen (Abb. 105 A).
Abb. 105.
*&&#/%
Schlafer
*\,>.>. >,**>, >,>,>,>.>.f\>,»^
A Giebelansicht.
Hofraum
»
B Grundrifs.
Dirschko witzer Haus.
(Wände massiv, Bedachung Schiefer; eine bis zwei Kammern benutzen die
Dienstboten.)
a Wohnzimmer, b Nebenzimmer, c Kammern, d Küche, e Stallungen, f Flur.
280 Die Mährer.
2. Die Kleidung weicht von der bäuerlichen deutschen wie der
tschechischen kaum ab. Die Frauen tragen gern mützenartig ein
schwarzes Tuch eng am Kopfe anliegend. Die Kleider sind blumig,
und um den Nacken werden lange Shawltücher geschlagen. Blumige
Kopftücher werden so um den Kopf gewunden und zusammengebunden,
dals hinten die Zipfel herunter hängen. Die Lein wand verkauf er mit
ihrer Rückenlast sind in ganz Oberschlesien in ihrer Eigenart zu sehen.
Gesang und Tanz sucht man gern auf im grotsen Dorf gasthause, dessen
eine Ecke den Verkauf sstand, die andere die erhöhte Musikerbank zeigt
(Abb. 104).
3. Die Volkskunst zeigt sich, wo die Töpferei fehlt, neben dem
Grabschmuck am ehesten bei der Giebelzier, in Musikinstrumenten und
Hausgeräten. Giebelzier findet man bei den Mährern nicht häufig,
auch das Hausgerät bietet nichts Eigenartiges, ebensowenig die aller-
wärts volkstümlichen Musikinstrumente und Kinderpfeifen aus Weiden-
schale. Das Hirtenhorn erklingt überall noch, wo es eine gemeinsame
Viehweide giebt. So durchzieht der Ellgother Gemeindehirt das Dorf
und läfst sein Hörn ertönen. Wie in den Klucken vertatst das Weide-
vieh sogleich das Gehöft beim ersten Klange des Hornes und stellt ßich
in den immer mehr anwachsenden Zug. Aber die Weide liegt drüben
auf dem rechten Oderufer, und eine Brücke giebt es nicht. Der Hirt
setzt auf einem Nachen über, und das Vieh weifs ganz genau die Furt
und thut auch bei hohem Wasserstande keinen Fehltritt Und klingt
abends das Hirtenhorn zur Heimkehr, so geht es genau auf dem Wege
wieder zurück, und drüben zweigt jedes Stück an seinem Gehöfte ab.
Es braucht niemanden, der Bescheid geben müfste.
Wo die Gemeindeangelegenheiten nicht mit der Glocke ausgerufen
werden, bedient man sich des Krummholzes oder der Klucka wie bei
den Tschechen. Ein beliebiges Stück Holz, ein Zeitungshalter, ein
Griffbrett wie eine Schiefertafel, ein Stock enthalten angeheftet oder
aufgeklebt das amtliche Schriftstück. „Das Krummholz ist dau, ertönt
es vor der Thür. Der Wirt kommt heraus, denn in die Stube darf
das Krummholz nicht. Er liest es und trägt es weiter.
Abb. 106. ^' ^er Grabschmuck weicht schon
allmählich dem überall vorhandenen der
Kreuze und Platten; doch haben einige
i-| — ^. y ~ . - Gottesäcker noch heimische dörfliche Kunst.
□ U U U Schrägstehende, 0,5 m hohe Hölzer tragen
(Abb. 106) ziemlich aufrecht stehende oder
Grabzier in Katecher.. g^ef liegende , ovale oder rechtwinklige
a Vorder- und Seitenansicht schwarze Holzplatten mit weifser deutscher
einer % m^hohen^ Grabplatte. Inschrifti etwa: „Hier ruht in Frieden unsere
vielgeliebte Mutter Johanna Schatka, geb.
Berg. Ruhe sanft. u Manche haben noch Lebensdaten. Schöne schmiede-
eiserne schwarze Zierkreuze mit goldener Inschrift sind seltener zu sehen.
^?aA
Volksglaube. Vaterunser. 281
5. Volksglaube. Volkstümlich sind eine Reihe Dämonen, so
die Mittagsgöttin (Polednitza) , die das Getreide verwüstet, von den
einen als Wirbelwind, von den anderen als Hexe angesehen. Ein Weib,
das auf dem Felde stiehlt, „geht um wie Polednitza u. Der Teufel spielt
als Satan (Tschert), Schwarzer (Tscherny), Dämon (Djasek) noch eine
Rolle, ein Schreckgespenst für Kinder heilst Bobak, der Drache Smij,
der Alb Mora, der Wassernix Hassermann, der Tod Smertnitza. In
Branitz kennt man dafür eine Mädchengestalt: Dsefdscha. Wer ein-
nickt, den hat der Lorenz (Wawfin) im Nacken.
Nachträglich sei noch darauf hingewiesen, wie schwankend man schon
früher in Schätzung der mährischen und tschechischen Volkszahl war. Das
zeigt am besten Hundrich (Übersicht der Arbeiten und V. der schlesischen
Ges. 1843 bis 1846), der 1834 für den Oppelner Regierungsbezirk 11 754 Mährer
und 1366 Tschechen, 1846 für Schlesien 38 824 Mährer und 10 218 Böhmen
angiebt.
IV. Mährisches Vaterunser.
Das mährische Vaterunser weicht nur unwesentlich vom
tschechischen ab.
(Mitgeteilt vom Pfarrer £. Alk er in Nassiedel.)
Otce nai, jenz jsi na nebesich. Posvet' se jmeno tve\ Pfijd kralowstvi
tve\ Bud' väle tvä, jako v' nebi tak i na zeml. Chleb nas wezdejii dej nam
dnes. A odpust' nam nase viny, jakoz i my odpustime nasim winnikum.
A neuvod* nas v* pokuseni. Ale zbav nas od zläho. Amen.
In der oberschlesisch-mährischen Gegend lautet die Aussprache
f olgendermafsen , wobei die fettgedruckten soh milder auszusprechen und in
Nassiedel für das erste Wort der zweiten Bitte die Worte „prijd k'nam" zu
setzen sind:
Otsche nasch, jensoh si na nebesich. Poswiet' se meno tve\ Prschidseh
kralowstvi tve\ Budeoh vule tva, jako v* nebi tak i na semi. Chleb nasch
vesdejschi dej nam dnes. A odpustseh nam nasche viny, jakosoh y my
odpust80hime naschim vinnikum. A neuodsch, nas v' pokuscheni. Ale zbav
nas ode släho. Amen.
Die Sorben.
Literatur.
Andree: Wendische Wanderstudien. Stuttgart, J. Maier, 1874. (Mit Ab-
bildungen und Karte.) — Das Sprachgebiet der Lausitzer Wenden.
Prag 1873.
Anton: Ente Linien eines Versuches über der alten Slawen Ursprung,
Sitten, Gebräuche, Meinungen und Kenntnisse. Leipzig, Böhme, 1783/89.
(Mit einem wendischen Trachtenbilde.)
Orüger: Origines Lusatiae. Leipzig 1726.
Fahlisch: Der Spreewald. Berlin, Goldschmidt, 1877.
Frenz el: Von der alten und heutigen Wenden Heyraths-, Hochzeit* - und
etlichen häufslichen Gebräuchen. In den Arbeiten der verein. Ges. in
der Oberlausitz zu den Geschichten und der Gelahrtheit überhaupt geh.
Leipzig und Bautzen 1754 V, 49 — 70. — Histor. Schauplatz oder Chronika
und Beschreibung der Stadt und Herrschaft Hoyerswerda. Leipzig und
Bautzen 1744.
Haupt und Schmaler: Volkslieder der Wenden, 2 Bde. (mit Karte und
Abbildungen). Grimma 1842/43.
Hoffmann: Die Sprache und Literatur der Wenden. Hamburg, Verlags-
anstalt und Druckerei A.-G., 1899.
Hortzschansky: Von den Sitten und Gebräuchen der heutigen Wenden.
Provinzialblätter, herausgegeben von der Oberlausizischen Geselschaft der
Wissenschaften. Leipzig und Dessau 1782 I, 1—16, 125 — 142, 249—263,
373 — 387. (Mit Koten.) Dazu Ergänzungen von M. Conrad, Beitrag zu
den Abhandlungen von den Sitten und Gebräuchen der heutigen Wenden.
(Ebenda, 2. Bd. = 5. Stück 60—73.) Vgl. auch I, 482—484 (Sorbische
Worte im Deutschen).
Gräfe: Tracht der Sorbenwenden. N. Laus. Mag. XI, 342—347.
Gr osser: Lausitzische Merckwürdigkeiten. Budissin 1714.
Haupt: Sagenbuch der Lausitz. 2 Bde. Leipzig 1862/63.
Hundrich: Nachrichten über die polnischen und die anderen aufser-
deutschen Sprachverhältnisse in der Provinz Schlesien. Übersicht der
Arbeiten der Schlesischen Gesellschaft. 1843 bis 1846.
Knauth: Derer Oberlausitzer Sorbenwenden umst. Kirchengeschichte. Görlitz,
Fickelscherer 1767.
Knothe: Zur Geschichte der Germanisierung in der Oberlausitz. Archiv
für sächs. Geschichte N. F. II. 1876.
Kolbe: Handbuch der Kirchenstatistik für das Königreich Sachsen. N. F.,
16. Ausg. Dresden, Wulff en, 1894.
Kofsyk: Sserbska szwazba v. Blotach. Werben, Wenzel (ohne Jahr), 58 S.
Kreufsler: Altsächsische und sorbenwendische Altertümer für die Jugend,
360 S. und 15 Taf.-Abb. Leipzig 1823.
Leske: Reise durch Sachsen. Leipzig 1785. (Darin bunte wendische
Trachten.)
Sprachgebiet. 283
Liebusch: Sagen und Bilder aus Muskau. Muskau 1860.
Lutsch: Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien, 4 Bde.
Breslau (III, 585. — 1891).
Mogk und Stumme: Mitteilungen des Yereins für sächsische Volkskunde.
Seit 1897.
Mucke: Historische und vergleichende Laut- und Formenl. der nieder-
sorbischen Sprache. Leipzig 1891. — Statistika luziskich Serbow. Bautzen
1884/86.
Müller: Das Wendentum in der Niederlausitz. Kottbus, H. Differt, 1894.
(Mit Karte und Bildern.)
Pech und Pypin: Das sorbisch - wendische Schrifttum in der Ober- und
Niederlausitz von A. N. Pypin. Aus dem Bussischen übertragen, sowie
mit Berichten und Ergänzungen versehen von Traug. Pech. Separat-
abdruck aus „Geschichte der slawischen Literaturen" von A. N. Pypin
und V. D. Spasovic. Leipzig, Brockhaus, 1884.
Pestalozziverein der Provinz Brandenburg: Brandenburg in Wort
und Bild. Berlin, Klinkhardt, 1900.
Posse: Die Markgrafschaft von Meifsen und das Haus Wettin bis Konrad.
Leipzig 1881.
Preusker: Blicke in die vaterländische Vorzeit. Leipzig, Hinrichs, 3 Bde.,
1841/44. (Mit 530 Abbildungen.)
Schle Bischer Pestalozzi verein: Bunte Bilder aus dem Schlesierlande«
Breslau 1898.
Schmidt, Seyffert, Sponsel: Sächsische Volkstrachten und Bauernhäuser.
(Bilder mit Text.) Dresden 1897.
v. Schulenburg: Wendische Volkssagen und Gebräuche aus dem Spree-
wald. Leipzig, Brockhaus, 1880. — Wendisches Volkstum in Sage,
Brauch und Sitte. Berlin, Nicolai, 1882.
Veckenstedt: Wendische Sagen, Märchen und abergläubische Gebräuche.
Graz 1880.
Weinhold: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde.
Wuttke: Sächsische Volkskunde. Dresden, Schönfeld, 1900.
I. Sprachgebiet,
Wir bezeichnen unsere Sorben meist mit dem Namen Wenden.
Das hat Mifsverständnisse und Irrtümer seltener Art veranlagt.
Ursprünglich hat alles slawische Volk an der deutschen Sprachgrenze
den Wendennamen geführt. Den Namen der Winden oder Slowenen
hat man jetzt auf serlich abgetrennt; aber noch unlängst veröffentlichte
H. y. Schulheim in der Steiermärkischen Zeitschrift (4. Jahrg.) „Volks-
lieder der steiermärkischen Wenden a. Der Name der germanisierten
hannoverschen „ Wenden a hat noch kürzlich einen Statistiker zu dem
falschen Schlüsse bewogen, in Lüneburg lebte ein abgetrennter Bruchteil
slawisch sprechenden Volkes. Polaben und Slowinzen werden in der
Literatur gleichfalls als Wenden bezeichnet ; nannte ja Pontanus seinen
Katechismus wendisch-deutsch. Man wird darum gut thun, den Namen
als Volksnamen überhaupt fallen zu lassen. Er wurde in den ältesten
Zeiten von den Deutschen für die benachbarten Slawen angewendet.
Das alte Gebiet unserer Sorben kann im grolsen und ganzen durch
die Grenzen Saale, Erzgebirge, Bober, untere Spree und Havel bezeichnet
284 Die Borben.
werden (Abb. 107). Mit der Besiedelang und Germ anisierung unter den
Sachsen and Saliern schmolz das Gebiet sehr zusammen. Noch 1387
salsen aber bei Köpenick, uuweit Berlin, „wende vf dem Kitze". Nach
Kn&uth hatten die Oberlausitzer Sorben im Jahrhundert der Befor-
Abb. 107.
Das sorbische Sprachgebiet.
Mafsstab 1 : 2 750 000.
mation etwa folgendes Land inne: Zwischen Ruhland und Mücken-
berg zog sich die Grenzscheide südlich über die Kirchdörfer Lindenan,
Kroppen, Schmorkau, Schwepnitz, Bischheim bei Kamenz, Pulsnitz,
Burkaa, Pobla, Schmölln, Gautsig, Wilthen, Postwitz, Wendisch SobJand,
Sprachgrenzen 1750 und 1872. 285
Krosta, Cunnewalde, Löbau, dann nördlich nach Tetta, Petershain,
Daubitz, Pechern bei Priebus, Zibelle. Nach Norden setzte sich das
Niederlausitzer Sprachgebiet, wie R. Andree erforscht hat, über Triebel,
Pforten, Guben zur Neilsemündung fort und von Fürstenberg über
Beeskow nach Storkow und dann südlich über Buchholz, Ludkau,
Sonnenwalde, Finsterwalde, Mückenberg.
200 Jahre später, etwa um 1750, war das Niederlausitzer
.Sorbenland, nach den Ermittelungen Andrees, bedeutend zusammen-
geschrumpft. Es hatte noch folgende Grenzen: Kuhland, Kalau,
Lübben, Lieberose, Forst, die Neilse aufwärts bis ziemlich zur Grenze
des Ober- und Niederlausitzer Sprachgebietes. Vom Oberlausitzer kann
man auf Grund von Enauths Angaben die Fortsetzung nach Süden so
angeben: Kirchspiel Zibelle bei Muskau, Pechern, Daubitz, Petershain,
Kollm, Krischa, Tetta, Löbau, Kosel, Postwitz bei Schirgiswalde, Schmölln,
Eamenz, Sprachgrenze im Ofslinger Kirchspiel. Andree hat mit grofser
Genauigkeit die Grenze nicht blofs nach den Kirchdörfern, sondern
auch nach den eingepfarrten Grenzdörfern gezogen. Aus seiner Karte
ergiebt sich, dals das Niederlausitzer Sorbengebiet in 200 Jahren
über die Hälfte, das Oberlausitzer hingegen an der Nordost- und
Nordwestgrenze beträchtliche Einbulse erlitten hatte, die Südgrenze
aber nur einen schmalen Streifen oder teilweise gar nichts nach innen
geschoben war.
Für 1872 hat Andree das Niederlausitzer Sorbenland auf Grund
genauer Nachrichten folgendermalsen umzirkt: Senftenberg an der
schwarzen Elster, Drebkau, Ve tscbau, die Spree oberhalb Leipe, Schön-
höhe bei Peitz, dann die südlich laufende Grenzlinie bis Schleife im
Oberlausitzer Gebiet und Kirchspiel Gablenz. Das Oberlausitzer reichte
von dieser Gegend, dem Muskauer Landkreis, in ziemlich meridionaler
Richtung bis Löbau, dann scharf westwärts biegend nach Schmölln und
ziemlich geradlinig nach Olsiing und Tätschwitz. Die Niederlausitzer
hatten also wieder die grofse Hälfte eingebülst, die Oberlausitzer des-
gleichen an der Nordost- und Nordwestgrenze kleinere Stücken, im
Süden nur wenig.
Einen noch viel grötseren Verlust erlitt aber das Niederlausitzer
Sorbengebiet seit dieser Zeit, denn heute hat es nur noch folgende
Grenzen (Abb. 108 a. f. S.) : Burg im Spreewald, Briesen, Dissen, Fehrow,
Drachhausen (in Fehrow -Drachhausen -Briesen liegen die Verhältnisse
eigentümlich : Fehrow ist Filiale von Drachhausen. Der Parochus predigt
deutsch, und zwar in Fehrow dreizehnmal. Seit 1793 benutzen aber
die Dörfer Schmogrow und Sakkasne, die eigentlich zu Briesen gehören,
die Fehrower Kirche. Dafür predigt der Briesener Pastor die übrigen
Sonn- und Festtage in der Fehrower Kirche wendisch, und alle vier
Wochen deutsch), Tauer, Peitz, Lieskow, Kahren, Komptendorf, Hornow,
Kottbus, Papitz, Krieschow, Werben, Vetschau, Burg. Ich habe immer
nur die Kirchspiele genannt. Eine Anzahl von Kirchspielen, wie Jaensch-
286
Die Sorben.
walde, El. Döbbern, Gr. Glagow, wird noch von zahlreichen Wenden
bewohnt, und im Spreewald unterhalb Burg hat sich noch bis heute,
und wohl für lange, wendisches Wesen erhalten. Andererseits aber
darf nicht vergessen werden, dafs die Mittelpunkte, Eottbus, Vetechau
und Peitz, trotz wendischen Gottesdienstes neben deutschen doch völlig
deutsche Städte sind und dafs selbst die Landbevölkerung beider
Sprachen mächtig ist.
Viel widerstandsfähiger hat sich das Sorbentum der Oberlausitz
erwiesen, das ja nun vom Niederlausitzer durch einen Wall deutscher
Kirchspiele getrennt ist.
Es beginnt, wie vor
150 Jahren, bei Muskau
und die Grenze zieht
sich (Abb. 109) nach
Schleife und südlich
über Tschelln, Merzdorf,
Nochten , Reichwalde,
Creba , Weigersdorf ,
Gebeizig, Gröditz, Kolitz,
Nostiz, Eittlitz, Löbau,
Hochkirch , Postwitz,
Bautzen, Göda, Schmölln,
Pohla, Uhyst, Elatra,
Krostwitz, Nebelschütz,
Kamenz , Marienstern,
Bosenthal, Balbitz, OIs-
ling , Wittichenau,
Hoyerswerda , die
schwarze Elster abwärts
bis Tätschwitz, Geyers-
walde und die schle-
8isch - brandenburgische
Grenze. Verloren ging
also nur ein Stück süd-
lich der Muskauer Heide
und ein schmaler Grenz-
Die niedersorbischen Kirchspiele 1900.
Mafsstab 1 : 500 000.
saum. Gerade die vier auf sersten Ecksäulen stehen am standhaftesten.
Die Muskauer, Löbauer und Schmöllner Landbevölkerung hat 350 Jahre
der Germanisierung getrotzt, trotzdem sie unmittelbar neben Deutschen
wohnte; die in der Gegend von Hoyerswerda und Tätschwitz 150 Jahre.
Nur der Keil Mückenberg, Tätschwitz, Schmölln ging verloren. Bei
Muskau ist der Grund in der abgelegenen Heidegegend, südlich von
Bautzen zum Teil in der Wirksamkeit des Pfarrers Immisch zu suchen,
auf der Linie Löbau, Bautzen, Radibor, Ostro, Krostwitz - Storch a,
Nebelschütz, Marienstern, Bosenthal, Ralbitz, Wittichenau, also im
Heutige Sprachgrenzen.
287
grofsen und ganzen auf dem südlichen und westlichen Grenzgebiet, in
der katholischen Bevölkerung und den katholischen Kirchen- und
Schuldienern.
Abb. 109.
H30'0.
Brandenburg
M»yo-
Die obersorbischen evangelischen (==), katholischen ( ), gemischten
( ") und altlutherischen ( ) Kirchspiele 1900.
Maßstab 1 : 500 000.
Die Zahl der Sorben betrug nach Andree 1849: 141649, 1869:
137 416, 1871: 128 040. Nach anderen Angaben kann man für 1864:
139 460, für 1867: 134895, 1875: 136 000 (Pech, S. 13: 40000 Nieder-
sorben, 40 000 preufsische Obersorben, 52 000 sächsische Obersorben),
1880: 160 000 (ebenda), für 1890: 118 000, für 1900: 110 000 fest-
stellen. Mucke gab 1884: 173 469 an.
Der Streit über diese Zahlen ist müfsig. Die einen wollen, da
alle auch deutsch sprechen, am liebsten gar keine Sorben anerkennen.
Die zweiten meinen, es komme auf die Abstammung an, die Sprache
288 I>ie Sorben.
der Mutter; da wird die Zahl unverhältnismäfsig grofs und besitzt
keinen praktischen Wert; man könnte ja fast mit demselben Rechte
noch eine Generation zurückgehen. Die dritten verlassen sich auf die
Zähllisten und bekommen da eine Musterkarte von gut deutschen
„ hannoverschen Wenden44, die von sorbischer Sprache vielleicht noch
nie gehört haben, ferner von völlig germanisierten deutsch sprechenden
Sorben, die nur dem Zähler zuliebe sich als wendisch einzeichneten,
endlich von Sorben, die nur nebenbei deutsch reden. Statistiker helfen
sich damit, dafs sie die auf den Zähllisten als „wendisch und deutsch"
sprechend angegebenen je zur Hälfte den beiden Völkern zuzählen.
Die Angabe „wendisch und deutsch" oder wendisch oder deutsch ist
ja aber ganz in der Luft schwebend bei Leuten, die beider Sprachen
mächtig sind.
Es ist am richtigsten, bei Völkersplittern, wie beispielsweise den
Slowinzen oder ostpreulsi sehen Euren, alle der Sprache noch leidlich
mächtigen zusammenzuzählen, denn eine solche Statistik gilt ja sprach-
wissenschaftlichen oder kulturgeschichtlich - volkskundlichen Zwecken.
Bei wirklichen Völkern aber, z. B. den Sorben, mülste man drei Zahlen
angeben; eine für die ausschliefslich sorbisch sprechenden, eine zweite
für die des Sorbischen noch mächtigen und eine dritte für die sich
zum wendischen Gottesdienst haltenden. Dafs auch diese Zahlen nur
ein annähernd richtiges Bild geben, liegt in der Sache selbst; man
kann für einen so schwankenden Begriff keine Zahl einsetzen, die
allen Leuten recht wäre. Dann würde auch die leise Anklage ver-
stummen, die in den Worten eines guten deutschen, jetzt für die
Wenden thätigen Seelsorgers, lag und dem ich bedeutete, man hätte
doch die wissenschaftlichen Forschungen und Statistiken nicht blols in
wendischen Zeitschriften und Büchern niederlegen sollen. Er erwiderte
nämlich: „Die Deutschen nehmen ja doch unsere Statistik nicht an."
Wenn gewisse Kreise den Sorben gegenüber Sprachausrottungssucht
an den Tag legen, dem Volke gegenüber, das sich in seiner Treue er-
probt hat, so ist das gewifs auf ein ganz falsches Vaterlandsgefühl
zurückzuführen, und über diese Kreise kann ruhig zur Tagesordnung
übergegangen werden. Aber die Zahl der Wendenfeinde ist wohl eine
ganz geringe. Der beste Beweis, dünkt mich, ist die seit der Refor-
mation fast unveränderte Sprachgrenze in Sachsen. Dem Staate aber
zumuten wollen, ein paar Agitatoren zuliebe absterbende fremde Sprach-
reste an den Grenzen künstlich zu beleben und mit Kostenaufwand,
wohl gar gegen den Willen der meisten Kirchspielangehörigen, zu er-
halten, das wäre doch wohl die Ansicht eines nicht ernst zu nehmenden
Menschen. Kein ehrlich denkender Deutscher wird grundlos einem
wendischen Kirchspiel seine Muttersprache verbieten wollen. Es wäre
aber auch zu viel verlangt, wenn er gegen die sich ganz von selbst
vollziehende Verdeutschung Mafs regeln anwenden sollte. Da bildet
sich ein wendischer Burschenverein, der ganz gut den Vorzug der
Sprach Verhältnisse. 289
deutschen Kultur erkannt hat, „um kein Wort wendisch mehr zu
sprechen*. Ein Pastor, ein Wendenfreund und einsichtiger Mann, hat
geglaubt, es hiefse „deutsch" statt wendisch und sagte mir: „Die
Thoren, da können sie nur in ihrem Dorfe sitzen bleiben, in Bautzen
werden sie keinen Narren finden, der auf solche Thorheit einginge."
Das sagt derselbe Mann, der mir erzählt: „Wenn ein Wende zu mir
kommt und radebrecht deutsch, so sprech ich zu ihm, kannnitver-
stan, dann weifs er, dafs er wendisch zu reden hat." In der Nieder-
lausitz fuhr ich mit einem Bauer durch die Kottbuser Gegend. „Hier
wird wendisch bis in alle Ewigkeit gesprochen, aber mit dem Wendi-
schen kommt man gerade bis Kottbus, und das hiesige Volk ist viel zu
aufgeklart, etwa gar wendisch zu bleiben, wir sind doch alle Deutsche,
und die Welt schreitet immer weiter vorwärts/ Ich fuhr auf einem
Spreewaldkahn und fragte meinem Fergen einzelne Worte ab. Viele
wulste er gar nicht mehr, auf manche brachte ich ihn erst wieder, da
rief er: „Hierher kommt auch immer einer, der kann bös werden, und
der zankt, wenn wir deutsch reden; aber das Wendische hört doch auf.
Soll denn das gar wieder eingeführt werden, das hat doch gar keinen
Sinn, das war für die Alten, die Jungen lassen sich nicht verdummen."
In den verschiedensten Gegenden des sächsischen, schlesischen und
brandenburgischen Sorbenlandes fand ich bei den gewöhnlichen Leuten
immer dieselbe Ansicht über das fortschreitende Verschwinden der
sorbischen Sprache. Fast scheint es, als ob sich im Spreewalde
das Sorbentum, wenigstens die Tracht, als Schaustück für die zahl-
reichen Sommergäste erhielte. Ein Mädchen aus dem benachbarten
Werben gab in diesem Sinne ein ungünstiges Urteil über die Burger
Tracht ab. Im Reiseführer las ich, man müsse die Versammlung der
wendischen Mädchen vor der Burger Kirche vor Kirchenanfang als
etwas Eigenartiges ansehen. Ich ging hin, die Dorf schönen waren
nicht da, wohl aber einige Hundert Berliner, die „den Rummel auch
mal sehen" wollten. In Burg, der Hochburg des Sorbentums oder viel-
mehr der wendischen Tracht, habe ich in allen Schenken auch nicht
ein wendisches Wort gehört, da klang es vielmehr so: „Ein Kerl wie
ich furcht9 sich vorm Teufel nicht und soll sich vor einem Geheimrat
fürchten, Quatsch mit Sose. Ich will ein Spitzbub heifsen, wenn ich
nachgebe. Du denkst auch, wes Brot ich schling, des Lied ich sing.
Aber ein Vater kann eher sechs Kinder ernähren als umgekehrt, und
wer Nesseln pflanzt, brennt sich. Wenn du mich dumm machen willst,
mulst du dich erst gescheit machen, wer mich für dumm kauft, hat sein
Geld umsonst nausgeschmissen. Ich sag: viel bedenken, wenig sagen,
keinem Menschen sein Leiden klagen. Auf meinem Hof bin ich Herr,
weh dem, der mir da was sagen wilL Was so e Geheimrat weis, das
weis ich a noch. Noch fürn Fünfer Kümmel!" Nach dieser Flut von
Sprichwörtern sperrte er sich entschieden dagegen, dafs die, nun gebaute,
Kottbuser Bahn durch seine Fluren gehen sollte, weil man ihm nur
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. ]g
290 Die Sorben.
einen Streifen und nicht das Ganze abkaufen wollte. „Solang ich
noch ein paar Pf enge habe, werd ich mei Recht suchn bis ich sieg.
Sie habn alle nnterschriebn? Ja mit drei Kreuzen, damit unterschreibt
man gegen den Teufel." Ich fragte die Wirtin: „Das ist doch kein
Wende, der redet doch deutsch?" „0 ja, aber das Wendische lernen Ja
nur noch die Eottbuser Kaufleute, dals sie bessere Geschäfte machen."
In Weilswasser bei Muskau hat beim Antritt des neuen Pastors
vor etwa einem Dutzend Jahren überhaupt niemand nach sorbischer
Predigt verlangt. Als Immisch so gern das Sorbentum dort beleben
wollte, konnte er selbst zum Abendmahl nur einige wenige alte Frauen
und Männer bekommen. In Muskau, das deutsch ist, haben die Heide-
bewohner allein noch Interesse an sorbischer Predigt. Schleife mit echt
sorbischem Gepräge suchte ich Sonntag abends auf. Im reich besuchten
Gasthaus safs alt und jung, trank und scherzte, aber kein Wort sorbisch
war zu hören. Und gerade in dieser Gegend haben sich die eigen-
tümlichsten Sitten erhalten. Die einzige sorbische Stadt Königswartha
mit 1200 Einwohnern zeigt ein ganz deutsches Gesicht Da giebt es
15 Vereine für die 3000 Sorben und 400 Deutschen des Kirchspiels.
Wer in eine Familie kommt, kann wohl noch etwas Sorbisch hören.
Wer aber auf der Straf se hört und fragt, wer im Gasthof sich erkundigt
oder Schilder ansieht, wird überall deutschen Laut finden, nur auf
dem Kirchhof kann er vereinzelte sorbische Inschriften lesen. Und
geht man von Löbau über Kittlitz und Hochkirch und Weifsenberg,
so bietet sich nur dem Sorbisch, der es sucht. „In Hornow", klagte
eine alte Sorbin, „kommen nur noch ein paar alte Frauen, und der
Pfarrer predigt geduldig, auch wenn nur zwei bis drei zum sorbischen
Gottesdienst kommen/ In Lübbenau (1867) und Spremberg (1873)
erlosch nach dem Absterben der letzten sorbenfreundlich gesinnten
Pastoren nicht nur das Interesse am Wendentum, sondern auch dieses
selbst vor einigen Jahrzehnten.
In den sorbisch - deutschen Gemeinden Sachsens wohnten 1890
55 277 Evangelische in 25 und 14004 Katholiken in 9 Kirchspielen.
Die katholischen ländlichen Kirchspiele sind rein sorbisch und haben
gar keinen deutschen Gottesdienst, die evangelischen haben abwech-
selnd sorbischen und deutschen, die meisten öfter sorbischen als
deutschen. Gab es ja auch 49 916 Oberlausitzer Sorben hier.
Die schlesischen Oberlausitzer Sorben wohnen hauptsächlich in den
Kreisen Hoyerswerda und Rotenburg, es waren 1890 über 27 320.
1891 sprachen daselbst 8380 Schulkinder deutsch, 1140 sorbisch
und deutsch, 4018 wendisch, im Kreise Rotenburg 23,02 Proz.9
im Hoyerswerdaer 37,69 Proz. Im Hoyerswerdaer waren 43,62 Proz.
Sorben. 1886 aber sprachen noch im Görlitzer Landkreise 57 Bänder
sorbisch und deutsch, im Rotenburger 847, im Hoyerswerdaer 852,
aulserdem im letzteren 2109 nur sorbisch, im Rotenburger 1751.
Auf welche Umstände die Zahlenverschiedenheit zurückgeht, weite ich
Verbreitung, Beschäftigung, sprachlicher Einflufa. 291
nicht. Die brandenburgischen Niederlausitzer Sorben zählten 38 245
Köpfe. Im Eottbuser Landkreise gab es 1891 2700 deutsche, 744
sorbisch - deutsche und 5465 sorbische Kinder, in der ganzen Mark,
in den sorbisch - deutschen Kreisen Guben - Land , Lübben , Kottbus-
Land, Sorau, Spremberg: 33 465 deutsche, 1630 Borbisch-deutsche und
6224 sorbische Schulkinder. Berlin zählte 239 Wenden. Der Land-
kreis Kottbus hat 57,67 Proz. Sorben. Von den preulsischen Sorben
rechnet man 65 092 der evangelischen und 2789 der katholischen
Kirche (Wittichenau) zu, sonst waren noch 3 bei der Brüdergemeinde,
63 bei den Apostolischen und 9 bei den Juden. Der Staatsangehörig-
keit nach gehörten 67 430 dem Deutschen Reiche, 509 Österreich,
13 Ungarn, 10 Schweden und 2 Belgien an, eine Sorbin hatte russische,
zwei rumänische Staatsangehörigkeit. Aulser Landwirtschaft und Vieh-
zucht wird noch Fischerei, Töpferei, Leinweberei getrieben; auch
Maurer, Zimmerer, Tischler werden die Sorben gern.
1890 hatte die Mark zwei und Schlesien vier evangelische Pfarrer
von sorbischer Muttersprache, in Schlesien lebten zwei und im
Regierungsbezirk Aachen drei römisch-katholische Ordensschwestern
sorbischer Zunge, die Zahl der sorbischen Pastoren und Lehrer in
Sachsen ist weit grölser. Doch gilt noch Knauths Klage, wenn auch
abgeschwächt, dafs die Nachfrage nach sorbischen Pastoren, die zum
grölsten Teil doch sorbische Muttersprache ererbten, gröfser als das
Angebot ist. Die sogenannte katholische, besonders die Klostergegend,
stellt wohl die meisten. Nicht unerwähnt will ich lassen, dafs auch in
Dresden, Berlin und Leipzig jährlich ein oder einigemal sorbischer
Gottesdienst abgehalten wird. Im ganzen alten Sorbengebiet aber
finden wir noch alte slawische Worte, so Saupe = Supan (Dorfhäupt-
ling, Schöppe), Weithas oder Withas (Rittermälsiger) , Pristabel oder
Pritzstabel = Gewässeraufseher, Kretschmar = Gastwirt, pomale
(langsam), Kleinegarten (Klanzei), Marunke (grofse Pflaume), Plauze
(Lunge), Nusche (Messer), Boie (Wiege), Berl (Hammer), Grenze,
Karete, Potschek (Spiel, auch „Klippe" genannt), pietschen (trinken)
und hatechen, Namen wie Karausche, Plötze, Husl (Gans), Bile (Ente),
Hantscher (Schwein), Husla, Buberzge (Wandbrett, schlechtes Lager,
Gerümpelbrett), Schaluppe (schlechte Hütte), Parockenhans (Piraggen,
Gebäck), Kütschel (schlechtes Obst), pritsch (rutsch, von precz = weg).
Die Geschichte der Sorben ist anfänglich die Geschichte ihrer
Unterwerfung. In den früher von Germanen und später von ihnen
selbst angelegten Rundwällen, die dem Kultus und der Verteidigung
galten, findet man noch Spuren ihrer ältesten Zeit, Topf Scherben und
Gerätbruchstücke. Um 630 ist der Sorbe Derwan Bundesgenosse des
Tschechenherrschers Samo. Karl scheint in Güte mit ihnen aus-
gekommen zu sein, die letzten Karolinger aber hatten von ihren An-
stürmen zu leiden. Da züchtigte Heinrich I. die Magyaren und dann
die verbündeten Sorben, und sein Markgraf Gero überzog mit fester
19*
292 Die Sorben.
Hand, wie dieOttonen im ganzen eroberten Lande, seine Mark spinnen-
netzartig mit Militär und Militärstationen. Es ist wohl eine Sage,
dafs der strenge, unnachsichtige Mann 30 eingeladene Wendenfürsten
auf einem Gastmahle habe töten lassen. 965 wurde die Lausitz dem
Bistum Meilsen einverleibt, früher gehörte sie zu Brandenburg. 1002
mutete Heinrich IL die Lausitzen dem Boleslaw Chrobry abtreten,
dessen Nachfolger sie mit wechselndem Glück bis 1032 hielten. Dann
hatten die Wettiner und die Groitzscher die Lausitzen. Trotz des durch
Heinrich den Löwen 1180 angezettelten Aufstandes der Sorben konnte
an ihrem Geschick nichts mehr zu ändern sein. Langsam fand das
Christentum Eingang. Bis 1304 waren die Wettiner, als böhmische
Lehnsleute, Herren über sie; auch Markgraf Otto von Brandenburg
war unter Wenzel IL 1250 Lehnsmann eines Teiles.
Ein Blick in diese alten Zeiten der Lausitzen gewährt uns inter-
essante Aufschlüsse über das Leben und Treiben und die reichen
Handelsbeziehungen. Die Museen zu Görlitz und Bautzen bergen
wertvolle Belegstücke, dort die zierlichen Kleinteile eines grofsen
arabischen Hacksilberfundes aus Neschwitz bei Bautzen, Münzen des
Sumaniden Ahmed ibn Ismael (907 bis 913), und einen Dirhem von
Mansur L (961 bis 976), dazu Ringe, Häkchen, Ketten und Zierstücke,
aber auch Münzen Eberharts von Bayern (937/38), Eadgars von Eng-
land (959 bis 975), Denare oder Wendenpfennige; ebenso Münzen
Ottos I. (936 bis 972) und die herrlichen Goldzierstücke des Vetters-
f eider Goldfundes aus der Nähe von Guben. Die zierlichen, verschieden-
artigen Urnen aus dem grofsen Wendengebiete sind krug-, napf-,
Schüssel- oder topfförmig und bieten selbst in ihrer einfachen Orna-
mentik eine Fülle von Verzierungen. Die Beigaben der Urnen an
Kämmen, Waffen, Hausgerät u. dergl. bis zum Wirtelstein des einfachen
Webstuhls wären auch heute noch zum Teil verwendbar. Ja, eine Art
Schere in einer solchen Urne fand ich noch heute in derselben Form
in Gebrauch
Nach den Askaniern war König Johann von Böhmen 1346 Herr
der Oberlausitz und Karl IV. auch Besitzer der Niederlausitz. Bei
Böhmen und Österreich verblieben nun die Lausitzen, bis sie
Ferdinand ü. an Johann Georg 1621 verpfändete und bis zum Prager
Frieden 1635. Da ward der Kurfürst von Sachsen wieder Herr des
Landes. Ja beim Tilsiter Frieden erhielt der sächsische König sogar
noch den fehlenden Kottbuser Teil. 1815 mulste Sachsen die Nieder-
lausitz und den schlesischen Teil der Oberlausitz an Preufsen abtreten.
Hat man auf der einen Seite eine Abnahme der sorbischen Sprache und
Selbständigkeit ins Feld zu führen, so darf auf der anderen Seite nicht
die Zunahme des Wohlstandes übersehen werden. Die Siedelarbeit der
Deutschen in der Zeit der Salier und ihrer Nachfolger kam zwar zu-
nächst nur dem Lande zu gute, nicht in dem Malse den sorbischen Be-
Germanisierung. 293
wohnern. Wohl wurden die alten Snpane und Withasen, sobald sie
sich eines deutschen Amtes würdig zeigten, zu allen Ehren aufgenom-
men, aber der gewöhnliche Mann hatte nicht das gleiche Los. Man
suchte ihn von Zünften und Städten auszuschliefsen und seine Sprache
zu unterdrücken. In Lehrbriefe nahm man die Formel' auf, der Lehr-
ling sei aus gutem deutschen Blute und nicht wendischer Nation.
Darüber werden sich die Sorben kaum gekränkt haben; sie sind und
waren treffliche Töpfer seit alter Zeit, auch Schneider und Schuhmacher,
und fanden bei den Ihren Abnahme. Sie wollten auch kaum mehr
sein als Dorf hand werker und Bauern, wie ja noch heute kein Slowinze,
kein Eure etwas anderes als Fischer sein will. Übrigens glich 1Ö00
Joachim I. die ungleichen Rechte aus, und 1550 verordnete der Land-
vogt von Schlick, in Luckau dürfe der Wende so gut wie der Deutsche
sein Handwerk ausüben. Schlimmer war es schon mit der Sprache
beim Gottesdienst und bei Gericht. 1246 sollten die Diesdorfer Sorben
verjagt werden, wenn sie dem heidnischen Glauben nicht entsagten,
1293 verbot Bernhard IL von Anhalt die . sorbische Sprache vor Gericht,
1327 Landgraf Friedrich bei Todesstrafe in Leipzig, Zwickau, Alten-
burg. In Meifsen geschah das Verbot 1424, in Lübbenau 1430, so
schnell schritt die Zeit. Unter Wiprecht von Groitzsch gab es be-
kanntlich östlich der Elbe nur selten einen Deutschen, wie der Pegauer
Mönch berichtet. An dem jetzigen langsamen Aufhören der wendischen
Sprache aber lasse man sich genügen, die Germanisierung hatte schon
im 13. Jahrhundert durch die grofse Siedelarbeit der Thüringer, Flamen,
Franken, Bayern und Sachsen den Sieg auf den Fahnen.
Die Bevölkerung der wendischen Dörfer zerfällt in drei Teile: in
die deutschen Rittergutsbesitzer, Gastwirte, Handwerker, in die Beamten
und die Bauern. Der erste Teil ist der Stamm des Deutschtums; vom
Gastwirt gilt dies besonders. Im Kruge spielt sich das öffentliche
Leben ab; vom Kruge, mit dem oft ein Kaufmannsladen verbunden
ist, dringen neue deutsche Erzeugnisse ins Sorben dorf. Hier giebt es
Zeitungen, Bilder, Angebote. Vom deutschen Beamtentum dringt noch
mehr Deutschtum in die Gehöfte ein. Gehen auch Pfarrer und Kantor
meist liebevoll auf die fremde Sprache und Sitte ein und pflegen sie
wohl auch hier und da, so sehen doch die Sorben bald den hohen Wert
deutscher Sprachkenntnis. Der junge Bursche erhält in der benach-
barten Stadt besseren Lohn; das Mädchen heiratet einen deutschen
Handwerker oder Beamten. Sie geht sorbisch ins Pensionat und kommt
deutsch wieder. Der Bursche bringt die deutsche Sprache mit und
behält sie auf dem Dorfe bei. Ganz abgesehen von der deutschen
Schule, bringen die Militärdien st jähre und die Einrichtung der Krieger-
vereine Deutschtum und deutsche Sprache mit Macht von selbst überall
hin. Aber noch mehr die Einrichtung der Posten und Bahnstationen.
Wie die unzähligen Spreearme den Spreewald, so umklammern die
Fufswege der Postboten und die Schienenstränge von allen Seiten die
294 Die Sorben.
einzelnen Teile des Sorbenlandes, kein Häuschen kann sich der Ver-
deutschung entziehen. Man sieht das so recht deutlich an den Grenzen.
In Leipe, Lehde, Vetschau, Hornow, in Byleguhre und Peitz hält sich
wohl die Tracht noch einige Zeit, die Sprache aber ist bis auf Reste
erloschen. Denn die beiden Sprachen haben wie überall getrennten
Gedankeninhalt, oder der betreffende Mensch ist nicht fähig, sofort den
einen Gedanken, etwa einen Liedervers oder ein Gebet, in der anderen
Sprache wiederzugeben. Selbst gebildete Leute, die beider Sprachen
mächtig sind, haben mir nicht eine sorbische Gedichtstrophe sofort
deutsch wiedergeben können. Sie können aber ganz verständnisvoll
und andächtig die sorbische und die gleichbedeutende deutsche Gedicht-
strophe hersagen«
Der dritte Teil, die sorbischen Bauern, ordnen sich den Besitz-
tümern nach. In Werben hatte ein Grofsbauer ungefähr 80 Hufen,
ein Halbbauer 40, ein Kossät 20, ein Büdner 10, ein Häusler 1. Jetzt
sind diese Besitzverhältnisse durch Ver- und Zukauf verschoben. An
der Spitze der Bauernschaft, dem Landrat unterstehend, tritt der
Schulze oder Gemeindevorstand hervor, meist ein intelligenter, vor-
urteilsloser Bauer. Er ruft seine Bauern zur Gromada, Gemeindever-
sammlung, zusammen. Ehemals gingen Hammer oder Tafel von Haus
zu Haus, später ward die Ankündigung unter Trommelschlag und
Glockengeklingel ausgerufen ; jetzt wird in den verschiedenen Dorfteilen
ein Zettel von Haus zu Haus geschickt, die der Gemeindediener und
Nachtwächter austrägt. — Der Gemeindehirt ist seit der Separation
nur noch in wenig Dörfern anzutreffen.
n. Dorf und Gehöft.
Das sorbische Dorf ist meist eine Art Angerdorf. Eine anger-
artige breite Dorfstrafse führt geradlinig von Feldmark zu Feldmark.
DieStrafse ist so breit, dafs zwischen ihr und der Häuserreihe oft noch
eine breite Flur mit Graben und Fahrweg vor dem Hause liegt, so dafs
die Reihenfolge Dorfstrafse, Graben mit Teich, breiter Weg, Gehöft,
nach beiden Seiten zu sehen ist. Auf dem breiten Anger stehen wohl
auch Kirche, Schule, Spritzenhaus, wenn sie mit dem Herrengut nicht
in die Zeile eingereiht sind. Am Ende des Dorfes laufen die beiden
Fahrwege mit der Dorfstrafse wieder zusammen, und hier wird nun
an beiden Enden die Dorfstrafse von anderen Landstrafsen oft recht-
winklig geschnitten. Auch hier sind wenigstens in der Nähe des
Dorf es die Strafsenseiten mit Häusern bestanden, wie beispielsweise in
Gurhow (Abb. 110) und vielfach in der Niederlausitz. Der Dorfplatz
gleicht einem Band (= Brahno, Byleguhre) oder einer abgestumpften
Lanzenspitze (=<^^x=: Gurhow, Kuben), und wenn die Orte sich ver-
größern, einem Kreuz =0=i=, wie in Kahnsdorf, Grolslübbenau.
Eine zweite Dorfform ist die des Rundlings, wie er in vollkommener
Dorfanlagen.
295
Schönheit im hannoverschen Wendlande auftritt und auch in den längst
germanisierten westelbischen Gegenden, so bei Leipzig, nicht selten ist.
In den Lausitzen ist mir diese Form nicht häufig begegnet =0 • Bei
diesen beiden Dorfformen führen nur ganz schmale Privatwege zwischen
den Gehöften oder durch die Gehöfte rechtwinklig zur Dorfstralse hinter
das Gehöft aufs Feld. — Der Dorfteich, meist ein hälslicher Sumpf, ist
fast allenthalben zugeschüttet worden. Anders ist dies bei einer dritten
Dorfform, einem echten Gaasendctrf. Die Dorfstralse ist dabei entweder
ein Teil der Landstrafse oder sie mündet in selbige ein. Die Dorf-
strafse selbst teilt sich und verzweigt sich dann mannigfaltig und um-
klammert die einzelnen Gehöfte. Fast scheint es, als ob der Anger
Abb. 110.
«
Schematicher Plan des Dorfes Gurhow.
A Schulzenhaue, B Schule, C Gasthof, D Spritzenhaus, E Gehöfte, F Briesener
Gottesacker, G Stralse nach Bliesen, H Strafse nach Werben, J hohe Dorfstrafse,
mit Bäumen bepflanzt, K Weg nach Schmogrow, L Strafse vor den Gehöften,
M Graben, N seichte Teiche, 0 Grasplatz, P Friedenseiche. — Typische Lage des
Gehöftes Tgl. Ex ; a Wohnhaus , b Scheune , c Stall , d Wirtschaftskammern , e Holz,
f Ziehbrunnen, g Arbeitsraum, h Blumengärtchen, i Garten mit Holzstaket, k Thor.
der ersten Dorfform bebaut und zwischen den Gehöften Wege liegen
geblieben wären, so dafs die Dorfstralse ganz verschwunden und die
Fahrwege vor den Häusern an deren Stelle getreten sind. Diese Dorf-
form ist wohl die häufigste im germanisierten wie im slawisch geblie-
benen Gebiete. Vermischung der drei Dorfformen hat durch Anbau
an den Landstralsen stattgefunden. Am eigenartigsten vielleicht in
Werben. Es scheint ursprünglich ein Angerdorf gewesen zu sein, das
sich in nördlicher Richtung erstreckte. Die Querstraf se Kottbus-Burg
aber war gleichfalls angerförmig und bildet ein langes N
Bundstück, dessen Hauptteil Paulicks Gasthof ist.
Der eigentliche Anger ist Jetzt mit der Kirche an
der Straf senkreuzung , mit Schule, Spritzenhaus und
anderen Gebäuden besetzt. Wir hätten also eine
richtige Kreuzform vor uns. Aber am Nordende des Angers steht das
gröfste Bittergut wie der Dorfplatz eines Rundlings, und nach allen
Seiten erstrecken sich gehöftumklammernde Stralsen. Das Kreuz hat
am Südende das breite Grolsbauern viertel , im Westen das anfangs
breite Burger, an der Ostseite das Kottbuser Viertel. Die Nordseite
w?J£bo
s
296 Die Sorben.
mit dem Kockolviertel ist vielteilig. Nach Angabe des Schulzen sind
das Grolsbauernviertel und das Dominium am Ende die ältesten Dorf-
teile. Danach wäre das Gassendorf zwischen Kirche und Dominium
später durch Abstückelung entstanden.
Die Lage der eigentlichen Spreewalddörfer bedingt natürlich ganz
andere Dorf anlagen. Die über eine Quadratmeile grofse Gemeinde
Burg hat mit Ausnahme des Dorf Stückes nur zerstreut liegende Gehöfte,
Leipe bildet zwei, Lehde vier grofse und mehrere kleine Inselstücken.
Die Lage der alten Gehöfte ist in den Lausitzen völlig gleich.
Das' Gehöft ist mit dem Thore und der Giebelseite des Wohnhauses
nach der Dorfstrafse gerichtet Ein Gehöft besteht aus zwei Haupt-
teilen, dem Hof räum und dem Grofsgarten. Der Grofsgarten liegt
hinterm Hofraum und grenzt an einen Dorf weg, so dais das ganze
Gehöft umgangen werden kann. Jedes Gehöft ist somit für sich ab-
geschlossen und bietet alle Vorteile und Nachteile seiner Eigenart.
Der Hauptvorteil ist die völlige Unabhängigkeit vom Nachbar, der
Hauptnachteil die Begünstigung der unangenehmen Winkel und engen
Gänge, wo aller Unrat abgelagert wird. Im Grofsgarten baut man
Gemüse, Kartoffeln, Gras, ein wenig Obst. Der Hof räum ist zumeist
vierteilig, wie der fränkische. Aber der vordere Raum ist nur selten
mit einem Gebäude besetzt, sondern wird durch das Thor ausgefüllt.
In der Regel bildet die ganze vordere Seite, wenn sie, wie bei ärmeren
Leuten, nicht ganz offen ist, ein Staket. Der erste Teil bietet ein Vor-
haupt vor dem Giebel; es folgt eine Gatterthür für den gewöhnlichen
Eingang, dann die breite doppelteilige Thorthür und dann wieder
Planke oder Staket; der letzte Teil ist öfter zu einem Schuppen oder
vierten Haus entwickelt worden. Statt des Vorderzauns, der übrigens
um das ganze Gehöft geht, haben wohlhabendere Wirte einen hohen
Bretterzaun mit breitem Thor oder eine feste Thormauer errichtet.
Treten wir durch das Thor auf den meist recht freundlichen Hof-
platz, so sehen wir drei Hauptgebäude (Abb. 111, 112), zu beiden
Seiten Wohnhaus und Stall, vor uns die Scheune.
Das Baumaterial all dieser Gebäude ist bei den ältesten Gebäuden
Holz, das man rund oder behauen im Gersafs- oder Füllholzstil auf-
einander fügte, und dessen Fugen man mit Lehm und Moos band. Beim
Gersafsstil ragen die Endschranken in russischer Art hervor, die feine
Kunst der masurischen Fügung kennt man nicht. Die einstöckigen
Gebäude sind mit Schilf- und Strohschindel, in der Oberlausitz auch
mit Holzschindel bedeckt. Auf dem Bodenräume mit seinen augen-
förmigen Fenstern bewahrt man abgelegte alte Sachen. Solche Holz-
häuser sind keineswegs selten. Nach dem Holz bediente man sich des
Lehms und der Fachwerkfügung als Baumaterial. Nicht selten sind
ans Holzhaus noch unter Dach Anbauten aus Fachwerk gesetzt, und
man hat das ganze Haus beworfen und getüncht, die Scheune aber
unbeworfen gelassen. Dem Fachwerkbau folgte der jetzt allenthalben
Hausbau.
297
gebräuchliche Ziegelbau. Es kommt häufig vor, data auf einem Hof-
raum eine Lehmscheune, ein Wohnhaus, halb Gersais, halb Fachwerk,
und ein steinerner Stall stehen. So verdrängt auch die steinerne Be-
dachung die Schindel, aber noch heute kann man im Spreewald Schilf-
schindeldecker in Thätigkeit sehen. Bas Schindeldach ragt meist auf
allen Seiten über 1/2m vor, so dats regenfreie Gänge ums Haus herum
Abb. 111.
+ K
a a ad
Abb. 112.
Werbener Hof räume.
A Wohnhaus (6 X 9 m), B Scheune, C Stall mit Speicher darüber, D Schweine-
stall, E Werkstatt, F Schuppen, G Pumpe (sonst gewöhnlich Ziehbrunnen), H Hof-
raum (ohne Düngergrube), J Arbeitsraum, K Vorgärtchen, L Hauptstrafse, M Seiten-
strafse, N Abort, 0 Futterraum, P Schuppen. — a Steinsäulen, b Holzsäulen mit
Dach über FJ, c Thore, d Holzthür oder Lattenthür, e Hausflur» f Wohnstube
(f1 Ausgedinger), g Kammer, h Laube, i Holzstofs, k Reben, 1 Ulme.
entstehen. Auf dem First ist die Strohschindel mit Holzwinkeln oder
ähnlichen Strohbändern oder auch mit zwei Latten in der Länge des
Firstes befestigt, seitlich schliefst meist ein Giebelbrett mit Schindelzier
ab. Als solche herrschen in Sachsen Stern, Lindenblatt, Reichsapfel,
im Spree wald gekrönte Pferde- oder Schlangenköpfe, Hundeköpfe, Quer-
kreuze, bei den Katholiken einfache Kreuze (Abb. 113 a. f. S.). Bei
seitlicher Abschrägung des Daches fehlt die Zier. Die Vorderenden des
Daches werden in der Niederlausitz gern durch Weinstockgestelle mit
dem Boden verbunden. Im Zwischenräume lagert Holz, auch halten
sich hier die Hühner auf.
Die Dreiteiligkeit des Wohngebäudes ist Regel. Rechts und links
vom Hausflur sind Stuben, die häufig in Stube und Kammer geteilt
sind (Abb. 114). Merkwürdig ist der seitliche Anbau von kurzen,
kleinen Vorrats stuben , die nur bis zur Hälfte des Giebels reichen. In
einigen Fällen bewohnte diese kleine Stube die Mutter der jungen Frau,
die entgegengesetzte grofse aber das Eltern paar des jungen Mannes. —
Weit häufiger aber hatten die Ausgedinger ihr eigenes Heim auf dem
Hofraum, entweder im Stallgebäude oder im vierten Hause an der
298
Die Sorben.
Abb. 113.
m
17 18
Giebelschmuck.
1, 2, 6, 7 Zescha; 3, 8 Ralbitz; 4, 5, 13 Rotten; 9 Barg; 10 Rüben;
11, 14, 15 Müschen; 12, 16, 17, 18 Werben.
Abb. 114.
1 ° k j i h
TT
C
O L
WS
HH
J
0
E3
on i
38
A
"B"
G
H
S£
ß
HH
iV
EUfJÄ-H
]'
€
B
H
bi*
n
£
«
+ z
-IH
Hh
D
Dr
N
m
si
no e
Werbener Wohngebäude (siehe auch Fig. 123, 8. 304).
a Hausflur, ß alte Küche, y Stampfraum mit Küche, d Wohnstube (Gersais) des
Besitzers mit o*' Kammer, 6 Ausgedingerwohnung mit s1 Stampfkammer und i\ guter
Stube (Fach werk). £ Wohnstube der Mutter der jungen Frau, 9- Akazie, x Wein stock
und Gang, X Holzscheitschicht, (J. Hofraum, v Nachbargehöft, o Weg, £ Gemüse-
gärtchen. — ab 3,4m; bc 2,5m; cd 6m; dn 2m; no 0,9m; oe 0,65m; ef 4,3m;
am 4,2m; fg 4m; hg 3,7m; mh 17,25m; dk 6,7m. — A Ofen, B Ofenbank,
C Glasschrank, D Kleiderlade, E Bett, F Kommode, G Tisch, H Stuhl, I Uhr, K Bilder
(Kaiser, Mato Kofsyk), L Kleiderschrank, M Kamin (jetzt eingemauerter Schrank),
N Sofa, 0 Wiege, P Topf brettschrank, Q Köfferchen, R Topfbrett, S Stampftrog,
T Sommerofen, ü Brettständer, V Herd, W Schrank mit Topfbrett, X Bank, Y Korb,
Stotz, Z Treppe.
Hausinschriften. 299
Giebelseite. Dieser letzte Fall tritt z. B. beim Geburtshause des Werbener
Dichters Mato Kotsyk ein, das vierte Haus bewohnen hier die jungen
Leute, das eigentliche Wohnhaus die betagte Mutter des sorbischen
Dichters. Den Eingang zu wohlhabenden Häusern bildet eine Laube mit
Sitzbänken. Über der Thür stehen fromme Sprüche, so die folgenden:
Haussprüche.
Den 3. August 1848.
Dies ist der Tag, der eine Nacht,
Der grofse Not für uns gebracht.
Da schlugen um uns Feuerflammen,
Die unser Hab und Gut uns nahmen.
Doch half uns Gott aus aller Not
Und giebt uns unser täglich Brot.
Werben, Matys Kosik.
An Gottes Segen ist alles gelegen.
Durch den Brand bin ich vernichtet
am 19. August 1890.
Durch Gottes Hülfe wieder aufgerichtet
den 15. Juni 1891.
von W. Neumann durch G. Just (Scheune in Werben).
Gott allein die Ehre.
Gebaut im Jahre 1868.
(Werben.)
Allein auf Gott setz das Vertrauen,
Auf Menschen Hülf sollst du nicht bauen.
(Schmogrow.)
Gott segne deinen Ein- und Ausgang.
(Werben.)
Gott segne unseren Ein- und Ausgang.
(Buben, Thor.)
Soli Deo Gloria. Gott allein die Ehr.
(Buben, Thor.
Ich habe nicht aus Lust gebaut,
Die Not hat mich gezwungen.
Auf meinen Gott hab ich vertraut,
Mir ist mein Werk gelungen.
Das Feuer rifs mich nieder,
Mit Gott erbaut ich's wieder.
Im Laubenvorbau sitzen vielleicht plaudernd die Bewohner. Wir
bemerken ein festgenageltes Hufeisen, das Glück bringen soll, auf der
Schwelle. Die Hausthür ist noch hier und da doppelteilig, das Schlols
nur bei ganz alten Häusern ein einfacher Holzhebel. Der Hausflur ist
geräumig. Vom vorderen Teile führt eine Holztreppe auf den wenig
benutzten Bodenraum. Der hintere Teil fafst den alten breiten Herd,
der aber jetzt meist durch moderne Öfen ersetzt ist, so data diese Küche
300 Die Sorben.
kaum als Trocken- oder Räucherkammer dient und vielleicht in einer
hinteren Abteilung als Stampfraum mit Sommerofen gebraucht 'wird.
Zur Linken des Flurs wohnen die jungen Leute. Der Thür gegenüber
führt eine zweite zur Stube der Mutter der jungen Frau. Neben dieser
Thür sieht man Glasschrank, Kleiderlade, Uhr, Bett, an der Vorderseite
aufaer Glasschrank noch Kleiderschrank und Kommode, vor dieser den
Bemalte Thonteller
(Nach Schmidt, Sejffi
dem Museum für sächsische Volkskunde.
DOiel: Sächsische VolkatnchlCD nnii Bsueruhäu
Taf. 27, 111. W. Hoffmssn, Dresden 1897.)
festen Tisch mit Stühlen, an der Flurseite steht rechts nur der grofse
Kachelofen mit Ofenbank, der zugleich für die alte Küche und die an-
stofsende Kammer berechnet ist. Der Kamin mit seinem Kessel und
Kesselbaken ist in einen eingemauerten Schrank verwandelt worden.
Abb. 117.
Die Kammer birgt u. a. Bett, Wiege, Topfschrank, Tisch mit Stuhlen,
Topfbrett (vgl. Abb. 115 und 116). Die an der Decke befindliche, bei
Letten und Philipponen gebräuchliche Hangewiege, an deren Stelle bei
der Feldarbeit draufsen ein grofses Tuch tritt, soll auch wohl hier und
da vorkommen. Sonst sieht man noch das Gestänge vor dem Ofen zum
Trocknen, Spinnrad und Lischke oder Kober, Tragkorb oder Kiepe, in
«■V
A.lfL
Za Seite »00.
Abb. 115.
Hansgerftte aus dein wanäfsohen Volkonuaeuin in Bautaan.
(Nach Schmidt, Seyffert, Sponsel: Sächsische Volkstrachten und Bauernhäuser,
Taf. 27 I. W. Hoffmann, Dresden 1897.)
a Wandschränkchen mit wendischer Volksornamentik vom Jahre 1668 ans dftr Parochie
Krottwita hei Kloster Marienstern. b Bild, aus Papierstoffen snaaminengeseist.
c Kinderspinnrad, d Stuhl, geschnitxl ho Jahre 1835 romvauer Nepila in Rohoe
hei Schleife; darauf Rock, e Feststoek mit Schleife, f ßorleostock. g Thöneroe
Banernfeldfl stehe mit Ösen »am Traggurt, h Hejka xnr Verkündigung von Sfcerbefalien.
*
r
#»»p
r
? *
r
m
i~ \
v-:-
■Wi'
f
*•
V
2.
\
-fc'
* *
- ^
*
V f
n •
*«
ff *-
,«
m
V
\
-J
II
:■ Ii.\n herkammer dii-r.t tmd vielleicht in einer
Si,nii;it'r;iura mit Simmerofen .gebraucht ivirrf.
iihhtu die jungen Li*ute. Der Tliflr b-.-^>mj üb.-r
ütjc Jit Muttor ilpr jungen Frau. Neben itle^r
rank, Kleiderlade, Uhr. Bett, an der Vorderseite
■ KU-i'lei'Eü'lu'n.iik und Kommode-, vor dieser dt-::
iU.-l vuinibaiw lim m&iitttiifhaMW a
niiMnufMDi mir) iJniarq«** tun ,bim 4 .OTOlinwSitl istoolSI 1*1 tfiw**««
. ■! i:..n i .* Mi!;n>, aji der Flui-seite Rn-ht rechts nur der gr<><-
. -i. ;■ ir i* i ■; •>..:,k, der sagU-icb f'ir ^.ie alte Küche und die >-
-i. i. iv :.- r ! 'liin-t ist. IVr K-tiiii' mit seinem Kessel i;
,1. i: i-: i; :.-■■!> ciiiui-uiiiU'.'ni-ii S J.nink verwandelt woi'i
lett, Wh
He, T"i-Fs.l
rank. Tisch mit Stn
und Uli
. Die an
.-r Decke befindlich.
i-l.nLu.-bl
ho IlSi.jewieKe. an deren Stell
in jjrohp
Tuch tritt
soll auch wohl hier
ht. man
r.cb dasfi.
1-infre vor dem Ofen
l.iachke
der KoUt,
lYajrkorh oder Riej.
ii g <i
&:
31
Gemeindestock. 301
Schulzenhäusern den halbvergessenen Schulzenstock, der sich nicht von
dem bei den Tschechen erwähnten unterscheidet, un<J. den Gemeinde-
stock, der gleichfalls meist nur noch vom Hörensagen her bekannt ist.
In fünffacher Form ist er zu finden, als Hammer (Elapatz), Hammer-
keule (Hejka), Haken (Kokula), Kegel und Tafel. Diese Stücke werden
mit einem Schreiben des Schulzen versehen und von Nachbar zu
Nachbar weitergegeben. Jetzt freilich geht meist ein Bote mit dem
Schreiben allein herum, oder es wird vor jedem grösseren Gebäude mit
einem Glöckchen geläutet und dann die Bekanntmachung vorgelesen.
Der Hammer (Klapatz) tritt in mehrfacher Form auf. Statt des
vierseitigen Hammerstücks kann auch ein eiförmiges verwendet werden.
In Schmogrow waren bis etwa 1890 vier der letzteren Hämmer ge-
bräuchlich. Das Ei war 10 cm lang und halb so breit und dick; es
war in der Längsachse so geteilt, dals auf die gestielte untere Hälfte
die obere aufgeschraubt werden konnte. Zwischen Band und Stiel
wurde das Schriftstück eingelegt (vgL Abb. 117 a, b).
Die Hammerkeule (Heja, Hejka) weist in ursprünglicher Form
nur einen grofsen Hammer auf. Man zeigte mir in Schmogrow einen
Holzhammer, dessen Schlagstück ein V4m langes Klotzstück und dessen
Griff über 1 m lang war, als Hejka. Im Klittener Kirchspiele wird als
Hejka ein kurzer Stock mit kugelartigem Ende benutzt. Ist die Kugel-
endung umgebogen, so ähnelt der Stock einer Pistole (vgl. Abb. 115 h
und 117 c).
Als Haken (Kokula) zeigte man mir einen grofsen Feuerhaken,
der bei Feuersbrünsten in Thätigkeit war. Er würde als Gemeindestab
am ehesten der litauischen Kriwule zu vergleichen sein (Abb. 117 d).
Der Kegel (Pupa) ist in einzelnen Dörfern des Klittener Kirch-
spiels an Stelle der vorigen drei Gemeindestäbe getreten. Es ist ein
flacher Kegel vom Kegelschub (Abb. 117 e).
Die gestielte Holztafel (Tafla), auf die Bekanntmachungen auf-
geklebt werden, gleicht einer einfachen Schiefertafel (Abb. 117 f).
Neben den Gemeindestäben sah ich die l1/*111 langen Schulzen-
stäbe meist nur in der Bumpelkammer. Gelbe oder braune Bohr-
stöcke mit Messing- oder Neusilberknöpfen tragen die Gravur: „ Ge-
meinde (Gurhow).a (Vgl. Abb. 99, S. 264.)
Als besondere Teile des Wohnzimmers sind in manchen Gegenden
eine durch ein Trittbrett erhöhte Zimmerecke und die Hölle zu betrachten.
In kleinen Häusern hausen in der Hölle vielleicht die Altsitzer, deren
Los sich seit jenen Zeiten, da man sich ihrer auf gewaltsame Weise
entledigte, denn doch etwas verbessert hat; im allgemeinen ist der
Bauer aber der Anschauung: „Wer nicht mehr arbeiten kann, ist unnütz
für die Welt." In Max Bittrichs Spreewaldgeschichten ist denn auch
dieser Gedanke, wie der der „berechnenden Ehen", wiederholt zum
Ausdruck gebracht worden. — (Gehöfte, siehe Abb. 118 bis 121.)
Das zweite Hauptgebäude, der Stall, liegt dem Wohngebäude in
den meisten Fällen gegenüber (vgl. Abb. 123). Der gebräuchliche
Name „Stall" ist nicht ganz zutreffend. Weit eher könnte er Speicher
genannt werden, und mir acheint sicher, data der Stall erat später
Abb. 119.
Haus in Burg mit gebrochener Ecke und mit „Gang*.
(Nach Photographie »011 Steffen-Burg.)
mit dem Speicher vereint worden ist, wie in Litauen. Die alten
hölzernen Stallspeicher werden rar (Abb. 122 a. f. S.). Sie bestehen
ans einer ganzen Kammerflucht , wie der litauische Speicher. Da
finden sich Gelasse in folgender Reihe: Waschraum mit Kessel, Back-
raum mit hinten angebautem Backofen, Schlafraum und Kammer der
Magd, Futterraum für Gras und Klee, Raum für ein paar Kühe,
IS
u
li
Stall Speicher. 303
Milchraum, Wirtschaftsr au in. Jedes Geists besitzt eine Thür, der Wohn-
raum auch ein ordentliches Fenster, die anderen haben manchmal
kleine Gucklöcher. Eine offene Treppe führt von aufsen nach dem
Stockwerk, dessen Zierde der vorragende Lauben gang ist. Die schön
geschwungenen Kreuze zwischen den beiden Querbalken stechen dem
Beobachter besonders in die Augen. Auf dem Gange ist eine Stange
zum Aufhingen und Trocknen nasser Sachen befestigt Durch die
Stall und Speicher mit „Gang" in Burg. (Such Pbotogr. v. Steffen-Borg.)
Kranze steckt man im Sommer Heu und Stroh, denn der obere Boden
dient zur Aufbewahrung von beiden, sowie zum Trocknen und Auf-
bewahren des Getreides. An der Giebels eite ist wohl noch eine
Hühnerstiege nnd ein Taubenschlag angebracht, sonst bevorzugt man
als Taubenschlag die Dachvorsprünge. Das Dach hängt auf der
hinteren Seite, die keinen Stock bat, natürlich viel weiter herunter.
Der obere Giebel erhält ein hobsches Aussehen durch die diagonal ge-
legten Bretter.
Die neuen steinernen Stallspeicher unterscheiden sich nur insofern
von den alten, als sie ein geräumigeres Erdgeschols, keinen Lauben-
gang nnd nur einen halben aufgebauten Stock haben. Dieser dient
demselben Zwecke: der Aufnahme von Heu, Stroh und Getreide. Ganz
schmucke Wohnstuben, sogar mit Laubenvorbau, für den Altsitzer auf
der einen Seite, für Knecht oder Magd in der Mitte, sehr reinliche
Stall- und Wirtschaf tarauine machen das Gebäude zu einem zweiten
Wohnhause. An den Stallspeichern wohlhabender Bauern fehlt auch
die Hausinschrift nicht, wie z. B. in Werben:
304
Die Sorben.
Wir sind hier fremde Gäste,
Und bauen alle feste
Durch Gottes Hülf und Schutz
Preisen wir mit Herz und Mund.
Gebaut im Jahre 1892
Die Düngergrube fehlt,
den Dünger sofort aufs Feld.
Abb. 123.
M. H.
Man schafft in Werben und Umgegend
Abb. 124.
+
+
+
+
+
+
+
+
+
m
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+ +
+
+
+
+
+
+ +
m
+
+
+
+
+
JL
l
8
i
a
r
*1
-1h
C
C
*B
+
+
+
+
a+k
-u
° -o:
+
+
+ + +
J-t- +11+ + +11+ +x
+
+
+
p
r
e
t T_
gl
T 6
T 6
+ TL
7
+
+
+ 1 q 1 LlüJ+ +1+1+ + +
Werbener Gehöfte.
Abb. 123. Zum Wohngebäude, Abb. 114. — Abb. 124. Aus dem Großbauern viertel.
a Nachbargehöft , b Dorfstrafse , c Hofraum , d Wohngebäude , e Schweinestall,
f Stallspeicher (Räume zum: 1. Waschen, 2. Backen; 3. Aufenthalt der Magd,
4. Futterraum, 5. Kühe, 6. Milchraum, 7. Pferde, Bodenspeicher), g Scheune (Lehm-
fach mit Schindel und Feuerleiter) mit Häckselkammer und g' Schuppen, h Abort,
daneben Holzstofs, i niedere Räume für Holz und Kohle und Käsebereitung, k Gemüse-
gärtchen, 1 Ziehbrunnen mit Tränke, m grofser Gemüsegarten mit Kartoffelbeeten,
Wiese und Bäumen, so lang und breit als der Hofraum (viermal so lang als das Haus
und zwei- bis dreimal so breit), n Bank, o Akazie, p Ausgedingerhaus , q Einfahrt,
r Backofen (Lehmfach, Ziegeldach), s Dengelstock, + + + Zaun.
Das dritte Hauptgebäude liegt oft parallel zur Stratse und schliefst
den Hof räum ab: die Scheune. Häufig ist noch die alte breite Lehm-
scheune, an deren Seite ein Wagenschuppen mit Häckselkammer angebaut
ist. Skelette von Habichten sind am Thore zu sehen. Der Bauer
- --».
•■ »■
MI
-*•/.-»
* ■
*-.«. »-* *■ .
I J **-' J i *
9 2 § *g « :ft
1>"V> .*"1"~
I ^ C .| | - j»
. -ä w S 'S** :
*t ^
y
V"
■ •» t
r
» *>**■
*•*>
•<
•V.Wf;
* t
:8.J
9 *^
^ . - a w ja -+ ..
**
! " -
•*
•*..
.»V,,» ^."»1
'S» ,(
t
4
>
*.
}
r
..\
r
^
"1
t-
pt
»
-f • -T
ä 1* i H
> i
""•':*■»»*«.
:»• r* • 1*
i vi»r;-«'»i.
• • int i lrcui-'t" («.tM«
it •• *'• .,gl^ J$ \&*\ ^< h'i«z
t igl'äi Äi -? im 1 Muii i.
i<Jvfci|"'j^ Jatire • ;-•*- M H.
.•j.ui'i t» :i!i> ^rpi». fiihB't in \Wrbeu und UrüK" j,.
' '■-• I I «• 1 f AbL. 124.
*;.%§ 5 a
I I 5 * §■ u t
«. -- .k, »4 t...
I
»- T
• *-* \ f -;
1 ! {
w -
a
* R
' 1
.-1
E
JS
il
Hl TL
-4»-—.
•• n 1 £ * * 1. *- *
X L T 3* 3; ig
^2 & ^ CV
i <l 1 I Till - - M -
3 5- B
{(eh
5 £ B o 5 »
/.-
r Dci' .r.11*
\i» *
' * . .$* • g i fc- *r-.*A l3'- 8*4 \ tis dem un »isbauern
'■»'*♦' tf 4 S J. m * «nW.thu^i''jSiniii«, ** ScLwt'i. t -
..'• -ni- /nii: '& R*1.) 'S'1* '«m feii<k<Mi; J- VulVnllialt «li»r *..
W'üi , 0. Vi. i'.'J'Äig 1? lgtJW&, I£«di»n- ;iri,hfri. g Scheune • 1..
• .:>'. i.-i. 11.* «Ti f * ^'"bs.g» 1.» ufi.i K.*--J .•i^'ti-.nj. k •;•.
• ■ • 1. «nit 1 i^ü^ ,3ii ö 11». »* <»«'in",. ivarten ih»t Kai»ot^.
,ll,,'^3l|*l<'t,',2'''' T' Aii^'"!'':.''^!^, rj 1..
(li'II ll '-
1 ti ^ i -».•
♦'.. L.. -»- -j- • Zti'ia.
' i -lU'ljr J- g*5«'Ö .^»r;*lJ"l 7iu* Strafst und sc-
' in'U'ie g ll'^.'.^ist nrx'h die ait^ breite I.t
•11 W r-^ittift gs>j»«"i t 11t iiiiok«clka;i]mt'r jiü^.'I-.
I <*•* C *^ I * 1 T
±:. -t- v? ^
Gehöft. Kleidung. 305
will der Vogelwelt verkünden, welch Gericht er über Übelthäter an
seinem Hab und Gut hält. Angenagelte Scheiben verkünden ein Lieb-
lingsspiel der jungen Sorben. Seitlich angebaut an die drei Haupt-
gebäude, oder auch einzeln auf dem Gehöft stehend, finden sich nun
meist noch eine Menge kleiner Räume, so die Schweineställe. Schräge
oder aufrechtstehende Kreide- oder Teerkreuze sollen den Bösen fern-
halten. Dann finden sich auf dem Hofraume noch der Ziehbrunnen,
der Hundestall, der Abort, ein Holz- und Eohlengelafs , ein Gemüse-
gärtchen u. a. Da Dünger selten seitlich oder hinter dem Stalle liegt,
macht der grüne Hofraum, wenigstens in der Niederlausitz, meist einen
recht freundlichen Eindruck, der noch erhöht wird durch die reinen
und schönen Wirtschaftsgegenstände an Haken, auf Bänken, Holz-
schichten, Zaunstangen.
Aufser dem Werbener Gehöftgrundstück (Abb. 114, 123) aus dem
Kockol viertel will ich ein zweites rechteckiges Gehöft aus dem Grofs-
bauernviertel beschreiben (Abb. 124). Es reicht vom Dorfanger zu
einem Dorf weg, hat also, wie fast alle, zwei Zugänge und grenzt an
beiden Seiten ohne Zwischenraum an andere Güter. Die Angerseite ist
etwa 35 m, die anstofsende über doppelt so lang. Es folgen an der
Angerseite 7,5m Planke, 3m Thor- und Im Pforteneingang, 5,5m
Ausgedingerhausbreite , 4,5 m Gatter, 3 m Gatterthor und 10,5 m
Gartengatterthor. Thoreingang, Pforte und Ausgedingerhaus bilden
ein Gebäude, wir haben hier einen jener stattlichen Thoreingänge vor
uns, die der Strafse zugekehrt sind. Vom Altsitzerhause lugt nur
ein Fensterchen nach dem Anger. Thür und Hauptfenster gucken
nach dem Hofe. Das Auszüglerhaus ist 5,5 . 4 m grols und bildet
den Eingang zu einem 16 m tiefen Gemüsegarten. Eine Gartenthür
führt in den eigentlichen Hof; zu dessen linker Seite befindet sich
das Wohnhaus , an das sich ein langer Holzraum mit vorliegenden
Rartoffelbeeten anschliefst. Gegenüber sieht man den Stall mit
Abteilungen für die Pferde, Kühe, den Häcksel, die Wagen, die
Schweine; ein halber aufgebauter Stock dient als Speicher. Den
Abschlufs bildet die Scheune, die gleichlaufend zum Altsitzerhaus,
nur am anderen Ende der Besitzung liegt. Zwischen dem Ende des
Holzraumes und des Stalles liegt inmitten des Hofes der Backofen.
Vor dem Wohnhause blühen Nuls-, Apfel-, Birn-, Kirsch-, Pflaumen-
bäume. Unter einem Birnbäume liegt ein mit Dengeleisen versehener
Stein. Gegenüber der kleinen Halbstube sieht man einen Schleifstein
und den Ziehbrunnen. Das Wohnhaus im Gersafs ist beworfen und
hat, wie die Lehmscheune, Schindeldach. Der Stall ist steinern, das
Backofendach gleichfalls.
m. Kleidung.
Die Männer tragen, soweit sie nicht die wechselnde Volksmode
mitmachen, zum Kirchgang einen schwarzen, bis zu denKnieen reichen-
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 20
306 Die Sorben.
den Scbolerook, dessen Schölse faltig angereiht sind. Ältere Leute
haben einen langen blanen Feldrock mit Schoteen, die weit übers Knie
herunterreichen. Der zur Feldarbeit benutzte Rock ist etwas kürzer
und sieht grau, schwarz oder blau ans; die kurze Joppe ist aber ebenso
häufig. Die Hosen zur Arbeit sehen weils, die zum Kirchgang schwarz
aus. Die hohen, dachlosen, verbrämten Mützen der älteren Zeit, die
Sack- oder Pudelmützen, sind schwarzen Dachmützen und runden,
weichen Hütchen gewichen, der Cylinderhnt findet bei Kirchgängen und
Festlichkeiten Verwendung. Bei Feldgängen geht man barfufs, neuer-
dings bevorzugt man Holzpantoffeln und bei schlechtem Wege tüchtige
FeldstiefeL Das Gesiebt ist glattrasiert Ein dunkles Halstuch, am
Sonntag über einem weilseu Vorhemd, vorvollständigen den Kleider*
schmück. Unten zugebundene Lederhosen, Pumphosen, Kniestrümpfe,
Schnallenschuhe trifft mau kaum mehr (Trachten siebe Abb. 125).
Abb. 126.
Sorbische Tracht am Ende des 18. Jahrhunderts. (Nach Anton r/83.)
Die Frauentracht ist so mannigfaltig, dafs der Plan unseres
Werkes eine ausführliche Betrachtung nicht gestattet. Die Unter-
schiede sind zunächst historischer Art. Was Parum-Schulze von den
Polabeu getreulich berichtet, nämlich die Modenänderung in gewisses
Zeiträumen, würde auch bei den Sorben aufzuführen sein. Ehemals
trug man wollene Obergewänder und linnene Unterkleider und bezog
im nennten Jahrhundert die besseren Wollstoffe aus Sachsen, webte
aber die Leinwand selbst. Vor der Zeit Augusts des Starken rügte
1 s- 1«
3 a "i 2
Tracht. Plachta. 307
man schon den Luxus, den die Sorben mit kostbaren Hutbändern und
Hutfedern, Halsbändern und Korallen, Kopfbändern und verbrämten
Stulpenstiefeln trieben. Zur Zeit Jenes Königs war die Frauentracht
im groben und ganzen der heutigen ähnlich, nur die schmalere Schürze
nicht; sie trat oft in der Form der Latzschürze auf. Die Strumpfe
sahen rot aus. Unterm Arm trug die Kirchengängerin ein grofses
weifses Tuch, oder sie nahm es um. Vgl. auch Abb. 125 bis 128.
Die heutige Tracht ist nach den Lebensaltern verschieden. Das
Kind trägt bunt-, die Jungfrau mehr- und hellfarbig, die Frau etwas
dunkler, die alte Frau braun und schwarz. Niemand übt Aufsicht,
keiner verwehrt die Abweichung; aber es wäre jede gerichtet, die sich
der stillschweigenden Ordnung nicht fügen wollte. Wie die Sperlinge
den mit einem Hütchen geschmückten Genossen, wie die Rehe den
weifsfarbenen Kameraden, so würden die Sorbinnen die behandeln,
„die anderB sein wollte". Für Individualitäten hat ja ein Bauern volk
nur in beschränktem Malse Raum.
Das Linnenhemd ist kurzärmelig, bei Festhemden mit Spitzen
verziert. Ein oder mehrere dicke Unterröcke bewirken, wenigstens
bei den Jungfrauen, dafs der untere Teil einer Glocke gleicht. Der
oberste Rock ist vielfaltig und reicht nicht ganz bis an die Knöchel.
Zu hohen Festen wird als Oberrock ein Staatsrock von einfarbiger
heller Seide verwendet, grau, rot, blau, gelb. Unten aber ist der Rock
mit einem farbigen breiten Muster von ziemlicher Schönheit geziert.
Die Frau trägt dunklere Stoffe mit schmaleren Mustern, die Aus-
gedingerin einen einfachen schwarzen, nichtbauschigen Rock. An
Sonntagen sind wollene Röcke gebräuchlich, die Farben sind gedämpfter,
an gewöhnlichen Tagen fehlt die Bauschung. Den Rock umschlierst
fast ganz eine anders- aber einfarbige Seiden schürze , an Sonntagen
haben die Mädchen weifte, mit Spitzen verzierte Leinenschürzen, die
Frauen schwarze. An Wochentagen sieht man nur blaue oder schwarze
Schürzen.
Ein ärmelloses schwarzes Sammetmieder tragen Frauen und
Mädchen, darüber ein hellfarbiges, mit Stickereien verziertes Busen-
tuch, dessen Farbe mit der Schürze meist übereinstimmt, an Wochen-
tagen ist das hellfarbige Tuch schmuckloser. In kühleren Tagen ziehen
sie ein Jäckchen an.
Die Farbe der Strümpfe ist jetzt die schwarze, nur beim Tanz
herrscht die weifse.
An Stelle der weit ausgeschnittenen Sonntagsschuhe tritt an
Wochtentagen der Pantoffel, am liebsten aber gar nichts.
Das Umhängetuch, die grofse weifse Plachta (Abb. 125a, 128,
134), ist, wie bei den Slowinzinnen , in den letzten Jahrzehnten fast
überall verschwunden. Nur die katholischen Obersorbinnen haben
noch bei gewöhnlichen Festen die kleine, tischtuchgrofse und bei be-
sonderen Festen die an den Rändern mit Mustern oder Spitzen ver-
20*
Eierte groCse Plnchta. Beim Kirchgang hat die Sorbin aulser dem
Gesangbuch ein paar stark riechende Blüten und Blätter in der Hand.
Abb. 128.
Sorbische Trauertracbt, am 12. Juni 1782,rin Muskau.
(Nach Lenke 1785.)
Leske 138: Nichts ist einfacher and auch wohl nichts der Natur der
Sache gemälser als die Trauer der Wendinnen. Sie hüllen sich ganz und
gar in ein weiTses leinenes Tuch, oft verhüllen sie das_ ganze Gesicht, dali
man nichts als Augen und Nase gewahr wird; der übrige Anzug bleibt unter
diesem Tuche der gewöhnliche.
In den Händen älterer Frauen befindet sich der grobe halbkugel-
förmige Familien regen schirm. Der[Mann wird an gewöhnlichen Tagen
kaum ohne aeine Tabakspfeife gesehen.
Kopfschmuck. 309
Am eigenartigsten ist die Kopfbedeckung (Abb. 125 bis 133),
deren Faltung so verschiedenartig ist, dafs Kenner nicht nur das Dorf
oder Kirchspiel, sondern auch die Lage erkennen wollen, in der eich
die Trägerin befindet, ob sie Traner, Halbtrauer, Patenschaft, Kirchgang,
Abendmahl, Konfirmation etc. vorhat Das Kopftuch wird um einen
Abb. 129.
Pappstreifen gewunden, der dem Kopfe angepafst ist, und durch unter-
gelegtes Papier versteift. In der Niederlausitz wird dag Tuch meist
so gefaltet, dafs ein Zipfel des glatten Fünfecks auf den Racken fällt,
während die gegenüberliegende obere Seite rechts und links Schmetter-
lings Bügelähnlich endet. (Vgl. besonders Abb. 144, 145, S. 336 f.) Ein
Dutzend Nadeln halten das Gebäude am Haar. Man erzählt, dafs manche
Burger Bräute 243 Nadeln zur Befestigung des zusammengesetzteren
Brautschmuckes brauchten. „Die Affen!" sagte eine Werbenerin. Das
Staatstuch der Jungfrauen und der Kinder ist aus Seide, prachtvoll
310 Die Sorben.
gestickt oder gemustert, mit feinen Spitzen versehen und — bis
50 Mk. teuer. An gewöhnlichen Festtagen herrscht das weifse Kopf-
tuch allenthalben, nur die Spitzenbesätze erhöhen oder vermindern den
Wert. Der breite Hupatz (Abb. 132, 133) der Taufpatinnen und
Kirchengängerinnen hat sich in der Burger Gegend besonders erhalten.
Zur Feldarbeit wird ein beliebiges farbiges Tuch gefaltet. Aber bei
jeder Angelegenheit hat Kind, Jungfrau, Frau, Greisin in Schule und
Kirche, in Haus und Feld das Tuch auf dem Kopfe. Einen eigen-
artigen Eindruck ruft ein Kirchenschiff am Sonntag hervor, wenn die
weilsen Fünfecke monoton auf den unbeweglichen Gestalten in langen
Reihen angeschichtet sind.
Im Verschwinden ist eine ältere Kopftuchfaltung. Es gesellten sich
nämlich zum Fünfeck noch besonders eine breite, enggefältelte Hals-
krause und zwei weifse lange Tuten am Hinterkopf in der Richtung
der Arme. — Die Braut trägt noch grünen Rautenschmuck, die Braut-
jungfer bunten (Abb. 125 2,10,11, 130, 132, 133). — Das ist in der
Hauptsache der Kleiderschmuck in der Gegend von Burg und Werben.
In der Hoyerswerdaer Gegend herrscht eine Art Fes (Abb. 129)
als Kopfschmuck, in der katholischen — wie im hannoverschen Wend-
lande — eine übers Gesicht vorstehende weifse Haube. Auch weifse
Kopfbänder sind in Teilen der Oberlausitz Mode. Pelzbesatz bevorzugt
die Sorbin von Schleife; daselbst haben auch die Ostersängerinnen
einen eigenen Kopfputz (Abb. 125 u bis 19).
IV. Götter und Geister.
Die früheren Geschichtschreiber geben den slawischen Völkern
eine grofse Reihe von Göttern, den Sorben den schwarzen Gott oder
Tscjiernebog, den weilsen Gott oder Bielebog, den Swantowit,
Triglaf und Radegast, den donnernden Perkun und den frag-
würdigen Flins, welchen Karl Haupt mit dem Pilwitz, dem Korndämon,
gleichstellt. Schiwa und Liuba, von der die Stadt Lübben den
Namen haben soll, waren Liebesgöttinnen, Propilaga das männliche
Abbild der Schiwa. Die Weisheitsgöttin Pro we, der mit Schwertern aus-
gerüstete Ragowiz, der Herdengott Honidlo und Jutra, die sorbische
Aurora, die löwenähnliche Todesgöttin Pya und Morzana, deren Bild
die Strohpuppe zu Lätare sein soll, der fünfköpfige Pierowiz, das
Erbsengespenst Traschadlo und andere Gottheiten sind dem Volks-
glauben der Sorben entschwunden, wenn sie überhaupt zum Götter-
himmel gehörten. Die von Schmaler erwähnten, Wreginy, Serenje,
Bambor, Mera, Lado, waren überall, wo ich fragte, unbekannt.
Bludzisch, Bud oder Bludnik (Irrwisch), Hober (Riese), Wichor
(Wirbelwind), Paltschik (Däumling), Plön (Drache), Khodojta
(Hexe), Raws (Unhold) und den Wechselbalg genannten Idioten
entkleidete man überall ihres gespenstigen Wesens, doch meinte man, der
Götter und Geister. 311
Bad sei imstande, ein Fuhrwerk des Nachts aufzuhalten. Wenn man
nach ihm schlage, sterbe ein Pferd; der Plön aber bringe als feuriger
Luftdrache Geld. Smij sei jedoch nur eine gewöhnliche Schlange. Ob
ein Schlangenkultus stattfand, wie bei den Litauern, ist nicht zu er-
mitteln gewesen. Plön und Trach aber haben wohl in den feurigen
Naturerscheinungen, wie Blitz und Meteor, einen Rückhalt; und
Djas, der Böse (Tsart, Dunder), geht wohl auf den biblischen
Diabolos zurück. Wie bei den Deutschen lebt jedoch fest der Glaube
an eine Reihe geiBtartiger oder koboldischer Wesen. Der schwarze
Mann, das Gespenst schlechthin, heifst Bubak oder Mumak (Papitz).
Wenn man die Kinder erschrecken will, sagt man „der Mumak
kommt tt. Das scheint wie in Sachsen mit dem Graumännchen zu
sein, wo man beim Spaziergang mit einem Kinde, das man mit ver-
schränkten Händen führt, so singt: „Wir wolln ein Stück spazieren
gehn, ob wir das graue Männel sehn; hat eins geschlagen, kommt
immer noch nicht, hat zwei geschlagen, kommt immer noch
nicht (u. s. w.), hat zwölf geschlagen, jetzt kommt's/ Dann dreht
man sich um und flieht. Wie sich dem Deutschen der Alp auf
die Brust legt, so dem Sorben die Murawa. Auf den Rücken setzt
sich der Aufhocker. In Papitz ging in der Nacht ein Mann mit
seiner zweiten Frau beim Gottesacker vorbei und dachte: „Wenn
doch die erste noch einmal käme!" Da setzte sich's ihm auf den
Rücken, dafs er nur mit Mühe nach Hause kommen konnte. — Nacht-
jäger, Nachtfuhrmann und wilde Jagd schrecken den Sorben in der
Nacht mit Hallo und Hussaschrei, „man soll sich nicht hinlegen, wo
sie ihren Strich haben a. Die Jagdgöttin Dziwica (vgl. die slowinzische
Bjeledsevdscha) und die weilegekleidete Bozalosc (boze sedlesko) zeigen
sich , „ wenn's in der Luft heult und klagt u , die letztere wimmert an
Gräbern Ermordeter, wenn Unglück naht. Es lebt auch der Glaube
an den Kobold, den Basilisk, die Krankheitsgöttin Mara, den
Tschary („wo's scheucht"), die Smjerkawa (Dämmerungsgespenst),
den Krautpopel Serponitza (Serpobaba, Scherpaschia) , den ein-
schläfernden Herrn an und dessen weibliches Gegenstück Drjanotka,
an den Wassernix und den Kornmann, der die Kinder aus dem
Getreide scheucht, sowie an die Smertnitza, die sich drei Tage vor
dem Tode anmeldet. Am meisten erzählt man von den Leutchen
(Ludki). Das sind die in den Ecken und Ritzen hausenden hilfsbereiten
Heinzelmännchen. Sie sind gutmütig, nur nicht gegen die Geizigen.
Verschiedene beschreiben sie verschieden. Rote Mützchen sollen die
flinken Leutchen besitzen und in Schlupfwinkeln wohnen. Nach des
Albinus Meilsnischer Bergchronika 1589 glaubten die Sorben beiLübben,
die Grabesurnen, die man damals noch weit häufiger ausgraben konnte,
wären Erzeugnisse dieser Zwerge. Sie lebten noch und bedienten sich
wohl auch dieser Thongeschirre als Tischgerät. Die Sorben wollten
sich nicht die Gunst der Leutchen verscherzen und gruben deshalb
312 Die Sorben.
nicht nach den Urnen, leisteten auch den Suchern keine Unterstützung.
Man zerschlug aber die Urnen, wenn man beim zufälligen Graben nichts
darin fand. Der Ansicht, man habe in den „Leutchen" die früheren
Landesbewohner oder den von der Scholle vertriebenen „kleinen Mann u
gesehen, kann ich mich nicht anschlielsen. Wie im Traume Phantasie-
gebilde entstehen und der Geist unwillkürliche oder veranlagte Be-
wegungen unbelebter kleiner Gegenstände oft als willkürliche Hand-
lungen von Lebewesen deutet, wie der Mensch hinter einem Haschein
oder einem Ton an einsamer Gegend einen Veranlasser sucht, so be-
völkerte er auch selbst die Wüste mit Gestalten.
Die „Mittagsgöttin" ist, wie Hermann, beinahe zum Sagen-
gespenst geworden und hat's als Eindervertauscherin namentlich auf
die Kinder abgesehen. Die Mittagsfrau geht, wenn der Tag am heilse-
sten ist, über die Fluren und steht plötzlich mit ihrer Sichel vor den
Schnittern, die mittags nicht von der Feldarbeit ruhen. Sie fragt,
warum. Sie fragt noch mehr, und gewöhnlich stehen die Gefragten
starr und können nicht antworten, denen soll sie dann mit der Sichel
den Kopf abschneiden. — Als der wendische Forscher Hornig einst in
einer Prüfung aus Gebieten prüfte, die den Prüflingen ziemlich unbekannt
waren, flüsterte einer von diesen dem anderen zu: «Der fragt ja wie
die Mittagsfrau. u
Der Mittagsfrau wird, wie der Khodojta, der polnischen Tscha-
rotenitza und den litauischen Laumen, das Eindervertauschen mit
Wechselbälgen zugeschrieben. Oft lälst sie das Kind mit dem Wechsel-
balg zurück. Man muls ein Gesangbuch unter das Kissen des Kindes
legen und den Wechselbalg mit Birkenzacken schlagen, um das rechte
Kind zurückzubekommen.
Nicht gerade zu den Dämonen ist wohl auch „ der Alte u zu zählen.
Wer beim Ausdreschen den letzten Schlag thut, hat den „ Letzten u
oder bekommt den „Alten". Das ist eine kleine Strohpuppe, die der
Betreffende dann ins nächste Gehöft tragen muls, wo auch noch nicht
ausgedroschen ist Erwischt der Nachbar den, der den Alten brachte,
so macht man ihn schwarz und treibt allerlei Scherz. Die Sitte ist
schon selten geworden. Jetzt muls der, der den Letzten hat, ein paar
Groschen zu Bier und Schnaps zum besten geben. Drischt der Bauer
selbst mit, so nimmt er natürlich den Letzten. Eine kleine Strohpuppe
wird auch als Pfandwisch, eine grotse als Krautscheuche verwendet.
Die Niedersorben haben für „den Letzten u den Ausdruck „den Hahn",
man bekommt übrigens den Hahn nicht nur beim Dreschen, sondern
bei jeder Angelegenheit als letzten. — Kaum koboldischer Art dürften
Marawa und Njespech sein. Wer trödelt, zottelt und nicht nachkommt,
heilst beispielsweise in Radibor Marawa, in Werben Njespech, bei den
Polen DJubaia.
Mehr der Sagengeschichte gehören Dietrich von Bern, ferner der
sorbische Faust, das ist der Rabenfürst und Zauberer Krapat, der Räuber-
Sitten und Gebräuche. 313
hauptmann Lipskulian oder Lipstulian und Pumpot an, der witzige
Junge, der den Teufel betrügt, und auch in deutschen Kinderliedchen
als Pumpa auftritt. Wenn ich auch auf die wendischen Sagen nicht
eingehen kann, so möchte ich doch die von den Wendenkönigen nicht
unerwähnt lassen, die es nie gegeben. hat und die doch in weiblicher
Linie noch heute in dem germanisierten Dörfchen K aminchen Nach-
kommen haben sollen. Angeblich bezahlen ihnen die Sorben Kopf-
steuern. Der König soll Krone und Scepter aufbewahren, bis das
wendische Königtum wieder anbricht. Nach Karl Haupt liefs der grofse
Kurfürst dem Wendenkönig nachforschen. Als Bauernbursche arbeitete
er aber alsbald auf Geheiis eines Alten, und man liefs ihn unbehelligt.
V. Sitten und Gebräuche.
1. Hochzeit. Vor 150 Jahren, als M. Abr. Frenzel mit Fleifs
die sorbischen Sitten und Gebräuche erforschte, waren die Hochzeits-
gebräuche nicht wesentlich von den heutigen unterschieden. Er be-
richtet :
„Sobald junge Leute ohngefähr das zwanzigste Jahr erreicht,
denken sie an Gründung des Ehestandes. Der heiratslustige Bursche
besucht die von ihm Ausersehene einigemal in ihrem Heim, trinkt ihr,
wenn sie sich in der Schenke sehen lälst, einen Ehrentrunk zu, läfst
sie neben sich am örtentisch sitzen, führt sie zum Tanze, und zum
Schlufs begleitet er sie in ihre Wohnung. Hier bleiben Beyde bis zu
Tagesanbruch zusammen, legen sich wohl gar ins Bett, jedoch in den
Kleidern, und halten ihre Liebesgespräche, alsdann gehet der Freyer
fort, und singt vor der Thür stehend, oder im Fortgehen. Da nun
nach der Zeit die Altern auf Ersuchen ihren Konsens wegen der
Tochter von sich gegeben, wird das Yerlöbniss anges teilet; bisweilen
bleibet s auch nur bey dem Jaworte und Handschlage. Darauf folgt
dreimaliges Aufgebot von der Kanzel, wobey sich die Braut jedesmal
mit einem Kranze in der Kirche einfindet; die Gäste aber werden von
dem Werbmann und Bräutigam meistens, wenn zumal die verlobten
Kinder vermögend seyn, reutende zur Hochzeit gebeten. Beide, Bräuti-
gam und Werbmann, sind wohlausgeputzt, ebenso beider Pferde. Der
Werbmann bringt die Einladung vor, der Geladene danket, und sagt
zum Schlufs: Komm ich, so wird schon etwa ein Plätzchen für mich
übrig seyn. Da nun ferner die Gäste erschienen, ordnet sich der
Hochzeitszug. Voran die Spielleute, Dudelsak und Geiger, Bräutigam
und Braut, dann folgen die Gäste bis ins Gotteshaus, wo die Kopulation
nach der meifsnischen Kirchenagende vollzogen wird.u
Er schildert dann, wie die Junggesellen vor dem Kirchhof die
entblöfsten Schwerter durch die Luft schlagen, wie die Salzmeste aus
ihrem grofsen Korbe Stücke Kuchen auswirft und die Musikanten ein
Feldstücklein blasen. Die Brautmutter kommt, ehe die Gäste ins
314 Die Sorben.
Hocbzeitsbaus kommen, mit Betten nnd dem Hausrat gefahren, lälst
eine schwarze Henne fliegen, „die Braut möchte eine gnte Heckmutter
sein". Bei der zwei- bis dreitägigen Hochzeit geben die Eingeladenen
Geld. Den ersten Morgen mnls die Braut die Tischtücher auswaschen
helfen (Fleifal). Bei Hochzeiten und Kinnsen wird zuerst Schwarz-
fleisch gegessen, auch Milchhirse bevorzugt man. Beim Abendessen
singen die Dorfmädchen vor dem Brauthaus und empfangen Bier und
Geld. — Bald danach schildert Leske eine Trauung so:
Leske I, 135: Die Trauung eines wendischen Brautpaares, welche bei
meiner Anwesenheit geschah, und vom Herrn Richter auf der Stelle ge-
Abb. 130.
Sorbische Trauung, 12. Juni 1
(Nach Leske 178
Hochzeit 1782 und heute. 315
zeichnet wurde. Vorzüglich zeichnen sich Braut und Bräutigam aus. Letz-
terer hat allezeit einen Degen umhängen, den er aber in der Kirche, ehe er
zum Altar trit, ablegt, und um den Kopf einen aus verschiedenenen Blumen,
Blättern und Bändern geflochtenen Kranz. Das übrige seiner Kleidung ist
ser einfach, und wilkürlich. Neben ihm steht der Brautwerber, der ein
langes doppeltes, unten mit Franzen besetztes Handtuch, wie eine Binde über
die Arme herunterhängen last. Hinter diesen stehen die übrigen Hochzeits-
gäste männlichen Geschlechts. Die Braut und alle Hochzeitsgäste weiblichen
Geschlechts sind schwarz gekleidet. Erstere und ihre beide Züchtjungfern,
welche gleich hinter ihr stehen, tragen eine sohwarzsamtne , gegen oben
etwas zugespitzte Mütze auf dem Kopfe, die oben offen i«t, und hinten einen
runden Absatz hat. Um den runden Absatz gehet ein messingener Reifen,
zwei Querfinger breit gegen die Spitze zu, woran oft Flintern oder Sternchen
von Messing hängen. Oben auf der Spitze der Sammetmütze steht der Kranz
von grüner und roter 8eide, oder auch grün allein zusammengewunden. Das
Haar wird fest und glat zusammengemacht und hinten, wo die Brautmütze
zu sitzen körnt, in zwei Zöpfe geflochten, so dafs es, wenn es mit einem
seidenen Bande fest umwunden wird , scheinet , als wenn ein ganzes Stück
Band rund zusammengewunden wäre. Der Hals ist entblöfst. Die Weiber,
welche hinter den Züchtjungfern stehen, haben um die Haube ein weifses
Tuch gebunden, bedekken den Hals mit Tüchern und tragen ein grofses zu-
sammengewickeltes weislein wandenee Tuch, so zur Zierde unter den Arm,
wie teutsche Damen ihren Fächer oder Regenschirm. Ganz zuletzt steht die
Magd der Braut, die aber keinen schwarzen Bock, sondern nur ein Kittelchen
von weisser Leinwand an hat, welches vorne bis unter die Brust, und an
den Armen bis unter die Ellenbogen reichet. Neben den Frauen zur rechten,
stehet der Hochzeitsbitter mit seinem Stabe unter dem Arm, und etwas
weiter vorwärts der Schulmeister, der während der Trauung die Gesänge
anstimmt. Der Prediger, welcher die Trauung verrichtete, bedarf keiner
Schilderung. Dieses Brautpaar gehörte übrigens zu der ärmeren Klasse der
Einwohner, denn die Reichen haben nicht nur mehr Hochzeitsgäste, sondern
zeichnen sich auch durch reicheren Anzug aus; doch bleibt das Karakteri-
stische auch bei diesen unverändert.
Heute sind die Gebräuche etwa folgender Art: Wenn Burach und
Mädchen über die Heirat einig geworden sind, erkundigen sich die
Brauteltern nach den Verhältniesen des zukünftigen Schwiegersohnes,
dabei wird auf Standesgleichheit geachtet. Wird kein Freiwerber ge-
schickt, sondern durch möglichst unauffällige gegenseitige Besuche die
Verlobung angebahnt, so holt schlielslich der Bursch, allein oder von
einem Freund begleitet, das Jawort. Wieweit bei der nun folgenden
Verlobung und Hochzeit der Bräutigam, die Braschkas oder Draschbas
und die Musikanten in die äußerlichen Feierlichkeiten eingreifen, ist
von Kirchspiel zu Kirchspiel, von Stand zu Stand, von Zeit zu Zeit,
von Individualität zu Individualität verschieden. Der Bräutigam tritt,
wenn es sich nicht um ganz ärmliche Verhältnisse handelt, wohl meist
zurück, und ein oder mehrere gewerbsmäbige Druschbas machen sich
zu schaffen; in der Muskauer Gegend wieder spielen die Musikanten
zugleich die Rolle des Ordners und Abbitters, in derWerbener Gegend
ist der „Pobratsch" meist ein Verwandter. Bei der Verlobung schon
bittet der DruBchba den Brauteltern ab, es möchte dem Bräutigam ver-
geben werden, was er etwa Unrechtes an ihnen gethan habe. Das
Abbitten ist bei den Slawen noch sehr im Schwange, es beginnt bei
der Konfirmation in ausreichendem Matse und wird vom Draschba
Burger Feataträufte aus Füttern und künstlichen Blumen.
Solche Strinlte werden von den jungen Burschei
„Stellung", von den Sorben aber auch bei Kindtanfe
an der Mütze, teils im Knopfloch de> Rockes.
vorm Jawort und vorm Abschied des Bräutigams von den Eltern
wiederholt, vom Manne noch Öfter angewendet und endet beim Tode. —
Nach dem kirchlichen Aufgebot kaufen sich die Neuverlobten die Braut-
Hochzeit. 317
geschenke und geben sich besonders Kleidung und Wäschestücke. Die
Brautzier wird nur am Hochzeitstage getragen, dabei bevorzugen die
Nochten er gemachte grelle Blumen, Lavendel, Thymian, Rosmarin, nicht
Myrte. 14 Tage vor der Hochzeit lädt der Druschba (oder mehrere) mit
Stab und dem in verschiedenen Gegenden verschiedenen Hochzeitsbitter-
schmuck die Gäste ein. Einige Gegenden bevorzugen den kurzen
Cylinderhut, andere den Straufs (Abb. 131) im Knopfloch, die dritten
das lange Tuch oder rote und grüne Bänder ebenda, die vierten be-
gnügen sich mit dem bändergeschmückten langen Stab und dem Strauls
aus Blumen und Federn (Nochten). Auch zu Rols erscheint der Druschba
hier und da. Nun schicken die Eingeladenen ins Hochzeitshaus Milch,
Butter, Fleisch und anderes, in manchen Orten (z. B. Nochten) ist es
gebräuchlich, 5 Thaler zum Mahl beizutragen. Am Tage der Hochzeit
kommen die Gäste ins Hochzeitshaus, um Glück zu wünschen. Der
Druschba wird nicht sogleich eingelassen, sondern zu witzigen Reden
veranlalst, um dem Bräutigam Eingang zu verschaffen. Dann fragt
er die Braut und deren Eltern in aller Form nochmals, ob sie die
Frau des Bräutigams werden wolle. Die Niedersorben gefallen sich
sogar in einem scherzhaften Brautkauf mit Handel und Draufgeld
vor der Thür der Brauteltern. Auch giebt man hier dem Bräutigam
erst eine vermummte bucklige Person; der Buckel ist mittels eines
Topfes hergestellt. Der Druschba schlägt darauf, dals die Scherben
unter Gelächter herabfallen. Schlielslich wird die richtige Braut ge-
bracht. So war es früher in Werben. Und dann geht es unter Gesang
und Jubel, wenn auch nicht mehr unter Pistolenschüssen, vielleicht
schon mit Musikanten, in die Kirche. In der Hand haben Braut und
Bräutigam das Gesangbuch, ein weifses Tuch und einen Rosmarin-
strauls, Myrte oder dergleichen (Abb. 132). Auf dem Kopfe hat die
Obersorbin häufig die Borta (vgl. Abb. 133 a. f. S.), jenen persermützen-
ähnlichen Kopfschmuck, der uns schon auf alten Abbildungen der
Wenden, der Altenburgerinnen , der Slowinzinnen , der Litauerinnen
begegnet. Am schmalen Ende der Borta ist oben ein Myrtenkranz
angebracht und nach unten hängen Flittermünzen. Wenn die nicht
in Ordnung sind, soll es mit der Jungfräulichkeit der Braut auch
nicht ganz richtig sein. Ähnliches reiches Gehänge, künstliche Blumen
oder Rosmarinzweige, trägt die Obersorbin auf der Brust. Die Nieder-
sorbin kennt die hohe Borta nicht. Aber auch ihr Kopfputz ist eigen-
tümlich und mit grüner Raute geziert, zum Unterschied von den
Brautjungfern, die bunte Blumen im Kopfschmuck tragen. Die Katho-
likin schlingt um den Kopf nur ein Band mit Schleifen, die Muskauerin
trägt eine ziemlich niedrige Borta. In der Hoyerswerdaer Gegend ist
immer eine fesartige Kopfbedeckung bei den Mädchen Mode (Abb. 129),
in der Muskauer Gegend hängen vom Bräutigamskranz unterm Hut
hinten gelbe, grüne und rote Seidenbänder herunter, um den Arm sind
buntblumige Streifen gewunden. Vgl. Abb. 125, 130, 132, 133, 134.
318 Die Borben.
Die Brautfrau (Salzmeste, Slonka) ist wie die Braut gekleidet, trägt
aber bunte Kopfzier. Ein Kranz von reiner Myrte oder grüner Seide
mit langein grünen Band bildet des Bräutigame Abziehen. Auf dem
Abb. 133. Rückwege findet der
Zug wieder Unter-
brechung durch ge-
zogene Schnuren und
Begegnende. Der
Druschba hat vollauf
zu thun, mit kleiner
Münze und Schnaps
die Bahn frei su hal-
ten und den Glück-
wünschenden zu dan-
ken. Zu Hause stellt
er nun die Neuver-
ehelichten vor; oft
aber muls der
Druschba erat den
Eingang erbetteln :
„Lafst sie doch ein,
sie ist oft fortgegan-
gen und wiederge-
kommen , und nun
da sie einen Begleiter
hat, wollt ihr nicht
Offnen." Endlich
öffnet man. Die Braut
giebt aus einer Milch-
gelte den fremden
Zuschauern Bier zu
trinken , sie melkt
dann wohl auch aelbst
eine Kuh. Die Ge-
ladenen aber sehen
Stalle und Gehöft an,
bis das Zeichen zum
Papitzer Braut (Rückansicht). Mahl gegeben wird.
(Nach Pbotogr. vom Hofphotographen Metmer-Kottbui.) Bei grotsen Hoch-
zeiten sitzen die 200
und noch mehr Gäste, wo nur Plati ist Im Ehrenzimmer mit dem Braut-
winkel versammeln sich nur die nächsten Verwandten; in den Neben-
stuben, im Hausflur, wohl gar der Scheune, wird aber alles daran gesetzt,
den Aufenthalt möglichst angenehm zu machen , damit unter Scherzen
und Witzen die sieben Gänge erledigt werden können. Als Vorkost
Hochzeit. 319
giebt es Butterbrot und Käse, nach der Suppe bevorzugen die einen
Dorfschaften Sauerbraten, die anderen Reis und was man sonst mag.
Den Schluls machen Kaifee und Kuchen. Das Einbinden von allen
Speisen ist meist aus der Mode, das Senden von Hochzeitskuchen
aber bleibt, ebenso das Schicken an Arme, das Verschenken an Gäste
und Kinder.
Vor dem neuen Paare stehen brennende Lichter. Man putzt sie
nicht. Welches zuerst niederbrennt, dessen Besitzer stirbt zuerst.
Und wenn das dann wirklich eintrifft, so sagt man: „Seht, es hat
doch zugetroffen/ Während der Efspausen wird die Braut von allen
zum Tanz geholt, nur der Bräutigam bleibt sitzen. Besonders beliebt
ist es bei den jungen Gästen, der Wachsamkeit des Druschbas zum
Trotz, dem Bräutigam den Hut und der Braut den Schuh zu stehlen.
Beides mufs dann vom Druschba und der Salzmeste gegenseitig aus-
gelöst werden. Zum Schluls des Mahles wird gesungen und gebetet,
und die Braut muls über den Tisch schreiten. Man begleitet das Paar
nach Abnahme der Borta ins Schlafgemach.
Am zweiten Tage läfst man auf Kaffee und Kuchen noch ein
grofses Frühstück mit Butter und Käse folgen. Das possenhafte
Durchhecheln der einzelnen, Maskierungen und spafsige Streiche
machen auf den Fremden, wie immer, keinen angenehmen Eindruck,
desto fröhlicher sind die Beteiligten; die sind ja mit Leib und Seele
dabei. Am Ende des Mahles gehen die Teller der Reihe nach herum,
erst einer mit Salz für den Koch, dann einer mit einem kleinen Stroh-
wisch für die Aufwaschfrau, vielleicht noch einer für einen gemein-
nützigen Zweck. In der Klittener Gegend sammelt man auch für das
neue Paar. Der Druschba oder Braschka lälst klirrend zuerst zwei Thaler
auf den obersten Teller und dann in den zweiten fallen und schenkt
dann jedem neuen Schenker unter Namensnennung aus seinem Glase.
Besuche bei den Dorfgenossen folgen hierauf von Seiten der Hochzeits-
gäste, die überall eine Tasse Kaffee trinken müssen; eine mir bekannte
Dame hat es auf 23 Tassen gebracht. Diese Besuche hält man, da das
ganze Dorf ja beteiligt ist, für etwaB Selbstverständliches.
Die Hochzeit dauerte früher oft acht Tage, jetzt zieht die Frau
meist am zweiten Tage ein. Die Eingeladenen tragen ein Stück Hausrat
mit ins neue Haus. Es folgen Abschiedsgesänge der Braut an die
Ihrigen, und schliefslich geht der Zug ins neue Haus; er wird vom
Schwiegervater bewillkommnet. Es folgt noch ein Abendessen, und dann
verabschiedet man sich. Am folgenden Sonntag geht man in die
Kirche und nimmt das Mittagsmahl meist bei Verwandten ein. Der
Hochzeitstag selbst ist meist der Dienstag oder Freitag, nie der
Donnerstag. Die Hochzeitsmusik hat besonders in der Muskauer,
Schleifener und Nochtener Gegend alte Eigenart. Meist sind drei
Musikanten vereint, einer mit der Geige, der andere mit der Hoboe
und der dritte mit dem Dudelsack. In den genannten Orten hat man
320 Die Sorben.
die grotse und kleine dreisaitige Husla noch anstatt der Geige, selten
auch noch die Tarakawa statt der Hoboe. Statt des gewöhnlichen
kleinen Dudelsacks bedient man sich auch des mit Eberzähnen und
Ziegenfell geschmückten grolsen. Die Musik klingt grell and scharf,
wie schreiende Farbe, „aber nur nach ihr kann man ordentlich tanzen u.
Vgl Abb. 146, S. 340.
Besondere Eigenarten in der Muskauer Gegend sind die folgenden :
Die Braut darf selbst nichts schlachten fürs Hochzeitsmahl ; neben dem
Brautpaare sitzen rechts und links Brautjungfern, der Druschba muls
bedienen. Am zweiten Hochzeitstage müssen Braut und Bräutigam
vorn Hochzeitsmahle zu den Leuten, besonders zu den Armen schaffen
oder schicken. Der Hochzeitsbitterstock ist grün umwickelt. Die
Musikanten machen aus, ob die Braut unter oder über den Tisch weg-
springen soll, der Druschba aber mufs es zugeben. Es darf nur einmal
der Hochzeitsschuh von einem Jungen gestohlen werden. Bei Hoch-
zeiten von 200 und mehr Gästen, die abends bei Bekannten und Ver-
wandten, in der Scheune und auf dem Boden bleiben, werden oft noch
mehr als sieben Speisen genossen. Der Bräutigam tanzt zuerst mit
der Salzmeste. Die Frauen führen die Braut in die Kammer und
setzen ihr die Haube auf. Die Hochzeitsspäfse sind eine Abart des
Zamberns zur Fastnacht, da werden, wie bei den Haberern, die Anwesen-
den durchgehechelt, nur milder. Das Zambern hat allerdings die Polizei
verboten. Zum Herbeischaffen des ersten Tellers ermahnt man mit der
Formel: „Hier ist nicht gesalzen, bringt Salz!" Der Koch bringt nun
einen Teller mit Salz und dahinein legt man die Geldgeschenke. Dann
heilst es: „Hier ist nicht rein gewaschen/ Nun schickt die Auf-
wäscherin einen Teller mit einem kleinen Strohwisch, und jeder Gast
legt etwa 20 Pfennige auf. Der Hausrat wurde früher nach der Hoch-
zeit gegeben. Jetzt wird alles so eingerichtet, dafs am dritten Hoch-
zeitstage der Leiterwagen mit hochgestellten Brettern die Ausstattung
ins neue Heim fährt.
Bei den sorbischen Katholiken der Radiborer Gegend hat man nur
einen Hochzeitsbitter, den Braschka. Er hat keinen Bänderstab, aber
am Hut einen Kranz mit breiten Bändern und ein seidenes Tuch von
der Braut im Knopfloch. Die Braut hat zwei Führer, die die Braut
zu holen haben. Polterabend giebt es nicht, auch keinen grofsen
Brautzug. Der Bräutigam geht mit seiner Salzmeste und die Braut
mit der ihren, dann folgen die Ehren Jungfrauen , alle meist zu Wagen.
Die Musikanten kommen nach der Trauung zur Kirche. Dann beginnt
das Mahl und der Tanz. Ein besonderer Brauttanz fehlt. Meist
werden Volkslieder gesungen und gespielt, die für die Musikanten
in Musik gesetzt sind. Man tanzt den alten wendischen Tanz. Die
Husla braucht man hier auch noch. Man trägt ins Hochzeitshaus am
Sonntag vorher die sogenannten Buttergaben, Milch, Reibkäse u. a.
Auf grolsen Hochzeiten zählte man schon 300 bis 400 Gäste. Die
Hochzeit. 321
Witwen heiraten Montags, die Jungfrauen Dienstags. Die meisten
Hochzeitsbittersprüche sind auf Lehrer zurückzuführen. Man belieht
nicht mehr die gebundene Form. Wenn das erste Gericht, meist
Rindfleisch, auf die Tafel kommt, schickt der Braschka einen Teil einem
Armen oder Kranken. Den Stall besucht und zeigt man den Gästen,
weil er die Haupteinnahmequelle der Frau ist. Die Hochzeit dauert
meist nur einen Tag. Beim Enieen vor dem Altar rückt das Paar eng
zusammen, auch achtet der Bräutigam darauf, den Rocksaum der Braut
unterm Knie zu haben, sonst herrscht die Frau im Hause. Man
schliefst die Hochzeit gern bei zunehmendem Mond und freut sich,
wenn ein wenig Regen nach der kirchlichen Trauung vom Himmel
fällt. Die Braut läfst eine Henne im neuen Hause auffliegen; gewöhnt
die sich an den Hof, so bleibt auch die junge Frau da, im anderen
Falle hat die junge Frau Wechsel zu erwarten. In Königswartha liebt
man es, beim Zusenden der Hochzeitsgeschenke allerlei Scherze anzu-
bringen; man fällt mit den Töpfen und Küchenbrettern und putzt Ge-
schenke phantastisch aus. Wenn der Hochzeitsbitter das Paar aus-
segnet und die Lichter aufstellt, singen alle: „Mir nach, spricht
Christus u. s. w.u (Wegen: „Ich leucht euch vor, bin euer Licht").
Grolse Hochzeiten werden immer seltener. Meist finden sie statt,
wenn nicht innerhalb des Dorfes, sondern von Dorf zu Dorf geheiratet
wird. Da kann man wohl auch noch den Bräutigam mit nahezu einem
Dutzend Hochzeitsreitern und den berittenen Hochzeitsbitter sehen, der
vor den Häusern des Bräutigams und der Braut die ganze Gesellschaft
dreimal umreitet. Aber die Förmlichkeiten nehmen von Jahr zu Jahr
ab. Selbst in der Schleifer Gegend, in der die Hochzeit aus etwa drei
Dutzend besonderer Abschnitte bestand, hat sich mancherlei verein-
facht. Doch hat der erste Musikant und Hochzeitsbitter, der zugleich
Halbbauer und Fabrikant alter wendischer Musikinstrumente ist, immer
noch seine zwölf Reden bei einer Hochzeit vorzutragen. „Ja, der mufs
mehr können als der Pastor u , sagen die alten Frauen oftmals, wenn
sie von der Thätigkeit der alten Hochzeitsbitter reden.
Zunächst hat er mit einem Genossen die Gäste einzuladen. Sein
Bitterspruch lautet verdeutscht etwa: „Wir haben jetzt einige Worte
zu reden, wundert euch nicht. Wir sind die Abgesandten, erst vom
lieben Gott, dann vom ehrbaren Bräutigam und der Braut und den lieben
Eltern des Bräutigams und der Braut. Sie lassen euch freundlich zur
Hochzeit laden; Dienstag, um 8 Uhr, mögt ihr euch im Bräutigams-
hause einen Augenblick niederlassen und dann mit zur Braut gehen.
Wir wollen einen frischen Trunk Bier trinken, dann ein Vaterunser
andächtig beten für uns allein und darauf fürs Brautpaar und ihm
Glück und Segen wünschen, damit der Ehestand ihnen gerate. Aus
dem Gotteshause kehren wir zu einem Mittagsbrot ins Hochzeitshaus
zurück. Da wollen wir essen und trinken und fröhliche Gäste sein.
Je fröhlicher ihr euch zeigt, desto lieber seid ihr uns. Wir wollen
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 21
322 Die Sorben.
aber in der Fröhlichkeit auch den lieben Gott nicht vergessen, sondern
ihn beständig in Gedanken haben, und fürlieb nehmen mit dem, was
uns Gott bescheren wird, selbst wenn ihr dort nichts weiter finden
werdet als ein Brotränftchen und ein wenig Salz. Wir erwarten aber
vom lieben Gott etwas mehr, denn Gott ist allmächtig und kann
machen das Kleine grofs und das Grofse klein. Gebt uns beiden Ab-
gesandten nun eine kurze Antwort, die nicht uns allein, sondern auch
denen gut gefällt, die uns gesendet haben!"
Mit demselben breiten Behagen und starker, noch erheblich um-
fänglicherer Anwendung von biblischen Stellen und Predigtstücken
fährt nun der Druschba fort, seine Beden hersagend. Eine zweite
Form der ersten Bede ist für besondere Fälle üblich.
Die Bitter kommen nach Hause und halten eine förmliche dritte
Bede, worin schematisch Bericht über die Antworten der Eingeladenen
erstattet wird. Die vierte Bede erfolgt im Bräutigamshause. „Wenn
ihr in Gedanken und Herzen bereit seid, euch auf die Reise zu machen,
die wir vorhaben, dann wollen wir vortreten vor das Angesicht des
Höchsten u. s. w.tf Er bittet für den Bräutigam bei dessen Eltern ab
und erzählt vom jungen Tobias und von Ekbatana.
An fünfter Stelle redet er, wenn nun zur Braut gefahren wird, in
drei Abschnitten. Diese Bede ward früher vom Pferde oder Wagen
herunter gehalten, und es folgte das dreimalige Umreiten. Nun erst geht
die ganze Gesellschaft zur Braut. Da wird der Bitter abgewiesen, er
soll zum Nachbar gehen. In drei Teilen redet nun der Bitter die sechste
Bede, es folgt eine Art Brautkauf, das Vorführen eines alten buckligen
Weibes („die ist zu alt"), einer Brautjungfer („die ist zwar schön, aber
nicht die richtige"), endlich der Braut. Man schreitet über die Schwelle
zu den „vier Säulen". Sie wird dem Bräutigam „so gesund übergeben,
wie man sie empfangen hat". Die siebente doppelteilige Bede wird ge-
halten, wenn die Braut aus dem Hause treten will und wenn sie dann
heraustritt; die achte, wenn sie von der Trauung kommen, die neunte
nach dem Abendessen, die zehnte, wenn das junge Paar fort aus dem
Hause ins neue Heim fährt, die elfte, wenn es ins neue Haus kommt.
Die zwölfte und letzte mit dem Gleichnis vom ungerechten Haushalter
und noch einigem fordert die Teilnehmer zur Bezahlung des auf jeden
fallenden Kostenteils auf.
Im Spreewald kommen Braut und Bräutigam wohl auf dem Kahn
abends ins Haus des Bräutigams. Die Braut hat ihre Laterne mit
und hütet sie, dats sie nicht verlöscht. Wenn das Brautpaar Einlals
bekommen hat, brennt die Braut im Hause sämtliche Lichter mit ihrer
Laterne an. Das heilet, „ihr Licht soll aufgehen". Dann schenkt sie
jedem Anwesenden ein selbstgemachtes Stück: Schürze, Strümpfe, Tücher.
Beliebt ist das Singen des Ehestandsliedes von Seiten der jungen
Mädchen am Hochzeitsabend vor dem Hause. In Schleife singt man
vier Strophen, Müller kennt für andere Gegenden Bieben«
Hochzeitslieder.
323
Eh es tan d (vgl. auch Erks Liederhort II, 660).
(Von den Jungfrauen abends vor dem Hochzeitshause gesungen. Schleife, 1900.)
ty '•■ J I r r-tm
-0 0-
I I
■£ee£
" — #-
t
£
£
Jetzt hört ein - mal ihr Chri-sten-leut, woher kommt der
Ben Mann er - schuf der lie - be Gott, der Mann fiel in
£PE=S
*
t
^m
s
£*
E - he -stand? Das mer
tie - fen Schlaf, so tief
ket
und
euch:
süfs.
Aus
Der
%
£E£
^m
T=*
£
£=F
^
Men- sehen- klug -heit kam er nim-mer, nein aus Gottes
Herr nahm aus ihm ei - ne Bip - pe, und machte dann ein
üm
25
-ff J f HTt^f7tHgf
£?
Macht allein im Pa - ra - die - se, im Pa - ra - dies.
Weib daraus, zum E - he - stan - de, zum E - he - stand.
Jetzt hör einmal, o Bräutigam,
Und du auch, du liebe Braut,
Am heutigen Tage:
Es werden trübe Tage kommen,
Freudenvolle aber auch
Im Ehestände, im Ehestand.
Wir wünschen euch nun gute Nacht,
Und noch recht viel Heiterkeit,
Ihr Hochzeitsleut.
Und denkt ah jene Hochzeitsfeier,
Einst bei Jesu wird sie sein
In Ewigkeiten, in Ewigkeit.
Gern gesungen werden auch:
Mädchen und Bräutigam.
^TjfT^=2te^tl |i|fl J3^
Was haben nur die Leu • te all, ja all - zu - mal. Sie
fN^
t
s
m
mm
re - den von uns ü - ber - all, ja ü - her - all.
In den Krieg.
iffTTj,! i j.l iMJlMf
3
i
Q*
Es sind nun sieben Jah • re her, dafs sich der Barsch ein Liebchen nahm
In Kamenz sangen, nach Hortzschansky , die Sorben um 1782
gelegentlich der Hochzeit und des Auszuges folgende drei Lieder:
Feldstückchen oder Marsch, wenn die Braut zur Trauung
geführt wird.
E3
g_G-t-C4j;=^g^B
Wed - ze - my ju,
(Wir) führen sie, wir
wed-ze-my ju, ma-my ju, a
führen sie, wir haben sie, wir
21*
324
Die Borben.
if-t
*
P=P=I?=*
7
:.p=p:
. — ? — p:
mamy ju hai, wed-ze-my ju, wed-ze-my ju, mamy ju, a
haben sie, wir führen sie, wir führen sie, wir haben sie, wir
m
—0 — =*
Ss^i
p=u*
IÄi
ma-my ju a, nie ko - mu ju hewak nje - da - my.
haben sie, wir geben sie sonst niemand, niemand, niemand her.
Marsch bei der Heimführung.
^-*
i h
T=t
ö^
£g=g
32
t
£
1
Hai je Sty - ri - fsu ko - ni - ki sapschen - je ne a
Vier Pferdchen sind an - ge - spannt, war-ten vor'm Haus, und
Wo bist du mein Va-ter, mein Mut - ter - lein, lebt
Habt Dank, ihr £1 - tern, ich dan - ke euch, für
EätefeES
i
u
x
m
£
wschitke fsus Dwo - ra wo - hu wo
wieh - ern und wol - len zum Ho - fe
wohl nun es mufs nun ge - schie -
eu - re Er - zieh - ung dan - ke
bro - hczene, a
her - aus, und
den sein, Gut
ich euch, für
Efte
m
£*
^r=Hypr.
sty - mi
- a
djr - bun - jetk lej - der
fso -
bu precz
ich mufs
nun
bald in die Frem - de
hin
aus.
Nacht,
es
mufs ja ge schie -
den
sein.
eu - re
Er
- zieh - ung dan - ke
ich
euch.
m
Beim Abschied.
Das Mädchen zog nach Weihnachten am heiigen Stephanstage fort,
Ihre Apfelchen band sie sich in ein rein Tüchlein.
Ach gute Nacht, gute Nacht, meine Mutter!
Niemals mehr werd ich in eurem Hofe herumgehn,
Ach niemals mehr werd ich eure Kälber mästen.
Ach ich bedaure die lustigen Burschen,
Die wir miteinander zu Biere und vom Biere gegangen,
Und ich bedaure die lustigen Mädchen,
Die wir miteinander in die Kirche und aus der Kirche gegangen sind.
2. Taufe. Die Zahl der Paten beträgt drei bis zwölf, in der
Kottbuser Gegend meist vier, in der katholischen zwei bis drei. Bei
Taufe. 325
Knaben nimmt man in einigen Dörfern mehr Frauen, bei den Mäd-
chen mehr Männer, in der Gegend von Weilswasser ist es umgekehrt.
Die Hebamme oder eine Patin sagt beim Verlassen des Hauses: „Wir
nehmen einen Heiden mit und bringen euch einen Christen zurück."
Ein Patenbrief mit Geld, umwunden mit Seide oder Zwirn, wird ins
Taufkissen gesteckt. In der Radiborer Gegend sind es Münzen ver-
schiedener Art, die man im Patenbriefe birgt; auch fügt man Gesäme
und bei Mädchen eine eingefädelte Nähnadel hinzu, dals das Kind
fleifsig werden soll. Mit dem Hüllfaden näht man das erste Hemd.
Den Taufweg verlegt man wie den Brautweg mit Querbändern, ein
kleines Geldgeschenk wird für Freigabe des Weges erwartet. Die
Mutter mufs in Gedanken immer beim Kinde sein, sonst vertauscht
die Mittagsgöttin das Kind. Nach sechs Wochen geht die Mutter zur
Kirche und lälst den Bade wisch hoch auf einen fruchtbaren Baum
hängen. Am Schicksal des Badewisches will man das Geschick des
Kindes erkennen. Das Taufkissen mufs mit seinen Bändern hübsch
in Ordnung sein, dafs das Kind ordentlich wird. Eine schwangere
Frau darf das Taufkind nicht tragen, sonst stirbt es bald; auf dem
Tauf gange soll man einem Leichenzuge ausweichen, sonst tritt dasselbe
ein. Man mufs den Täufling an den Pastor zu stofsen suchen, dafs
das Kind klug wird. Yor der Taufe legt man unter die Schwelle, bevor
die Paten darüber schreiten, Beil und Säge bei Knaben, und Gesang-
buch und Sichel bei Mädchen. In Radibor bemühen sich die Paten,
an ein Glöcklein zu schlagen, dafs sie recht schön singen können.
Meist hat man hier drei Paten, die Mädchen gehen dabei wie Braut-
jungfern und schenken dem männlichen Gevatter ein Tuch. Man legt
drei Geldstücke in den Patenbrief, im ganzen 10 bis 20 Mk. Der Tauf-
gevatter findet sich bei den Patinnen für das Geschenk auf dem Tanz-
saale mit Wein ab. Er hat auch den Vortanz. Das Kind wird bei
Feldgängen in einem grofsen Leinwandtuche, der „Trockawa", getragen,
die dann gern hängemattenartig angebunden wird.
3. Krankheit und Begräbnis. Gegen Krankheiten werden,
wie überall, zunächst Hausmittel und Besprechungen angewandt. Auch
wenn der Arzt geholt worden ist, setzt man wohl die alte Heilart fort
und fragt alte Schäfer und heilkundige Personen, doch weicht der
Glaube an sie immer mehr. Der Todkranke läfst sich aufs Betttuch
und Stroh ohne Unterbett betten. Am Todestage öffnet man die Fenster;
die Angehörigen beten, solange die Leiche im Hause ist, früh, mittags
und abends ein Vaterunser, die Nachbarn singen Sterbelieder im Hause.
Der Tod wird den Haustieren mitgeteilt. Man wirft beim Forttragen
des Sarges den Sargdeckel um, kehrt dem Sarge nach und schliefst die
Thür. Ein tüchtiges Begräbnismahl schliefst die Feier. Die tiefe Trauer
dauert vier Wochen, so lange bleibt das Erbe unberührt. Die nächsten
Verwandten betrauert man ein Jahr. Die Obersorben tragen ein weifses
Stirnband als Trauerzeichen, die Muskauer ein weifses Taschentuch,
die Werbene-r und
Borger schwarzes
Brusttuch, die Katho-
liken lange Plaohta
(Abb. 134) und Kopf-
hütchtm. Das Begr&b-
nia bat am Schlüsse
etwas Geschäftsmälai-
ges. Nach der wen-
dischen Einsegnung
und dem dreimaligen ■
Schieben bei der
Beerdigung eines
Kameraden sog man
nicht etwa mit zur
Kirchein die Leichen-
predigt, sondern di-
rekt unter belebten
Weisen ins Gasthaus.
Trauernde Niedersorbin n
(Nach Photographie to
Abb. 135.
Grabachmuck
(Abb. 135 bis 142)
und -spräche. Eine
ganze Anzahl tou
Kirchhöfen zeigen
hübsche Holzplat-
ten in verschiedener
Form und verzierte
guiseiserne Kreuze
neben den überhand-
nehmenden Platten
und Mannorkruuie.il.
Die Inschriften sind
häufig mit weifser
Schrift auf schwarzem
Untergrunde in sorbi-
scher oder deutscher
Sprache geschrieben,
die Schrift ist deutsch.
Ein paar deutsche
Grabinschriften sor-
bischer Erdenpilger
mögen den Geist der
Inschriften überhaupt
kennzeichnen.
Grabschmuck.
327
Abb. 186.
„Alhier ruhet selig in Gott Georg Rokott aus Königswartha, geb
d. 16. Apr. 1818, gest. d. 28. März 1890, hinterläßt 1 Tochter
1 Schwiegersohn
und 4 Enkel. —
Das Leben ist
gleich wie ein
Traum ; Ein nichti-
ger leerer Wasser-
schaum. — Mein
Lauf ist nun voll-
endet, der Tod das
Leben endet, ster-
ben ist mein Ge-
winn, kein Bleiben
Grabschmuck aus der Gegend von Neschwitz.
ist auf Erden, das Ewge mufs mir werden. Mit Fried und Freud
fahr ich dahin."
Abb. 137.
„Hier schlummern
vereint dem grofsen Mor-
gen der Auferstehung
entgegen, die Gott an
einem Tage, den 27. März
1890, abgerufen hat:
Karl Strümpe , Haus-
besitzer und Zimmer-
mann in Königswartha,
geb. 5. Nov. 1845 in
Abb. 138.
Brie8ener Holzkreuz.
60 cm hoch.
Papitzer Holzplatte.
1% m hoch.
Opitz, wurde alt 44 J. 4 M. 2 Tage, seine Gattin Clara Wilhelmine,
geb. Schmus, Dresden, geb. 20. Aug. 1856, wurde 33 J. 7 M. 5 T. alt,
und deren einziges Kind Anna Marie, 8 J. 11 M. 26. T., geb. 1. Apr. 1887
in Königswartha. — Wer weifs wie nahe mir mein Ende (u. s. w.
bis) gut."
Abb. 139.
— JUrvv
□ £4S
a b c d e f
V8m h. V8mh. 2 m h. 1 m h. 1% m h. l/9 m h.
Holz Holz Holz Holz Stein Holz
Burger Grabschmuck.
In Bliesen ähnlich wie a (60 cm h.). Vorn „Marie Rattey", hinten „1899".
Den deutschen Einflufs verrät ein Grabmal des Neschwitzer
Friedhofes, der die Inschrift trägt: „Was sie waren, sind wir; was
sie sind, werden wir.tt Der Text lautet:
328
Die Sorben.
„Hier ruhet vom kurzen Pilgerlauf Frau Agnes Adolphine Lade
genannt Ruick, geb. Haenich. Sie trat in das Erdenleben in Naschwitz
den 15. Dez. 1798, vereinigte sich am 16. Jan. 1823 zum ehelichen
Abb. 140.
Ä
5 6 7
1 bis 7 Holzplatten auf dem Mittelpunkt von Grabkreuzen zu Königswartha.
l/4 bis !/a m hoch.
Abb. 142.
a b c
Abb. 141.
Zum Andenken an
Johann Kaacnwlla.
we'cntr Ao 1773 <J.
4 Auguet wn.or.
aicniiger-weiae aich
•aiDtt erac*OM«n.
•em After
22 J**r
Werbener
Holzkreuz.
1 m hoch.
\J
uvy
a Totenbrett (25 X 45 cm) in der Werbener Kirche ;
b seitliche, c Kopf-, d untere Ansätze an Wer-
bener Totenbrettern.
Grabsprüche.
329
Bunde mit Adolf Friedrich Lade, genannt Ruick, Rittergutspächter zu
Schmochtitz, erfreute denselben während des kurzen Ehestandes durch
die Geburt dreier Kinder, nämlich zweier jetzt an ihrer Seite ruhenden
Söhnchen und einer der leitenden Hand ihrer liebenden Mutter nur zu
früh beraubten Tochter und beBchlofs nach des Höchsten unerforsch-
lichem Ratschlufs ihr in anspruchsloser Thätigkeit und häuslicher Zu-
friedenheit dem Wohl der Ihrigen und der Tugend und Frömmigkeit
gewidmetes Leben am 21. Juni 1827 in dem Blütenalter von 28 J.
6 M. 6 T. — Dem dunklen Schofs der heiigen (u. s. w. bis) werde.
Noch köstlicheren (u. s. w. bis) Los.u (Aus Schillers Glocke.)
Grabsprüche aus Werben.
Meines jungen Lebens Blüte
Stünde jetzt im besten Flor,
Aber Gottes weise Güte
Nahm was andres mit mir vor.
Bald ward ich dahingenommen,
Durch den Tod bin ich gekommen
Hin zu meinem Jesulein,
Hier ist Fried und Freud allein.
(Hier ruht in Frieden Maria Skorna aus Werben, geb. d. 25. Oktober 1845,
gest. d. 12. April 1869. Alt 23 Jahre 5 Mon. 18 Tage. Buht neben ihrer
Mutter.)
Ich weifs, in Jesu Blut und Wunden
Hab ich mir recht und wohl gebett't,
Da und ich Trost in Todesstunden
Und alles, was ich gerne hätt.
Mein Gott, ioh bitt durch Christi Blut.
(Hier ruht in Frieden Christina Skorna, geb. d. 19. Februar 1814, gest. d.
13. März 1869. Alt 55 Jahr 22 Tage. TTnvergefslich bleibst du den Deinen.)
Die Sprüche stehen auf der Vorder- und Bückseite von Platten meter-
hoher Dachkreuze. Material: Holz, Platte: weifs. Schrift: 'schwarz. Kreuz:
grün. Umrandung: weifs. Die hohen Hügel sind mit Steingras und bunten
Blumen besetzt.
So fahr ich hin zu Jesu Christ.
Mein' Arm' thu ich ausstrecken.
So schlaf ich ein und ruhe fein,
Kein Mensch kann mich aufwecken.
Denn Jesus Christus, Gottes Sohn,
Weckt mich zum ewgen Leben schon.
Er wandelte mit Gott und war nicht mehr zu sehen, denn Gott nahm ihn
hinweg.
Wenn ich werde dahin kommen,
Bin ich aller Krankheit los,
Und der Traurigkeit entnommen,
Buhe sanft in Gottes Schofs.
Nach des Lebens Sorgen,
Nach des Grabes Nacht,
In der Welt ist Krieg und Streit,
Endlich gar der bittre Tod,
Aber dort ist allzeit Fried.
Tagt ein schöner Morgen
In des Himmels Pracht.
Ach weinet nicht, dafs ich gestorben,
Ich habe ja nun ausgekrankt.
Was mir mein Jesus hat erworben,
Das hab ich durch den Tod erlangt,
Ich bin an einen Ort gebracht,
Wo meine Seel in Frieden lacht.
330 Die Sorben.
Ach wer wollte denn nicht gerne sterben,
Und den Himmel für die Welt erwerben.
Wer wollte hier bleiben,
Sich den Jammer länger lassen treiben?
Und wirst im Alter zu Grab kommen, wie Garben eingeführet werden zu
seiner Zeit. Hiob 5, 26.
Wo ich hingehe, wisset ihr, und den Weg wisset ihr auch.
Christus, der ist mein Leben (u. s. w. bis) Bruder mein.
Rom. 6. 8.
Hörn. 18. 8.
Wenn du die Toten wirst (u. s. w. bis) Häuf.
Und ihr habt auch nun Traurigkeit, aber ich will euch wiedersehen, und
euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.
Papitzer Grabspruch.
Bas Leben ist gleich wie ein Traum,
Ein nichtes werter Wellenschaum.
Im Augenblick es bald vergeht,
Und nicht besteht,
Gleich wie ihr dieses täglich seht.
•
Grabsprüche aus Burg.
Mit traurigem Herzen sahn wir dich versenken,
Dich Gattin, Mutter, die uns über alles teuer war.
Für unser Wohl war ja dein stetes Denken
Und rastlos Streben bis zur Totenbahr. —
Buhe sanft, Gott lohne deine Treue,
Dieses Denkmal wir dir liebend weihen.
Er ging dahin, den meine Seele liebte,
Der treuen Gattin und der Kinder Glück.
Er ist dahin, der nie mein Herz betrübte,
Und läfst uns trauernd hier zurück.
Buhe nun in Frieden,
Allen Schmerz hienieden,
Allen Kummer tilgt das Grab.
Buhe sanft, des Lebens Kummer
Drückt nicht mehr dein frommes Herz.
Dich umfängt des Grabes Schlummer,
Mir allein, mir blieb der Schmerz.
Ich hätte gern gesorgt für euch noch manches Jahr,
Doch folgt ich, Gott ergeben, dem Buf zur Totenbahr.
Sein Will ist stets der beste, ob wir's auch nicht verstehn,
Drum lasset ihn nur walten, bis ihr's im Lichte werdet sehn.
Wie schlummerst du so sanft in deiner Kammer,
Und deine Leiden deckt des Grabes Buh.
Der bittre Kelch ist ausgeleert,
Es ist nichts mehr, das deine Buhe stört.
Grabsprüche. Ostern. 331
Buhe sanft in der kühlen Erden,
Bis wir uns einst wiederfinden werden.
Dich riefen Gottes Engel
Früh zu des Grabes Buh.
Doch wehen Himmelsblüten
Dir ewge Freuden zu.
Grabsprüche aus Briesen.
Du warst zum Unglück fast geboren,
Schwer wurdest du oft heimgesucht,
Doch nie hast du den Mut verloren,
Du lebtest fromm in Gottesfurcht.
Du blühtest, eine Blume, ' Zu deines Schöpfers Buhme,
Die man mit Freuden sah, Nun bist du nimmer da.
4. Ostern. Zu L&tare und am Gründonnerstag gehen die Kinder
herum und bekommen Graben; im Rotenburger Kreise singen sie am
Gründonnerstag: „Guten Morgen, guten Morgen, um a grün' Dunscht
(Donnerstag), und wenn ich nischt krieg, da komm ich umsunst." Die
Kinder, die am Gründonnerstag bis zum Karsonnabend sich am Oster-
klappern beteiligen, erhalten von den Leuten Milchhirse, Heringe mit
Kartoffeln und bekommen dann Eier, die sie dem Lehrer früher zur
Verteilung brachten. Das bei den Spinnstuben erwähnte Ostersingen
findet noch an vielen Orten statt. Zu Ostern holt man früh schweigend
Osterwasser. Den Patenkindern werden in Radibor Striezel, in anderen
Orten Pfefferkuchen und Kähne (kahnartige Semmeln), Geld und schön
bemalte Ostereier geschenkt. Mit den Eiern kugelt oder waleiet man
nach zuvor gemachten Erdvertiefungen. Die Besitzer der getroffenen
Eier müssen einen Pfennig oder sonst ein ausgemachtes Zahlmittel liefern.
Im nördlichen Vogtlande macht man dasselbe Spiel jahraus, jahrein
mit Kugeln (Titschern), auch tetscht man da zur Osterzeit mit Eiern
so, dals einer auf das Ei des andern leise schlägt. Welches Ei einen
kleinen Sprung bekommt, erhält der Schläger. — In Schleife steht auf
dem Dorfplatze ein Quadrat von vier Bänken zum Sitzen, auf dem
freien Zwischenplatze aber eine höhere Bank, auf die abends die
Laternen gestellt werden. Die Mädchen üben vier Sonntage vor Ostern
und den ganzen Sommer ihre Gesänge ein und singen dann am Oster-
morgen im Wirtshause und in den Gehöften vor jeder Thür dem Haus-
herrn, und denen es Vergnügen macht, ein Lied vor. Sie bekommen
dafür Geld und richten dann ein Fest aus. In der Muskauer Pflege
dehnt man diese Singübungen auf sieben Wochen vor Ostern aus, in
Werben übt man in den Spinnstuben, in Burg im Freien. In manchen
Gegenden hat man am Osterschiefsen festgehalten, so in der katholi-
schen. In der Radiborer Kirche haben noch kürzlich nach der Auf-
erstehungsprozession im Dorfe und von Kirche zu Kirche beim Osterruf
des Pastors „Christus ist erstanden tf um Mitternacht Burschen gleich
in der Kirche bei der Orgel vorbei geschossen. Jetzt begnügt man
332 -Die Sorben.
sich bei der nächtlichen Prozession mit Rotfeuer. In den wendischen
Dörfern bei Weilswasser geben die Burschen Geld für das Singen der
Mädchen, und wer beim Fest dann ein Mädchen zum Tanz holt, be-
kommt bunte Eier. Manche Dorfschöne braucht vier Schock Ostereier.
In drei Orten des Königswarthaer Kirchspiels finden noch Fasten-
prüfungen statt. Dazu kommt klein und grofs. Gebet, Gesang,
Katechismus bilden Prüfungsgegenstände. Am Ende giebt der Pastor
Brezeln und empfängt Eier oder Geld. — Das Osterreiten hatte
ursprünglich sicher den Zweck, die Grenze jedes Jahr aufs neue in
Augenschein zu nehmen und anzuerkennen. Schon im 11. Jahrhundert
waren aber eigene Gebräuche mit dem Osterreiten verbunden. Die
alte Sitte des Umzuges hat sich besonders im Klosterbezirk Marien-
stern erhalten. Die Bauern und Bauernsöhne kommen im Reitkostüm
und mit Gylinder hoch zu Hofs. Das Sattelzeug ist mit Muscheln und
Metallzierat, Bändern und Blumen geschmückt. Mähne und Schwans
hat man gekräuselt. Eine gestickte Satteldecke erbt von Geschlecht
zu Geschlecht. Die Dorfreiter sammeln sich in Gemeinden nachmittags
auf einem Orte beim Kloster. Sie ziehen dann unter Vorangang der
Chorknaben mit Kirchenfahne und der Geistlichkeit nach dem Kloster,
wo Gottesdienst gehalten wird. Inzwischen umreiten die Osterreiter
angesichts einer grofsen Zuschauer menge unter fortwährendem Gesang
sorbischer Lieder dreimal den Klosterhof.
5. Pfingsten. ZuWalpurgis werden die Kühe abends gemolken,
die Stallthüren geschlossen, die schrägen Kreide- oder Teerkreuze an
den. Stallthüren erneuert. Dem Ausziehen mit brennenden Besen hat
die Polizei ein Ende gemacht. Am 1. Mai pflanzt man Maibäume auf,
jedes Dorf einen. Das sind Tannen, die mit Taschentüchern und oben
mit einem Kranze geziert werden. Der Kranz wird mit auf den Tanzsaal
genommen und hängt da mehrere Wochen. Früher fand Musik unter
dem Maibaum statt. Schmaler kannte noch die Sitte, dals man den
Maibaum bis zur Himmelfahrt stehen liels. Dann tanzte man um den
Baum, grub den Boden allmählich weg, und wer von den Burschen
zuerst zum Gipfel kam und ihn abbrach, wurde von einem Freunde
auf den Schultern in die Schenke getragen. — Zu Pfingsten schmückt
man Thüren und Fenster seines Heims mit jungen Birken oder Birken-
ästen, „Zacken". In den Kirchen stehen vor der Thür und dem Altar,
sogar auf dem Kirchturm Birken; an den Hauszäunen, über dem Thor-
und Thüreingang hat man Maien befestigt. Am Vorabend säubert
man mit Bürste und Lappen, mit Rechen und Besen das Gehöft; den
Pfingstkuchen hat man schon fertig. Früh zum Gottesdienst kommen
meist die Herrschaften und die Wirte. Die schwarzen Bauschröcke
sind in Hülle und Fülle zu sehen; das weifse fünfeckige Kopftuch hat
nur hier und da Abänderungen durch eine veraltete Halskrause oder
durch lange Röhren, die bis auf die Schulter herabreichen. Die
Trauernden allein haben schwarze Kopftücher. Die Strümpfe sind
Pfingsten. "Weihnachten. Ernte. 333
meist sohwarz, die weifsen verschwinden immer mehr. In der Hand
haben die Wendinnen ein Str&ufschen scharf- und wohlriechende
Gartenblumen „als Riecbfl&schchenu. Nachmittags ist es überall
stumm, die Leute besuchen den Gottesacker, kommen in den Häusern
zusammen, gehen nur vorübergehend in die Schenke; „das ist ein
Bulstag", sagte mir ein Mädchen. Ganz anders der zweite Feiertag.
Früh gehen meist die jungen Wendinnen zur Kirche. Die Röcke sind
in den hellsten erfreuen de ten Farben gehalten, grün oder rot wiegen
vor. Der Rand ist blumig. Der Staatsrock ist immer von Seide;
die Schürze, die beinahe das ganze Kleid bedeckt und andersfarbig
ist, gleichfalls. Das Kopftuch ist mit den verschiedensten blumigen
Mustern versehen und hat kostbare Ränder. Und nachmittags 4 Uhr
beginnt das Tanzvergnügen. Mit unglaublicher Ausdauer wird bis
nach Mitternacht getanzt, dazu auch öfter gesungen, aber fast nur
deutsch. Noch jubelnder ist der Tanz am dritten Feiertage, da hat
man keine Gäste aus der Stadt und ist unter sich. — In Papitz stellen
die beiden Spinnstuben vor ihrem Gasthof einen etwa 12 m hohen
Pfingstbaum auf. Der muls am Pfiogst abend gestohlen und nachts
12 Uhr aufgerichtet werden. An einen frischgeschälten Fichten stamm
bindet man oben eine Birke, an ein Querholz darunter zwei Kränze
und Fähnchen. „Aber der Stamm müls gestohlen sein, sonst gilt er
nicht für voll." Natürlich hat sich die Forstverwaltung ins Mittel
gelegt und schliefslich den Ausweg getroffen, für den Baum nur ein
weniges zu verlangen. Aber er wird trotzdem lieber gestohlen.
6. Zu Weihnacht ruht der Spinnrocken in den Zwölften.
Ruprecht und Nikolaus, Lichterbaum und Gabentisch treten in ihre
Rechte. Das Backen der Kuh- und Schaf figuren (nach Schmaler), die
dem Vieh des Gedeihens wegen gegeben werden, scheint verschwunden
zu sein. Das Orakelsuchen zu Silvester, das Obstbaumschütteln u. a.
herrscht hier so gut, wie überall.
7. Ernte (Abb. 143 a. f. S.). Solange Feld und Flur nicht ab-
geerntet sind, ruhen die Festfreuden. Bis vor einigen Jahrzehnten war
nur in der Zahsower Gegend das Elstertragen am zweiten Pfingstf eier-
tage Mode. Wer bei einem bestimmten Ziele zuerst anritt, wurde
bekränzt und blieb ein Jahr König. Der letzte Reiter aber hatte am
Ende des Zuges eine Stange mit einem Eichhorn und einer Elster zu
tragen. Mit ihm wurde allerlei Schabernack getrieben, wie ja über-
haupt der Letzte im Volksbewufstsein besonders hervorgehoben wird.
Das beim Umzüge eingesammelte Geld ward zu einem Tanzfest ver-
wendet.
Zu Johanni, wenn die heilbringenden Kräuter eingesammelt werden,
pflegte man, nach Schmalers Angaben, ehemals einen „Johann" mit
birkenrindener Larve und Blumengewinden zu vermummen. Der
mufste durchs Dorf reiten und ward von den Jungen zu haschen ge-
sucht und seiner Blumen beraubt, die heilbringend sein sollten. Nach
834 Die Sorben.
der Heuernte veranstaltet man in Weifsagk, Raddusch and Umgegend
du Stollereiten. Die Barschen kommen in Hemd&nneln auf einem
breiten Wege, „wo Fuhrleute nicht fahren und nichts eingetreten
werden kann", unf im gesattelten Rossen zusammen. Die Musik ist
bestellt, und unter Jubel wird nach einem bestimmten Ziele gejagt, die
drei besten Reiter bekommen Preise. Am Ende ist Tanz. In Papits
ward das Spiel erst neu eingeführt.
i Gemälde von Bteffen-Bnvg.)
In derselben Gegend spielt man „Jungf ernst echenu. Eine
Strohpuppe wird wie ein wendisches Madeben angezogen and ihr auf
der Brust ein Brett befestigt, auf das ein Herz gemalt worden ist. Eine
lange Gasse Mädchen sehen zu, wie die Burschen mit verbundenen
Augen nach dem Herzen stechen. Der Treffer erhält einen Preis.
In Maschen nnd Babow ist das Hahnrupfen gebräuchlich. Ans
drei Stangen macht man ein Thor und hängt einen toten Hahn an,
dessen einzelne Glieder man so angeschnitten hat, dafs sie leicht abzu-
reiben sind. Nun reiten die Burschen durch nnd suchen dabei den
Hahn herunterznreilsen. Der Sieger bekommt eine festgesetzte Be-
lohnung.
Ähnlich ist das Hahnschlagen. Man macht ein Loch in die
Erde, steckt einen Hahn hinein, deckt ihn zu and legt einen Topf
darüber. Wahrend die Musik spielt, wird immer ein Barsche um eine
Tonne dreimal geführt, dem man die Augen verbunden hat. Dann
Spinnstuben. 335
wird er freigelassen und mufs mit seinem Stecken oder Dreschflegel
nach dem Topfe suchen und daraufschlagen. Selten gelingt es, denn
die Mädchen suchen den Burschen durch Reden: Rechts! Zuschlagen!
und dergl. irre zu fuhren. Ist der Hahn nicht angebunden, so entrinnt
er vielleicht sogar, wenn der Topf eingeschlagen ist, und es beginnt
das Nachjagen. Auch die Mädchen beteiligen sich. Übrigens sagen
auch die Erntearbeiter, die die letzten Garben holen: „Wir bringen
den Eokot (Hahn) heim.tf Die Erntearbeiter schmücken sich mit Feld-
blumen und legen eine geschmückte Garbe auf den Wagen. Am Ende
der Ernte bäckt man PlinBen. Zur grolsen Kirmes knallen in der Kloster-
gegend die Kuh jungen vor den Gehöften, bis sie Kuchen bekommen.
8. Spinnstuben (Abb. 144). In Sachsen giebt es seit etwa 15 Jahren
keine Spinnstuben mehr. Ältere Leute entsinnen sich aber noch wohl,
dafs das Schlulsfest der Rockenstuben das Ostersingen war. Da kamen
die Mädchen, Jedes Dorf in seiner eigenen Kleidung, und sangen vor den
Häusern. Sie bekamen Geld; ein Pastor erzählte, er habe immer einen
halben Thaler gegeben. Die Gendarmerie hat die Sache aber als
Bettel aufgefalst und Anzeige erstattet; so ist es allmählich einge-
schlafen. Auch in der schlesischen Oberlausitz sind die Spinnstuben
im Verschwinden, und die Niederlausitz muls mitmachen. Klagend
erzählte mir eine alte Frau, jetzt wolle alles vornehm sein und nicht
mehr spinnen. Man kaufe in der Stadt die feinen Bazarwaren und
überlasse den Alten das Arbeiten. Wohin das führen werde, sei nicht
abzusehen. Die Alten seien bald alle abgestorben, und dann könne
niemand mehr arbeiten. Aber alle Ermahnung nütze nichts.
In der Niederlausitz beginnt die Spinn stube am 11. Oktober oder
nach der Kirmes (z. B. Werben) oder zu Martini und endet mit dem
Ostersingen. In grölseren Dörfern giebt es zwei oder drei Spinnstuben,
so in Werben eine für die jüngeren, eine für die älteren Mädchen und
eine für die Burschen. Gewöhnlich gehören 10 bis 15 Mitglieder zu
einer Spinnstube; die Hauptspinnstube in Werben, die der älteren
Mädchen, zählt etwa 30. Die Spinnerinnen bevorzugen natürlich eine
geräumige Stube und wechseln alle Jahre, wenn es angeht; in Werben
nicht. Hier fangen die Mädchen bei eintretender Dämmerung an und
spinnen bis nach acht, dann kommen die Burschen zu Besuch; ander-
wärts beginnt das Spinnen um sechs oder sieben Uhr und endet um
zehn Uhr. An der Spitze steht je eine Vorsängerin (Kantorka); man
wählt gern ein älteres Mädchen. Den Anordnungen der „Kantorin"
hat sich jedes zu fügen. Sie stimmt auch die Lieder an; zuerst werden
Gesangbuchs-, später Volkslieder an jedem Abend gesungen. Gesponnen
wird bis zum Beginn der Feldarbeit, das Spinnrad ruht in den zwölf
Nächten, an den Feiertagen und deren Vorabenden. Festlichkeiten
veranstaltet die Spinnstube zweimal vor Fastnacht, zu Fastnacht und
zu Ostern. In Werben laden sich vor Fastnacht die Spinnstuben zu
einem Grogfest ein, der Grog wird gleich in Kesseln gekocht. Zur
336 Die Sorben.
Fastnacht aber versammeln sie sich im Tanzsaal; die Vorsteher und
Yorsteherinnen bestimmen die Paare, und nun zieht der Zug durch
das Dorf nach dem Herrenhause. Dort tanzt man. Oft ist es kalt
und schneit, und der Schnee muls weggeschaufelt werden, aber die
Mädchen gehen im Ärmelhemd ohne Jacke. Im Zuge folgen nach den
Yorsteherpaaren etwa neun Musikanten und dann die Spinn stubenpaare.
Den Schlufs bilden ein Mahl und ein Tanz im Saal. Zu den Kosten, die
die Mädchen decken , trägt jede 2,50 Mk. bei. Das Schlulsfest ist das
Ostersingen (Ostersängerinnen, vgl. Abb. 125 u bis 19). In Schleife üben die
Mädchen auf dem Dorf platze; in Burg lernt man im Freien die Gesänge,
meist Gesangbuchslieder; in Werben singt man die in der Spinnstube
gelernten Lieder. Mitternachts zieht die Spinnstube vor das Haus jedes
Mitgliedes und singt; auch vor dieThür von Standespersonen geht man.
In Burg sang man bis vor kurzem vor der Mühle und wurde dann mit
Kaffee und Kuchen bis gegen zwei Uhr bewirtet. Die Aufnahme in
die Spinnstube gilt für eine Ehre, wird nur nach der Verheiratung und
dem Tode früherer Mitglieder vollzogen und muls erkauft werden. In
die Spinnstubenkasse fliefsen auch sonst Pfandgelder und freiwillige
Spenden. Der Spinnstubeninhaberin giebt man in Werben für jedes
Mitglied 75 Pfennige, schwingt ihr zwei Pfund Flachs und schenkt zu
Weihnachten Schirm und Tuch. Die Inhaberin hat durchaus nicht
für Bewirtung aufzukommen. — Früher wurde in den Spinnstuben,
besonders bei den Festen, weit mehr Mummenschanz getrieben als
heut«. Nach Schmaler verbrannte man den Mädchen, die vor Weih-
nachten den Flachs nicht auf gesponnen hatten, den Flachs und zer-
brach den Oberrocken. Der Witzigste mutete aufserdem zu Ascher-
mittwoch einen Rocken mit der Ofengabel durchstechen. Wer das
erste Mal eine Spinnstube betrat, wurde angebunden. In jedem Falle
konnte man der Strafe durch ein Lösegeld für die Spinnstube entgehen.
Wie die Jugend mit dem bebänderten Fastnachtsspiels, so ziehen noch
heute an manchen Orten die Spinnstubengesellschaften, mit Musik an
der Spitze, vermummt durch das Dorf und musizieren mit Blechstürzen,
Gielskannen, Kuchenblechen, singen und juchheien. Dann sammeln
sie in jedem Hause Geld und Eiswaren ein; so war es beispielsweise
noch vor 30 Jahren in Hornow und Werben. Die Burschen suchten
wohl auch Pfähle und Latten zum Feuer und zur Bereitung des Fest-
mahles. Die Fastnacht ist aber noch heute der Höhepunkt der Spinte.
Beliebte Spinnstubenspiele in der Burger Gegend sind: „Wer
lacht zuerst" und „Du hast den Schlüssel". Die Vorsteherin
steht mit dem Taschentuch da und ist bereit, es dem ersten Lacher
zuzuwerfen. Die Mädchen aber sitzen auf Stühlen und verziehen keine
Miene. Die Umstehenden und die Gäste machen nun irgend etwas,
sagen thörichte Reden, um die Mädchen zum Lachen zu bringen.
Die aber sitzen starr und stumm und leisten Unglaubliches in der
Herrschaft über ihr Mienenspiel. Schlielslich lacht doch eine, die
Ig
- 1
Spiele. 337
Kantorin wirft ihr das Tuch zu und nimmt dann du Pfandgeld für
die Spinnkasse in Empfang. Dasselbe Ziel verfolgt noch eine Reihe
anderer Spiele. Nor der Geselligkeit dient: „Du hast den Schlüssel"
(Abb. 145). Die Madchen setzen sich auf den Fulaboden und stecken
Abb. 145.
Spinnitabenspiel „Du hast den ScDliisaal11 . (Nach Photogr. v. Bteffen-Burg.)
Die Mädchen haben die Hände unter den KnieeD und laaaen einen Schlüssel durch-
wandern. Die Kantorka steht und «agt iu einer „Du haat den Schliieael". Hat sie
die richtige getroffen, so darf der Scblüiiel nicht weilergehn. Daa Spiel wird u. a,
auch in Blankenhain bei Werdau gemuht.
unter den bohlen Knieen einen Schlüsse! rnnd um. Die Kantorin muls
nun raten und sagen: Du hast den Schlüssel. Grotse Heiterkeit folgt,
wenn die Zusage zutrifft. Sobald das Wort gesagt worden ist, halt der
Schlflesel an. Beim „Alten hochheben" legt man je eine Männermfltze
über Fingerhut, Schlüssel, Bürste und deckt eine Schürze darüber. Die
Vorsteherin fragt die erste beste, welche Mütze weggenommen werden
soll. Die Gefragte zeigt auf eine Mütze. Der Fingerhut bedeutet den
Junggesellen, der Schlüssel den Witwer, die Bürste den Alten. Beim
„Raupenziehen", ähnlich wie bei der „Schlange", zieht ein Mädchen
auf allen Vieren voran, die anderen folgen ihr, indem sie sich an den
Hüften der vorderen festhalten. Der Zug geht durch Stube und Hof
und zurück. Beim „Wolfreilsen" falst man sich aufrecht stehend am
Rock und läuft rückwärts so schnell, bis man fällt. Gebräuchlich sind
ferner nach Müller „Bullen schlachten", „Mühle", „Ente ziehen", „Fuchs
aus dem Loch", „Backofen einstofsen", ölschlagen", „Kalendermacben",
„Ledergerben" (eine Art n Schinken kloppen"). Wie beim Spinnen, liebt
man auch beim Federschleifsen die Gemeinsamkeit; sie kam in den
Tetiner, Die Slawen in DcatichUnd. an
388 -Die Sorben.
Dörfern ine Wanken, wird aber aufs neue gestärkt durch die ge-
meinsame Anschaffung von Dreschmaschinen und anderen wertvollen
wirtschaftlichen Geräten. — Als Kinderspiel ist neben dem Fangen,
dem Anschlägen, dem Waleien, dem „ Himmelhüpfen a besonders das
Steinchenspiel beliebt. Man wirft vier bis zehn Kugeln in den Sand,
schnellt eine in die Höhe und fängt sie wieder auf, nachdem man
schnell eine andere vom Boden in die Hand genommen hat. Nun
wirft man eine dritte auf und fängt sie mit derselben Hand auf, die
schon zwei Kugeln hält. Manche der Knaben bringen es bis auf
zehn Kugeln. Das Spiel geht rundum und endet dann, wenn einer
alle Kugeln in der Hand hat.
Bindespruch.
(Wenn ein Deutscher die Spinnstube zum erstenmale betritt. Werben.)
Ich binde um die rechte Hand
Hier mit diesem Ehrenband. („Was sie um den Wocken hat")
Wirds nicht eine Flasche Wein,
Wird's eine Flasche Branntewein.
Wer was giebt, wird hochgeacht'
Wer nichts giebt, wird ausgelacht
Und zuletzt noch schlecht gemacht.
Bittgesang.
(Wenn in einem Hause geschlachtet oder gebacken wird. Provinzialblätter,
V. 8tück, 72. Mitgeteilt von Conrad, Kamenz 1782.)
Gebt uns, gebt, wollt ihr uns etwas geben.
Lafst uns nicht so lange stehn,
Euren Kot tretend
Und unsere Schuhe zerreiXsend.
Wenn doch die Wirtin so gut wäre
Und uns ein Stück (Brot) gäbe.
Wir wollen spinnen,
Holz in den Ofen legen.
Und den Wirt wollen wir hinter den Ofen setzen
Und eine weiche Semmel in die Hände geben.
9. Allerlei Glaube. Wer von hellem Feuer träumt, er-
träumt sich Geld oder baldige Hochzeit. — Springen Funken aus dem
Ofen, so kommt Besuch; ebenso, wenn das rechte Auge kraut. —
Raucht es aus dem Ofen, kommt Unglück. — Die Krautpflanzen
müssen sich einander kugeln, dann gedeihen die Krauthäupte. —
Wievielmal die Wachtel schlägt, so viel Thaler wird man für den Scheffel
Korn einnehmen.
Unglück bringende Anzeichen sollen sein: heulende Hunde,
krähende Hennen, Eulen, zur Linken auffliegende Vögel, alte Frauen«
Hasen, die Begegnung mit einem Geistlichen, mit dem linken Fulse
die Schwelle überschreiten, wenn man jemand Glück wünscht.
Als Glück bringende Anzeichen werden hingestellt: zur Rechten
auffliegende Vögel, GTeise, Mädchen, eine Spinne am Vormittag, nüch-
Aberglaube. Todaustreiben. 339
tern Niesen, wer am Neumond unversehens über die rechte Schulter
etwas sieht. Bei der linken würde Unglück folgen.
Dreht sich der Pastor beim Begräbnis um, so stirbt bald jemand
aus der Familie nach. Das geschieht auch, wenn das Grab einstürzt.
— Wer den Schlucken hat, von dem redet man. — Beim Ausgehen
soll man nicht umkehren. — Am 1. Januar wird nichts verborgt und
verschenkt. — Wenn es in die Borta regnet, melken die Kühe gut. — -
Hat die Braut viel Geld in der Tasche beim Hochzeitstage, so hat sie
es immer. — Am Freitag darf man nichts anfangen. — Gegen be-
schrieenes Yieh, das schlechte Milch giebt, helfen die Viehdoktoren mit
wendischen Pröpelformeln. — Das Waschen im ersten Winterschnee
beseitigt die Sommersprossen. — Ein Kalb muls man früh, nüchtern,
ohne ein Wort zu sprechen, absetzen. Man bedeckt es mit einem
Tischtuch e und führt es dann rückwärts zur Krippe. — Wenn ein
Stück Yieh verkauft wird, bekommt der Knecht oder Sohn des Ver-
käufers 2 bis 3 Mk. Schwanzgeld vom Käufer. — Die Zukunft will
ein junges Mädchen erkennen, wenn sie unter drei Töpfen wählt, unter
denen Brot, Geld und Leinwand verborgen ist. Das Brot soll aus-
kömmliche Nahrung, das Geld Wohlstand, das Leinwandläppchen
Krankheit bedeuten. — Abendröte bringt schlechtes Wetter.
Bei Preusker heilst das Liedchen beim Todaustreiben zu Lätare:
„Den Tod haben wir ausgetrieben, den Sommer bringen wir wieder. a
Er vergleicht damit das Tschechische: „Nun tragen wir den Tod aus
dem Dorfe, den neuen Sommer in das Dorf, willkommen, lieber Früh-
ling, grün hervor, keimendes Getreide/
Wachs von geweihten Kerzen, Teile vom Glockenstrang, vom Blitz
abgesplitterte Baumstückchen, um Mitternacht geholte Kreuzwegerde,
Asche verbrannter Hundeshaare sind Heilmittel.
Ein herzliches, demütiges Gefühl gegen Gott prägt sich, wie bei
allen slawischen und deutschen Bauernstämmen, auch beim Sorben aus.
Der liebe Gott, der Geber des lieben täglichen Brotes, der Verleiher
der Gesundheit und des Erntesegens, wird gern angerufen. Zu Pauli
Bekehrung, am 20. Januar, ist die Vogelhochzeit. Da stellen die
Kinder auf dem Fensterstock, und wo es sonst angeht, Teller auf, die
filtern legen Pfefferkuchen und Backwerk darein; das sollen Gaben
sein von der Vogelhochzeit. Vogelhochzeitlieder haben auch andere
slawische Völker.
Die Gebräuche der Sorben sind viel einfacher geworden seit der
Zeit, da Samuel Grosser von ihnen berichtet, wie sie verstohlen vor
heiligen Bäumen knieten, im Frühling die Brunnen weihten, den Ver-
storbenen zu Ehren auf den Scheidewegen Hütten errichteten, die
Neugeborenen unter Raunen von Zauberformeln gegen das Feuer hielten,
die jungen Ehepaare unter Wehklagen beräucherten, den Krankheiten
unter Zauberpossen mit des Patienten Haaren und Kleiderzipfeln be-
gegneten, unter die Bahre ein halbes Brot legten, nach der Be-
22*
340
Die Sorben.
stattung Steine und Laub über ihre Köpfe warfen' und die Abgelebten
töteten.
10. Segenbriefe. Man trägt wohl noch zuweilen Segenbriefe
als Amulette bei sich, sorbische sind mir nicht in die Hände gefallen,
aber wiederholt deutsche, geschrieben und gedruckt. Die gedruckten
verschweigen das Jahr und geben einen recht fremden Druckort an.
Mitunter liest man die Angabe, ein frommer Einsiedler habe das be-
treffende Schriftstück von seinem Schutzengel bekommen und eine
hohe Geistlichkeit habe es „bewilligt". Häufig giebt die Mutter dem
scheidenden Sohn ein solches mit. So sah ich eins mit drei Sprüchen
„Für Brandwunden u, „Blut versprechen tt, „Schmerzen versprechen u.
Ein anderes lautet:
Christlieb Ealoscha.
Es haben dich vier falsche Zungen versprochen, drei gute
versprechen dich wieder, das erste ist Gott Vater, das andere
ist Gott Sohn, das dritte ist Gott heiliger Geist. Die vier falschen
Zungen, die dich versprochen haben (voller Name), davon will
ich dich wieder lossprechen. Das erste war ein Mann mit seinem
Hut, das andere war eine Frau mit ihrem Flor, das dritte war
ein Bursche mit seinem Mut, das vierte war eine Jungfer mit
ihren Zöpfen. Davon will ich dich wieder lossprechen. Das
zähle ich dir zu gute im Namen Gottes des Vaters, und Gottes
des Sohnes, und Gottes des heiligen Geistes. Amen.
VI. Musik, Tanz und Gesang, Lied und Spruch.
Es giebt nur noch eine Gegend, wo die alte Volksmusik der Dorf-
musikanten in Blüte steht, das ist die bei Muskau und Schleife, und
in der Hauptsache kommt sie auch nur zu Ostern und bei Hochzeiten
zur Entfaltung. Es gehören mindestens drei solcher Dorfmusikanten
zusammen, und nach deren wendischer Musik will die sorbische Dorf-
schöne viel besser und feuriger tanzen können als zu deutscher. Die
Musiker sind ihrem Hauptberuf nach Ackerbürger und Bauern und
treiben ihre Nebenbeschäftigung hauptsächlich von Familie zu Familie.
Die Musikinstrumente (Abbildung 146) machen sie selbst, schreiben
auch die Noten selbst ab und vererben sie vom Vater auf den Sohn.
Einer zeigte mir eine kleine Husla, die 200 Jahre alt war. Aber die
Museen haben bereits aufgeräumt, und es ist schwer, vom alten Gut
etwa noch etwas zu erwerben. Schlau nutzten die alten Besitzer zum
Teil ihren Vorteil aus, schlugen unter der Hand Liebhabern gegenüber
auf und immer mehr auf, voll Freude darüber, dafs sich ein hoher
Standesherr der Gegend 50 Mk. für eine Husla im Werte von 3 bis 5 Mk.
Musikinstrumente. 341
abfordern liels. Ich kam gerade zur Osterzeit unter die Musikanten,
und so gern jeder die Summe genommen hätte, so konnte er doch sein
Instrument zum Feste nicht entbehren. Die kleine im Gebrauch be-
findliche dreisaitige Geige stieg während der Verhandlung von 4 auf
8 Mk., der Dudelsack auf 45 Mk.
Es giebt zwei Arten sorbischer Geigen. Die kleine Husla ist am
meisten im Gebrauch, sie ähnelt ganz einer Kindergeige, wie man sie
auf den Jahrmärkten und in den Bazaren kauft. Auf den kurzen
Saiten, in der Stimmung d a e, wird ein äufserst schriller Ton erzeugt.
Seltener schon ist die gröfsere Husla (60 cm lang), deren Form mitten
inne zwischen Geige und Guitarre steht. Die Saitenbefestigung des
"Wirbelbrettes dieser ist wie bei der Guitarre, das obere Brett des
Resonanzbodens aber etwas nach, der Mitte gewölbt. Das sorbische
Museum auf dem Lauengraben in Bautzen besitzt fünf alte und eine
neue Husla, drei grotse und drei kleine. Alle sind mit Darmsaiten
bespannt. Aufser den «glattspaltigen F-Löchern ist am Ende des Griff-
brettes ein thalergrofses mit sechs Ritzen « «* versehenes Schallloch.
Der Bogen ist sehr straff gespannt. Man legt die Geige nicht unter
das Kinn, sondern auf die Brust. Diese Instrumente stammen wohl
ziemlich alle aus Schleife.
Das zweite Instrument, die Tarakawa, habe ich nirgends mehr
im Gebrauch gesehen. Man hat dafür die Hoboe, und das ist eigent-
lich nur eine verbesserte, mit Messingklappen versehene Tarakawa, die
noch kürzlich bei Tanzmusik verwendet worden sein soll. Das er-
wähnte Museum besitzt zwei alte und zwei nachgemachte Exemplare.
Das grölste ist s/4 m lang. Die Anfertigung des angesteckten , einen
kreischenden lauten Ton erzeugenden Mundstücks soll besonderes
Geschick erfordert haben.
Der Dudelsack kommt in doppelter Form vor, einmal mit ein*
fächern schwarzen Lederbalg, das anderem al mit grolsem Ziegenfell,
dem man Kopf und Schweinszähne als Hörner aufgesetzt hat. Drei
zusammengehörige Musikanten in gleicher, etwas auffallender Tracht,
vielleicht auch mit einer Art Dreimaster, wirken nun zusammen, der
Geiger in der Mitte, Dudelsack und Hoboe zur Seite. Das Instrument
tragen sie im Sack verschnürt. Diese dreiteilige Musik wird durch die
vierteilige verdrängt: Violine, Bafs, Klarinette, Trompete. Aus der
Mode sind Zimbel und Brummeisen. Zieh- und Mundharmonika,
Hirtenhörner, Weidenpfeifen, Farzen, Schnarren und Klappern
(Abb. 147 a, b a. f . S.) kennt die Jugend sehr wohl; hat man sonst
nichts Lärmendes, so bedient man sich der Töpfe und Stürzen, der
Kämme, hinter die man Papier hält, der Gielskannen und Triangel.
Neben den deutschen Tänzen soll noch der „sorbische Reihen"
nördlich von Bautzen im Schwange sein. Sobald die Musikanten zu
spielen beginnen, tritt der Vortänzer mit seinem Mädchen, Gesicht
342 Die Borben.
gegen Gesiebt, vor die Musikanten. Er hebt ihre rechte Hand, und
sie dreht sich im Kreise auf einer Stelle. Er l&Ist die Hand los, und
sie dreht sich, die Hände straff an der Seite, weiter. Nun tanzt der
Vortänzer um das Mädchen herum und giebt seinen Wunsch dabei
Abb. 147.
a. b.
a. Schnarre. b. Klapper. (Nach Andree.)
durch Gebärden zu erkennen, dals er mit ihr tanzen möchte. Sobald
sie die Hand hebt, umfängt er sie und der Tanz beginnt. Die übrigen
Paare schwenken sich, nach Schmaler, auf einem passenden Platze
„acht Takte lang rechts, acht Takte links und so fort, bis der Vor-
tänzer das Zeichen zu einer gemeinschaftlichen Tour giebt. Die Paare
stellen sich einander gegenüber, fassen sich an den Händen und
chassieren so lange acht Takte rechts und links, bis der Vortänzer sich
mit seiner Tänzerin auf seinem Platze wieder herumzudrehen beginnt,
was nun auch alle übrigen thun. Jetzt wechselt dieses Herumdrehen
und Chassieren so lange, bis die Musik schweigt, welche ab und zu
mit Gesang, bald von der ganzen Gesellschaft, bald nur von einem
einzelnen Sänger begleitet wurde". Bei Hochzeiten wird am meisten
getanzt, doch finden eben überall die bei den Deutschen beliebten
Tänze Eingang. Oft singt man dazu, z. B. „Wurst im Tiegel etctt,
„Anna, bist du von Sinnen*4.
Die Lieder hat Schmaler in Feldlieder, Sätzchen, Rundgesänge,
Hochzeitslieder, Bittlieder und Legenden eingeteilt. Die Feldlieder
werden, wie in allen bäuerlichen Kreisen, beim Gange durch das Feld
gesungen; die Sätzchen waren noch vor kurzem auch in derPleiCsen-
gegend Mode. Wer sich zeigen wollte, gab den Musikanten eine grofse
Münze und nahm den Vortanz. Der Vortänzer wechselte natürlich oft
am Abend. Wenn er vom Vortanz abtrat, führte er sein Mädchen vor
die Musikanten, sang dann selbst ein Liedchen oder liels die Musikanten
eins wählen und die Sätzchen aufspielen. Um das Paar stellten sich
die anderen und sangen das Lied mit Musikbegleitung. Dann trank
das Mädchen einen Krug Bier, den ihr vor dem Sätzchen der Vortänzer
Inhalt der sorbischen Lieder. 343
0
gereicht hatte, diesem und den Musikanten zu. Diese leerten den Krug
und harrten auf einen neuen Vort&nzer. Während des Tanzes sang
man ahnliche Tanzlieder. Rundgesänge beim Gesellsohaftstrunk
kommen wohl bei den Litauern und Deutschen immer mehr ab, ebenso
die eigenartigen Hochzeitslieder auf dem Wege zur Trauung. Beim
Kuchensingen, beim Ostergesang und zur Fastnacht werden die Bitt-
lieder vorgetragen; die Legenden sind meist von Pastoren gedichtete
fromme und erbauliche, zu einem guten Leben aneifernde Dichtungen,
wie das goldene ABC.
Der wendische Gesang zieht sich immer mehr in die abgelegenen
Dörfer zurück, an den breiten Strafsen und Eisenbahnlinien nistet sich
der Berliner Gassenhauer, selbst in grösseren Dörfern das bei den
Soldaten gelernte Lied ein, von der Schule aus aber siegt das deutsche
Volkslied. Am Sonntag sitzen die Bauern vieler wendischer Gregenden in
der qualmigen Kneipe. Jeder hat (z. B. in S) vor sich sein Fläschchen
Schnaps. Die schwarze Sonntagsmütze behalten sie auf dem Kopfe,
das Gespräch wird lauter und lauter. Deutsch ist die Unterhaltung.
Dort wettet man um zwei Liter Schnaps, ob einer früh gesehen worden
oder abgereist ist, hier streitet man sich halb scherzend über Soldaten-
angelegenheiten, den Fremden beachtet man wenig; dals aber der
Berliner Lebens Versicherer seit Wochen Haus für Haus absucht und
versichert, das fällt schlielslich auf.
Der Inhalt der sorbischen Lieder bewegt sich in demselben Ge-
dankenkreise wie der der Dainos. Der Abschied des Mädchens vom
Vaterhause, der Zug des Burschen zu den Soldaten oder in den Krieg,
Liebeswerbungen des Jünglings, Zurückweisungen oder verliebte Seufzer
des Mädchens, Klage der jungen Frau über Unannehmlichkeiten in der
Ehe gegenüber den Freuden im Yaterhause, Trinkgesänge, Selbst-
gespräche, wie man die Nacht nach Hause kommen oder wo man
bleiben kann, harmlose Kriegserlebnisse, Trost beim Bier, Jubel über
das Kneipenleben, Treue und Untreue, Tiergeschichten und Rätsel-
fragen bilden die Vorwürfe. — Das Mädchen kann nicht schlafen, ihr
Geliebter ist in den Krieg gezogen. Da pocht es nachts. Es kommt
ein Reiter auf braunem Rofs und bringt einen Brief, dafs er gestorben
ist, sie soll aber nicht um ihn weinen. Das Mädchen aber trauert
sieben Jahre. — Burschen kommen ins Haus und fragen nach dem
Mädchen. Man sagt: „Das ward gestern auf den Kirchhof getragen/
Da umreitet der Liebesbote dreimal den Kirchhof und ruft am Grabe:
„Lieb Mägdlein, steh auf, sprich nur zwei Worte. u „Ja, wenn ich
noch sprechen könnte, würde ich nicht hier unten liegen. Nimm in
meiner Kammer das Schlaf siein, in der Truhe liegt mein Kranz. Die
im Kranze ging, kennt nicht mehr Erdenlust. u — Ein Mägdlein sitzt
und flicht zwei Kränze, ein stolzer Reiter kommt vorüber und bittet
um einen, aber das Mädchen sagt: „Den einen setz ich auf, der andere
gehört meinem Liebsten. a — Ein Bursche fährt im Kahn aus
344 Die Sorben.
Wacholderholz den Fluts hinab zum. Schlofs, wo das Liebchen wohnt
und alles schläft. Sie aber wacht und flicht eine Schnur für den Ge-
liebten und singt dabei: „Klettre doch an der Schnur empor und
komm übers tiefe Wasser; wenn du auf das Austrocknen des Wassers
zu warten vorhast, wird die Liebe vergangen sein." — Der Barsch
beredet das Mädchen, sie möchte ihn nach Hause begleiten. Sie er-
widert, die Leute werden darüber reden. Er aber sagt: „Lata die
Leute reden, wir haben uns ja verlobt und tragen die Ringe am
Finger. tt — Es besuchen zwei Burschen einen Hof, der eine geht des
Mädchens wegen hin, der andere, um sich ordentlich bewirten zu
lassen. — Das Mädchen soll nicht zu schnell heiraten, „ scharfe Dornen
stechen sehr, falsche Burschen noch viel mehr, solche Burschen giebt's
in Fülle, solche guten Mädchen wenig. tt Diese Gedanken kehren bei
den Polaben und Litauern wieder, ebenso die schmückenden Beiwörter
und poetischen Einführungen von den lieblichen Blumen im Garten,
dem hohen Hause auf dem Berge oder am Meere, der grünen Linde
vorm Hause. Beliebt sind auch die Tiergeschichten, wenn zur Hochzeit
oder zu einem Feste Elster, Eule, Ziege, Henne, Storch, Bär antreten.
Die sorbische Literatur hielt sich anfangs in " rein kirchlichen
Bahnen. Vor Einrichtung des Prager katholischen Seminars 1704 und
der evangelischen Predigergesellschaften zu Leipzig 1716 und Witten-
berg 1749 gab es auf ser handschriftlichen Werken hauptsächlich nur
Mollers Gesangbuch und Katechismus 1574, den Worjechs 1597, ein
Enchiridion von Tharäus 1610, des Ticinus Grammatik (Principia
1679), Abraham Frenzeis Werk über den Ursprung der sorbischen
Sprache 1693.
Die Obersorben erhielten 1728 durch Lange, Jokusch, Böhmer
und Wauer die erste sorbische Bibel, die Niedersorben durch Fabricius
1709 das neue, durch Fritze 1797 das alte Testament, und durch
Schindler 1822 bis 1824 die ganze Bibel. Predigtsammlungen und
andere geistliche Bücher erschienen wiederholt. Auf Kosten der Bibel-
gesellschaften wurden im verflossenen Jahrhundert verbesserte Bibeln
in beiden Hauptdialekten herausgegeben. Volkslieder sammelten Haupt
und Schmaler 1842 bis 1843.
Die schöne Literatur pflegten aufser Sauerwein die Niedersorben
Martin Grys (|1878) und Mato Kolsyk (geb. 1853, lebt als Geistlicher
in Ohiowa, Nebraska), der in Hexametern die sorbische Hochzeit und
ferner die angeblichen Schandthaten Geros besungen hat ; unter den
obersorbischen Dichtern ragt Zeiler hervor.
Die Zeitungsliteratur blüht weniger bei den Niedersorben als viel-
mehr bei den Obersorben, aus deren Reihen sich sogar 1900 ein
sorbischer Schriftstellerverein entwickelte. Den Mittelpunkt bildet die
Zeitschrift der sorbischen Gesellschaft in Bautzen, die das Beste bietet,
was das sorbische Schrifttum hervorbringt. Sie ist für die Gebildeten
berechnet, während Schriftvereine für Verbreitung kurzer und erbau-
Vaterunser. 345
licher Büchlein beim Volke Sorge tragen. Dem sorbischen Schriftsteller-
verbande traten am 15. März von 24 Geladenen 22 Mitglieder bei, die
an den sechs obersorbischen und zwei niedersorbischen Zeitungen mit-
arbeiten.
Sprichwörter. Alle trafen vorbei, nur mein Sohn traf —
beinah. Er hat einen Elsterfufs gegessen (schwatzhaft). Essen und
Trinken ist das halbe Leben, auf der Ofenbank liegen das ganze. Das
schickt für dich, wie der Dreschflegel für den Hund. Erbsen am Wege
rupft jeder. Was einer aufschüttet, das mahlt er. Er hat immer
s' Fenster am Halse (er liegt tagaus tagein am Fenster). Er macht aus
einem Fingernagel einen Ellenbogen (er übertreibt). Die Finsternis
frilst die Leute nicht, stötst sie aber um. Verliehene Sachen kommen
als Hinkebein heim. Er fürchtet sich wie ein Fischotter (sehr). Grofse
Arbeit, kleiner Käse. Der Flickfleck mufs grölser als das Loch sein.
Einer Fliege wegen schüttet man eine gute Suppe nicht aus. Er
windet sich wie eine Fliege im Brei (der Arbeitsunlustige fängt allerlei
an, aber ohne Lust). Was die Frau mit der Schürze fortträgt, vermag
der Mann nicht hereinzuführen. Wo die Frau die Hosen anhat, ist
der Wirt des Teufels. Nimm dir die Frau aus der Nachbarschaft, die
Gevattern aus der Ferne.
VTL Das sorbische Vaterunser.
1. Obersorbisch (mitgeteilt vom P. Goltz seh -KÖnigswartha
und P. M a Mi ng -Kutten).
Wötce nas, kiz sy w njebjesach. Swjecene budz Twoje mjeno. Priridi
k nam Twoje kralestwo. Twoja wola so stan, kaz na njebju, tak tez na
zemi. Nas wsedny khleb daj nam dz'ensa. A wodaj nam nase winy, jako
my wodawamy nasim winikam. A njewjedz nas do spytowanja. Ale
wumoz nas wot teho zleho. Pretoz Twoje je to kralestwo a ta möc a ta
cesc' do weenosce. Hamjeri.
2. Niedersorbisch (mitgeteilt vom P. Schwellow-Hornow).
Woschz nas, kenz fsy na niebju. Hufswieschone buzi twojo me. Twojo
kralejstwo pschizi. Twoja wola fse stani, ako na njebju, tak tez na semi.
Nasch sebedny kleb daj nam zinfsa. A wodaj nam nasche winy, ako my
wodawamy nasehym winikam. A njewjez nas do spytowanja. Ale humoz
nas wot togo slego. Pscbeto twojo jo to kralejstwo, a ta moz, a ta zescz do
nimernoseji. Amen.
3. Obersorbisch, katholische Fassung nach M. Horniks Übersetzung.
(Mitgeteilt von Dr. Groll mufs- Leipzig.)
Wötce nas, kiz sy w njebjesach. Swjatoscene budz' zwo je mjeno.
Prindz k nam twoje kralestwo; twoja wola so stau, jako na njebju, tak tez
na zemi. Nas wsedny khleb daj nam dzens. A wodaj nam nase winy, jako
tez my wodawamy nasim winikam. A njewjedz' nas do spytowanja; ale
wumöz nas wot zleho. Ameh.
Die Polaben.
Literatur.
Adelung: Mithridates II. Berlin 1809. S. 690/91.
Andree: Braunschweiger Volkskunde, 2. Aufl. Braunschweig 1901. 8. 50O f.
Bergmann: Bilder aus dem hannoverschen Wendlande, Originalphoto-
graphieen. Lüchow 1899.
Brückner: Die slawischen Ansiedelungen in der Altmark etc. Leipzig 1879.
Burmeister: Über die Sprache der früher in Mecklenburg wohnenden
Obotviten -Wenden. Bostock 1840.
Oasopis Macicy serbskeje 16/17. Bautzen 1863/64. (Polabische Sprach-
denkmäler, herausgegeben von Pfuhl.)
Festschrift zur Säkularfeier der k. Landw. Ges. zu Gelle. Hannover 1864. I, 2.
Protokoll aus den Verhandlungen der Bezirkssynode Dannenberg vom
19. Juni 1883. Dannenberg 1883.
Domeier: 300 wendische Worte. Hamburger vermischte Bibliothek II, 5.
S. 794 bis 805.
Eccard: Historia studii etymologici linguae Germanicae. Hannover 1711.
[S. 268 bis 306, darin des Christian Hennig (f 1679) zu Wustrow Auf-
zeichnung.]
Hannoversche gelehrte Anzeigen 1751, 613; 1752, 1137 ff.
Hanusch: Zur Literatur und Geschichte der slawischen Sprachen in Deutsch-
land, namentlich der Sprache der ehemaligen Eibslawen oder Polaben.
Miklosichs Slaw. Bibliothek II. Wien 1858.
Helmolds Chronik der Slawen. Nach der Ausgabe der Hon. Germ. Über-
setzt von Laurent; 2. Auflage neu bearbeitet von Wattenbach.
Leipzig 1894.
Hennings: Das hannoversche Wendland. Lüchow 1862. — Sagen und
Erzählungen aus dem hannoverschen Wendlande. Lüchow 1864.
Hildebrandts polabischer Bericht in Eeyfslers Reisen, herausgegeben von
Schütze. Hannover 1776. Bd. II, 8. 1376 bis 1378.
Hilfer ding: Die sprachlichen Denkmäler der Drevjaner und Glinianer Eib-
slawen im Lüneburger Wendlande; aus dem Bussischen von Schmaler.
Bautzen 1857.
Jacobi: Slawen- und Deutschtum in kultur- und agrarhistorischen Studien,
besonders in Lüneburg und Altenburg. Hannover 1856.
Jugler: Vollständiges Lüneburgisch- Wendisches Wörterbuch 1809. (Manuskript
der Göttinger Universitäts-Bibliothek.)
Lisch: Vaterunser der Wenden. Jahrbücher des Vereins für mecklen-
burgische Geschichte und Altertumskunde VI, 57 bis 69. Schwerin 1841.
Verzeichnis der früher im hannoverschen Wendlande gebräuchlichen Trachten
und Geräte, gesammelt für das Museum zu Lüneburg. Lüohow 1893.
Meitzen: Siedelung und Agrarwesen II, 475 bis 493. Berlin 1895.
Mente: Der Urnenfriedhof bei Bebenstorf. Hannoversche Schulzeitung 1894,
Nr. 7 bis 9.
Sprachgebiet. 347
Mithof: De Lingua Winidorum Luneburgensium 17. Mai 1691. (Leibniz,
Collectanea. Hannover 1717, II, 835 bis 360.)
Parum Schulze: Nachricht von der Chronik des wendischen Bauern
Johann Parum Schulze. Annalen der Braunschw. Lüneb. Churlande
1794, VIII, 2. 8. 269 bis 288. — Dr. Kaiina, Jana Parum Szulcego
Sfownik Je,zyka Polabskiego. Krakau 1892/98. (Das Parum Schulzesche
Wörterbuch nach der in der Ossolinskischen Bibliothek in Lemberg be-
findlichen Handschrift.)
Pypin-Pech: Das sorbisch-wendische Schrifttum etc. Leipzig 1894, 8.10/12.
Roch oll: Ohristophorus. 1862.
Schleicher; Laut- und Formenlehre der polabischen Sprache. St. Peters-
burg 1875.
Spiel und Spangenberg: Neues vaterländisches Archiv. Lüneburg 1822,
232; 1832, I, 319 bis 350; II, 6 bis 26.
Steinvorth: Das hannoversche Wendland. (Deutsche geographische Blätter,
herausgegeben von der Geographischen Gesellschaft in Bremen, durch
Dr. M. Lindemann, Bd. IX, S. 141 bis 154.) Bremen 1886.
Beiträge zur Ethnographie der hannoverschen Eibslawen, mitgeteilt von
A. Vieth, mit Einleitung und Zusätzen von H. Zimmer, V. Jagic und
A. Leskien. Vgl. das folgende:
Vieth: Wendischer Aberglaube angemercket bey der General - Kirchen -
Visitation des Eürstenthums Dannenberg im Monath August Anno 1671.
(Mich. Bichey.) Archiv für slawische Philologie 22, 107 bis 148.
Berlin 1900.
Warmbold: Beiträge zur Geschichte des hannoverschen Wendlandes.
Lüchow 1895.
Ziehen: Wendische Weiden. Frankfurt 1854. — Geschichten und Bilder
aus dem wendischen Volksleben. Hannover 1874.
I. Sprachgebiet.
Die Polaben oder Eibslawen waren, wenn wir die Einteilung
Nestors beibehalten, liutizischen 'Geschlechtes. Sie sind heute völlig
germanisiert, nur eine Anzahl Worte haben sie dem deutschen Sprach-
schatz einverleibt. Ein alter Lehrer konnte mir noch berichten, dats in
Küsten bei Lüchow und in der Nachbarschaft der Schulze am Klapper-
brett (vgl. Abb. 151, S. 355) mit einem kurzen wendischen Satz die Bauern
gerufen habe, heute ist davon nichts mehr zu sehen. Hennings hörte,
dats Anfang des 19. Jahrhunderts einzelne Bauern noch „wendisch"
redeten. Das sagt auch 1826 der deutsche Gelehrte Wesebe (Pypin-Pech,
Sorbisch-wendisches Schrifttum, S. 9). Büsching, Pfennig u. a. kennen
die polabische Bevölkerung noch wohl. Pfennig sagt 1783: „Die pola-
bisohe Mundart hat sich nur noch allein in den lüneburgischen Ämtern
Dannenberg, Lücho und Wustro erhalten", der Gottesdienst in ihrer
slawischen Sprache erlosch allerdings schon 1751 zu Wustro w. Aber
viel Leben hatte die Sprache schon das ganze Jahrhundert zuvor nicht.
Der Dannenberger Pastor Domeyer sammelte 1743 bis 1745 Sprach-
reste und stützte sich dabei auf die Sammelarbeiten des Bauers
Parum Schulze (1678 bis 1734) und des Wustro wer Pastors Christian
348 Die Polaben.
Hennig1) von Jessen (1705), dessen Wörterbuch aus dem Munde
des Bauern Johann Janisch aus Elennow zusammengestellt und von
Chr. Hennig in drei Redaktionen hinterlassen worden war. Ja, schon die
kleine Sammlung Johann PfeffLngers in Lüneburg 1698 und die durch
Leibniz 1691 veranlagte Sammlung von Wörtern und Gebeten und dem
bekannten Hochzeitslied (1711 von Eccard gedruckt), von Seiten Hennigs
und des Lüchower Pastors Georg Mithof, beweisen, data es nur noch
Reste zu sammeln galt. Und wenn man auch in der ersten Hälfte des
16. Jahrhunderts noch in der Mecklenburger Jabelheide zwischen
Ludwigslust und Dömitz slawisch gesprochen hat, so scheint doch das
Deutsche überall schon so mächtig gewesen zu sein, dafs man sich
nicht gedruckter polabischer Bücher bediente. Die Reformation hat ja
jedem Völkchen den Katechismus und ein paar biblische Stücke in der
Muttersprache beschert. Hier aber scheint kein Pastor die Herausgabe
eines polabischen Gesangbuchs oder eines Katechismus für nötig gehalten
zu haben. Ich habe mich bis jetzt vergeblich bemüht, dahinter zu
kommen, welcher wendischen Bücher sich die Polaben bedienten. Wenn
dies überhaupt der Fall war, wäre am ehesten an sorbische zu denken,
etwa an Mollers niedersorbischen Katechismus (Bautzen 1574) und sein
Gesangbuch oder noch an den Katechismus des Fabricius (Kottbus 1706).
Hennig war ja selbst aus dem Sorbenlande 1679 als dreifsigjähriger
Mann nach Wustrow gekommen. Einige Zeugnisse, dafs eigentlich die
polabische Sprache seit 200 Jahren als im Aussterben begriffen gilt,
mögen folgen.
Eccard, der Amanuensis von Leibniz, sagt (Historia studii etymo-
logici linguae Germanicae, Hannover 1711), die Polaben wären wegen
ihrer Sprache verspottet worden, und hätten sie ganz vergessen, wenn
nicht unter dem Kurfürsten Georg Ludwig (seit 1698; 1714 englischer
König) die Leute zur Pflege ihrer Sprache ermuntert worden wären.
Da habe sich nun Hennig Verdienste erworben. Auf Grund von Mit-
teilungen Mithofs 2) bekennt er, es gäbe seines Wissens keine Bücher
der hannoverschen Wenden, nur mit Mühe habe er einen ausfindig
gemacht, der das Vaterunser „wendisch" gekannt habe; aufserdem
l) Eccard nennt ibn Hennigen; E.Hennings, der von ihm abstammen
soll, Hennings; Schleicher (nach Jugler): Hennig.
*) Mithof in Leibniz, Collectanea 338 : „Man hat, meines Wissens, keine
Bücher in der Wendischen Sprache, auch sonsten keine alte schriftliche
nachrichtungen ; wie denn diese Sprache numehro sehr abzunehmen beginnet.
Dahero auch, wie fleifsig mich gleich bemühet, vorerst niemand antreffen
können, welcher — das Vaterunser in der Wendischen spräche auszusprechen
gewufst. Endlich aber hat es einer eingegeben, und lautet, wie folgt: Noos
Wader etc. (vgl. S. 387). Auch giebt er einen polabischen Zauberspruch, der
deutsch lautet: Heute ist Marientag, da unser Herr Jesus gebohren; am
anderen Tage ist er getauft, den dritten Tag hat er alles abgesteuret, steine,
wasser und erde, das alles unser Jesus hat abgesteuret. So soll er den Krieg
absteuren von der ganzen Welt. Kyrie-Eleis."
Polabische Sprachdenkmäler. 349
bietet er noch vier kurze Gebete. Der Lüchower Bürgermeister
F. Müller (f 1755) hat ein Vaterunser und eine ähnlich lautende
Beichte aus „seiner Frauen Grolsmutter Emerentia Wehlings, weil.
Secr. Rodewalds Mutter Munde aufgeschrieben, weil ihr Bruder, weil.
M. Caspar Wehling, der erste deutsche Prediger zu Bülitz, Amt Lüchow,
geworden u. Johann Parum Schulze zu Süthen, der 1724 oder 1725
im 47. Lebensjahre schrieb, kann selbst die Sprache nicht, seine Schwester
versteht aber noch etwas. Im Jahre 1751 fand man, nach Jugler,
keinen mehr in der Gegend von Dannenberg, Lüchow und Wustrow
„der wendisch reden konnte", und nach Hassel wurde 1751 in Wustrow
zuletzt Gottesdienst in wendischer Sprache gehalten (Band IV, S. 507
des Handbuchs der Erdbeschreibung, Weimar 1819). 1798 sei der
Hauswirt W&rratz zu Kremmelin gestorben, der aber das Vaterunser
noch beten konnte. 1794 (Annalen, S. 273) reden die Polaben deutsch.
Für sein Werk „Vollständiges Lüneburgisch - Wendisches Wörter-
buch aus drei ungedruckten Handschriften und den wenigen bisher
bekannten Sammlungen, zusammengetragen von Joh. Heinr. Jugler,
der Arzney Wissenschaft Dr., Chur- Hanno vr. Landphysicus zu Lüne-
burg etc. 1809" fand der Verfasser keinen Verleger, ein Manuskript
liegt noch auf der Göttinger Universitätsbibliothek. Adelung (Mithri-
dates II, 5, 688 ff.) kennt 1809 die Polaben noch in den erwähnten
drei Ämtern.
Aufgefrischt wurde das Andenken an die Polaben erst wieder
durch Hilferding, der dem Volke einen Besuch abstattete und des
merkwürdigen gelehrten Bauern Parum Schulze Werk las, das nun,
wie ich in Süthen hörte, „für ein weniges" nach Lemberg verkauft
worden ist. Dann gab Schleicher durch sein Werk Veranlassung, dafs
die gelehrte Welt der Sprache näher trat. Als Hennig seine Schrift
schrieb, war schon nicht viel mehr von der Sprache zu finden. Ich
fuhr 1898 ins Polabenland und glaubte Ähnliches wie im Slowinzen-
lande zu finden; es gelang mir nicht. Vielleicht glückt es jetzt, da
die Leipziger Jablonowskische Gesellschaft 1901 als Preisaufgabe für
1903 „eine Ausgabe der polabischen Sprachdenkmäler mit Grammatik
und alphabetisch geordnetem Wörterbuch" gewünscht hat.
Die Angabe von A. v. Fircks, im Kreise Lüchow (S. 266) seien
unter je 1000 Bewohnern 20,6 Wenden, beruht auf einem Mifs-
verständnis. Die Dorfbewohner nennen sich allerdings Wenden, die
Gegend wird auch das hannoversche Wendland genannt und es er-
scheint eine Zeitung für das Wendland. Aber das sind ja nur noch
die alten Namen, und die dortige „ wendische u Sprache ist im Gegen-
satz zur hochdeutschen Sprache der Städter das Plattdeutsch der
Bauern. Mit Recht weist A. v. Fircks auf das altpolabische Sprach-
gebiet, auf die prachtvollen Dorfrundlinge hin; es ist aber ein Irrtum,
wenn er sagt: „In keinem dieser Dörfer (Schletau, Bockleben, Witzeetze,
Simander, Volzendorf, Predöhl, Trabuhn, Schweskau, Kriwitz, Kohlen,
350 Die Polaben.
Schreyahn, Banzau, Lütenthien, Külitz, Proitze, Vasenthien, Tobringen,
Grols-Breese, Nemitz, Lanze, Prezelle , Thurau, Meuchefitz, Eremlin,
Gänse, Mammoifsel, Grols- und Klein -Sacbau, Diabren und Klein-
Gaddau) bilden Personen von wendischer Muttersprache die
Mehrheit (!) oder auch nur einen namhaften Teil (!) der Bevölkerung.*
Der Name Wenden hat ihn zu der Vermutung veranlafst, man spreche
slawisch. Es spricht aber kein Mensch mehr die alte Muttersprache.
Von A. y. Fircks werden für den Lüneburger Regierungsbezirk
aufgezählt: 270 männliche, 235 weibliche Wenden, 40 männliche und
25 doppelsprachige Wenden. Wenn dieB auch wirklich wendisch
sprechende Leute wären und nicht solche, denen der alte herkömmliche
Name und ihr sogenanntes wendisch Platt Veranlassung zur Bezeich-
nung „Muttersprache Wendisch" in den Zähllisten gab, so beweist
dies nur, dafs auch unter den Wenden die Sachsengängerei an Umfang'
zunimmt. Bestätigt wird dies durch die 275 männlichen 4-126 weib-
lichen Wenden und 41 männlichen + 20 weiblichen doppelsprachigen
Wenden im Regierungsbezirke Arnsberg, bei denen der Statistiker gar
nicht an alte BodenBässigkeit zu denken wagte. Und das hätte doch
ebenso nahe gelegen. Ja auch in Berlin (114 männliche + 197 weibliche,
78 männliche -f" 84 weibliche doppelsprachige), Posen (213 männliche
+ 235 weibliche, 12 männliche doppelsprachige), Münster (52 männ-
liche -f" 28 weibliche, 5 männliche -\- 2 weibliche doppelsprachige),
Düsseldorf (84 männliche -f" 34 weibliche, 13 männliche -+- 1 weib-
liche doppelsprachige) und Potsdam (35 männliche -f" 43 weibliche,
53 männliche -f- 53 weibliche doppelsprachige) kommt eine ganz
hübsche Zahl von Leuten vor, die ihre Muttersprache als Wendisch
bezeichneten. In den Kreisen Borns t, Lüchow, Recklinghausen, Dort-
mund Land, Gelsenkirchen und Essen ermittelte A. v. Fircks 0,73 Proz.,
bez. 2,06 Proz., 0,08 Proz., 0,1 Proz., 0,21 Proz., 0,05 Proz. Wenden.
Das sind aber durchgängig Sorben, die zugewandert sind, oder Sachsen-
gänger.
Die polabische Bevölkerung, ehemals im Süden mit der Borbischen,
im Osten mit der obotritisch-slowinzischen in Nachbarschaft, hatte ihre
letzten Sitze an der Jeetzel in den Kreisen Lüchow und Dannenberg.
n. Siedelung.
1. Geschichte. Die Polaben wurden wahrscheinlich von Pipin
oder Karl, mit denen sie im Bunde gegen die Sachsen fochten,
auf dem Gebiet ausgewiesener Sachsen angesiedelt. Die Geschichte
vom „schönen Baum" geht auf einen wendischen Fürsten zurück, der
im Sachsenkampfe fiel, eine Eichel im Munde. Der sagenhafte Volksheld
Jam Kahl, dessen christliche Gemahlin Seba von den Priestern ihrer
Heirat wegen verbrannt, dessen Volk im ungleichen Kampfe vernichtet
wurde, und dessen Grabmal noch bei Seben zu sehen ist, kämpfte
Volkszahl. Geschichte. 351
auch gegen die Sachsen. Karl weilte wiederholt bei ihnen, begünstigte
sie und gilt als Begründer ihrer Rechte; auch die Ausnahmestellung
im Erlafs des Zehnten und der Schutz der Sprache weist auf höhere
Vergünstigung hin; das Christentum scheint willig Annahme gefunden
zu haben. Zuerst berichten Adam von Bremen (Monum. German. 7,
283 bis 398) um 1075, Helmold um 1172 (ebenda 21, 11 bis 90),
Saxo Grammaticus (1181 bis 1208) über sie, abgesehen von älteren
Urkunden und vereinzelten Notizen bei Einhart (f 840), Widukind
(f 968), Thietmar von Merseburg (f 1018). Die ersten Landes-
herren hiefsen Grafen von Warfke, das sind die späteren Grafen von
Lüchow. Sie waren den Lüneburger Weifen unterthan, wulsten
aber durch geschickte Lehensverbindung mit den Ratzeburger und
Hagenower Bischöfen und durch Freundschaft mit Mecklenburg und
Brandenburg ßich ziemlich selbständig zu erhalten. 956 wird der
Ort Clenze im Drawehn als erster polabischer Ort erwähnt, Lüchow
1144, Jeetzel 1244, Crummasel 1298. Um das Jahr 1000 tritt
uns die vollständige Gaueinteilung entgegen: Lemgow, Öning, Brö-
king, In den Heiden, Gein, Drawehn. Der erste Lüchower Graf,
Hermann I. (1145 bis 1174), stand in einem Vasallen Verhältnis
zu Heinrich dem Löwen, den auch die Wendenhäuptlinge als Herrn
anerkannten. Der letzte Lüchower Graf, Heinrich IV (1278 bis 1317),
kämpfte in einem Kriege zwischen Brandenburg und Braunschweig-
Lüneburg 1315 auf brandenburgischer Seite. Er vererbte, da er ohne
männliche Erben war, sein Land 1317 den Brandenburgern. Yon
deren Lehensgrafen erwarb es 1320 der Herzog Otto der Strenge von
Lüneburg. Nun besafsen die Weifen das Wendland bis 1866. Das
Gebiet selbst, das an der grolsen Handelsstrafse Leipzig - Hamburg
liegt, tritt wiederholt in der Geschichte hervor. Das Rebenetorf er
Urnenfeld, die Dannenberger Brakteaten, die alte Wendenkrone, Karls
Aufenthalt in Lüneburg und Bardowik sind Zeugen des ersten Jahr-
tausends; die Gefangenhaltung König Waidemars von Dänemark in
Dannenberg, die Einführung der Reformation 1525, die schwedischen
Bedrängnisse 1643, Karls XII. Aufenthalt im Waddeweitzer Krug 1714
sind Hauptdaten des zweiten. Im Befreiungskriege brauche ich nur
an die Namen Körner und Eleonore Prochaska zu erinnern. Auch
ihren Sänger hat die Jeetzel gefunden in dem jugendlichen Sigmund
von Birken, der 1648 als Erzieher im herzoglich braunschweigischen
Hause zu Dannenberg weilte. Er singt:
„ Schöne Jeetze! Dein Gerinne
Hat mir oftmals zugehört,
Wenn die heifse Kot verzehrt
Meine liebentbrannten Sinne.
Beine Wellen manches Ach,
Mir noch werden lallen nach. —
Liebster Ort, begleite mich!
Mit dem Leib nur lafs ich dich." —
352
Die Polaben.
Von dieser Zeit sagt Partim Schulze (Annalen 281): Zu Anno 1640
haben eich die Jagend in Festen suis Einen jeden Dorff zusammen-
gethan Etzliche Tage ein Fest in sauffent zu halten und der Etzliche
haben auf die benachbarten Dörffer erumbgelauffen Würste und Eyer
bey denen L&utten ausgesucht bilsweilen hat auch wol die ganze Rotte
von Dorff zu Dorff gelauffen, data bilsweilen woll 2, 3 Rotten auf
Einmal in Einen Dorff zugestrichen haben kommen die Wendische
Lieder gesungen und haben Ein lerm gemacht , alle wenn sie alles zu
boden reisen wolten. (Sie suchten Nahrungsmittel zu ihrer Fastabend-
feier unter Widerstand der Wirte zu stehlen.)
2. Dorf anläge (Abb. 148, 149, 150). Die alte Graueinteilung hat
sich bei Weg- und Brücken Verbesserungen noch heute als malsgebend
Abb. 148.
*
1
\
0 \
\
\
TJ • T ' fc--l --3 • t . . • •
« •% %
-3:" l a *!P?-'
j h
.•3.* k ^F77
[T
/aX vN^S
/aA'Ta\. 7C/
..••-•"n •■" i: ! 1 .
«
..-••■'. ::' i
/ B ::
• • •
• 0
l \
Schematischer Grundrifs eines Dorfrundlings im hannoverschen Wendlande.
A Dorfplatz, B. Prising, a Gehöfte mit dem Giebel nach den Dorfplatz gekehrt,
b Schulzenhaue , c Kirche , d Schule , e Wirtehaus , f Gottesacker , g Dorfzugang,
h Landstrafse, i Dorfteich (meist zugeschüttet), k Milchkrugtische, 1 Linden- oder
Eichenhain mit grofsen Setzsteinen (und ehemaligem Hirtenhaus), m Vorhaupt vor
den Gehöften, n Elanzei, o Bäume, p Haus für Gemeindewerke.
erhalten. Die Dorf anläge ist so ausgesprochen eigenartig, dafs man
immer an eine gleichzeitige vorbedachte Gesamtbesiedelung eines Ge-
meindebezirks denken möchte. Inmitten prächtiger Waldbestände von
Eichen, Ulmen, Buchen, Eschen, Birken, Weiden, Holunderbüschen ist
das Dorf gelegen. Es ist hufeisenförmig geplant, „ein Rundling", wie
Jakobi die Anlage genannt hat. Abseits vom eigentlichen Dorfe liegen
grofse Gewanne, Feldanlagen, die später unter die Besitzer verteilt oder
neu bebaut wurden. Jeder Ort hat seinen Ausbau, Koreitz, eine Art
Vorstadt; manche besitzen noch ein Eichenfeld (Esternkamp), ein
»J
3S
I
i
I*
Dorf anläge. Flurnamen. 353
Noblisein, Barsing, Sopung, abgesehen von der Hofkoppel und dem
Schulzenland 1). Vgl. Andree, S. 500 ff., über Polabisches in Braunschweig.
l) Namen von Feldlagern und Gewannen im Kreise Lüchow: 1. Banzau:
Berkfein; 2. Beesem: Kreiweitzen, Prejeneitz, Colla, Cumparn; 8. Belitz:
Kreibeitzen; 4. Bergen: Spröfsel, Kobbeleitz, Spreifsel, ßeesch: 5. Bese-
land: Popatz, Kräweitzen; 6. Beutow: Beaein, Draweis, Breitschü, Piehn-
feld, Nohndrick, Dumsei, Güstneitz; 7. Bischof: Maraaken, Sokohsen,
Küpen thien; 8. Bockleben: Grebeneitz, Gnesie, Jörns, Totjüms, Grawein,
Gut wein; 9. Bö sei: Pusweyen, Pützjaaken, Duetjeien, Buchilen, Krymey;
10. Bösen: Persein, Storzener, Stamieneitz, Morseitzen, Preckneitzen, Lüse-
neitzen; 11. Braudel: Zethian; 12. Brese: Rapeitz, Eohmreitz, Dohmbeitz,
Traf ei tz, Köhmreitz; 13. Breese: Awschei, Kompein, Rutschern, Kolbeitz,
Vastroh; 14. Brünkendorf: Schmaleitz, Jaske, Zieleitz; 15. Bü blitz: Mafs-
rein; 16. Capern: Kadieck, Buhtjahns; 17. Garmitz: Sütosen, Moöstack,
Schandeitz, Eikuloken, Sotofken; 18. Gassau: Brisäng; 19. Glenze: ßieleiz;
20. Grautze: Lemeintz, Güstneitz, Sabeims; 21. Gremiin: Pijeuns beiLung,
Sobloms, Maedken; 22. Griwitz: Sidallen, Laseneitz, Kalifsen, Zogolofken;
23. Crummasel: Tasseitz, Buseig, Cola; 24. Gussebode: Güstneiteen,
Natschü; 25. Diahren: Leiseitz, Wibbeleiken; 26. Dickfeitzen: Verstrah;
27. Dolgow: Pijohn, Dambeitzen, Tribeneitz, Poswein, Dumbeitz, Traschntz;
28. Dom m atzen: Waddeweitz; 29. D uns che: Forst, Farjel, Fovorstruve,
Kuperneitz, Vohmprey , Kreiweitz, Witschein ; 30. Gänse: Elanzey; Sl.Glede-
berg: Dotfieteiz; 32. Göttien: Satineitz; 33. Gohlefanz: Phuisineitzen ;
34. G oll au: Schideitz, Sohmielneitzen , Jüleitzen; 35. Gorleben: Böhm-
beitzen; 36. Grabow: Erumpeitzen, Draweist, Breitschü; 37. Güstritz:
Weiselaney, Dra weisen; 38. Guhreitzen: Pyohn; 39. Jeetzel: Bobeitz,
Trenneweitz; 40. Elennow: Proetzeneitz , Pitjahn, Zarreitz; 41. Kohlen:
Kohleitz, Gremlineitzer; 42. Königshorst: Triebneitz; 43. Kühleitz:
Haberneitzen , Wörgel; 44. Künsche: Gühleitz, John weifsei, Pläsineitz;
45a. Küsten: Wirreitz, Kraiweitz; 45b. Lübbow: Plischei, Binden, Düpen,
Dransen, Sarröben, Modeln, Günschei, Bookhorst; 46. Lanze: Zeleitzen,
Sulafein, Stödtke; 47. Lefitz: Privenah; 48. Lenzian: Dulei, Strelen;
49. Lichtenberg: Weifselneitz, Kraewein, Dührneitzen; 50. Liepe: Jissen,
Schweifsei, Sarschei, Gompein, Pros, Leipnitz; 51. Loitze: Schreibneitz,
Plost, Lusatz; 52. Lomitz: Lafei, Stameitz, Gigaarte, Fiffeitz, Bockeneitz,
Gohleitz, Gottfeitzen, Brosein, Leipeitz; 53. Luc kau: Majoenes, Schuleitz,
Frinneneitz, Justneien; 54. L Übeln: Suckolachdüpe , Pigons, Jurreitzen,
Soakosen, Sugolofken; 55. Läsen: Sagelofken, Guestneitzen, Scheireitzen, Strina,
Maertgen, Camineitzen, Platjei, Storz; 56. Lütenthien: Zanehf, Vorwills,
Gonsche, Luhm, Dorisch; 57. Maddau: Babeletzen; 58. Malsleben: Selof,
Sohls, Tombein, Luskau; 59. Mammoifsel: Tibing, Döhl; 60. Marieben:
Sooden, Breer, Geifsen, Stahnken; 61. Marlin: Blanneitz; 62. Meetschow:
Kuseleitzen, Belleitz; 63. Meuchefitz: Wanjörken; 64. Molden: Storfsnitz,
Görsken, Zosten; 65. Müggenburg: Scheideitz, Zerrüthzeitz, Schüste, Joster,
Grandal, Schriebahn, Porrein, Jasebohm; 66. Mützen: Lunkneitz, Zieleitz;
67. Nauden: Sogelofken; 68. Naulitz: Koleisch, Plasineitzen ; 69. Nemitz:
"Wirjahn, Stuede, Traf sei tz, Dürlei, Bürmk, Targohei, Vertoigen; 70. Nien-
dorf bei Bergen: Lüskau, Bohen, Preifs; 71. Niendorf bei Gartow: Bastian,
Schleik; 72. Plate: Jolan, Lauseitz; 73. Predöhl: Warneitzen, Peisland,
Lehneitzen; 74. Prezelle: Zowe, Gleimke, Palleh, Prebsch, Steckel, Porseneit,
Klafeitz, Tagall, Yortüde, Trevel, Basea, Stelk, Sakaasen, Jakas; 75. Prezier:
Bobke, Kramin, Sogelafken, Seleitzen, Verbalden, Boerck, Mudel, Jomke,
8ohr; 76. Priefsseck: Kräweitzen, Püleitz, Warreitz; 77. Püggen:
Papaneitz, Klaatz, Schleseneitzen , Garreitz; 78. Puttball: Pleischuren,
Tetsner, Die Slawen in Deutschland. 23
354 Die Polaben.
Die einzelnen Teile des Dorfes selbst sind der Dorfplatz, das
Gehöft mit Vorhaupt und Klanzei1), und das Prising. Den Mittelpunkt
bildet der Dorfplatz; er ist fast kreisrund, ist mit Gras bewachsen, hat
nur einen einzigen Zugang von der Landstralse aus. Dieser wurde
früher allabendlich abgesperrt. Jetzt hat er sich zu einer neuen Dorf-
stralse entwickelt, an der gewöhnlich Kirche und Schule stehen. In
der Mitte des Dorfplatzes befindet oder befand sich ein Teich, die Not-
Panneitzen, Plaasgarens; 79. Quartzau: Wirreitz; 80. Banz au: Mividack,
Schiamman, Solbein, Gürlein, Glanshey, Breseyn, Günleitzen, Finnöh;
81. Bebenstorf: Papeisch, Pergün (Günschei), Sugarben, Sugeloh, Gorz,
Brawinkel, Garbeneitz, Klun, Gülkenberg; 82. Beddereitc: Twells, Thies-
kolen, Gonnack, Gangenei; 83. Beddemoifsel: Darschaus, Harneids,
Wüstenei; 84. Beetze: Wuning, Parreien; 85. Ben b eck; Düoameitz, Düca-
neitz, Glanon, Derwatschen, Duhl, Serneitz; 86. Beitze: Jüstneitz, Triweitz,
Gebrünn; 87. Bestorf : Maddaus, Iren, Meischow, Kaje, Wetheringer, Seering,
Glamp, Sei, Blamen; 88. Saafse: Seeweitz, Neenjeiden, Eraensoh, Bunck ;
89. Sachau: Gleimken; 90. Sagrian: Lungnei, Boleitz; 91. Sahlahn:
Lasfein; 92. Satemin: Schötus; 93. Schlannau: Majack, Düleitz;
94. Schletau: Trebs, Joleitz, Zereneitz, Jirseck; 95. Schmarsau: Sere-
neitzen, Kaläfsen, Pifsein, Jostreben; 96. Schreyahn: Soleik, Draweitsch,
Jijost; 97. Schweskau: Tapeleins, Liesei, Protzen, Seleitzhanzen, Gorein,
Lanneitz; 98. Schwiebke: Klaatz, Gusneitzen, Gölein; 99. Seelwig:
Schladkens; 100. Serau i. Lucie: Dücaneitz, Görlein, Krangen, Burreitz,
Surneitz, Bucktein, Sileitzen, Prafs; 101. Simander: Grabjei, Sterrings,
Wafs, Kolk; 102. Solkau: Kojahns, Sarme, Briesän; 103. Spithal: Stoven,
Gühleitz, Süüseneitz, Paleitz, Solofts; 104. Steine: Lehmweitz; 105. Süthen:
Kr ammietz ; 106. Tarmeitz: Glumm, Appelei, Domachö, Deifsen, Glän,
Kräbeitz; 107. Teplingen: Wasteneitz, Bookhölter; 108. Tobringen:
Stratein, Krefein, Streedein, Pastein, Papeneitz, Schamy, Loops; 109. Tolste-
fanz: Striebeneitz , Perseineitz; 110. Trabuhn: Beesings, Zideln, Zeleitz;
111. Trebel: Lohnken, Henpütten, Kromsen, Sehörken; 112. Yaddensen:
ßallien, Zarenze; 113. Yasenthien: Sprilon, Salein, Bostein, ßaghören,
Schangenprem , Paperneitzen , Katzkein, Trebenneitzen , Kastein, Begöhn,
Bleiseneitz; 114. Yietze: Gühleitz, Papernei, Zieleitz, Jaask, Jellneitz;
115. Yolzendorf: Wilszein, Joblum, Taunbein; 116. Weitsche: Prüf»,
Baakfein, Lapung; 117. Winter weihe: Pollfeitz, Bepas; 118/119. Witt-
feitzen: Kümbeitz, Gusneitzen, Griesen; 120. Witzeetze im Lemgo:
Teitk, Sopplamm, Patözen, Baböschen, Buhnen ; 121. Woltersdorf: Kumgül,
Stubber, Soleitzen, Sosterleitzen , Preckneitzen, Pagüns, Groorsten, Soder-
neitzen, Sosterleitzen, Künsgül, Trebeneitz, Compernah; 122. Zargleben:
Joblomken; 123. Zeetze: Berücketein, Pleust, Schmaleitzen.
Manche dieser von Mente gesammelten Namen, unter denen sich auch
einige hoch- und plattdeutsche befinden, kommen in verschiedener Recht-
schreibung wiederholt vor, so Jüsteneitz (Schulzenland), Koreitz (Hahnort,
Vorstadt), Kraweitz (Kuhanger), Zileitz (Wohnort), Draweis (Holzort).
l) Parum Schulze (Hilferding 18): „Es wird an vielen Dörflern solche
Hinterhon0 sich wol finden, da Holtz, Moratz oder sonsten eine umbauhete
Platz ist, welche man klangsey nennet. Dies Wort klangsey hat da seinen
Nahmen von: der erste Hoff virdt in Grose und feste Zaun gehalten, diese
Hinterhoff wird aber nuhr mit einer geringen Zaun oder Planckricken be-
waret, dieses zu machent helfet soklungsent, davon heilst der Hinterhoff
Olansey, ist wendisch, auf deutsch heilst es umscbrenken."
Schulzenverkündigungen. Gehöft.
3ß5
kable, die bei Feuersbrünsten gute Dienste that. Der Teich bietet
Enten und Gänsen Aufenthalt Neben ihm liegt immer ein kleiner
Hain mit uralten Bäumen, an deren Fula grofse Steine liegen. Hier
setzt man sich abends nieder und erzahlt, wenn man nicht auf der
Hausbank sitzt. Früher stand inmitten des kleinen Haines das Hirten-
haus oder auch das Geschworn - Schulzenbaus, wo sich die Familien -
vorstände versammelten. Die Kreuzbäume sind längst verschwanden,
meist auch der Teich;
die Molkerei tische , auf
die jedes Gut früh die
vollen Milchkrüge zum
Abholen setzte, verraten
die neue Zeit. Ver-
schwunden sind Klap-
perbrett und Klöppel
(Abb. 151) des Schulzen;
aber noch erklingt hier
und da sein: „Herüt,
herüt, np Strät, holla!"
um die Ältesten zur Be-
ratung zu versammeln.
Unter Umstünden geht
noch der Krückstock
herum.
Nach den Verkuppe-
lungen besitzt jeder Hof-
besitzer mehrere Kop-
peln oder Stücke, in der
Grölse von 2 bis 30 Mor-
gen, zuvor hatte jeder
das Grundstück hinterm
Hole oder sehr lange
Fluren. Tannengrund-
stflcke sind zum Teil
noch gemeinschaftlich. In Rebenstorf hat jeder Bauer 10 bis 20 lange
Tannenstücke, keine eigentlichen Koppeln, so dafs der eine Nachbar
beim Roden oder Abholzen auf das Abholzen des vor ihm liegenden
Nachbarackers warten mufs. Erbe des Hofes ist der älteste Sohn, die
anderen Kinder werden abgefunden. Tn neuerer Zeit fängt man aber
auch schon an zu parzellieren.
3. Gehöft (Abb. 152 und 153 a. f. S.). Um den Platz nun stehen
symmetrisch die Giebelhäuser der Polaben; das Gehöft mit dem Prising
bildet ein Segment. Zwischen dem Giebelhause und dem Dorfplatze
Er aun schweiger Klapperbrett.
(Nach Andrei, Brsunschw. Volkskunde, 2. Aufl.1)
') Vgl. daselbst, 8. 250 bis S53, auch Tetj
, Blowinzen, 8. 130.
356 Die Polaben.
liegt ein neutrales Stück Raum, das Vorhaupt, wo die Kinder spielen,
die Hausinaassen den Feierabend auf einer Bank zubringen und der
Hund den Fremden' anbellte. Der charakteristische Vordergiebel besteht
aus Balkenwerk mit Ziogolfüllung , schön farbig getüncht und sauber
gehalten (Abb. 154 bis 156). Ehemals batte man Fachwerk. Böse
Mäuler erzählen , dafs hier und da bei versicherten Leuten das Fach-
werk weggebrannt sei, weil man gesehen habe, dafs man mit der Ver-
Abb. 152. Abb. 153.
Grund rift
i K üsteiier Wohnhauses,
nun. — h Ställe. — c Geilndel
i, Stühlen). — e Kammer. — f g
i Wegen schupp en. — k Wirt
~~ " lupt. — p Klame
o Vorhau
Lübelner Gehöft.
immern. — d Dön« (mit Wehstuhl, Bet
liier Schrank. — g Thor. — h neue Wo]
ihaftaräume. — 1 Ställe. — m Ziehbrunn n
— q Prisins- — || Thiir. — n Fen*t*i-_
sicherungsauszablung schöne neue Häuser bauen könnte; ja, di
roals das Fach nur 60 Pfennige (wegbrennen zu lassen) gekost
Jetzt müsse man mindestens 1 Mark geben.
Auf der Giebelspitze prangt eine blecherne oder hölzerne
zier in Gestalt von Pferdeköpfen, Reichsäpfeln, Tulpen, Urnen,
mit Wetterfahne (Abb. 157 bis 160). Die drei wagerechten Bai
Giebel dreiecks sind gleichfalls farbig getüncht, und auf jedem
steht eine Inschrift, auf dem kurzen eiuGrufs oder Sprichwort, e
mittleren der Anfang eines Gesangbuchliedes, auf dem dritten mi
andere Lebensweisheit, öfters auf den vorigen Brand hinweisen.
Eingang vermittelt überall die grolse Scheunenthorthür, zu derer
Seiten je eine niedrige Stallthür und ein kleines Fenster sich tuuuu«»
Über den Stallthüren steht wieder ein Sprichwort, über dem Thor aber
die Bauzeit, der Name des Besitzerpaares und das Datum von dessen
Einzug. Daneben hat man meist einen Blumenstock gemalt. Bei allen
wichtigen Angelegenheiten wird durch diese Hauptthür gegangen. Sie
führt über die Tenne zur Wohnstube (Dönz; Abb. 161 u. 162 a. S. 358 u.
360). Die Schafe, Ziegen, Pferde können auf die Tenne blicken; über ihren
Zu Seite 358.
Abb. 154. Altes Haus i
(Nach einer rtiotographie von I
Belita, 1777.
tu
az *
1 1 I
s. :
Sil
Hausschmuck.
357
Ställen ist der Stroh- und Heuraum. Zwischen ihren Ställen und der
Dönz, von der aus man die ganze Tenne und auch den Hof übersehen
kann, liegen Knecht- und Mägdekammern. Dieses Haus Belbst bildet
nun durchaus nicht immer das ganze Gehöft, meist ist es. nur ein Teil
einer fränkischen Anlage, so dals neben der einen Stallthür ein einfaches
Thor auf den Hof führt, zu dessen Seiten rechts und links Wirtschafts-
gebäude und Wohnhaus liegen, während Wagenschuppen und Schweine-
Abb. 157. Abb. 158.
Flacher Giebelschmuck aus Holz Flacher Giebelschmuck aus Holz
(Klennow). (Dolgow).
stalle die anderen Seiten des Rechtecks bilden. Brunnen und Wasch-
kuhle sind auf oder hinter diesem Hof. Hinter dem Wohngebäude
Abb. 159. Abb. 160.
ÄS
Giebelbrett mit Giebel-
schmuck.
Körperlicher Giebelschmuck aus Zink
(Dolgow).
liegt der kleine Garten (Klanzei) und dahinter der grolse Garten mit
Wiese und Gartenland (Prising), wo die im Winter gewebte Leinwand
gebleicht wird.
4. Hausinschriften. In den Hausinschriften hat der Polabe
mit mehr oder wenig Bewußtsein seine Gedanken niedergelegt. Sie
sind unorthographisch geschrieben und rein deutsch. Einige Giebel-
sprüche lauten:
1. Betrübt sah ich die Flamme brennen, die mein vor'ges Haus zer-
stört. Ich werde nun lobsingen können, dafs mir ein andres ist beschert.
Gott will ich dieses übergeben, so wird er mein Beschützer sein.
An Gottes Segen ist alles gelegen.
2. Was das Feuer brannte nieder, gab so Gottes Güte wieder in der
Tage kurzem Lauf, so hilft Gottes Hilfe auf. Preis und Dank sei unserm
Herrn, seiner Hut (Hilf) vertrauh wir gern, denn der Herr hilft nah und
fern. — Gott schütz dies Haus vor Glut und Brand u. s. w.
Herr segne mich, dein Geist verleih, dafs, was ich treibe, glücklich sei,
mit meinem Anschlag, That und Bat u. s. w.
3. Gott allein die Ehre.
Herr, wend in allen Gnaden, Krieg, Feuer, Wasserschaden, Sturm, Pest
und Hagel ab.
Hausinschriften. 359
Wo blieben unsere Häuser? Sie wurden als die Heiser verzehret durch
die Glut. Wir suchen allerwegen, wo wir doch bleiben mögen, gleich wie
ein Armer freudig thut.
4. Gott allein die Ehre.
Ein feste Burg ist unser Gott, ein gute Wehr und Waffen, er hilft uns
frei aus aller Not.
Was kränkst du dich in deinem Sinn und grämst dich Tag und Nacht*
nimm deine Sorge, wirf sie hin, auf den, der dich gemacht. Hat er dich
nicht von Jugend auf versorget und ernähret u. s. w.
Das vorige ward durch Feuer verzehrt.
5. Ehre sei Gott und dem Sohn.
Bis hierher hat mich Gott gebracht, durch seine grofse Güte, bis hierher
hat er Tag und Nacht.
Hilf gnädig und ersetze auch, durch deinen reichen Segen, was Wind
und Feuer, Dampf und Bauch in Staub und Asche legen, behüte, schütze
diesen Ort von Glut und Brand und sei hinfort uns treuer Vater gnädig.
Amen.
Joachim Heinrich Eickhoff, d. 13. April 1835. Maria Elisabeth Eick-
hoff, geb. Kraft.
Yon Gott kommt das Gedeihn. (Derselbe Dolchower Spruch auch in
Lübeln, 30. Juli 1805, bei Joachim Heinrich Schultz.)
Bete und arbeite.
6. Ich baue nicht aus Lust und Pracht, die Not hat mich dazu ge-
bracht, das vor'ge ist vom Feuer verzehrt, Gott hat u. s. w.
Erbaue, was zerstöret, und was die Glut verzehret, ersetze diesen Brand,
so wollen wir von neuen uns deiner Güte freuen und ehren dankbar deine
Hand. Gott erhöre uns (auch in Lübeln 1805).
Aus- und Eingang segne Gott (Dolgow).
7. Gelobt sei Gott.
Gott Vater, ach für Glut und Brand und andre Not schütz unser Land,
dafs unser Mund von Klagen frei dir u. s. w.
Was Gott thut, das ist wohlgethan, es bleibt gerecht sein Wille (die
ganze Strophe bis „walten").
Joachim Heinrich Flaack, den 6. März Anno 1835. Dorothea Elisabeth
Flaack, geb. Glabbatz (Bebenstorf).
8. Gott mit uns.
Ein unglücklicher Abend, der 1. Oktober 1834. Mein ganzes Vermögen
wurde ein Baub der Flammen.
Meine Seele wankte, da rief ich Gott an und kriegte Trost. Herr,
wenn ich deinen Trost nicht hätte, so möchte meine Seele verschmachten.
Mein Schöpfer, steh mir bei, sei meines Lebens Licht, dein Auge leite mich.
Johann Friedrich Härtens, den 28. April Anno 1885. Anna Elisabeth
Martens, geb. Glabbatz (Bebenstorf).
9. Gott schütze dies Haus.
Ich baue u. s. w.
Was das Feuer u. s. w.
An Gottes Segen ist alles gelegen.
(Buchstäblich, vergl. Abb. 154, sei folgende Inschrift wiedergegeben):
Ach Gott dis ganze Haus bewar für Feuer-Schaden und Gefar.
Jesu Mein Trost Hilf Freude und zier Mein Haufs und Hertz Stehet
Hoffen dir Ach Komme mit deinen Segen darein so Werde Ich reich und
selich sein.
Joachim Glassak, Maria Elisabet Bacheratzen, den 27. April 1726.
360
Die Polaben.
P
P
n
-t
cn
o-
n
H
W
C
c
N
P
p-
Q
>-
P-
D
s
g §
p £_
5> *
» »
B *
2 o:
p; »
es: p-
? e:
p
er
CD
o
5T
?-
p* .*>
p-
2 S
~g
»
B &
CD
o
V
p
0 p-
p
• <■>
SB'
o
p- pj
1 8
1 *
g- o.
&■»
< OB
© 0Q
P ©
Q. CD
p &
P3 B
o
r CD
0
M
P
ö
O:
P
P
Kleidung und Gerät. 361
10. Was Gott thut, das ist was Gott thut das ist. (Bete und arbeite.)
Dies Haus lafs gesegnet sein vom Anfang bis zum Ende. Wo u. s. w.
Christoffer Motterhom (?), Catharina Elisabeth M., den 25. April
A. D. 1777.
11. Gott ist, der das Vermögen schafft, was Gutes zu vollbringen, er
giebt uns Segen, Mut und Kraft und läfst das Werk gelingen. Ist er mit
uns, giebt sein Gedeihn, so mufs der Zug gesegnet sein.
Joachim Christoph Schulz. Anna Elisabeth Schulzen, d. 28. März 1827.
III. Kleidung und Gerät.
Die Wohlhabenheit der Polaben hat es mit sich gebracht, dals
Kleidung und Gerät immer moderner wurden und jetzt fast nirgend
von dem in anderen deutschen Dörfern üblichen abweichen. Aulser
der Abendmahltracht alter Frauen und der tütenf örmigen , weifsen
Kopfbedeckung einiger Polabinnen kann man wohl noch einmal bei
einer goldenen Hochzeit die aufbewahrte, alte, prunkende Brauttracht
sehen, die hier und da in den mächtig grofsen Koffern bewahrt wird;
aber auch sie war nur eine Entwickelungsform und war, wie alle
polabischen Trachten, so häufig der Veränderung unterworfen, dafs der
alte Partim Schulze gewissenhaft von Zeit zu Zeit berichtet, welcher
Luxus in dem und jenem Jahre Mode sei 1). Am reichhaltigsten bewahren
x) Parum Schulze, Annalen 274: Zu der Zeit (um 1640) haben die Weiber
peltze getragen wöchentlich zu 2 Thlr., Sonntages zu 4 Thlr., Pesttages zu 7 Thlr.,
haben auch Schöne von Mefsing mit gelenken und ketten Kliedergörtel ge-
tragen, sie haben auch am halfse Mefsings Pfennnige getragen, in Eysern
rinken gefafste schöne Bilder darein gegraben, sie sind so grofs gewesen als
«in Bev Espen Laub Blat. Ein jede Frau hat wohl 6 oder 7 am halse
getragen auff Messing Ketten und wan sie gegangen oder gebücket, hat es
geklunkert. — Dirne sontages allezeit mit geschwenzten hären und blanken
häupt, 8chuhe mit grosse Beillöcher, daüs über leder war gantz voll Löcher
geschlagen, dennoch war es unterfuttert.
Zu 1680 das ich gesehen habe, da trugen die Weiber Wämser mit
kurze Leib voll Fischbeinen auch mit vielen gleichen und krummen Näden
Beer Breitte und kurtze hermein mit 4 kurze schönten 4 Vinger breit lang,
hernach algemälich etwafs länger schotten und hone fischebein.
Zu 1700 wahren die Weiber Wämser Eben so lang alfs der Bock, doch
nicht mit allen, sondern die* sich wafs erfürthun wollten vor andern, die
andern hatten nuhr einer Ellen lang.
Zu 1720. Die schotten an die Wämser sindt nuhr ein spannen lang.
Tor diesen wurden die Weiberröcke gefifselt, anitzo gildt das auch nicht
mehr. (Vor 1700 beim Kirchgang weifse „Flünckmüzen", dann „häuben unter
halfse zuzubinden", nach 1700 allerhand bunte Mützen mit grofsen güldenen
Bluhnen und „seyden verblümte Mützen". Nach 1720: „seyden oder Dam-
mafsen ohne Blumen" mit „ silbernen oder goldnen Tressen", „sonst gildt" es
nicht. Bei der Männertracht erwähnt er 1680 „weise Beiderfanfs strümffe
schuhe mit Kiemen von schuleder geschnitten oder mit schnür die schuhe
zugebunden, weise linnen auch weise „ Beiderfanfs" -hosen, -hemd mit
„hacken". Der Bock hing auf dem Leibe „als ein Sack". 1690 kamen die
bei ' Krämern käuflichen kattunenen mit Baumwolle und schaffwolle „ge-
362 Die Polaben.
die Museen zu Lüneburg und Lübeln Kleidung und Gerät der Polaben.
Lehrer Mente-Rebenstorf besitzt auch eine schöne Sammlung; seinem
Abb 163- Besitze entstammen die
Trachten unserer Ab-
' bildungen.
Das Lüneburg er
grobe Museum hat eine
von ihm gestiftete be-
sondere Wendenstube,
der Hauptsache nach
Gegenstände enthaltend,
die bis vor kurzem in
Gebrauch waren. Ein
wendisches Brautpaar
um 1800, angethan mit
Original kl ei dang und
-schmuck bildet den
Mittelpunkt (Abb. 163).
Goldene, silberne and
Myrten braut krönen ,
Timpmützen in verschie-
denen Formen und
Farben, wie sie beim
Trauern , Austrauern,
bei tiefer Trauer, heim
Abendmahle und bei
freudigen Angelegen-
beiten gebräuchlich
waren Kopftücher, Kin-
dermützen, Nacken- und
Kragen schleifen, Trauer-
kragen , Abendmahl-
tücber und -schürzen,
Tanzoberhemden, Stirn-
binden , Mützen - und
Kranzbänder, Band-
Hocbzeitepaar um 1800. schuhe und Schürzen,
(N.ch einer Photogr. yon Steinbacher-Sikwedel.) Wams Und Ziereinsatz
bietet sich uns in allen
Mannigfaltigkeiten dar. Auch lange silberne Ohrbommeln und anderer
Zierat ist beigefügt. — Die männliche Tracht tritt uns in langen Feld-
stoppeten" Brusttücher auf, wenn man nach Lüchow ging nahm man Schuh
und Strümpfe auf den Stock und lief barfufi. Sie Hüte waren .sehr lang
und rund spitz", ohne Krampe, dann kamen kleine, nach 1690 grofse
Krämpenhüte auf.)
rocken und kurzen Jacken, langen and kurzen Hosen, in schönen
„Sieben thalern] fitzen", Klapp*, Winter- und Zipfelmützen, Halsbinden,
Spinnerin um 1880.
(Nach einer Photographie ton Bergm an n-Lüthow.)
ungewöhnlich hohen und breiten Cylindern, Seiden weeten und Leinen-
anzügen, Markt- und Feiertags! rächten entgegen. Eine silberne Meer-
soha um pfeife mit gesticktem Tabaksbeutel und Pfeifenstocher scheint
364 Die Polaben.
des Bräutigams untrennbares Gut gewesen zu sein. Brille, Schnupf-
tabaksdose, Bürste und Uhrkette, Schuhspangen, bunte Schirme und
etwa 1 Viin hohe, mit langem Silberbeschlag versehene Spazierstöcke
vervollkommneten den äufseren Menschen. Ein Donnerkeil wurde gegen
Krämpfe gebraucht. An Mannigfaltigkeit stehen die Hausgeräte nicht
Abb. 165.
Grofsvnter mit Haspel um 1880.
{Nach einer Photographie von Bergmann-Lüchow.)
nach, ich habe aber kein einziges Stück gesehen, das in derselben Art
nicht auch vor 50 bis 100 Jahren im Elster- und PI ei fs engebiet ge-
braucht worden wäre. Wir sehen den dauerhaften Tisch mit derben
Holzstühlen und Bänken, Lehnstuhl, Wiege, Koffern, Schemeln, Spinn-
stuhl und Spinnrad (Abb. 164 a. v. S.), eine Zunderschachte], deren linke
Gerät. Geratsprüche. 365
rechteckige Vertiefung Schwefelfaden, Stahl und Stein, deren rechte
quadratische aber Zunder enthält. Zinnerne Teller, Kannen, Krüge, mit
Deckel versehen, Salzfäfschen (1 dm hoch und breit), Butterteller (2 dm
hoch und breit), Leuchter erinnern an Wohlhabenheit. Tassen und Milch-
töpfe, Butterdosen und Kiepen, Suppenschalen und Branntweinbowlen,
Sand- und Standuhren, Lampen mit birnenförmigem, die Zeit anzeigen-
dem Glasbehälter, grofse Holzschachteln für Tücher und Schürzen
ergänzten das Hausgerät. Gesangbuch und Hauspostille und ein paar
Schriften von Hennigs verraten, dafs auch geistige Interessen nicht
ganz mangelten.
Hechel und Haspel (Abb. 165), Baakhammer und Multer, Schwing-
block und Schwinge, Garnrolle, Spulkorb und Spulrad, Nähkorb und
Hakenpflug gemahnen an die Beschäftigung der Polaben, die Kirchen-
stöcke an eine weit verbreitete kirchliche Einrichtung. Vieles eigen-
artige, dem Wendland angehörige, ist aulserhalb der Wenden stube
unter die allgemeinen Sammlungen eingereiht. Die alten, teilweise
recht zierlich geformten Urnen, wie sie in grofser Zahl zu Rebenstorf
gefunden worden sind, enthielten aufser Birkenharz, Beinkämmen,
Kleiderresten , Spangen, Fibeln, Hefteln, Nadeln, Schnallen, Nägeln,
Nieten, Messern, Scheren, Schlüsseln, Spi nn wirtein , Perlen, Ringen,
besonders Münzen aus der Zeit des Antoninus Pius (138 bis 161)
und Gallienus. Nach der gewöhnlichen Annahme entstammen diese
also vorwendischer Zeit; dies gilt natürlich auch von den bei Dannen-
berg gefundenen Brakteaten und von den Steinbeil- und Bronze-
funden. Dagegen ist die sogenannte Wendenkrone mittelalterliches
Erzeugnis. Eine Eigenart bewahren zahlreiche Gegenstände, insofern
sie mit Inschriften versehen sind. Aufser Grabplatten und Hausgiebel
versah der Polabe auch seine grofsen Holzschachteln, seine Teller,
seine Schränke und Zierfenster mit Sprüchen. Die bunten Holz-
schachteln, deren ovale Grundform über y8m lang ist, haben auf dem
Deckel meist ein farbiges Bild, ein Liebespaar und einige Bäume oder
dergleichen darstellend. Darunter stehen die Verse:
„Geh sie mir aus dem Angesicht,
Denn sie ist meines gleichen nicht."
Oder: „Auf dem Markt zu Satemin,
Tanz ich mit meiner Katherin."
Oder: „Auf dem Markte zu Satemin,
Da tanzten wir sonst nach der Violin. u
Ein grofser Schrank des Lüneburger Museums enthält plattdeutsch
folgende Inschrift:
„Ein neues Haus, gesunder Leib,
Ein reinlich Bett, ein schönes Weih,
Ein frisches Brot, ein gut Glas Wein,
Was kann auf Erden besser sein?8
366 Die Polaben.
Die unbeholfenen Glasfenster aber bieten in der Mitte einen Reiter
dar oder ein Schiff oder einen Kammerwagen, dessen Pferde Hirsch-
geweihe zieren; unter diesen Figuren steht dann der Name des Besitzers.
Rundum aber befinden sich Verse, wie die folgenden:
1. „Was frage ich nach der bösen Welt,
Ob sie mich lobe oder schelt
Ich habe für mich ein' treuen Gott,
Der beschert mir wohl mein täglich Brot."
2. „Geld ist Geld, Welt ist Welt,
Wohl dem, der seinen ehrlichen Namen behält,"
i
8. „Glauben halten ist wohl fein, j
Gedenke du junges Mädelein,
Und lafs dich nicht betriegen,
Sonst mufst du rumpeln mit der Wiegen/
4. „Distel und Dorn stechen sehr,
Aber falsche Zungen noch viel mehr,
Doch will ich mich lieber in Disteln und Dornen baden,
Als mit falschen Zungen sollen beladen."
5. (Claus Singelmann 1720:)
„Alles mit Gott thu fangen an,
So wirst du Glück und Segen han."
6. Menschen-Fleifs gar nichts gelingt,
Wo Gott nicht seinen Segen bringt."
7. „Feinde kommen zum andern in der Nacht,
Aber Mann und Weib noch viel mehr."
8. „Wem Gott nicht giebt Bein Rat und Gunst,
So ist all unser Thun umsonst."
9. Ps. 38, 8 (? 19):
„Ich zeige meine Missethat an
Und sorge für meine Sünde."
Das Lubelner Museum, das leider der nötigen Pflege entbehrt,
enthalt einige interessante Stücke neben vielem Altbekannten. Ein
40 cm langer, 10 cm starker, vorn abgeschrägter Granitcylinder wird
als Pflug- oder Hakenspitze (?) gedeutet. Daneben wäre die 35 cm lange
und breite, herzförmige Eisenpflugspitze und ein noch spitzeres Haken-
pflugeisen allerdings ein bedeutender Fortschritt. Da die Stücke des
Lubelner Museums sämtlich der nächsten Umgebung entstammen, ge-
währen sie ein hübsches historisches Bild. Da liegt friedlich Steinaxt
und ovaler Handmahlstein neben den Uniformen der Lützower, der
wendischen Braut und dem Marktgänger, mächtig grofse Haarkämme
neben alten Geschossen und Feuerzeugen. Ein salzfafsähnliches Näpf-
chen hatte den Zweck „Feuer zu erhalten a. Eine meterlange Halskette
mit Halsring, Gliedern und Schlots erinnert an die Zeit entwürdigender
Eirchenbulse. Eine viertelmeterhohe Tabaksdose, eine ebenso lange
blecherne und zinnerne Öllampe, eine Goldwage, eine grofse Laterne
Lü belli er Museum. 367
mit hornenem Lichtloch, eine uralte thöneme Kinderklapper <) in
Henschenfonn, zahlreiche glasierte und nngiasierte, rasen- and krug-
förmige Urnen fesseln unser Augenmerk. Ein Bauer ist dargestellt,
wie er nach der Stadt auf- Abb. ica.
bricht. Er hat eine lang-
gestreifte, grün und rote,
kurze Jacke und zuge-
knöpfte Weste, entere Ist
offen and rechts und links
mit sechs Silberknöpfen be-
setzt. An die weifsen Knie-
hosen sind die W ollen -
strumpfe angefädelt. Die
Ledersehuhe sind vorn mit
einer gelben rechteckigen
Schnalle verziert, so dals
noch der Strumpf durch-
schimmert. An einem
Jaokenknopf hangt der
Tabaksbeutel mit Zubehör,
im Munde halt der Bauer
die schöne topf ähnliche
Meerschaum pfeife. Den Eopf
ziert ein schwarzer Drei-
master mit schwarzweila-
gelbschwarzer Kokarde in
der Form einer halben
Ellipse. In der Hand halt
er den langen Spazier-
etock. — Statt der Silber-
knöpfe sieht man auf
anderen Kleidungsstücken
grolse Mes singknöpfe, statt
der weifsen Hosen lang-
streifige bunte; die Jacke
sieht schwarz aus. — Der
Brautkranz aber ist mit
seiner Raute und Füttern, Markt" und Tanzanzug bis 1880.
yielen Bändern und Ge- <Nwh einer Phrto«*- Ton »t.i.bwWr-Sabw«.)
hängen aufs verschiedenartigste verziert; der schwarze Brautrock berührt
den Boden, die weifse Brantschürze uruschlielst den Rock (Abb. 166).
Bekanntlich ist in der Mark bei alter Tracht die Schürze länger ab der
Rock. („Die Schürze ist länger als der Rock, das Mädel ist aus Jüterbogk".)
') Vgl. Verband!, der Berliner Anthrop. Ges., 16. Januar 1892.
368 Die Folaben.
Hier sei noch einiger eigentümlicher Ausdrücke gedacht, wie
Paggeleitz (Brot in Huf ei Benform), Poleitzki (Büchse), Anatter oder
Heinotter (Storch), Aust (Erntefest), Kost (Festspeise), Kuwwel (feines
Roggenbrot) etc. Charakteristisch ist die Behandlung des anlautenden
Vokals; man sagt für „Der Hase hängt auf dem Hofe an dem Haken14:
„de as ängt hupn of han aken"; diese Mundart heilst „Wendisch-Platt a.
In einem Gedichte „Yördüssen un ups t uns" (Einst und jetzt) wird
in der bekannten, das Alte gegenüber dem Neuen verhimmelnden Weise
das Leben im hannoverschen Wendlande geschildert. Ehemals habe
der Vater Sonntags in der Bibel gelesen und den Sohn dazu angehalten ;
die Leute seien stark, arbeitsam und fromm gewesen. Jetzt aber kämen
Andort und Johann, das Mittagbrot sei noch nicht ordentlich verzehrt,
und holten den Freund in den Krug ab. Der werfe sofort den Löffel
weg und springe herbei, da werde „bit in de sinkne Nacht u getanzt
und jubiliert; man laufe in fünf, sechs Krüge, habe den anderen Tag
Katzenjammer und sei mürrisch, verdrielslich und — ohne Geld.
Heet dat, de Welt is upgeklärt,
De Welt is keen Schott Pulwer wert.
Un ich möcht schier wohl judezeern,
Bat doch de Ollen klöker warn.
IV. Feste und Gebräuche.
1. Hochzeit. Bas grölste und wichtigste Fest im Hause des
Polaben ist die Hochzeit 1). Die jungen Leute lernen sich meist auf
l) Hochzeitsschilderung von Mente: „Bräutigam, Vorreiter und Kranz-
deeriis ziehen in das Haus der Braut. Nachdem sie dort Kaffee und Grog
genossen haben, beginnt die Bückfahrt, die eigentliche Brautfahrt. Während
des Kaffees wird der Schappenwagen beladen mit Sohapp (Schrank), Koffer,
Betten, Spiegel, Spinnrad, Stühlen u. s. w., auch stellt man hohe Braunkohl-
pflanzen (Körschen) zum Schmuck auf den Wagen. Die Jünglinge stellen
sich oben auf die Wagenleiter und halten sich am festgebundenen Schranke.
Hinten auf dem Wagen und neben dem Schranke sitzen und stehen die
Kranzdeerns. Vorn auf zwei Stühlen, oder auf einem vollgestopften Sack,
nehmen Bräutigam und Braut Platz. Bunter ihnen die Korfmömke (nächste
Verwandte des oder der Einheiratenden) mit einem Korbe voll Pfeffernüsse,
die auf dem Wege unter die Kinder und Zuschauer geworfen werden. Als
Geschenk für diese Arbeit bekommt die Korfmömke ein seidenes Tuch. Der
Schappenwagen (Ernteleiterwagen) wird von vier Pferden gezogen, das Riedel-
pferd hinten trägt den Fuhrmann, dessen Peitsche mit bunten seidenen
Bändern geziert ist; aufserdem trägt derselbe auf dem Bücken ein grofses,
buntes, seidenes Tuch, welches ihm von der Braut geschenkt wurde. Die
Pferde werden am Kopfe mit bunten, gemachten Blumen geschmückt. Nach-
dem der Bräutigam von der Braut die Zusage erhalten, dafs sie mit will,
und die Musikanten, deren Instrumente mit bunten Taschentüchern ge-
schmückt sind, einige Weisen wie : Bis hieher hat mich Gott gebracht, — Nun
danket alle Gott, — So leb denn wohl, — gespielt haben, setzt sich der Zug
zum Hochzeitshause in Bewegung. Voran der Schappenwagen, dahinter der
Hochzeitsgebräuche in Bebenstorf. &369
dem Tanz oder Jahrmarkt kennen; die Verbindung aber wird Ton den
Eltern oder Verwandten betrieben. Selten heiratet man sich ohne Ver-
Musikanten wagen, dann andere der Hochzeitsgäste, zuletzt der vorerwähnte
Brotwagen. Nebenher die Beireiter. Nachdem sie das Dorf verlassen, jagen
einige Beireiter in tollem Galopp dem Hochzeitsorte zu. Wer zuerst das
Haus erreicht, erhält eine Wurst und eine Flasche Wein, womit er zum
Hochzeitswagen zurückkehrt. Sobald der Wagen an der Feldmarksgrenze
des neuen Heimatsortes der Braut angekommen, wird Halt gemacht. Hier
wird getrunken und zwischen Braut und Fuhrmann findet ein Zwiegespräch
statt (Fuhrmann: a Jungfer Brut, wer föhrt die?* Braut: „Gott un god
Lüt"), wobei die Braut dem Fuhrmann Geld in den Hut wirft und die geleerte
Flasche Wein am Wagenrade kaputt geworfen wird.
Bei der Ankunft fährt der Schappenwagen direkt ins Haus des Bräuti-
gams. Die junge Braut wird von den Schwiegereltern in Empfang genommen
und begrüfst, wogegen die Braut denselben ein Geldgeschenk aushändigt.
Es beginnt nun auf der Diele, die sich mit neugierigen Dorfbewohnern an-
gefüllt hat, das Abladen. Dieses wird meistens durch die Dorfleute, die
nicht zur Hochzeit geladen, besorgt. Die neue Schwiegermutter (oder
Schwägerin) trägt das Bett in die Brautbutze (Kammer). In den Betten
findet dieselbe wieder Geld und ein seidenes Tuch. Alle anderen Sachen
werden kurze Zeit zur Schau auf der grofsen Diele ausgestellt.
Es folgt nun das allgemeine Frühstück, Braaels und Kopfwurst, wozu
Semmel, Brot und Butter gegeben wird. Die Zuschauer auf der grofsen
Diele erhalten Pfeffernüsse, Kuchen, Bier und Grog.
Nach dem Frühstück wird zum Traugang gerüstet, der sich etwa um
12 Uhr in Bewegung setzt, und zwar immer zu Fufs, nachher zu Wagen.
Voran die Musikanten, dann folgt die Braut mit ihren nächsten Verwandten
(Truleirer), dahinter der Bräutigam mit seinen Verwandten. Bei der Auf-
stellung in der Kirche steht vor der Trauung die Braut mit ihren Trau-
leitern rechts vor dem Altar, der Bräutigam mit Trauleitern links. Nach
der Trauung tritt die Braut links zu den Trauleitern des Bräutigams, der
Bräutigam zu denen der Braut rechts. Bei der Trauung wird gesungen:
Bis hieher hat mich Gott gebracht , wobei die Musikanten blasen. Auf dem
Bückgange kommt hinter den Musikanten zuerst der junge Mann und Trau-
leiter der Braut, dann die junge Frau mit den Trauleitern des Bräutigams.
Vor dem Hochzeitshause angekommen, werden sie von den Eltern und
Schwiegereltern empfangen, wobei die Väter Wein, die Mütter Kringel und
Kuchen reichen, und zwar zuerst dem jungen Ehepaar, dann den Trauleitern
und den Gästen.
Sofort geht es nun zum Mittagessen. Das junge Ehepaar mit den Trau-
leitern nehmen am Tische in der grofsen Stube (Dönz) Platz. Die Gaste,
welche Messer und Gabeln von Hause mitgebracht haben, setzen sich teils
in Stuben, teils auf der grofsen Diele zum Essen. Der Trautisch ist unter
anderem auch mit Butter, worin Rosmarin gesteckt, geschmückt.
Bei dem Essen werden dann folgende Sammlungen gehalten: Zuerst
kommt der Koch, in der Hand eine Schaumkelle, worauf alle ein Geldstück
legen. Am Trautisch gewöhnlich 50 Pf. oder 1 Mk. , andere geben gewöhn-
lich ein Zehnpfennigstück. Dann folgt der Schenker, in der Hand ein
Schnapsglas, worein das Geld geworfen wird.
Dann kommt die Abwäscherin (SchÖttelsch) , in der Hand einen Teller
haltend, worin ein kleines Strohbündchen (Schürwieb) liegt, und sammelt
darauf ihre Geschenke. Zuletzt kommt ein Musikant, ebenfalls einen Teller
in der Hand, worauf ein Mundstück einer Trompete liegt, und sammelt
Tetsner, Die Slawen in Deutschland. 24
1
370 Die Polaben.
mittler oder Freiwerber. Der Bräutigam wird dann ins Hans der
Schwiegereltern zu Besuch eingeladen. Will aber die Braut einheiraten,
so fragen ihre Verwandten an. Man kauft sich dann in Lüchow zu-
sammen Geschenke: Ringe, Kleidungsstücke; früher mufste die meer-
schaumene Pfeife, Beutel, „Piepenpurrer" und eine Sieben thalermütz«
dabei sein. Nun wird eine regelrechte Verlobung gefeiert, und die
Verwandten besuchen sich gegenseitig und gehen durch die Thorthür,
„sonst geht die Verlobung zurück u. Es wird jetzt genau ausgemacht,
was man beiderseits mitgiebt. Nach Einigung setzt man die Hochzeit
auf Frühjahr oder Herbst fest. Bei der Verlobung (Löft) schenkt der
Einheiratende (Einkommer) dem zukünftigen Schwiegervater ein Hals-
tuch, der Schwiegermutter 50 bis 100 Ellen feine Leinwand, ein Tuch
Geldgeschenke. Während dieser Sammlungen wird von den anderen Musi-
kanten gespielt.
Nach dem Mittagessen wird getanzt und Karten gespielt. Sobald die
Dunkelheit anbricht, wird der Ehren tanz aufgeführt. In einem länglichen
Kreis stellen sich sämtliche Kranzjungfern, in den Händen brennende Stearin-
lichte haltend, auf, und zwar auf der Diele, rechts die Verwandten des
jungen Mannes, links die der jungen Frau, die nächsten oben, d. h. am
Kamin. Hinter diesen Mädchen nehmen andere Verwandte und Gäste
sowie fremde Zuschauer Aufstellung, wobei manche auf dem Kuhkaben
stehen, andere oft auf den über dem Kuhstall befindlichen Bistall klettern.
Nun beginnt der Ehrentanz. Zuerst tritt der nächste Trauleiter des Bräuti-
gams, auf dem Bücken mit Bändern geschmückt, in den erleuchteten Kreis
und tanzt mit der jungen Frau vier Tänze. Nach dem dritten Tanze wirft
er einige harte Thaler für die Musikanten auf den Teller, der auf dem
Musikantentische steht, so dafs der Teller in Scherben bricht. Nun er-
scheinen die Schwiegereltern und kredenzen Kuchen und Wein. Nach dem
vierten Tanze bringt dieser Trauführer die junge Frau zum zweiten Trau-
leiter und die Tanzerei beginnt in gleicher Weise, so beim dritten und
vierten Trauleiter. Der letzte Trauführer bringt die junge Frau zu ihrem
Mann, der dann auch in gleicher Weise vier Tänze (Klappeis) mit ihr
tanzt. Bei allen wiederholt sich nach dem dritten Tanze das Geldwerfen
und Darreichung des Kuchens, Krüge und des Weins. Nun kommt ein
Tanz, wo der junge Mann mit Frau sowie alle vier Trauleiter mit ihren
Damen zusammen tanzen. Während dieses Tanzes laufen der junge Mann
und die junge Frau den Kreis herum und schlagen mit Taschentüchern die
Lichte aus. Wer die Lichte seiner Damen beim Ehrentanz zuerst gelöscht
bekommt, der lebt am längsten. Damit ist der Ehrentanz zu Ende. Nun
beginnt das allgemeine Tanzen. Am zweiten Hochzeitstage trägt die Frau
noch Krone und tanzt mit allen Fuhrleuten, die jeder einen Thaler für die
Musikanten werfen. Abends 12 Uhr bilden die jungen Mädchen einen läng-
lichen Kreis (ohne Lichte), in welchem die nächste Verwandte mit der
jungen Frau tanzt, wonach ihr die Krone abgenommen und durch die rote
oder goldene Mütze ersetzt wird. In dieser Tracht tanzt die junge Frau
auch am dritten Hochzeitstage. Bei dem allgemeinen Tanze fordern die
Tänzer auf und bezahlen immer nach dem dritten Tanze. Nach Beendigung
der vier Tänze (Klappeis) wird mit Händen geklatscht, jeder Herr nimmt
jetzt eine andere Dame zu den nächsten vier Tänzen. Am zweiten Hochzeits-
tage müssen auch die tanzenden Mädchen und Frauen jede einmal auf-
fordern und ebenfalls zahlen.
Hochzeitsgebräuche. 371
und 50 bis 100 Mk. Löftengeld, den Geschwistern und Dienstboten
Tücher oder Schürzen.
Zum Polterabend erschallen die zerbrechenden Töpfe; 200 bis
300 Gaste aus einem Dutzend Gemeinden werden zu einer grolsen
Hochzeit persönlich oder durch Verwandte eingeladen. Die eingeladene
Familie läfst sich wieder von einer befreundeten fahren, die nun
gleichfalls Gast ist. Messer und Gabeln, Betten und Geschenke, als
Mehl, Eier, Butter, geschlachtete Hühner bringen die Gäste mit ins
Hochzeitshaus. Der „Peerjung", der die eingeladene und befreundete
Familie fährt, ladet alles ab und fährt dann zurück, um am Ende der
Hochzeit seine Leute wieder zu holen. Beidemale bekommt er Essen
und Trinken und eine Flasche Schnaps. Die Hochzeit dauert zwei bis
drei Tage. So werden bei einer grolsen zwei Ochsen, zwei Kälber,
drei Schweine geschlachtet, Brot und Kuchen in Menge gebacken, Bier
und Schnaps in Massen angefahren. Sobald die Gäste ankommen, wird
ein tüchtiges Frühstück (Kopfwurst und Braaels) eingenommen. Die
200 bis 300 Gäste finden in der Scheune oder einem Zelte Platz und
müssen aufeinander warten, wenn das Gewühl zu grots ist. Alles wird
auf einmal aufgetragen. Das Hauptessen aber findet mittags nach der
Trauung statt. Die Hochzeitsgeschenke bestehen in Geld, Mehl,
Butter u. s. w. zur Bestreitung der Hochzeitskosten. Obenan in der
Dönz sitzen beim Hochzeitsmahl Braut und Bräutigam, die Ver-
wandten daneben. Gedichte humoristischer Art, die sich auf das
Eheleben beziehen und nicht immer fein sind, werden neuerdings vor-
getragen. Zehn Musikanten spielen mit Blechinstrumenten, Geigen,
Klarinetten. Sie mulsten ehemals grofse Hochzeitsgaben geben, und
wurden erst nach Verhandlungen darüber angenommen. Die Gäste
gaben nämlich den Musikanten je drei bis vier Thaler für verlangte
Musik und wollten sich dabei besonders zeigen. Bei den Ehrentänzen
tanzt die Braut ganz allein mit jedem Verwandten, zuletzt der Bräutigam
mit der Braut Am letzten Tage wird der Braut von den Frauen der
Kranz abgenommen. Die Mädchen bilden einen Kreis um die Braut,
die Frauen suchen durchzubrechen und die Braut zu rauben. Gelingt
dies endlich, so schlägt eine Frau ein Taschentuch über den Kopf der
Braut, setzt ihr dann eine schwarze oder goldene Timpmütze auf, und
die Hochzeit hat ein Ende. Die Gäste bekommen „Korb", ihr Tuch
voll Kuchen und Pfeffernüsse, und fahren nach Hause.
Stammt die Braut aus einem anderen Dorfe, so holt der Bräutigam
mit seinen Brautjungfern reitend oder fahrend mit Vorreitern und vier
bis fünf Wagen die Braut ab. Die Vorreiter stürmen wie die wilde
Jagd, holen die Braut, andere sprengen und holen Wurst von der
fahrenden Gesellschaft und bringen sie und den Kammer wagen zurück,
bis der Bräutigam der Braut begegnet. An jeder Dorf grenze wird
Halt gemacht und die Braut gefragt: „Willst du mit, noch ist es
Zeit?" Die Knechte, die an der Dorf grenze stehen oder diese mit einem
24*
372 Die Polaben.
Strick sperren wollen, erhalten Geld, Pfeffernüsse oder wirkliche Nüsse.
Die Eorfmöhm wirft die Nüsse vom Wagen herunter. Gewöhnlich ist
dies die Schwägerin des einheiratenden Bräutigams, die Ankleidefrau der
Braut. Bei der Rückkunft von der Kirche wartet die Schwiegermutter
„vor der grolsen Thüru mit Kuchen oder Zuckerkringeln und Wein
für das junge Paar, den Festleiter, die Kranzjungfern und Gäste. —
Das langsame gemächliche Fahren des geschmückten Kammerwagens
und der Brautleute steht im Gegensatz zu der Jagd der Vorreiter.
Bei der Hochzeit werden noch heute verschiedene Förmlichkeiten
beobachtet. Das Brautpaar hat im Bett Geld, in der Tasche Weisen
u. dergl. oder mufs über die mit Korn und Stroh bedeckte Diele gehen,
„ damit die Ehe und der Hausstand gesegnet sei". Mit schlimmem
Finger geht man nicht vor den Altar. Wer die Hand oder den Daumen
bei der Trauung oben hat, bekommt die Herrschaft. Die Bräute treten
dem Bräutigam zu demselben Zwecke auf den Fufs oder schlafen auf
seinen Beinkleidern in der Brautnacht. Während des Kirchganges
darf sich das Brautpaar nicht umsehen und vorher nicht in den Spiegel
gucken, sonst sterben beide bald. Das Paar mufs sich zusammenstellen,
dafs niemand durchschauen und die Ehe trennen kann oder ihnen
etwas anthue. Erwartet der Bräutigam die vom Wagen in seine Arme
springende Braut, so muts er sie bis zur Mitte der Diele tragen, dafs
sie mit keinem Fufse die Erde berührt. In der Satemi ner Gegend
erhält das Brautpaar beim Eintritt in die Stube eine Suppe aus allen
möglichen Getreidearten, jetzt ein Glas Wein; das soll reiche Ernte
andeuten. Erntesegen erhofft man auch, wenn man beim Hochzeits-
gange Weizen in die Schuhe, Flachs in den Brautkranz legt Bindet
die Braut dem Bräutigam ein kleines Stöckchen ins Halstuch, oder zer-
bricht sie ein solches vor dem Altar, so hofft sie, nie geschlagen zu
werden. Giebt die Axt des Bräutigams beim Holzholen Feuerfunken,
so brennt das Auge weg. Wer am schnellsten vom Brautwagen
springt, ist in der Wirtschaft am flinksten. Der Bräutigam steckt der
Braut eine Nadel ins Zeug, das soll Verträglichkeit vorbedeuten. Wer
bei der Hochzeit zuerst am Tische sitzt oder zuerst aus dem Hause
tritt, stirbt zuerst. Wer sich zuerst umsieht, wird zuerst verwitwet
(„er sieht sich schon nach der neuen Frau um^). Leichter Regen in
den Brautkranz soll Glück bringen, anhaltender: Zwietracht, Wind:
Streit. Wessen Licht beim Ehrentanz zuerst verlöscht, der stirbt
zuerst. Beim Hochzeitsmahl essen Braut und Bräutigam von einem
Teller, dafs sie sich nie abgünstig werden. Ist bei der Hochzeit ein
Toter im Dorfe, so hat die Ehe keinen Bestand. Kommt der Hund
bei der Ankunft der Braut dieser freundlich entgegengesprungen, so
hat's die junge Frau im Hause gut. Beim Backen darf die Braut nicht
helfen, sonst gerät ihr in der Ehe das Brot nicht. Zur Aussteuer wird
stets ein Stück Brot gelegt. Hier und da geht das Brautpaar dreimal
stillschweigend um den Hochzeitswagen, schlechte Menschen könnten
■
Aberglaube und Lieder bei der Hochzeit. 873
sie sonst samt Wagen „versehen", Unglück auf der Brautfahrt ist von
schlechter Vorbedeutung 1).
Man schliefst die Ehen bei zunehmendem Mond, dals nichts
mangelt, und am liebsten Freitags. Leiht die Braut vor der Hochzeit
vom Bräutigam Geld, so hat sie später Verfügung über die Kasse.
Will sie überhaupt Über den Mann herrschen, so mufs sie vor dem
Altar ein im Handschuh verborgenes kleines Reis von Erbsenstroh
zerbrechen. Zahnschmerz verliert sie, wenn sie beim Abendmahl
hinterm Altar in einen kleinen Apfel beiist. Das wurde noch am
10. November 1887 in Dannenberg beobachtet; und bis zum Jahre
1865 wurde Jedem Bebenstorfer Konfirmanden von der Frau Pastorin
ein Apfel gereicht mit der Weisung, beim Abendmahl nach dem
Empfang des Brotes dreimal in den Apfel zu beifsen und ihn dann in
die Kirche zu werfen, dies helfe gegen Zahnschmerz. Wessen Trauring
bei der Trauung zur Erde fällt, der stirbt bald oder wird unglücklich;
wessen Licht am längsten brennt, der lebt am längsten. Wer zuerst
ins Haus geht, mufs die Sorgen tragen.
Wenn die Braut abgeholt wird, singt man u. a.:
„Ein pchönes Mädchen einsam safs
Im Wald bei einer Quelle,
Ihre Augen waren von Thränen nafs,
Schmerzvoll war. ihre Seele. —
Sie hatte ein so schön Gesicht,
Das jedermann entzückte,
Das Blümlein hiefs Vergifsmeinnicht,
Das sie am Ufer pflückte u. s. w.tf
(Vgl. auch B ah 1 mann, Münsterländische Märchen etc.
Münster 1898, S. 219.)
Bei der Hochzeitsfeier singt man:
„Der Jäger in dem grünen Wald
Mufs suchen seinen Aufenthalt,
Er ging bald hin, er ging bald her,
Ob auch nichts anzutreffen war u. s. w."
Oder: 1. „Du sagst, du wolltet mich nehmen,
Bis dafs der Sommer kam,
Der Sommer ist gekommen,
Du hast mich nicht genommen.
Ei, so nimm mich doch,
Ei, so nimm mich doch,
Ei, so nimm mich doch zu dir."
l) Vgl. Verzeichnifs einiger Posten des abergläubischen Wesens der
Land- und auch vieler Stadtleute, 1671, Archiv für slaw. Philologie 22,
S. 122 bis 126; vgl. auch 113 bis 122. Im ersten Abschnitt wird erzählt vom
Wohnbezirk der Eibslawen („Drawey"), im zweiten vom „Creutz- und Kronen-
bauma („Die Stete" hat hier ihren Sitz), im dritten von den „Sauff- Festen44,
im vierten von gewissen Tagen, im fünften vom Bauernrecht, im sechsten von
Züchtmeistern, im siebenten von Hochzeiten, im achten von Schwangerschaft,
Bademüttern und Kranken („abcantzlen"), im neunten vom Begräbnis, im
zehnten vom gewöhnlichen Leben.
374 Die Polaben.
2. „Wie kann ich dich denn nehmen,
Denn du bist ja gar nicht schön.
Du bist nicht schön von Angesicht,
Scher dich weg von mir,
Ich mag dich nicht,
Scher dich nur weg von mir.8
3. „Ich lieb ein andres Mädchen,
Sieht aus wie Milch und Blut,
Sie ifst mit mir, sie trinkt mit mir,
8ie schlaft die ganze Nacht mit mir,
Ei, das war schön von ihr."
4. „Sie hat auch einen Thaler,
Das ist ihr bares Geld,
Dafür lafs ich mir was waschen,
Meine Stiefel und Gamaschen,
Kauf mir Wichs dafür,
Wichs mir meine Stiefel und 8chuh."
Das durch Hennig; Eccard, Leibniz, Herder und Goethe unsterb-
lich gewordene „wendische Brautlied" unserer Polaben lebt im Volke
nicht mehr.
Wer soll Braut sein?
Die Eule soll Braut sein.
Die Eule sprach hinwieder zu ihnen den beiden:
Ich bin eine sehr gräfsliche Frau, kann die Braut nicht sein, ich kann
die Braut nicht sein.
Das Lied fährt in gleichem Tone fort , . der Zaunkönig will zum
Bräutigam zu winzig, die Krähe zum Brautführer zu schwarz, der
Wolf zum Koch zu tückisch, der Hase zum Mundschenken zu flüchtig,
der Storch zum Spielmann zu grofsschnablig sein, nur der Fuchs will
als Tisch den auseinandergeschlagenen Hintersten anbieten.
Das Lied sangen mindestens drei Personen mit verschiedenen
Stimmen, Zeile eins die erste, Zeile zwei die zweite, Zeile drei alle drei
Personen, Zeile vier die dritte. Am Schlüsse der letzten Strophe
trommelten die Sänger auf dem Tisch und schlugen darauf.
Ein Glück war's, wenn die Bäckerei geraten, nicht windiges Wetter,
wohl aber ein sanfter Regenguis herrschte; dann hatte der Segen kein
Ende. — An die polabische Hochzeit knüpft auch die bekannte Sage
vom Brautstein bei Woltersdorf an, nach der eine übermütige Hochzeits-
gesellschaft zu Stein verwandelt ward.
2. Krankheit und Begräbnis; Aberglauben. Krankheiten
kommen meist von aufsen oder werden einem angehext, entweder mit
Zaubersprüchen, oder indem man unbewulst über einen absichtlich
niedergelegten, mit unsauberen Stoffen gefüllten Lappen geht Beim
Vieh besonders ist man, wenn es nicht frifst oder nicht zunehmen will,
immer mit dem Wort zur Hand, es sei versehn. Gegen die Krankheit
hilft Besprechung. Die günstigste Zeit dafür ist Vollmond, abnehmender
Mond, Zeit vor Sonnenaufgang, nach Sonnenuntergang, und zwar unter
Zu Seite 374.
Ein Lied,1) || 2) welches die Wende singen, || wenn sie in Gesellschaft lu||stig
zuweilen lustig || sind.
s fr j- — K— ■ N .»
llg^M^
^
Katü mes Ninka bayt? Tel-ka mes Ninka bayt. Tel - ka ri-tzi
Wer soll Braut seyn? Die Eu-le soll Braut seyn. Die Eu-le sprach hin-
-A-» — K ' — N^jc — -^-
Woapak ka nei - mo ka dwe - mo : Jos gis wil - tya gris - na Se - na
wieder zu ih - nen den bey - den : Ich bin eine sehr hefs - li - che Frau,
¥
^
P^"^^^^^
!— b
\*^
i
2)
-Vkl
«E
Ne - mik Nin - ka
kann die Braut nicht
—m N- — V
4n j^—^^j\
Jos
ich
ne - mik
kann die
Nin - ka bayt.
■--?
_**:.
i
m
Braut nicht seyn.
-&
Das Lied bietet die sieben polabischen Strophen zwischen den beiden Notenlinien,
dann die deutsche Übersetzung mit der Anmerkung, wie das Lied zu singen ist (vgl.
S. 374). Es bildet den Schlufs der Handschrift „Vocabularium Venedicum | oder
Wendisches Wörter-Buch, | Von der Sprache, welche un | ter den Wenden in den Chur-
Braunschweig - Lüneburgischen | Ämtern Lüchow und Wustrow annoch im Schwange
gehet. | Nebst einer Vorrede von der Sprache | des Menschen und derselben Mannig- |
faltigkeit; insonderheit von der | Slavon- oder Wendischen Sprache. || (Lederband der
hannövr. Kgl.Bibl. in Quart 251 numerierte Blätter: 1 Titel, 2 bis 71 Vorrede, 73 bis 81
Übereinstimmende Wörter mit der sorbischen, polnischen und tschechischen Sprache,
81b bis 85 Wendische Städtenamen: Dieben, Glauchau, Halle, Leipzig, Zittau, Kamenz,
86 Vaterunser, 87 bis 243 Wörterbuch, 244 und 245 Zahlwörter, Monats- und Orts-
namen, 246 bis 251 obiges Lied, dessen erste Note oben g', unten h ist).
Die Handschrift rührt, mit Ausnahme des Textes bis Blatt 86, von Hennig selbst
her, wie ein Vergleich mit seiner Urschrift beweist. (Görlitzer „Vocabularium Vene-
dicum", „Teutsch -Wendisches Wörterbuch" und „Kurzer Bericht von der wendischen
Nation überhaupt; insonderheit von den Lüneburger Wenden und deren Abkunft, auch
von ihrem Pago, dem sogenanten Drawän, abgefalst Anno 1705".) Diese Handschriften
enthalten das Lied nicht, ebensowenig das im Übrigen ziemlich gleiche Vocabularium
Venedicum, 198 Blatt, der Göttinger Universitätsbibliothek, noch das Magdeburger
.Wendische Lexicon" (209 S.) und das Wolfenbütteler „Wörterbuch der im Lüneburgischen
ansässigen Wenden", 122 Blatt, noch das Werk „Wendisches und Teutsches Lexikon"
(vgl. S. 501; dieses Lexikon stimmt ziemlich mit dem der Kgl. hann. Bibliothek
„Gründlicher Unterricht von dem wendischen Pago, Drawän genannt", 63 Blatt,
überein). Dagegen hat Jugler (vgl. S. 349), der S. 393 f. aulser Buchholtzens
Vaterunser (1755) alle polabischen Schriftstücke bietet, auch aus Eccard ohne Noten
unser „Wendisches Trinklied". Nicht gesehen habe ich die Handschriften, die ehemals
in Sams, Zasenbeck und Celle lagen, und die von Potocki benutzte. Sie bieten, nach
allem, was darüber bekannt ist, aber nichts Neues.
l) Ich erhielt die Handschriften kurz vor Abschlufs der letzten Revision. — *) Zeilenanfange.
„Wendisches Brautlied/ Krankheit Tod. Begräbnisaberglaube. 375
freiem Himmel mit entblöfstem Haupt. Man sagt den Spruch ein-
oder dreimal und fügt stets am Ende dazu: „Im Namen Gottes des
Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes tt, die einen sagen noch
Amen, die anderen wollen es weggelassen wissen. Oft wird hei der
Besegnung geräuchert, und die Frau muls den Mann, der Mann die
Frau besprechen; niemand darf Geld dafür nehmen. Hilft die Be-
sprechung nichts, so läfst man von einem anderen besprechen oder
geht dann zum Wunderdoktor. „Hat es aber sein sollen a, so erfüllt
man stets den letzten Wunsch. Man zieht schnell das Kopfkissen weg
(„auf Hühnerfedern darf niemand sterben"), dals der Kranke leichter
sterben kann, hält mit Klagen ein und legt ihm ein Stück ungekochtes
Garn ins Bett. Man verhängt den Spiegel, legt ein Gesangbuch auf die
Brust und macht die Fenster auf, dafs die Seele entweichen kann. In
allen Ecken werden Lichter herumgetragen, die Uhr wird angehalten,
Hundeheulen, Toten wurmpicken vernimmt man nicht mehr. Alle
werden geweckt, dals nichts „in Todesschlaf verfällt u. Sogar das Samen-
getreide wird berührt, „sonst geht's nicht auf". Wird der Sarg hinaus-
gefahren (kein tragendes Tier fährt, sonst sterben die Füllen), so wirft
man die Bänke um, auf denen er stand, damit kein Grauen hinter-
lassen wird. Eins löscht die Lichter aus, mit denen man den Toten
zur Thür hinaus begleitet hat („um den Spuk oder Schrecken aus dem
Hause zu jagen"); zieht der Qualm ins Haus zurück, so stirbt bald
wieder einer. Das Stroh, auf dem der Sarg stand, wird entweder ver-
brannt, oder die Kinder gehen dann darüber, „dals ihnen nicht bangt vor
den Toten". Man kann vor dem Gottesacker weggeworfenes Stroh in
Menge liegen sehen. „Als Streu würde es das Vieh krank machen." Das
Sargmafs wird, wie bei den Slowinzen, mit ins Grab gelegt, ebenso eine
Schachtel Ungeziefer, der letzte Kamm und die letzten Tücher, aber kein
mit Namen versehenes Kleidungsstück und nicht neues Leinen. Stücke
des Leichentuches oder Berührung kranker Glieder mit der Leichen -
hand sollen gesund machen; das Treten auf den Ort, wo das Leichen-
wasser ausgegossen worden ist, macht krank. Begegnet dem Sarge ein
Bettler, ein Mann, eine Frau oder ein Kind, so stirbt bald darauf eine
gleichaltrige Person gleichen Geschlechts. Dasselbe geschieht, wenn
die Pferde nicken, wenn sich vom Trauerzuge einer umdreht oder am
Begräbnistage die Stiefel wichst. Leichen mit lächelnden Gesichtern
holen Verwandte nach. Regnet's ins offene Grab, so wird über den
nächsten Toten viel geweint. Dem Sarge gielst man Wasser nach und
falst sich oder den Toten am Fufs oder der Nase, dafs er nicht als
Geist erscheint. Aus demselben Grunde trägt man die Leiche nicht vor
einem Spiegel vorbei und vermeidet, dafs ein Tuchzipfel nach seinem
Munde weht. Geht der Strick vom Sarge nicht los, so verwest der
Tote bald. Wenn sich jemand über den Sarg legt und den Toten mit
Thränen benetzt, so holt der Tote die Verwandten nach. Will einer
nachgeholt werden, so muls er sich im Leichenzuge dreimal auf der
376 Die Polaben.
Stalle umdrehen. Das geschieht mitunter. Aufgehängten mala man
den Strick mitgeben. Erst werden die Beerdigung »gegenstände aufs
Abb. 167. Grab gelegt, spater ein merkwürdiges schwarzes
Holzkreuz in ziemlich rechteckiger, dem Grab-
raud angepaßter Ilolzfassung (Abb. 167). Aul
ihr stehen Bibelsprüche (Satemin , Küsten).
Bei allen Begrabnissen endet die Feier mit
Leichenbier im Reiheschank. — Die Gräber
werden gut gepflegt, oft, anfser Kreuz oder
Platte (Abb. 168), mit einem kleinen Holzstaket
Kreuz in grabgrofser umgeben, so data das Grab ein Garten scheint.
Fassung. Als Thür ist die Holzplatte zu denken. Ein
paar Küstener Grabsprüche heilsen:
1. Sucht mich nicht mehr in meiner Wiege,
Ich rohe jetzt in Oottea Behufs,
Wo ich auf lauter Rosen liege.
Ich zog gewifs das beste Los.
(Hier ruht Johann Heinrich Schübe, geboren 1. Jan. 1858, gestorben
22. Febr. 1859, alt geworden: 1 Jahr, 1 Monat, 22 Tage.)
2. Je größter Kreuz, je lieber Sterben.
(Hier ruhet der KassengeMlfe J. W. Jauch aus Küsten , geboren am
10. Jan. 1STD, gestorben am 23. Jan. 1893 im Alter von 23 Jahren.)
Auch ein „Höf ebesitzer " liegt auf diesem Gottesacker; man
sieht, an Stolz fehlt's nicht — Grabschmnck trägt man selten zn
Abb. 168.
=0
/YV|
w
^K
Hölzerna aufrecht stehende Kreuze und Grabplatten aus Holz.
(Küsten, Bebenstorf.)
Johanni oder am Totensonntag,' eher zn Ostern und Weihnachten aufs
Grab. Ganz besondere Vorsicht erfordert nun das Begräbnis eines
Doppels&ugers. Am 17. Februar 1883 wurde zn Grols-Heide and am
dieselbe Zeit anch anderwärts noch mancher „ Doppelgänger" begraben.
Wenn die Matter einem entwöhnten Kinde nochmals die Brust giebt,
so verwesen seine Lippen im Grabe nicht; es verzehrt im Grabe sein
Fleisch, zieht die Lebenskräfte der Verwandten ans und holt sie
ins Grab nach. Diesem Vampirismns sucht man zu begegnen. Han
giebt Toten, die man für Doppelsäuger hält, ein Geldstück mit ein-
geritztem Kreuz unter die Zunge. Unters Kinn wird ein Brett gelegt,
damit die Lippe nicht zar Brust kann , sorgfältig vermeidet man die
Doppelsäuger. Das zweite Gesicht. Fluch des Alters. Pröpelsprüche. 377
Berührung des Totenkleides mit den Lippen. Geht der Zug zur Tenne
hinaus, so hebt man die grolse Thürschwelle (Süll) hoch und trägt den
Sarg darunter weg. Dann macht man sie sofort wieder fest, dafs der
Doppelsäuger nicht zurück kann. Ähnliches berichtet Dr. R. Andree
vom Boldecker und Enesebecker Lande (Zeitschrift des Vereins für
Volkskunde 1897, S. 130 ff.).
Wie der Doppelsäuger nach dem Tode, so wird der mit dem
bösen Blick oder dem zweiten Gesicht behaftete im Leben den Men-
schen gefährlich. Man hütet sich vor solchen zweideutigen Leuten,
indem man ihnen möglichst aus dem Wege geht, sie besonders nicht
in Ställe lälst und ihren Ein flu Tb durch Besprecher wettmacht. Im
übrigen huldigte man der Anschauung, data der Kranke oder alters-
schwache Mensch am besten jenseits aufgehoben ist; gerade aus der
Polabengegend stammen alte Nachrichten von der Tötung alters-
schwacher Eltern. Die darob (1297) Betroffenen hielten sich für völlig
berechtigt dazu mit dem Hinweis, dals sie selbst froh wären, sich
ernähren zu können (Jammerholz bei Grabow). Auch die Erzählung
vom Knaben, der für seinen Vater einen Holzteller aufheben will, weil
er das schlechte Beispiel in der väterlichen Familie sieht, deutet auf
Geringschätzung der altersschwachen Eltern in früherer Zeit.
Pröpelsprüche. Jeder Spruch hat am Ende die in der ersten
Formel angegebenen Schlulsworte und wird meist dreimal hinterein-
ander gebetet.
1. Gegen den kalten Brand. Wie hoch is de Heven, wie rot is de
Kreft (Krebs), wie kolt is de Dodenhand, damit stillt man den kalten Brand.
Im Kamen Gottes des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes.
Amen.
2. Gegen Böse, Geschwulst und Hitze. Du sollst nicht reifsen,
nicht spleifsen, du sollst nicht weh thun} du sollst vergehen, als der Tau im
Gras! Oder: Du feurige Böse, du sollst nicht wehthun, du sollst nicht
stechen, du sollst nicht weiter gehen! Oder: Böse, du sollst nicht glühen,
du sollst nicht blühen, du sollst vergehen wie Tau im Gras! Oder: f Böse
t Böse f weiche, flieh auf eine Leiche und lafs die Lebenden befreit von
nun an bis in Ewigkeit!
3. Herzgespann bei Kindern (Verschwellung unter den Bippen).
Weich Bippengeripp, wie das Pferd aus der Krippe frifstl
4. Gegen Gicht. Birnbaum, ich klag dir all mein Reifsen und
Spleifsen, und die schwellende Gicht, die mich plagt Tag und Nacht, dafs
sich Gott im Himmel erbarmen mag. Der erste Vogel, welcher fliegt über
diese Kluft, nehme die Schmerzen mit in die Luft! (Ein andächtiges Vater-
unser drei Montage und drei Freitage abends vervollständigen die Wirkung.)
Oder: Fliefsend Wasser, ich klage dir, die reifsende Gicht plagt, ich trinke
dich, die reifsende Gicht verging mir! (Dabei trinkt man aus einem fliefsen-
den Wasser.)
5. Wenn ein junges Pferd zum erstenmal angespannt wird.
Schwarten, se schallen trecken vor Plog und vor Eggen, se schallen grat ut
gähn, se schallen nicht nach de Stränge schiahn! (Die Frau tritt still-
schweigend zum Pferde, macht die Stränge an den Wagen — verkehrt —
oder geht dreimal darum und murmelt dabei den Spruch.)
378 Die Polaben.
6. Wenn Kühe angelernt werden. Kogemanns Seel und Möllers
Seel und Krögers Seel, so wahr als de in Hölle kam, säst du Koh. för
Wagen gähn!
7. Gegen Flechten.
a) Die Fottasch und die Flechten, die flogen wohl über das weite Meer,
die Fottasch, die kommt wieder, die Flechte nimmermehr. (Nackt beim
Sprechen Pottasche gegen den Wind ins fliefsende Wasser streuen, vor- und
nachher schweigen.)
b) Fluha und Flecht flogen übern Steg, Fluha gewann und Flecht ver-
schwand. (Über einen Steg gehen.)
c) Flugasche und Flecht fechten sich um Hecht, Flugasche gewinnt,
Flecht verschwind!
d) Weide gewinnt, Flechte verschwind! (unterm Weidenbaum beten).
e) Gegen nasse Flechten. Flecht, Barmgrund, packe dich, laufendes
Wasser jagt dich. — Da stehen drei Jungfern an dem See, die erste wäscht,
die zweite platscht, die dritte langt an den Grund, damit der Barmgrund
verschwund.
8. Gegen Tehrer (Auszehrung). Ju Lüdden, hier bring ick jü Flas
to spinnen un bring jü Garn te Linnen, un bring jü Grütt to kaken, nu
sollt jü uns Vadder (Mudder, Anlies) wohl latent (Die Angehörige des
Kranken geht mit Flachs, Garn und Grütze unter den Holunderbusch,
schneidet Zweige ab, steckt sie in die Erde, raunt den Spruch und sieht
dann, wieviel Tehrer der Kranke hatte.) Oder: Guten Abend, Fliederbusch,
hier bring ich euch Hede und Flachs zum Spinnen und Fleisch und Brot
zum Essen, damit sollt ihr mein Kind vergessen!
9. Dafs das Blut stille stehe und der Schmerz aufhöre.
a) Abek, Wabek, Fabek. In Christi Garten, da stehen drei Bösen, eine
für das Gut, die andere für das Blut, die dritte für den Engel Gabriel.
b) Die heilige Mutter Gottes fuhr über Land, das Heiligste trug sie in
ihrer Hand. Das Wasser, das thut fliefsen, das Blut sich beschliefsen.
c) Auf Christi Grab stehen drei Lilien , die erste heilst Demut , die
zweite Wehmut, die dritte, wie Christus will, Blut, steh still!
d) Unser Herr ging in den Garten. Was fand er da? Drei Böselein,
eins für sein Gut, eins für sein Blut, eins für sein' Wüln, Blut, steh still!
e) Es kommen drei liebliche Mädchen herab auf die Erde vom Himmel,
die eine heüüst Blutlasserin , die andere Blutf asserin , die. dritte Blutsteh-,
Blutvergeh- (Blutversteh-), Blutstülerin.
f) Petrus hieb Malchus ein Ohr ab, es rifs nicht, es sticht nicht, es
schwärt nicht, es heilt aber und wird gut.
g) Blut gerinn, Blut verschwind, Blut du sollst stille stehn, wie
Wasser im Jordan, da unser Herr Christus den Taufbund aufnahm.
h) In der weiten Welt stehen drei Eichen, unter den drei Eichen sind
drei Springer (Spinnen?), die eine die läuft, die andere die leckt, die
dritte steht still.
10. Gegen Ausschlag. Dar stunn dree Jungfern in de Grund, de
eene wusch, de annere wrung, de drüdde brukte för Barmgrund.
11. Böse (vergl. 2). Böse ich fasse dich, du sollst nicht brechen, du
sollst nicht stechen, du sollst nicht brennen und nicht weh thun!
12. Gegen Warzen (bei abnehmendem Monde). Mond an de Wand,
Wraken an de Hand!
13. Gegen Krankheit der Schweine. Unser Herr, der hat ge-
hangen, dieses Schwein hat sich verfangen. Oder: Unser Herr Christus ist
gehangen, unser Herr Christus ist gefangen, darum weil unser Herr Christus
gehangen ist, schadet dir auch das Verfangen nicht!
Pröpelsprüche. Geburt. Taufe. 379
14. Gegen Brandwunden. Ich bespreche diesen Brand mit Marien
Hand, dafs es nicht killt, dafs es nicht schwillt 1
15. Gegen Leibschmerz. Darmgicht, ich umgreife dichl Ich ge-
biete dir aus diesem Fleisch, behüt dich Gott und der heilige Geist! Oder:
Herzband und Wand, die beiden streiten sich, die Wand gewinnt, Herzband
verschwind. Oder: Jesus und Petrus ritten die Strafse entlang, da wurde
Petrus sein Pferd krank. Da sagte Jesus: Dein Pferd soll wieder gesund
werden t
16. Gegen Würmer und Leibschmerz. Herzwurm und Frucht-
wurm und Darmgicht, ich gebiete dir bei Gottes Gesicht, dafs du dich sollst
legen und nimmer regen, bis die Mutter Gottes ihren zweiten Sohn thut
gebären.
17. Gegen „Versehen". Wat 2 leeg Ogn verkieken, dat schölln
3 goo Ogen werrer trecht kieken. (Man sticht sich dabei eine Nähnadel ins
Zeug; die Öse bildet ein Auge und der Mensch hat zwei Augen, dann sind
es drei Augen. Man betet dreimal.) Oder: Schlechtes Maul hat dich ver-
raten, schlechte Augen haben dich versehen. Auch zu 5.
18. Wenn ein Mensch Ilg hat. Du sollst nicht stechen, nicht
brennen, auch nicht weh thun und nicht weiter gehn. (Am Schlüsse des
Gebetes wird darauf gespuckt.)
19. Wer angewachsen ist, mufs an einen hohlen Weidenstamm
gehen, dreimal mit dem Stock anklopfen und sagen: „Anwachs und Über-
wachs plagen mich."
20. Für schlimme Augen. Fürflufs, Fürblei, Fürblattern und alles
was schädlich ist, ihr sollt vergehn wie Tau im Gras, wie Totenkopf im
Kasten 1
21. Gegen Fingergeschwür. Ahl und Pohl gingen beide zur Schul,
Pohl gewann und Ahl verschwand.
22. Für Gewächs. Was ich kneif, das kleiner wird, was ich seh
(zunehmender Mond), das gröfser wird.
3. Geburt und Taufe. Die Mutter darf zur Zeit der Geburt
mancherlei nicht thun. Sie darf nicht scheuern, „ sonst wird das Kind
schmierig". Sie soll nicht Mund und Nase zuhalten, wenn sie an schlecht
Riechendem vorbei geht, sonst bekommt das Kind Übeln Atem. Wenn sie
aus der Flasche mit dem Munde trinkt, wird das Kind engbrüstig. Sie
darf Urin nicht unter die Dachtraufe fliefsen lassen, sonst geifert das
Kind. Es erhält Male, wenn sie Spritzendes kocht; Sommersprossen,
wenn sie gelbe Wurzeln Bchabt; schielende Augen, wenn sie durchs
Schlüsselloch guckt. Nach der Geburt setzt man eine Laterne vors
Kind und legt eine Schere daneben, dafs die Zwerge das Kind nicht
nehmen. Vor der Taufe darf der Name des Kindes nicht genannt
werden, sonst lernt es schwer sprechen. Greift man den Säugling auf
den Kopf, bekommt er schlechte Haare; ifst die Mutter gleich vor dem
Brotschrank, wird das Kind nie satt. Um diesen Zauber zu heben,
wird das Kind in den Schrank gesetzt, und die Mutter verrichtet davor
neunerlei Arbeit Man verschenkt oder verborgt vor der Taufe nichts,
sonst wird das Kind ein Verschwender. Man legt Nähnadel, Salz,
beschriebenes Papier ins Taufkissen, dann wird's fleitsig; zu gleichem
Zwecke beten die Paten leise das Gebet des Taufpredrigers mit. Eaunt
380 Die Polaben.
man ihm ein Vaterunser ins Ohr und legt ihm einen Spruch oder ein
Stück Gesangbuchblatt unters Zeug oder auf den Leib, so bekommt's
ein gutes Gedächtnis. Der älteste Gevatter trägt den Täufling aus
dem Hause, dann wird er sehr alt, der jüngste schafft ihn zurück, so
wird er sehr flink. Die Mutter blickt dem Taufzuge nach, da lernt
das Kind gut sehen; die Gevattern juchzen, dann wird es frohmütig".
Beim Eingang in die Kirche lüftet man das Taufkissen ein wenig, dafs
ein Sonnenstrahl das Kind trifft und dieses damit guten Haarwuchs und
schönen weifsen Teint bekommt. Schmieren aber die Paten die Stiefel,
so wird das Gesicht unrein. Schreit das Kind bei der Taufe, so stirbt es
bald; auch mufs es den Kopf zur Erde hängen lassen. Die Paten tragen
es durch dieselbe Kirchthür zurück. Wird aus demselben Taufwasser
zuerst ein Knabe und dann ein Mädchen getauft, so bekommt das
Mädchen einen Bart. Das Taufwasser mufs man aufheben, es fault
nicht und heilt die Sommersprossen. Wird der Sohn mit dem Tauf-
wasser des Vaters getauft, so wird er ein fleifsiger Mensch, wenn
während der Taufe zu Hause gelesen und fleifsig mit Sägen, Beilen,
Besen, am Rad und auf dem Hofe gearbeitet wird; das Gleiche geschieht
zu gleichem Zwecke von Seiten der Paten nach dem Taufmahl. Den
Taufnamen *) Erdmann, Erdine erhält dann ein Kind, wenn kurz zuvor
ein Geschwister im zarten Alter starb. Vor der Taufe trägt man
das Kind über eine Schaufel glühender Kohlen. Gegen Schlaflosigkeit
der Kinder legt man Eulenfedern in die Wiege. Beim Taufmahl legen
die Gevattern je eine „Kelle" Suppe auf den Teller der Mutter, dafs sie
gestärkt wird, gut nähren kann und das Kind einst mildthätig wird.
Das Fest selbst ist jetzt sehr einfach und dauert nur einen Nach-
mittag. Bei der Taufe des Erstgeborenen giebt der glückliche Vater
zuweilen am folgenden Sonntag Bier; weit häufiger geschah dies nocb
bei der Hochzeit, damit die entfernteren Bekannten auch etwas hatten.
Der Name „Paggeleitzenbier" ist von den grofsen hornförmigen Wecken
abgeleitet, die dazu gegeben wurden. Unter „Kindsfeuten" versteht
man Spenden, die der Vater seinen Freunden giebt, wenn ihm ein
Kind geboren worden ist. Eine Tonne Bier, dazu Schnaps, genügen
dabei. — öfter wird an den Pfarrer das Ansuchen um Überlassen von
Tauf wasser gestellt; man glaubt, es helfe gegen Bettnässen, wie man
auch Kirchen wachs, Abendmahlswein und Hostien gegen Krämpfe und
Krankheiten begehrt.
4. Kirchliche Feste. Bieten auch die kirchlichen Feste als
solche nicht Anlals zu besonderer Behandlung, so sind doch mancherlei
Regeln erwähnenswert , die sich an jene knüpfen. So soll man in der
Adventszeit die Bäume schütteln, dafs sie viel Obst bringen (Bäumlein,
ich rüttle dich, Bäumlein, ich schüttle dich, bring mir dies Jahr viel,
l) Spitznamen gebräuchlich, wie in ganz Deutschland. Vgl. schon das
„Wörterbuch der im Lüneburgischen ansässigen Wenden". Hs. in Wolfenbüttel:
122 S. (1895 Wörter, 6 Ortsnamen, einige Spitznamen). Mitt. von G. v. Smolski.
Kirchliche Feste. 381
Herr Christ. Im Namen Gottes des Vaters und des Sohnes und des
heiligen Geistes). In den heiligen Nächten soll man der Ordnung
wegen nichts verborgen und Wäsche nicht aufhängen, sonst muls man
„den Kirchhof bekleiden tt ; man darf den Dünger nicht aus dem Stall
ziehen, sonst thun böse Menschen dem Vieh etwas an oder die „Wölfe
brechen ein" ; auch soll man keine Hülsenfrüchte essen, sonst bekommt
man Schwären; die Viehställe darf man um diese Zeit weder räumen,
noch waschen; Ackergerät mufs verschlossen sein. Zwischen 11 und
12 Uhr am Christabend geh man rückwärts aus dem Hause heraus,
bis man das Haus entlang sehen kann, dann erfährt man, was das Jahr
geschieht. Am Weihnachtsmorgen müssen die Hühner aus einem Kranz
fressen, dann verlegen sie ihre Eier nicht. Wer zu Weihnacht zuerst
an die Glocke kommt, erhält guten Flachs. Unter der Egge kann
man am Christabend sehen, was das ganze Jahr geschehen wird. —
Dem Vieh giebt man grotse Bohnen, dem Federvieh von allem Getreide.
Man schmilzt zu Sylvester Blei, sucht Treffpunkte in der Bibel, achtet
darauf, ob man von einem Leichenzuge träumt. Die heiligen Nächte
sind auch Wetter verkünder, und wenn jemand stirbt, so folgen in
demselben Jahre zwölf aus dem gleichen Alter nach. Regnet es am
Karfreitag, so wird das Gras und Obst schlecht. Aus Gründonnerstags-
eiern kommen Hühner, die die Farbe wechseln. Ehemals schaffte man
zu Ostern eine Tonne auf den Berg, legte sie auf hohe Pfähle und
brannte Dornen darunter an, schliefslich rollte die Tonne ins Thal«
Osterwasser ist heilkräftig, man besprengt alles damit („ich schöpfe
hier Christi Blut, das ist für 99erlei Krankheit gutu). Am 1. Mai
schneiden die Leute von drei fremden Stücken „Roggengruls" und
geben es dem Vieh, das wird fett; aber das des Geschädigten magert
ab. Die Thüren werden mit Kreuzen versehen, um die Hexen abzu-
halten. Zu gleichem Zwecke stellt man Besen auf den Kopf und
wirft drei Handvoll Salz vor den Stall. In einen Eimer legt man einen
Thaler, gietst Wasser darüber und giebt's den Pferden, dals sie kurze,
blanke Haare bekommen. Krankheiten heilen am ersten Maitag-
abend am Kreuzwege, Gesundheit gewährt auch der Abendtau des
Weizenackers. Auf Anruf darf man sich nicht melden, sonst bekommt
man Flöhe. Blutstropfen von Johanniskraut am Johannistag gesammelt,
„wenn sich das Blattwerk dreht", sind heilkräftig. An Sonn- und
Festtagen darf man nichts drehen. Geht man zu Sylvester rückwärts
aus dem Hause, so kann man eine weifse Gestalt auf dem First sehen,
die Anzeichen giebt. An Krebstagen darf nicht gesäet werden. Am
Pfingstfest wird das Pfingstbier getrunken. Wer zu Pfingsten am
letzten aufsteht, wird Pfingstochse genannt; dabei wird, wie beim
Julklapp, viel Scherz getrieben. Nicht zu vergessen sind auch die zahl-
losen Wetterregeln, die an gewisse Tage anknüpfen. So: Wird Lein-
samen zu Maria Geburt (25. März) auf den Hof gestellt und dann
gesäet, gefriert der Flachs nicht. Sonnt sich der Dachs in der Licht-
382 Die Polaben.
melswoche, geht er auf vier Wochen wieder zu Loche. Na St. Matthias
geiht kein Vofs öbert Is, denn St. Matthias breckt dat Is. Quaken
die Frösche am Markustag, so schweigen sie bis im Mai hernach. Auf
St. Jürgen muls man die Krähen von der Weide schürgen. Merk dies:
St. Vit bringt Fliegen mit. Wenn der Kuckuck noch lange nach
Johannis schreit, giebt unfruchtbare und teure Zeit. Um Maria Gebart
ziehn die Schwalben fürt. Auf St. Gall die Kuh in den Stall! Wenn
die Gänse um Martini auf dem Eise stehn, müssen sie zu Weihnachten
im Kote gehn. Säet man Roggen zu Michaeli, so wird er teuer.
5. Dorffeste. Zwar haben auch im Polabenlande Krieger-,
Schützen-, Kegel vereine u. dergl. überhand genommen, doch sind die
alten Dorffeste auch noch nicht ganz ausgerottet Von der Kirmefs
weifs man nicht viel. In einigen Orten, wie in Dangensdorf, wird sie
am 8. September durch Kirchgang gefeiert. Häufiger hört man von den
Erntefesten und Pfingstbieren. Vor der Gemeindeteilung oder Ver-
kuppelung pflegte man wie in Litauen und Pomm er eilen an einigen
Tagen gemeinsam zu mähen und einzufahren, dann wurden die Mäher
mit Musik geholt und mit dem Gesang des Liedes „Nun danket alle
Gotttt und „Bis hierher hat mich Gott gebracht tf nach dem Dorfplatz
geführt. Dann hat man auf der Tenne eines Bauern wacker getanzt.
Viel höher ging es bei den Bauerbieren in den mit Maien ge-
schmückten Stuben her. Daran beteiligte sich jeder Wirt, und Jahr für
Jahr übernahm das Fest ein anderer, bis es — der Landrat abschaffte.
Drei Tage lang hat man bei Gesang und Jubel gezecht; am ersten Tage
nachmittags probierte man, und dann wurde bei Tanz und Karten-
spiel gefeiert; zwei Schaffner bedienten. Am Ende bezahlte jeder
Teilnehmer den gleichen Teil. Kuchen und Brot mufsten in Menge da
sein, das viele Tanzen auf der Lehmdiele machte hungrig. Auch die
holde Weiblichkeit wollte ihren Teil von den 20 Tonnen ä 104 Liter.
Sie brachten Töpfe mit Zucker und machten sich Kaltschale, gaben
auch den Kindern. Als Preis hatte jeder Gast zu Satemin zwei
Groschen zu zahlen. Nur das Bier war gemeinsam; alles andere wurde
einzeln bezahlt. Dies Fest, das beispielsweise in abgeblalster Form
auch in Sachsen hier und da Mode ist, führt auf ein viel älteres zurück,
dessen Zweck die Aufpflanzung des Dorfbaumes war. Der Obersuper-
intendent Hildebrand berichtet im Jahre 1672 darüber. Er führt etwa
folgendes aus: Den Wenden wurde vor 50 Jahren ihre Sprache ver-
boten, nachdem sie zuvor von den Fürsten gepflegt worden war, die
möglichst viele Völker unter ihrer Herrschaft haben wollten. Wenden
aber gab es sowieso genug, und sie bildeten sich mehr ein als die
Deutschen. Im Hauptsitz, dem Drawehn, stehen in jedem Dorfe zwei
Bäume, der Kronen- und der Kreuzbaum. Der Kreuzbaum ist der
wichtigste. Er darf, falls er umgefallen ist, vor Maria Himmelfahrt
nicht wieder aufgerichtet werden, weil sie sagen: „die Staete wollte es
nicht haben". Kein Wende mit garstigen Füfsen darf über diesen
Dorffeste. 383
Platz. Als zu Rebenstorf oder Dangensdorf den Baum ein Bulle um-
warf, wurde dieser erschlagen, und nun treibt man jährlich einmal das
Vieh rundum. Wird ein neuer Kreuzbaum eingesegnet, wird auch das
Vieh geweiht. Nach einem Gelage tanzt man um den Baum. Der
Schulze in Sonntagskleidern mit weifsem Handtuch um den Leib, führt
die Reihen, nimmt ein grofses Licht und ein Glas Bier, geht um das
zusammengetriebene Yieh, bespritzt es mit Bier und besegnet es
wendisch. An manchen Orten werden die Häuser, Ställe, Küchen,
Kammern, Stuben an demselben Tage mit Bier und Branntwein begossen,
„dafs das Vieh gedeiht". In Predöhl bediente man sich dabei noch
eines grofsen Wachslichtes, und ein Greis soll jeden Tag dort Andacht
gebalten haben. Der Baum war 20 Ellen hoch, oben darauf war ein
hölzernes Kreuz mit einem eisernen Hahn. Der Stifter des Baumes
soll Kaiser Karl gewesen sein. Zu Maria Himmelfahrt wählen die
Bauern einen anderen Baum im Holze, jeder thut dann einen Hieb, bis
der Baum fällt. Man legt ihn auf einen Wagen, deckt ihn mit den
Oberkleidern zu und fährt ihn nach „der Staete". Ein wendischer
Zimmermann behaut ihn viereckig, steckt rechts und links zum Auf-
steigen Pflöcke ein und richtet ihn mit Freudengeschrei auf; der
Schulze klettert hinauf, setzt den Hahn übers Kreuz, segnet ihn mit
einem Glas Bier, dann folgte das grolse Gelage bei 10 bis 12 Fafs
liier i).
*) Vgl. Archiv für slaw. Phil. 22; Verzeichnis, Capitel 2 und Parum
Schulze, Annaleu, S. 285: Da ich noch ein knabe war, da stunden in allen
Dörffern hohe lange aufgerichtete Bäume oben ein Quärholz gleich einen
Creutzen ganz oben eine Eyserne staoge mit einem Weyerhan von unten
auf an zweyen seyten mit hölzer langen Nägeln inen geschlagen das man
könte oben bei den hauen inansteigen (steht 1724 noch). Wen der Baum
in Dorff ist in Eingefahren alfsdann haben die Weiber viele lackens in gegen
gebracht, das sie den Baum gantz bedecket gehabt, das man ihn liberal
nicht hat sehen könen dieses hat meine Mutter gesehen alfs sie ein klein
mädgen gewesen und Eine solche Jubelgeschrey und grosse Fest haben sie
gehalten in Sauffen und Tantzens und das Etzliche Tage indurch zu Carmitz
ist dieses geschehen.
Hier sei vergleichsweise an die Bauernfeste der alten Preufsen erinnert
(S. 22) und im Auszuge die Schilderung von Waisselius über die Bock-
heiligung angeführt. Da wii*d erzählt, wie alljährlich vier oder sechs Dörfer
sich zusammenthun , einen Bock kaufen und in einem Haus ein lang Feuer
machen. Die Weiber bringen Weizenmehl und teigen es ein. Der Bock
wird vor den Wurschkayten gebracht, der legt beide Hände auf das Tier,
ruft alle Gotter zur Segnung und Annahme des Festes an „und gibet einem
jeglichen Gott seine Ehre, und was Macht er habe. Darnach führen sie den
Bock in die Scheune, da heben sie jn auff, gehen alle umbher. Der Wursch-
kayt ruffet abermal alle Götter an, wie oben, hat sich auffgeschürtzet und
spricht: Dieses ist das löbliche Gedechtnis unsrer Väter, auff das wir
versünen den Zorn unserer Götter: und sticht den Bock in die Kele. Das
Blut lassen sie nicht auff die Erde kommen und mit dem Blut besprengen
sie jre Habe und jr Viehe. Darnach schlachten sie das Thier und thun das
Fleisch in einen Kessel, und die Menner setzen sich umbher umb das Fewer,
384 Die Polaben.
Wie die Männer zu Maria Himmelfahrt den Kreuzbaum, so setzten
die Frauen zu Johanni den Kronenbaum.
Alle Weiber eines Dorfes gingen am Johannistage „bei jedem
Wettertt in den Wald, wählten abwechselnd eine Birke und eine Eiche,
hieben sie um, fuhren sie auf den Dorfplatz und richteten sie auf.
Sie wurde zuvor behauen, nur die Krone wurde gelassen. Die Alten
fuhren die Birke auf dem Vordergestell eines Wagens und spannten
sich selbst vor, die jungen gingen nebenher und sangen wendische
Lieder. Nachdem der alte Baum abgehauen worden war, den ein
Häusling für zwei Schillinge kaufte, holte man für dies Geld Brannt-
wein, und richtete den bekränzten Baum unter Frohlocken auf. Dann
erschienen auch die Männer, wieder wurden 12 Tonnen Bier getrunken
und das Fest unter Jubel und Gesang abgehalten. Wenn ein Mädchen
aus einem anderen Dorfe einheiratete, mufste sie um den Baum tanzen
und eine Münze hineinlegen. Wenn jemand am Baume gerieben hatte
und gesund geworden war, spendete er gleichfalls eine Münze. Nie-
mand rührt das Geld an, biß Soldaten kommen und für das Geld Tabak
und Branntwein kauften. Zu Hildebrands Zeiten gab es solche Kreuz-
bäume noch in Klennow, Dangensdorf, Rebenstorf, Gistenbeck, Kranze.
Das Gelage fand bei den Schulzen statt. Der Kreuzbaum scheint den
Stadtfrieden bedeutet zu haben, das Fest hat gewifs als Einsegnungs-
tag des Viehs gegolten, auf dats der Baum ja sehr hält. Bei der Eid-
verwarnung zieht die Androhung der Hölle weniger als die des Un-
segens in Feld und Stall. Welche Bewandtnis die Hahnenjagd hatte,
die ehemals im Amte Lüchow stattfand und mit dem Erschiefsen des
abgejagten und dem Verteilen und Vergeben des gekochten Hahnes
schlofs, kann ich nicht sagen. Jedenfalls sind heute die symbolischen
Gebräuche geschwunden, und nur das Gelage in sehr abgeblafster
Form ist geblieben, dafür hat man Verständnis. In der Geschichte
vom armen Lazarus denkt sich das Kind, dals der reiche Mann alle
Tage Hochzeitsfutter (Kost) hatte. Die Kuhhirten wollen auch ihren
guten Tag haben, gehen entweder am Pnngstvorabend oder am zweiten
Pfingstfeiertage mit ihren Peitschen in den Wald, knallen im Takt und
und die Weiber bringen daher den Weitzen Teig und machen davon Küchlein
und geben die Küchlein den Mennern; dieselben werfen das ungebackene
Brot durch das flammige Fewer, einer dem andern zu, bis sie vermeinen
das es gar sey. Und wenn das Fleisch gar ist, so theilen sie das Fleisch
und Brot aus und fressen und saufEen aus Hörnern die ganze Nacht. Auff
den Morgen frtie vor Tage gehen sie alle für das Dorn* und tragen mit sich
Knochen und Brosamen und alles was überblieben ist, das legen sie auff die
stette, die sie sich haben ausgesehen und vergrabens und tragen alle zumal
Erde darauff und verwachtens, das kein Hund dazu kome. Darnach scheiden
sie zu Hause und befehlen sich den Göttern und thun Danksagung jrem
Signoten, den sie heissen "Wurschkayten , mit grosser Beverentz. Diese Ge-
wohnheit (war) — noch — bey des Ordens zeiten, — fürnemlich — bei den
8udawen.u
Johannistag. Pfingsten- Aberglaube in Haus und Feld. 385
Bammeln dann Geld für eine Tonne Bier ein; die Knechte brennen die
Mädchen mit Nesseln und erhalten Geld. Wer am Pfingstmorgen
zuerst mit der Herde aus jagt, ist König. Der Aberglaube wagte sich
noch vor kurzem bei den Wenden so anspruchsvoll und selbstbewufst
vor, dafs ein Hauswirt zu Sellien am 13. August 1883 in einer öffent-
lichen Anzeige in der Zeitung dem 50 Mark Belohnung zusagte, der
ihm nachweisen könnte, wer seine Schafherde behext habe.
6. Allerlei Aberglaube in Haus und Feld. Das Schweifstuch
eines Toten hat besondere Heilkräfte ; es wird unterm Dache verborgen.
Einem Bettnässer soll zur Heilung etwas vom Altarlichte eingegeben
werden. Um eine blutende Hand bindet man einen schwarzen Faden,
ein weifser würde die Hand weifs machen. Zu einem Kranken läfst man
einen Hund in die Stube. Läuft der Hund fort, so stirbt der Kranke bald.
Besucht man einen Kranken, so nimmt man Salz in die Hand; wird es
feucht, so stirbt er. Ein Kranker soll ein Meerschwein ins Bett nehmen,
dann geht die Krankheit auf das Tier über. Gegen Krämpfe hilft das
Pulver vom verbrannten Traurockzipfel eines Kranken. Eiter thut
man, um geheilt zu werden, auf einen Pfennig und legt diesen auf eine
Wegkreuzung; wer ihn aufhebt, bekommt die Krankheit. Oder man
wischt Eiter mit einem Lappen ab und giebt ihn einem Kranken mit.
Einen schlimmen Finger steckt man der Katze ins Ohr; einen blutigen
beschmiert man sogar mit Tabakspfeifensaft. Gelbsüchtige Leute legen
ein gelbes Band auf die linke Brust. Kranken Menschen setzt man
fliefsendes Wasser unters Bett. Rauhe Hände reibt man mit Speck-
schwarte und giebt die Schwarte dem Hunde zu fressen. Gegen Zahn-
schmerzen hilft der Blutegel, wider Bleichsucht Eisen in Kotwein, vor
Gelbsucht ein nächtliches Gebet an einem Weidenbaume. Wer Fleisch-
m ade n an den Augen hat, der mute sich nach Sonnenuntergang von
einem Menschen ein Stück Rindfleisch holen, dals es keiner gewahr
wird, und dann das Rindfleisch um den Hals hängen, bis es ver-
trocknet ist. Treibt man Vieh zum Verkauf auf den Markt, so bestreicht
man es mit dem Geldbeutel, dann wird man es los. Ferkeln giebt
man zu gleichem Zwecke etwas von allen vier Tischecken ein. Hexen
können nicht in Viehställe, wenn Grasbündel davor liegen; sie müssen
erst die Halme zählen. Fremde Leute läfst man des bösen Blickes
wegen nicht in den Stall. Wenn eine Kuh kalbt, borgt man 24 Stunden
nichts aus, sonst schadet's der Kuh und der Milch. Kauft man Ferkel,
so streut man ihnen sofort Stroh unter, dafs sie gedeihen. Wer sich
mit einem Totenkamm kämmt, dem gehen die Haare aus. Wer durch
das Nagelloch eines ausgegrabenen Sargbrettes sieht, wird von einer
Krankheit befallen, dafs er jede Nacht vor einer Leichenbeerdigung
aufstehen, aus dem Hause gehen und dann gespenstisch den feier-
lichen Leichenzug sehen mufs. Wem früh zuerst ein Mann mit Wagen
begegnet, der hat Glück. Beim Flachssäen macht man mit der Harke
einen Eindruck oder ein Kreuz aufs Feld oder steckt einen Stock in
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 25
386 Die Polaben.
die Erde; je gröfser dae Kreuz oder der Stab, je länger der Flachs.
Man säet, wenn Mond und Sonne zugleich am Himmel stehen. Beim
Abendglockenläuten soll man von drei Ecken eine Hand voll Sand
über den Flachs werfen, dann schadet der Maulwurf nicht. Wind
beim Roggensäen ist von schlechter Vorbedeutung. Man soll nicht
allen Sauerteig weggeben. Zu Weihnachten giefse man den ersten
Eimer Wasser weg. Dem Bullen wird nach dem Decken ein Eimer
Wasser auf den Rücken gegossen, dals die Kuh trächtig bleibt. Wenn
man unter einer dreibalkigen Egge durchsieht, so kann man' die Hexen
am ersten Maitage auf einem Besenstiel reiten sehen. Das Butterfafs
soll nicht vor fremden Leuten gerührt werden. Wird beim Scheren das
Garn nicht aufgebraucht, so legt man es daneben, sonst zerreif sen es
die „kleinen Leute". Auf Brotteig legt man Männerzeug, dann gerät
das Backwerk. Wer im Mai das erstemal donnern hört, setze seine
Finger auf die Erde, dann wird keiner schlimm. Der junge Säemann
mufs vor dem ersten Säen einen Maulwurf mit der Hand tot drücken,
dann hat er eine gesegnete Hand. Wenn kleine Kinder im ersten
Jahre Schläge bekommen, fühlen sie später keine mehr. Donnerstags-
kinder müssen auf dem Altar getauft werden, sonst sehen sie Spuk.
Speck wird madig, wenn er Montags in Rauch gehängt wird. Weisen
säet man nach Sonnenschein.
V. Polabisches Vaterunser.
1. Eccard: Hist stud. etym., p. 269. Hannover 1711. (Noch 1711
von den Dannenberger Wenden gebetet.) Nach Hennig; vgl. 8. 2, 4, 5 und
Hilferding, 8. 42 f.
Nös hölya wader ta toy chiss wa nebisgay. ßjunta woarda tugi geima.
Tia rik komma. Tia willya sohingöt koke nebisgay, kok kak no sizne.
Nöessi wisse danneisna stgeiba doy nam dans. Un wittedoy nom nässe
ggrels tak moy wittedogime nossem gresnarim. Ny bringgoy nös ka
warsikönge. Tay lösöay nös wit wissokak. Chundak.
2. Potocki: Voyage 1795, p. 36. Aus der Gegend von Lüchow.
Nesse wader, tu toy Jiss wa nebis hay. Siungta woarda tygi cheyma.
Tujae rick kommae. Tia wiliae szymweh rok wa nebis hay, kak no zimie.
Un wy by doy nam nesse chrech kak moy. Wy by dayne nessen chresmarym.
Ni bringwa nass na wasskonie. Day lizwaynes wit wyskak ohandak. Amen.
3. Von Müller. Neues vaterländisches Archiv von Spangenberg
II, 1822, 8.219; vgl. das bei Hennings, 8.44; Schleicher, 8.1 und, nach
G. v. SmoUkis gütiger Mitteilung, eins in den Kirchenakten zu Plate.
Eyta nossi tang toy bist en Nebi. Sjenta werde tija geyny. Kommoja
tija Bitge. Tija Wilja blyoye kock en Neby koick en Simea. Nossi wisse
danneisna stjeiba, dogeyra nöss däns. Un schenk 6s nossi weineck, kock wy
schenköt nossi weinecker. Un hringoye nos en wienick wersöcke. Sseze die
sölva nös de ggreck, wyltiya blift to Bitge, ti Möcht un warchene. Büsatz
niganka un nirugnissa. Amen.
Polabisches Vaterunser. 887
4. Kirchenbuch zu Plate bei Lüchow, durch F. Wohn er.
Eita nossi, tang toy bist en nebi. Sjenta werca tija geygny. Kommoja
tija Bitge. Tija Wilja blyoge, kock en nebi, koick en Sinica. Nossi misse
danneiska stieba dogey nos. Dans un schenköt nossi weineck, kock wy
schenköt nossi weinecker. Unne bringoye nos en wienick wersöcke. Isize
disolva nos ode ggreck. Wye tija bliff to Bitge, ti mocht, au warckene
Busatz, nigangka un in ragnissa. Amen.
5. Mithofs Vaterunser. Lüchow, den 17. Mai 1691. (Vgl. 8. 348.)
Noos Wader tada töjis wattuem nibiTien. Sioncta mowardoot tüi*
Seimang tüi Bieck oumma. Tua willia moffa fchiniot wan nibisjeu eack
wiffei foquoi noosXSme. Noosü daglitia Sjcibe dünam daans. Un Wittodüman
noosfe Greichie coock moy witto düjeme noos fürne Greihynarim. Ni
farforünas wa verfoikung. Erlöfünas wittige goidac. Hamen.
6. Das polabische Vaterunser Hennigs.
N6sse wader, ta toy gis wa nebisgay, sjungta woarda tügi geim, tia rik
komma, tia willia schinyot kok wa nebisgay kok kak no sime, nössi wisse-
danneisna stgeiba doy nam dans, un wittedoy nam nösse ggrech, kak moy
wittedoyime nössem gresmarim, ni bringoy n6s ka warsikönye, tay lösoay n6s
wit wissokak chaudak. Amen.
7. Das polabische Vaterunser von Hennig. (.Nach einem von Prof.
Leskien ein wenig geänderten Text." Stein vorth 153 f.)
Kos holi v&der, to tai jia y& nebeseu, s'otü v&rd&j tüji jaima; tüji rik
komaj; tüja vüla (mo sa) künot kok vä nebeseu tok kak no zemi; nosa
visedänesna skaibo doj nam dans, un vütadoj nam nosi grechy, kok mai
yütadojime nosim gresnarem; ni bringoj nos vä varsükög (o); tai losoj nos
vüt visokag cheudag. Amen.
26*
Die Slowinzen.
Literatur
(vollständig in Dr. Tetzner, Die Slowinzen und Lebakaschuben).
Backe: Siehe Brüggemann I, 65 f.
Böttcher: Die Bau- und Kunstdenkmäler des Begierungsbezirks Köslin.
ßtettin 1889 ff.
Bronisch: Die slawischen Ortsnamen in Holstein und im Fürstentum Lübeck.
Sonderburg 1901.
Brüggemann: Ausführliche Beschreibung des gegenwärtigen Zustandes des
kgl. Preufsischen Herzogtums Vor- und Hinterpommern. 8tettin 1779: I;
1784: II; 1800: in. Darin über die Slowinzen: Haken I, 63 bis 65;
Backe I, 65 bis 69.
Büsching: Wöchentliche Nachrichten VII, 1779. Berlin 1780.
D reg er: Codex diplomaticus. Stettin 1748.
Edelbüttel: Schmolsiner Kirchenchronik. Handschriftlich.
Franz: Garder Kirchenchronik. Handschriftlich.
Garbe: Die letzten Vertreter der slawischen Sprache in dem Kirchspiel
Schmolsin und Grofsgarde. Pomm. Blätter. Stettin, 9. 4. 98.
Gustke: Virchenziner Eide. Handschriftlich.
Haken: Siehe Brüggemann.
Hilf er ding: Die Überreste der Slawen auf der Südküste des baltischen
Meeres. Zeitschr. für slawische Literatur 1864. Bautzen I, 81 bis 97,
230 bis 239; II, 85 bis 111.
Knaak und Stodtmeister: Kluckener Schulchronik. Handschriftlich.
Knoop: Volkssagen, Erzählungen, Aberglauben, Gebräuche und Märchen
aus dem östlichen Hinterpommern. Posen 1885.
Knoop und Haas: Blätter für pommersche Volkskunde. Stettin 1892 ff.
Krofey: Duchowne etc. Bütow 1586.
Legowski: Die Sprache der baltischen Slawen. Blätter für pomm. Volks-
kunde 1896. — Die Slowinzen im Kreise Stolp, ihre Literatur und
Sprache 1900.
Lorentz: Zur älteren kaschubischen Literatur. Archiv für slaw. PhiL 20,
556 bis 577.
Micraelius: Altes Pommerland. Stettin 1640.
Pommersche s Urkundenbuch, 3 Bände. Stettin 1868 bis 1891.
Fontanus: Parvus Catechismus D. Martini Lutheri Germanico-Vandalicua,
Danzig 1643. 2. Ausgabe 1758. 3. Ausgabe 1828.
Quandt: Herkunft der baltischen Wenden. Baltische Studien. Stettin 1872,
1 bis 64.
v. Sommerfeld: Geschichte der Germanisier ung des Herzogtums Pommern
oder Slawien bis zum Ablauf des 13. Jahrhunderts. Leipzig 1896.
y. Stoj entin: Aktenmäfsige Nachrichten von Hexenprozessen und Zaubereien
im ehemaligen Herzogtum Pommern. Weimar 1898.
Sprachgebiet. 389
Tetzner: Die Slowinzen und Lebakaschuben 1). Land und Leute, Haus und
Hof, Sitten und Gebräuche, Sprache und Literatur im östlichen Hinter-
pommern. Mit einer Sprachkarte und drei Tafeln Abbildungen. Berlin
1899. — Die Kaschuben am Lebasee. Braunschweig 1896.
Wutstrack: Kurze hist. geogr. stat. Besohreibung von Pommern. Stettin
1793, 1795. 2 Bde.
I. Sprachgebiet.
Simon Erofey (1586) und Michael Pontanus (1643) reden
von einer „slowin zischen" Sprache und Kirche im Pommerschen; im
Deutschen gebrauchen beide „wendisch", lateinisch „vandalicus" für
slowinzisch. Sie meinen damit die Sprache der evangelischen Slawen
in Pommern. Verbreitet waren ihre Bücher im Kreise Stolp, wahr-
scheinlich auch in Bütow, Lauenburg und Pommerellen.
1779 unterscheidet Haken zwischen alten Wendisch - Deutschen,
deren Überbleibsel von der Dievenow bis zur Lupow angetroffen wurden,
und echter wendischer Nachkommenschaft zwischen Lupow und Leba.
Die ersten würden wir heute Slowinzen, die zweiten Lebakaschuben
nennen, nur mit dem Unterschiede, dals der Hauptsitz der Slowinzen,
nämlich die Ausbauten von Lupowanwohnern in den Klucken, jetzt eine
Meile östlich der Lupow liegt. 1879 fafst Cenowa den Begriff etwas
anders, wenn er die benachbarten Sprachen als kaschubisch-slowinisch
bezeichnet. Die Slawen Pommerns selbst, die im Westen liutizischen, im
Osten lechischen Stammes waren, führen in Urkunden der Reihe nach
die Namen Slawen, Wenden, Wandalen (unrichtige gelehrte Namens-
übertragung), Kaschuben oder Pommern. Nach der ziemlich voll-
endeten Germanisierung Pommerns steht man vor der Thatsache,
dafs die letzten pommerschen Slawen den Namen der Kaschuben für
sich in Anspruch nehmen und die pommerellischen „Polaken" nennen,
während die pommerellischen schon in Schrift und Literatur der letzten
Zeit Kaschuben hielsen. Man hat darum gut gethan, nunmehr den
pommerellischen Slawen den Namen der Kaschuben zu lassen. Es
ist auch recht, dafs man für die pommerschen evangelischen Slawen
rechts vom Kluckenbach , die einen kaschubischen Dialekt sprechen,
den Namen Lebakaschuben angenommen hat. Und es bleibt für die
in der Sprache mehr abweichenden evangelischen Slawen, links vom
*) Daselbst bitte ich, aufser den Wutstrackschen Vaterunsern S. 195, die
falschen Namensformen in die richtigen Simon Krofey und Michael
Pontanus zu verbessern; des letzteren Geburtsjahr lautet 1578 in der
Kirchenchronik, auf seinem Bilde: 1583. Aufserdem finden sich folgende
Fehler: S. 4, Z. 21 zuletzt: lies Wratislaws; S. 6, Z. 6 v. u.: 65 bis 69
Von Backe; S. 65, Z. 1 v. u.: Prat; S. 66, Z. 2: Gaffelstange = Wiidl,
Ruder = Wjisl; S. 70, Z. 1: 1887; S. 89, Z. 2 v. u.: 1181; S. 102, Z. 6: 1766;
8. 129, Z. 7 v. u.: 1623; S. 184, Z. 13: Anna ist Johann Friedrichs und
Erdmutes (f 1623) Nichte, Bogislaws XIII. Tochter; S. 4 oben: Die Sorben
sind tschechischen Stammes. Zu S. 177 vgl. hier S. 417, 420.
390
Die Slowinzen.
Kluckenbach , die Bezeichnung Slowinzen übrig. Dieser Name ist
durch den Verbreitungsbezirk der Bücher von Krofey and Pontanas
gerechtfertigt, obwohl die heutige slowinzische Sprache nicht unbedeu-
tend von der fast polnischen Schreibweise jener zwei einzigen elowin-
ziachen Schriftsteller abweicht. Der Name wurzelt ferner in der
Thataache, dafs die Slowinzen ihre Sprache die slowinzische nennen
und den Volksnamen in Anspruch nehmen, wenn auch selten und etwa
in der Fassung als Antwort: „Wir sind Slowinzen, Slowinzen und
Kasohaben ist dasselbe."
Das ganze slowinzische Sprachgebiet (Abb. 169), ehemals im Westen
mit dem polabischen zusammenhangend, beschrankt sich heute nur
Abb. 169.
MafüHtab 1 : 250 000.
Das slowinzische Sprachgebiet 1
neben den Kirchspielen O bezeichnen das
noch auf die Scbmolsiner und Selesener Klucken am linken Ufer der
Kluckenbachmfindung , ferner auf die Dörfer Grols- und Klein gar de,
Wittetock, Rotten, Lotken, Wittbeck, Zietzen, Stohentin, Virchenzin,
Scholpin and Holzkathen. Nur die Klucken und Garde können noch
eine Anzahl Leute aufweisen, die man als Slowinzen bezeichnen könnte,
weil sie sich mehr ihrer Muttersprache als der deutschen bedienen. Die
meisten der 100 bis 200 slowinzisch sprechenden Leute radebrechen
die Sprache and finden für die sinnfälligsten Dinge den Ausdruck nicht
mehr. Zusammenhängende Sätze können nur wenige bilden, und die
mischen deutsche Worte in Menge ein. Ihre Muttersprache erlosch
als Kirche nsprache im letzten Kirchspiel Garde 1845, in Schmolsin
Erlöschen des Slowinzischen. Die Heruler. 391
1832. Die letzten Slowinzen sollen hier und da noch nach Glowitz,
dem Mekka und der letzten Hochburg der Lebakaschuben, zum Gottes-
dienst gewandert sein. Da wird aber seit 1886 auch nur deutsch
gepredigt 1856 war in Bütow, um 1799 in Rowe, 1795 in Budow,
Nossin, Schurow, Dämmen, 1787 in Mikrow, 1778 in Lupow, Freist,
Zetlin, Kolziglow, Dübsow, 1700 in Stolp der slawische Gottes-
dienst erloschen. Die nach Osten fortschreitende Germanisierung
Pommerns kann man in der Geschichte Schritt auf Schritt verfolgen;
die Geschichte dieser pommerschen Slawen gehört zur Geschichte der
Slowinzen.
II. Geschichte.
Nach dem Verschwinden des rugischen und herulischen Namens
finden wir slawische Volksstämme in Pommern. Weshalb die Germanen
wanderten und wie die daheim gebliebenen im Slawentum untergingen,
ist noch nicht genügend aufgeklärt. Vielleicht kann man mit jenen
Wanderungen, wenn auch nur entfernt, unsere heutige Sachsen»
gängerei vergleichen. Gerade bei Betrachtung der Heruler ist mir der
Vergleich gekommen. Die Heruler besalsen in Südschweden ein mäch-
tiges Hinterland, später hatten sie feste Stützpunkte an der Ostseeküste.
Landnot (im heutigen Sinne) war es sicher nicht, die sie zur Auswande-
rung gezwungen hätte. Später ist in ganz Ostdeutschland allenthalben
von Westgermanen gerodet und geackert worden, und die Einwanderer
machten Boden urbar, der auf Meilen hinaus von niemand betreten
worden war. Ob freilich unsere Ostgermanen Geschmack an solcher
Arbeit gesucht oder gefunden hätten, das möchte ich bei dem kriegeri-
schen Gepräge der Wandilier in Abrede stellen. Das Erbrecht scheint
mir die Quelle des Wanderstromes anzudeuten. Es giebt für einen
thatkräftigen Besitzlosen keine härtere Strafe als nichts machen zu
sollen oder Rädchen am Wagen eines anderen sein zu müssen. Im
Kriege unterstanden die Jünglinge und Männer zwar auch einem Ober-
befehlshaber. Aber man lese nur die Geschichte der Heruler und
Rugier. Sie wählten sich zunächst ihren eigenen König und Heer-
führer und wahrten sich dabei so viel Freiheit, data römischen und
griechischen Schriftstellern eine solche Königswürde nur als ein Schatten
erschien. Der freie Mann hatte auch im Heere Recht über Tod und
Leben seiner Angehörigen und Sklaven. Und wenn einmal ein Narses
dieses Recht nicht anerkennen will, verläfst sofort das ganze Heruler-
volk mit Kind und Kegel vor der Schlacht die römische Schlachtordnung
und zieht sich trotzig von dem zurück, der ihre Freiheit so wenig
achtet. Und doch kommen sie sogleich wieder zurück. „Was würden
die Römer sagen, was würde der Oberfeldherr von uns denken; die
Leute wissen ja nicht, dafs uns bitter Unrecht geschehen ist; man hält
uns für feig, weil die Schlacht losgehen soll.tt Ihr König eilt mit dem
ganzen Heere zurück und thut Wunder der Tapferkeit.
392 Die Slowinzen.
Es war eben der Kriegsmut, die Hoffnung auf Ruhm, die in ihren
Augen einzig richtige Ausfüllung eines sonst leeren Lebens, die sie in
die römischen Heere trieb. Und war der Krieg vorbei, so zog man in
die Heimat zurück, bis aufs neue wieder irgendwo etwas los war. Wie
oft sehen wir Herulerscharen die Ostseeströme auf- und die Pontns-
ströme abwärts wallen und umgekehrt. Und wo sind die Hernier?
Überall, in allen Heeren, zu allen Zeiten. Und wenn ihr alter König
erschlagen oder abgesetzt worden ist, geht immer wieder eine Gesandt-
schaft ins alte Stammland, „den König aus Thule" zu holen. Sie
gingen alle im fremden Lande zu Grunde; die Verbindung mit der
Heimat war zu bald unterbrochen, die Entfernung war zu grofs. Ganz
anders die Slawen, die Schritt für Schritt westwärts drangen, sich ein-
nisteten, wo Platz in Fülle vorhanden war, und das verringerte
Germanentum langsam überwucherten. Zu Karls des Grolsen Zeit ist
eben ganz Ostgermanien slawisch, wenn auch ohne einheitliche Führung.
Ja, unsere heimischen Schriftsteller gebrauchen sogar noch die alten
deutschen Namen für die unterdessen slawisierten Völker. Ein Zeit-
genosse Barbarossas, Helmold, nennt die Heveller ruhig Heruler; der
Pegauer Mönch läfst Wiprecht von Groitzsch dem harlungischen Königs-
geschlecht entstammen; die Werler und Balten (nach den Hirren des
Ptolemäus) setzt man ruhig den Herulern gleich; und dann bilden sich
die baltischen Letten und Litauer ein, sie hätten das römische Reich
zerstört. Bis in die neueste Zeit hinein haben selbst einige Gelehrte
Werler, Heruler, Hirren, Letten vermengt und vom „herulischen Vater-
unser" gefabelt. Vielleicht ist es der Name der Goten (Gudden), der
noch auf weifsrussischen und hochlitauischen Stämmen haftet, nachdem
diese Leute sogar eine um über 1000 Jahre spätere zweite Völker-
wanderung, die friedliche Sachsengängerei, Jahr für Jahr fortsetzen.
Karls des Grolsen Zug bis zur Peene vermochte ebensowenig wie
Bolealaw Chrobrys Eroberung des Gebietes östlich der Oder unsere
Pommern („die am Meere wohnenden") in Abhängigkeit zu bringen.
Dem Namen nach gehörte das Land seit dem 15. Mai 834 zum Erzbistum
Hamburg unter Ansgar („per omnem Slavorum provinciam usque ad
rnare"); als Karl im Juni 786 das östlichste Bistum Verden gründete,
reichte dies nur bis zur Peene. Unter Kaiser Otto I. wurde, mit der
Gründung des Erzbistums Magdeburg 968, der Erzbischof Adalbert
geistlicher Herrscher alles slawischen Volkes jenseits der Saale und Elbe
(archiepiscopus tocius ultra Albiam et Salam Slavorum gentis). Data aber
polnischer Einflufs in Pommern vorherrschend war, zeigt die Schenkung
eines Teils der Ostseeküste an Papst Johann XV., von selten polnischer
(Misica = Miseko) und pommerscher Herrscher (vgl. S. 8).
Der Pommernfürst Swantibor 1. hinterliefs 1 107 seinen beiden ältesten
Söhnen Slawien, den beiden jüngeren Pommerellen. Slawien reichte von
der Peene bis zur Persante und hatte Stettin als Hauptstadt. Pommerellen
erstreckte sich östlich davon bis über seine Hauptstadt Danzig hinaus.
Altpommersche Geschichte. 393
Zu Stettin herrschte Wratislaw L> der 1124 vom Bischof Otto,
von Bamberg zum Christentum bekehrt ward. Er errichtete zu Julin
(Wollin) ein Bistum, das 1140 nach Cammin verlegt ward. Kaiser
Lothar schenkte 1136 der Bamberger Kirche für die Bemühungen
Ottos die Landschaft Tribsees und vier Provinzen Slawiens. Die
Slawen leisteten der Christianisierung Widerstand. Am 11. April 1147
verniete Papst Eugen III. den Kreuzfahrern gegen die Slawen gleiche
Sündenvergebung wie den Jerusalemfahrern und im September 1151
bat König Swen von Dänemark den König Konrad zu einer Zusammen-
kunft, um mit ihm über die Zähmung (ad Slavorum depressionem) der
Slawen durch die deutschen Fürsten zu unterhandeln. Ratibor (illustris
princeps, dux Slavorum 1158), der Fürst von Schlawe, unterstützte
die Christianisierungsversuche. Er gab dem pommerschen Bischof
Adalbert das Kloster Stolp; so schenkte auch der Pommernfürst Sambor
dem Kloster Oliva 1178 mehrere Dörfer, und der Pommernherzog
Swantopolk beurkundete 1180, dafs die den Dänen abgenommene
Kastellanei Stolp von jeher zu Gnesen gehört habe.
Wratislaws Söhne, Bogislaw I. und Kasimir L, nahmen 1170 den
Herzogstitel an, betrachteten sich als deutsche Fürsten und wurden
von Friedrich Barbarossa 1181 zu Lübeck belehnt und unter die
Lehnshoheit des Markgrafen Otto I. von Brandenburg gestellt. In
der nächsten Zeit fanden Streitigkeiten mit den dänischen Königen
statt. Friedrich II. hatte dem König Waldemar einige slawische Be-
sitztümer in Pommern gegeben, die er nicht halten konnte. Nach der
Gefangennahme des Dänenkönigs Waldemar IL und seines Sohnes
durch den Grafen Heinrich von Schwerin verpflichtete sich der König
am 17. November 1225, alle Slawenländer (omnes terras Sclavie) aulser
Rügen nebst Zubehör beim Deutschen Reiche zu lassen. Die Herrin
von Schlawe, Miroslawa (Sclavorum ducissa et filius Barnim, dux
eorum), erhielt die ihr entrissenen Güter zurück. Langsam schritt
nun die Christianisierung und Kultivierung weiter. 1235 ward ein
Nonnenkloster Marien busch bei Treptow in Sclavia oder Sclavonia
gegründet.
Während für Pommern bis jetzt immer der Name Sclavia oder
Sclavonia (1239 populus terre Rugianorum in Sclavia) gebraucht wurde,
taucht auf einmal daneben Cassubia auf, scheinbar zum Unterschied
von den nie mit Sclavia, Sclavonia bezeichneten Pommerellen oder
Pomerania, zuerst wohl in einer Urkunde vom 19. März 1238. Da
nennt sich Bogislav I. Herzog Kaschubiens, Fürst von ganz Pommeranien.
Seit 1238 wird Cassubia öfter angewendet. Am 28. August 1245
stellt Papst Innocenz IV. die Minoritenbrüder in ganz Dacia (Däne-
mark), Cassubia und Pomerania unter den Schutz des Bremer, Hildes-
heim er, Schweriner Oberhirten. 1248 wird von einem Eindringen in
Kaschubien und ins Land der Kaschubiten (terra Cassubitarum) ge-
sprochen. Wratislaw III. war Herzog der Kaschuben, Barnim I. am
1
394 Die Slowinzen.
.22. Februar 1246 Herzog der Slawen, später Herzog „der Slawen oder
Kaschuben", doch führte er auch den Titel eines Herzogs „von Ka-
schubientt, „von Pomeranien", „von Stettin", „der Pommern". Die
Beifügung „oder der Kaschuben" erfolgte erst, nachdem er Schlawe,
Stolp und Beigard erworben hatte, so dafs also diese Gegenden als das
eigentliche Kaschubien anzusehen sind. Am 12. September 1248 werden
mit dem Ordensmeister Heinrich von Weida auch zwei adelige Mecklen-
burger, die Brüder von Sambors Gattin Mechthild, als Herren in
Kaschubien (dominos Cassubie), von Swantopolk von Danzig, Herzog
von Pomeranien, und seinem Bruder Sambor zu Schiedsrichtern ge-
macht. 1253 zeigt zum erstenmal Barnims I. Siegel die Inschrift
eines Herzogs der Slawen und Easchubiens, die verdeutscht in den
Worten Herren der Wenden und Kaschuben noch heute in Fürsten-
titeln fortlebt. Die Siegelinschrift lautet: Sigillum Barnim dei gratia
illustris ducis Slavorum et Cassubie. 1268 machte Bischof Hermann
von Cammin einen Unterschied zwischen Slawien oder Wendenland
(Mecklenburg), Kaschubien (Pommern) und Pomeranien (Pommerellen).
1289 heilst das Belgarder Land Kaschubien. So unklar die Begriffe
Kaschubien und Slawien waren, da ja nicht fest umgrenzte Provinzen
diese Namen führten , so hatte sich doch seit Ende des 1 3. Jahr-
hunderts, biß zu welcher Zeit Gegenden vom westlichen Mecklen-
burg bis zur Leba Kaschubien genannt wurden, der Gebrauch des
Kaschubennamens für die Lebagegend und des Wenden namens für
Westpommern festgesetzt. Daran hielt man bis heute fest; nur ist die
Verbindung des Namens mit Ostpommern seit etwa 150 Jahren schwan-
kend geworden. Mit dem Aussterben der Slawen Pommerns, dessen
östlicher Teil seit 1295 zeitweise mit Pommerellen verbunden war,
blieb der Kascbubenname auf den pommerellischen Slawen haften. Eis
ist eigentümlich, dals gerade diese pommerellische Sprache auch über
die Leba hinübergegriffen hat.
Barnim I. begünstigte das Deutschtum auf jede Weise; deutscher
Minnesang erscholl in Slawien. Sein hervorragendster Vertreter war
Fürst Wizlaw IV. von Rügen. Die alte Rugierinsel war von Slawen
als Hort echten Slawentums auserkoren worden. Bei Arkona stand der
berühmte Göttertempel. Schon Wizlaw I. hatte aber 1221 unter den
Aufstanden der Slawen zu leiden. Obwohl Slawe und von Slawen
umgeben (zwei edle slawische Zeugen, Boranthe und Pridiborc, werden
1225 in einer Urkunde zu Tribsees namhaft gemacht), begünstigte er
doch das Deutschtum. Wizlaw IV. (f 1305) nun, der nach dem Tode
seines Bruders Sambor zur Insel Rügen noch das gegenüberliegende
Festland 1304 erhielt, vermählte sich nach dem Tode der hinter-
pommerschen Herzogstochter Margaretha mit einer deutschen Gräfin
Agnes von Ruppin. Trotz seines fehdenreichen Lebens im Dienste
Erichs IX. von Dänemark pflegte er dichterische Neigungen. Frauenlob
und der Goldener rühmen ihn und sind wahrscheinlich von ihm unter-
Germanisier ung Slawiens. 395
stützt worden. Seine Verse sind niederdeutsch und heben sich mit ihren
kräftigen Tönen von einer Menge Singsang der damaligen Zeit vorteil-
haft ab. Rügen scheint fast ganz deutsch gewesen zu sein, 1404
(Tetzner, Slowinzen, S. 6) starb die letzte Wendin.
Wol up, gl atolten helde,
Nu komet vor mit melde
Drade up de velde.
Ne röket wie juk scelde,
Sit de tit is wunnechlik.
De böme sint gekleidet,
Den Vogelin beredet,
Vil manigen twich se bredet.
Ben röket wie se vedet:
Dit gift in de meije rik.
Nu tredet up den anger unde dönet
Mit den vögeln juwen nüwen söten Banc. —
"Wizlav de junge singet
Dit liet, sin fröwe em bringet
Dat Bin lif dorch se ringet,
Swö sere sie en dwinget,
Dat wird noch sin frouden dach.
1295 erhielten Pommern -Wolgast in Bogislaw IV. und Pommern-
Stettin in Otto I. eigene Fürstengeschlechter; die Oder war Landes-
scheide. Nach der Tannenberger Schlacht fielen Schlochau, Bütow
und andere polnische Landesteile an Pommern. 1464 wurden beide
Linien wieder vereinigt, aber 1523 unter Georg I. von Wolgast und
Barnim XIL von Stettin aufs neue geteilt. Im Vergleich zu Grimnitz
wurde 1529 festgesetzt, dafs Pommern reichsunmittelbar sein, Branden-
burg aber die Erbfolge haben sollte. Georgs Nachfolger war 1531
Philipp I. Kantzow (f 1542) unterscheidet um diese Zeit die
Wenden nach Sprache und Kleidung von den in der neuen Mark
und dem „Heitort" wohnenden Kaschuben, Sebastian Münster
schreibt auf seinen Karten den Namen Cassubia zwischen die Städte
Bütow, Stolp, Neustettin, den Namen Vandalia zwischen Lupow und
Leba, den Namen Unterpommern südlich von Vandalia und Lauen-
burg, Oberpommern bei Cammin, östlich vom Haff. Die beiden
pommerschen Fürsten nahmen 1534 zu Treptow die Reformation an
und lielsen durch Johann Bugenhagen eine neue Kirchenordnung
einrichten. Bugenhagen führte die plattdeutsche Schriftsprache
ein, und das Deutschtum war so mächtig geworden, dafs an slawische
Bücher zunächst gar nicht gedacht wurde. Aus den Offizinen von
Kellners Witwe und Jochim Rhete ging so manches Buch hervor,
das der Verdeutschung des Landes Vorschub leistete. Als Philipp L
1560 starb, hinterliefs er fünf Söhne: Johann Friedrich (1542 bis
1600), Bogislaw XIII. (1544 bis 1606), Ernst Ludwig von Pommern-
Wolgast, Barnim XII. (1549 bis 1603) und Kasimir von Cammin (seit
396 Die Slowinzen.
1573). Barnim XL behielt bis 1573 die Oberleitung, Johann Friedrich
(f 1600) regierte in Stettin, Ernst Ludwig (f 1590) in Wolgast; die
Jüngeren hatten Teilgebiete ohne Landesoberhoheit, so Barnim XII.
(f 1603) Bütow. Um diese Zeit nun veröffentlichte Simon Krofey
am Konkordientage 1586 seine „Duchowne piesnieD. Marcina Luthera~7
bei Jakob Rhode in Danzig gedruckt. Der Titel heilst verdeutscht :
„Geistliche Lieder Doktor Martin Luthers und anderer frommer Männer;
aus dem Deutschen in die slowinzische Sprache übersetzt von Simon
Krofey, Diener des Wortes Gottes in Bütow." In der Vorrede sagt
er, er verdanke seinen Fürsten so mancherlei; er habe Wohlthaten
von ihnen empfangen und wolle in aller Demut beitragen zur Samm-
lung des Volkes, wie zur Erbauung seiner Fürsten, an erster Stelle
also Barnims von Bütow und Rügenwalde, des späteren Herzogs von
Stettin, und Johann Friedrichs, die die kleine Arbeit und Dienst-
bezeigung als ein Ehrengeschenk annehmen möchten. Er hofft, dafs
weitere notwendige Bücher in dieser Sprache übersetzt würden, und
ist für seine Herren immer zu frommer Fürbitte und unterthänigen
Diensten bereit. Ich sah dies Buch neben der ersten Auflage des
Pontanus zuerst 1896, und es ist seitdem leider kein zweites
Exemplar aufgefunden worden. Das in Schmolsin aufbewahrte Büch-
lein, ein Schweinslederband in der Grötse von 8,5 X 13,5 cm, umfafst
Bogen A bis 0, deren erste Blätter am unteren Rande mit Zahlen ver-
sehen sind. Nach dem Titelblatt fehlen einige Blätter. Die Seiten
haben keine Zahlseiten. Die Lettern sind gotisch, zum Teil recht un-
deutlich. Zwei Blätter sind vorgeheftet und ein ganzes Bündel bildet
den Schlufs. Auf diesen Blättern stehen andere handschriftliche Lieder,
teils slowinzische Übersetzungen, teils deutsche Lieder und ein Kirchen -
gebet. Die Zahl der gedruckten Lieder, die von Luther, H. Sachs,
P. Eber, E. Alber, P. Speratus, L. Spengler, J. JonaB, J. Weis,
E. Hegen wald herrühren, ist 85; zuweilen sind Gebete angehängt,
86 steht die Litanei, 87 das Lied der Maria (Lukas 1), 88 der Lobgesang
des Zacharias, 89 der des Simeon, 90 bis 96 folgen Gesänge mit Noten.
Die meisten Gesänge haben nur die deutsche Anfangszeile als Über-
schrift. In der Inhaltsangabe wird erst das „Register nach dem
Alphabeth Deudsch" und dann das Register „wedluk Alphabet u
Slowieskytf aufgeführt. Man sieht, das Buch ist für doppelsprachige
Gemeinden berechnet, deren deutsche Glieder den deutschen Gesang
singen, während die Slowinzen den Text ihrer Sprache vor Augen
haben. Die 162 handschriftlichen Seiten bieten nicht nur sprach-
liches, sondern auch literaturgeschichtliches Interesse. Hatten schon
die gedruckten Gesänge Glossen und Zwischen Schriften , so bietet die
103. Seite des Anhangs den Namenszug eines Liederdichters und Lber-
setzers, des Schmolsiner Pfarrers Sporgius, und die 78. zeigt als Zahl
der Niederschrift 1709.
So nahe die Sprache der Krofey sehen Lieder dem Polnischen
Krofey. Bogislaw XIII. und XIV. Die Klosterhexe. 397
steht, so ist doch der Versuch Krofeys, das Slowinzische zur Schrift-
sprache zu erheben, ganz anzuerkennen. Dals der Bütower Pastor
damit einem Wunsche seiner Fürsten entgegenkam, ist sicher. Un-
erklärlich aber bleibt, weshalb das Buch in Danzig und nicht in Stettin
gedruckt worden ist. Wohl lag Danzig näher, aber die Verbindung
mit seinen Fürsten und der Eifer derselben für die Kultivierung ihres
Volkes und für Bücher mufs zu anderen Erwägungen führen. Wie
eifrig gerade die pommerschen Fürsten die Reformation und die guten
Neuerungen pflegten, ist oft hervorgehoben worden. 1582 war die
berühmte Druckerei zu Barth von Bogislaw errichtet worden, aus der
die niederdeutsche Bibel von 1588 und, nach der Verlegung in die
Stettiner Oderburg, 1603 Friedeborns Beschreibung der Stadt Stettin,
Gramers „Vier Bücher der grofsen pommerschen Kirchenchronik tt und
andere bedeutende Werke hervorgingen. Diese Druckerei kaufte
übrigens später der König Gustav Adolf und schenkte sie der neu-
gegründeten Dorpatschen Universität.
Die pommerschen Fürsten waren auch im Besitz eines Exemplars
der schönen 36 zeiligen Bibel, die von Gutenberg oder dem Bamberger
Albert Pfüster herrührt und jetzt in Greifswald aufbewahrt wird.
Johann Friedrich war ein prachtliebender und thatkräftiger Fürst. Er
baute 1575 bis 1577 das Stettiner Schlofs, nahm am Türkenkriege teil
und war durch seine Gemahlin Erdmute (f 1628) Schwiegersohn des
Brandenburger Kurfürsten Johann Georg (1571 bis 1598) geworden.
Die folgenden Jahrzehnte sind eine trübe Zeit für die pommer-
schen Herzöge. . Mit unheimlicher Schnelligkeit, ähnlich wie die Linien
Sachsen -Weif senf eis und Reufs-Ronneburg-Werdau, räumte der Tod in
kurzer Zeit ein zahlreiches und kinderreiches Herrschergeschlecht weg.
Von Philipps I. fünf Söhnen war nur Bogislaw XIII. (1603 bis 1606)
übrig geblieben, der hatte elf Kinder. Zwei von ihnen, Philipp II.
(t 1618) und Franz (f 1620), sind am. Stettiner Schlosse verewigt.
Die Inschrift lautet: 1619 illustriss. D. Philippus IL et Franciscus I.
fratres Sedinorum, Pomeranorum, Cassubiorum, Vandalorum duces,
Rugiorum principes, Caycorum comites, Leopoliensium . terrarum
Butoviensium dynastae hoc aedificium suis sumptibus exstr actum etc.
Unter Franz (f 1620) spielte auch der berühmte Hexenprocefs gegen
Sidonie Bock, seine frühere Geliebte, die auf der Folter eingestand, sie
habe das pommersche Herzogsgeschlecht beseitigen wollen. Sie stammte
aus einem wendischen Herrschergeschlecht an der Rega und endete auf
dem Scheiterhaufen. Wilhelm Meinhold, der Verfasser der Bern-
steinhexe und vieler hübscher Gedichte, behandelt weitschweifig die
Geschichte in seiner Klosterhexe 1847.
Der letzte männliche Sprols des Pommernherzogs, Bogislaw XIV.,
hatte trotz seiner Neutralität noch die Schrecken des 30 jährigen Krieges
zu erleiden. Er starb 1637; das Land fiel an Brandenburg, aber die
Schweden räumten Vorpommern . noch lange nicht ; die Hohenzollern
398 Die Slowinzen.
mulßten sich aulser mit Hinterpommern vorläufig mit dem Titel Herzog
der Kaschuben and Wenden begnügen and erhielten das letzte Stück
Pommern erst nach den Befreiungskriegen.
Es lebte nun noch die Schwester Bogislaws XTV., die Herzogin
Anna. Als sollte der Glanz des alten Greifengeschlechtes noch einmal
mit Sonnenglut in einem Edelstein leuchten, so sehen wir die letzte
pommersche Herzogin vor uns. Es ist zu verwundern, dats die zahl-
reichen trefflichen Romanschriftsteller Pommerns nicht ihre romantische
Lebensgeschichte mit neuem Zauber umgaben und dem Volke dar-
stellten.
Anna war das elfte Kind, die jüngste Tochter Herzog Bogislaws XIII.
und der Herzogin Clara von Braunschweig- Lüneburg. Sie war ein Mad-
chen, herrlich an Leib und Seele, beglückt vom Umgang liebender Brüder
und in schönster Eintracht lebender Eltern; heiter und sorglos flols
ihre Jugend dahin. Der Glanz des zu Stettin herrschenden Onkels, die
Bildungsbestrebungen des ganzen Herrschergeschlechts erfüllten auch
ihre Seele. Und wenn die Redner und die Dichter der damaligen Zeit
sie eine Esther von Charakter, eine Abigail an Verstand, eine Perle und
Krone der Fürstinnen nennen, so scheinen sie diesmal nicht übertrieben
zu haben. Leider starben Vater und Mutter früh, und schon am
4. August 1619 führte sie der katholische Ernst von Croy und Archot
als Frau heim. Aber der heifsgeliebte Gemahl mufs im kaiserlichen
Heere am Rhein fechten und stirbt nach 14 Monaten im Feldlager,
ohne sein Söhnlein Ernst Bogislaw gesehen zu haben. Nun beginnen
herbe Tage für die geistreiche, anregende Herzogin. Sie lebt bei
ihren katholischen Verwandten, wird gequält und geärgert, weil sie
nicht in die katholische Erziehung ihres Kindes willigt, man will sie
um das Ihrige betrügen; sie weilt bald da, bald dort, denn der
Reichtum der Croy- und Arohotschen Familie liegt zerstreut vom
Elsafs bis in die Niederlande. Da stirbt ihre Tante Erdmute, und ihr
Bruder Bogislaw XIV., jener gute treffliche Mensch, der freilich den
Stürmen des 30 Jährigen Krieges nicht gewachsen war, trägt ihr den
erledigten Witwensitz Stolp am 13. November 1623 an. Sie kommt
mit ihrem Söhnlein und lebt bis zum Tode ihres Bruders 1637 in
Stettin. Beim Erbvergleich des Schwedenkönigs Gustav Adolf und
Bogislaws war sie zugegen und soll dabei äutserst klug und takt-
voll gehandelt haben. 1637 zog sie nach Stolp, besuchte aber, überall
gern gesehen, fleilsig ihre Verwandten. Schmolsin erkor sie sich zum
Lieblingssitz und baute hier Kirche und Sohlols, unterstützte die
Armen und lebte ganz der Kunstpflege und Wohlthätigkeit. Als
herrliches Denkmal ihres Kunstsinns und ihrer Bildungspflege sind noch
jetzt die Schmolsiner Kirche (1632 gebaut) und deren Bilder, ist ihr
Marmordenkmal in der Stolper Schlot skirche , sind aber auch die von
rauher Hand zerstörten Schmolsiner Kunstschätze, sind endlich die
Werke des Pontanus zu betrachten. Als Anna 1656 in Greifswald
Anna -von Croy und Archot, Pontanus. 399
einzog, wollte die begeisternde Huldigung der Studenten kein Ende
nehmen. Als sie am 7. Juli 1660 die Augen Schlots, versank der
Glanz ihres Geschlechtes. Ihr Sohn, der schon mit 12 Jahren Herr
von Cammin war und Vasall des Groben Kurfürsten wurde, starb
1684 in Königsberg. Dessen natürlicher Sohn endete als Jesuit in
Ingolstadt. — Uns interessiert hier Annas Verhältnis zu Pontanus, der
seit 1610 als Schlolskapellan der Herzogin Erdmute und später als
Schmolsiner Pfarrer wirkte.
Auf das Bild, das Anna malen liefe und das den Pontanus in
seinem Ornate darstellt, hat sie in lateinischen Versen setzen lassen:
Mächtigster Jesu, du bist meine starke Brücke im Leben,
Mitten im Tode selbst wirst du die Brücke mir sein.
Süfsester Jesu! Mein Trost, mein Trost bist du mir im Leben,
Hoffnung im Tode und Trost, wenn ich einst wieder ersteh'.
Pontanus veröffentlichte 1643 seinen Katechismus. Die Wünsche
Krofeys hatten sich also sehr spät erfüllt. Pontanus erwähnt die Vor-
arbeiten Krofeys nicht, druckt aber ein oder zwei Lieder von ihm mit
Namensnennung ab. Der Katechismus war nach seiner ganzen Anlage
eigentlich mehr für die Pastoren und Lehrer berechnet; aber er brach
sich auch, wenn verschiedenen Zeugnissen zu trauen ist, beim Volke
Bahn. 1758 erschien eine neue Auflage, die wohl Schimanski oder
Engeland besorgten, 1828 eine dritte von Mrongowius. Die erste
Auflage, von der ich nur das Schmolsiner Exemplar kenne, führt den
folgenden Titel (der Druckfehler Germanica in der fünften Zeile ist im
Druckfehlerverzeichnis verbessert) :
In nomine Jesu.
Parvus Cate-
chismus
D. Martini Lutheri
Germanico - Vandalicus.
Der kleine Catechifsmus D. Martini Lutheri.
Deutsch und Wendisch gegen einan-
der gesetzt.
Mit anhange der Sieben Buszpsalmen König
Davids.
(Dann folgt der slowinzische Titel, bei dem noch die Passionsgeschichte
nach Matthäus mit aufgeführt wird, Luthers Bild von der Gröfse eines
Fünfmarkstücks und die Druckangabe:)
Drukowany w Gdainsku przes
Jerzego Bheta Boku Pänskiego 1643.
Der Pappband (15 X 17 cm) enthält viele doppelspaltige Seiten,
links den deutschen, rechts den slowinzischen Text; einleitende Worte
sind meist in lateinischer Sprache. Die Titelrückseite hat Psalm
34, 12 in allen drei Sprachen. Dann verbreitet sich Pontanus auf
vier numerierten und sieben unnumerierten Seiten über den Wert des
Katechismuslernens. Der Katechismus soll mit Fleifs getrieben, alle
400 Die Slowinzen.
Vierteljahre wiederholt werden, dafs die Herzen gewöhnet werden zur
Gottesfurcht und weg vom „segenen, böten, Wicken, Warsagen,
Zauberey und dergleichen Teuflischen Beyglauben". Ein vierzeiliges
Gedicht schliefst die Ermahnung. Nun folgen die Hauptstücke ohne
Luthers Erklärung und mit Erläuterungen, dazu Belegstellen und Bilder,
dann kommen Luthers Fragestücke und andere, wie Segen, Gebete,
Haustafel, Trau- und Taufbüchlein , darauf die ersten Bulspsalmen mit
dem Schlufs (slowinzisch) : „Diese Bücher hat Gott, dem Herrn, dem
Dreieinigen, zur Ehre und Erbauung seiner slowinzischen Kirche in
unserem Pommerschen auf die Bitte und dem Betreiben, auch mit be-
willigter Unterstützung einiger frommen Leute, verfalst, übersetzt
und für die Öffentlichkeit herausgegeben Michal Mostnik, d. i. Pon-
tanus oder Brückmann , Diener des Wortes Gottes in Schmolsin , am
Tage des Erzengels St. Michael, im Jahre des Herrn 1643. Dem Herrn
allein die Ehre. Ende." Nach diesen 206 Seiten folgen mit neuem
Titel noch 70 oder mehr Textseiten. Sie enthalten die illustrierte
„Passya" oder Leidensgeschichte , geistliche Lieder, eins aus Krofey,
zwei aus Krofey s Anhang. Eins der Gedichte ist „auff einer Fürst-
lichen, recht christlichen Creutzträgerin Symbolum" gedichtet. Die
Anfangsworte der Strophen heifsen: Hilf Jesu friedlich zur Seligkeit
persönlich. Es ist klar, dafs dies auf seine grofse Gönnerin geht, die
wohl auch die Kosten trug. Ich kann aber die Anfangsbuchstaben
nicht deuten, die Namen Anna und Ernst Bogislaw liegen nicht darin,
eher der des Herzogs Johann Friedrich zu Stettin -Pommern.
Pontanus Btarb in Armut; sein Sohn, der ihm zur Unterstützung
beigegeben war und sich unwürdig benahm, bezahlte seine Schulden
nicht. Erst Ernst Bogislaw berichtigte die 114 Fl.
98 (100) Katechismusfragen in beiden Sprachen, die in den anderen
Auflagen gedruckt stehen, folgen handschriftlich. Das Buch ist mit
Glossen versehen, besonders das Taufbüchlein („Das Überschriebene ist
der Dualis im cafsubischen Dialekt"). Auf einem Deckeleintrag steht,
dafs das Schmolsiner Exemplar 1675 Herr Johannes Sartorius einem
nicht genannten Manne geschenkt hat, was Brotolomäus Raddeus,
Küster in Dübsow (Grofsen Düpsau) bezeugt, der auch die Katechismus-
fragen geschrieben haben wird. Vielleicht war Raddeus selbst der
Beschenkte, auf keinen Fall war es der Schmolsiner Pastor. Denn
um diese Zeit war Thomas Pontanus (1654 bis 1696) angestellt, der
hatte dies Geschenk nicht nötig. Dafs man übrigens in der Zeit
des Pontanus den Unterschied zwischen slowinzischer und kaschubi-
scher Sprache genau kannte, bezeugt der Rektor des Stettiner Päda-
gogiums und Herausgeber des Werkes „Altes Pommern (Altstettin,
Georg Rhete, 1640)u, Dr. Johannes Micrälius, jener berühmte Ge-
lehrte, der die Überführung der früher erwähnten, aus Barth stammen-
den Bärtholdschen Druckerei nach Dorpat vermittelte. Er sagt auf der
211. Seite seines Werkes: „Es sind noch heutiges Tages die wendi-
Geschichte des Sprachstammes. 401
sehen örter von den cassubischen unterschieden, wie denn auch die
wendische Sprache etwas anders fällt, als die cassubische." Das ßlo-
winzische Sprachgebiet wurde natürlich immer geringer. In Schlawe
scheint im 17. Jahrhundert die slawische Sprache verschwunden ge-
wesen zu sein. In Stolp wollten die ersten Prediger an der alt-
städtischen Kirche keinen zweiten zulassen. Es wurde aber doch der
slawischen Sprache wegen einer für nötig gehalten und deswegen 1623
Paulus Manteius, 1644 Michel Pontanus (nicht mit dem Schmolsiner
zu verwechseln), 1677 Petrus Silvester angestellt, um 1700 scheint der
slowinzische Gottesdienst erloschen zu sein, um dieselbe Zeit in Freist,
wo 1636 noch ein Küster „den alten kaschubischen Leuten dienen
konnte u. Büsching (Neue Erdbeschreibung, neueste Ausgabe 1768,
IX, 2063 1) sagt um die Mitte des 18. Jahrhunderts: In unter-
schiedenen Kirchspielen dieses Kreises (Stolp) sprechen die Einwohner
deutsch und calsubisch, daher auch in den Kirchen deutsch und pol-
nisch gepredigt wird. Hübner (Reales Lexikon 1704; Aufl. 1764,
S. 431) kennt Kassuben nur als Herzogtum, Pommerellen, Lauenburg
und Bütow umfassend. Es scheint, da£s das Slowinzische im 18. Jahr-
hundert auf das Garder und Schmolsiner Kirchspiel beschränkt war, aber
in Anlehnung an das Lebakaschubische in Glowitz, Zezenow, Charbrow,
Leba noch stark genug blieb. Friederich von Dreger meint 1748:
„Die meisten Dörfer, sonderlich in Hinterpommern, sind von Wenden
bewohnt geblieben, wie denn auch jenseits dem Stolpischen Flufs die
wendische Sprache von den Bauern noch gebraucht, auch noch der
Gottesdienst in selbiger gehalten wird, welche Sprache man irrig die
cassubische heilst, weil Cassuben, Pommern, Pohlen zwar eine Sprache
gehabt, das eigentliche cassubische Land aber gewesen, wo nun Beigard,
Arnhausen, Polzin, Neustettin, Dramburg und Schievelbein belegen ist."
Dreger hat nun den Ton angegeben, der 100 Jahre und noch länger
fortklingt. Die Gelehrten streiten hin und her, was eigentlich kaschu-
bißch sei und was nicht, und wo die Kaschubei liege. Pfennig redet
von zwei Herzogtümern, Kassuben (Neustettin, Regenwalde, Polzin) und
Wenden (Rügenwalde, Stolp). — Zunächst freilich schien das Slowinzische
noch stark genug. In Garde wies man 1766 einen Prediger zurück, weil
seine slowinzische Predigt nicht zu verstehen war, und wählte Kummer
(1766 bis 1808), den Schwiegersohn des Glowitzers Schimanski. In
Schmolsin hatte J. M. Sporgius (1696 bis 1719) eifrig die slowin-
zische Übersetzung und Umdichtung gepflegt, sein Nachfolger G. F.
Lindner (1720 bis 1733) ward seiner guten kaschubischen Predigten
wegen angestellt; und Johann Heinrich Koller, der Hofmeister des
Herrn von Bandemer, der den Pietismus in Garde einführte, scheint
sich auch der kaschubischen Sprache angenommen zu haben. Denn
aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts stammen alle die handschrift-
lichen Bücher , die slowinzische Eigenart verraten , ' und wohl sämtlich
in den Bestrebungen der Schmolsiner Pastoren wurzelten: das Schmol-
T et in er, Die Slawen in Deutschland. 26
402 Die Slowinzen.
siner Per iko penbuch, das Schmolsiner Gebetbach, die Schmolsiner Er-
gänzungen und Glossen zn Krofey, die Glossen zu Pontanns. Pastor
Engeland (1734 bis 1752) hält noch kaschubische Prüfungen. 1747
rät Schimanski inGlowitz, man solle den Katechismus und die Heils-
ordnung deutsch und polnisch in gespaltenen Kolumnen drucken, aber
— um das Deutsche schneller einzuführen. In derThat ward 1758 der
Katechismus des Pontanus neu aufgelegt. — Nun schien auf einmal
das Slowinzische erschlafft Kummers Sohn und Nachfolger in Garde
(1808 bis 1836) kam schon in eine ziemlich deutsche Gemeinde, der
Schulunterricht war deutsch; die slawische Predigt seines Nachfolgers
Hafner (1837 bis 1844) war nicht zu verstehen, und A. Müller
(1845 bis 1858) hielt nur noch einigemal slowinzisches Abendmahl.
Nicht anders war es in Schmolsin. A. Friderici (1782 bis 1810,
f 1819) war zwar der echten kaschubischen Sprache mächtig, aber es
kamen nur noch 40 zum kaschubischen Abendmahl, und 1792 hörte
der polnische Katechismusunterricht auf; unter Kypke (1817 bis 1830)
schlief auch die kaschubische Predigt ein. Und die unruhigen Schmol-
siner, die den alten Pastor vertrieben und mit Rebellion und Schulgeld-
verweigerung 1830 bis 1838 den Behörden getrotzt, durch Brand-
stiftungen die Sicherheit gefährdet und den neuen Prediger Edel-
büttel, weil er nicht kaschubisch predigen wollte, bedroht hatten,
fanden in dem alten Freiheitskämpfer ihren Mann. Er predigte 1832
zu Weihnachten das erste- und letztemal slowinzisch, d. h. er las die
Predigt ab. Und damit war das Slowinzische als Kirchensprache er-
loschen. Die Behörden hatten schon längst gewünscht und angeordnet,
dafs das Deutsche immer besseren Eingang fände, und Edelbüttel
war ganz der Mann, in einer so aufgeregten Gemeinde durch Festig-
keit einerseits und durch Güte und treffliche geistliche Wirksamkeit
anderseits das Volk zu gewinnen. Es handelte sich nun um ein fried-
liches Einschlafen des Völkchens, das heute fast nur aus Fischern be-
steht und auf seinem Dünensand mit den ostpreufsischen Letten zu
vergleichen ist.
Die von D reg er angeregte Streitfrage greifen 1779 Herr
von Wobeser und Bernoulli auf. Ersterer meint mit Recht, Kassu-
ben und Wenden hätten nie Landschaften bezeichnet, die Kaschuben
hätten bis Rügenwalde gewohnt. Wo sind aber die Kaschuben und
Wenden geblieben? Bernoulli bestätigt, dafs er 1778 in Lupow eine
kaschubische Predigt gehört habe. Vom Slowinzischen des Pontanus
scheint man gar nichts gewufst zu haben. Haken teilt in demselben
Jahre die pommer sehen Slawen in drei Klassen: beinahe naturalisierte
Kaschuben an der westpreufsischen Grenze, Istker am Meere, Wenden
in der Mitte gegen die Leba. Mit den Istkern scheint er die Leba-
kaschuben, mit den Wenden die Slowinzen zu meinen. — In demselben
Jahre erschien der erste Theil von Brüggemanns Hauptwerk über
Pommern, darin berichtet Backe über die Wendisch -Deutschen (ger-
Literatur. Die Klucken. 403
manisierten Slowinzen) und Haken über die Lebakaschuben. ßüsching
1779, Brüggemann 1784, wie auch Wutstrack 1793, geben im
grolsen und ganzen die Angaben der vorhin genannten wieder. Die
kaschubische Probe Wut stracks, das Vaterunser, weicht von den
zuvor vorhandenen gedruckten und schriftlichen Fassungen ein wenig
ab. Easchubisch und Slowinzisch scheint jetzt in eins verschmolzen.
Als Lorek seine Arbeit: »Zur Charakteristik der Kaschuben am Leba-
strom" in den Pommerschen Provinzialblättern 1821 veröffentlichte,
machte der Herausgeber, Hakens Sohn, die Bemerkung, nur in Zezenow
und Glowitz werde noch in der Stolpeschen Synode polnisch gepredigt,
in Rowe, Garde, Schmolsin und Stojentin seien höchstens noch 50 bis
100 Stockkaschuben. Trotzdem war 1828 noch eine Neuauflage des
Pontanus nötig1). Mit Gründlichkeit, aber slawischer Voreingenommen-
heit, erfalste 1856 Hilf er ding seine Auf gäbe, die pommerschen Slawen
kennen zu lernen. Er bereiste alles Land und trennt ziemlich richtig
die westpreulsischen von den Lebakaschuben, Kabatkern (Glowito) und
Slowinzen. Die Ausdehnung ihrer Gebiete giebt er durch Aufzählung
der Ortschaften und rechnet dabei zu Ungunsten der Deutschen. Seine
Sprach- und Dialektproben sind die ersten derartigen. Das slowin-
zische Gebiet ward dann meines Wissens vor meiner Reise 1896 nicht
wieder behandelt. Seitdem haben u. a. Lorenz und Legowski neue
dankenswerte Studien über die Slowinzen veröffentlicht.
m. Die Klucken.
1. Lage und Umgebung. Die Klucken, 40 an der Zahl,
liegen unterm 39,05 Längen- und 54,64 Breitengrade und zerfallen
in die Schmolsiner, Selesener und Zemminer Klucken. Alle drei
bilden eine Schulgemeinschaft, aber nur die ersten eine Dorfgemeinde,
während die anderen zu den in dem Bestimmungsorte genannten
Dörfern gehören. Die Bezeichnung ist Eigenname ohne Artikel ge-
worden, so dals man jetzt unschön statt „in den Klucken tt sagt „in
Klucken u. Die Schmolsiner Klucken sind am meisten deutsch ge-
worden, hier befindet sich im Gegensatz zu den verstreut liegenden
anderen ein Fahrweg, der nach dem P/2 Meilen entfernten Kirch-
dorf e Schmolsin führt. Aufserdem hat dies Dorf die Schule, die Post-
niederlage, den Gottesacker und — den Krug. Der Gottesacker ge-
hört aber nur den Schmolsiner Klucken, die Selesener Klucken begraben
ihre Toten in dem l1/a Meilen entfernten Selesen, die Zemminer in
dem 2 Meilen entfernten Kirchdorfe Glowitz. Dahin gehen auch die
Bewohner der zuletzt genannten Dorfteile in die Kirche, während die
ersteren beiden in Schmolsin eingepfarrt sind.
') Vgl. auch Schafariks kurze Erwähnung der Ostseeslawen (Slaw.
Alt. II, S. 408. Leipzig 1844) und anderer Slowinzen (II, S. 330, 344, 498).
26*
404 Di© Slowinzen.
Die Klucken liegen mitten im Lebamoor, 2 km von der Südwest-
spitze des Leb a Sees, durch Wiesen von ihm getrennt. Sie stehen kaum
Va m über dem Seespiegel /sind bis zu 1km voneinander entfernt
und beherbergen etwa 550 Einwohner, von denen 350 auf die
Schmolsiner, 150 auf die Selesener und 50 auf die Zemminer Klucken
kommen. Die letzteren beiden liegen, getrennt durch moorige Wiesen,
2 km südlich von den ersteren und werden wieder voneinander durch
den Eluckenbach geschieden, der die Schmolsiner Klucken nicht be-
rührt. Mitten durch diese geht eine Sanddüne, die hinter der Schule
sich bergartig türmt und den Fahrweg vor dieser als Sandwüste er-
scheinen läfst. Von diesem Sandberge aus übersieht man nicht nur
die durch Fufspfade verbundenen Klucken und die Brücke, sondern
den See mit der Nehrung und die ganze Kaschubei. • Im Norden und
Nordosten breiten sich, unterbrochen von Sträuchern und schmalen
Gräben, die saftigen und bunten Lebawiesen aus, die im Schilf des
flachen Ufers enden. Zahllose bekannte und nicht wenige seltene
Blumen schmücken sie. Da finden wir das rote glockige Moosglöckchen
(Linnaea borealis) und den ährenähnlichen Sumpfwurz (Calla), den zähen
grünbraunblätterigen, weifs blühenden Sumpf porst oder wilden Rosmarin
(Sedum palustre), verschiedene Arten roten Ampfer (Rumex) und Augen-
trost (Euphrasia), gelbes Taschenkraut (Alectorolophus), weifses Wollgras
und gelben Löwenzahn (Leontodon taraxacum), Hahnenfufs, Wegerich
und roten Klee, braungelbes Läusekraut (Pedicularis) und weilse Schaf-
garbe (Alchemilla vulgaris), die kleine weilse Spergel (Spergula arvensis)
und eine ebenso kleine gelbe Hahnenfuf sart , rotes Epilobium und das
prächtige weilse Herzblatt (Parnassia), den Wasserliesch (Butomus
umbellatus), das Pfeil- und das Habichtskraut, den roten Stendel,
Sitter oder Sumpfwurz (Epipactis latif olia) und das Knabenkraut , den
Engelsüfs und die Hundskamille (Anthemis arvensis), das Sumpf -
vergifsmeinnicht und den seltenen Tannenwedel, wie den zarten Wasser-
nabel (Hydrocotyle vulgaris). Verschiedene Heidearten schmücken das
ärmlichere Land , so die rötliche , gipfelglöckige Erica tetralix und die
schlankere Calluna vulgaris. Im Bache aber leuchtet die schöne gelbe
Teichrose (Nymphaea lutea) und die Kaschubenraute, die sonst Wasser-
pest genannt wird. In dem sich westwärts anschlietsenden Walde sieht
man Birken, Buchen und Eichen, Heidelbeeren, Haselsträucher, Fichten
und Kiefern.
Nordwärts erglänzt der meilenbreite blaue Lebasee. Weifs leuchten
die Dünen der Nehrung, an deren Fuls sich Wälder anschliefsen.
Brauender Nebel verbirgt das zur Schmolsiner Hofkammer gehörige
Gut Dambee (Eichen), das von zwei Familien bewohnt wird. Hierher
geben die Kluckener oft ihr Vieh in die Weide und müssen dafür
jährlich pro Stück etwa 15 Mk. bezahlen. Im Osten der Nehrung vor
den Ruinen der Lebamünder Kirche liegen die Häuschen des Dörfchens
Rumbke, das nach Schmolsm eingepfarrt ist. Westlich von der Düne
Pflanzenwelt Geschichte der Elucken. 405
breiten sieb nach den Gehöften kleine Kartoffeläcker, sowie zahlreiche
Baumgruppen neben Kohlfeldern und Moorstichen bis zum Walde aus.
Am Ende aber winkt auf bober Düne ein Leuchtturm. Im Südwesten
ragt der beilige Berg der Kaschuben, der sagenumwobene Revekol, an
dessen Fulse Scbmolsin liegt. Yon hier fahren auf sandigem Wege
nordwärts Heu - und Torf wagen am Kanal bin , der die beiden Seeen
verbindet. Bis übers Knie versinkt man oft im Sande. . Ein Zieh-
brunnen ist weitbin sichtbar, dann wendet der Weg rechts nach den
Klucken ab, überall durch Sand, den man scherzweise „Hamburger
Schnee" nennt. Der Süden zeigt Binsen wiesen und Moorstriebe, unter-
brochen von Baumgruppen. Die Aussiebt endet mit . jener nadelholz-
bewachsenen Hügelkette, aus der im Süden, boeb erhoben, die Turm-
spitze von Glowitz schaut. Dabin führt jetzt von den Zemminer Klucken
aus ein Fahrdamm. Auch der weite Osten ist flach, hat Wiesen und
Moorgegend und endet in Wald und Hügel. Man erblickt die Strand-
dörfer Fuchsberg oder Giesebitzer Moor, Giesebitz, die Leb am ün düng,
Speck, Babidoll, Czarnowske und das Badestädtchen Leba.
2. Ortsgeschichte. Die Klucken sind alte Siedelungen, die
schon zu Beginn des vorigen Jahrhunderts einen heimischen Schul-
lehrer, Pollex (1738), hatten; ursprünglich sind die Häuser wohl
Ausbauten der betreffenden Dörfer gewesen, und aus den Schmolsiner
Barchenbüchern kann sicher nachgewiesen werden, wann die Neu-
siedelungen selbständig wurden. Die Bewohnerzahl ist früher eine
sehr geringe gewesen.. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wohnten
in den Schmolsiner Klucken nur 9 Familien, heute sind es über 60,
die Selesener weisen 20, die Zemminer 8 Familien auf. Von diesen
90 Familien, unter denen sich in den Selesener Klucken ein Haus-
stand Zigeuner befindet, sind nur die des Lehrers und des Gastwirts
rein deutsch, eine andere (Reimann) ist mit ihren vielen alt an-
sässigen Verzweigungen halb slowinzisch geworden. So kommt es, dafs
wir nur wenige deutsche Familiennamen antreffen. Und da aufserdem
seit alters fremde Siedler nur schwer in die Klucken gelassen, und meist
Verwandtschaftsheiraten geschlossen werden, so ist die Zahl der Namen
eine geringe. In den Schmolsiner Klucken herrscht von Anbeginn die
Familie Klück, sie weist 22 Hausstände auf, aufserdem 10 Pollex
und 8Keimann. In den Selesener Klucken walten die Namen Kirck,
Czirr und Ruch, in den Zemminer der letztere. Andere Familien-
namen, die häufiger vorkommen, sind Proy, Eick, Krietzsch,
Gabbey, Gromoll, Kaitzschik, Damaschke, Wogatzki.
So kam es, dals 1857 unter 57. Schülern 18 Klück, 13 Kirck,
10 Ruch, 4 Pollex, 3 Reimann waren, 1875 unter 72 Kindern
50 Klück. Die Zahl der Knaben überwiegt die der Mädchen, 1880
waren unter 82 Schülern 50 Knaben. Zum Unterschiede setzt der Lehrer
den Schülern des Vaters Vornamen vor. Aus der Geschichte der Klucken
ist erst seit der Mitte des 18. Jahrhunders etwas bekannt. Es werden
406 Die Slowinzen,
die ersten Lehrer Pollex (1738) und Heiek (1747) namhaft gemacht;
letzterer war „ein junger geschickter Mann" , unter ihm sollte eine
Schule gebaut werden, was jedoch erst 1863 geschah. In vorigem
Jahrhundert wirkte einer aus der Familie Klück. Er war früher See-
fahrer und wurde Schulhalter, weil er Schaden genommen hatte und
nun lahm war. Die Kinder brachten ihn selbst in die Schule und
nach Hause. Er bezog zwölf Thaler Gehalt und verfertigte wahrend
des Unterrichts hölzerne Löffel und Holzpantoffel. 1849 hatte der
Ort, wie so viele Grofsstädte, seine regelrechte Revolution, #ie sich in
der Zeit der Steuer Verweigerer , nach Edelbüttel, folgendermafsen
abspielte. Schon 1848 wollte man in Selesen kein Zollgeld bezahlen,
gab aber schliefslich klein bei. Die Selesener und Schmolsiner
Klucken widersetzten sich aber weiterhin, Chausseebeiträge abzuliefern,
da sie ja selbst keine Chaussee hätten und bekämen. Die Exekution
wiesen sie durch stummen Widerstand ab. Am 5. Juli in aller Frühe
rückten 1 Offizier, 7 Unteroffiziere und 43 Soldaten mit klingendem
Spiel von Stolp aus in Schmolsin ein. Am 6. früh 6 Uhr zogen sie
unter Trommelschlag in den Klucken ein, nahmen 74 Schafe, viele
Schweine und mancherlei Hausgerät. Dann ging es nach Schmolsin
zurück, wo anderen Tages alles verkauft werden sollte. Die Kluckener
kamen aber hinterher, borgten sich Geld in Schmolsin und bezahlten
die Kosten, die von 13 auf 126 Thaler gestiegen waren. Zwei Selesener
blieben indessen standhaft und wurden am 7. nachmittags durch einen
Trupp von 12 Soldaten nochmals ausgepfändet, und eine Kuh wurde
nach Schmolsin getrieben. Die Geschädigten gingen schnell nach, lösten
sie ein, wie jene die Schafe und Schweine, und zogen teils lachend,
teils scheltend zurück. Ein Klück aber rief dem Rittergutsbesitzer
Herrn v. Bandemer zu: „Wenn uns der König auf der einen Seite
und die Herren auf der anderen ausplündern, so kann nichts über-
bleiben.44 Er erhielt einen Kolbenstofs und flache Säbelhiebe, und der
Führer der Exekution wollte ihn mitnehmen; durch inständiges Bitten
erlangte er aber Vergebung. — Damals hatten die Schmolsiner Klucken
153, das Kirchspiel 3709 Einwohner. Die Schule wurde in einer Stube
abgehalten, die eine Witwe auf Gorni geschenkt hatte. Der Lehrer
und Schneider Gabbey hielt in einer Stube seines Wohnhauses Schule;
1863 wurde ein Schulhaus gebaut und ein seminaristisch gebildeter
Lehrer, Fröhling, angestellt, der nun in deutscher Sprache unter-
richtete. Er begann mit der Kultivierung des Bodens, die durch den
jetzigen Schmolsiner Pfarrer Neumeister und den Kluckener Haupt-
lehrer St odtmeister zu einer nicht mehr vergänglichen gestaltet wurde.
Der Boden, auf dem die Klucken gebaut sind, sucht an Ungast-
lichkeit seinesgleichen und ähnelt nur dem Czarnowkes. Zwischen
See und Dorf ist Wiesenland, das aber den Kluckenern nicht gehört.
Als nämlich die Regierung, um den armen Bewohnern aufzuhelfen,
diese saftigen Lebawiesen umsonst gegen geringe Grundsteuer anbot,
1
Die Klucken um 1848. Gehöftnamen. 407
nahmen sie das Geschenk nicht an und riefen dem Yerkünder zu:
„Dat möt wat sin, dat is en Seelenverkdper." Die Selesener dagegen
griffen dankend zu und scheuten den meilenweiten Weg nicht. Nun
müssen sich die Kluckener, die so wenig Gras haben, das schönste
Heil vor der Nase wegholen lassen, schelten auf die Witterer jener
Seelen verkeper und ergreifen jede Gelegenheit, ein Stück Wiese zu
erwerben, um nicht das teure Heu kaufen zu müssen. An die Wiesen
schliefst sich südwärts reiner Sandboden an, der Hauß und Zaun,
Baum und Stein zuweht und nur mit Mühe abgewehrt wird. Diese
Sandstrecke ist nur schmal, aber alle Schmolsiner Klucken stehen in
dieser Wüste, die noch westlich in den Wald hineinreicht. Weiter
südlich folgt Moorboden, der die Grundlage der Selesener und Zemminer
Klucken bildet, aus diesem aber hat man durch Kultur doch einige
Felder und Wiesen gewonnen. Das fruchtbare Land beginnt erst
südlich von den Klucken, nach einer stein- und kiesreichen Gegend.
Die Bodenschichten beim Brunnengraben sind dieselben. In den
Schmolsiner Klucken folgten beispielsweise auf drei Meter zu Tage
liegenden Sand ebenso viele Meter Moor und dann Kies.
Wie fanden sich nun die slawischen Siedler mit diesem Boden ab?
Von einer runden Dorf anlage, wie bei Garde, konnte schon des ungleich-
artigen, meist unbrauchbaren Landes wegen nicht die Rede sein. Die
Gehöfte baute man, wo man es für gut hielt, nur die Schmolsiner
Klucken bilden eine Straf se. Die beigefügte Karte (Abb. 170) des
einzig noch slowinzisch zu nennenden Dorfes bietet ein typisches Bild
der ganzen Art der Anlegung, wie sich erst, fast planlos, Gehöft mit
eigenem Namen an Gehöft ansiedelt. Sie zeigt auch die Zerstücke-
lung der minderwertigen Fluren, wie sie sich infolge der fortgesetzten
gegenseitigen Abgrenzung, sowie infolge der übertriebenen Erbteilerei
und des Klebens an der Scholle entwickelt hat. Jeder Siedler nahm
sein Stück und gab ihm einen Namen. Der Name des Stückes blieb,
auch wenn es wiederholt geteilt worden war. Diese Einrichtung
finden wir ebenso in Litauen und genau so in anderen kaschubischen
Dörfern. So hielsen die Teile Zezenows : Czegorke, Czeschinitz, Gawreuz,
Kateuz, Pablitz, Pasitz, Schlauschitz, Schlippnitz, Tomschütz, Toplilz.
Die Teile von Giesebitz führen die Namen: Bijelawa, Bilowa, Birk-
Lessagurka, Bobann, Buttaw, Czefka, Dobrowka, Jerusalem, Gonlätsch,
Kamstätsch, Klina, Kwistrow(Quisdofka),Misk(Mui8k), Nord, Oberstraf se,
Poagekraug (Froschkrug), Pajanke (Pajnik, Parzonka, Paris), Saborra,
Samuczefka, Sekampja, Woiistrow, Wolitsch, Zoll. Die Schmolsiner
Klucken grundstücke (vergl. Abb. 170) führten die Namen: Dambowi,
Gorni, Grczendovi, Jach, Lugowi, Novidomski, Pawelki, Piaskowi, Zickor.
Diese Namen waren so in Fleisch und Blut übergegangen, dafs bei*
spielsweise in der Schulliste unter Beschäftigung einfach der Name
Gorni oder Zickor geschrieben wurde, und Marie Klück Pawelks Marie
genannt ward. Jeder dieser Teile hatte nun, aufser seinen Stücken
408 Die Slowinzen.
Wiese, Acker und Unland, für gewisse Stücke Vieh Weidegerechtigkeit.
Brachte ein Teil mehr Kühe, so mufste dafür Bezahlung geleistet
werden. Ursprünglich erbte nur der älteste oder der jüngste Sohn
das Grundstück, später teilte man alles regelmäfsig, so dals Jetzt an-
nähernd 30Q zu den 9 Teilen gehören. Man teilte nicht, etwa • zu-
sammenhängend, sondern jede Sorte Land für sich, so data ein solcher
Teil jetzt eine ganze Menge kleiner, unzusammenhängender Teile in
Haus und Feld hat, die naturgemäls die Quelle von Familienprozessen
sein müssen, zumal die Teilungen nie gerichtlich festgesetzt worden
waren. Dazu kommt das Unangenehme , dafs eben keiner ein neues
Heim baut, oder auswandert, oder Geld statt des Teiles nimmt. Es will
durchaus jeder „Besitzer" — sei es auch nur einer Handbreit Erde —
sein, und wenn drei Familien in einer Stube zusammen wohnen müssen
und die Kate immer mehr Flickwerk wird.
In einem solchen Katenteil geschehen hintereinander . mehrere
Sterbefälle, die Frau bleibt allein übrig und yerläfst aulserdem ans
irgend einem Grunde gleichfalls die Wohnung, um eine andere
ererbte zu beziehen. Die Stube steht seit Jahr und Tag leer, die
Scheiben sind zerbrochen, Ungeziefer nistet sich ein. Ich frage:
Warum verkauft denn die Frau ihren Anteil nicht, obwohl Käufer
genug da sind? „Und wenn sie 1000 Thaler bekäme, will sie das
Stück nicht hergeben, weil es ja ihren Vätern gehörte." So kommt
es, dafs auch die Schmolsiner Klucken keinen aus den anderen auf
ihrem Gottesacker begraben lassen; der Gottesacker gehört eben nur
ihnen, und keine Summe kann genügen, ein Eckchen abzutreten.
Und sogar die Kämmerei giebt kein Land für den Gottesacker
weiter her.
3. Haus und Hof. Das Urgepräge des slowinzischen Hauses
ward durch fortwährenden Anbau verwischt, ist aber doch wieder zu
erkennen. Die Vorderseite ist meist der Strafse abgekehrt. Die Wände
sind aus Fachwerk oder blofsem Lehm gebaut, öfter ist der untere
Teil mit Brettern beschlagen, die Rückseite aber mit Schilf verstärkt.
Die Lehm wand ist etwa 2 m, der zugeschrägte Giebel weitere 3 m hoch.
Das Dach ist mit Schilf schindel bedeckt, trägt ein Storchnest, eine bis
zur Erde reichende Feuerstange oder Feuerleiter und zeigt erst neuer-
dings — einen Schornstein. Die alten Holzessen werden immer seltener,
doch sind selbst die Rauchkaten (Abb. 171) noch ziemlich häufig anzu-
treffen, bei denen sich der Herdrauch seinen Ausweg durch Fenster,
Thür und Bodenluke suchen muls. Rauchkaten giebt es aufserdem
auch noch in Garde. Die Vorderseite des Hauses ist in zwei Teile
geschieden, die beiden Thüren stoben mit den Bändern aneinander
und halbieren das Haus (Abb. 172). Je ein kleines sechsteiliges Fenster
und ein Hausfensterchen seitlich oberhalb der Thür kennzeichnen die
Vorderseite, die oben über der Thür augenförmig aufgebogen ist und
je eine Heuluke enthält. Unter den Fenstern sind Bänke, daneben
Hausbau.
409
Abb. 171.
e
e
TT
Ab
r>
Hh
J. a
■IH
Torf- oder Brennholzschichten. Die Hausflur ist meist in zwei Teile
geschieden, deren hinterer die Küche bildet. Zu dieser führt geradeaus
eine Thür, zur Stube seitwärts eine
solche, hinter der Stube ist noch
eine Kammer. Der Stubenthür
gegenüber stehen meist die Betten,
seitwärts der Herd und eine Kom-
mode oder ein Glasschrank.
Die Grundform wird verschie-
dentlich abgeändert; so finden sich
je zwei statt eines Fensters, oder die
Fenster sind in der Mitte und die
Thüren aulsen, zuweilen folgt der
Reihe nach Thür auf Fenster, in Rauchkate in den Belesener Klucken.
anderen Fällen sind die Ställe gleich Auf eingerammten Stubben liegen Steine;
seitlich angebaut. — Die Lehm- darüber Gersalsbau. Der Boden ist oben
wände ruhen selten auf Stein, mit Lehm festgemacht und mit Sand
häufig auf Stubben und Balken. Die ^T*' a\iohnc ^cke» da%I)ach.ii8t
° . i_ o • n» sichtbar; a Kleiner Vorraum (zuweilen
Diele fehlt meist, auch Steinniesen feWt die Wand zwischen a und b),
sind selten, oft ist der glatte Moor- b Küche mit b' Kamin, c Stube mit zwei
boden mit Lehm gemischt, mitunter Himmelbetten. d leere kleine Stube.
ist das blolse Moor mit Sand be- * e »***»&♦• Gegenüber liegt eine
, , „. . „ i , . wr « ▼on drei Seiten mit Kiefern als Um-
streut. Kein Haus hat einen Keller, 2äunung umgebene Raucllkate, deren
man baut einen solchen auf steiner- Rückseite ron Schilf beflochten ist und
ner Grundlage auf die platte Erde eine Thür mit zwei Luken aufweist. Vor
kegelförmig , etwa 4 m breit und der Rückseite ein 8 m langes Kartoffel-
3m hoch, man belegt ihn mit Holz fcld' vor der Vorde"eite cin Gärtchen.
und Schindel und bewahrt Kartoffeln darin (vgl Abb. 173, S. 410).
Ähnlich sieht auch der Backofen aus, er ist nur halbkugelförmig, besteht
Abb. 172.
Slowinzisches regelmäfsiges Haus.
a, a Hausthür. — b, b Hofthür. — c, c Stubenthür. — d, d Kammerthür. —
e, e Fenster. — f, f Hausflur. — g, g Stube. — h, h Kammer. — i, i Küche. —
k, k Betten. — 1,1 Tisch mit Stühlen. — m, m Kachelofen mit Ofenbank. —
n, n Kommode oder Glasschrank. — o, o Koffer.
Die Slowinzen.
!?
ff
I *
i
Hausbau.
411
aus Lehm und hat eine Eisenthür an der abgeschrägten Vorderseite
(Abb. 173).
Beim Gehöft (Abb. 174, 175 und 176) liegen der Vorderseite die
Stallungen oder Gärten gegenüber, jene wie die Wirtschaftsgebäude
Abb. 174.
N
TT
d
o
g
1
4-XjlI— Q
1h
DDf a
b' [ej
ED
g
IL_ X
Gehöfte in den Selesener Klucken.
a Wohngebäude; auf Stubben, darauf Steine, dann Balken mit Fachwerk, b Stall.
b' Entenstall aus Weidengeflecht, c Vorratschuppen ; Dach, ohne Grundmauern. Giebel-
zier auf der einen Seite: Doppelter Pferdekopf, darüber Modell eines Zweimasters.
Bei c' Thüreingänge mit je drei Teerkreuzen; Fisch als Wetterfahne; Dach: Schilf-
schindel; Dreiecksseiten: Bretter, d Dünger, e Ziehbrunnen, f Torf, g Eingang
ins Gehöft, h Kiefernwäldchen, h' Gärtchen mit Kirschbaum, i Hof. k Feld.
sind gewöhnlich seitlich. Die andere Seite ist für den Eingang frei,
der jedoch auch zwischen den Gärten durch auf den Hof führen kann l).
*) Über die ältere slowinzische Bauweise vgl. Backe: Die Bauart ist
nach der Landwirtschaft bequem eingerichtet. Der Hof' ist von den Wirt-
schaftsgebäuden ganz eingeschlossen, und man fährt durch das Thorzimmer
auf denselben, wo auf der einen Seite die Scheunen, auf der anderen die
Stallungen sind, über deren einer oder etlichen der Kornboden sich befindet,
und aus diesen kann man unter einem hervorragenden Dache auf einem Pflaster
nach dem Hause zu gehen. Ins Haus führt ein grofses Thor, weil sie einen
Teil ihres Heues oder Erbsen über dem Flur verwahren. Auf einer Seite des
Flurs ist das Torfmagazin, die Hille und Flocke für die Hühner, weiter hin
die Thür in den Kohlhof, und darauf in einer Reihe die Betten in der Achter-
luft, oder Achterherd, die durch ein Fenster erleuchtet wird, und wo die
grofse hohe Kirte der Hausfrau steht, imgleichen der Eingang in den Keller.
Gemeiniglich ist für Wirt und Wirtin ein Bette, welche aber im Winter und
wenn sie kleine Kinder haben, in der Stube, oder Nadup schlafen, darauf
ein oder zwei Gastbetten, und dann die Betten für das Gesinde und die
gröfseren Kinder. Zu diesen Betten müssen sie auf ihren grofsen Kummen
oder Kästen hinaufsteigen; und weil sie so nahe an der Decke sind, hinein-
kriechen, und kann sich niemand darin aufrichten, ohne mit dem Kopfe
anzustofsen. Gegen den Hauseingang über ist der Feuerherd unter einem
Schwibbogen, und daran stöfst die ordentliche Wohnstube. Auf der anderen
Seite ist noch eine Stube nebst den nötigen Vorratskammern, auch meisten-
teils noch ein Ausgang. Ihr aus Gerste und schwarzen Erbsen oder auch
Feldbohnen gebackenes Brot, wozu nur ein kleiner Teil von Boggenmehl
kommt, wird auf der rechten Seite des Feuerherdes in der Höhe auf einer
412
Die Slowinzen.
Abb. 175.
Hh
■U
nf\
&*\h
JJL
■Ih
A_
TT
A
f
g
Gehöft in den Schmolainer Klucken.
a Wohnungen. b Ställe. c niedriger Vorraum,
d Wirtschaftsgebäude, e Garten, f Torf, g Eingang.
Abb. 176.
Die G&rten haben selten einen Zaun, sind jedoch mit einem Rande von
Fichten, Birken oder Kiefern, auch Apfelbäumen umgeben, die 2 m von-
einander entfernt sind. Viel mehr als Kartoffeln und Kohl wird darin
nicht gebaut, doch be-
findet sich zwischen Gar-
ten und Wohnhaus anf
dem Hofe oft neben dem
Schöpfbrunnen ein Gärt-
chen, wo Salat und Ge-
müse, ein Obstbaum oder
Beerenstrauch gedeiht.
Ein von dünnen Asten
geflochtener Entenstall
und eine Hundehütte,
die immer den gleichen
sch&ferhundartigen klei-
nen Hund beherbergt,
runden das Bild des
Hofes ab. Die Felder
und Wiesen stofsen meist
nicht ans Gehöft, jene
bieten Kartoffeln und
Hafer und seit etwa
20 Jahren auch Korn.
Um den unfrucht-
baren Sand- und Torf*
boden nutzbar zu
machen, sind verschie-
dene Versuche angestellt
worden, aber die begut-
achtenden Herren kamen
immer zu dem Aus-
spruch: „Hier gedeiht
weder Baum noch
Strauch." DerThatkraft
zweier M&nner gelang es aber doch, aus Wüsten Paradiese zu zaubern ;
das sind Neumeister und Stodtmeister.
In den 70 er Jahren hatte der Schmolainer Pastor bereits dem frühe-
ren Lehrer mit Bäumen aus seinem Garten und Ratschlagen die Hand
Brottrage aufbewahrt, woselbst es im Winter nicht leicht friert. Es ist ganz
gut für einen starken Arbeiter, aber für einen zärtlichen Geschmack macht
der Torfgeruch und der strenge Erbsengeschmack es sehr unangenehm; son-
derlich wenn bei Mifswachs es aus lauter Gerstenmehl und Erbsen oder
Wicken verfertigt wird, da es wohl bei den stärksten einen Ekel wirkt,
welchen sie den Brodt-Koag nennen, d. i. eine langsame Krankheit (Fritzower
Gegend).
k k
Gehöft in den Schmolsiner Klucken.
a Rauchkate in Fachwerkbau. b nach aulsen zu
öffnende Thür. c nach innen zu öffnende Thiir.
d Fenster, e Heuluke, f kleine Fenster, g Schöpf-
brunnen, h Kartoffelfeld, umgeben von Birken,
Fichten, Apfel- und Weichselbäumen. i kleiner
Garten mit Salat und einem Apfelbaum, k Landstrafse.
Kultur der Klucken. 413
zur Urbarmachung eines Stückes Land geboten. Es erstand ein Garten,
dessen Spuren nicht untergegangen sind. Die baldige Versetzung des
Lehrers und die Abgeneigtheit seiner Nachfolger für Gartenbau lietsen
alles verkümmern. Folgen wir dem Berichte Stodtmeisters , der 1886
von der alten Arbeit nur wenig mehr vorfand. „Die Schulwohnstube
hatte bestofsene Thüren und Wände, die Tapeten waren zerrissen, die
Schulstube befand sich in ähnlichem Zustande, Bücher fehlten gänzlich;
sofort liefe der Schulvorstand das Gröbste in Ordnung richten, zur
Pflasterung der Küche liels er sich aber nicht herbei, da er selbst nicht
einmal in der Stube Steinbelag hatte. Vom Schulgarten sah man noch
Spuren früherer Anlagen und Anpflanzungen. Die einst von fleifsigen
Händen gepflanzten jungen Obstbäume und Beerensträucher waren
meist ausverkauft, einige waren des Nachts gestohlen worden. Da der
Zaun um den Garten fehlte, so konnte es auch nicht ausbleiben, dals
die noch übrigen Bäume vom Vieh befressen und bestofsen wurden/
Nun schickte der Pastor eine Einspännerfuhre Beerensträucher, Kirsch-
bäume u. s. w. Der Lehrer mischte den Sand mit Torfgräbenaus-
wurf, pflanzte und jätete und schuf einen wirklichen Garten. „An
der westlichen Seite des Schulgartens lag ein zur Schule gehöriges
Stück Unland, auf welchem die Bewohner weideten und Streusand
gruben. Es war der Wunsch der königl. Regierung, dies Stück Land,
etwa vier Morgen, zu tragbarem Lande umzuwandeln; aber kein Vor-
gänger that es." Nun grub auf Anraten des Pastors der Lehrer
einen Viertelmorgen aus, erhöhte ihn durch Moorboden und Gräben-
auswurf und pflanzte Hopfen und Gichorie. Daß war nicht lohnend
genug; da versuchte er mit guten Erfolge es mit Korn. Sofort gab
die königl. Regierung 40 Mk. Belohnung und forderte zu weiterer
Urbarmachung auf. 1887 wurde ein Stück zwischen dem Schulgarten
und der Viehweide, 1888 ein anderes fertig. Da gewährte die königl.
Regierung 150 und 179 Mk., und der Kammerherr v. Bandemer
schickte seine Begutachtung der königL Regierung ein. Nun wurde
immer weiterer Boden ertragfähig gemacht, und des Kaisers Gnade und
die Anerkennung von Seiten der Regierung wurden dem Lehrer wieder-
holt zuteiL Man kaufte ihm eine Wiese, baute ihm eine Scheune für
1300 Mk. und unterstützte ihn überall.
Jetzt ist das grolse Schulgrundstück ein blühendes und frucht-
reiches Paradies. Schwerer Roggen gedeiht auf den Feldern, und Obst
und Wein blinken dem Wanderer entgegen. Hat denn die segens-
reiche Arbeit des Lehrers Nachahmung gefunden ? Leider nicht allent-
halben. Wohl wurden von der königl. Regierung Preise zu weiterer
Urbarmachung ausgesetzt. Da machten sich's einige leicht und
setzten Kiefern in den Sand, den meisten anderen dauerte die Zeit
zwischen Saat und Ernte zu lange. Sie wollten noch selbigen Jahres
Früchte sehen und lielsen alles liegen, als die Bäumchen so langsam
wuchsen. Zudem liebt der Slowinze die Früchte nicht, sie sind ihm
414 Die Slowinzen. l
0
lediglich ein Verkaufsstück für den Markt Einige Einwohner aber
haben sich des Lehrers Wirksamkeit znm Vorbild genommen. Beson-
ders eifrig ging man daran, auch Boggenfelder anzulegen, und diese
nehmen jährlich an Zahl zu. Andere Eluckener von zäherer Ausdauer
betrieben die Anlage von Gemüse- und Obstgärten. Die ersteren sind
zahlreicher, die letzteren finden wir bei drei Einwohnern. Im Schul-
garten stehen 100 Obstbäume, einzelne kümmerliche hat fast jeder
Besitzer. Um einen Begriff vom Beichtum jenes Gartens zu geben,
wo vor 25 Jahren Sand inmitten von Sande lag, will ich die wichtig-
sten Gewächse darin anführen. Es gedeihen Johannis-, Stachel-, Wein-,
Hirn- und Erdbeeren; Äpfel, Birnen, Kirschen, Pflaumen, Walnüsse;
Bohnen, Kartoffeln, Salat, Radieschen, Gurken, Kürbis, Sellerie, Peter-
silie, Zwiebeln, Hopfen, Cichorie, Buben, Kohl; Bösen, Nelken, Georgi-
nen, Päonien in Buchsbaumumrandung. 1895 verkaufte der Lehrer
2Va Centner Honig aus neun Bienenstöcken, für 10 Mk. Hopfen, für
13 Mk. Eierpflaumen, für eine ziemliche Summe Obstwein. Früher
baute man das wenige Gemüse auf dem Felde, jetzt säen viele schon
drei bis vier Scheffel aus und lassen jenes im Garten gedeihen; eine
Familie brachte für 50 Mk. Zwiebeln auf den Markt. Mit einiger
Sorgfalt wird Kartoffelbau auf dem Torflande getrieben. Abgesehen
von den Stichen, die man zur Torfkultur, nämlich zur Erlangung der
Brennsoden bestimmt hat, behandelt man das Moorland an günstigen
Stellen wie Ackerland und baut Buben, Hafer und besonders Kartoffeln.
Die Behandlung des Bodens geschieht auf folgende Art: Man sticht
mit dem Spaten etwa 0,2 m tief den heidebewachsenen Torf heraus,
wendet ihn um und lätst die Pflanzendecke als Dung verfaulen. Oben
darauf streut man wieder Dünger und gräbt dann im nächsten Frühling
nochmals um. Abzugsgräben nehmen das Wasser auf, so dats die
höher liegenden breiten Beete trocken bleiben.. Diese Gräben müssen
immer gereinigt werden, und den Gräbenauswurf benutzt man zur
Düngung sandiger Grundstücke. Die gründlichste Grabung findet
nach Frühlingsanfang statt Dann wird nochmals gedüngt und ge-
graben und im Mai mit dem Kartoffelstecken begonnen. In den
folgenden zwei Monaten wird mit einer karstartigen Hacke das Un-
kraut entfernt und das Kartoffelhacken zweimal vorgenommen. Die
Kartoffelernte ist sehr reichlich, der Name „Kartoffelkaschubei", den
die Einheimischen gebrauchen, zutreffend. Mit Leichtigkeit und ohne
Gerät nimmt man mit der Hand unter dem Kartoffelkraut die Knollen
weg und legt gleich im Moor grolse Mieten oder Haufen an, in denen
man die Kartoffeln aufhebt. Meist sind sie fast luftdicht von der
Aulsenwelt durch Schilflagen abgeschlossen. Im April schafft man die
übrigen Kartoffeln auf die Scheunentennen und rüttelt sie alle 8 bis
14 Tage rollend auf dem Boden mit den Händen hin und her, dats
die Keime abbrechen. Der Kartoffelreichtum gewährt die Mittel zu
reichem Viehstand; in dem nahen Giesebitz werden wohl 50 Stück
Beschäftigung. 415
Mastvieh auf einmal verladen; Rind und Schwein sind gut genährt,
der mangelnde Wieswachs wird durch Kartoffeln und Ruhen aus-
geglichen. Wie der Kluckener auf feine, reine Geräte in Haus und Hof,
auf dem Acker und der See halt, so sorgt er auch für reichliche Dün-
gung. Geschieht dies letztere auch nicht allgemein, so treibt doch die
Not und der dürftiger werdende Fischfang immer mehr dazu. — Wie
lange wird es dauern, so erntet vereinzelt der Kluckener gleich dem
Giesebitzer seine 15 Scheffel Roggen auf dem Morgen gepflegten Acker-
landes! Freilich ist das Ackerland sehr selten und teuer, und der
Bau auf dem Moorlande ist leichter. Die aufgeworfenen Moorhäufchen
geben grofsen Landstrecken ein eigentümliches Aussehen. Noch einer
Ernte ist zu gedenken, die erträglich ist, das ist der Schilf schnitt am
Seeufer. Er erfordert keine Mühe und Auslagen als eben das Schneiden
und soll beispielsweise dem Giesebitzer Rittergutsbesitzer an 2000 Mk.
einbringen. Man benutzt das Schilf zu Schindeldach ung.
4. Beschäftigung. Garten-, Ackerbau und Viehzucht bilden
nicht den Haupterwerb des Slowinzen 1). Aufser Schafen, Ziegen,
Schweinen, Enten, Gänsen, Tauben und Hühnern besitzen die Schmol-
siner Klucken 8 Pferde und 140 Kühe; von letzteren gehören 3 der
Schule. Keiner hat mehr als ein Pferd, bei festlichen Gelegenheiten thun
sich immer zwei zu einem Gespann zusammen. Die herrschaftliche Jagd
erstreckt sich auf unsere bekannten Wildarten, zu denen auf der See-
seite wilde Enten und Schnepfen kommen. Die hauptsächlichste Be-
schäftigung aller ist die Fischerei. Doch treibt eben jeder alles, fischt
früh, bessert an seinen Hausgeräten mittags und versorgt nachmittags
das Feld und den Torfstich. Alle nennen sich „Eigentümer", auch
Wirt oder Besitzer; einer, der ein Haus für sich hat, ist „Büdner"; ein
einziger Tagelöhner ist ohne eigenes Heim; sonst führt, abgesehen vom
Lehrer und Wirt, je einer die Bezeichnung Tischler, Schneider und
Dachdecker.
Die Hauptbeschäftigung nun, die Fischerei auf dem Lebasee, er-
fordert genaue Kenntnis der Netzarten. Das wichtigste Netz ist die
Zese, mit der man auch in den Haffen fischt. Sie gilt für den Lebasee
l) Vgl. Haken über die Beschäftigung des Slowinzen 1779: Sie sind
zu Künsten und sogar zu Wissenschaften nicht ungeschickt, indem manche
Bauernsöhne dieser Gegend Gelehrte geworden sind, und man unter ihnen
viele antrifft, die durch ihr eigenes Nachdenken und Fleifs in Schiff-, Häuser-
und Mühlenbau, in der Uhrmacherkunst und dergleichen auch viele Ge-
schicklichkeit erworben haben. Das weibliche Geschlecht legt sich auf
Spinnen und Weben, so dafs sie alles, was sie an leinen, wollen und halb-
wollen Zeug gebrauchen , selbst verfertigen , die Wolle auch selbst färben ;
das männliche pfleget zu stricken, wenn es mit der Feldarbeit nicht be-
schäftigt ist, und die Holzpantoffeln, welche sie im Hause und bei der Arbeit
tragen, für sich und die ihrigen zu verfertigen. Zum Beweise ihrer Wirt-
schaftlichkeit dienet, dafs Knechte und Mägde sich von ihrem Lohn zu
erübrigen suchen, und letztere sonderlich sich Leinen und Betten erwerben,
um damit eine eigne Wirtschaft anzufangen.
416 Die Blowinzen.
als „Fischfresser" und ist jetzt verboten, trotz aller Bitten der Klucke-
ner. Die Zese ißt eine richtige Mausefalle, auch der Gestalt nach;
die ich sah, war etwa 2m breit und dreimal so lang. An der oberen
Seite sind Holzstücke aus Pappelborke befestigt, sie werden von den
Slowinzen Pluto, von den Niederdeutschen Flete genannt und dienen
dazu , dafs das Netz offen bleibt. Die kegelstumpff örmige Maschen-
kehle oder Mäternitz zeigt den Fischen den Weg ins Gefängnis. „Was
da herein ist, kommt nicht wieder heraus u, sagte man befriedigt. Die
Slowinzen meinen, es sei ein grolses Unrecht, dafs man ihnen die
Zese entzogen habe. Jeder Vernünftige müsse einsehen, dals sie nur
grotse Fische fange, und gerade die kleinen Arten würden immer sel-
tener. Aulserdem wülste man ja gar nicht, wovon man weiterhin leben
solle. „Wir wollen Se. Majestät bitten, uns nur die Zese wiederzugeben,
ohne ihn wird sie nicht wieder erlaubt. tt Der Oberförster von Schmolsin
hat mit eiserner Hand auf Erfüllung der Vorschriften gehalten, dals
nicht Raubfischerei getrieben wird.
Ähnlich der Zese ist die Reuse, nur dafs sie stufenweise spitz
zuläuft und statt der Fleten Bogenreifen besitzt. Die Kehle beginnt
1 Va m vom Anfang und vom Ende zwischen dem zweiten und dritten
Reifen. Eine Abart der Zese, die Flunderzese, wühlt mit Bleistücken
im Grundsande, ist in der Mitte eng und vorn und hinten gleich breit.
Die Zese wird von zwei Booten mit je zwei bis vier Mann Besatzung
in die Mitte genommen. Ein kleines Staknetz führt den Namen Klimjo
oder Klemenz. Eine andere kehlenlose Netzart, die sich bei den
Slowinzen schwerer einbürgert, weil sie eine Neuerung ist und zu
viel kostet, ist die Wjidnik. Sie hat nur Flügel und ein Meternetz
(Mazeza). Die Maschen werden hinten immer enger und haben nur
noch 1,5 cm Breite. Man windet die Wjidnik mit Kähnen auf dem
Lebasee, daher hat sie auch ihren Namen (slow, wjio = winden). Ihr
ähnelt die Brozeschke (von slow, bruodzec = waten), die nur im
Flach wasser gebraucht werden kann. Zur künstlichen Fischerei nimmt
man Streichnetze. Viel verwendet wird der Kescher, insbesondere der
Zauwekescher (Ziehkescher) oder, wie man abergläubisch umgedeutet
hat, der Zauberkescher. „In den geht alles hinein. tt Er ist ein ein-
facher kurzstieliger Hamen (vgl. Abb. 58, S. 153) wie ein Schmetter-
lingsnetz, der Bügel ähnelt einem kleinen Ballschläger im Wurfball-
spiel. Man fängt Plötze, Barsche, Aale, Schleien, Hechte, Bleie, Zander,
Dorsche (Pomuchel), selten Lachse. Auf dem Meere wird selten ge-
fangen, obwohl es durch die Leba mit dem See verbunden ist. (Vgl.
die Netze der Kuren, S. 153.)
Die künstliche Winterfischerei verdient besonders hervorgehoben
zu werden, sie wird von andauernder Romantik umkrönt. Im Sommer
trinken die Kameraden jeder Abteilung in gehobener Stunde „auf
Rechnung des ersten Winternetzes u, die jungen Mädchen bleiben nicht
zu Hause und beteiligen sich unter Scherz an der harten Arbeit, und
Fischerei. 417
das ganze Dorf lauscht gespannt auf den Ausgang jedes Zuges. Zwölf
Teilhaber oder Maschkops wählen unter sich für den linken Flügel
(Lewie) und für den rechten (Prawig) je einen Kapitän und nehmen
eine Anzahl Arbeiter (Mandelniks) an, darunter auch Mädchen. Ein
Teilhaber macht den Schenken, der rund herum den Schnaps gleich-
mäßig einschenkt. Den Teilhabern gehören die Netze, die unten
spitzen Kähne mit flachem Boden und die gröfseren unten breiten
Boote gemeinschaftlich; sie teilen später die grofsen Fisch arten, wäh-
rend die Arbeiter die kleinen bekommen, alles nach altem Brauch. Die
Arbeiter bekommen für ihre ganze Arbeit nichts, wenn keine kleinen
Fische im Netze sind, und die Teilhaber haben umsonst Mühe und
Zeit verschwendet, wenn nur kleine Fische ins Netz gingen. Die
Arbeiter gehen des Wassers wegen in ganz kurzen Hosen mit ebenso
langen Taschen, in die mitunter grofse Fische wandern sollen. Jeder
macht seine Arbeit und hilft dem andern nicht. Nun hackt man zwei
grofse und viele kleine Löcher in eiförmiger Anlage. An der Spitze
wird das sackförmig endende Netz, befestigt an je einer Stange mit
Seil, eingesenkt. Dieses Netz ist sehr grots, das Fuchsberger milst
100 Klafter = 150 m auf jedem Flügel. Die Stange (Prat) wird durch
eine kürzere mit Zwiesel versehene Richtstange (Klatsch) nach der
nächsten Eisöffnung gelenkt und von einer ebenso kurzen Gaffelstange
(Wjidl, poln. widly) dahin geschoben. Das Ruder heilst Wjisl (poln.
wioslo). So geht es auf beiden Seiten von Loch zu Loch, am grofsen
Endloch holt man das Netz heraus. Inzwischen ist unter Gesprächen
immer die Flasche herumgegangen und das Brot aus der Lischke ver-
zehrt worden. Die Lischke ist ein starker, geflochtener Spankasten,
reichlich }/2 m lang, nicht ganz halb so hoch und breit. Sie hat einen
ebensolchen übergestülpten Deckel mit lederner Handhabe in der Mitte.
Nun teilen die Teilhaber ihre Fische in 12 Teile, die Arbeiter die
ihrigen. Einer mufs dem Schauplatz den Rücken wenden und wird
gefragt: eis stuga? (wessen sind sie?). Er nennt die Namen, und die
inzwischen mit Karinen herbeigeeilten Kinder und Frauen schaffen die
Fische sofort nach Hause und eilen damit in die nächstliegenden
Dörfer und Städte zum Verkauf. Die Karine ist ein kleiner Rücken-
tragkorb, die Vorder- wie die Hinterseite hat einen BügeL Auch
Nichtbeteiligte kommen, um billig Fische zu erwerben, falls der Fang
ein guter war. Die Teilung, die im Winter auf dem Eise geschieht,
nimmt man im Sommer in der Nähe der Pustiniebrücke vor, wo
die Kähne landen. Es ist schon vorgekommen, data ein Netz für
1500 Thaler Fische herausgezogen hat; in Fuchsberg fing man im
Januar 1891 für 2400 Mk. Bleie auf einen Zug. Die armen Kluckener,
die bei der Zesenfischerei erwischt werden, müssen das erstemal 15Mk.
Strafe, das zweitemal das doppelte, das drittemal das vierfache, dann
das achtfache zahlen. „Ein Zug bringt alles wieder ein", trösten
sich die in ihr Schicksal Ergebenen. Jetzt kommt gewöhnlich ein
Teten er, Die Slawen in Deutschland. 27
418 Die Slowinzen.
Großhändler und kauft die Fische gleich vom Eise weg, da giebt es
dann nach glücklichen Zagen abends ein lärmendes Fest im Krage;
sonst ilst man nie daselbst. Aber bei solcher Gelegenheit schmaust
man Hering und Brot und bis zum frühen Morgen — Schnaps.
Zum Vergleich sei auf die Fischerei eines der westlichen Kirchspiele
des ehemaligen slowinzischen Gebietes aufmerksam gemacht, aus dem
Backe vor einem Jahrhundert einen Bericht über die Wendisch-Deutschen
veröffentlichte: auf die Fischerei des Fritzower Kirchspiels. Dieses liegt
am Fritzower See, dem nördlichen Teile des Camminer Boddens, der
erweiterten Dievenow - Mündung. Vom Fritzower See flielst die Die-
venow in westlicher Richtung und läfst eine kilometerbreite Nehrung
zwischen Bodden und See liegen, derart, data am Beginn der Nehrung,
im Osten, Klein -Dievenow, ein ehemaliges Vorwerk von Fritzow, liegt.
In einer Entfernung von 3 km westlich folgt der jetzige Hauptteil,
Berg-Dievenow, und noch 1 km Ost-Dievenow. Gegenüber, auf Wollin,
V* km entfernt, liegt West-Dievenow. Es heilst deshalb WeBt-Dievenow,
weil es am Westufer der Dievenow liegt, von Ost-Dievenow liegt es
südlich. West-Dievenow ist ein altes Fischerdorf, die drei anderen
Dievenow, besonders Ost- und Berg-Dievenow, sind jetzt beliebte See-
bäder. Die Fritzower und Camminer Fischer fischen im Bodden, die
Dievenower fast nur auf dem Meere. Der Hauptsache nach treiben
diese Dievenower den Störfang. Sie befahren mit ihren grofsen
Kuttern die ganze Küste, ja bis zu den Ostseeprovinzen. Immer thun
sich mehrere Fahrer zusammen und verkaufen den Fang dann an der
Küste. Das Störnetz wird aus 50 Pfund Baumwolle hergestellt. Der
Schwere dieses Netzes wegen macht man jetzt nur halbe Netze xa
25 Pfund. Die Netze stricken die Fischer den Winter über mit Nadel
und Bock (Abb. 177) oder bekommen aus Itzehoe das fertige Garn, das
Abb. 177. zuvor in OstpreuIsen; . der dortigen billigen Löhne
wegen, gesponnen - wird. In Dievenow wird dann
nur das Tau dazu gemacht. Die Maschen haben
70 bis 80 mm Knotenlänge. Ein halbes Netz ist
20 Maschen tief und 70 bis 75 Klafter breit. An
der oberen Breitseite wird die neunte Masche am
Tau mit Faden festgeschlagen (Schlag), alle vier
Netznadel mit Bock. Schläge wird ein Korkflols oder eine Flete befestigt,
ein Stück Kork, V4 m lang, halb so breit und etwa s/4 ^m dick- An der
unteren Breitseite sind an der 19. oder 20. Masche etwa 20 grofse Zink-
ringe befestigt, die 36 cm im Durchmesser halten und das Netz auf dem
Grunde festhalten. Vier solche halben Netze („Länge" oder „Worp")
sind in einer Länge zusammengesteckt und stehen etwa 4 m über dem
Meeresgrunde. In einer Linie mit einiger Unterbrechung stellt man
nun 120 halbe Netze auf dem Meeresgrunde auf und man hat zwei bis
drei Stunden zu segeln, wenn man den ganzen Jagdgrund übersehen
will. Würde man die Netze auf einem kleineren Räume aufstellen, so
2
Netze. 419
wäre der Fang nicht ergiebig genug. Jede L&nge wird an beiden
Seiten verankert. Der Anker liegt schief abseits, oben ist die Steuer-
leine mit dem Schwimmholz, auch Bake, Steuer oder Sweeke (Rügen)
genannt, das ist ein kahn&hnliches Holzstück mit Fahne. Das Anker-
seil ist 30 m , die Leine am sogenannten Schulmeister etwa 20 m lang.
Der Störfang währt vom Februar bis September. Jede Fahrt von
Swinemünde in den Rügener Fischgrund, eine Entfernung von fünf
deutschen Meilen, dauert etwa zwei Tage. Die Netze liegen immer
auf dem Meere, müssen aber im Sommer alle 14 Tage, im Frühjahre
alle sechs Wochen herausgeholt und getrocknet werden, dafs sie nicht
verfaulen. Der Fang wird nach Salsnitz, Cammin, Stettin oder Swine-
münde gebracht, wo gewisse Händler stete Verwendung haben. Es
kommt vor, dafs gar kein Stör eingegangen ist, zuweilen hat man elf
und mehr gefangen. Der Händler bezahlt 45 bis 60 Pf. für das Pfund,
und ein Stör wiegt etwa einen Centner.
Gleich wichtig ist der Flunderfang. Das Flundernetz zählt
1400 Maschen oder 2800 Knotenlängen und ist 20 Maschen oder
40 Knoten tief, die Knotenlänge beträgt 55 mm. Acht bis zehn Netze
werden zusammengebunden. Im ganzen liegen 50 Netze auf einem
Jagdgrunde. Oben schwimmt Pappelborke oder Kork, unten halten
dünne Bleiröhrchen das Netz straff. An den seitlichen Enden sind die
14 bis 15 Klafter langen Seile, G renke genannt, befestigt. Von den
Grenken aus reicht ein Seil mit dem vorhin erwähnten Schwimmholz
nach oben. Morgens 2 Uhr wird auf den Fang gefahren, um 9 oder
10 Uhr ist man zu Hause. ' Der Flunderfang dauert vom Frühjahr bis
zum' Herbst, die Netze stellt man dicht am Lande. Die Fische bleiben
mit den Kiemen in den Maschen hängen und verstricken sich durch
seitliches Schlagen immer mehr. Im Flundernetz fangen sich auch
Steinbutten, Dorsche, Barsche.
Das Staknetz ist 1000 Maschen lang und 40 Maschen tief. Auf
jeder Seite sind, wie beim kurischen Kurrennetz, noch grofse Maschen
(Letringe), so dafs sich die Fische wie in einem dreifachen Sack fangen.
Das Staknetz ist also nicht straff gezogen, sondern lose zusammen-
gedrückt und ist ein richtiges Jagdnetz, mit dem man im Bodden
Barsche, Hechte, Plötze, Breitfische fängt.
Das Winternetz ist vom kurischen nicht unterschieden und
wird von Camminer und Fritzower Schiffern auf dem Bodden benutzt,
der im Winter stets zufriert. •
Mit der Zese fischt man im Herbst am Strande auf Flundern.
Die bei den Kuren und Slowinzen am Lebasee gebräuchliche Zese
kennt man hier nicht. Die Dievenower Zese ist fünf Klafter lang,
vorn drei, hinten zwei Klafter breit, hat keine Kehle und eine Knoten-
länge von 30 mm. Hinten sind die Maschen dieses Zesensackes etwas
enger und stärker. Kork oder Pappelborke hält den einen Teil der
Zese oben, Knorren oder Röhrenbleistücke den anderen unten. Zur
27*
420 Die Slowinzen.
Zese braucht man zwei Boote, Jedes hat ein Zesenende an einer 150 m
langen Leine (Flunderleine). Alle Y^m ist eine Strohwiepe, alle 2 m
ein Stein befestigt. Die Strohwiepe ist ein kleines Strohbündel und
besteht aus einem Dutzend in der Mitte zusammengebrochener Halme.
Jetzt will man auch Kehlen in die Zesen machen, weil der Fang immer
weniger lohnend wird.
Weniger einträglich ist hier der Fang auf .Kaulbarsche, Aale,
Lachse; man bedient sich zu diesem Zwecke lieber, der Angeln, die
auch im Meere in langen Reihen gesetzt werden. Als Köder benutzt
man den Taabs oder Tobiasfisch.
Gezählt werden die Fische nach Wal. Ein Wal hat vier Stiegen
zu je 20 Stück. Hat man ein Wal abgezählt, sa wirft man einen
Wurffisch, Walhering, in einen danebenstehenden Kasten, so data man
an der Anzahl der Wurfheringe die Zahl der Wale erkennt, der Wal-
hering gehört zum Wal, so data dieser in Wirklichkeit 81 Stück hat,
ähnlich der. Mandel zu vier Würfen von Je vier Stück und dem Schock
zu 4 X 4 X 4 Stück. — In Bügen dagegen hat man gleich Netzsäcke,
die 4 X 84 Stück fassen; ein Wal hat dort also noch vier gute.
5. Charakter. Die Kluckener sind ein schöner Menschen*
schlag, die jungen Burschen sind meist mehr als mittelgrols und kräftig
gebaut. Sie lernen gut in der Schule, avancieren alle beim Militär,
leisten als Seefahrer Tüchtiges und kehren dann in die Heimat. zurück,
wo sie allerdings an der alten Kraft und Schönheit allmählich ein-
hülsen. Die jungen Mädchen sind von ebenmäßigem, schönem Bau;
auch, sie altern nach der Heirat schnell. Das Haar ist blond, den
Bart rasieren die Männer meist am Kinn und den Backen glatt aus.
Sie halten mit Stolz an Standesunterschieden fest. Ein Teilhaber sieht
einen Arbeiter nicht für voll an, und der Ruf eines Arbeiters: „Heute
bin ich Teilhaber tt, kennzeichnet den Stolz des Besitzenden. Ein Alt-
sitzer hält sich für einen kleinen Herrgott, dem jede Arbeit zu gering
ist. Vor den Behörden aber hat man eine ungewöhnliche Scheu, die
geben nach ihrer Ansicht nach Gutdünken Gesetze und haben Macht,
data sie erfüllt werden. Gern hätte man von den Früchten des Lehrers,
aber nie stiehlt man aus dem Garten. Als Nahrung bevorzugte man
früher Klöfse, die noch jetzt bei Festen mit Obst verabreicht werden.
Man kocht Grütze und Kartoffeln zusammen , ebenso. Kartoffeln, Milch
und Fische; besonders bevorzugt man auf diese Weise gekochte
Kartoffeln und Aale. Auch gebackene grofse Fische werden gern
gegessen, die kleinen aber benutzt man als nahrhaftes Schweinefutter.
Wie die gerösteten Fische , gelten bei den Kaschuben auch geröstet
zerstampfte Pellkartoffeln als willkommene Speise. Die Hauptnahrung
ist also: Fisch und Kartoffel, Klofs und Grütze. Dazu kommt an Stelle
des teuren Kaffees gebranntes Korn oder noch lieber Cichorie. Fleisch
ilst man selten.. Abstofsend wirkt der unaufhörliche Schnapsgenufs
und das reichliche Tabakschnupfen. Das Brot bäckt man hier und
Äufseres. Nahrung. Charakter. 421
da mit Kartoffeln vermengt selbst, meist holt man es aber aus den
Marktorten. In den Klucken hat nur noch der Lehrer einen Backofen,
in Griesebitz und Babidol giebt es noch mehrere. Die Eluckener nennen
gekauftes Brot scherzhaft „auf der Karine gebackenestt. Als die beiden
Hauptgenufsmittel gelten Schnaps und Gichorie, beide für Mann und
Weib. Gott habe sie den Menschen gegeben wie die unentbehrliche
Luft und das Wasser. Der Slowinze liegt von früh bis Abend in der
Kneipe oder er trinkt seinen Schnaps zu Hause. Die Frau tauscht
heimlich Eier gegen Fusel ein. Noch nach der Polizeistunde um 10 Uhr
bleiben einzelne Männer vor der Kneipe. Das kleine nach innen ge-
bogene Yiertelliterfläschchen kostet 10 Pfg.; dabei sitzen die Kluckener
an der einzigen langen Tafel an der Vorderwand und trinken aus
kleinen runden Gläschen immer aufs neue. Aber sie brauchen selten
einen Arzt, der Schnaps schadet ihnen nichts. Sie haben so schöne
Elfenbeinzähne, dafs schon die ältesten Chronisten sie der Erwähnung
wert halten. — Der Charakter der Slowinzen wird verschieden ge-
schildert 1), von sehr vielen als hälslich und unlobenswert. Man
sagt, sie seien faul, diebisch, fischten und jagten ungern, ausgenommen
da, wo es verboten sei Wenn man sie aufklären und eine Neuerung
einführen wolle, seien sie mifstrauisch und gingen nie darauf ein.
Wolle man etwas erreichen, müsse man das Gegenteil sagen. Einen
Deutschen würden sie nie offen und ehrlich behandeln, sondern be-
schwindeln. Sie stellten sich immer dumm und wären äulserst ge-
rieben. Wenn sie angeklagt seien, erschienen sie zerknirscht, dumm
und unwissend vor dem Richter, so dafs dieser jeden für halb unzurech-
nungsfähig halte und den Angeklagten freispreche; dann aber juble
*) Vgl. Haken 1779: „Es gebührt ihnen das Lob der Ehrlichkeit,
indem man bei ihnen nur sehr selten Beispiele von List und Betrug finden
wird. Sie drücken im Reden und ganzen Wesen geradezu ihre natürlichen
Empfindungen aus, wissen aber doch solchen, welchen sie Ehrerbietung
schuldig sind, als der Obrigkeit und ihren Predigern, selbige thätig und mit
Worten an den Tag zu legen. Sie begegnen sich einander sehr liebreich.
Ihr festes Händedrücken beim Ankommen und Weggehen, indem sie auch
den kleinsten Kindern die Hand geben, ist ein Beweis davon. Knechte und
Mägde heiraten, sobald als sie sich etwas erworben haben, und da solcher-
gestalt unbeweibte Knechte sehr selten sind: so ist diese eine von den vor-
nehmsten Ursachen, woher diese Gegenden so volkreich sind. Von Dieberei
hört man selten, und wenn dergleichen vorfällt, so betrifft es das Obst und
Holz, weil sie die Meinung hegen, es sei nichts Sündliches, was aus dem
harten Holze wachse, zu nehmen, wo man es finde. Gewöhnlich leben sie
mäfsig und nüchtern, und wenn sie bei feierlichen Gelagen es für erlaubt
halten , die Mäfsigkeit zu überschreiten : so werden doch Schlägereien sorg-
fältig vermieden. Gastfreiheit und Dienstfertigkeit kann man im ganzen
ihnen nachrühmen, und Beisende, in Brüche geratene oder im Schnee verirrte,
können, sobald als ihr Rufen, es sei bei Tage oder zur Nachtzeit, gehört
wird, sich die willigste Hilfeleistung versprechen. Bettler bekommen in
diesen Gegenden reichlicher Almosen als sonst, und daher zieht sich eine
Menge derselben von anderen Orten dahin."
422 Die Slowinzen.
der Slowinze hoch auf,- lache sich eins ins Fäustchen und prahle: den
hab' ich aber schön beschwindelt! Selbst unter sich seien sie neidisch
und prozetssüchtig, sie gönnten niemand etwas, nur sich. Sie sprachen :
das kann ich schon, wenn ich will; aber ich will nicht.
Ich stimme diesem Tadel nicht bei. Freilich sind sie schlau und
mifstrauisch , arbeiten nicht gern viel und haben die gemachte Arbeit
lieber als die zu bewerkstelligende. Aber das ist bei vielen armen
Landbewohnern der Fall, wieviel mehr erst bei einem Volke, das jahr-
hundertelang unterdrückt und geringschätzig behandelt worden ist!
Ich habe so viel Gastfreundschaft und Herzlichkeit, so viel Bereitwillig-
keit und Zutrauen, Gutmütigkeit und Friedensliebe, Vaterlandsstolz
und Un Verdorbenheit gefunden, data die kleinen Fehler daneben ver-
schwinden. Auch die Vorliebe fürs Alte und der Hang am Herkömm-
lichen verdient mehr Lob als Tadel.
6. Kleidung. Die Kleidung ist jetzt nicht anders als unsere
bei geringen Leuten. Bot und blau gekreuzte Zeugjacken, lange
Gehröcke und kurze Joppen aus schlechtem Zeug tragen die Männer,
den Kopf bedeckt eine Mütze. Die Frauen sind meist aufgeschürzt,
haben Kattun Jacken und kurze Tuchröcke. Die altertümliche, ärmellose,
eng anliegende Miederjacke über weitbauschigen Hemdärmeln kommt
auch noch vor. Sonntags ist die Mädchenkleidung hell. Ehemals war
die Kleidung schwarz. Die Männer trugen Böcke, gefüttert mit Fries,
ohne Taschen, Falten und Knöpfe, dafür Haken und Ösen. Das Kamisol
war von Zwillich aus Leinen und schwarzer Schafwolle. Backe be-
richtet: „Diejenigen, welche sie zum Staat anziehen, lassen sie braun'
färben, welches sie Muts-, das ist Moolsfarbe nennen. Diese sind mit
grünem Bande eingefafst und schliefsen sich dicht an die Hand, so dafs
sie vor dem Bocke hervorragen, und diese Ärmel sind an den Seiten
wohl mit acht Knöpfen zugeknöpft. Unter diesen haben sie noch
Brusttücher von bunten Kallmank, mit welchen sie vorzüglich prangen.
Im Winter und auf Reisen tragen sie Stiefeln, im Sommer mit ledernen
Biemen zugebundene Schuhe, zu Hause aber und bei der Arbeit, Holz-
pantoffeln. Die Beinkleider von Leder oder Zwillich haben an den
Taschen viele Knöpfe, und sind an den Knieen mit bunten Bändern,
welche die Mädchen zu weben und zu verschenken pflegen, zugebunden.
Ihre Hüte sind steif und rund, ohne Ecken aufgestützt, mit einem
schwarzen seidenen Bande umgeben, zur Winterzeit aber tragen sie
insgesamt rauhe Mützen. Das weibliche Geschlecht geht öffentlich
nicht anders als schwarz gekleidet. Ihre Jopen sind von schwarzen,
sehr glänzend gepreisten Zibeth, am Halse und auf den Schultern mit
schwarzen Borten eingefafst. Die Ärmel gehen dicht auf die Hand,
sind oben in der Schulter fast in der Dicke einer Hand mit Wolle aus-
gestopft, welche Ausstopf ung aber allmählich gegen die Hand zu ab-
nimmt, so dafs der Ärmel die Form eines Pistolenholfters zu haben
scheint. Ihre Oberröcke sind gleichfalls schwarz, die Schürzen von
Frühere Kleidung. Alltagsleben. 423
schwarzen oder grünen und blauen Rosch, und die kurzen Röcke
darunter von eben dem braunen Zeuge, woraus die Camisöler der
Mannsleute verfertigt sind. Alle tragen rote Strümpfe und gemeinig-
lich Pantoffeln, wenn sie in die Kirche gehen. Ihre Haare sind drei-
strehlich geflochten, wozu sie etliche Bind grün oder baumwollen Garn
nehmen, ohne data dieses zu sehen ist. Die Flechte wird hinten am
Ende in der Rocks-Einfassung befestigt. Blonde oder goldgelbe Haare
machen eine grofse Schönheit aus. Unverheiratete gehen, wenn sie
geputzt seyn wollen, mit blofsem Kopfe, um welchen ein oder auch
wohl mehrere schwarzseidene, an beiden Enden mit einem Blümchen
von ihrer Hand gestickte B&nder gehen, deren Enden hinten an der
Flechte herunterhangen. Dazu haben sie noch eine schwarzsametne,
mit schwarzen Borten besetzte und etwas ausgestopfte Binde oder
Stichel um den Kopf, die inwendig mit rotem Frißls gefüttert ist. Der-
gleichen aber dürfen nur Jungfern tragen, nicht aber geschwächte. Die
Schnürleiber sind gewöhnlich von bunten oder auch schwarzen Zeuge,
vorn mit Friels ausgeschlagen und heifsen Joseepe, stehen auch, wie
die Jopen, vorn offen. Vor der Brust tragen sie einen steifen Latz
von Pappe, der nach ihrem Vermögen mit schwarzen Sammet, bunten
seidenen Flicken und wohl auch mit Tressen besetzt, zuweilen mit
blankem Papier überzogen ist. Die Hemden bedecken ganz die Brust
und schliefsen dicht um den Hals. Um die Unterhemden, welche ohne
Ärmel sind, binden sie ein schwarz oder bunt seiden Tuch. Über diese
ziehen sie ein (kurzes) Oberhemd mit (feineren) Ärmeln und breitem
Kragen.« -
7. Alltagsleben. Früh morgen 8 3 Uhr fahren die Schiffer
mit iferen Booten vom Kluckenbach auf den See und kehren noch
vormittags zurück. Werden sie durch widrige Winde auf der Nehrung
festgehalten, so liegen sie drüben tagelang in ihren Hütten, bei Karten-
spiel und Gespräch. Aber nie entsteht eine Schlägerei. Sie bereiten
sich ihr Essen selbst und holen dazu aus Rumbke Schnaps. Kommen
sie aber nach Hause, so mufs die Frau wieder den Fang zu Markte
tragen. Diese hat auch das Geld in Verwahrung und führt die häus-
liche Herrschaft. Früh 3 Uhr kommt auch der Hirt mit einer 72 m
langen, unten 1 */2 dm breiten Blechtute und bläst in einem langen Ton
vor jedem Gehöft. Überallher kommen die Kühe und gehen auf die
Dorfweide. Es ist ein Sommertag, die Kinder gehen ohne Sang und
Klang, ganz anders als im Erzgebirge, in die Beeren. Schon kommen
die ersten Schnapskäufer in den Krug. Es arbeiten die Frauen in
Haus und Hof. Der Briefträger erscheint. Zu Mittag kehren die
Kühe zurück. Selten wird ein Fremder in das Dorf verschlagen.
Aufser dem Förster habe ich innerhalb acht Tagen nur einen einzigen
gesehen, der für eine fromme Stiftung sammeln wollte, aber schnell
wohlhabenderen Gegenden zustrebte. Nachmittags 3 Uhr erklingt
wieder des Hirten Ton, ausgenommen Sonntags, an dem vielleicht ein
424 Die Slowinzen.
Urlauber mit Beben Freunden und Freundinnen unter Trompetenklang
den Flufs abwärts fährt, weib gekleidete Mädchen aber Bammeln eich
zur Unterhaltung vor irgend einer Thür. Nachmittags ist das Leben im
Kruge lebhafter, es wird Abend, der Hirt treibt die Kühe heim und
ruft den irregehenden zu: „Ihr wollt wohl gar in den Krug, das glaub'
ich." Um 10 Uhr abends beginnt die Polizeistunde, der Nachtwächter
verkündet sie mit zehn schrillen Pfeifen tönen , durch die er auch
weiterhin die Stunden markiert. Der Leuchtturm auf den Dünen
durchstrahlt die Nacht, es wird feierlich ruhig, der Mond liegt zau-
berisch auf der eigenen Idylle.
Die Männer, die nicht im Kruge safsen, trinken zu Hause ihren
Schnaps, teeren gemeinschaftlich die Boote, die Netze werden aus-
gebessert und die Wirtschaft besorgt. Sonntags aber geht alles zur
Kirche, trotzdem sie zwei Meilen entfernt ist. Tief religiös ist der
Kluckener nicht gerade, aber eine förmliche, oft bis ins Herz gehende
Frömmigkeit zeichnet ihn vorteilhaft aus. Die ganz alten Leute, die
zu Hause bleiben müssen, leeen Sonntags ihre Postille. Oft wird auch
der Prediger zu häuslichen Andachten geholt.
8. Gerät, Zierat. Die natürliche künstlerische Beanlagnng des
Slowinzen betbätigt sich nur wenig. Die Häuser sind durch zahllose
Anbauten entstellt. Hörnerförmige Giebelzier ist zuweilen, aber selten
Abb. 178. vorhanden, an der Spitze der Feuerstange
findet sich mitunter ein künstlich gearbeitetes
SchiS oder ein Fisch als Wetterfahne. In den
Häusern hält man auf reines, sauberes Haus-
und Tischgerät, das aber nichts Eigenartiges
bietet, sondern beim Tischler oder auf dem
Markte gekauft wird, wo es am billigsten ist.
Der Glasschrank enthält eben die Glasnippsachen
und Zierate, die die Bauern ganz Deutschlands
auf dem Jahrmarkte für die gute Stube kaufen,
nur dafs der Kluckener derlei Sachen meist als
Hochzeitsgeschenke erhält.
Neben den eigenartigen Körben, der Karine
und Lischke (Abb. 178), ist hier und da noch
eine Handmühle zu sehen; in den Klucken ist
keine mehr im Gebrauch, wenigstens nicht zur
Mehlbereitung für das Brot. Ein 1,3 m langer
Liscbke. (Nach Andree.) und haib so breiter und starker Holzklotz steht
auf vier Füfsen, die 0,3 m hoch sind Oben ist ein cylinderförmiges,
'/sm tiefes Loch angebracht, auf dessen Grunde sich ein fester Stein
befindet. Über diesem liegt ein geriefter, 20 cm starker und ebenso
grofeer beweglicher Stein mit seitlichem Loch, in dem eine schräge
Stange steckt, deren anderer Endpunkt lose in einem Loch an der
Decke genau über dem Mittelpunkte eines Steines ruht. Der obere
Geräte. Grabschmuck.
425
Stein hat in der Mitte ein 10 cm breites Loch zum Einschütten des
Getreides, der untere an der Seite ein nach anfsen durch das Holz
gehendes zum Abfluls des grob gemahlenen Mehles. Das Stangenende
mufs ein Mann mit der ^tp I7e
Hand im Kreise herum-
drehen. Eine ähnliche
(Braunschweiger) Hand-
ln uhle etwas anderer
Form zeigt die Abb. 179.
Ein schöner hölzer-
ner Schulleuchter mit
gedrehtem Mittelstab
und sechs geraden Lieht -
stangen macht dem hei-
mischen Tischler alle
Ehre. Auf diesen und
seine Vorganger geht ja
auoh die Anfertigung der
hölzernen Grabplatten
(Abb. 180) zurück. Da
der Gottesacker erst
wenige Jahrzehnte alt
ist, weist er nur wenige
Arten altslowinziacher
Plattenformen auf, die
wir in Glowitz noch antreffen. In den Elucken begegnen uns fast
nur die 1,5m langen, 0,3m breiten, oben abgerundeten Grabplatten
und die ebenso hohen Kreuze, die an jedem Ende mit einer aus drei
konvexen Bogen bestehenden Linie enden
(Abb. 181 a.tS.). Die Farbe dieser ist dunkel;
die Vorderseite trägt den Namen des Toten, die
Hintereeite einen Spruch. Einzelne Familien-
inBchriften lauten: „Ruhestatte des Büdners
Johann Elück. Er wurde geboren 1782 am
10. May und starb 1857 am 6. July im Alter Kluckener und Garder
von 75 Jahren 2 Monaten." „Hier ruht der Holz- Grabplatten.
Büdner Johann Kirck, gobr. (!) den 25. März 1818, gest. d. 1. April
1878." „Hier ruhet der Eigentümer Martin Elück, geb. 28. Dez.
1813, f 10. März 1884, Karoline Klück, geb. 13. Jan. 1825, t 20. März
1887." Darunter hat der slowinzische Künstler kleine wellenförmige
Ornamente oder Schlangenlinien angebracht.
Schon winken hier und da eiserne Grabkreuze, die in merk-
würdigem Gegensatz zu dem einfachen , weitläufigen Holzstaket der
Gottesackergrenze stehen. Die meisten Gottesäcker, so die zu Garde,
Glowitz, Schmolsin, haben als Mauer einen künstlich geschichteten
Steinerne Handmühle (Sempmöle). (Nach Andree.)
a Einwurf in den Läufer, bb Hölierae Stiele mm
Drehen. et Eiserne Ringe mm Herausheben dee
Läufers, d Auifluf«.
426
Die Slowinzen.
Stein wall (vgl Abb. 173, S. 410), die Grabplattenformen sind aber in
allen, aufser in Glowitz, ebenso einfach.
Uralt ist die Anfertigung von Papierblumen und Papierschmuck.
Die Berichte aus dem vorigen Jahrhundert erwähnen diesen Zierat
O
Abb. 181.
A
Alter Fritzower Holz -Grabsch muck.
1 bis 7 Grabplatten1), 1 bis ll/tm hoch, dunkelfarbig. Schwarze Schrift auf weifsein
Grunde. 8 bis 17 Ornamente, farbig oder golden, wie die Kugeln und Spitzen in 1, 3, 7.
schon und noch heute flicht das Slowinzenmädchen in den Braut-
kranz oder in den Preilselbeerkranz, der das standesamtliche Aufgebot
umrahmt, gelbe, rote und weifse Papierblumen. Die eine Seite des
Schulzimmers ist von 65 Mooskränzen mit solchen Blumen geschmückt,
jeder Konfirmand und jede Konfirmandin stiftet einen als Andenken,
und bei Festlichkeiten beschenkt man sich ebenso mit solchen, so data
wir deren in jeder Stube antreffen. An den Wänden hängen aulser
Kränzen nur Familien- und Soldatenbilder, zuweilen auch religiöse und
patriotische.
9. Volkslieder und Spruchdichtung. Der Slowinze ist
arm an Liedern. Was er singt, hat er entlehnt. Nicht ein einziger
seiner Gesänge gehört ihm ursprünglich an. Die alten Gesangbuch-
*) Vorderseite zeigt Name und Lebensdaten (z.B. des Fritzower Schäfers, 1777
geboren, also zur Zeit Backes), Hinterseite Sprüche, z. B. : „Solls zum Sterben
gehn, wollst du bei mir stehn, mich durchs Todesthal begleiten und zur Herrlichkeit
bereiten, Dafs ihr einst mögt sehn mich zur Rechten stehn" oder „Es war kein Kraut
für meine Schmerzen, kein Balsam mehr in G — , der Tod drang mit Gewalt zum
Herzen, es fanden keine Thränen statt; gar unerbittlich war der Schlafs, ein jeder
Mensch ihm folgen muls." Der neue Grabschmuck besteht nur in Eisen kreuzen und
Steinplatten.
Lieder. 427
lieder des Pontanus und anderer waren Übersetzungen ans dem
Deutschen, dann wurde das polnische Gesangbuch gebraucht. Diese
Lieder singt der Eluckener mit grotser Andacht, aber selten. Die in
der Schule gelernten und vom Militär mitgebrachten Lieder werden
wohl auch einmal im Kruge angestimmt, aber nur in besonders ge-
hobener Stimmung. Öfter ertönt der Saug beim Fischen; anfser den
bekannten Liedern „Still ruht der See, die Vögel schlafen", „Es mur-
meln die Wellen a , „Ein armer Fischer bin ich zwar" hörte ich in
Garde :
„Ach könnt' ich doch in meinem ganzen Leben
Koch einmal meine Eltern wiedersehn!
Was wollte ich nicht alles dafür gehen,
Ach könnte dieses einmal nur geschehnt
Sie sorgten sich für mich und meine Brüder
Und zogen uns zu braven Menschen auf.
Ich sehe sie nun nie und nimmer wieder,
Der liebe Gott nahm sie im Himmel auf.
Die liebe Mutter, die mit tausend Schmerzen
Mich unter ihrem treuen Herzen barg,
Ich kann an meine Brust sie nicht mehr pressen,
Sie ruht nun längst im stillen Sarg.
Der liebe Vater ruht im Grabe drinnen,
Der unter Sorgen nur gewollt mein Wohl. —
Drum hebet eure Eltern, folget ihnen!
Nur dann ergeht es euch auf Erden wohl."
Slowinzische Lieder habe ich nur wenige vorgefunden, deren Her-
kunft man in den Elucken genau kennt. Man sagt nämlich, früher
hätte man wohl Schelmenstücke gesungen, aber selten; beim Tanz habe
man nur „Immer rechts Yum" oder „Immer links Yumu gerufen. Da
habe 1848, bei Niederdrückung des polnischen Aufstandes, ein Klück
zwei Liedchen aus Wreschen in PoBen mitgebracht, die Soldaten hätten
sie immer gesungen. Und dann verbreiteten sich die beiden Lieder
über die ganze pommersche Easchubei, sie sind umgewandelt worden.
Aber, da selten einer noch ordentlich seine Muttersprache kann, sind
die Lieder so unverständlich verdreht worden, dafs man selbst in
Glowitz und Giesebitz mit aller Mühe keinen Sinn herausbrachte.
Die Alten in den Elucken aber brachten es noch zuwege. Das eine
heilst etwa:
Unsre Mutter, gute Mutter,
Früh aufstehend, giebt sie gütig
Uns ein Ei zum Frühstück.
Mittags hat sie sich gebessert,
Zweien hat sie eins zerschnitten,
' Hat versteckt sich abends.
Daraus hat man noch ein verderbtes vierzeiliges Lied gebaut, das
sich der Wiedergabe entzieht. Das Hauptlied „Unsre Herde u hat zwei
Melodieen :
428
Die Blowinzen.
Wreachener Lied.
pEE^SEiEg
Sl
m
3
Unsre Herden sprangen in die Wäl - der, hab' sie hüpfen
$
S:
1
w^m
^m
3m
sehen durch die Felder, um die AI - ten kann ich ru - hig
$
i
^=g^3^g
-&-
2
t
sein, wä - ren nur die Jungen erst herein. O hei hi-to,
*
^^.
EE
i
da - ho lo
tu-ru-ru - ka - lu.
Zu dieser Melodie (vergl. Tetzner, Slowinzen, 8. 232) habe ich noch
eine ßtohentiner bekommen:
p¥^^=^^^^f=^
£_
Un - sre
Un - ser
Herde sprang in die Wälder,
Böck-lein seh ich ganz alleine!
hab* sie
Drü - ben
um^mm33äprj=£i
hüpfen seh'n durch die Felder, um die AI -ten kann ich ruhig
liegt's auf dem grü - nen Raine. Wenn ich auch noch gehe, bricht das
di - ri di - ri di - ri di - ri
i
i
S
I
2=£=^=l
Ü
i
4
F
sein,
wa - ren
Herz,
Lie - be
Da - ida,
di - ri
nur die Jungen erst herein.
Mut-ter, dir vor Gram und Schmerz,
di - ri di - ri da - ida.
Merkwürdig ist die Wandlung dieses Liedes, dessen zweite Strophe
einem anderen Liede der Kaschuben ähnelt. Letzteres Lied gehört der Welt-
literatur an und schildert den Tod des Husaren auf dem Schlachtfelde und
die verschieden lange Trauer der Geliebten, der Schwester und der Mutter.
Einige weitere Liedchen folgen:
Die Tanne (Priehn- Garde).
Ach die Frau hat Geld im Walde,
In dem grünen Walde,
Schlag die Frau nur, schlag die Frau nur,
Schaff nach Haus sie balde.
Lieder. Sprichwörter.
429
Nein, da sollst die Frau nicht schlagen,
Arme Frau nicht schlagen.
Denn sie wird das Geld wohl in der
Grünen Mutze tragen.
Der Ritt zur Geliehten (Pigorsch - Stohentin).
Melodie :
I
=£
*ESä^=g
"Weit ist's übers breite Meer
(Die unterstrichenen Noten werden betont.)
Weit ist's übers breite Meer,
Weit zu meiner Liebsten her.
Bitt zu ihrem Schlofs heraus,
Und ich klopfte an ihr Haus.
Kam die Mutter, lud mich ein:
, Steig vom Pferd und komm herein."
„Nein, ich steig vom Pferde nicht,
Bis ich schau ihr Angesicht."
„ Wirst die Liebste nimmer sehn,
, Einen andern Weg wohl gehn,
I Und vor deiner Liebsten stehn."
Bitt und kam ans Grab der Braut,
Stand am Grab und weinte laut.
(Hier wiederholte der Sänger
Zeile 7 bis 11.)
B Wirst sie einst dort oben sehn.
Sie vergab dir alle Schuld
Und empfängt dich dort voll Huld."
An der Seite des Meeres (Frau Savallisch- Rotten).
An des Meeres Seite hütet
Mägdlein einen Iltis sich,
Aber an des Sees Seite
Hütet es den Gänserich.
Paul Kojic (Buttke- Garde).
Paul Kojic mäht die Wiese,
Und Grütze kocht die Trina.
Paul will ja keine Grütze,
Er will ja nur zu Trina.
Slowinzisches Tanzlied (Stohentin).
i
*
^
£
ä
r
Ach, Ma - rie - chen ging her - um im Wal - de
m
i
%
£
m
£=£=?=?=N
ic
£^t
und ver - irr - te sich im Moo - re
bal - de.
^^§e£
^
es
Ö3S
Ach, man fand, so schwarz wie Moor, Marie dann im Walde.
Bei Übergabe der Brautgeschenke, bei der Ankunft des Hochzeits-
bitters werden Sprüche gesprochen, die aber nichts Merkwürdiges
bieten. — Selten singt man. Dreschreime and dergleichen kennt
man nicht, hingegen ist die Zahl der Sprichwörter nicht unbedeutend.
Viele sind den deutschen gleich, so „Not bricht Eisen", „Nachts sind
alle Katzen grau", „Der Mensch denkt, Gott lenkt44; andere hörte ich
430 Die Slowinzen.
das erstemal, sie lauten in Übersetzung: „Er frifst wie ein Ochse die
Teufelskirsche (begierig), „Wenn der Hafer grofs ist, ist das Pferd tot*
(vergebliche Arbeit), „Er geht auf die Angel u (stöbern), „Er ist dumm
wie ein Ealbu, „Er ist bis zum Slowinzischen (Gottesdienst) geblieben**
(er hat noch gezecht), „Fischt er nicht, so schielst er wasu, „Sie bäckt
das Brot auf der Karinett (sie tauscht die Fische in der Karine gegen
Brot um und bäckt's nicht selbst, wie dies früher der Fall war).
10. Sagen und Märchen. Der Reichtum daran ist so grob,
dafs ich hier nur die wichtigsten andeuten kann. Der wilde Jäger, der
mit Hußsaschrei in den Lüften mit seinem Gefolge dahinfährt, die
feuerspeiende Schlange, die den einsamen Wanderer mit Feuer und
Gift schädigen will, so dafs man ganze verbrannte Wiesenstrecken
sehen kann; das beilwerfende Kalb, das an Orten weilt, wo das Geld
luttert; der Mann mit dem zweiten Blick, der alles sieht, was dem
gewöhnlichen Menschenkinde verborgen ist; der tolle Junker, bei
dessen Begräbnis die Kirchenglocken keinen Ton von sich geben, und
der als Geist umgeht; der dumme Hans, ein geriebener, schlauer
Bursche, der über die Afterweisheit der Menschen, und besonders über
den betrogenen Teufel, triumphiert; der lahme Bucklige, der das Vieh
verhexen kann und im Besitz starker Zauberbücher ist; das weifise
Mädchen, das Hof und Haus schützt, Geld bringt und bevorzugten
Menschen erscheint; die Mahrt, die auf einem Strohhalm über die
Ostsee fährt, einem Wiesel gleicht und sich als Alp nachts auf des
Menschen Brust setzt (Alpdrücken, Mahrtreiten) ; die unterirdischen
Leutchen: das sind die Hauptstoffe der Kluokener Sagen, die in ver-
schiedenster Form verbreitet sind. Zwei will ich aus Volksmund er-
zählen, die Sage von der Garder Steininsel und dem Blutstein zu Rowe,
und die Sage vom Revekol.
Der Gardesche Prediger sollte einst in Rowe predigen, das über
dem Gardesee drüben liegt Er sprach: „Ich .thu's gern, wenn ein
Damm nach Rowe geht" Da kommt der Teufel und sagt: „ Ver-
schreibst du mir deine Seele, so mach' ich ihn fertig, bis der Hahn
kräht tt Der Prediger geht darauf ein. Der Teufel schwirrt mit seinem
Gefolge durch die Lüfte, und alle bauen emsig, wie die honigtragenden
Bienen. Der geistliche Herr aber hat Angst um seine Seele und verrät
den Pakt seiner Frau. Die geht nachts in den Hühnerstall und klatscht
vor Tagesbeginn in die Hände, so dafs der Hahn kräht, nachdem sie
selbst seine Stimme vorgemacht hat Vor Schreck lassen die Teufel
die Steine fallen, der Damm ist noch nicht fertig; die Seele gerettet.
Eine Anzahl erratischer Blöcke am Ufer, die thatsächlich Zeichnungen
wie Pferdefülse und Hahnenfülse haben, werden mit Jener Sage in Ver-
bindung gebracht Vom Damm ist nur die Steininsel inmitten des
Sees übrig. Von den Steinen aber soll die Rowesche (oder die Wit-
stocker) Kirche gebaut worden sein, die einen blutträufelnden, vom
Teufel herrührenden Stein enthält In anderer Fassung tritt an Stelle
Märchen. Aberglauben bei der Geburt und dem Begräbnis. 431
der Frau ein Schäfer auf, und es handelt sich um den Bau einer
Kirche inmitten des Sees.
Der Revekol war in alter Zeit ein Wallfahrtsort. Erst stand ein
heidnischer Altar, dann eine katholische Kapelle daselbst, dahin wurden
vom Papst wiederholt Büfser geschickt. Die Herzogin Anna, die
Protektorin des Michael Pontanus, hatte am Fufse des Berges ihr
Schlots. Kapelle und Schlofs sind heute selbst in ihren Trümmern
verschwunden, den Berg aber krönt ein eichener Aussichtsturm, der
weithin im Lande sichtbar ist. Jetzt ist der Revekol (vgl. Böttcher,
Kreis Stolp, S. 24) mit seinen herrlichen Waldungen ein beliebter Aus-
flugsort der weiten Umgegend. Yom Revekol erzählt man eine Menge
Geschichten, man deutet gar den Namen aus dem lateinischen rev.
col. = verehrungswürdiger Berg, oder aus dem Plattdeutschen (Räuber-
höhle, Schlupfwinkel) und zeigt noch jetzt die Löcher, wo sich die
Räuber versteckt hielten. Die Glocke der Kapelle soll in die Lupow
heruntergerollt worden sein, wo sie noch jetzt von Sonntagskindern
gehört wird. Über den von den Räubern versteckten Schätzen liegen
zwei grofse eiserne Nadeln; wer die heben kann, findet die Schätze.
Auch war ein Gang zwischen dem Heiligtum auf dem Revekol und dem
alten Schlots.
11. Aberglauben, Sitten und Gebräuche. Die alten
Bräuche sind ausgestorben. Wenn sich noch Spuren erhalten haben,
so läfst man sie ungern sehen. Die wichtigsten will ich mitteilen.
Bevor ein Kind zur Taufe gebracht wird, legt man es unter die Ofen-
bank, dafs es fromm wird. In die Wiege legt man ein Gesangbuch zu
gleichem Zweck. Man soll Neugeborenen ein Licht anbrennen, dafs
sie nicht vertauscht werden. Kocht eine Schwangere Wasser unnütz,
so gedeiht das Kind nicht gut. Die Wöchnerin geht um den Altar,
wird eingesegnet und legt dabei eine Mark an der Stufe nieder. Die
gestorbenen Wöchnerinnen werden zu Haus und in der Kirche ge-
segnet. Die gefallene Jungfrau mufs um die Kirche gehen und einen
Groschen in die Mauer legen. Stirbt eine Jungfrau, so breitet die
Mutter deren Ausstattung im Totenzimmer vor ihr aus. Einem Toten
giebt man ein Gesangbuch, eine Schnapsflasche, eine Münze, Haare,
Federn und Borsten seiner Haustiere mit, den Frauen ehemals ihr
Kirchenlaken. Die Bank, auf der der Sarg steht, wird umgeworfen
und mit in die Gruft gelegt, dafs der Geist nicht sitzen bleibe. Man
milst den Sarg mit einer Rute und macht danach die Gräber, die
Rute zerbricht man und wirft sie mit auf den Sarg. Wenn der Trauer-
zug fortgeht, bekreuzt einer das Yieh im Stalle und die Bienen im
Korbe, dafs sie dem Toten nicht nachfolgen.
Bucklige und Hinkende sind gewöhnlich mit dem zweiten Gesicht
begabt und können Yieh beschreien und Menschen verrufen, so dafs
beide krank werden. Durch Kreuzschlagen verwahrt man sich dagegen,
darum sind fast an jeder Kluckener Stallthür drei schwarze Kreuze.
432 Die Slowinzen.
Beschrieene Schweine müssen durch den vierten Reifen springen*
dann fressen sie wieder.
Die Hochzeiten mächt man am liebsten Dienstags, Freitags oder
Sonnabends, früher bei Beginn des Herbstes, jetzt zu jeder Jahreszeit.
In der Sylvesternacht wird Asche um die Bäume gestreut, dafs sie
gut tragen, dann ein Strohseil darum gewunden.
Wer das Tischtuch liegen lätst, kommt wieder.
Osterwasser holt man vor Sonnenaufgang aus dem Kluckenbach,
bewahrt es das ganze Jahr auf, weil es heilkräftig ist. Zu Ostern
brennt man auf dem Berge Osterfeuer an, wie beim Sedanfest eine
Teertonne. Am Neujahrsmorgen und am Hochzeitstage schols man
gern mit Pistolen. Yor dem Marientage (25. März) wird die Stube mit
Wacholder eingeräuchert, zu Pfingsten stellt man Birkensträucher in
die. Stube. Am Andreasabend wird Blei gegossen, um sein Schicksal
zu erfahren; zum Sylvesterabend reitet man auf den Kreuzweg, da
erscheinen um Mitternacht Geister und beantworten alle Fragen.
Man geht am ersten Osterf eiertage mit Buten „frische Grüne
peitschen tt. Zu Weihnachten nehmen zwei oder drei Burschen ein
Bettlaken, einen Stock und zwei Siebe, bewickeln alles mit Stroh und
einen an den Stock gebundenen Stiefelknecht mit Heu. Ober den
Stock, den der eine Mann hält (Schimmelreiter), schlägt man ein Bett-
laken, so data nur der Stiefelknecht als Pferdekopf und das Stabende
mit Schwanz zu sehen ist. Dem Schimmel wird ein Zaum angelegt.
Ein Mann führt ihn und der andere klopft ans Fenster, ob er in die
Stube darf. Darf er, so beten die Kinder und werden mit Zucker
beschenkt.
Zu Walpurgis wird nichts Besonderes vorgenommen, auch die
Verlobungsgebräuche kennt der Kluckener nicht, er verschmäht das
Verloben, weil es keinen Sinn habe.
12. Familienfeste. Hochzeit. Der Hochzeitsbitter (derOUmann,
Starost, Köstenbitter) im dunklen Anzüge sagt acht Tage vorher allen
Freunden und Bekannten, möglichst vielen, die Hochzeit an. Auf
seinem Haupte thront ein geborgter Cy linder, der mit roten, grünen
und blauen flatternden Cigarrenbändern umgeben ist. Ein Büschel
solcher Bänder weht auch an seinem Spazierstock; dieselben farbigen
Bänder, meist rote, bindet man den Kühen ums Hörn, dafs sie
nicht verzaubert werden sollen. Die vier bunten Bänder liebt der
Slowinze wie der Litauer. Die Mädchen, besonders die Brautjungfern,
deren Braut und Bräutigam je vier wählen, tragen bei allen Feierlich-
keiten solche Seidenstreifen, in die Blumen gewebt sind, um die Hüfte
und vor der Brust. Hat der Hochzeitsbitter seinen Spruch in ge-
reimter Rede angesagt, so wird er willkommen geheitsen und bekommt
einen Schnaps und mitunter ein Trinkgeld. Von dem vielen Schnaps
wird er zuletzt schwankend und findet sich mit .oder ohne Not ins
Hochzeitshaus zurück, wo er die Zusagenden anmeldet und Abendbrot
Die Hochzeitsfeier. 433
genietet. Die Brautleute, meistenteils Verwandte, gehen am Sonntag
vor der Trauung zur Kirche. Die Hochzeit selbst währt gewöhnlich
vom Freitag bis zum Sonntag und ist immer noch meist im Herbst.
Früher ging der Hochzeitszug unter Gejubel und Pistolen schieisen zu
Fuls nach Glowitz oder Schmolsin zur Trauung, jetzt fährt man meist
in möglichst vielen Wagen zweispännig. Zuvor haben sich alle die
Hochzeitsgeschenke angesehen, die am Polterabend auf einen Tisch
gestellt worden sind und meist aus Glasschranksachen bestehen. Der
erste Wagen des Hoch zeit szuges fahrt aufser dem Ollmann das Braut-
paar. Die Brautjungfer hat Papierblumen im Haar, der Fuhrmann
solche an der Brust, die Pferde sind mit Bändern, die Wagen mit
Guirlanden geschmückt. Vom Brautkranz aus Myrten hängen die
Enden auf die Schultern herab; einen Schleier giebt es nicht, das
Brautkleid ist schwarz. Gefallene dürfen den Kranz nicht tragen, auch
darf bei deren Hochzeiten nicht geläutet werden. Der Bräutigam ist
völlig modisch gekleidet/ Zunächst geht der Brautzug ins Gasthaus,
wo gegessen und Schnaps und Bier getrunken wird. Der Hochzeits-
bitter bezahlt, während am Sonntag beim Kirchgang die Brautjungfern
für alles aufkommen. Nun geht der Köstenbitter zum Pastor, sagt
seinen Spruch und ordnet dann, während dieser in die Kirche geht,
den Hochzeitszug. Voran zieht er selbst mit seiner Frau, darauf folgt
das Brautpaar, dann kommen die Brautjungfern mit je einem Burschen,
zuletzt die Verwandten. Das Brautpaar geht, sobald es zu läuten an-
fängt, vor den Altar, die anderen setzen sich in die Bänke. Nach der
Traurede wandeln alle um den Altar herum und legen ein Opfer für
die Kirche auf.
Nun marschiert oder fährt alles in den Krug und wirft unter die
Zuschauer unterwegs Münzen. Bei Tanz und Gelage verweilt man im
Kruge bis zum Abend, dann geht eine Wettfahrt nach Hause los, die
nicht immer glatt abläuft. Zu Hause steht das Mahl bereit; der alte
Vater empfängt das Paar mit einem Schnäpschen und nimmt die Glück-
wünsche des Gefolges entgegen. Das Vordrängen der Braut, damit sie
die Herrschaft im Hause habe, ist nicht mehr gebräuchlich, da die
Frau ja thatsächlich herrscht. Das Abendessen besteht aus Hühnersuppe,
Klöfsen mit Backobst, Fleisch und Fisch, besonders Hammelfleisch; das
Brot ist „schön fest", es hat vier Wochen lang im Rauch gehangen.
Dann beginnt der Brauttanz, alle, auch die Kinder, müssen teil-
nehmen und die Musikanten bezahlen, man giebt 1 Mk., wer arm ist,
10 Pf. Der Musikant, der nur eine Ziehharmonika braucht, nimmt
oft 30 bis 40 Mk. auf einmal ein. Daher kommt es, dafs sich viele
um dies Amt bewerben, dem Brautpaare die Hochzeitsfuhren umsonst
ausrichten und noch 6 Mk. Brautsteuer geben. Andere Instrumente
als die Ziehharmonika braucht man nicht. Geht das Brautpaar zeitig
fort, mufs es jedem Zuschauer eine Flasche Wein geben, deshalb
bleibt es bis zuletzt beim Tanz.
Tetsner, Die Slawen, in Deutschland. 28
434 Dte Slowinzen.
Am nächsten Tage dauert das Essen und der Tanz in der alten
Weise fort, am Sonntag aber gebt es wieder in die Kirche. Da l&Ist
man erst die Kirche sich anfüllen und tritt dann im Zuge ein, um
bewundert zu werden. Am Sonntag währt das Fest bis Mitternacht,
dann wandert alles heim.
Backe meinte in seiner Schilderung der Hochzeitsgebräuche 1779,
man schlielse nie Neigungsheiraten, sondern befolge den Willen der
Eltern und Verwandten. Er fährt fort: „Dennoch ist Zank und Un-
verträglichkeit in den Ehen selten. Wenn ja eine Frau von ihrem
Manne geschlagen wird, so geschieht es heimlich, und die Frau sucht
es auch zu verheimlichen, wenn es aber dennoch auskommen sollte,
ihren Mann damit zu entschuldigen, dafs en unslagen Wyf als en unsolten
Kohl Bei. Wenn nach Absterben des einen Gatten der andere wieder
heiraten will, so kommt es dabei wieder auf das Gutachten der er-
wachsenen Kinder um so mehr an, da den Alten bei Übergabe des Hofes
an die Kinder ein ansehnliches Altenbrot ausgemacht wird, oder ihnen
gewisse Jahre gesetzt werden, die sie noch wirtschaften sollen. Ge-
meiniglich wird die Braut aus der Verwandtschaft erwählt. Kann eine
Bütenschaft oder Bütware, das ist ein Tausch, getroffen werden, wenn
zwei Söhne oder ein Sohn und eine Tochter in der einen, und zwei
Töchter oder gleichfalls ein Sohn und eine Tochter in der anderen
Familie sich befinden, so ist dies vorzüglich. Der älteste Sohn bleibt
im väterlichen Hause und der andere geht in den Hof seiner Schwieger-
eltern über. Wegen der Mitgabe wird sehr gehandelt, indem ein Teil
von seinen Forderungen abläfst und der andere zu seinen anfänglichen
Anbietungen zulegt, es mag nun eine Kuh oder Kalb, oder Füllen und
Geld sein. Bei wohlhabenden besteht die Mitgabe in vier Pferden,
vier Kühen und einigen hundert Thalern an Gelde, aulser Leinen und
Betten. Zween Tage vor der Hochzeit werden zwei auf ihre Art wohl
geputzte am Hut und auf der Brust mit blanken Sträutsen gezierte
Knechte auf den besten mit blanken Zäumen versehenen Pferden aus-
gesendet. In der Gegend von Köslin haben sie einen Spiels (vgl. Stet-
tiner Museum) oder ordentliches Esponton in der Hand, anweichem rote
Bänder hängen, und oben bei dem Eisen ein Strauts von Füttern.
Diese reiten auf den Flur und wohl gar in die Stube des einzuladenden,
und fangen alsdann einen langen Spruch in Versen an , welcher das
Brautlied heilst. Die Hochzeiten werden gemeiniglich im Herbste ge-
halten, am Dienstag oder Donnerstag angefangen, und einige Tage
hintereinander in der Braut und des Bräutigams Hause fortgesetzt.
Holt der Bräutigam sich eine Braut in seinen väterlichen Hof, so ist
der Anfang der Hochzeit, die Trauung und das Brautbette bei der
Braut Eltern; geht er aber in den Hof über, so muls die Braut, zumal
wenn sie eine Witwe ist, zum Bräutigam kommen. Den Tag der
Trauung ziehen sie mit ihren Kasten und Betten in den Hof, den sie
bewohnen sollen, unter der Begleitung der jungen Leute zu Pferde und
Hochzeit nach Backe 1779. 435
vieler Mädchens, sonderlich aus der Verwandtschaft, welche alle bis
auf den folgenden Tag daselbst bewirtet werden, alsdann aber ins erste
Hochzeitshaus zurückkehren, wo unterdessen die Alten geblieben sind,
und in dem Genüsse ihrer Ergötzlichkeiten noch einige Tage fortfahren.
Zur Trauung fährt die Braut mit ihren Gespielinnen auf einem grofsen
mit vier Pferden bespannten Wagen, und vorn an sitzen Musikanten
mit Piepsack und Violinen. Der Bräutigam kommt mit seiner Gesell-
schaft von Verwandten und allen Knechten des Dorfes auf den besten
Pferden mit blanken Zäumen geritten. Die Kleidung der Braut ist
schwarz, bei wohlhabenden von Seide, und so auch die Schürze, über
welche sie an einigen Orten noch eine weilse von Nesseltuch oder Lein-
wand hat. Um den Leib trägt sie einen ledernen Brautgürtel, der mit
silbernen vergoldeten Buckeln fast eines Theeköpfchens grofs, dicht
aneinander besetzt, und vorn mit einer silbernen Kette zusammen-
geheftet ist. Der Schnürleib ist gleichfalls mit einer silbernen Kette
zugeschnürt. Auf dem Kopfe trägt sie eine Krone, fast wie eine
Grenadiermütze hoch, die man Flitterpeil heilst. Der untere Teil des-
selben ist von vergoldetem Silber in der Dicke eines Messerrückens,
eine Hand breit, darüber sind einige Bügel, welche die Höhe und
Haltung ausmachen. Rund herum hängt eine grolse Menge silberner
Füttern, die teils rund, teils oval, teils dreieckig und in beständiger
Bewegung sind. Über die Schultern hat sie einen Mantel von schwarzem
feinen Tuch, der vorn inwendig und auswendig drei bis vier Finger
breit mit schwarzem Samt ausgeschlagen und in lauter kleine Falten
gelegt ist. Er wird ein Heuken genennt und geht über die Waden
herunter. Statt des Kragens ist oben eine starke Pappe über eine
halbe Elle lang und eine Hand breit befestigt, mit schwarzem Samt
überzogen, und mit seidenen Borten besetzt, welcher im Nacken über
den Schultern wegsteht. Es sind Bänder daran, um ihn um die
Schultern zu binden, und vorn an dem samtnen Ausschlage können sie
die Hände durchstecken, zu welchem Ende auf Jeder Seite inwendig
etwas schwarzes Zeug angenäht ist. Sowohl der Flitterpeil, als der
Brautgürtel und der Heuken sind als Inventarienstücke wohlhabenden
Familien eigen, und werden bey allen darin vorkommenden Fällen ge-
braucht. In einigen Gegenden wird statt des Flitterpeils der Braut
eine Krone von Knistergold mit vielen herumhängenden beweglichen
Füttern aufgesetzt. Um den Hals hat die Braut einen grolsen blau-
gestärkten Kragen, der rund um den Kopf ziemüch in die Höhe steht.
Beim Zurückkehren von der Trauung in der Kirche finden sie das
Hochzeitshaus zugemacht. Nach der Eröffnung desselben kommt jemand
mit einem ganzen Brot und einem Krug Bier heraus. Die Braut muls
zuerst aus dem Brot ein Stück herausbeifsen , darauf der Bräutigam,
und dann die übrigen nach der Reihe. Das ausgebissene Stückchen
Brot wird nicht gegessen, sondern von den Brautleuten aufgehoben.
Im Treptowschen fährt die Braut aufs Flur, wo sie, nachdem sie ab-
28*
436 Die Slowinzen.
gestiegen, von der Köchin an den Herd geführt, und ihr von jedem
Gericht aus Töpfen und Kesseln etwas zu kosten gegeben wird. Hierauf
geht der Bräutigam mit den Mannspersonen in die Stube zum Essen,
und die Braut setzt sich mit ihrer weiblichen Gesellschaft auf dem
Flur zu Tische. Vor ihr sowohl als vor dem Bräutigam steht ein
hölzerner Leuchter mit drei Armen, worauf drei Lichter brennen, die
nicht geputzt oder ausgelöscht werden, sondern von selbst ausgehen
müssen. Die übrig gebliebenen Enden werden aufgehoben. Nach der
Mahlzeit wird getanzt. Der erste Tanz ist allemal der lange Reihen,
da der Brautdiener an dem weifsen Schnupftuch fafst, den die Braut in
der Hand hat, alle übrige Mädchen sich einander an der Hand fassen,
und so auf dem Flur nach ihrer Art künstlich mit vielen Wendungen
und Schwenkungen tanzen, wobei sie oft unter dem Tuch, den die
Braut und der Brautdiener halten, durchgehen. Dieser muls sich dabei
in Acht nehmen, dafs sie ihn nicht umringen, sonst muls er eine Strafe
erlegen. Nach Erledigung des langen Reihens führt der Brautdiener
alle in die Stube, die Braut dem Bräutigam und jedem der anderen
jungen Leute ein Mädchen mit den Worten zu: »ich habe deiner ge-
dacht, und dir ein schmuck jung Mädchen gebracht; verschmadest dn
meine Hand, so wirst du ihre nicht verschmaden.c Diese ist hernach
eines jeden vornehmste Tänzerin, mit welcher er allemal den Tanz
eröffnen muls, ehe er sich an eine andere wenden darf. Am anderen
Tage der Hochzeit ist die junge Frau noch als Braut in ihrem vor-
erwähnten Staat, am folgenden aber setzt sie Haube und Mütze auf,
fährt mit den Frauen zur Kirche und wird nach Absingung eines
Liedes und nachdem sie geopfert hat, von dem Prediger mit einem
Gebete eingesegnet. Diese Ceremonie geschieht auch im Hause auf
dem Flur, in dessen Mitte ein gedeckter Tisch mit einem Lichte darauf
gestellt wird. Die Männer gehen nicht mit in die Kirche, im Hause
aber wohnen sie dem Gesänge und Gebete zugleich mit dem weiblichen
Geschlechte bei."
Taufe. Der Kindtauf ssch maus dauert nur einen Tag; jeder
weitere kostet 75 Pf. Steuern. Die Paten müssen während der Tauf-
rede das Kind abwechselnd in die Hand nehmen. Das Geld im Paten-
briefe (3,50 Mk.) darf nicht zurückgewiesen werden. Die Taufe findet
bald nach der Geburt statt, weil die Wöchnerin vor der Taufe nicht
über die Stralse gehen darf; „sie könnte sonst das Vieh versehen a.
Begräbnis. Wenn ein Kluckener im Sterben liegt, eilen die
Nachbarn in die Stube, singen Choräle und beten laut, der Sterbende
singt mit, bis ihm die Stimme versagt. Am vierten Tage hält man
das Begräbnis ab. Nur die Bewohner der Schmolsiner Klucken haben
ihren eigenen Gottesacker. Bei ihnen findet das Begräbnis folgender-
maßen statt. Eine halbe Stunde vor des Lehrers Ankunft sammeln
sich die Leidtragenden im Trauerhause an, wo sie mit Schnaps und
Weilsbrot (Stuten, Pameln) ohne Butter oder Fleisch bewirtet werden.
Taufe. Begräbnis. Sprachliches. 437
Beim Eintritt des Lehrers wird nach einem stillen Gebet und dem
Gesang eines Chorals vom Lehrer die Leichenrede mit Vaterunser ge-
halten. Unter dem Gesänge eines Liedes hebt man den Sarg auf die
Trage, und der Zug setzt sich in Bewegung. Bei Erwachsenen wird
auf dem Wege „Wer weifs, wie nahe mir mein Ende" oder „Jesus,
meine Zuversicht" mit Pausen gesungen; bei Kindern: „Christus, der
ist mein Leben. u Der Lehrer geht kurz hinter dem Sarge und tritt
beim Betreten des Gottesackers vor ihn. Er liest einen Bibelabschnitt
vor, betet ein Vaterunser und stimmt mit den Sängern, während man
den Sarg einsenkt, das Lied an: „Nun lasset uns den Leib begraben."
Dann verrichten alle knieend ein stilles Vaterunser, gehen an die
Gräber ihrer Angehörigen und beten dort. Im Trauerhause giebt es
Butterbrot mit Käse und Schnaps, Pellkartoffeln mit gekochtem Fisch
und dann Reissuppe. Je zwei und zwei haben eine Schüssel. Zuletzt
reicht man nochmals Schnaps und Butterbrot, Bier und eine Cigarre.
Nun singt man ein Gesangbuchlied, und der Lehrer betet am Schluls —
das wünscht man immer — nochmals für alle. Auf dies Gebet legt man
grotsen Wert. Einzelne, die vor nichts zurückschrecken, stehen dabei
wie gebrochene Sünder. Sie weinen und fühlen zuweilen ihre wundeste
Stelle im Trauerhause berührt. „Das wirkt", „das war sehr hübsch",
meinen sie und geloben im Herzen Besserung.
In den Zemminer Klucken sind die Gebräuche bis zum Abmarsch
des Trauerzuges dieselben. Dann geht der Lehrer bis zur Dorf grenze
mit und scheidet mit einem „Behüt euch Gott". Nun wandelt man,
im Winter mit der Leiche auf dem Schlitten, bis Zemmin, wo der
Zemminer Lehrer die Führung des Zuges und die Leitung des Gesanges
„Jesus, meine Zuversicht" übernimmt. Hinter Zemmin singen sie
allein. In dem 1 5 km entfernten Glowitz begleitet der Glowitzer Kantor
die Leiche bis ans Grab. Von der Leichenhalle ab zieht der Pastor
mit und beendet die Feierlichkeit, dann begiebt sich die Trauer-
gesellschaft in den Krug, wo es recht laut hergeht. Die Bewohner
der Selesener Klucken fahren ihre Särge den Kluckenbach aufwärts,
laden sie dann am Berge auf den Wagen und fahren nach dem 10 km
entfernten Selesen, wo der Lehrer die Beerdigung vornimmt.
IV. Sprachliches.
Bei allen diesen Handlungen bedient sich jetzt der Kluckener der
hochdeutschen Sprache, die er schön rein und deutlich spricht; im
Kruge aber herrscht die plattdeutsche Mundart vor.
Interessant ist Hakens Bericht über die Sprache der Slowinzen
1779: „Die Aussprache der plattdeutschen pommerschen Mundart
klingt bei ihnen etwas grobe und als aus vollem Munde kommend.
Den Lautbuchstaben a sprechen sie in vielen Wörtern als o und in
anderen als u aus, seh wie sk und f verwandeln sie oft in ch, z. B. in
438 Di® Slowinzen.
Lucht statt Luft. Ihre alten Wörter kommen nach und nach in Ver-
gessenheit. Zur Probe können folgende dienen. Dörretz oder Dörse
heilet eine Stube. Schlöpt ein bätken int Döritz un Iaht üb en Muhlken
vull kulzen, heifst, geht ein wenig in die Stube und lafst uns etwas
reden; en düglich Balg, ein artig Kind; en lütk Lüt, ein klein Kind;
davallsk, thöricht; Hön eine Ecke oder Winkel; Syg jy noch gaut
weelig? befindet ihr euch noch wohl; behau wen, gebrauchen, wovon
im hochdeutschen Behuf herkommt; Nadup eine Art von Alkove in der
Stube. Man erinnert sich noch, dals die Alten Ath für Vater gesagt
haben. In ihren Beden bedienen sie sich einer Menge von Sprich-
wörtern, welche zum Teil einen Beweis des ihnen natürlichen Witzes
abgeben. Wir wollen nur einige davon anführen. Wedder den Back-
afen pusten, sich einem Mächtigern widersetzen, gegen den man nichts
ausrichten kann; Eöp dy n'en Bück (Bock), so werst nich melken,
wenn du faul sein willst, so entbehre auch den Nutzen; Wenn dei
Kinn er klen sind, wyst man sei af mit'm Appel un Lappen, wenn sei
grot waren, mutt ganz anners klappen, kleine Kinder kosten etwas,
aber wenn sie grols werden, kosten sie viel mehr; Sei süht uth, als
wenn sei uth den Arften (Erbsen) jagt ist, sie sieht ganz verwildert
aus; Gif em wat unnern Bart, so wardt wohl krygen gaude Art, gieb
dem Vieh was zu fressen, so wird sich's wohl bessern; Im Winter ifs
baven an, wo man de Bratäppel langen kann, im Winter ist bei dem
Ofen die beste Stelle; Sei süht uth als Melk un Blaut, man kann sei
immer ut Sult un Water geneiten, Beschreibung eines reizenden Frauen-
zimmers; Dei Braut mut spinnen, die Hochzeit ist aus; Wat schallt
Honn'g in de Teerbütt, dies Sprichwort wird gebraucht, wenn Jemand
eine gute Speise verachtet, weil er sie nicht gewohnt ist, oder wenn
man eine Speise zu gut für ihn hält; Necken, dat deith hei nich, in
den hülternen Büchsen (Kanzel) steint hei nich, nein, das thut er nicht«
auf sein Wort mufs man nicht trauen, als wenn es von der Kanzel
gesprochen wäre; Dem ils dei Seil (Seele) in den Füllen verbistert, die
Seele hat sich bei ihm in den Falten verirrt, sagt man von einem
Alten, den man gerne los sein will und der noch nicht sterben kann;
Wer myn Mauder oock ne Zeg (Ziege) un ick hedd man gauden Deg
(Gedeihen), es schadet wohlgeratenen Kindern nichts, wenn sie auch
geringe filtern haben; Dei der over der Höll sitt, mutt den Düvel tau
Vaddern bidden, wer einen vor sich hat, der ihm schaden kann, mufs
ihm wohl etwas zu gute thun; Fruwens Rat und Baukweitsat raden
sillen, averst wenn sei raden, so raden sei oock recht tau dowegen,
Frauenrat und Buchweizensamen geraten selten, wenn sie aber geraten,
geraten sie rechtschaffen; He heft morgen nen fetten Domen, er hat
morgen einen Schmauls zu erwarten; Kanst oock all Eyer kaken? willst
du auch schon Frau spielen; Wer na Noten fidelt, den dort dei Pre-
cepter nich up dei Finger slan, wer nach der Vorschrift handelt, hat
keine Verantwortung; Fischt hei nich watt, so schütt (schiefst) hei
i
Sprachliches. Aussprache. 439
wat, gelingt es ihm nicht auf die eine Art, so gelingt es ihm auf die
andere; Hei ils so flink als en ult Büfsenschlott, er will gern geschwind
sein, aber das Alter versagts ihm; Hei kann mitm Ellbagen nich in
dei Fobke (Tasche) kamen, sagt man von einem Geizigen, der nicht
gern Geld ausgiebt; En Düvel hett den annern Glupogg, un wenn sei
tau seihn, scheuen sei alle beede, ein Esel heilst den andern Sackträger;
Wenn 'm den Düvel zehn Jahr Huback dregt (auf dem Rücken trägt)
un sett'n enmahl unsacht nedder, helpt alles nilst, bei einem Undank-
baren verschwendet man seine Gutthaten; Wen'm mit dem Enaken
nam Hunn smitt, so kachinkt (schreit) hei nich, wenn man seinen Vor-
gesetzten oder Richter mit Geschenken besticht, sieht er durch die
Finger; Man mutt naken (oft: vgl. Md. fartn = forthin) nen s warten
Hund Schwan heiten, man muls oft anders reden oder handeln als
man denkt; Hei geiht als dei Hund na der Kost, er geht nicht den
geraden Weg, sondern bald rechts, bald links; Dat Beir folgt dem
Tappen, steck tau, so dörst nich jappen, trinke mäfsig, so hast du
immer was und darfst zuletzt nicht schmachten; Wenn dei Eark oock
noch so grot ifs, dei Preister predigt doch man so vel, als hei will,
dies Sprichwort braucht man, wenn jemand ein grots Gefäfs darbeut,
in der Meinung, man soll ihm viel darin geben; Wenn't taum Klappen
kümt, ils Grootmauders Slaapmütz, am Ende ist es nichts; Sei he oben
eren egnen Kopp, als dei Rügianschen Gänse, sie bleiben bei ihrer
einmal gefalsten Meinung; 't sitt em nich in den Kledern, 't sitt em
im Liv, das ist bei ihm keine Gewohnheit, die er wieder ablegen kann,
es ist eine angeborene Gemütsart; Hei wett das Wysken wol, man
nich dat Wörtken, er weile die Melodie wohl, aber nicht das Wort, er
weifs wohl, wie ein Ding sein soll, aber nicht, wie er es machen soll."
Slowinzisch wird nur von den alten Leuten und auch von einigen
jüngeren bei der Fischerei, beim Grals und um Deutschen unverständ-
lich zu sein, gesprochen. Man grüfst: dobri dzien (guten Tag),
pomosch bog (hilf Gott), dobri wieczor (guten Abend), wietousche
(willkommen), ze kuoja (ich danke), bog säplac (schönen Dank, Gott
bezahlt), s boga (mit Gott). Die Sprache ähnelt der polnischen und
stimmt in vielen Worten wörtlich mit ihr überein. Das wissen auch
die Slowinzen und erzählen, dals sie oft in Lauenburg als Dolmetscher
zwischen Käufern und polnischen Verkäufern auftreten. Sie haben
ein feines Ohr für die Unterschiede zwischen beiden Sprachen und
erzählen noch jetzt, dafs von den früheren Pastoren der Schmolsiner
gar nicht, der Glo witzer sehr schlecht, der Zezeuower aber vorzüglich
kaschubisch predigen konnte. Der Wortschatz ist ein anders gearteter
als der polnische und umfafst die Ausdrücke des gewöhnlichen Lebens,
und selbst von diesen hat der Kluckener viele vergessen und gebraucht
ein slawisiertes deutsches Wort; so für die Handwerkernamen. Auch
die Betonung weicht oft von der polnischen ab; sodann wendet der
Kluckener häufig eine eigentümliche Diphthongisierung, Vokalyerände-
440 Die Slowinzen.
rung und Konsonantenein Schiebung an. Einige Beispiele mögen folgen:
Polnisch jestem (ich bin), slowinzisch jo Jim; p. ubogi (arm), sL
wubuodji; p. izba (Stube), sl. jizba; p. on (er), sl. wuon; p. koniec
(Ende), sL könc; p. uzda (Zaum), sl. wusda; p. wzrost (Wuchs), sL
wruost; p. twardy (fest), sl. schwardy; p. ogien (Feuer), bL wödjen;
p. my (wir), sl. ma; p. g§s* (Gans), sL gas, göee; p. sroda (Mittwoch),
sl. struoda; p. igla (Nadel), sl. jegla; p. ucho (Ohr), sL wuoche, pL
wüsche; p. jezioro (See), sL jiesere; p. mydlo (Seif e), sl. madlo; p.podniecs
(aufheben), sl. woniesc; p. jest dobrze (es ist gut), eL je doubrsche;
p. tak mi Panie Boze dopomöz (so wahr mir Gott helfe), sL tak ak mi
bog pomösche; sl. zerkwia (Kirche), p. cerkiew (griechische Kirche),
kosciel (Kirche) und zerkwischetze (Gottesacker) sollen beweisen, dafs
die Einführung des Christentums hier sehr zeitig und von Seiten der
griechischen Kirche geschehen sei. Die Sprache hat jedoch nur so
schwachen Hinterhalt, dafs als Gemeingut nur noch wenige Worter
gelten können und ganz allmählich eins nach dem andern dem Klucke-
ner unverständlich wird, bis die deutsche Spraohe allein herrscht.
V. Slowinzisches Vaterunser.
1. (Nach Pontanus 164S.)
Oycze1) näsz, ktory jes w Niebie. Swiecono badz*) imie twe. Przydzy*)
twe krolestwo. Twa si$ Wola stani4) jako w Niebie tako y na Ziemi.
Chleb nasz powszedny day nam dzisa 5). Y odpuscy •) nam nasze winny 7),
jako y my odpuszczamy 8) naszim 9) winnowacom. A niewodzy l0) nas w
pokuszenie. Ale nas wybawi od zlego u). Bo twoje jesta krolestwo , y lt)
moc, y poczestnosd od wiäkä asz do wieka 18). Amen.
2. (Nach Martin Pollex [L§gowski, 8. 19].)
Woejcze nasz, chtore te jes w niebie. Swancone niech bandze imian
twe. Przyjdze nom twoje kröulestwe jak w niebie, tak na zemL Twoj
chljeb powszednan, mili Jezusku, dzys nom daj, a wetpusc nom nasze wine,
nasze gr£szy. A niewedze nas w poekuszenie le nas webawi weto WBzewo
grzechu. Abe two jesta moc tro wet wieka dowieka. Amen.
l) Oy'cze Wutstrack. Uejcze (= Lejcze), nasz, ktery. Mich. Klick, Klucken. —
*) bfdzie Schmolsiner Gebetbuch, ba'dz Wutstrack, swiancone bodze imi«» twoje
Klick. — 8) Przydz nam Schm., Przydz W. — 4) stany Schm. — *) dzysa Schm.,
dzcsia W. — 6) odpusz Schm. , ospusc W. — 7) winy Schm. — 8) odpuszczimy
Schm., odpussczamy W. — 9) naszym W. — l0) winowaycom Schm., Winnowaycom
W.; nie wodze Schm., ni& wodz W. — ll) Ale naz zbawi od WBzego zlego Schm.,
Ale nas wybawiod zlego W. — l*) y twoja Schm. — l8) na wieky wiekow Schm.,
ass do wieka W.
Die Kaschuben.
Literatur.
(Siehe Tetzner, Slowinzen und Lebakaschuben, S. 268 bis 272.)
Das Altertums-Museum im Schlofs zu Stettin. Stettin, Fischer und Schmidt.
Berka (Biskupski): Slownik kaszubski (Wörterbuch). Warschau 1891.
Biskupski: Beitrage zur slawischen Dialektologie. Breslau, Dissert., 1883.
B ronisch: Kaschubische Dialektstudien. Leipzig 1896 ff.
Cenova: Skörb etc. (Märchen, Bätsei u. s. w.). Schwetz 1866/68. Kaschu-
bisch. — Sbjör etc. (126 Lieder u. s. w.). Schwetz 1878. Kaschubisch. —
Zar6s etc. (Entwurf zur Grammatik der kaschubisch - slovinischen
Sprache). Posen 1879. Kaschubisch und deutsch.
Derdowski: O panu Czorlinscim. Thorn 1880.
Haken: Bericht. Abgedruckt bei Tetzner, Slowinzen und Lebakaschuben.
Hilferding: Die Überreste der Slawen etc. Ebenda abgedruckt.
Kantzow: Fomerania. Herausgegeben von Kosegarten. Greifswald 1816.
Le,gowski: Kaszuby i Kociewie. Posen 1892 (v. Nadmorski).
Lorek: Zur Charakterisirung der Kaschuben am Lebastrom. Pommersche
Provinzialblätter 1821.
Maronski: Die stammverwandten Beziehungen Pommerns zu Polen. Neu-
städter Gym.-Progr. 1866.
Möller: Der Dantzger Frawen und Jungfrawen gebreuchliche Zierheit und
Tracht 1601. Dantzigk, Jac. Rhode. Herausgegeben von Bertling 1886.
(20 Trachten. Sehr realistisch die Umbitter -Weiber.)
Mrongowius: Ausführliches polnisch - deutsches Wörterbuch. Königsberg
1835.
Nadmorski: Vgl. Legowski.
Perlbach: Pommerellisches Urkundenbuch. Danzig 1882.
Pernin: Wanderungen durch die sogenannte Kaschubei. Danzig 1886.
Poblocki: Stownik etc. (Wörterbuch). Chetmno 1887.
Ramutt: Slownik etc. (Wörterbuch). Krakau 1893. — Karte in „StatyBt.
L. Kasz". Krakau 1899.
Treichel: Volkslieder und Volksreime in Westpreufsen. Danzig 1895. —
Zahlreiche Arbeiten, veröffentlicht von der Berliner Anthropologischen
Gesellschaft, dem Verein für Volkskunde etc.
v. Winter, Plehn etc.: Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz West-
preufsen. Heft 1 bis 4 Pommerellen. Danzig 1884 ff.
I. Sprachgebiet.
Die Heimat der Kaschuben ist Pommerellen. Kaschuben nennt
man heutigen Tages die bodensässigen katholischen Slawen der Kreise
Danzig, Danziger Höhe, Patzig, Neustadt, Karthaus, Berent, Konitz,
442
Die Kaschuben.
Schlochau (vgl. Abb. 182), dazu die an der pommeriBch-westpreuIsischen
Grenze, die in den Bütower, Stolper, Lauenbnrger Kreis einige Meilen
vorgedrungen sind. Eine genaue Sprachgrenze lälst sich schwer fest-
stellen, da die Sprachübergänge an der polnischen Sprachgrenze sieb
verwischen. Die Grenze gegenüber den Polen ist seit alter Zeit das grolse
Brachland im Gebiete der Netze und Warthe, die Brahe, Kamianka,
Die letzten lebakanchu bischen Kirchspiele.
In den ( ) Dörfern
wird noch verei
zeit lebak
( ) noch hier und
• verstanden. Die
der kaschubisch
beigesetzt
n Predigt
Maßstab 1
: 250 000,
Dobrinka, Küddow. Im Osten reichte das Gebiet nicht über die Weichsel
hinüber, im Westen bis znr Leba; es gehorten sogar vom heutigen Pom-
mern aulser Lanenbnrg and Bütow zeitweise noch Stolp und Schlawe
dazu. Im Süden war die Kastellanei Wyszegrod zwischen Polen und
Pomm ereilen streitig. Bis ins 13. Jahrhundert werden die Bewohner
westlich von der Leba Slawen, die östlich davon Pommern genannt.
Seitdem der Orden im Lande war, unterschied man zwischen Pommern
Sprach gebiet.
443
Dieses Pommereüen
nnd dem heute westpreutsischen Pomm ereilen.
war im 13. Jahrhundert noch ganz slawisch und gehörte zum polni-
schen Gebiet,
1793 umfatste das hinterpommersche Sprachgebiet (Abb. 183)
aulser dem Kreise Lauenbnrg and einem Teil von Stolp auch noch
Sprachreste von Bfitow.
Abb. 183.
Die ksochubiachen Kirchspiels in Pommern im 18. Jahrhundert.
(Vgl. S. 443, Z. 3 v. u. und du Gebiet der Kaschuben S. 473.)
1860 endete die kaschubische Sprachgrenze bei der Linie Gne-
win, Wittenberg, Osseoken, Prebendow, Sarbake, Leba, Cbarbrow,
Zezenow, Dämmen (ausgeschlossen), Garde, Südufer des Sees. Die
Kirchensprache war deutsch und kaschubisch oder polnisch, die
Familien spräche linka des Khickenbaeh.es elowinziech.
1885 begann die Grenzlinie am Nordostufer des Lebaseees, reichte
bis znr Mündung der Leba, ging Sntsaufwärts bis in die Gegend von
444 Die Kaschuben.
Zezenow und über Poblotz, Glowitz, Garde, das Südufer des Lupow-
sees entlang.
1900 hatte das Deutschtum das an den Grenzen verkleinerte
Gebiet so voneinander geschieden, dals, westlich vom Eluckenbach ab-
getrennt, die wenigen Dörfer bei Garde, Schmolsin und den Klucken
liegen, die noch slowinzische Reßte beherbergen, östlich davon,
namentlich in und bei Giesebitz und Czarnowske, befinden sich Leba-
kaschuben.
Sehr verschieden sind die Angaben über die Zahl der Kaschuben.
55 539 giebt A. v. Fircks für 1890 an. Die Zahl ist viel zu gering,
die Karte beweist, dafs eben viele Masuren und Kaschuben sich auf
der Zählliste als Polen bezeichnet haben. Die erste Auflage des kleinen
Mey ersehen Lexikons zählt 85 500, das Brockhaussche Lexikon 170000,
der Sprachforscher Biskupski 180 000, Dr. Legowski am zuver-
lässigsten 137 000, Ramult 330 917 (davon 130 700 in Amerika).
Die Lebakaschuben (vgl. Abb. 182 und 183) sind die evangeli-
schen Slawen im östlichen Hinterpommern jenseits des Kluckenbaches.
Sie sind jetzt bis auf verschwindende Reste in Giesebitz und Czarnowske
germanisiert. Ihre Geschichte und Konfession bindet sie mehr an die
Slowinzen, mit denen sie die gleichen Erbauungsbücher besalsen.
B üb c hing (IX, 2063 bis 2064) meint 1768, dafs im stolpischen Kreise
in Glowitz und Zezenow neben der kaschubischen Sprache auch eigene
Tracht geherrscht habe, in Bütow und Lauenburg aber in allen Kirchen
doppelsprachiger Gottesdienst gehalten werde.
Wenn die von A. v. Fircks angegebene Zahl (26 984 männliche
und 28 555 weibliche Kaschuben) nun auch nicht der Wirklichkeit ent-
spricht, so ist doch aus den Verhältniszahlen desselben Gelehrten manches
interessant. Aulser 11 Juden, 1453 Evangelischen und 5 der evangeli-
schen Kirche verwandten waren alle Kaschuben katholisch, nämlich
97,39 Proz. ; dies Verhältnis ähnelt dem der Mährer. Der Staats-
angehörigkeit nach waren aulser fünf Russen und einer Österreicherin
alle Deutsche, also 99,99 Proz. 42 Personen waren über 90 Jahre,
2 über 100 Jahre. Mit den Polen stellen die Kaschuben die grölste
Zahl der Alten.
Mit deutscher und kaschubischer Muttersprache waren 1223 Männer
und 990 Frauen begabt. Es zeigt sich, dafs unter diesen doppel-
Bprachigen 595 Evangelische waren, also ein unverhältnismäfsig hoher
Prozentsatz. Bei den Kaschuben merkt man die einer sefshaften Be-
völkerung eigentümlichen Merkmale der Zahl abnähme in den höheren
Altersklassen und der Langlebigkeit des weiblichen Geschlechts, mit
der auch die verhältnismäfsig langsamere Zahlabnahme des letzteren
verbunden ist. Die Statistik zeigt ferner, dafs besonders die männliche
Bevölkerung zwischen dem 20. und 25. Jahre auffällig gering ist, was
seinen Grund in der Auswanderung und in der Sachsengängerei hat
Die Zahl der Doppelsprachigen nimmt übrigens mit dem Alter ver-
Volkszahl. Älteste Geschichte. 445
hältnismälsig zu, sie steigt bei den Männern bis zum 20. Jahre und
fällt verhältnismäßig nur langsam.
Neben je 1000 Erwerbsfähigen zählte man 750,3 nicht Erwerbs-
fähige.
II. Gesohichte.
Als 997 der heilige Adalbert nach Dan zig kam, war die Stadt
polnisch. Der Besitzer war Boleslaw, der zweite christliche Polenfürst.
Aber dieser hatte fortgesetzt mit den Aufständen der Pommern zu
rechnen, die nur lose mit seinem Reiche zusammenzuhängen schienen.
Kräftiger scheint die geistliche Herrschaft gewesen zu sein, nicht die
des Hamburger (seit 834) oder Magdeburger (seit 968) Erzbistums,
aber die des Gnesener (seit etwa 1000). Mit dem Bischof Werner von
Kujavien oder Leslau, der sich 1148 das Land von derLeba bis Danzig
ausdrücklich als Eigentum mit dem Zehnten von dem Getreide und den
Schiffen schenken liefs, ist zugleich der Zeitpunkt angegeben, an dem
Westpommern ostwärts bis zur Leba ein eigenes Bistum und dasselbe
Land ein eigenes Herzogsgeschlecht umSchlawe besafs, hervorgegangen
aus dem pommerschen Herrscherhause, sich aber durch verwandtschaft-
liche Bande mehr an die Deutschen als an die Polen bindend. Die
Polen behandelten nun Pommerellen als ihnen zugehörend und wählten
Statthalter für Danzig. Der erste war Subislaw und soll der Gründer
des Gistercienserklosters Oliva sein, das aber erst unter seines Nach-
folgers Sambor Regierung (1170 bis 1207) von Kolbatz aus 1178
gegründet worden sein kann. Sein Bruder Mestwin I. (1207 bis
1220), der Stifter des Prämonstratenserklosters Zuckau, tagte noch
friedlich mit den polnischen Bischöfen zu Mikulin. Kaum hatte er die
Augen geschlossen, so begann die Fehde seines Sohnes Swantopolk
(1220 bis 1266) mit Polen und mit den eigenen Brüdern. Swantopolk
vereinigte 1227 Slawien mit Pommern und rief deutsche Siedler nach
Danzig, sein Bruder Sambor nach Dirschau. Swantopolk bestätigte
die Schenkungen Konrads von Masovien für den Bischof Christian von
Preufsen 1223, dem er auf Geh eile des Papstes Gregor IX. 1231 gegen
die heidnischen Preulsen beistehen sollte. Er beschenkte die Stanislaus-
kirche in Garde mit dem Fischzehnten im Garder See, dem Zehnten
von Preuloca und Rowe (Rou) und anderen Einkünften aus Zietzen
(Sice), Rowen (Roune), Vietkow (Wicesowo), Schorin (Scurevo), Schmolsin
(Smoltzini). Sein Nachfolger Mestwin IL (1266 bis 1294) erkannte
1269 die Brandenburger Markgrafen als Lehnsherren an und sprach
ihnen Danzig zu. Den Mönchen von Beibuk gab er 1281 die 1180
zur Gnesener Erzdiözese gehörige Stolper Kirche mit dem Dorfe Karzin,
dem Zehnten der Dörfer Labuhn, Stantin, Wobesde, Buckow, Selesen,
die Marienkapelle auf der Burg mit dem Zehnten von Flinkow
und Strellin und zu einem Kloster die Nikolaikirche mit den Dörfern
446 Die Kaschuben.
Bekel, Veddin, Schorin und Schmolsin (Obesda; §molino cum sylvia,
pratis, pascuis, paludibus; piscationem in stagno, quod Gardna
vocatur, et — quod Lebesco dicitur etc.). Charbrow war seit 1286
bei Kujavien. Wohl besafs er ganz Pommerellen bis auf Beigard,
aber von allen Seiten drohten die Feinde, zumal er durch unkluge
deutschfeindliche Politik und durch Schwanken keine Bundesgenossen
erhalten konnte. Barnim von Pommern griff nach dem Kloster Bukau
in Schlawe, und als er starb, wollten der Orden, Brandenburg und
Polen gleichzeitig das Land. Kurze Zeit besats es der Polenkönig
Przemyslaw (f 1295), der sich vom Onesener Erzbischof zum König
von Polen und Herzog von Pommern hatte krönen lassen. Dann
nahm es der Sohn des mächtigen Ottokar, Wenzel IL Wenzel III. ver-
pfändete es 1305 auf 8 neue den Brandenburgern. Aber Wladislaw von
Polen rückte ins Weichselgebiet ein. Und als 1 308 die Brandenburger,
wie 30 Jahre zuvor, in Dan zig einmarschierten, riefen die Danziger den
Orden herbei; der kaufte den Brandenburgern ihre Rechte ab, ergriff
1310 selbst Besitz und hatte 1313 alles Land bis auf Lauenburg,
Bütow, Stolp, Schlawe und Bügen walde. Unterdes hatten die kujavi-
schen Bischöfe überall deutsche Verhältnisse eingeführt, und die eigent-
lichen Herren des Landes, die Äbte von Oliva und Pelplin, der Palatin
Swenza von Danzig und Stolp und andere, leisteten dem Deutschtum
Vorschub. Bis zum Verfall des Ordens war das Deutschtum so weit
vorgeschritten, dals selbst die Besitznahme durch Polen 1454 und
1466 nicht mehr von Einflute sein konnte. Als nach der ersten Teilung
Polens Pommerellen 1772 an Preulsen kam, war ein altes durch
deutsche Arbeit und Siedelung erworbenes Land in den Besitz der
Bebauer zurückgelangt. Lauenburg und Bütow aber lagen seit 1657
in brandenburgischen Händen. Ging auch der deutsche Charakter
Pommerellens durch die Polenherrschaft nicht verloren, so fand doch
keine lebensvolle Weiterentwickelung wie im übrigen Deutschland statt
G. Freytag sagt u. a. etwa (Bilder aus der deutschen Vergangen-
heit IV, 269 f., 9. Aufl. Leipzig 1876):
„Die Mehrzahl des Landvolks (der Kaschuben) lebte in Zustanden,
welche den Beamten des Königs jämmerlich erschienen. Wer einem
Dorfe nahte, der sah graue Hütten und zerrissene Strohdächer auf
kahler Fläche, ohne einen Baum, ohne einen Garten, — nur die Sauer-
kirschbäume waren altheimisch. Die Häuser waren aus hölzernen
Sprossen gebaut, nur mit Lehm ausgeklebt; durch die Hausthür trat
man in die Stube mit grofsem Herd ohne Schornstein; Stubenöfen
waren unbekannt, selten wurde ein Licht angezündet, nur der Kien-
span erhellte das Dunkel der langen Winterabende; das Hauptstück
des elenden Hausrats war das Kruzifix, darunter der Napf mit Weib-
wasser. Das schmutzige und wüste Volk lebte von Brei aus Roggen-
mehl, oft nur von Kräutern, die sie als Kohl zur Suppe kochten, von
Heringen und Branntwein, dem Frauen wie Männer unterlagen. Brot
-J
Polnische Herrschaft. Urteile Frey tags. 447
wurde nur von den Reichsten gebacken. Viele hatten in ihrem Leben
nie einen solchen Leckerbissen gegessen, in wenig Dörfern stand ein
Backofen. Hielten die Leute ja einmal Bienenstöcke, so verkauften sie
den Honig an die Städter, aulserdem geschnitzte Löffel und gestohlene
Rinde, dafür erstanden sie auf den Jahrmärkten den groben blauen
Tuchrock, die schwarze Pelzmütze und das hellrothe Kopftuch für
ihre Frauen, stumpf und schwerfällig trank das Volk den schlechten
Branntwein, prügelte sich und taumelte in die Winkel. Auch der
Bauernadel unterschied sich kaum von den Bauern, er führte seinen
Pflug selbst und klapperte in Holzpantoffeln auf dem ungedielten
Futsboden seiner Hütte, schwer wurde es auch dem Preufsenkönig,
diesem Volke zu nützen. Nur die Kartoffeln verbreiteten sich schnell,
aber noch lange wurden die befohlenen Obstpflanzungen von dem Volke
zerstört, und alle anderen Kulturversuche fanden Widerstand. Ebenso
dürftig und verwüstet waren die Grenzstriche mit polnischer Bevölke-
rung. Selbst auf den Gütern der gröfseren Edelleute, der Starosten
und der Krone waren alle Wirtschaftsgebäude verfallen und un-
brauchbar. Wer erkrankte, fand keine andere Hülfe als die Geheim -
mittel einer alten Dorffrau, denn es gab im ganzen Lande keine
Apotheken. Wer einen Rock bedurfte, that wohl, selbst die Nadel in
die Hand zu nehmen, denn auf viele Meilen war kein Schneider zu
finden, wenn er nicht abenteuernd durch das Land zog. Wer ein Haus
bauen wollte, der mochte zusehen, wo er von Westen her Handwerker
gewann. Noch lebte das Landvolk in ohnmächtigem Kampfe mit den
Herden der Wölfe; wenig Dörfer, in welchen nicht in jedem Winter
Tiere und Menschen decimiert wurden. Brachen die Pocken aus, kam
eine ansteckende Krankheit ins Land, dann sahen die Leute die weifse
Gestalt der Pest durch die Luft fliegen und sich auf ihre Hütten
niederlassen, sie wufsten, was solche Erscheinung bedeutete, es war
Verödung ihrer Hütten, Untergang ganzer Gemeinden, in dumpfer
Ergebenheit erwarteten sie dies Geschick. Es war in der That ein
verlassenes Land, ohne Zucht, ohne Gesetz, ohne Herrn; es war eine
Einöde, auf 600 Quadratmeilen wohnten 500 000 Menschen, nicht 850
auf der Meile. Und wie eine herrenlose Prärie behandelte auch der
PreuLsenkönig seinen Erwerb, fast nach Belieben setzte er sich die
Grenzsteine und rückte sie wieder einige Meilen hinaus. Bis zur
Gegenwart erhielt sich in Ermland, der Landschaft um Heilsberg
und Braunsberg mit 12 Städten und 100 Dörfern, die Erinnerung,
dals zwei preulsische Tamboure mit zwölf Mann das ganze Ermland
durch vier Trommelschläge erobert hatten."
Friedrich derGrofse selbst meinte: „Ich glaube, Kanada ist ebenso
kultiviert wie Pommerellen", und an anderer Stelle: „Man hat mir ein
Stück Anarchie gegeben, mit dessen Umwandelung ich beschäftigt bin.u
Ähnlich hiels es auch in amtlichen Berichten über den Netzedistrikt
von 1773: „Das Land ist wüste und leer. — Die meisten der vorhan-
448 Die Kaschuben.
denen Wohnungen scheinen größtenteils kaum geeignet, menschlichen
Wesen zum Aufenthalt zu dienen Der Bauernstand ist ganz ver-
kommen, ein Bürgerstand existiert gar nicht44
Anton (Die alten Slawen, Leipzig 1783) gedenkt kurz der Ka-
schuben unter Benutzung der Aufzeichnungen Hakens.
Wertvoll ist auch das Zeugnis Rhesas. Es ist um so wichtiger,
als der völkerkundige Gelehrte und Dichter mit aller Liebe an den
Litauern und Kuren hing, gegen die Sprach vernichter auftrat und das
Volkstümliche zu schätzen wufste. Als Rhesa mit zur Befreiung
Deutschlands auszog und als Militärprediger den Feldern von Leipzig
zueilte, kam er auch durch Kaschubien. Er schreibt in seinem Buche
darüber :
„Zwischen Stargard und Konitz ist gegen 10 Meilen lauter Heide-
sand und Wüstenei. Man reist zwei, drei Meilen weit, ohne ein Dorf
anzutreffen. Es scheint ein von Gott und Menschen zugleich ver-
lassenes Land zu sein. Die Kaschuben, ein wendischer Völker stamm,
bewohnen diese Wüstenei. Sie sprechen eine dem Polnischen ähnliche
Sprache. Der Schnitt ihres Gesichts ist auffallend von den Prealsen
verschieden, sowie ihre Kleidung. Sie sehen aus wie die gemalten
Heiligenbilder auf dem Trödel. Da sie katholisch sind, so ist Einfalt
und krasse Bigotterie auf ihrem Gesichte zu lesen. Ein gewisser Zug
von Feigheit und Hals gegen die Deutschen läfst sich von ihnen nicht
verbergen. Mit heimlichem Argwohn blicken sie den Fremden von
der Seite an, wenn er nach dem Wege fragt, und thun, als verständen
sie den Deutschen nicht. Übrigens herrscht die gröfste Armseligkeit
innerhalb ihrer mit Marienbildern bedeckten Wand. Keine Spur von
deutschem Kunstfleifs, kein Stuhl in dem Hause, kein Obstbaum im
Garten. Ich glaube, dals dies Volk, obgleich mitten unter Deutschen,
seit fünf und mehr Jahrhunderten auf derselben Stufe der Roheit und
Unkultur stehen geblieben, weil der Deutsche sie und sie den Deutschen
nicht leiden können. An Schulen auf dem Lande ist gar nicht zu
denken, dafs sie wenig Patriotismus haben werden, läfst sich nach
dieser Schilderung wohl erwarten, und durch sie wird der preulsische
Staat gewils nicht gerettet werden." — Rhesa sah mit dem Auge des
Freiheitskämpfers und Patrioten.
Lorek schildert 1820 die Lebakaschuben schon in besserem
Lichte; neuere Schriftsteller werden auch den guten Seiten der pom-
merellischen Kaschuben gerecht. Die Sprache ist an vielen Orten,
besonders in evangelischen Kirchspielen, deutsch und der Sinn zu-
traulicher geworden. Auf mich wenigstens haben die Leute einen
freundlicheren Eindruck gemacht als auf Rhesa.
Dafs indes auch noch heute dort polnische Gesinnung vorherrscht,
zeigen die Reichstagswahlen. Dem allgemeinen Kulturaufschwung aber
hat sich das Kaschubenland nicht entzogen. Auch die Ansiedelungs-
kommission hat ihre Thätigkeit nicht umsonst ausgeübt.
Literatur. 449
Ursprünglich scheint man, im Gegensatz zu den Slowinzen, rein
polnische Bücher gehraucht zu hahen; in Zezenow findet man noch die
alte polnische Bibel, das Königsherger preußische polnische Gesang-
buch, die Evangelia und Episteln deutsch und polnisch (Danzig 1721)
mit angehängtem Gesangbuch und Einmaleins. In Garde hatte man
aber auch im Jahrhundert der Reformation die Lutherische Postille
und einen Katechismus in polnischer Sprache; das Krofeysche Gesang-
buch wird nicht erwähnt. Auch in Glowitz besafs die Kirche 1733
aulser deutschen Büchern und der plattdeutschen Kirchen Ordnung ein
Gesangbuch, eine Bibel, einen Katechismus, eine alte und die neue
Dombrowskische Postille in polnischer Sprache.
Am frühesten erscheint das lebakaschubische Schrifttum in An-
lehnung an das evangelische slowinzische erblüht zu sein. Die hand-
schriftlichen Arbeiten sind kaum auseinander zu halten. Auf leba-
kaBchubischem Boden entstanden aber sicher die Virchenziner Eide um
1720 (Tetzner, Slowinzen, S. 212 bis 228). Zu den in meinem Buche
angegebenen Stücken füge ich hier die Übersetzung des Beinigungs-,
Zeugen- und Dreschereides (S. 214) und den Lojower Holzwärtereid.
Reinigungseid: Ich N. N. schwöre zu Gott dem Allmächtigen
einen körperlichen Eid, dals ich an dem betreffenden Bier unschuldig
bin und auch das Bier nicht angezapft habe, so wahr mir Gott helfen
möge durch Jesum Christum. Amen.
Zeugeneid: Ich N. N. schwöre bei Gott dem Allmächtigen und
bei seinem heiligen Evangelium einen körperlichen Eid, dafs ich weder
aus Liebe oder Furcht zu meinem gnädigen Herrn, noch aus Hals oder
Zorn gegen die Zipko wer fälschlich aussagen, sondern die reine Wahr-
heit sagen will, wie es einem ehrlichen und aufrichtigen Menschen
ansteht. Wenn ich lügen sollte, so gebe Gott, dals ich verdorre wie
ein dürrer Ast am Zaun und kein Glück in allem dem Meinigen habe,
sondern dafs meine Thaten verflucht seien. Amen.
Dreschereid: Ich N. N. verspreche und schwöre zu Gott dem
Allmächtigen einen körperlichen Eid, dafs ich in der mir vom Herrn
Schlofsvogt zum Dreschen anvertrauten herrschaftlichen Scheune das
Korn so gut als möglich ausdreschen und nichts nehmen will, was mir
nicht gehört. Ich will auch nichts nehmen lassen und es anzeigen und
nicht verbergen, wenn es geschieht. So wahr mir Gott helfe. Amen.
Lojower Holzwärtereid. Ich N. N. schwöre zu Gott dem
allmächtigen einen wahren leiblichen Eyd, dats ich auf das mir an-
vertraute Holz und Buschwerk bey Lojow fleifsig acht haben will.
Solches ofte bey Tag und Nachte durch gehen, und achtung geben,
dals niemand, weder einheimische noch fremde Schaden darin thun,
und dafern ich jemand darin betreffen solte data er was abhauen oder
stehlen wolte, so will ich solches sogleich meiner Herrschaft anzeigen
und darin keinen übersehen, es • sey Freund oder Feind. Will auch
sonst meiner Herrschaft in allen stücken treu und gehorsam seyn,
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. 29
450 Di© Kaschuben.
alles dieses will ich thun und halten, so wahr mir Gott zur ewigen
seeligkeit helfen soll durch Jesum Christum. Amen.
Mrongowius hat in seinem polnisch - deutschen Wörterhuche
auch den kaschubischen Sprachschatz (1835 bis 1837) berücksichtigt.
Easchubische Wörterbücher schrieben besonders Poblocki 1887,
Berka (Biskupski) 1891, Ramutt 1893. Eine kaschubische
Schriftsprache aber wollte Flavius Cenowa aus Slawoschin im
Putziger Kreise schaffen. Die nördliche Mundart sollte die Grundlage
einer gemein lechischen Sprache bilden und die „slowinzische" Sprache
sollte von Heia bis ins Tschechenland verständlich sein. Unermüdlich
sammelte der neifsige Arzt und Gelehrte seit 1850 Lieder, Märchen,
Sprichwörter, er dichtete auch selbst und verbreitete die jetzt seltenen
Heftchen. Der Humorist Derdowski gab 1880 ein Werk heraus, in
dem er, wie Donalitius, das gewöhnliche kaschubische Volk schil-
derte. Von neueren kaschubischen Ethnographen ist besonders Le-
gowski zu erwähnen, der mit Vor- und Umsicht die sprachlichen und
volkstümlichen Schätze hebt.
in. Wohnung, Beförderung, Kleidung.
Boden. Uralte Burgwälle, die Treichel besonders erforscht hat,
und zahlreiche Urnenfunde beweisen, wie lange die Kaschubei besiedelt
ist. Der Boden selbst ist karg, und besonders im Norden sind die
grofsen Heiden oder Moore, ein Gemisch von Sand- und Torfland,
während der Waldbestand, der hier und da nicht unbedeutend war,
gering geworden ist. Landschaftlich schöne oder merkwürdige Gegen-
den, wie der Strand und die Kaschubische Schweiz, locken wohl auch
Fremde zum Besuch, und die Tucheische Heide ist lange nicht so
schlecht als ihr Ruf. Die Moorlandschaften sind bei all ihrer Ein-
förmigkeit (vergl. Abb. 184) nicht unbelebt. Der Bauer sticht die
Palten, die oberste Schicht des mit Moor und Heidekraut bewachsenen
Torfmoors, und fährt mit dem Kuhgespann haushohe Haufen vor sein
Gehöft. Die klar gehackten Palten benutzt er als Streu oder füllt
die Düngergrube damit an, dafs die Jauche einzieht. Die Palten
machen also das Stroh, das Feuerungsmaterial und den Dünger zum
Teil überflüssig. Der Gräbenauswurf der Moore wird auch hier zur
Mischung und Fruchtbarmachung des Sandgebietes benutzt; auch die
Düngersalze haben ihren Einzug gehalten. Die Moordörfer, die die
grofsen Heiden unterbrechen, sind meist recht klein (vergl. Abb. 185)
und zeigen in der Gebäudeanlage mit den schiefen Giebeln, den abseits
liegenden Kartoffelmieten, Kellern, Speichern, 'Backöfen und dem Zieh-
brunnen ein festes Gepräge (vergl. Abb. 186).
Haus. Die Grundform des Hauses ist der slowinzischen Urform
ähnlich: zwei halbe Häuser sind zusammengebaut (vgl. Abb. 172, S. 409);
jede Hälfte gehört einer Familie. Wenn bei den Lebakaschuben links
Das Oiesebitzer Moor.
»I I
f i *
S» 1
Die Kaschuben.
Giesebitz.
453
'■iV'tfi
it;vr'\i
Mm
i
a
■s
CD
M
.9
CD
ja
cd
I
CD
e8
"d
d
CD
9
»4
CV
00
00
<♦■«
f*
►
CO
HO
,«ir:fi J I li <«
i ' " I I I ß ■'«
"■ ■!!; >'| jw^V.
■P 2
i-s
^ -g
n 3 2
* * 'S
1 §pq I
•g A cd <~
* ö
* fl
<| ÖD
CD
'Ö
U
o
I
tu
a
a
u
CD
ä
"5
O
es
CD
d
B
454 Die Kancbubeij.
und rechts von dem Hausflur nur je eine Stube mit d ah int erliegen der
Kammer das gewöhnliche ißt (Abb. 187), der Stall aber abseits liegt.
Czarnowsker KaHchubenhftuser. (Nach einer Aufnahme de* Verfassers.)
so bemerkt man in der Krockower Gegend viele Häuser, bei denen
aeitlioh noch ein Stall angebaut ist (Abb. 188). Tritt in Pommern
AM>. 188.
— ■ -v
~T7
-it-
■Mr-
hM
Grundriß eines Krockower Hauses.
-\\—
nooh hier und da Holzbau auf, so in Westpreulsen meist Lehmfach werk
mit Strohdach. Der festgestampfte Lehmboden und die Rauchkate
haben der Diele und der Esse Platz gemacht. Im Norden ist die
Giebelzier seltener als im Süden (Abb. 189). Aus- und Einbauten
<ä#V.
Giebelzier aus dem Neustädter Kreise.
(Treichel in den Verb. d. Bari, anthr. Ges., 30. 6. 1888, 16. 2. 1889,
Abbildungen) verwischen zudem in wohlhabenderen Gegenden die land-
schaftliche Eigenart. Der unermüdliche Treichel hat Hunderte Ton
Haus. Giebelzier. Keller. Beförderung. Kleidung.
455
Abb. 190.
Kaschubiscber Keller in Krockow.
Abb. 191.
westpreufsischen Giebelfiguren gesammelt (vergL a. a. 0. 30. 6. 1888,
16. 6. 1894, 21. 7. 1894, 20. 6. 1896 etc.). In der Küstengegend
ragen oft einfache Windbretter kreuzweise am Giebelende in die Höhe,
und das Dach fällt nach allen vier Seiten schräg ab. Beim Keller
(Abb. 190), der stets zu ebener Erde, nie unter dem Hause liegt, ist
die Erdgrube die Hauptsache. An den beiden Enden sind Pfahlkreuze
und darüber ein Balken über die Grube gelegt. Nun bildet der Balken
den First, an dem schräg
mit Palten bedeckte Höl-
zer dachartig anliegen.
Der Kellerein gang ist
stets gemauert und mit
einer niedrigen Thür
versehen, auf der Seite
öfters mit Schilf belegt
und ähnelt zuweilen einer Hundehütte. Der Backofen ist mit Lehm
beklatscht (Abb. 186), gleicht auf serlich öfter dem Keller, ist aber
kugelig und hier und da zu einem Backhäuschen ausgebaut.
Beförderung. Es wird noch derselbe auf den abseits liegenden
Dörfern gebräuchliche kurze Leiterwagen gewesen sein, mit dem wir, wie
JEthesa, das Land durchfuhren. In den Leitern
(Abb. 191) stehen zwei halbe ineinander ge-
schobene Korbkästen, wenn man nicht Stroh-
seile durch die Leitern gezogen hat. Auch der
Sitz ist von Stroh. Im Winter setzt man das
Gestell einfach auf Kufen. Bei der geringen
Zahl von Eisenbahnen wird man bald mit diesem
etwas unbequemen Gefährt vertraut, das indes schon hier und da
modischen Wagen im Preise von 500 Mk. Platz macht.
Kleidung (Abb. 192 bis 194). Die Kleidung der alten Kaschuben
ist sehr häufig beschrieben worden (sämtliche alten Zeugnisse in meinen
„Slowinzen und Lebakaschuben"), namentlich Lorek hat den Gegenstand
für sein Kirchspiel ausführlich behandelt, den schwarzen kurzen Falten-
rock und das ärmellose Mieder der Frau, die Pelzmütze, den gezipfelten
Doppelpelz der Männer (Abb. 193) und die schön gestickten grofsen
Handschuhe, die früher in Glowitz sogar als geistliche Abgabe in Ge-
brauch waren, in ähnlicher Weise
aber auch noch heute in ganz Nord-
deutschland vorkommen (Abb. 192).
Noch vor 10 Jahren trug man im
Neustädter und Putziger Kreise den
langen blauen Rock aus selbst- Handschuh. (Nach Andree.)
gewebtem Tuch, heute sind Sommer Überzieher und Kaisermäntel nichts
Seltenes, und die Kleider der Bazare sind teilweise in die entlegensten
Gegenden eingezogen. (Vgl. auch Abb. 194.)
Leiterwagenseite
in Krockow.
Abb. 192.
Die K usch nben.
IE
£
5 I
5 6
1 &
- a
ü
458 Die Kaschuben.
IV. Familienfeierlichkeiten.
Hochzeit. Die Bräuche bei Hochzeit, Begräbnis und Taufe
weichen von dem polnischen, masurischen , slowinzischen und mähri-
schen nur in Kleinigkeiten und individuellen Zufälligkeiten ab.
Neben der Brautschau giebt es auch eine Bräutigamsschau, wenn
die Heirat zwischen den Vätern verabredet worden ist. Bei der Ver-
lobung fährt der Bräutigam die beiden Mütter, der Brautvater Brant
und Schwiegervater. Der Hochzeitsbitter spricht seine Sprache deutsch,
seltener kaschubisch. Unter den zur Hochzeit von den Gästen ge-
schickten Nahrungsmitteln befindet sich auch ein Hahn für den
Bräutigam. Man nimmt es sehr übel, wenn bei der Einladung eine
nahestehende Familie übersehen wird. Die Frau des Lehrers putzt
meist die Braut an. Vor dem Brautgang bittet jene ab. Der ge-
schmückte Hochzeitsbitter führt den Zug zur Kirche an. Knechte
reiten schiefsend nebenher. Am Hochzeitstage wird dem Bräutigam
aus Scherz von den wartenden Frauen oft die Thür zugehalten und
nur gegen Versprechungen geöffnet. Kommt das Paar nach Haus, so
reicht man ihm Salz und Brot, das berühren beide mit den Lippen.
Zum Brautmahl gehören ungeköpfte Fische, Reis, Schwarzsaueres.
Brautschuh stehlen, Hochzeitsecke, Lichter vor dem Paar sind auch in der
Kaschubei hier und da zu finden. Der Hochzeitsbitter hält in Pausen
Reden, die mit der Aufforderung zum Geben enden, für die Braut, für
ihn, für die Musikanten, für die Köchin. Zum Schlufs bittet der Braut-
vater, mit dem wenigen fürlieb zu nehmen. Gesang und Gebet be-
schliefst die Tafel. Beim folgenden Tanz mufs jeder mit der Braut
tanzen, und am nächsten Morgen jede; „der Kranz wird abgetanzt*1,
nachdem um Mitternacht zuvor die Häubung vorgenommen worden ist.
Da schliefsen die Jungfrauen einen Kreis um die Braut, singen ein
Lied („Wir winden dir den Jungfernkranztf), tanzen, nehmen ihr den
Kranz ab und setzen ihr die Haube auf. Der Kranz war schon zuvor
zerknittert worden. Jeder nimmt sich ein Stück davon.
Die Hochzeit findet meist um Martini, und zwar Dienstags statt;
dann sind natürlich die Musikanten rar. Ärmere feiern die Hochzeit
im Krug; dabei wird viel süfser Schnaps getrunken. Die Getränke
spielen eine Hauptrolle, schon bei der Verlobung wird auf die Heirat
ein Fafs Bier getrunken. Das soll zugleich die Abmachungen wegen
der Ausstattung rechtsgültig machen. Die in Prosa übertragenen
Sprüche und Lieder aus der Arbeit Treichels zeigen zunächst eine
Zeit, bevor die Myrte als Brautschmuck üblich war. Sie zeigen, wie
die ähnlichen litauischen Lieder, ferner den Gesichtskreis der Leute
und die symbolische Art der Redeweise. Die Kaschubin ist weit davon
entfernt, sich schlagen zu lassen, sondern führt die Geldbörse.
In Zarnowitz und Umgegend laden meist Bräutigam und Braut
am Polterabend persönlich, mit einer Flasche Schnaps versehen, die
j
Hochzeitsgebräuche. Hochzeitsbitterverse. 459
Dorfbewohner zu ihrer Hochzeit ein; zur Hochzeit bringt man Musik
mit zur Kirche (vier Hornbläser), nach der Trauung wird bis gegen
4 Uhr im Gasthause getanzt, wobei viel freudiger Lärm gemacht wird,
während der Easchube Streit vermeidet.
Hochzeitsbitterverse: Zu gering sind meine Füfse, um zu
überschreiten die herrschaftliche Schwelle; aber ich bitte euch um Ent-
schuldigung, geehrte Herrschaften, auf dafs ihr euch nicht darüber
wundert, weil ihr mich heute so frei aufdringlich gesehen. Denn ich
bin nicht zu den Herrschaften gekommen aus eigenem Kopfe, sondern
von Gott beredet. Ich bin geschickt zu den Herrschaften zuerst von
Gott, von 8 einer allerheiligsten Mutter und allen Heiligen, von den
Eltern dieses jungen Paares, auch von diesem Brautpaare (Namen)
selbst, welches im Begriff steht (Zeit, Ort) in den Ehestand zu treten.
Ich lade euch, alle Herrschaften, welche ihr euch in diesem Palaste
(Hause) befindet, zum Hochzeitsakte, damit ihr, geehrte Herrschaften,
keine Ausrede macht und diesem jungen Paare zum Ehestand dient;
auch damit die Mädel und Brautjungfern sich Schürzen und Tücher
schön waschen und plätten, die Strümpfe mit seidenen Bändern fest-
binden, damit dieselben im Tanz nicht auf die Hacken herabfallen,
damit für sie selbst sowohl, auch für die junge Frau keine Konfusion
hieraus entsteht; auch dals ihr, junge Herren und Kavaliere, die ihr
euch in diesem Palaste (Hause) befindet, die Pferdchen gut mit Hafer
füttert, die Wagen schmiert, die Stiefeln putzt und die Pistolen in
Ordnung bringt, um mit diesen dem jungen Paare Triumphe zu
schiefsen. Auch Euch, Herr Wirt, der Ihr Euch im Palaste befindet,
sich mit den Pferdchen nicht auf Reisen zu begeben, — weder nach
Danzig — denn es wird sehr vornehm zugehen — auch nicht nach
Berent — denn es wird nicht Taufe sein — nach Bütow nicht oder
Krakau; — darüber aber thut mir der Kopf weh, — nicht mir nur
so allein, — wie dem jungen Paare viel mehr. — Es wird eine reiche
Hochzeit werden; — da sind schon geschlachtet zwei gehörnte Ochsen,
— zwei schwanzgestutzte Borge, — drei Mandel Gänse, — drei Paar
Puthähne — und drei Körbe mit Pfefferkuchen. — Es wird da sein
ein Backofen voll Brot, — welches uns sehr nötig sein wird. — Es
wird da sein ein leichtes Getränk, — und werden wir trinken einer
zum andern. — Da wird sein ein Ohm Branntwein und ein Ohm Rum,
— da werden wir recht trinken und saufen. — Die Hochzeit soll
dauern eine ganze Woche, aber für uns nicht jeden Tag, — von Sonn-
tag auf Montag, — von Montag auf Dienstag, — von Dienstag auf
Mittwoch, — von Mittwoch auf Donnerstag. — Und am Freitag wollen
wir zusehen, — ob Letzttag ist oder erst anfängt. — Wer sich aber
noch Sonntag wird amüsieren wollen, — der vergesse nicht, einen
Beutel mit Geld mitzunehmen. — Aber ich, meine geehrten Herr-
schaften, bin ein Reisemann, — der Beutel ist mir und mein Bauch so
leer: — Daher bitte ich, geehrte Herrschaften, um ein Glas Bier —
460 Die Kaschuben.
oder auch um ein Gläschen Kam, — damit ich glücklich nach Hause
kommen kann. — Oder anch um einen Groschen Geld, — weil ich
habe auf dieser Reise viel Elend und Ungemach ausgehalten. — Hat
aber wahrscheinlich den verehrten Herrschaften mein Dienst nicht
gefallen, so mufs ich die Herrschaften sehr bitten, mir's doch zu ver-
zeihen: — denn ich hab es nicht gelernt in der Schule, noch in der
Kirche, sondern in der Scheune. Und ihr wüst, geehrte Herrschaften,
dafs dort nicht viel Zeit zum Lernen ist, — weil dort Getreide zum
Dreschen war. — Jetzt endlich: Gelobt sei Jesus Christus! —
Häubungsgesänge vor dem Abtanzen des Kranzes:
1. Vor der Häubung.
Ach! mein Kranz von Lavendel,
Gleite nicht von meinem Kopfe;
Wenn du meinen Kopf losläfst,
Wirst du auf der Erde herum-
geschleppt werden.
Ach! mein Kranz von weiüser Rose,
So mancher dient mir heute:
Morgen wird er mir nicht mehr dienen ;
Denn morgen werde ich schon Frau
sein.
2. Nach der Häubung.
Ach, ach, ach! mein Mann schlägt mich,
Wer wird mich jetzt bedauern?
Frau Mutter, fahr zu mir
Und bedaure wenigstens du mich. —
Nachdem Frau Mutter dann gekommen,
Hat auch die Wirtschaft sich besehn:
Schlag, mein Schwiegersohn, gut,
Bis der Tochter die Haut platzt;
Nicht mit der Axt, noch mit dem Messer,
Sondern mit Stock und Strang. —
Wenn auch wer nachjagen möchte mit vier Pferden,
Er würde meinem Kranze doch nicht ankommen;
Wenn auch wer fallen liefse ein Knäuel von Zwirn;
Meinen Kranz würde er nicht greifen.
Ach! mein Kranz von Kartoffelkraut,
Falle nicht von meinem Busen1).
Ach! mein Kranz von altem Strauchbesen,
Wie werden wir uns jetzt knillen.
Ach! mein Kranz von Lavendel,
Fall doch nicht von meinem Kopfe,
Wenn du aber runterfällst, so wirst du umkommen,
Wirst auf meinem Kopf nicht mehr sitzen.
Ach! mein Kranz von weifser Böse,
Die Welt dient mir jetzt nicht mehr;
Andern dient sie, und mir will sie's nicht:
Mein Herz hat es gewufst.
!) Z moich piczy; der Sing. = vulva. ',(„Nur Travestierung B. I^gowski.)
Häubungsgesänge. Kindheit, Taufe. Krankheit, Tod. 461
Achl mein lieber Kosmarin,
Ich habe dich gesät auf dem Beete,
Jetzt werd ich dich nicht mehr säen,
Werde allein Herrin sein.
Schwer war es mir auf dem Herzen,
Weil ich heute nicht weinte.
(Ethnogr. Zeitschr. 1884, S. 105 ff.)
Kindheit und Taufe. Bis zur Taufe darf nichts verborgt
werden, die Taufe mufs bald geschehen. Brautleute als Paten bringen
Glück. Die Kinder sollen nicht nach Verstorbenen benannt werden.
Bei der Rückkehr von der Taufe wird der Mutter das Kind zu Füfsen
gelegt. Wer eine leere Wiege wiegt, raubt dem Kinde den Schlaf.
Bis zur Taufe mufs die junge Frau etwas von ihrem Manne anhaben.
Die Entwöhnung des Kindes mufs bei abnehmendem Mond geschehen.
Zu Paten nimmt man keine Personen mit körperlichen Gebrechen,
über Kinder, die am Boden liegen, soll man nicht wegschreiten, sonst
wachsen sie nicht. Hat man es doch gethan, mufs man wieder zurück-
schreiten. Kinder, die die Schere in den Mund nehmen, bekommen
Hasenscharten. Kinder, die sich auf den Tisch setzen, bekommen
Schwären. Den ausgefallenen Zahn soll das Kind über den Kopf
werfen, dats ein neuer wächst. Zum erstenmale Pate sein, und zwar
bei unehelichen Kindern, bringt Glück. Einbinden von Geld in den
Patenbrief, von frommen Büchern in die Wiege, das Hüten vor Be-
schreien und vor den Unterirdischen, ist auch bei den Kaschuben
bekannt. Wenn ein Mädchen beim Umzug des Schimmelreiters vom
Storch berührt wird, bekommt es im folgenden Jahre ein Kind. Irr-
lichter sind ungetaufte Kinder. Aus den Planeten lesen manche die
Lebenszeit und das Lebensgeschick. Mit Kindern, die im Schlafe
lachen, spielen die Engel.
Krankheit und Tod. Aalhaut, Maulwurfspfoten, Schleim der
schwarzen Schnecke, Berühren mit einer Leichenhand, Glockenfett,
Glockenseilasche, zu Johanni gesammelte Kräuter: sind gute Heilmittel.
Pröpelformeln werden deutsch und kaschubisch gesprochen. Wer am
Sonntag erkrankt, wird nicht wieder. Auf Tolltäf eichen mit der Formel
„Sator arepo tenet opera rotasu gebackene Kuchen helfen gegen den
Bifs toller Hunde. Beim „Beschrieensein" hilft das Bewischen mit dem
Hemde eines Menschen des anderen Geschlechts. Anzeichen für den
Tod sind: Abfallen eines Bildes von der Wand, Stehenbleiben der Uhr,
Maulwurfshaufen im Hause, Hundegeheul, Uhugekrächze. Todkranke
8 ollen nicht umgelegt werden; man zieht Sterbenden das Kopfkissen
weg. Auch hier teilt man den Haustieren den Tod mit und hält unter
Schmaus und Gesang geistlicher Lieder die Totenwacht. Kleidung
Lebender giebt man Toten nicht mit ins Grab; unfertig hinterlassene
Arbeiten macht man nicht fertig. Die Namenszüge entfernt man aus der
Totenkleidung und -wasche. Neuntöter oder Vampyre bringen Zähne
mit auf die Welt, haben ein Häutchen auf dem Kopfe und Striemen
462
Die Ka8chuben.
am Halse. Man muls ihnen im Sarge den Kopf vom Rumpfe trennen.
Beim Begraben kippt man die Sargbank um. Dem Toten legt man
den Kamm, womit er gekämmt worden ist, unter das Kissen. Man
giebt ihm öfters eine Gitrone in die Hand und zieht ihm ungetragene
Wäsche an. Toten soll man nicht nachweinen, sonst wird ihr Hemde
nais. Redet man von Toten, so sagt man: „Gott hab ihn selig. tt
Abb. 195.
u'^
Grabschmuck (ll/8 bis 2 m hoch).
a, c von schwarzem Blech mit gelber Inschrift ; auf der Hinterseite von a (Bohlschau) :
„Droben ein Wiedersehn", auf der Vorderseite: „Hier ruht in Gott Auguste März,
geb. den 7. Nov. 1873, gest. den 18. März 1889 zu Boro wo. — Grabspruch auf o
(Doppelgrab zu Bohlschau): „Hier tönt kein Weinen, nagt kein Schmerz, hier wohnt
das Glück, hier ruht das Herz." — „Die Hand der Liebe deckt euch zu, Schlaft eine
sanfte, süfse Ruh.4* — b, d, e, f von Holz.
Auf das Grab (Abb. 195) verwendet man in der Strandgegend
nicht viel Schmuck. So sind in Zarnowitz, wohin 17 Dörfer die Toten
begraben, nur 18 Grabdenkmäler, gewöhnlich umlegt man dort die
Gräber mit Feldsteinen von doppelter Faustgrölse.
V. Aberglaube und Gebräuche.
Geister. Teufel, Alp, Mahrt, die Leutchen, kopflose Gespenster,
Hexen und Kobolde sind auch bei dem abergläubischen Teile der
Easchuben zu Hause. Die Kolik ist ein lebendes Wesen wie der Gumbs
der Litauer. Hinter dem Mistkäfer verbirgt sich der Teufel, ebenso
kommt er im Wirbelwind oder hat, wo Irrlichter funkeln, Geld ver-
borgen. Unken sind verwünschte alte Jungfern. Feurige Männchen
bringen fliegend Geld über die Strafse.
Glück, Unglück, Zukunft. Schratkugeln im Wildfleisch
bringen für Jäger Glück. Der Backteig und das Brot sollen bekreuzt
werden. Ein gefundenes Hufeisen muls man ans Haus annageln; es
bringt Glück. Klagt einem ein Kranker sein Leiden, so soll man still
sagen: „Klage dem Stein", dafs er die Krankheit einem nicht anklagt.
Während des Spiels soll man sein Geld nicht zählen. Hochzeitsthaler
vererbt man gern. Wer ein neues Kleid anhat, den muls man zupfen
mit den Worten: Zupf, zupf, zupf, dafs bald zerreilst, morgen kriegst
du wieder ein neues; das heilst „den Schneider herauszupfen u. Man
schiebt beim Betreten eines neuen Hauses zuerst ein Thier hinein,
mauert es wohl gar ein, damit alles Unglück sich auf das Thier lenken
Grabschmuck. Aberglaube. Feste. 463
soll und für den Menschen nur das Glück übrig bleibt (vgl. Wallen-
stein im Altorfer Karzer). Der erste Traum im neuen Hause ist von
Vorbedeutung. Mittels Erbbibel und Erbschlüssel kann man Diebe
entdecken. Eine Hand, die drei Maulwürfe totgedrückt hat, ist eine
glückliche. Wo ein Storch nistet, brennt das Gebäude nicht ab; wo
Schwalben ihr Nest haben, schlägt kein Blitz ein. Maulwurfshaufen
im Hause bringen Glück, vor dem Hause Unglück. Hunde, die Wasser-
namen haben, kann kein Dieb besprechen. Die Zukunft erfährt man
durch Pantoffelwerfen, Bleischmelzen, Knopfabzählen, Bibelaufschlagen,
Lichtverglimmenlassen , mitternächtliches Kreuzwegstehen; besondere
Zeiten, die Zukunft zu erfahren, sind: Mitternacht, Sylvesternacht, die
zwölf Nächte, Johannisvorabend, Andreastag, Heiliger Abend. Auch ver-
birgt man gern unter umgestürzten Tellern verschiedenerlei, beispiels-
weise Brot, Geld, einen Zweig u. dergl., läfst einen Teller wählen und
schliefst von dem darunter liegenden auf die Zukunft Glücksgebäck
hat man gern in der Schublade. Wenn man Salz verschüttet, wird Zank
werden. Ein Unverheirateter soll weder Butter noch Käse anschneiden.
Wer das erste Ränftchen bekommt, wird bald heiraten; das Ränftchen
darf ein Bettler nicht bekommen. Man bäckt „Neu jähr chen", die giebt
man den Neujahrssängern ; dies Gebäck soll für das Vieh besonders gut
sein. Man setzt niemandem ein unangeschnittenes Brot vor. Schimm-
lig Brot macht die Augen klar. Das Brot darf nicht mit der Unter-
seite nach oben gelegt werden. Gäste bekommt man, wenn sich die
Katze putzt. Freitags und Montags soll man keine Heise beginnen.
In den Zwölften wird, wie allwärts, nicht gern gesponnen und ge-
rungen. Bei zunehmendem Mond unternimmt man alle Sachen, die
Wachstum bedingen; bei abnehmendem solche, die ein Verschwinden
wünschenswert erscheinen lassen. Für eine geborgte Stecknadel soll
man nicht danken, sonst vergeht die Freundschaft. Nägel mufs man
bei zunehmendem Licht abschneiden. Was man beniest, ist wahr;
wenn man in der Rede plötzlich vergifst, was man sagen wollte, war
es eine Lüge.
Adventszeit. Vermummte und verkleidete Knaben ziehen
am Weih nachts Vorabend mit dem Brummtopf herum und singen:
Wir treten herein ohn' allen Spott, einen schönen guten Abend, den
geb' euch Gott (auch: den gab uns Gott), einen schönen guten Abend,
eine fröhliche Zeit, die unser Herr Christus uns hat bereit'. Wir
wünschen dem Herrn einen goldenen Tisch, auf allen vier Ecken ge-
bratenen Fisch u. 8. w. Es folgen Wünsche für alle Familienglieder;
zuletzt bekommen die Sänger eine Gabe. — Solche volkstümlichen, der
Hauptsache nach wohl von Lehrern oder gewitzigten Leuten gemachten
Verse werden auch zum Geburtstage, bei Hochzeitseinladungen, beim
Bringen des Erntekranzes und der Erntekrone vorgetragen, sowie als
Bindesprüche bei der Ernte, als Richtsprüche, als Schnursprüche der
Zimmerleute, Lotsprüche der Maurer und Bindesprüche der Ziegler.
464 We Kaschuben.
Der Umzug des Schimmelreitore , zu dem eich oft Doch neben der
Musik mit Stürzen, Giefskannen u. dergl. ein Bärentreiber, Storch,
Jude, Bettelweib gesellt, findet in der Adventszeit statt ').
Osterzeit. Die „Palm weihe" der Weidenkätzchenruten findet
ähnlich wie bei den Tschechen zu Palmarum statt*), die Kräuterweihe
am 15. August. Zu Ostern „hüpft" die Sonne, man holt Osterwasser
nnd geht schmackostem. Zu Walpurgis bekreuzt man die Thflren.
Johan n isf es t. Man brennt am Vorabend Teertonnen an, die
man auf Stangen gesteckt hat, und die Jugend tanzt darum. Den
Kühen bindet man Kränze um den Hals, bekreuzt die Stallthüren nnd
sammelt gewisse Heilkräuter.
Tanz und Spiel. Hier nnd da sieht man noch den Schuster-,
Schäfer-, Mützen- oder Bärentanz. Die Kinder spielen: „'Wir gehe
wandern", „Gehohlen, gestohlen, gekuppelt, gekauft, gehandelt, ge-
wandelt", „Wappen oder Zahl", Klippe, Ballspiel, Fangen, Himmel
und Hölle, Holz auf Stein, Tischspiel.
Gerät. Von eigentümlichem Gerät, das vom Slowinzischen ab-
wiche, ist hier etwa eine stattliche Reihe von Schulzen stocken, Tabake-
kacheln '), die auch in Litauen vorhandenen Web- und Stri ck kämme *)
Abb. 196.
') Vgl. Treichel, a. a. O. 20. 1. 1883, Abbildungen. Geräte auch i
Btetün er Museum.
*) Treichel, Vortrag 15. S. 1883.
') Treichel, a. a. O., 81. 1. 1882.
*) Desgl., 81. 10. 1882; lö. 12. 1893; 21. 7. 1894.
l) Vgl. Stettiner Museum und Treichel, h. a. 0., 21. 7. 1894, Abb.
Flechtkamme.
I5cm breit, 10cm hoch bi« zum Ende der Schnitte. Durch die (etw» neun) Löcher
werden Gnrnfiden gezogen und zu Bändern geflochten.
(Abb. 196), Bälden und Kollekten becken , Segenbretter, Bell-, Sator-
und Tolltafeln zu erwähnen. Die Schulzentische mit den eingeschnit-
tenen Zeichen jedes Bauern, die Rundmarken1), die slawischen Joche
(Abb. 197), Querneu, Schlüsselanhängsel finden sich bei anderen
slawischen Stämmen auch. In einigen Orten (Zarnowitz) wird bei
Feste. Geräte.
465
Bekanntmachungen ein hölzernes Rohr herum gesandt, darin befindet sich
das zusammengerollte Schriftstück1). Dem Gemeindestab (Abb. 198)
und der Tafel (Abb. 199) folgte an vielen Orten das einfache Schriftstück.
Abb. 197.
<r - - 1.20 — -V
Slawisches Binderjoch.
(Aus Andree, Braunschw. Volkskunde, 2. Aufl.)
Abb. 198.
\
Früherer Bock in Bohlschau.
Etwa 1 m lang, gewachsener und geschälter
Stock mit möglichst vielen Biegungen,
a Griff, b Blatt mit Bekanntmachung, um den
Stock gewickelt, c Bindfaden als Befestigung.
Abb. 199.
Bock (Gemeindezeichen)
in Bohlschau.
24.35 cm. Kunder Stiel:
14 cm lang.
l) Vgl. Abbildungen und Ausführungen von A. T reich el, a. a. O.,
21. 1. 1882,; 21. 7. 1894.
Tetzner, Die Slawen in Deutschland. gQ
466 Die Kaschuben.
VI. Kaschubisohe Sprichwörter und Lieder.
Er ist auch nicht hinter dem Ofen aufgewachsen. — Das Schwein
hat vergessen, dafs es ein Ferkel gewesen ist. — Du mufst es so
machen, dafs der Wolf satt wird und das Schaf ganz bleibt. — Es ist
ihm mehr um die Junge, als um die Alte. — Man schläft, wie man
sich bettet. — Wenn für den Hund kein Stock da wäre, würden alle
Menschen leiden müssen. — Er ist dort so nötig, wie das Loch in der
Brücke. — Er ist so weise wie Salomons Beinkleid. — Die Nachbarn
wissen, wie man sitzt. — Der Mensch schiefst, und Gott trägt die
Kugeln. — Er ist so verschwunden, als wenn man einen Stein ins
Wasser wirft. — Besser besoffen als ersoffen. — Einem hungrigen
Fürsten mundet auch Kartoffelbrei. — Wo man sein Geld verzehrt,
darf man in die Stube spucken. — Der ist noch nicht geboren, der es
allen Leuten recht macht. — Das Wasser wird so lange im Topfe ge-
tragen, bis der Henkel abbricht. — Es giebt keinen ärgeren Teufel,
als wenn ein armer Teufel ein Herr wird. — Gott gab dem Frosch
nicht Hörner, der würde sonst spiefsen. — Wer es bequem haben will,
der bleib zu Hause sitzen. — Das letzte Wort findet einen sichern
Ort. — Hast du Brot, so suche nicht Kuchen. — Ihm geht es wie den
Erbsen am Wege, wer nicht zu faul ist, zupft ihn. — Wo die Tugend
ein Loch hat, vermag Geld nichts. — Der Wolf wird nicht durch Beten
fett. — Die Dummen werden nicht gesäet, sie wachsen von selbst. —
Wenn auch der Herr befiehlt, er muls es doch selbst thun. — Je älter
der Kater, desto härter der Schwanz. — Hols der Teufel, Gott giebt's
wieder. — Wer nicht arbeiten will, ist nicht wert, dafs er ifst. —
Wenn eine Kuh den Schwanz aufhebt, thun's alle. — Für Geld kann
man den Teufel tanzen sehn.
Le.gowski, Treichel u. a. haben kaschubische Sagen, Märchen etc.
gesammelt. Die Sagenstoffe unterscheiden sich nicht von den slowin-
zischen und polnischen. Die Schlauheit und Verschmitztheit spielt eine
Rolle in Schwänken und Streichen. Steinsagen, Geistergeschichten,
Volksrätsel werden von Mund zu Mund erzählt. Die von Treichel in
Hochpaleschken gesammelten meist deutschen Lieder beweisen, wie
allgemein eine Reihe deutscher Lieder gesungen, wie wenig zeitweilig
vom Volk Neugedichtetes beibehalten wird und wie sehr der deutsche
Gesang den kaschubischen überwiegt. In Kaschubien singt man unter
anderen folgende Lieder:
1. Ein armer Fischer bin ich zwar.
P
3- > _^ -V
Ein ar - mer Fischer bin ich zwar, verdien' mein Geld stets in Ge-
Sie hat einen rosenroten Mund, die Brü - ste, die sind kugel-
fa^Ejg
Kaschubische Sprichwörter und Lieder.
467
£
^
f -'j -\r^~-
^<^+
fahr, doch wenn Feins - lieb - chen am XJ - fer ruht, dann
rund, die Hän - de sind so zart und fein und
%
-- £
E3=N=£
geht das Fisch'n noch mal
ihre Zähne wie EL
Und fahren wir zur See hinaus
Und werfen unsre Netze aus,
Bann kommen Fischlein, grofs und
klein,
Ein jedes will gefangen sein.
Und kehren wir vom Fischfang heim
Und ziehen unsre Netze ein,
Bann geht Feinsliebchen ins Käm-
merlein
Feinsliebchen will jetzt schlafen ein.
so gut.
fen - bein.
Des andern Tags in aller Früh,
Da klopft es leise an die Thür,
„Steh auf, mein Fischer, so jung
und schön,
Du sollst heut wieder fischen gehn.*
Und ist der Monat Hai vorbei,
Vorbei ist's mit der Fischerei:
Dann geht Feinsliebchen zum
Traualtar,
Es lebe hoch das Fischerpaar.
Dies mir von Herrn Lehrer Boldt- Giesebitz mitgeteilte, von den
Anwohnern des Lebasees ganz besonders in Anspruch genommene Lied, wird
in Hannover von den Soldaten gesungen, auch hörte ich es in Leipzig und
Dievenow.
2. Oudne cepy z widlami.
(A. Treichel, Urquell N. F. I, S. 176. — Vgl. S. 496 dieses Buches.)
(Dieses Lied ist in verschiedener Fassung bei allen Westslawen verbreitet.)
Ein wunderschöner Dreschflegel mit
der Heugabel
Broschen Erbsen im Eichenhain.
Es frafs ein Häslein eine Stute auf.
Es sitzt auf der Bonau.
Bie Scheune wurde lustig
Vertrieb das Häslein.
Bie Stampfmühle (der Stampftrog)
erblickte den Schabernack
Sprang durchs Fenster raus.
Ausgebrütet wurden Kraniche
Hinter dem Ofen im Spinnrocken.
Einen Holzhäher gebar ein Holz-
häher,
Blinde haben das gesehen,
Das Meischen hat geworfen
Unter dem Fenster auf einem Brett;
Sechs Türken hat es geboren
Der Deutschen elf. 2)
1) Nach einer Angabe aus Braunschweig wurden die beiden Schluiszeilen
dort mit etwas anderem Rhythmus wie folgt gehört:
K — V
W1
3-
^fcfc^
£a
s) Var.: Die Meise hat geworfen Hinter dem Fenster auf dem Questen-
brett; Lutheraner, Türken hat sie geboren, Der Juden einhundert und
fünfzehn.
30*
468
Die Kaschuben.
Einer von ihnen war Präsident
Auf der lindenen Brücke,
Und es kam ein Wolf ihm erzählen,
Er hätte aufgegessen hundert Stuten
in den Fasten.
Er hat ihm aufgegeben zur Bufee
(zur Strafe)
Hat ihm hineingeschlagen einen
Tannenreifen auf dem Hintern
(auf das Fell);
Und der "Wolf, wenn er sich rührt,
so stöhnt er.
Denn er fürchtet sich vor dem Beif.
So geht der Wolf nach dem Forste,
Ertappte er dort einen Hering.
Die Ahle tanzte im Walde,
Durchstach einen Bären 1
Es sitzt ein Mückerich auf einem
Heuschober
Ist gesättigt mit Jauche,
Dem Wolfe droht er:
„Du wirst verlustig Deiner Seele."
Der Mückerich hat ihn gestochen
Mit seiner bunten Nase,
Der Wolf hat ihn gestofsen
Mit dem buckligen Schwänze.
Und aus dem Mückerich drang Blut,
Drei haben darauf gesehen;
Dreihundert Türken ertranken,
Welche durch das Blut fuhren.
Am Yigiltag des Aschermittwoch
Hat das Schwein das Hörn herunter-
gestofsen,
Der Hund hat sich den Schwanz
rausgewunden,
Die Henne hat einen Zahn verloren.
Die Maus wirtschaftet mit der
Butter,
Die Katze wehrt die Fliegen ab,
Der Hund trippelt hinter dem Pfluge
Die Batte treibt die Ochsen.
3. Blüten.
Wer Blüten will im Garten seh'n
Mufs Sommers in den Garten geh'n.
Der Winter zog ins Land daher,
Ich finde keine Blumen mehr.
(Czarnowske.)
4.
Unsre Mutter, kleines Bebhuhn,
Schlägt die Kinderlein.
Unser Vater, lieber Vater,
Trinkt stets Branntewein.
(Glowitz.)
5. Nascha matka.
Meine Mutter, matka,
Poszla (ging) in die Stadtka,
Kupic (zu kaufen) Messer, noza,
Zu schlachten alte Koza (Ziege).
(Treichel,
-Volkslieder 106, 6.)
VII. Kasohubisches Vaterunser.
(Mitgeteilt vom Vikar AI. Swieczkowski-Zarnowitz.)
Das kaschubische „Vaterunser" ist ebendasselbe wie das polnische, nur
mit dem Unterschiede, dafs das weiche polnische 6, und s (gestrichen) im
Kaschubischen scharf ausgesprochen wird, ebenso das polnische dz im Ka-
schubischen dz heifst. Kaschubisch heifst es:
Ojcze nasz, ktorys jest w niebiesech sweo se imie Twoje, badz wola
Twoja, jako w niebie, tak i nazemi, chleba naszego powszedniego , daj nam
dzisaj i odpusc nam nasze winy, jako i my odpuszczamy naszym winowajconi
i nie wodz nas na pokuszenie ale nas zbaw odezlego. Amen.
Die Polen.
Literatur.
Back: Die Provinz oder das Grofsherzogtum Posen in geographischer etc.
Beziehung. Posen und Bromberg 1847
Baer: Die Bamberger bei Posen. Posen 1882.
v. Bergmann: Zur Geschichte der Entwickelang deutscher, polnischer und
jüdischer Bevölkerung in der Provinz Posen seit 1824. Tübingen 1883.
v. Brodnicki: Beiträge zur Entwickelung der Landwirtschaft in der Pro-
vinz Posen während der Jahre 1815 bis 1890. Leipzig 1893.
Brückner: Geschichte d. poln. Lit. Leipzig 1901.
Codex diplomaticus majoris Poloniae. Posen 1877 ff., 4 Bände.
DresBer: Sächsisch Chronicon. Wittenberg 1596.
Ehrenberg: Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte der in der heutigen
Provinz Posen vereinigten ehemals polnischen Landesteile. Leipzig 1892.
Erbrich: Album polnischer Volkslieder der Oberschlesier , übertragen.
Breslau 1869.
Frey tag: Bilder aus der deutschen Vergangenheit. 4. Band: Aus neuer
Zeit. Leipzig, 4. Aufl. 1876.
Gehre: Die neue deutsche Kolonisation in Posen u. "Westpr. Grofsenhain 1899.
Greveniz: Der Bauer in Polen. Berlin 1818.
Guradze: Der Bauer in Posen. Posen 1898.
Hacquet: Abbildung und Beschreibung der südwestlichen und östlichen
Wenden, mit 29 kolorierten Kupfertafeln. Leipzig 1801.
Hengstenberg: Geschichte des Deutschtums in der Provinz Posen etc.
Ra witsch 1894.
Hochberg: Schilderung der besonderen Sitten, Gebräuche und Ansichten
bei der slawischen Bevölkerung in Oberschiesien. Übers, d. Arb. d.
schles. Ges. 1847, 192/94.
Hoffmann von Fallersleben: Buda. Kassel 1865.
Hund rieh: Statistik und Übersicht der Arb. d. schles. Ges. Breslau 1843.
H(undt) v. H (äfften): Das Verhältnis der Provinz Posen zum preufsischen
Staatsgebiet. Berlin 1870.
Knoop: Sagen und Erzählungen aus der Provinz Posen. Posen 1893.
Kohte: Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Posen. Berlin 1898. —
Das Bauernhaus in der Provinz Posen. Posen 1899.
Kölling: Siehe Pestalozzi verein.
Kremmer: Der Posner Wandrer. Posen 1897.
Lukaszewicz: Histor. »tat. Bild der Stadt Posen, 2 Bände. Posen 1878.
Meyer: Geschichte des Landes Posen. Posen 1881.
Posener Archäologische Mitteilungen. Bed. v. Jadzewski und Erzepki.
Jahrgang 1887. Posen 1887.
Nadmorski: Ludnosc Polska w Prusach Zachodnich (m. Karte). Warschau 1 889.
Nitschmann: Geschichte der polnischen Literatur. Leipzig 1883.
Part seh: Schlesien I. Breslau 1896.
470 Die Polen.
Perlbach: Preufsisch-polnische Stud. z. Gesch. des Mittelalten. Halle 1886.
Pestalozziverein, Schlesischer: Bunte Bilder aus dem Schlesierlande.
Breslau, Woywod, 1898. (60 bis 66 Barth el, Wanderung im Wenden -
lande. 392 bis 397 Kölling, Die Polen Oberschlesiens.)
P(ohl): Volkslieder der Polen. Leipzig 1833.
v. Beichenbach (V. Gr. Bethusy-Huc): Oberschlesische Dorfgeschichten.
Leipzig 1901.
Boger: Piesni ludu polskiego w gornym Szl^sku z muzykf} zebral i wydal.
Breslau 1863.
San Marte: Grofspolens Nationalsagen etc. Bromberg 1841. — Die pol-
nische Königssage. Berlin 1848. — Polens Vorzeit etc. Bromberg 1859.
Schmidt: Geschichte des Deutschkroner Kreises. Thorn 1867. — Der Kreis
Flatow in seinen gesamten Beziehungen. Thorn 1867. — Geschichte des
Stuhmer Kreises. Thorn 1867.
Szujski: Die Polen und Buthenen in Galizien. Wien und Teschen 1882.
Vlach (und v. Helfert): Die Cecho-Slawen. Wien und Teschen 1883.
Warschauer: Stadtbuch von Posen. Posen 1892.
Weifs: Album polnischer Volkslieder der Oherschlesier, metrisch übertragen.
Leipzig 1867.
Woycicki: Polnische Volkssagen und Härchen. Berlin 1839.
Wurzbach: Die Sprichwörter der Polen. Wien 1852 (2. Aufl.).
Wuttke: Städtebuch des Landes Posen. Leipzig 1864.
Zeitschrift für Geschichte und Landesk. der Pr. Posen. Posen 1882/84.
Zeitschrift der historischen Gesellschaft f. d. Prov. Posen. Posen 1885 ff.
Zienkowicz: Die Trachten des polnischen Volkes, mit 36 kolorierten Kostüm -
bildern. Paris 1841.
I. Sprachgebiet.
Die Zahl der Polen betrug nach A. v. Fircks 1890 in Europa
13 Millionen, wovon 6V2 (Lggowski 10MUL) auf Rufsland, 3 Va Millionen
auf Österreich -Ungarn und nahezu 3 Millionen auf Deutschland fallen.
Diese Angaben sind für Deutschland freilich nur dann annähernd
richtig, wenn man Masuren und Kaschuben, deren Zahl A. v. Fircks
auf etwa 161 000 angiebt, einrechnet. Dabei stützt sich A. v. Fircks
auf die amtlichen Zahllisten, die aber in diesem Punkte kein treues
Bild geben; sie verschieben die Zahlen zu Gunsten der Polen, denn
als solche benennen sich die Masuren und Kaschuben meist. Es be-
zeichneten sich 255 768 als Evangelische, 2 556 606 als Römisch-
Katholische, 177 als Griechisch -Katholische, 6 als Mennoniten, 915 als
Baptisten, 6 als Methodisten, 78 als Apostolische, 22 als Freireligiöse,
54 als Dissidenten, 2969 als Juden, 22 alsBekenner anderer Religionen :
auf die oberschlesischen Polen (934 590) entfielen 36 141 Evangelische,
897 870 Römisch - Katholische , 2 Griechisch - Katholische , 572 Juden.
2 811109 Polen hatten deutsche Staatsangehörigkeit, 1642 öster-
reichische, 3755 russische, 70 ungarische Staatsangehörigkeit, von den
oberschlesischen 933 387 deutsche, 725 österreichische, 464 russische.
Über 100 Jahre alt waren 7 Polen und 47 Polinnen, bei den ober-
schlesischen 1 Pole und 5 Polinnen. 1871 betrugen die entsprechenden
Zahlen im ganzen preufsischen Staatsgebiete: 147 -j- 287, 1875: 141
+ 240, 1880: 128 + 231, 1885: 24 + 67, 1890: 13 + 59, worans
Volkszahl. Eonfession. 471
hervorgeht, dafs Polen den stärksten Prozentsatz stellt. Die Volkszahl
der Polen, Masaren und Kaschuben betrug 1858: 2 009 816, 1861:
2 265 042, 1864: 2 356 800, 1867: 2 436 800, 1890: 2 977 951.
Auf die preulsischen Provinzen verteilten sich die Polen, Kaschuben
und Masuren 1890 f olgendermafsen : Ostpreufsen 155 089 Männer -f-
172 607 Weiber, Westpreulsen 240 515 -f 252 914, Stadtkreis Berlin
7229 + 6794, Brandenburg 10 837 + 4870, Pommern 7241 + 4045,
Posen 494 689 -f 558 495, Schlesien 477 149 + 517 8121), Sachsen
13 871 + 8723, Schleswig - Holstein 3504 + 944, Hannover 3420
+ 2522, Westfalen 19 498 + 7879, Hessen - Nassau 595 + 357,
Rheinland 4623 -f 1723, Hohenzollern 5 + 1.
Im Dienste der Religion waren 28 Polen, 10 Masuren, 0 Kaschuben
bei der evangelischen, 1386 Polen, 0 Masuren, 17 Kaschuben bei der
katholischen, 1 Pole bei der griechisch-katholischen und 8 bei Synagogen-
gemeinden thätig. Der Kreis Adelnau war zu 92,89 Proz. polnisch.
Von 549 Kreisen in Preutsen haben 61 überwiegend polnische Be-
völkerung. In Oberschlesien sind das: Rybnik, Plefs, Kattowitz,
Beuthen, Tarnowitz, Gleiwitz, Kosel, Grols-Strehlitz, Lublinitz, Oppeln,
Rosenberg und Kreuzburg; in Posen: Kempen, Schildberg, Ostrowo,
Adelnau, Pleschen, Krotoschin, Rawitsch, Gostyn, Koschinin, Jarotschin,
Schmiegel, Kosten, Schrimm, Schroda, Wreschen, Witkowo, Strelno,
Inowrazlaw, Magilno, Schubin, Znin, Gnesen, Wongrowitz, Obornik,
Posen, Grätz, Samter, Tuchel, Seh wetz, Kulm, Briesen, Strasburg,
Löbau; die masurischen und kaschubischen Kreise lasse ich beiseite.
Das ganze Gebiet ist geschlossen und wird von einer Reihe Kreisen
mit schwächerer polnischer Bevölkerung umgeben. Aber auch westlich
zählt eine ziemliche Reihe von Kreisen, elf, über 1 Proz. polnische
Bevölkerung; über 10 Proz. auf serhalb der vier preulsischen Ost-
provinzen nur Bütow (10,86 Proz. Polen, 2,26 Proz. Kaschuben). Im
Kreise Recklinghausen waren von 17 768 Schulkindern infolge der
polnischen Zuwanderung 368 polnisch (2,071 Proz.), von 32 333 in
der Stadt Charlottenburg 78.
Nach der Gröfse des Besitztums teilt man, ähnlich wie bei den
Sorben, die polnischen Bauern in Großbauern, Halbbauern, Viertels-
bauern, Gärtner oder Büdner und Kätner. Ein Großbauer hat etwa
7 Hufen Ackerland, etwa 210 Morgen. Außerdem besitzt er noch Wiesen.
Ein adeliger Großbauer bekam von seinem Herrn 4 Pferde, 4 Ochsen,
dazu Kühe und Kleinvieh. Ein Halbbauer oder kleiner Gespannbauer
besaß. die Hälfte, ein Viertelbauer den vierten Teil eines Großbauern-
besitzes, der Gärtner nur ein Achtel, ein Kätner noch weniger. Natur-
l) In Schlesien lebten, nach Hundrich, 1884 im Regierungsbezirk
Oppeln 266 39Ö Deutsche neben 468 911 Polen, 11754 Mährern und 1366
Tschechen. 1*846 in ganz Schlesien 528 691 Polen, 38 824 Mährer, 10 218
Tschechen und 30 942 Wenden.
472 Die Polen*
lieh haben sich die Verhältnisse durch Zu- und Verkauf verschoben.;
auch bestehen Bezeichnungen wie Hüfner und Halbhüfner, Grols- und
Kleinkossät.
Eine bemerkenswerte Seite des Polentums ist die SachsengängereL
Zwar nehmen auch die Litauer und die Mährer daran teil, aber nicht
in demselben Malse. Im Jahre 1890 lebten in der Stadt Berlin
16 000 Slawen, im übrigen Brandenburg ohne die Wenden ebensoviel,
in der Provinz Sachsen 23 000, in Schleswig-Holstein 5000, in Hannover
7000, in Hessen - Nassau 1000, im Rheinland 7000 und in Westfalen
gar 29 000 Slawen, die nicht immer das Gastrecht ehrten. In den
überwiegend polnischen Kreisen Posens, Westpreufsens und Ober-
schlesiens (Abb. 200), die eine heftige Gegnerschaft in ihrer Presse
gegen das Deutschtum zeigen, sind die Städte zur Hälfte polnisch,
von 152 nämlich 77. Leider besteht weit und breit auf beiden Seiten
häufig der Irrtum, es handle sich um einen Kampf gegen die polnische
Sprache. Das Umgekehrte ist eher der Fall, das Polentum sucht neue
Gebiete durch die Sprache zu erobern. Die 100 000 Sachsengänger,
die im Frühjahr über die Elbe kommen, gehen nicht alle im Herbst
mit ihren Ersparnissen zurück, ein Teil bleibt sitzen, sondert sich aber
von der übrigen Bevölkerung gern ab, es bilden sich kleine slawische
Kolonieen, die jedes Jahr neue Zurückbleibende aufnehmen und schliefs-
lich ihre Zeitungen, Kirchen, Schulen wünschen.
Zur Sachsen ganger ei einige Beispiele. Wohl wandern auch Ka-
schuben und Masuren nach Westen, den Hauptstrom aber senden die
Polen. Abgesehen von den Händlern und den Gänsetreibern im August,
kommen besonders Land- und Fabrikarbeiter. In Wilhelmsbrück bei
Kempen findet beispielsweise ein reiner Menschenmarkt statt. Freilich
stellen das Unwissende als Sklavenmarkt hin, in Wirklichkeit wissen
aber die Polen, was sie fordern können. Sie sehen sich mehrere Kontrakte
genau an und geben sich nicht dem ersten besten Inspektor in die Hände.
Der Hauptandrang ist Anfang April und am dritten Osterfeiertag. In
der ersten Aprilwoche 1900 sind in dem kleinen Wilhelmsbrück 14 000
solcher Sachsengänger angekommen. Ein Jude bringt sie meist und
bekommt von den in Wilhelmsbrück wartenden Verwaltern eine be-
stimmte Summe, etwa 3 Mk. für den Kopf. In Oberschlesien hörte ich
sogar einmal 25 Mk. nennen. Diese 14000 wollen zunächst in Wilhelms-
brück untergebracht sein. Wohl giebt es sieben Gasthöfe, aber die
langen kaum für die Verwalter; in einem kleineren safsen fünf auf
einmal. Die Nacht verbringen sie ruhig und fügsam auf Streu. Wie
Heringe liegen sie aneinander geschichtet und der Wirt verdient, ob-
gleich er nur 10 Pf. für das Nachtlager und 5 Pf. für die Tasse Kaffee
empfängt, ein schönes Stück Geld. Ein solcher Verwalter holte allein
400 Mann. Ein Vermittler verdiente in einem Jahre 12 000 Mk. am
Zwischenhandel, sonst durchschnittlich 6 Mk. Früher mutsten die .
Polen noch 1 Mk. zugeben; jetzt ist jeder Verwalter froh, wenn er die
Die Polen (und Kajcbuben) in Deutachland.
Abb. 200. Die Polen und Kaschuben in Wertpreufcen, Posen und Schienen.
474 Die Polen.
Leute an sich fesseln kann. Sie zerreifsen sich um die Polen und
suchen sich mit allen Mitteln die Leute abzulocken, aber diese wissen
schon selbst, dals sie die Fahrt und Beköstigung umsonst bekommen
und die geschmeicheltsten Kontrakte die schlechten sind ; der polnische
Truppführer bekommt übrigens auch noch 5 oder 6 Mk. Der Haupt-
handel ist in Kempen, wohin in derselben einen Woche gleich direkt
8000 Mann fuhren. In Kattowitz soll der Betrieb noch umfangreicher
sein. Aber er herrscht an der ganzen Grenze; selbst aus dem Verhältnis -
mäfsig kleinen Rasselwitz gehen jährlich 300 Landarbeiter in die Magde-
burger Gegend und 1000 Maurer in die Städte. Wenn sie im Herbst
zurückwandern, ist das Treiben ruhiger, denn die Züge kommen zu
verschiedenen Zeiten. Natürlich sind ganze polnische Ortschaften im
Sommer wie ausgestorben, und die dortigen Besitzer können Land-
arbeiter oder gar Dienstmädchen nur spärlich bekommen.
Seit 1894 hat die preufsische Regierung die vaterländische Förde-
rung wieder kräftig aufgenommen, durch neue deutsche Kolonisation,
besonders in Posen und Westpreufsen , den deutschen Bauernstand
daselbst zu stärken, den Boden zu kultivieren und Mafsregeln zum
Schutze des Deutschtums zu treffen, der polnischen Agitation aber
durch segensreiche Einrichtungen und Landesverbesserung die Gelegen-
heit zu Kämpfen zu nehmen. Und es steht zu erwarten, dats auch
dieser Slawenteil sich bald freudig und wohl unter dem deutschen
Szepter fühlt, wie die Litauer und Letten, die Preufsen und Masuren,
die Polaben und Slowinzen, die Sorben und alle, die heute zwar ihre
Muttersprache verlernt, dafür aber ganz andere Wohlthaten des Deut-
schen Reiches ererbt haben.
n. Zur Geschichte und Kulturgeschichte der Polen
in Deutschland.
Der älteste slawische Geschichtschreiber, der im 12. Jahrhundert
lebende Kiewer Mönch Nestor, berichtet von einem Einfall der
Wlachen ins Land der Donauslawen, von denen sich die Slowenen
trennten und als Lechen an der Weichsel niederließen, die Lochen
aber wären in Polen, Lutizen, Masowier und Pommern zerfallen. Die
Polen, „die in der Ebene wohnenden u, fanden Reste alter germanischer
Völkerschaften vor; benutzten ja Burgunder, Heruler und Goten die
Flufsthäler als Heerwege. Das Vorrücken der Slawen in' ehemals
deutsches Gebiet geschah langsam und fällt in die Zeit der vernich-
tenden Kämpfe zwischen Rom und Germanien. Der Stammsitz des
polnischen Reiches scheint sich in der Posener Gegend gebildet zu
haben, wo die zurückgebliebenen Deutschen ihre Eigenart aufgaben.
Der erste sagenhafte Piast soll um 840 Stammvater des Herrscher-
hauses gewesen sein, der vierte, Mieczyslaw, ward 962 von Gero
unterworfen. Die Polen wurden Christen, 966 (996?) ward unter
Geschiohte im Mittelalter. 475
Mieczyslaw das Posen er Bistum gegründet, das unter dem Magdeburger
Erzbistum stand und Sitz einer Woiwodschaft blieb. Infolge der
Siege Heinrichs und Ottos des Grolsen und der Wallfahrt Ottos III.
nach dem neugegründeten Erzbistum Gnesen erstarkte der deutsche
Einfluls und hatte eine neue Zuwanderung deutscher Kaufleute, Geist-
licher, Soldaten in die Lande polnischer Zunge zur Folge. Das friedliche
Verhältnis zwischen Deutschen und Polen wurde auch nicht getrübt,
als der mächtige Nachfolger Mieczyslaws, Boleslaw I. oder Chrobry
(992 bis 1025) seine erfolgreichen Kriegszüge nach Westen ausdehnte
und die Freundschaft mit Otto III. sich in Feindschaft verwandelte.
1018 erkannte Heinrich IL die Unabhängigkeit Boleslaws an und
schlofs mit ihm zu Posen Frieden. Bald entbrannte der Krieg aufs
neue, 1038 verbrannte Herzog Brzetislaw I. von Böhmen die Stadt
Posen, und in den folgenden Jahrhunderten erschöpften sich die polni-
schen Herrscher unter sich und im Kampfe mit den Kaisern. Es war
noch im 12. Jahrhundert zweifelhaft, wie weit die westelbische Gegend
unter slawischem oder deutschem Einflüsse stehen würde. Doch wan-
derten immer mehr Deutsche in die slawischen Länder; deutsche Geist-
liche, deutsch redende Juden und deutsche Handwerker kamen zuerst.
Sie fanden die schlimmste Willkürherrschaft vor; die Adeligen bedrückten
die Bauern hart und zeigten sich überall herrisch. Wie man über die
Polen dachte, mag Helmold bezeugen:
„Polen ist ein grofses Land der Slawen, dessen Grenzen das Reich
der Ruzen berühren sollen. Es zerfällt in acht Bistümer. Einst hatte
es einen König, jetzt wird es von Herzogen regiert. Es ist, wie Böhmen,
der Majestät des Kaisers unterthan und zinsbar. Die Böhmen und die
Polen führen gleiche WaSen und haben dieselbe Kriegssitte. So oft
sie nämlich zum Kriege mit fremden Völkern kommen, sind sie tapfer
in der Schlacht, aber nachher höchst grausam, indem sie sich der
Plünderung und des Todschlages schuldig machen: sie schonen nicht
der Klöster, nicht der Kirchen und Kirchhöfe. Sie lassen sich aber
auch nicht anders in einen auswärtigen Krieg ein, als wenn ihnen die
Bedingung zugestanden wird, die Schätze, welche in den Schutz der
heiligen Orte geflüchtet sind, plündernd hervorholen zu dürfen. Daher
kommt es auch, dafs sie aus Begierde nach Beute oft ihre besten
Freunde wie Feinde behandeln, weshalb man sie sehr selten herzuruft,
wenn man der Hülfe im Kriege bedarf."
Die Lage der Bauern war nach Schmidt eine menschenunwürdige
und ist so unter der eigenen Herrschaft immer geblieben 1). Bis zur
l) Wie es in polnischen Landen selbst aussah zu der Zeit, als das
Deutschtum erstarkt, aber durch jesuitischen Einflufs bedroht, und eigene
Fürstenkraft nicht imstande war, die Zügel der Regierung zu führen, mag
Cavaliere Bichi aus Siena erzählen, der vom 27. Mai bis zum 2. Juni 1696
Posen bereiste (Ehrenberg, 8. 547 f.): Hier, im Dorfe Mach, lernte ich auch
den folgenden, für Polen charakteristischen Brauch kennen, der darin besteht,
476 Die Polen.
Teilung bestand die grofse Masse aus Zinsbauern und Scharwerkern.
Yon den ersteren batten die Eigentümer wenigstens den vollen oder
nutzbaren Besitz ibrer Hofstellen und die Emphyteuten auf die Zeit
eines oder zweier Menscbenalter. Die Scbar werker aber salsen noch
1750 entweder als erblicbe Besitzer ohne Eigentum oder als Zeitpächter
oder als Besitzer auf unbestimmte Zeit. Wenn ein leibeigener Bauer
zu polnischem Recht klagen wollte, mufste er sich durch seinen Herrn
vertreten lassen. Gegen diesen gab es keine Berufung. Auf ihrem
Hofe hatten die Bauern überhaupt kein Erbrecht Der Edeling konnte
nach Belieben die Bauern versetzen und that es häufig. Der Bauer
mufste dann ein anderes Gehöft bewirtschaften und hatte nicht das
Recht der Verweigerung. Gerade die neifsigen Bauern wurden immer
wieder auf andere heruntergekommene Höfe geschickt, und es ist nicht
zu verwundern, wenn die Bauern sich diesen Herren dienst so leicht als
möglich zu machen und um die Arbeit zu drücken suchten. Viele
entliefen überhaupt, um neuer angekündigter Übernahme zu entgehen;
dafs man, da es in den Städten meistenteils keine Wirtshäuser giebt, einen
Privatmann aufsucht, der den Beisenden in seinem Hause beherbergen
möchte, was die Polen auch bereitwilligst thun. Vorausgesetzt ist hierbei,
dafs man nicht bei Juden einkehren will, die einen sehr guten Tisch führen,
und welche man überall, auch in jedem noch so kleinen Orte antrifft.
Ferner teile ich mit, dafs, sowie man vom Wagen abgestiegen ist, und sogar
noch auf dem Wagen selbst, man mit dem Hausherrn entweder Bier oder
Schnaps trinken roufs, den derselbe dem Beisenden sofort anbietet, wobei der
Pole zuerst auf das Wohl des Beisenden trinkt. Auch pflegt man den Polen
durch Händeschütteln zu begrüfsen, und um mit ihm ein Gespräch zu führen,
ist das Lateinische ausreichend , weil es in Polen , selbst unter den Bauern,
wenig Leute giebt, die es nicht verstehen. Ist man in das Haus eingetreten,
so mufs man verlangen, was man essen will, vorausgesetzt, dafs etwas vor-
handen ist, weil, falls keine Hühner geschlachtet werden, Fleisch nur an den
Markttagen zu haben ist. Sobald man nun gehört hat, was man bekommen
kann, mufs man im voraus zahlen, damit der Hausherr das Betreffende kann
kaufen lassen, und diese Art erstreckt sich sogar auf das Brot, weil der Pole
nicht Gefahr laufen will, von dem Beisenden keine Bezahlung zu erhalten,
wie es ihre Edelleute thun, welche essen und trinken und dann bisweilen,
sogar unter Aufbietung von Gewalt, nicht bezahlen; deshalb verlangen die
Polen das Geld zur Herbeischaffung im voraus. Ferner mufs man auch von
ihrem Kupfergelde, das sie Schillinge nennen, eine hinreichende Menge
vorrätig haben; denn Silber sieht man nur wenig, und will man einen
Ungarn wechseln, so pflegen sie einige Silberstücke Namens Schostak, der
so viel wie unser Karlin gilt, und den gesamten Best in lauter Kupfer auszu-
zahlen. Aufserdem mufs man eine Schlafdecke mithaben, welche auch auf
der Beise als Sitzunterlage dient, denn oft findet man nicht einmal Stroh zu
einem Nachtlager, und ist solches vorhanden, so ist es verfault. Am Freitag
findet man — nur Eier, wenig Fische und hauptsächlich Krebse. Das Brot
pflegt schlecht und unausgebacken zu sein, und wenn man Wasser verlangt,
wird man an manchen Orten nur ungeniefsbares erhalten. Die Häuser
beginnen nun wieder aus Holz erbaut zu sein, wie in Böhmen, sie sind aber
weit schlechter, und bei wenigen befindet sich die Wohnstube über dem
Erdgeschofs u. s. f.
Geschichte der neueren Zeit. Deutsche Zuwanderung. 477
wir begegnen diesem Entlaufen Ja auch bei der tschechischen Koloni-
sation schlesischer Landesteile. Der Herr konnte seine Bauern züch-
tigen, war aber auch verpflichtet, für ihre Ernährung zu sorgen, das
war seine ganze Pflicht. Die Patriarchalität und das Brudertum be-
standen, aber nur einseitig. Willkür und knechtische Unterwürfigkeit
herrschten. „Die Bauern waren", wie Mickiewicz bildlich sagt,
„gewohnt, dals ihnen die Haut mit dem Messer abgezogen wird wie
dem Aal." Zum grofsen Teil hatten die Scharwerker nicht einmal
die Schüssel im Besitz, aus der sie afsen; es gehörte alles dem Herrn.
Bessere Zustände wurden erst, als durch die Ausführung der Aus-
einandersetzung gröfsere Sicherheit geschaffen und mit der Entwicke-
lung des durch Loskauf freigewordenen Domänenbauers dem Volke der
Zutritt zum Gericht angebahnt ward. Die willkürlichen Leistungen
und Abgaben erfuhren bei der Gliederung der Bauernschaft eine feste
Regelung. Die freien Bauern polnischen Rechtes hatten ein erträg-
licheres Dasein als die Leibeigenen und Knieten.
Unter diese Bauernschaft nun wurden die Deutschen gerufen.
Wir finden seit dem 12. Jahrhundert Niederländer in den Kreisen
Konitz und Stargard; in der Stadt Posen sind im 13. Jahrhundert
Deutsche als Ratsherren und Bürgermeister thätig. Die Posener
Bischöfe und Klöster, aber auch die Landesherren und Edlen begehrten
die Zuwanderung Deutscher. Die Siedler kamen in Scharen und be-
hielten sich ihr deutsches Recht vor; meist safsen sie zu magdeburgi-
schem Recht. Das Land empfingen sie erblich zu festem Zins, ohne
willkürliche Abgaben, ohne Geheifs und Gericht der Starosten, Kastellane,
Woiwoden und Palatino. Ihre Aufgabe war Einführung des Hand-
werks und Gründung der Städte. Das Handwerk blühte. Der Pole
Lukaszewitz sagt, sie hätten nicht nur das Handwerk, sondern
auch die Bildung nach Polen gebracht. Die tüchtigen, durch Handel
und Gewerbe wohlhabend gewordenen Ankömmlinge hätten sich 300
Jahre erhalten. Dem polnischen Einflufs wären sie erst um 1500 er-
legen, ihre Tüchtigkeit und den Fleifs ihrer Vorfahren aber hätten sie .
beibehalten, auch nachdem sie polonisiert worden wären. Ein Teil
der Adeligen freute sich der blühenden Städte, aber die meisten sahen
scheel auf die Ankömmlinge, die ihnen einen Teil ihrer Einkünfte
raubten und die Unterthanen bessere Zustände ahnen liefsen. Diese
Deutschfeindlichkeit gewann Oberwasser, seit in der Schlacht bei
Tannenberg Jagiello gesiegt hatte und das polnische Nationalgefühl
erstarkte. Aber das deutsche Wesen war zu tief eingesickert und
bildete eine feste Säule in dem Lande, wo schwache Könige und über-
mächtige Grofse sich das Leben gegenseitig sauer machten und fremde
Kriegsvölker die Gaue heimsuchten. Und als 1563 den Katholiken und
Evangelischen in Polen gleiche Rechte zugestanden wurden, und nach
der Schlacht am weifsen Berge die vertriebenen böhmischen Evangeli-
schen bei den polnischen Gutsbesitzern freudige Aufnahme fanden,
478
Die Polen,
wurde Polen erst recht mit Deutschtum durchtränkt. Eb entstanden
die Hauländereien oder, wie man sie irrtümlich nannte, „Holländereien".
Au! auszurodenden oder abzuholzenden Gebieten ward zugewanderten
Siedlern eine Anzahl von Hufen zur Kultivierung gegeben. Die An-
kömmlinge erhielten deutsches (magdeburgisches) Recht bewilligt, hatten
geringe Dienste oder geregelte Abgaben in Geld oder Naturalien zu
leisten und rodeten nun ihre Ländereien. Vor dem Blockhause blähen
Lindenbäume, auf dem Dachfirst nistet der Storch, hinter den Gehöften
wechseln Gärten und Wiesen mit Waldstücken ab. Die Anlage der
Gehöfte fand nicht in streng fränkischer Art statt, aber man suchte
doch meist die einzelnen Häuser um den Hof zu gruppieren. Eine
geschlossene Reihenfolge, wie in den Rundlingen, Anger- und Gassen-
dörfern der Slawen, ist nicht zu bemerken. Vielmehr lagen die Siede-
lungen so verstreut und vereinzelt, wie etwa in Burg im Spreewalde.
Die Fahr- und Fufswege bilden ein wirres Netz, darin sich nur der
Kundige zurecht findet, und erst mit dem Ausbau des Landes entsteht
eine Art Gassendorf. So kamen die Bauern aus Brandenburg, Pommern
und Schlesien ununterbrochen; Johann Georg, der grolse Kurfürst, der
erste preulsische König mufsten Maisnahmen treffen, dals die Aus-
wanderung und Entvölkerung der eigenen Lande endlich aufhörte.
Die Anlage des Hauses und des Gehöftes ist kaum von der sorbi-
schen Art unterschieden (Abb. 201 und 202). Bei den Hauländer-
Abb. 201.
+
+
+
+
■M-
A_
+
+
+
' — II ' I II
■11-
i
+
+
b
. h
c
+
+ + -
Hl.-
g :
Dl
I
Di
e
T
OJL
+
4-
+
+
+
+ +
Ratayer Gehöfte.
g
+n — ^j+ + + +
a Wohnhaus, b Stall mit Speicher, c Lehmfachscheune, d Kartoffelfeld, e Backofen,
f Querbretterzaun mit Thür und g Thor, h Dünger, i Ziehbrunnen.
dörfern wie bei den Angerdörfern steht das Wohnhaus mit dem Giebel
nach der Dorfstralse gerichtet, doch findet sich ein kleiner Zwischen-
raum zwischen Bretterplanke und Haus, der vielleicht durch ein Gras-
oder Blumenbeet ausgefüllt wird. Der Vorderseite des Hauses gegen-
über liegt gewöhnlich der Kuh et all, gleichlaufend mit der Dorfstralse
die Scheune. Der Speicher ist meist über dem Stalle angebracht wie
bei den Sorben; doch mögen grötsere Besitzer auch eigene Speicher
|:
II
Dorf- and Hausanlage.
479
besitzen. Kleinere Gebäude für Schweine, Kleinvieh, Geflügel sind auf
dem Gehöfte aufgebaut, wo es der Platz erlaubte. Düngergrube und
Ziehbrunnen liegen auf dem Hofe, hinter dem Gehöft beginnt ein Stück
Kartoffelland oder Wiese. Der Pferdestall ist bald bei den übrigen
Stallungen, bald an der Scheune, nicht selten auch im Wohnhause.
Die ausgeschnittenen Ecken der sorbischen Häuser (Abb. 119, S. 302)
sieht man häufig. Für den nun fast verschwundenen Speicher hat der
Pole die Worte kiel (Lehmhütte), kleta (elende Wohnung; dimin. kletka),
lamus (gemauertes Wohnhaus, wohl = oberschlesisch laimes = Lehm-
haus); sol, soiek (Speisekammer, Getreidespeicher); spichlärcz, spichrz
(Speicher); sypanie (Speicher), lepianka (Lehmhütte; Tschech. lepenec);
swirna, swiren, srub (Tschech.- Oberschlesisch).
Das Wohnhaus (Abb. 203, 204) selbst hat die Anlage, die bei
den Litauern beschrieben ward. Der mittlere Teil, der Flur, wird
Abb. 203. Abb- 204'
Vorderansicht Grundrifs eines Hauses in Zegrze.
eines Batayer Hauses. „ Q*„v>Ä v a u * .„.. ,
* a Stube , b d Hausflur , c Küche mit
Kamin, ee Kammern, f Treppenaufgang.
durch ümmauerung des Kamins oder durch Verwandlung des Kamin-
Stückes in eine Küche, in drei Teile geteilt, den vorderen und hinteren
Hausflur und die Küche. Die Teilung der Stuben, bewirkt, dals die
Abb. 205.
Abb. 206.
-\h
.Da Qb
a
Öd
* 1
Markt
Grundrifs eines Backwitzer Hauses von 1660
oder 1669, gez. M. H. S. Nach Modell ini
Poaener Museum, angeblich von einem Hack-
witzer Lehrer gefertigt.
31.12 cm Grundrils, Dachhöhe 7, Firstböhe 17
Gersalsbau ohne Giebelzier, Schräge Giebelfügung
a Schornstein, b Treppe.
Durchschnitt eines
Backwitzer Schorn-
steins,
(a in Abb. 205).
sämtlichen Kammern und Gelaase rund um die Küche liegen. Die
Strobschindel ist am Firstende durch zwei Latten festgemacht, die dem
letzten Sparrenpaare aufgenagelt sind- Eine eigentümliche Schönheit
zeigen die Wohnhäuser , wie sie im Stadtchen Rackwitz häufig sind
(Abb. 205). Ein schön geschnitzter Säulenvorbau, wie hei 4^
480
Die Polen.
litauischen Rieten, ist der ganzen Marktstrafse eigen. Doppelteilige
Thüren an der Langseite führen zum Flur mit Kamin (Abb. 206 und
a, 205) und Treppenaufgang, nur zwei Gelasse bilden das übrige Heim
(Abb. 205). Die mannigfaltige Giebelzier (Abb. 207) zeigt, wie der
Zimmermann verstanden hat, auch bei beschränkten Mitteln und An-
lässen dem natürlichen Eunstdrange zu folgen.
Abb. 207.
QMÖ
Giebelzier aus Posen.
Holzlage ;
Posener GiebeL
Nicht nur deutsche Bauart und deutsches Handwerk übte einen
Einflufs aus, auch deutsche Sprache und Gelehrsamkeit. Dichteten
doch polnische Fürsten deutsche Lieder, ward doch 1561 das deutsche
Stadtrecht Lissas in deutscher Sprache bestätigt. So ist auch 1696
das Statut der Rawitscher Tuchmacherzunft, 1722 das Wissockaer
Stadtrecht deutsch. Ein Martin Opitz fand an polnischen Höfen
Aufnahme und Unterstützung, die polnischen grofsen Städte waren
Horte des Deutschtums. Und wenn jetzt auf dem Posener Markt die
polnischen Marktfrauen erscheinen, so haben wir zum guten Teil
Deutsche vor uns. Das Volk nennt sie ja auch Bamberger. Und ihre
Tracht ist ebensowenig eine slawische, wie etwa die Pyrit zer, die man
gar für kaschubische gehalten hat. Wir sehen die Marktfrau mit
ihren dicken Bauschröcken, die grüne und schwarze Längsstreifen auf-
weisen, mit ihrer lang vorstehenden gelben Strohhaube, ihrem weitsen
Spitzentuch, der breiten und weilsen Halskrause oder dem buntblümigen
Halstuch, wir sehen die eigentümliche Befestigung des weifsen Kopf-
tuches mittels eines bunten, zusammengedrehten Tuches, wohl auch
den blumigen Bamberger Kopfputz (Abb. 208), das kurze sorbische
Jäckchen oder die lange Kattunbluse. Aber was wir sehen, ist nicht
Polnisch, sondern Deutsch. Polnische Kleidung ist in Deutschland, ab-
gesehen von der Sokoltracht (Abb. 209), nur in Kujavien zu Hause.
Wie es in Polen noch vor 50 Jahren aussah, darüber berichtet
F. W. F. Schmidt (Topographie des Flatower Kreises, Neue preute.
Deutsche Einflüsse. Die Polen nm 1850.
481
Prov.-Bl. Andere Folge. Königsberg 1854, S. 343): Dar Adel
macht in Polen die Nation, und von Bauern und Bürgern polnischer
Zange ist nur wenig Erhebliches zu berichten. — Die polnischen
Bürger — werden von den Deutschen und Juden an Zahlgeldmitteln
bei weitem übertroffen. iDth 208.
— Ebenso unbedeutend
ist der polnische Bauern-
stand. — Jetzt ist zwar
sein Körper frei, aber
seine Seele ist noch
immer leibeigen. Der
polnische Bauer hat
durchaus keine poli-
tische Gesinnung, und
es ist ihm gleich, ob
er preutsisch , polnisch
oder russisch ist, wenn
nur seine Besitzt ütn er
nicht angetastet werden.
Die einzigen Interessen,
die bei ihm neben den
materiellen eine Rolle
spielen, sind die reli-
giösen , und hierdurch
gewinnen die Geistlichen
auf ihn einen bedeuten-
den EinBnls. — Es ist
nicht zu leugnen, dato
Liederlichkeit und nach-
lassige Wirtschaft in
diesem Stande noch
immer nicht zu den
Seltenheiten gehören.
Ein Verlangen nach
geistiger Ausbildung
macht sich in dieser
Klasse nicht gerade be-
merklich. — In einem
Punkte aber stimmen
— alle Stande und Ge-
schlechter überein , nämlich in dem starren Festhalten an der eigenen
Nationalität und dem Zurückstoßen jedes fremden Elementes. Die dem
Polen Ton Jugend auf eingeimpfte glatte Höflichkeit ist nur ein Mittel
mehr, das Fremde entfernt zu halten; denn Höflichkeit ist, wie Bulwer
sehr richtig bemerkt, eine vortreffliche Erfindung fürs Nichtleiden*
Totmer, Die Bliwren in D*oUchl»nd. 31
' Kopfputz. (Vgl. Anm. auf 8. 500.)
Photographie von Rubens-Poien.)
482 Die Polen.
kOnnen. — Sie nehmen ohne Bedenklichkeit deutsche Werter in ihren
Sprachschatz auf. Im ganzen findet man wohl Ober 6000 Vokabeln
im polnischen Sprachschatz. —
Abb. 208.
Sokoltracbt.
(Nach Photographie von Rubent- Posen.)
Seit jener Zeit freilich hat sich mancherlei gelindert. 1848 war
die polnische Umwälzung am offenen Widerstände der dortigen deut-
schen Bevölkerung gescheitert. Die Regierung mulste auf Mittel und
Wege sinnen, das Land durch Neubesiedelung mit deutschen Arbeitern
auf dieselbe Stufe "zu heben wie die anderen deutschen Provinzen.
Diese neue deutsche Kolonisation ist erst seit 1886 recht in Angriff
Neue Kolonisation. Sitten und Gebräuche. 483
genommen worden. 1896 bewilligte der Reichstag 100 Millionen Mark
zur Besiedelung polnischer Landstriche mit deutschen Bauern. Bis
Ende 1898 wurden 184 Güter mit 110 631 Hektaren nnd 51 Bauern-
wirtschaften mit 1836 Hektaren für 7 144 226,87 ML in Pommern
und Westpreufsen erworben und von deutschen Bauern kultiviert. Die
Ansiedelungskommission hat 88 deutsche Schulen gebaut, 15 Kirchen,
10 Bethaus- und 15 Pfarreigehöfte wurden errichtet. Raiffeisensche
Darlehn skassen , Brennereigenossenschaften, Genossenschaftsmolkereien
und genossenschaftliche Kaufhäuser entstanden. Viehstand, Schweine-
zucht, Geflügel züchterei, Obstbau nahmen rasch zu, und das nachbar-
liche Verhältnis zu den alten polnischen Bauern blieb freundschaftlich.
III. Sitten und Gebräuche.
Die Ausdehnung des polnischen Sprachgebietes und die hohe Ent-
wickelung eines geistigen Lebens verhindern bei den Polen, mehr als
bei einem anderen baltischen oder slawischen Volke, in Kürze Sitten
und Gebräuche des ganzen Volkes zu schildern. Die polnische National-
literatur hat sich der Weltliteratur eingereiht, und polnische Gelehrte,
Forscher und Künstler waren auf allen Gebieten erfolgreich thätig.
Ist in den alten polnischen Provinzen, die jetzt zu Deutschland und
Rulsland gehören, auch die polnische Eigenart im Verschwinden be-
griffen, so erhält sie doch fortgesetzt aus Galizien Nahrung, wo die
Universitäten Krakau und Lemberg die Horte des Polentums bilden.
In den Abhängen der Karpathen hat sich bis heute das alte Volkstum
mit seinen bunten Trachten, seinen Tänzen und Gesängen, seinen
Musikanten und alten Musikinstrumenten, seinen Marktgängern und
Juden, seinen Spinnabenden und improvisierten Liedchen am malerisch-
sten erhalten. Und wollen die Polen in Posen ein Nationalfest feiern,
so legen sie die farbigen Trachten der Krakauer Gegend an (Abb. 210,
211 a. f. S.) und ziehen wohl auch die alten Volksmusikanten herbei.
1. Tanz und Musik. Wie bei den Sorben, treten gewöhnlich
drei Musikanten auf, der eine hat den Dudelsack (Duda), der zweite
die Geige (Gist), der dritte die Lyra. Diese Volkssänger zogen früher
von Dorf zu Dorf und sangen ihre Lieder und Sagen. Jetzt trifft man
sie noch bei Tanz und Jahrmarkt, wohl auch bei Hochzeiten und
sonstigen Feierlichkeiten. Unsere Buker Musikanten (Abb. 212, S. 486)
mit ihren niedrigen breiten Hüten, langen Mänteln und hohen Stiefeln
sind noch fleifsig im Dienste. In Galizien hielten sich die Adeligen
gern wenigstens einen Teorbanisten , die wie die alten Minnesänger
Fest- und Alltag durch Lied und Saitenspiel verschönten. Bekleidet
mit reicher Kosakentracht, wie Pohl meint, tanzten sie singend und
schlugen den Teorban zur Belustigung des Hofes.
Pohl führt vier Tänze als echt polnische an, die Polonaise, die
Mazurka, den Krakowiak und die Kolomejka. Die Polonaise ist der
31*
484 Die Polen.
feierliche Reigen, wobei die Paare dem ersten folgen und ■cnlietsüch
zum allgemeinen Tanze übergehen ; jeder konnte der Dame ün ersten
Paare die Hand zum Tanze reichen. „Dieses erinnert an die gleichen
Rechte des Adels in der Republik. — Malt sich in der Polonaise der
Abb. 210.
Tracht aus der' Krakauer Gegend, getragen bei einem Posener Fest.
(Photographie von Mirika-IWn.)
Geist des alten Adels, so spricht sich in dem „Mazur" die Seele des
gesamten Volkes aus. — Die Figuren, welche durch die verschieden-
artigste Zusammenstellung der Paare gebildet werden, sind reich an
Erfindung und beweisen, wie schonend das Gefühl eines Slawen gegen
die Weiblichkeit ist." Der Pole singt zur Mazurka. Der Reigenführer
Trachten. Tanz und Musik.
485
singt, während die Musik verstummt, ein Lied, die Musik fällt dann
tod neuem ein und der Tanz beginnt, wie beim sorbischen Tanz und
bei den Volkstänzen, die im westlichen Sachsen noch in der Mitte des
verflossenen Jahrhunderts im Schwang waren. Der Krakauer tanzte
ihn mit seinen Klirrsporen, der Ahb 211
Gebirgsbewohner mit blankem
Beil. Der „Krakauer" ist ein
Galopp in der Runde und
wird zur Hälfte getanzt und
zur Hälfte gesungen.
Pohl führt einige solche
Verse an. Mau singt:
Dort au Krakaus hohen Mauern
fliefet die Weichsel hin
Und die Polen zogen alle fort in
langer Reih.
Dann tanzt man rundum
und ein zweiter Sänger singt
weiter, improvisierend:
Alle zogen mit den Sensen , und
sie kehrten nicht.
Und es trauern Wälder, Fluren
und daheim die Weiber.
Die Kolomejka, bei der
nicht gesungen wird , tanzt
man „von den Ufern des Sans
bis
Schw
■ Mee
Stumm hält und leitet der
Tänzer das Mädchen an einem
Band", Tuch, Zweig. Auf ein
Zeichen Sieht das Mädchen mit
zierender Gebärde ; die Tänzer
eilen melancholisch und hände-
ringend hinterdrein, und wenn
die Mädchen das Band wieder-
nehmen müssen , schlagen sie
die Augen nieder und bedecken
das Gesicht mit ihrer Schürze.
Fällt der Zweig, so beginnt Mädchentracht bei Krakau.
der Tanzwirbel. (NMh Photographie ron Rub.im-Poien.)
2. Hochzeit. Aus dem Jahre 1832 berichtet Pohl über die
Brautwerbung und Hochzeit u. a. folgendes. Am Sonnabend geht der
Brautwerber mit einigen Männern in das Haus des Mädchens, und die
Eltern laden schnell eine kleine Gesellschaft zusammen, selbst wenn
das Mädchen den Eltern gegenüber erklärt, von dem vorgeschlagenen
Bräutigam nichts wissen zu wollen. Ist die Gesellschaft lebhaft ge-
worden, so trinkt der Wortführer den Eltern des Mädchens aus einem
Becher Met mit den Worten zu:
Fleifsig wie der Biene Leben
Ist das Ackerleben,
Und stifs wie der Honig
Igt der Ehestand.
Buker Musikanten,
(Nath Photographie von Rubens-Poseo.)
Wenn die Maid den Trunk annimmt, so hat sie damit ihr Jawort
gegeben und Aufgebot und Verlobung folgen nach dem Zechgelage am